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Full text of "Zeitschrift für Kinderforschung 29.1924-30.1925"

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ZEITSCHRIFT FÜR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDET VONJ TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
o cW DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
DRIDE ~ FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


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UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN I. B, TH. HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN, 
F. WEIGL-AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN. BERLIN. BERLIN. 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. NBERGER, 


MÜNCHEN. MÜNCHEN. MÜNCHEN. 


NEUNUNDZWANZIGSTER BAND, HEFT ! 
(AUSGEGEBEN AM 29. MÄRZ 1924) 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 


II Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Band, 1. Heft. 





Die Zeitschrift für Kinderforschung 


erscheint in zwanglosen, einzeln berechneten Heften, die zu Bänden von etwa 40 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 
Manuskripte werden erbeten an: 
Herrn Professor Dr. M. Isserlin, München, Krankenhaus Schwabing 
oder 
Fräulein Ruth v.der Leyen, Berlin W 15, Bayerische Str. 9. 
Redaktionelle Anfragen sind zu richten 
für den Originalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9. 
für den Referatenteilan Dr.R. Hirschfeld, Berlin W 9, Linkstr. 23/24. 

Die Verfasser erhalten von jeder Arbeit 50 Sonderdrucke unentgeltlich, weitere 
gegen Berechnung. 

Mit Rücksicht auf die außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung gestellten Anzahl zu begnügen, und falls mehr 
Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom Verlage zu erfragen, 
um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 











29. Band. Inhaltsverzeichnis. 1. Heft. 
Originalienteil. Beite 
Siegmund - Schultze, F. Ausbildungsfragen der Jugendwohlfahrt mit besonderer 


Berücksichtigung der Psychopathenfürsorge . . . . 22 2 2.22 een. 1 
Nohl, Herman. Die Ausbildung der Sozialpädagogen durch die Universität . . 5 
Kramer, Franz. Eingliederung des Unterrichts über die Psychopathologie des 


Kindes- und Jugendalters in das akademische Studium . . . 2 2 2 2 .. 12 
Francke, Herbert. Die Ausbildung der Jugendrichter . . . ». 2 2 22 22.0. 14 
Leyen, Ruth v. der. Die Eingliederung der Psychopathenfürsorge in die Aus- 

bildung der Jugendwohlfahrtspflegerinnen . . ». 2.2 >22 2 22 0e. 17 


Gregor, Adalbert. Ausbildungsfragen im Bereiche der Anstaltsfürsorgeerziehung 24 
Herrmann, Walter. Die pädagogische Ausbildung von Strafvollzugsbeamten an 


Jugendgefängnissen . . . 2. 2 2 20.20. De ne ee ER An er 30 
Vorlesungen und Übungen über Jugendwohlfahrt, Fürsorgewesen und Heilpädagogik, 
einschl. der Grenzgebiete an den Universitäten . . . . 2 2 2 22200. 36 
Peychopathenfürsorge in Wohlfahrtsschulen . ... 2:22 2222er. 43 
Heilpädagogische Bestrebungen. ..... 2.2222 een 46 
Ausbildungsfragen sa i ae S au. ne ee a 55 
GOSBtZgobung a-si za na a ER ER E 58 
Referateteil. 
Normale Anatomie und Physiologie . Z | Heilpädagogik u. Anomalen-Fürsorge 46 
PN sa Nan Allgemeines . . . 2 2 2200 46 
se Conzputuuon; ni = 4 Schwachsinn, geistige und seelische 
ryunB NE De, (Gefühls- und Willens-) Anomalien 50 
Psychologie... 2.2.2.0... 10 Sinnendefekte, Sprachstörungen . „ 53 
Allgemeine und spezielle Psychologie. Krüppel 55 
— Methodische , . . . 2... 10 a en, 
Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung . . 56 
Angewandte Psychologie „. . . . 19 Algemeinen 56 
en u E Säuglings- und Kleinkinderfürsorge . 65 
EEE ae Kr Schulkinderfürsorge . . . ... 66 
Psychopathologie und Psychiatrie... 25 er or 
Allgemeines . . .. l... 25 Jugendgericht u. Jugendgerichtshilfe, 
Geistige Defektzustände . .. . 26 Porenalaches een „1 
Psychopathie, Verwahrlosung . . . 80 Fürsorgeersiehung . . . 22. 73 
Psychosen . loaa 33 Gefängniswesen . . . 2 2 2 an. 74 
Krankheiten des Kindesalters (einschl. Gesetzgebung - . . o 2 2 222... 74 
allgemeine Pathologie) 0... 34 | Erzieher, Fürsorger, Ausbildungsfragen 77 


Normale Pädagogik . . ...... 41 | Allgemeines . . 2 2 2 2 2000. 79 


Nasoı 


Inhaltsverzeiehnis,. 





Siegmund-Schultze, F. Ausbildungsfragen der Jugendwohlfahrt mit be- 
sonderer Berücksichtigung der Psychopathenfürsorge. . . 

Nohl, Hermann. Die Ausbildung der Sozialpädagogen durch die Universität 
Kramer, Franz. Eingliederung des Unterrichts über die en 
des Kindes- und Jugendalters in das akademische Studium ’ 

Francke, Herbert. Die Ausbildung der Jugendrichter. 2 

Leyen, Ruth v. der. Die Eingliederung der Psychopathenfürsorge i in die 
Ausbildung der Jugendwohlfahrtspflegerinnen 2 

Gregor, Adalbert. en im Bereiche der Anstaltsffirsorge- 
erziehung . 

Herrmann, Walter. Die pädagogische Ausbilduhp ve von Strafvollzugsbeamten 
an Jugendgefängnissen . . 

orlesungen und Übungen über J ugendwohlfahrt, "Fürsorgewesen und Heil- 
pädagogik, einschl. der Grenzgebiete an den Universitäten. ; 

Psychopathenfärsorge in Wohlfahrtsschulen po a g 

Kroh, O. Die eidetische Anlage bei J ugendlichen 

Lyon, Erna. Hoeilpädagogisches Erholungsheim . 

Thumm, M. Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig 

Bühler, Charlotte. Die Kinderlüge . 

Fürstenheim. Über den Zusammenhang der geisteswissenschaftlichen und 
der naturwissenschaftlichen Jugendsichtung. Mit 1 Abbildung 
Hesselbarth. Zum 100jähr. Bestehen der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf 
Bartsch, Karl. Die Hilfsschule — die een Unterrichtsanstalt 
Tugendreich, G. Über Säuglingsturnen . . T E 
Zade, Martin. Blindenwesen und Blindenfürsorge i im Kindesalter. Mit 3 Ab- 


bildungen . 
Eliasberg, W. Wie entstehen und verlaufen aufgabefreie »natärliche« Be- 
obachtungsvorgänge? . 


Theissen, A. Eine Mehrleistung ait dem Gebiete des Gedächtnisses bet. einem 
Schwachsinnigen. Mit 1 Abbildung . . . ae in ei ae 

Isserlin, Max. Zum zweiten Kongreß für Heilpädagogik . Be 

Homburger, August. Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg 

Radi, Hans. Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder. . . 

Machaček, Johann. Ey oanagHde Studie über Erfindungsversuche von 
11—14jährigen Knaben . . 

Dirr, Hans Robert. Hilfsklassen an Sohwerhörigen- und Sprachheilschulen 


Seite 


IV Inhaltsverzeichnis. 


Schwartz. Bericht über die in den Jahren 1922—1923 vorgenommene neu- 
rologisch-psychiatrische Untersuchung der in Erziehungsanstalten neu auf- 
genommenen Fürsorgezöglinge der Provinz Sachsen . 

Emmerig, Ernst. Vorschlag einer gemeinsamen religiösen Unterweisung 
Taubstummer und Schwachsinniger im 18. Jahrhundert . 

Isserlin, Max. Fragen der heilpädagogischen Ausbildung . 

Leyen, Ruth v. der. Fünf Fälle von » Verwahrlosung« 

Gregor, Adalbert. Probleme und Aufgaben in der Fürsorgeerziehung . 

Brednow, W. Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern 

Francke. Neue Bestimmungen auf dem Gebiete des Jugendstrafrechts 

Raatz, W. Prinzipien in der non der Hilfsschule . 


Heilpädagogische nn Er . . . 46, 155, 251. 
Ausbildungsfragen. . . . nennen. 55, 157, 256, 334, 
Gesetzgebung. . . . : „2 2 nn nn... 58, 161, 257, 336, 
Verschiedenes . . : Lee. 258, 


Tagungen. . ie ee ee ee Bl 


Il. Kongreß für Heilpädagogik it in München 

Leitsätze zu den Referaten des Kongresses . . 
Gesellschaft für a Mitgliedervorzeichuis 
Berichtigung . . ; ; l 
Autorenverzeichnis . 





Seite 


Ausbildungsfragen der Jugendwohlfahrt mit besonderer 
Berücksichtigung der Psychopathenfürsorge.'!) 


Von 
F. Siegmund-Schultze, Berlin. 


Die Fürsorge für jugendliche Psychopathen ist ein besonders 
wichtiges Element in der fortschreitenden Erkenntnis der Notwendigkeit 
besserer Ausbildungsmöglichkeiten in der Jugendwohlfahrt gewesen. 
In der Psychopathenfürsorge zeigte sich am deutlichsten, welcher 
Schade dadurch angerichtet wurde, daß man die Eigenart der psycho- 
pathischen Konstitutionen nicht besser erkannte. Es kam hinzu, daß 
die fortschreitende Proletarisierung unserer Großstädte, unter dem 
Druck der Kriegs- und Nachkriegsnöte, die Tendenz zum Hervortreten 
dieser Konstitution ständig weiter trieb. Nirgends war der Einfluß 
des Milieus, sowohl nach Seiten der Veranlassung des Übels wie nach 
Seiten der Besserung, so offensichtlich wie bei diesen kranken Kindern 
der modernen Gesellschaft. Infolgedessen konnte man auch nirgends 
die Methoden einer »Erziehung durch Wechsel der Umwelt« besser 
studieren als bei diesen so schnell und fein reagierenden Typen der 
jugendlichen Psyche. Wie das Studium der Krankheit stets viel 
Nutzen für die Hygiene abgeworfen hat, so ist das Studium der 
»halbschwachen« und »halbstarken« Psyche vun größter Bedeutung für 
die Erkenntnis der sogenannten gesunden Kinderseele geworden. Wer 
die Bedürfnisse der Psychopathen erfaßt. erfaßt die Nöte der Großstadt- 
jugend überhaupt.?) 

Demgemäß hat sich auch die Notwendigkeit, die Ausbildungsmöglich- 
keiten der Jugendwohlfahrtspflege zu heben, im wesentlichen aus der 
Praxis der großstädtischen Jugendwohlfahrt ergeben.?) In der Jugend- 
gerichtshilfe und in der Gefährdetenfürsorge, in den Kinderhorten und 
Jugendvereinen, in den Gefängnissen und Fürsorgeerziehungsanstalten 
fanden wir die Jugendlichen. die in ihrer Seele litten unter den Folgen 


1) Vgl. ds. Zeitschrift, 28. Bd., S. 374. 
?, Vgl. R.v.derLeyen. »Eingliederung der Psychopathenfürsorge in sozialen 
Frauenschulen«. S. 17. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 1 


2 F. Siegmund-Schultze: 
des Lebens der »Gesellschaft« und unter den falschen Methoden einer 
sogenannten Besserung und Erziehung. Diejenigen, die an dieser 
Großstadtjugend arbeiteten, hatten nicht die nötige Einsicht in den 
Krankheitsverlauf und den Heilungsprozeß, zu dem sie hätten helfen 
sollen. Als sich infolge der Kriegsverwahrlosung die Anstalten füllten 
und Tausende von gefährdeten Großstadtkindern unter Schutzaufsicht 
kamen, da zeigte es sich, da8 unsere Wohlfahrtspfleger und Beamten 
einfach unfähig waren, sich diesen Nöten entgegenzustellen. Mir 
ist der Mangel an fähigen Jugendpflegern am stärksten entgegen- 
getreten, als ich inmitten der Kriegsnöte den Aufbau des Berliner 
Jugendamtes zu leiten hatte: es fehlte vollständig an Männern. die die 
einfachsten Voraussetzungen zur Arbeit an der Großstadtjugend mit- 
brachten. Es fehlte u. a. ganz einfach an den nötigen Kenntnissen. 
Es fehlte aber vor allem an der Zusammenfassung, an der Deutung 
der Kenntnisse, durch die allein die richtige Art der Behandlung des 
Jugendlichen im Einzelfall gewährleistet wird. 

Auf Grund dieser Erfahrungen begründeten wir damals die 
»Jugendwohlfahrtsschule« in Berlin-Ost. die eine gewisse Pivnierarbeit 
in dieser Hinsicht tun durfte. Allerlei andere Schulen und Er- 
gänzungen von Schulen entstanden allmählich. Aber was das 
wichtigste war: Die »Ausbildungsfrage«e der Sozialbeamten wurde 
aktuell. Zahlreiche Sitzungen, Tagungen und Kongresse beschäftigten 
sich damit, so daß selbst die Behörden erwachten ... aber hier halte 
ich ein, denn es wäre zu viel Komisches zu berichten. ehe man von 
den Ansätzen zum Besseren zu erzühlen hätte. 

Noch sind wir in dem Zeitalter der Ausbildung für Jugendwohl- 
fahrt, in dem sowohl die einzelnen Zweige der Jugendwohlfahrt wie 
auch die verschiedenen Organe der Ausbildung gesondert vorgehen. 
Fürsorgeerziehung für sich, Gefängnisse für sich; andrerseits Frauen- 
schulen für sich, Verwaltungsakademien für sich; ja die einzelnen 
Fakultäten der Universitäten für sich. Als ob es keine übergreifenden 
Geister mehr gäbe! Das Fortschreiten der Fachspezialisierung und 
-Isolierung hat es mit sich gebracht. daß Kriminalist und Psychiater. 
Sozialhygieniker und Sozialpolitiker. Pädagoge und Seelsorger, auch 
wenn sie denselben Stoff bearbeiten. ohne Fühlung miteinander arbeiten. 
Die moderne Jugendwohlfahrt aber braucht, wie das Beispiel der 
Psychopathen zeigt. die gesammelte Aufmerksamkeit des Medi- 
ziners und des Juristen, des Pädagogen und des Nationalökonomen. 
Die Akademiker wenigstens sollten erkennen, daß es höchste Zeit ist, 
eine Zusammenführung der isolierten Fächer vorzunehmen; freilich 
ehören dazu Männer, die, wie Professor Nohl sagt. die Aufgabe der 


Ausbildungsfragen der Jugendwohlfahrt usw. 3 


Jugendwohlfahrt in ihrer Totalität begriffen haben.!) Nur bin ich der 
Meinung, daß während der nächsten Jahre im allgemeinen nur die- 
jenigen zu einer solchen Erfassung der Gesamtaufgabe gelangen 
werden, die die Totalität des Problems in der Praxis der Jugend- 
wohlfahrt kennen gelernt haben. Es handelt sich unı den Menschen, 
um den Menschen einer bestimmten Zeit und Umwelt, der in keinem 
Laboratorium, sondern nur in der unvergitterten und unverglasten 
Welt gesehen und in seiner Totalität erfaßt werden kann. 

Auch darüber kann kein Zweifel sein, daß alle Fakultäten in ähn- 
licher Weise besserer und zugleich vielseitiger verankerter Ausbildungs- 
möglichkeiten in der Jugendwohlfahrt bedürfen. Amtsgerichtsrat 
Francke?) zeigt die Notwendigkeit einer besonderen Vorbildung für die 
Jugendrichter auf. Was für die Juristen gilt, gilt für die Spezialisten 
unter den Medizinern, Nationalökonomen. Philosophen und Theologen 
natürlich in gleicher Weise. Es gilt für alle Sozialbeamten, -An- 
gestellten und -Helfer überhaupt, die den Anforderungen der Zeit ge- 
wachsen sein wollen. 

Auch wenn die Ausbildung der Wohlfahrtspfleger für ihren be- 
sonderen Aufgabenkreis meist nur in diesem selbst stattfinden kann, 
ist eine Vorbildung vonnöten, die allerlei gemeinsame Elemente 
wenigstens für alle Jugendwohlfahrtspfleger aufweist. Prof. Gregor?) 
zeigt, daß auf dem Gebiet der Anstaltsfürsorgeerziehung zwar die 
Ausbildung der Erzieher durch die Anstalten selbst stattfinden muß, 
daß aber eine Vorbildung, abgestuft nach dem Verantwortungs- und 
Arbeitsbereich des Erziehers, auf der Universität, dem Lehrerseminar, 
in besonderen Lehrgängen usw. erfolgen muß. Ähnliches zeigt 
Waltber Hermann‘) auf Grund seiner Erfahrungen in Hahnöfersand 
für die Strafvollzugsbeamten auf. Wie weit die Vorbildung eine ein- 
heitliche für die Jugendwohlfahrtsarbeit überhaupt sein könnte, ist in 
diesen Aufsätzen nicht untersucht. Auch da kann die Vereinheit- 
lichung nur von denen kommen, die die Einheitlichkeit der Aufgabe, 
den Zusammenhang der verschiedenen Aufgaben in Strafvollzug und 





1) Vgl. Hermann Nobl, »Die Ausbildung der Sozialpädagogen durch die 

Universitäte. S. 5. 

?) Vgl. Horbert Francke, »Die Ausbildung der Jugendrichter.« S. 14. 

s) Vgl. Adalbert Gregor, »Ausbildungsfragen im Bereiche der Anstalts- 
fürsorgeerziehung«. S. 24. 

*) Vgl. Walter Hermann, »Die pädagogische Ausbildung von Strafvollzuss- 
beamten an Jugendgefängnissen«. S. 30. 
] * 


4 F. Siegmund-Schultze: Ausbildungsfragen der Jugendwohlfahrt usw. 


Fürsorge, Erziehung und Leben geschaut haben. Und wer diese Zu- 
sammenhänge geschaut hat, wird die Jugendwohlfahrt überhaupt nicht 
mehr als ein isoliertes Spezialgebiet ansehen, sondern das Gesamtleben 
des Volkes und seine Mitarbeit daran mit der Jugendwohlfahrtsarbeit 
aufs engste verknüpfen. Ja, die Anschauungen, die wir vom Volksleben 
und Völkerleben haben, werden durch die neue Art der Jugend- 
wohlfahrtsarbeit aufs stärkste beeinflußt werden. Die Seele des Kindes 
zu suchen und zu schützen, auf sie das Leben der Großen stärker 
einzustellen und aufzubauen — wo ist doch dies »Werden wie die 
Kinder«e in der Geschichte der Menschen zum Weckruf geworden ? 





Die Ausbildung der Sozialpädagogen 
durch die Universität. 


Von 
Hermann Nohl, Göttingen. 


Die Universität hat für die soziale Jugendarbeit, wenn ich recht 
sehe, ein dreifaches zu leisten; sie soll die wissenschaftliche Forschung 
auf diesem Gebiet organisieren und entwickeln und die Lebrkräfte 
dazu bereitstellen; sie soll weiter die beruflichen Fachleute für die 
leitenden Stellen auf dem Gebiet der Jugend- und Wohlfahrtspflege 
ausbilden, die Beamten der Jugendämter, die Leiter der Erziehungs- 
und heilpädagogischen Anstalten jeder Art bis zu den Gefängnissen; 
und sie soll endlich sozialpädagogische Einstellung und Erkenntnis an 
alle Studierenden vermitteln, die in ihren späteren Berufen einmal mit 
der Jugend in Berührung kommen werden: Ärzte, Geistliche, Juristen, 
als Beamte und Richter, Sozialpolitiker und vor allem die Lehrer. Diese 
letzte Aufgabe, die Erziehung des akademischen Nachwuchses zu dem 
neuen Blickpunkt und der neuen Gesinnung ist zur Zeit in Deutsch- 
land vielleicht die wichtigste. Denn die sozialpädagogischen Organi- 
sationen, die wir überall schaffen, und die neuen Gesetze leben nur, 
wenn Einsicht und Wille in den Menschen da ist, die sie schließlich 
durchführen müssen. 

Wie die Dinge zur Zeit an den Universitäten liegen und an- 
gesichts der finanziellen Verhältnisse hat es nun wenig Zweck, sich 
ein Ideal von Ausbildungsmöglichkeiten mit Forschungsinstituten und 
Ordinariaten usw. auszudenken, so wertvoll eine Realisierung, z. B. 
des Münchener Gedankens eines heilpädagogischen Forschungsinstituts 
und ähnlicher Spezialorganisationen wäre. Ins Allgemeine gesehen würde 
dafür nicht bloß das Geld, sondern es würden auch die nötigen Menschen 
fehlen, um diese Lehrstühle zu besetzen. Die Universitäten sind auf 
solche Aufgaben nicht vorbereitet, und es ist doch auch nicht jeder tüchtige 
Praktiker geeignet, Universitätslehrer zu werden; an diesem Versuch 
sind schon bedeutende Leute gescheitert. Man wird also versuchen 
müssen, möglichst mit den vorhandenen Mitteln zu arbeiten, und die 
Lösung wird im Augenblick weniger in neuen großen Einrichtungen 


(5) H. Nohl: 


liegen als in einer Kristallisation der vorhandenen Kräfte und Inter- 
essen für die neuen Aufgaben durch eine Organisation dessen, was 
bisher schon geboten wurde, um das richtige Zentrum. 

Die Voraussetzung für eine Überlegung nach dieser Richtung ist 
dann eine Übersicht über die jetzigen Verhältnisse an den Uni- 
versitäten. Ich habe mir die Vorlesungen und Übungen der letzten 
vier Semester, soweit sie unsre Arbeit berühren, also Jugendwohl- 
fahrt, Fürsorgewesen, Heilpädagogik einschließlich der medizinischen, 
juristischen, sozialpädagogischen usw. Grenzgebiete zusammenstellen 
lassen und veröffentliche diese leider etwas unvollständige Zusammen- 
stellung S. 36 u. ff.. 

Die Zusammenstellung zeigt zunächst, was ja vorauszusehen 
war, aus wie ganz verschiedenen Quellen die soziale Jugendarbeit 
auch hier gespeist wird. Die ganz heterogene geschichtliche Herkunft 
unsrer Bewegung ist hier noch in dem zumeist völligen Nebeneinander 
der isolierten Fächer sichtbar. Geht man die Fakultäten durch, so 
haben die Theologen ihren tiefen alten Einsatz in der christlichen 
Liebestätigkeit, Seelsorge und inneren Mission. In der juristischen 
Fakultät setzt die Bewegung bei den Kriminalisten ein —- ein Jugend- 
recht wird erst in Münster, Berlin und Hamburg gelesen. Die Medi- 
ziner finden von der Sozialhygiene, der gerichtlichen und sozialen 
Medizin, der Pädiatrie und Psychiatrie den Weg zur Jugend, dann 
beteiligt sich Sozialpolitik und Kommunalpolitik; schließlich Pädagogik 
und Psychologie. Jede geistige Bewegung und insbesondere jede 
pädagogische Bewegung zeigt eine solche heterogene Herkunft, nur 
macht sich bei der sozialen Jugendarbeit diese Vielseitigkeit des Lebens 
besonders drastisch bemerkbar. Und einstweilen stehen diese ver- 
schiedenen Einsätze auf der Universität eben im wesentlichen ohne 
Zusammenhang nebeneinander. und die Fakultätstrennung wirkt hier 
wieder einmal verhängnisvoll. 

Aus diesem Nebeneinander, vertreten außerdem doch von — zu- 
meist nur — Nebenkollegs der eigentlichen Fachausbildung der Mediziner, 
Juristen, Lehrer usw., entsteht aber die entscheidende Frage: wo denn 
nun das wissenschaftliche Zentrum für die Ausbildung des 
Sozialbeamten liege. Einen wie schwierigen Punkt diese Frage berührt, 
ergibt sich aus dem immer wieder auftauchenden Streit, wer denn 
der eigentlich zuständige in der praktischen Arbeit sei, der Psychiater 
oder der Pädagoge, der Jurist oder der Sozialpolitiker oder der Geist- 
liche? Dieselbe Frage entsteht für die Wohlfahrtspflegeschulen — ziehen 
sie ihre Lebenskraft aus der Medizin oder Sozialpolitik oder der 
Juristerei oder der Pädagogik? — und sie zeigt sich bei dem Zu- 


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Die Ausbildung der Sozialpädagogen durch die Universität. 7 


ständigkeitsstreit der ministeriellen Ressorts. Bei den Universitäten 
steht die Sache nun so, daß gerade diejenigen Universitäten, die bereits 
selbständige Organisationen für unser Studium geschaffen haben oder 
bei denen wenigstens ein spiritus rector für die Organisation dieser 
Ausbildung vorhanden ist, die verschiedenste Antwort auf das Problem 
gefunden haben: Frankfurt durch Klumker von der Armenfürsorge 
aus, Münster durch den Psychiater Többen, Bonn durch Müller- 
Heß von der Gerichtsmedizin aus, Köln von der Sozialpolitik, Ham- 
burg durch Liepmann und Hertz von der Kriminalistik, Heidel- 
berg und München durch Gruhle und Isserlin von der Psychiatrie, 
Göttingen durch den Verfasser von der Pädagogik aus. Man wird 
diese Entwicklung nicht meistern können, sondern das Ergebnis 
daraus ziehen: 

1. Daß es zur Zeit vor allem auf den einzelnen aktiven Menschen 
ankommt, der den Sinn, dieser großen Aufgabe in ihrer Totalität be- 
griffen hat, ganz gleich von wo aus er sich ihr nähert. Diese Menschen 
kann man nicht kommandieren, sondern nur hoffen, daß sie sich all- 
mählich an den Universitäten immer mehr finden. 

2. Daß diese heterogenen Einsätze das Gute mit sich bringen, 
den großen Aufgabenkreis unsres Gebietes von jeder Seite aus in An- 
griff zu nehmen und wissenschaftlich zu durchdringen. Eine vorzeitige 
Verengung wird dadurch verhütet, ebenso eine zu schnelle Verbeamtung 
der Bewegung. Die Universitäten würden sich so spezialisieren, daß 
München etwa die heilpädagogische Seite ausbaut, Köln die sozial- 
politische, Hamburg die kriminalistische usw. Und hier wäre dann 
der Boden für die oben zuerst genannte Aufgabe der Universitäten 
de Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung nach den ver- 
schiedenen Richtungen hin. 

3. Das letzte Ergebnis bei dem Überblick über die jetzigen Ver- 
rältnisse an den Universitäten ist aber doch wohl die Einsicht, dad - 
fir die Dauer und für die Allgemeinheit der Universitäten eine 
wiche Spezialisierung, ebenso wie das bloße Nebeneinander der ver- 
schiedenen Vorlesungen und Übungen nicht ausreicht, sondern daß 
ir für die Ausbildung des neuen beruflichen Sozialbeamten wie für die 
Vertretung der sozialen Jugendarbeit bei den Universitäten einen 
verantwortlichen Träger brauchen, der ihre Kräfte zusammenfaßt, für 
die Vollständigkeit des Lehrplans sorgt und das Gewissen dieser Ar- 
heit entwickelt. Spranger hat diese Frage für die Wohlfahrtspflege- 
hulen kürzlich so beantwortet, daß es schließlich doch das päd- 
agogische Ethos sei, das sich in dieser Schule auswirken müsse, denn 
die Arbeit zu der sie erziehe, gehe auf die »Höherbildung der Mensch- 


S H. Nohl: 


heite, wenn sie sich im letzten richtig verstehe. Und die neue Päd- 
agogik, die begriffen hat, daß sie mehr ist als Schulpädagogik, und 
die ganze Ausdehnung ihres Arbeitsfeldes vor sich sieht, kommt dieser 
Aufgabe freudig entgegen. In ihrer Hand wird vor allem die dritte 
jener Aufgaben liegen, von denen ich zuerst sprach, die Vermittlung 
der neuen sozialpädagogischen Einstellung an die breite Masse der 
Studierenden aller Fakultäten, vor allem der Lehrer. Wird sie aber 
nicht auch schließlich die entscheidende wissenschaftliche Durchbildung 
der späteren beruflichen Sozialbeamten leisten müssen? 

Denn zur Zeit steht die Sache doch so: die Vorlesungen und 
Übungen wiederholen sich fast an allen Universitäten durchschnitt- 
lich in einem Turnus von zwei Semestern. Auch wo unsre Aus- 
bildung sich bereits organisiert hat, geschieht sie zameist in zwei 
Semestern und zumeist in ein- höchstens zweistündigen Kollegs. Das 
sagt aber von selbst, daß es sich dabei nicht um eine wissenschaft- 
liche Durchbildung handelt, sondern um eine »Einführung« in unser 
Gebiet, wobei vorausgesetzt wird, daß der Student seine eigentliche 
wissenschaftliche Haltung anderswo gewinnt: als Mediziner, als Jurist 
oder Lehrer und nur nebenbei noch diese Dinge mitnimmt. Das 
würde genügen, wenn es sich nur um die Einführung handelte, also 
um jenes in Berührung bringen möglichst vieler Studierender aus allen 
Fakultäten mit unsern Fragen und ihrem Geist. Aber es reicht nicht 
aus, um den künftigen beruflichen Leiter unsrer Arbeit draußen fest- 
zumachen. Dieses zentrumslose Nebeneinander hat einen dilettanti- 
schen, im schlechten Sinne volkshochschulmäßigen Zug und entspricht 
nicht dem, was wir wissenschaftliche, hochschulmäßige Erziehung 
nennen. Solche Grundlage scheint mir — wo der einzelne nicht von 
der Fachwissenschaft herkommt, also Mediziner, Jurist, Nationalökonom, 
Lehrer ist — nur die Pädagogik geben zu können und sie scheint 
mir auch die Berufene dafür zu sein. Die Bewegung geht jetzt da- 
hin, an allen Universitäten etatsmäßige Professuren für Pädagogik ein- 
zurichten, hoffentlich unterbricht die Finanzmisere diese Entwicklung 
nicht. Wo nicht bereits andere an die Arbeit gegangen sind, werden 
diese neuen Professuren auch die verantwortlichen Träger dieser Aus- 
bildung sein müssen. Sie werden in ihren Schülern einen Typus auf- 
ziehen, der von einem gemeinsamen Boden allgemeinpädagogischen 
Lebens und Wissens den Übergang zu den Lehrern jeder Art wie zu 
den Jugendpflegern und Fürsorgebeamten finden kann. Schließlich 
sind es ja doch überall die pädagogischen Naturen, die den Weg hier- 
hin wie dorthin suchen. Bei der Durchführung dieses pädagogischen 
Studiums werden aber die andern Wissenschaften auf das ernsteste 





Die Ausbildung der Sozialpädagogen durch die Universität. 9 


mithelfen müssen, wie sie denn auch die speziellere Durchbildung 
nach der einen oder anderen Seite übernehmen werden, z. B. die Aus- 
bildung des Heilpädagogen, des Jugendbeamten, wie — meinetwegen 
auch des Turnlehrers oder des Germanisten. 

Eine zweite Frage, die sich bei jeder Berufsausbildung auf der Uni- 
versität geltend macht, ist die, ob die Ausbildung rein theoretisch 
oder auch schon praktisch sein soll. Ganz gelöst ist sie weder 
für den Mediziner noch für den Juristen oder den Oberlehrer. Die 
Antinomie ist jedesmal diese: betreibt man die praktische Ausbildung 
neben dem theoretischen Studium, dann kommt die Theorie zu kurz, 
der Student soll sich auf der Universität vor allem besinnen. Um- 
gekehrt leidet aber das rein theoretische Studium daran, daß dem 
Studenten die lebendige Anschauung, die Anregung der praktischen 
Fragen usw. fehlt, so daß er die Verbindung zwischen dem, was er 
auf der Universität hört und dem Leben nicht herstellt. Das gilt ganz 
besunders für unser Gebiet, das den meisten der Akademiker ihrer Her- 
kunft gemäß nicht aus eigenem Leben vertraut ist. Diese Schwierig- 
keit ist denn auch sofort für die Ausbildung in der Jugendfürsorge 
sichtbar geworden. Frankfurt hat sie so gelöst, daß es wie die Wohl- 
fahrtspflegeschulen ein vorhergehendes praktisches Halbjahr ver- 
langt. Das ist der Weg, den Jahnke auch für den Oberlehrer wünschte. 
Aber der ausgezeichnete Frankfurter Kurs mit seinen zwei Semestern, 
von denen das eine eben zum größeren Teil praktische Ausbildung 
gibt, und der überhaupt vor allera an Leute denkt, die ihre ent- 
scheidende wissenschaftliche Ausbildung bereits auf anderen Gebieten 
bekommen haben, kann doch nur eine Form der Lösung sein. Schon 
weil sie die Ausbildung im Grunde doch dem übrigen Studium nur 
anhängt, aber keinen selbständigen, grundständigen Weg darstellt. 
Unser Ideal muß aber sein, wie die andern Fächer den jungen Studenten 
so früh als möglich, zu bekommen, damit wir seine revolutionären 
Jahre schon für uns gewonnen haben. Die fertigen Studenten oder 
gar diejenigen, die schon im Beruf waren, haben diese Möglichkeiten 
inneren Lebens nicht mehr. Das weiß jeder, der z. B. mit den sonst 
so wertvollen Menschen aus dem Volkschullehrerkreis zu tun hat: die 
Wurzeln gehen nicht mehr so tief, die praktische Abzweckung wird 
zu schnell gesucht, die innere Starrheit ist schon zu groß. Dann 
scheint mir aber für die Lösung unsrer Frage nur der Weg übrig zu 
bleiben, den ich in Göttingen versucht habe, daß man die jungen 
Menschen während ihres Studiums so viel als möglich mit der prakti- 
schen Arbeit in Berührung bringt, sie an Jugendgerichtssitzungen 
teilnehmen läßt, sie dem Jugendheim oder dem Jugendpfleger für die 


10 H. Nohl: 


Abendarbeit, der Hortleiterin für den Hort zur Verfügung stellt, sie 
Beziehungen zum Jugendamt gewinnen läßt durch Zulassung zu den 
Sprechstunden, Einsicht in die Akten, Mitnahme bei den Feststellungen 
der Fürsorger, Teilnahme an der Schutzaufsicht, indem ihnen ein Kind 
anvertraut wird usw. Und daß man sie während der Eerien, d. h. doch 
während mehrerer Monate im Jahr in die praktische Berufsarbeit, vor 
allem in die Erziehungsanstalten schickt, nach Analogie der medizinischen 
Famuli in den Krankenhäusern. So waren in diesen Sommerferien 
Schüler von mir in Hahnöfersand und in der Sozialabteilung des 
Hamburger Gefängnisses — Direktor Koch, hatte in diesem Jahr 
10 Stellen für diese Zwecke bereitgestellt — andere waren in Beveren, 
in Basel, in Rothenburg, (Hannover). Die Göttinger Landeserziehungs- 
anstalt hat eine Stelle eingerichtet, in der ein Student als Praktikant 
obne seine wissenschaftliche Ausbildung zu unterbrechen, während 
des Semesters an dem Gemeinschaftsleben der Anstalt mithilft. Die 
Tübinger psychiatrische Klinik berichtet im letzten Heft der Zeit- 
schrift für Kinderforschung über ähnliche Versuche einer »regelmäßigen 
Einstellung von Volontärinnen« »eine Symbiose, die für alle Beteiligten 
nur Vorteile bringen würdee. P. Backhausen hatte sich auch bereit 
erklärt, Studenten in dieser Weise während der Ferien aufzunehmen, 
was dann leider durch seine Krankheit verhindert wurde. Die Schaffung 
von Plätzen für solche Mitarbeiter durch Gewährung freier Station 
— Hamburg zahlte außerdem noch das Hilfsaufsehergehalt, auch 
Cronsberg wollte noch ein Taschengeld zahlen, aber schon die freie 
Station bedeutet für viele Studenten während der Ferien eine große 
Erleichterung ihrer Existenz — scheint mir eines der wichtigsten 
Mittel zur Entwicklung unsrer Ausbildungsarbeit zu sein, das wir 
gar nicht genug betreiben können. Daß das Heilerziebungsheim Templin 
seine Praktikantinnenstelle wieder aufgeben mußte, bedauere ich un- 
gemein. Die Verwaltungen müssen einsehen, daß der sicherste Weg 
für die Beschaffung brauchbarer, richtig eingestellter und erfahrener 
Beamten ist, wenn sie hier nicht sparen, zumal diese akademischen Kräfte, 
so bedarft sie nach der einen Seite meist sind, nach der andern doch 
einen Geist und eine Bereitschaft mitbringen, die die meisten Anstalten, 
namentlich für ihr Gemeinschaftsleben, sehr wohl brauchen können. 
Eine dritte Frage, die für die Universitätsausbildung entscheidend 
ist, geht auf die Dauer und den Abschluß des Studiums. Wenn 
ich richtig sehe, gewähren Frankfurt und Münster den Kursusteil- 
nehmern ein Examen und ein Diplom über ihre Ausbildung. Auf 
die Dauer wird man das allgemein nicht entbehren können. Die 
Voraussetzung wäre aber eine gleiche obligatorische Mindestdauer des 


Die Ausbildung der Sozialpädagogen durch die Universität. 11 


Studiums. Nach meinen Erfahrungen und analogen Einrichtungen be- 
deuten vier Semester ein solches Mindestmaß, wenn nicht, wie in 
Frankfurt, bereits ein abgeschlossenes Studium vorausgegangen ist. 
In Göttingen versuche ich einen solchen viersemestrigen Turnus auf- 
zubauen, für den die vier pädagogischen Hanptkollegs mit den an- 
schließenden Seminaren die Grundlage abgeben, aber so, daß man in 
jedem Semester neu in den Kursus eintreten kann. Wir müßten dann 
in der Jage sein, unsern Schülern nach vier Semestern und dem 
Nachweis einjähriger praktischer Arbeit, die in den Ferienetappen ab- 
gedient sein kann — auf Grund eines Examens ein Diplom geben zu 
können, das dem Zeugnis der geprüften Wohlfahrtspflegerin gleich- 
wertig ist. Nicht höherwertig, aber gleichwertig, so daß die jungen 
Menschen auch diesen Weg über die Universität in ihren Beruf gehen 
können. Die Verschiedenheit des Wegs ist zunächst jedenfalls nur 
günstig, ich denke mir die Lösung hier analog wie für die Volks- 
schullehrerbildung, für die auch die Universität neben dem » Akademie- 
seminare offen sein sollte. Das lebenskräftigere und brauchbareıe 
wird sich dann durchsetzen. Vielleicht liegt aber in der verschiedenen 
Herkunft derer, die zu unserm Beruf durchdringen, auch ein dauernder 
Grund für eine solche Doppelheit des Vorbildungswegs. Jedenfalls — 
ohne ein solches Diplom bleibt das Studium auf der Universität eine 
Sackgasse. Ob sich später dann höhere Examina herausbilden werden, 
ist zurzeit belanglos, wir brauchen jetzt vor allem diesen ersten Typus, 
den Grundtypus des sozialen Beamten. Für diejenigen, die sich 
speziell weiter bilden wollen, ist ja auch noch die Promotion da. Nimmt 
man den akadenıischen Typus aber von vornherein zu hoch, so wird keine 
Möglichkeit bestehen, ihn draußen zu beschäftigen. Wie wir uns heute 
keinen Studienratsgehalt für den Volksschullehrer leisten können, so 
wird auch der Jugendptleger, Fürsorgeerzieber, Sozialbeamte dieser Mittel- 
gruppe zugerechnet werden müssen. Nur dann wird es möglich sein, 
in der heutigen Lage, die Umgestaltung unserer Erziehungsanstalten 
und Gefängnisse vorzunehmen, ohne die wir aus dem Jammer nie heraus- 
kommen werden, auch durch keine Weiterbildung der jetzigen Unter 
beamten — nämlich daß die »Aufseher«e durch den wirklichen Er- 
zieher in Gemeinschaft mit dem »Meister« ersetzt werden. 

Die letzte Frage wäre schließlich: was soll den Studenten in den 
vier Semestern geboten werden, der Lehrplan? Ich hoffe, daß eine Beant- 
wortung dieser Frage hier nicht von mir erwartet wird. Sie ergibt sich 
ja zum Teil aus dem Material, das $.36 u. ff. zusammengestellt ist. 
Und vorschreiben wollen, was im einzelnen dazu gehört, wäre nicht 
universitätsmäßig, das muß man der produktiven Entwicklung überlassen. 


Eingliederung des Unterrichts 
über die Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters 
in das akademische Studium. 


Von 
Franz Kramer, Berlin. 


Bei der Organisation des Unterrichts in der Psychopathologie des 
Kindesalters an den Universitäten müssen wir vor allem anstreben 
eine größere Planmäßigkeit zu erreichen, als es bisher der Fall ge- 
wesen ist. Wie schon Professor Nohl erwähnt hat, war diese Aus- 
bildung bisher im wesentlicben von Zufälligkeiten abhängig. Es ist 
notwendig, daß an den einzelnen Universitäten diejenigen akademi- 
schen Lehrer, in deren Lehrbereich die Psychopathologie des Kindes- 
und Jugendalters fällt und die diesem Gebiete ein besonderes Interesse 
zuwenden, sich mit den Vertretern der Pädagogik, der Psychologie 
und des Jugendrechts zur Aufstellung eines gemeinsamen Lehrplanes 
zusammenfinden. Wir müssen hierbei unterscheiden einerseits zwischen 
den Medizinern, die sich auf diesem Gebiete besonders ausbilden wollen 
und den Pädagogen andererseits, die entweder hauptberuflich der Er- 
ziehung schwererziehbarer Kinder sich widmen oder mit diesen mehr 
oder minder häufig in Berührung kommen; den letzteren sind dann 
auch die Juristen, vor allem die zukünftigen Vormundschaftsrichter, 
Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte zuzurechnen. Bei den Medi- 
zinern wird man so vorgehen müssen, daß sie, nachdem sie den 
üblichen Lehrgang in der Psychiatrie durchgemacht haben, einen be- 
sonderen Kursus (von etwa zwei Wochenstunden) in der Psycho- 
pathologie des Kindesalters durchmachen. Hierbei sind sie darin zu 
unterrichten, in welcher Weise sich die psychischen Anomalien in der 
Kindheit und im Jugendalter äußern, wie sie auf die Erziehbarkeit des 
Kindes, auf sein Verhalten in der Schule, im Beruf und im sozialen 
Leben einwirken und sich praktisch bemerkbar machen. Damit wird 
Hand in Hand gehen müssen eine allgemeine Orientierung über die 
pädagogischen, sozialen und juristischen Gesichtspunkte, die für unser 
Gebiet von Bedeutung sind. Die Unterweisung hierin kann entweder 


F. Kramer: Eingliederung des Unterrichts usw. 13 


durch den die betreffende Vorlesung abhaltenden Psychiater, besser 
in einer gesonderten, jedoch in organischen Zusammenhang gebrachten 
Vorlesung erfolgen. Die Kurse, die für die Pädagogen und Juristen ab- 
gehalten werden, sollen nicht darin bestehen, daß den Hörern ein- 
gehende psychiatrische Kenntnisse vermittelt werden, sie sollen nicht 
darin unterrichtet werden, selbständig psychiatrische Diagnosen stellen 
zu können. Es muß sorgfältig die Gefahr vermieden werden, daß 
nicht eine oberflächliche Halbbildung, ein gedächtnismäßiges Ein- 
lernen einiger wissenschaftlicher Schlagwörter erzielt wir. Das 
was in diesen Kursen erreicht werden soll, ist nur, daß der 
Hörer das Prinzipielle der psychiatrischen Betrachtungsweise der 
in Frage kommenden Probleme kennen lernt, daß er es lernt die 
Kinder objektiv zu beobachten und nicht wertende und moralisierende 
Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen. Es ist noch die Frage, 
ob man die Unterweisung für diejenigen, die hauptberuflich mit 
schwererziehbaren psychopathischen Kindern zu tun haben, von den- 
jenigen trennen soll, die nur gelegentlich mit ihnen in Berührung 
kommen, wie die Lehrer, Jugendfürsorger und Jugendrichter. Im 
ganzen erscheint mir dies nicht erforderlich zu sein, da im Prinzip 
der Lehrgang der gleiche für beide Kategorien sein wird und der 
Erzieher. der insbesondere mit abnormen Kindern in Berührung 
kommt, in reiner Tätigkeit und im Zusammenarbeiten mit dem Psychiater 
sich am besten die notwendige Vertiefung seiner Anschauungen an- 
eignet. 

Unter denjenigen Medizinern, für welche die Ausbildung in der 
Psychopathologie des Kindesalters besonders erforderlich erscheint, 
stehen natürlich in erster Linie diejenigen Ärzte, welche an Heil- 
erziehungsanstalten für abnorme Kinder und an Fürsorgeerziehungs- 
anstalten hauptamtlich oder nebenamtlich tätig sind. Aber auch die 
Ärzte an den Jugend- und Wohlfahrtsämtern, die Kommunalärzte, 
die Schulärzte, die Ärzte an den Jugendgefängnissen müssen über 
dieses Gebiet ausreichend orientiert sein. Wichtig erscheint es mir 
auch, daß die zukünftigen Kreisärzte sich genügende Kenntnisse auf 
unserem Gebiet aneignen, da sie vor allem die Aufgabe haben, die 
Erfahrungen auf unserem Gebiete auch der ländlichen Bevölkerung und 
der Bevölkerung in kleineren Städten zugute kommen zu lassen, denen 
sonst nur schwer eine Beratung in dieser Beziehung zur Verfügung 
steht In den für die Ausbildung von Kommunalärzten, Kreisärzten, 
Schulärzten zu veranstaltenden Kursen erscheint mir die Berück- 
sichtigung der Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters ein 
dringendes Erfordernis. 


Die Ausbildung der Jugendrichter. 


Von 
Herbert Francke, Berlin. 


Der Jugendrichter bedarf einer Spezialaunsbildung. 


Das ist die These, die ich versuchen werde zu verteidigen. Die 
These bedarf sofort einer Einschränkung. Nach dem JGG ist Jugend- 
richter jeder Strafrichter, der im besonderen Jugendverfahren vor- 
geht. Mit den aus $ 57a GVG sich ergebenden Einschränkungen hat 
jedes, auch das kleinste Amtsgericht seinen Jugendrichter. Die Forderung 
einer Spezialausbildung kann naturgemäß nur für diejenigen Jugend- 
richter erhoben werden, für welche die jugendrichterliche Tätigkeit das 
alleinige oder hauptsächliche Arbeitsgebiet abgibt. In $ 20 Abs. 2 JGG 
sind diejenigen Jugendgerichte herausgehoben, die jährlich mindestens 
10 Sitzungen abhalten: sie erhalten unter allen Umständen Jugend- 
schöffen. Sie sollten auch einen besonders vorgebildeten Jugendrichter 
erhalten. Aber auch mit dieser Einschränkung ist meine These keines- 
wegs Gemeingut. Zwar ist man von vornherein sich darüber klar ge- 
wesen, daß die Jugendrichter mit Sorgfalt ausgewählt werden müssen. 
Schon die preußische Allg. Verf. v. 1. Juni 1908 JMBl S. 237 stellt 
die Anforderung auf, daß bei Auswahl des Jugendrichters Wert darauf 
gelegt werden soll »ob der Richter diesem Zweige der richterlichen 
Tätigkeit bei reifer Lebenserfahrung volles Verständnis und Neigung ent- 
gegenbringt«. Der Reichstag hat bei der Verabschiedung des JGG sogar 
eine Entschließung angenommen, daß »für das Amt des Jugendrichters, 
wie überhaupt für das Amt des Strafrichters gerade die bestbefähigten 
Richter herangezogen« werden möchten. Die preußische Allg. Verf. 
v. 20. Juni 1923 JMBl S. 450 findet hierin den Ausdruck der Über- 
zeugung, »daß das Amt des Jugendrichters besondere Beanlagung und 
Liebe zur Sache erfordere und daß für die Arbeit an der Jugend die 
tüchtigsten Kräfte Verwendung finden müßten. In diesen Kund- 
cebungen der leitenden Stellen findet sich die klare Erkenntnis, dab 
das Amt des Jugendrichters Eigenschaften erfordert, die nicht bei 


H. Francke: Die Ausbildung der Jugeudrichter. 15 


jedem Richter ohne weiteres vorausgesetzt werden können. Demgemäß 
sind viele Jugendrichter ihrem Wunsche und ihrer Neigung ent- 
sprechend zu ihrem Amte berufen worden. Es ist nun aber ein großer 
Unterschied, ob ein Jugendrichter für sein Amt außer der dafür un- 
erläßlichen Lust und Liebe und natürlichen Begabung auch noch eine 
besondere Vorbildung mitbringt oder nicht. An einer solchen fehlt 
es den heutigen Jugendrichtern fast durchweg. Nur einige wenige 
ind durch die Arbeit des Hamburger Volksheims hindurchgegangen, 
und lediglich als ein Glückszufall muß es bezeichnet werden, daß wir 
einen Jugendrichter in Deutschland haben, der ein führender Jugend- 
psychologe ist. Man wird einwenden, daß es auch so gegangen ist 
und daß Deutschland seit 1908 immerhin eine Reihe von Jugend- 
richtern hervorgebracht hat, die Ersprießliches geleistet haben. Aber 
gerade diesen dürfte die Empfindung nicht fremd sein, daß sie weit 
mehr hätten leisten können, wenn ihnen in ihrer Jugend eine so breite 
wissenschaftliche Einführung in die Jugendkunde gegeben wäre, wie 
sie heute auf Jugendwohlfahrtsseminaren geboten wird, und wenn sie 
zu Beginn ihrer praktischen Ausbildung eine Zeitlang in der Jugend- 
gerichtshilfe, in der Fürsorgeerziehung und im Jugendstrafvollzug selbst 
mitgearbeitet hätten. Eigene Ermittelungen öffnen das Auge für Vor- 
züge und Mängel fremder Ermittlungsberichte. Fehlende eigene An- 
stalts- und Gefängnispraxis kann später durch noch so zahlreiche Be- 
sichtigungen nicht ersetzt werden. Ebenso schwer sind die Lücken 
in der wissenschaftlichen Fachbildung auszufüllen. Gewiß erwirbt 
auch der nicht besonders vorgebildete Jugendrichter mit den Jahren 
eine beachtliche Erfahrung auf seinem Arbeitsgebiet. Aber die Einzel- 
erfahrungen müssen verankert werden in einer auf wissenschaftlichen 
Überblicken beruhenden Gesamtanschauung, und es ist nicht jedermanns 
Sache, durch nachträgliches Studium sich einen Überblick über die 
Jugendprobleme selbst zu erarbeiten. Je mehr die Ausbildung der 
Jugendwohlfahrtspfleger an den Universitäten und Wohlfahrtsschulen 
fortschreitet, um so mehr gerät der für seine Arbeit nicht besonders 
vorgebildete Jugendrichter gegenüber den anderen Stellen der Jugend- 
türsorgearbeit ins Hintertreffen. Es geht auf die Dauer nicht an, daß 
der Jugendrichter an den Bildungsmöglichkeiten, die den Sozialbeamten 
geboten werden, vorübergeht. Schließlich liegen in seiner Hand die maß- 
zebenden Entscheidungen über das Schicksal der Minderjährigen: er 
schließt und öffnet die Pforten des Gefängnisses und der Erziehungs- 
anstalt. Man wird daher verlangen müssen, daß er sich die Fachbildung 
des Jugendwohlfahrtspflegers mindestens in ihren Grundzügen zu eigen 
macht. 


16 H. Francke: Die Ausbildung der Jugendrichter. 


Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen will ich nun versuchen, 
darzulegen, wie ich mir die Durchführung meiner Forderung denke. 
Als das Ideal erschiene es mir, wenn eine hinreichende Anzahl von 
jungen Juristen schon in der Ausbildungszeit den Jugendrichterberuf 
als Lebensaufgabe erkennen würde und nun in edlem Wetteifer mit Päd- 
agogen, Theologen, Nationalökonomen die vollen Möglichkeiten sozial- 
pädagogischer Ausbildung, die heute auf den Universitäten und in 
der Praxis der Jugendämter, Jugendwohlfahrtsvereine, Erziehungs- 
anstalten und Jugendgefängnisse geboten werden, sich erschlösse. 
Bei dem gegenwärtigen Abbau der sozialen Arbeit besteht geringe 
Aussicht, daß viele Juristen darnach handeln. Aber wenn auch nur 
einige wenige ihre Ausbildung in diesem Sinne anlegten, würde schon 
viel gewonnen sein. Sie würden die Wegebereiter sein für einen neuen 
Typus des Jugendrichters. Die Grundlegung der Sonderausbildung 
müßte hiernach schon in der Universitätszeit erfolgen. Während der 
Vorbereitungszeit bleibt wenig Zeit für Ausbildung auf Sondergebieten. 
In diesem Ausbildungsabschnitt kann es sich höchstens darum bandeln, 
durch Vorträge einführender Art und durch gelegentliche Besichtigungen 
die Fragen der Jugendwohlfahrt an die breite Masse der jungen Juristen 
heranzutragen und einen Schimmer von Interesse dafür bei ihnen zu 
erwecken. Für Jugendrichter an größeren Jugendgerichten (JGG $ 20 
Abs. 2) müßten dann Nachschulungskurse eingerichtet werden, in 
denen der auf den Jugendwohlfahrtsseminaren dargebotene Stoff in 
den wesentlichsten Grundzügen vorgetragen werden müßte. Die Nach- 
schulung der Jugendrichter würde wesentlich erleichtert, wenn ihnen 
ein kurzgefaßter Leitfaden der Jugendkunde mit besonderer Berück- 
sichtigung der Psychologie, Psychopathologie und Kriminologie der 
Jugendlichen und der Jugendkriminalpädagogik zur Verfügung gestellt 
werden könnte. Das Buch von Többen, Die Jugendverwahrlosung 
und ihre Bekämpfung (Münster 1922) verdient hier Erwähnung, wenn 
es auch nicht vollkommen das gibt, was mir hier vorschwebt. 

Viel wäre schon gewonnen, wenn die eine oder andere Justiz- 
verwaltung sich entschließen wollte, in einer allgemeinen Verfügung 
die jungen Juristen auf den Wert einer frühzeitig begonnenen be- 
sonderen Vorbildung für das Amt des Jugendrichters und auf die 
vorhandenen Ausbildungsmöglichkeiten hinzuweisen. 


Die Eingliederung der Psychopathenfürsorge in die 
Ausbildung der Jugendwohlfahrtspflegerinnen. 


Von 
Ruth v. der Leyen, Berlin. 


Der Unterricht über Jugendwohlfahrt an den Sozialen Frauen- 
schulen ist von vier verschiedenen Richtungen ausgegangen: 

1. von der religiös-caritativen Seite: es sind dies die kon- 
fessionellen Frauenschulen der Inneren Mission und der katholischen 
Caritas. Es werden die grundlegenden gesetzlichen Bestimmungen 
über die Ausübung der Jugendwohlfahrt vermittelt. Die ethisch- 
soziale Einstellung ist die der Seelenrettung, der sittlich-religiösen 
Hebung Gefährdeter. 

2. Andere Schulen gehen aus von der sozial-wirtschaftlichen und 
sozial-pädagogischen Seite der Probleme. Die Zusammenhänge zwischen 
Kriminalität und Verwahrlosung einerseits, zwischen sozialen Miß- 
ständen andererseits, die Kenntnisse über die Möglichkeiten des Ein- 
greifens auf gesetzlichem und fürsorgerischem Wege, über wirt- 
schaftlich -fürsorgerisches Eingreifen, Schutzaufsicht, anderweitige 
Unterbringung, Beeinflussung des Berufs- und Arbeitslebens werden 
vermittelt. Die Erziehung zum selbständigen, wirtschaftlich tüchtigen 
Staatsbürger ist der leitende sozial-ethische Gesichtspunkt. 

3. Die Ausbildungsstätten für Kreisfürsorgerinnen, die Gesundheits- 
fürsorgeschulen im weitesten Sinne gehen von rein gesundheits- 
pflegerischen Gesichtspunkten aus. Der Unterricht über die Hygiene 
der Volkserziehung, die körperliche Gesundheit des Einzelindividuums 
steht im Vordergrund der Aufgaben. 

4. Endlich sind noch die Frauenschulen zu nennen, die mit 
Ausbildungsstätten für pädagogisch-soziale Berufe verbunden sind. 
Durch die starke Betonung der Kenntnisse von der psychologischen 
Entwicklung des Kindes und seiner pädagogischen Beeinflussung wird 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 2 


18 R. v. der Leyen: 


die Einstellung der Schülerinnen zu den Problemen der Jugend- 
gefährdung beeinflußt. Die Erziehung des Einzelindividuums steht 
am stärksten im Vordergrund der Ausbildung. 

Wir sehen also, daß, ähnlich wie bei den Universitäten, der 
religiöse, der medizinische, der pädagogische und der volkswirtschaftliche 
Ausgangspunkt für die Entwicklung der einzelnen Frauenschulen 
führend war. Dies muß betont werden, weil trotz der Aufstellung 
gemeinsamer Unterrichtspläne sich jede Schule die Eigenart ihres 
ursprünglichen Ausgangspunktes durchaus bewahrt hat. 


Seit einiger Zeit sind von pädagogischer Seite Forderungen nach 
einer Vertiefung des pädagogisch-psychologischen Unterrichts an den 
Frauenschulen laut geworden. So schreibt Eduard Spranger!): »Es ist 
zu wünschen, daßdie pädagogischen Stunden an den sozialen Frauenschulen 
mehr und mehr den Mittelpunkt für das eigentümliche Ethos abgeben, von 
dem der ganze Bildungsgang kräftig durchdrungen wird. Eine solche 
Kraft liegt nicht in den ökonomischen, nicht in den juristischen 
Gegenständen des Lehrplans, ja sie liegt nicht einmal in den sozialen. 
wenn nicht der Geist der Wohlfahrtspflege allgemein auf die Höher- 
bildung des Menschen statt auf die Heilung bereits eingetretener Schäden 
eingestellt wird.« — In diesem Aufsatz bat der Verfasser einen Unterrichts- 
plan für die Eingliederung des Pädagogik- und Psychologieunterrichts 
in den Lehrplan der sozialen Frauenschulen veröffentlicht. in dem wohl 
zum erstenmal offiziell Lehrstunden über »das gefährdete und psycho- 
pathische Kinde gefordert werden. Spranger meint, daß dieses Stoff- 
gebiet selbstverständlich erst nach Erörterung der normalen Erscheinungen 
auftreten könne, daß es überhaupt Grundsatz sein müsse, nichts als abnorm 
oder als angeboren kriminell anzusehen, was irgendwie noch aus den 
normalen Erscheinungen verstanden werden könne Spranger 
fordert weiter, daß die Grenzen der Erziehbarkeit den Schülerinnen 
innerhalb des allgemeinen pädagogischen und psychologischen Unter- 
richts durch den Unterricht über das gefährdete und psychopathische 
Kind zum Bewußtsein gebracht werden sollen. Es soll durch diesen 
Unterricht verhütet werden, daß alle Grenzerscheinungen nur mit dem 
Auge des Psychiaters oder des Strafrichters gesehen werden. Da die 
sozialen Ursachen der Verwahrlosung in andern Stunden behandelt 
werden, soll hier der Ton auf die psychopathischen Erscheinungen 
gelegt werden. Spranger fügt hinzu, daß »der Plan zu solchen 
Vorlesungen nur vom Arzt entworfen werden kann, der auch zugleich 

1) »Kindergarten« 63. Jahrgang, 1922, April/Mai: »Über die Gestaltung des 
Lehrplans in Psychologie und Pädagogik an den Wohlfahrtsschulen«. 


Die Eingliederung der Psychopathenfürsorge usw. 19 


vor laienhaften Übergriffen warnen wird«. Von pädagogischer Seite 
aus stellt Spranger für den Unterricht folgende Disposition auf: 


I. Ursachen der Gefährdung: 
1. Äußere (gesellschaftliche) Gefährdung. 
2. Innere (persönliche) Gefährdung: 
2a. leibliche Entwicklungshemmungen, 
2b. psychische Entwicklungshemmungen. 


II. zu 2b. 

1. Nervenkrankheiten und Hysterie, 

2. Schwachsinn und Verwandtes, 

3. Psychopathische Minderwertigkeiten. 

4. Geisteskrankheiten. 

Anhang zur Orientierung über Psychoanalyse, besonders 
Alfred Adler. 


II. Psychologie der Entgleisung unter Beobachtung aller früher 

behandelten Faktoren. 

Wie wenig im ganzen diesen im Jahre 1922 aufgestellten 
Forderungen an den sozialen Frauenschulen noch Rechnung getragen 
wird, zeigt das auf Seite 43 abgedruckte Ergebnis einer Umfrage von 
Frau Direktorin Keller-Thale über den Unterricht in der Psychopathen- 
fürsorge an 17 sozialen Frauenschulen in Deutschland. Es sei im 
folgenden auf diese Zusammenstellung verwiesen. 


Vordem ich mich mit den eigenen Forderungen für die Gestaltung 
des Unterrichts über psychopathische Kinder und Jugendliche aus- 
einandersetzen kann, habe ich die Frage zn stellen: Weswegen 
fordern wir im Rahmen der Jugendwohlfahrtsausbildung überhaupt 
die Ausbildung in der Psychopathenfürsorge’? 


Es liegt im Wesen der Jugendwohlfahrtspflege, daß alle, die sie 
treiben, dauernd, und wenn auch in noch so geringem Umfange in 
Leben, Erleben und Schicksal Jugendlicher eingreifen. Je differen- 
zierter die Ausübung der Jugendwohlfahrtspflege sich im Laufe der 
kommenden Jahre entwickeln wird, um so vielgestaltiger und feiner 
sollen und werden die Maßnahmen werden, die bei jeglicher drohenden 
Gefährdung zu treffen sind. 

Eine jegliche fürsorgerische Maßnahme, auch wenn sie noch so 
indirekt mit dem Kind zu tun hat, su z. B. die Hebung der wirt- 
schaftlichen Lage der Familie, ein längerer Erholungsaufenthalt der 


I 


20 R. v. der Leyen: 


Mutter, hat Wirkungen auf das Familienleben, auf die Umwelt des 
Kindes. Das Kind ist — je nachdem, ob sein Organismus fein oder 
grob gebaut ist —, weniger oder stärker empfindlich für solche Um- 
gebungswirkungen. Es ist gewissermaßen das Instrument, das auf jeden 
Lufthauch — im übertragenen Sinne — reagiert, sei es ansprechend, 
sei es absprechend. Es ist so der beste Indikator für solche Einflüsse, 
die je nach seiner Anlage in geringerem oder stärkerem Maße ent- 
wicklungsfördernd, entwicklungshemmend oder entwicklungsstörend 
einwirken können. 


Woher leiten wir die Berechtigung ab, die Kenntnis des ab- 
normen Kindes, und zwar speziell des psychopathischen Kindes 
für die Jugendwohlfahrtspflege zu verlangen? Wir leiten sie ab von 
den praktisch gewonnenen Erfahrungen über die Beziehungen zwischen 
Umwelt und Anlage in ihren Wirkungen auf die Entwicklung jedes 
Kindes, jedes Jugendlichen. Wir haben hier dreierlei zu beobachten: 


l. die Erscheinungsform, in der das Kind uns unter der ge- 
gebenen Umwelt entgegentritt, 


2. die Umgestaltung im Wesen des Kindes durch veränderte 
Umwelt und Erziehung (es muß erneut betont werden, daß auch jede 
noch so indirekte Veränderung in der Beeinflussung des Kindes bereits 
zu Veränderungen in dessen Wesen führen kann), 


3. den störenden, unter Umständen zerstörenden Einfluß, den 
ein schwieriges und durch seine Schwierigkeit gefährdetes oder 
kriminelles Kind auf das Familienleben, also seine Umwelt, und da- 
mit rückwirkend wieder auf sich selbst, ausübt. 

Zum besseren Verständnis dieser Sätze müssen wir uns folgendes 
klar machen: Die Wirkungen der Umwelt auf das Kind lassen sich 
am besten bei dem Kinde erkennen, das am feinsten, unmittelbarsten 
reagiert. Diese fein reagierenden Kinder und Jugendlichen werden 
wir bei näherer Beschäftigung am ersten unter den psychopathischen 
Kindern finden und so die wichtigsten Schlüsse ziehen können auf 
die Wirkung der Umwelteinflüsse auf normale Kinder. Wir werden 
zudem aus diesen Beobachtungen Aufklärungen über die Entstehung 
von Erziehungsschwierigkeiten aus ungeeigneter Umwelt von den 
psychopathischen, schwererziehbaren Kindern erhalten. Und endlich 
wird die Jugendwohlfahrtspflegerin die Erfahrung machen, daß das 
Zusammenleben einer ganzen Familie nicht selten getrübt, ja gestört 
wird durch die sich steigernden Erziehungsschwierigkeiten eines ihrer 
Mitglieder, insbesondere dann, wenn diese Erziehungsschwierigkeiten 
zur Begehung asozialer Handlungen führen. Die Jugendwohlfahrts- 


Die Eingliederung der Psychopathenfürsorge usw. 21 


pflegerin kann hier nur helfend durchgreifen, wenn sie gelernt hat, 
Erziehungsschwierigkeiten in ihrem Entstehen zu beobachten, wenn 
sie erfahren hat, wie sehr Umwelt und Veranlagung in ihrer 
Wechselwirkung schließlich asozial erscheinende Persönlichkeiten 
zeugen können. Wir brauchen also die Kenntnisse vom und die 
Erfahrungen mit dem psychopatischen Kind, um daraus für die Be- 
handlung und Beeinflussung der Jugendlichen zu lernen, mit denen 
die Jugendwohlfahrtspflegerin es zu tun hat. Die vorbeugende Arbeit 
am körperlich, geistig oder sittlich gefährdeten Kind wird stets die 
richtigen Kenntnisse von Pflege und Erziehung des Kindes, von der 
richtigen Gestaltung seiner Umweltsverhältnisse in sich schließen. 

Diese Betrachtungen geben uns den Hinweis auf den Inhalt 
des Unterrichts über das psychopathische oder schwererziehbare 
Kind. Die Kenntnis dieser Kinder soll die Beurteilung, Beeinflussung 
und die Lebensgestaltungsmöglichkeiten aller Kinder beeinflussen. 
Die Kenntnis der Kinder setzt die Fähigkeit eigener Beobachtungen 
voraus. Beobachtung will gelernt sein. Das, was demnach für den 
Unterricht gefordert werden muß, ist, daß die Schülerinnen aufmerken 
lernen auf die Äußerungen der Lebenseigentümlichkeiten des Kindes, 
sowie auf die Reaktionen der vorhandenen Umwelt auf diese Wesens- 
äußerungen und umgekehrt. Die Schülerinnen müssen lernen, daß eine 
Summe dieser Wesensäußerungen das Bild des Kindes gibt, daß nicht 
jede dieser Wesensäußerungen wie eine einfache Additionsaufgabe auf 
Grund psychologischer Kenntnisse zu lösen ist, ja, daß gerade die 
Unauflösbarkeit, wir können auch sagen ÜUnerklärbarkeit solcher 
Wesensäußerungen die höchsten Anforderungen an die zu treffenden 
Maßnahmen stellt. Der Unterricht hat ferner die Schülerinnen darauf 
hinzuweisen, daß in allen Fällen solcher Erziehungsschwierigkeiten, 
die mit den gewohnten Erziehungsmaßnahmen nicht zu überwinden 
sind, der psychiatrisch erfahrene Arzt hinzuzuziehen ist. Hieraus 
ergibt sich, daß der Unterricht am schwererziehbaren und psycho- 
pathischen Kinde ausgehen soll von den Erziehungsschwierig- 
keiten des Kindes, und daß an der Hand praktischer Erfahrungen 
gezeigt werden muß, wie vielgestaltige Ursachen auf dem Gebiet der 
Anlage und der Umwelt diese Erziehungsschwierigkeiten haben 
können. 

Es nützt den Schülerinnen nichts für ihre praktische Arbeit, 
wenn sie wissen, daß es vom psychiatrischen Standpunkt aus ver- 
schiedene Typen psychopathischer Kinder gibt. Im Gegenteil: solche 
Kenntnisse schließen die Gefahr in sich, daß die Schülerinnen glauben, 
daß jedes Kind in den engen Rahmen eines »Typus« eingruppiert 


29 R. v. der Leyen: 


werden könne, und daß mit dieser Eingruppierung das wesentliche 
der Psychopathenfürsorge geleistet sei. 


Nimmt man dagegen den Ausgangspunkt von den Erziehungs- 
schwierigkeiten und ihren Ursachen. so wird den Schülerinnen die 
Vjeldeutigkeit der einzelnen Schwierigkeiten und ihre Zusammen- 
setzung zum Bewußtsein gebracht. 


Der Unterricht zielt auf das Beobachten- und Kennenlernen der 
Kinder. Das schließt in sich. daß die theoretische Übermittlung der 
Kenntnisse nicht von den praktischen Erfahrungen zu scheiden ist: 
die Anschauung gehürt dazu. um die Theorie lebendig zu machen. 
Es ist also zu fordern. daß in den Frauenschulen psychopathische 
Kinder in der Entstehung ihrer Schwierigkeiten und in ihrer Ent- 
wicklung sowie in ihren Reaktionen auf Umwelt und Erziehung ge- 
zeichnet werden. eventuell. falls ein Psychiater den Unterricht erteilt, 
in der praktischen Abgrenzung zum Schwachsinn, zur Epilepsie und 
zu den Geisteskrankheiten des Kindes- und Jugendalters. Diese 
theoretisch gewonnene Anschauung soll dadurch lebendig gemacht 
werden. daß jeder Schülerin Gelegenheit zu praktischem Einblick in 
die offene oder geschlossene Fürsorge für psychopathische Kinder 
gegeben wird. Diejenigen, die in die praktische Pflege- oder Er- 
ziehungsarbeit gehen wollen, müssen in der Psychopathenfürsorge 
praktisch mitgearbeitet haben, um selbst die Bedeutung von Umwelt 
und Erziehung für das Kind in eigener unter Anleitung ausgeführter 
Praxis zu erleben. 


Wir kommen zu der zweiten Frage: Wer soll diesen Unterricht 
erteilen?” Die Frage ist ähnlich zu beantworten wie die nach dem 
berufenen Leiter für Psychopathenheime: der sozialpädagogisch er- 
fahrene Arzt (Psychiater), oder eine Persönlichkeit, die auf Grund 
eigener reicher Erfahrung auf dem Gebiete der allgemeinen Wohl- 
fahrtspflege und der Psychopathenfürsorge den Schülerinnen die 
Bilder psychopathischer Kinder zu zeichnen vermag, die imstande ist, 
auf Grund eigener Erfahrungen die Erziehungsschwierigkeiten psycho- 
pathischer Kinder in ihrer Entstehung, ihrer Begründung und ihrer 
Bekämpfung zu schildern. ohne in die Gefahr zu geraten, pseudo- 
medizinische Kenntnisse vermitteln zu wollen. In diesem Unterricht 
muß besonders auf die rechtzeitige und genügend häufige Inanspruch- 
nahme des Arztes hingewiesen werden. 

Die Kenntnisse über psychopathische Kinder sind auch in den 
Kreisen der Jugendwohlfahrtspflege noch so außerordentlich vage und 
unzureichend. es wird so sehr mit Begriffen und Schlagwörtern 


Die Eingliederung der Psychopathenfürsorge usw. 23 


hantiert. die jeder grundlegenden Sachkenntnis entbehren, ja, es herrscht 
hier ebenso wie im großen Publikum vielfach noch die Auffassung, 
daß man von psychopathischen Kindern (ebenso wie von Geistes- 
kranken in der Familie) -— nämlich von den armen, minderwertigen, 
kranken Geschöpfen — nicht gern spricht, daß es eine Lust sein 
kann. hier Aufklärungsarbeit zu leisten unter den jungen, neu in die 
Arbeit tretenden Menschen. Das Ziel dieser Aufklärungsarbeit geht 
dahin: Lernt an den besonders mannigfaltig, reichhaltig, fein, immer 
neu und lebendig zu gestaltenden Maßnahmen der Behandlung, Be- 
einflussung und Erziehung schwieriger Kinder für die Erziehung aller 
Kinder. 


Ausbildungsfragen im Bereiche der Anstaltsfürsorge- 
erziehung. | 


Von 
Adalbert Gregor, Flehiugen i. B. 


Da der Erziehungserfolg zweifellos mit dem geistigen Niveau und 
der beruflichen Eignung der im Erziehungswesen tätigen Persönlich- 
keiten steigt, muß der Auswahl und Ausbildung, der an jeder Stelle 
der Fürsorgeerziehung tätigen Kräfte, die größte Aufmerksamkeit zu- 
gewendet werden. Der I. Heilpädagogische Kongreß hat in richtiger 
Erkenntnis, daß zwischen Umfang der zu erledigenden Aufgaben und 
Ausbildungsmöglichkeiten heute ein krasses Mißverhältnis besteht, die 
Heranbildung von Heilpädagogen in eingehender Weise erörtert. Leider 
sind aber durch die Zeitverhältnisse die Ziele, welche vor kaum mehr 
als Jahresirist noch erreichbar schienen, in unabsehbare Ferne gerückt, 
so daß man im allgemeinen sich darauf beschränken muß, die be- 
stehenden Mittel auszubauen und leistungsfähiger zu gestalten. 

Ein Überblick über die Ansprüche, die wir an jene Persönlich- 
keiten stellen, welchen wir die Erziehung Verwahrloster anvertrauen, 
kann bei der heutigen Lage der Dinge nur klärend und förderlich 
sein. Das vorliegende Referat soll deshalb, wenn auch nicht er- 
schöpfend, so doch ausgreifend genug angelegt seir, um auch die im 
weitesten Feld mit der Anstaltserziehung in Berührung stehenden 
Persönlichkeiten zu erfassen. 

Unbestritten dürften mindestens für das Bereich der Anstalts- 
erziehung nachstehende Leitsätze sein, welche alle in ihr tätigen 
Personen betreffen. 

I. Die Fürsorgeerziehung stellt ein eigenes Wissensgebiet vor, 
welches nur derjenige beherrschen kann, der in der Anstaltspraxis 
Erfahrungen gesammelt hat. 

II. Da die Anstaltserziehung wesentlich auf einer Lebens- und 
Arbeitsgemeinschaft beruht, müssen alle dazu berufenen Persönlich- 
keiten über seelische und moralische Eigenschaften verfügen, welche 


A. Gregor: Ausbildungsfragen im Bereiche der Anstaltsfürsorgeerziehung. 25 


diese Gemeinschaft zu einer harmonischen und wohlorganisierten ge- 
stalten. 

1. Beginnen wir beim Anstaltsleiter, also an der Spitze des 
Systems. Man wird von ihm, abgesehen von spezieller Eignung, welche 
sich aus den eben genannten Thesen ergibt, eine umfassende Bildung 
verlangen dürfen, wie sie heute nur auf der Universität zu erlangen 
ist. Mindestens beim Leiter einer größeren Erziehungsanstalt wird 
demnach akademisches Studium vorauszusetzen sein. Die im Zuge be- 
findliche Neugestaltung der Volksschullehrerbildung kommt unseren 
Forderungen entgegen. Sollten die jetzigen Zeitverbältnisse die Ab- 
lösung der Lehrerseminare durch die Hochschulen nicht allgemein er- 
möglichen, dann können wir uns doch vorläufig damit zufrieden geben, 
daß schon heute dem Wissensdurstigen und Begabten der Weg zur 
Universität frei genug ist. 

Auf der Bamberger Tagung habe ich näher ausgeführt, daß in 
jedem Lande die Leitung einer größeren F. E. A. in den Händen eines 
dazu besonders qualifizierten Psychiaters liegen müßte.!) 

Aus den Anstaltsleitern sollte die den Erziehungsanstalten vor- 
gesetzte Behörde als Vertrauensmann einen Fachreferenten wählen. 
Soll das Fürsorgewesen eines Landes gedeihen, die Fortschritte auf 
wissenschaftlichem Gebiet, zumal in aer Heilpädagogik allen Anstalten 
zugeführt, pädagogische und hygienische Fehler vermieden werden, 
dann ist bei der verhältnismäßig jungen Organisation die Vertretung 
durch einen Fachreferenten unerläßlicb. Es liegt in der Natur der 
Sache, daß dazu in erster Linie ein psychiatrischer Direktor berufen 
ist; denn wer kann tieferen Einblick in die feinere Struktur der An- 
staltsverhältnisse als er durch seine psychische und somatische Unter- 
suchung der Zöglinge gewinnen ? 

Den obigen Aufgaben dürfte er als Angehöriger jenes Standes 
besonders gewachsen sein, der auf die ständige Kontrolle der prakti- 
schen Betätigung durch die theoretische Forschung von jeher den 
größten Wert gelegt hat. In Württemberg wollte man in den Kosten 
einen Hinderungsgrund für die Bestellung eines Landespsychiaters er- 
blicken. Ich konnte aber in den „Blättern der Zentralleitung für Wohl- 
tätigkeit in Württemberg, Nr. 10, 1923“ darauf hinw?isen, daß sich 
eine derartige Einrichtung auch kostenlos schaffen läßt, wenn ein ohne- 
hin besoldeter Anstaltsleiter mit der Funktion betraut wird. Ähnliche 
Verhältnisse bestehen ja gerade in Württemberg für die Heil- und 
Pflegeanstalten. 


1) Vgl. die Wiedergabe des Vortrages im Oktoberheft des Zentralblattes für 
Vormundschaftswesen 1923 und in der Zeitschrift für Kinderforschung Jg. 28, S.273 u. ff. 


96 A. Gregor: 


2. Lehrer. Die Anstalt muß bestrebt sein, hauptamtlich tätige, 
also Lehrer zu gewinnen, welche ihr die ganze Kraft widmen, dem 
ZJögling nicht nur einen gewissen Unterrichtsstoff vermitteln, sondern 
ihn auch erziehen. und gerade in der Erziehertätigkeit ihre wesent- 
liche Bestimmung fühlen. Man komme nicht mit gesetzlich festgelegter 
Stundenzahl! Welcher Arzt wird sich im Krankendienst durch sie 
beengen lassen? Vom Seelsorger gar nicht zu reden. Und sollte es 
im Lehrerstand weniger Berufseifer geben? 

Der Lehrer, der nach Erledigung seines gesetzlichen Pensums die 
Anstalt verläßt und nicht vielmehr durch die Fülle der sich ihm hier 
bietenden Aufgaben zu lebhafterer Mitarbeit angeregt wird, mag so 
rasch als tunlich aus der Anstalt entfernt werden. 

Daß diese Auseinandersetzung überhaupt nötig ist, kommt daher, 
daß die Begriffe Lehrer und Erzieher sich nicht decken und nicht 
jeder Lehrer auch Erzieher und daher für Erziehungsanstalten brauch- 
bar ist. Um sicher zu gehen, sollte die Erziehungsanstalt ihr Lehrer- 
materjal aus der Jugendbewegung und sozialen Jugendarbeit wählen. 
Es kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, daß es Lehrerbildungs- 
anstalten, wie z. B. das Göttinger Universitätsseminar gibt, in dem 
neben der theoretischen Bildung ein besonderes Gewicht auf Praxis 
in sozialer Arbeit gelegt wird. Aus derartigen Reservoiren müssen 
die Erziehungsanstalten schöpfen. Daß die vom Kongreß für Heil- 
pädagogik geforderten Institute zur Heranbildung von Heilpädagogen 
in gleicher Weise die Schwierigkeiten, mit denen wir heute zu kämpfen 
haben, beseitigen würden, ist klar. 

3. Erziehungsbeamte und Werkmeister. Es wurde oben 
schon angedeutet, daß die Erziehungsanstalten vorläufig noch darauf 
angewiesen sind, ihr Personal selbst heranzubilden. Dies muß in be- 
sonderen Lehrgängen geschehen, in denen der erforderliche Wissens- 
stoff vermittelt und die praktische Befähigung erprobt wird. Das aller- 
größte Gewicht ist dabei auf die Persönlichkeit und ihre Anlage zum 
Erzieherberuf zulegen. Wir wollen in den Austalten nicht gescheiterte 
Existenzen sammeln, sondern Persönlichkeiten ein Arbeitsfeld bieten, 
welche zur Erziehertätigkeit berufen sind. Die Anlagen dazu müssen 
ja in irgend eer Form frühzeitig zutage kommen, da heute Jugend- 
bewegung und soziale Jugendarbeit allerorts an uns herantreten. Dann 
kommt es wesentlich auf ihre Erprobung im systematischen Anstalts- 
dienst an; dies gilt ebenso für die Werkmeister wie für die Erziehungs- 
beamten im engeren Sinn. 

In den staatlichen Erziehungsanstalten des Landes Baden wurde 
die Anstellung von der Teilnahme an einem mehrmonatlichen Lehr- 


Ausbildungsfragen im Bereiche der Anstaltsfürsorgeerziehung. 21 


gang in der Anstalt Flehingen und dem Bestehen eines Examens ab- 
hängig gemacht, dem sich 1922 alle von einem bestimmten Zeitpunkt 
in den Anstaltsdienst eingetretenen Beamten bezw. Beamtenanwärter 
unterziehen mußten, während den älteren Angestellten ein ähnlicher 
Wissensstoff in Sonderkursen vermittelt wurde. Daran schließen sich 
Fortbildungskurse, die jeden Winter für alle Beamten abgehalten werden. 

Eine Schwierigkeit könnte der Ersatz freiwerdender Stellen bilden, 
da für eine einzelne Person der ganze Apparat eines solchen Kurses 
nicht in Tätigkeit treten kann, andererseits es bedenklich erscheint, eine 
Gruppe von Personen praktisch und theoretisch auszubilden, wenn der 
Bedarf eines Landes doch beschränkt bleibt. Ich denke deshalb an ein 
Übereinkommen mehrerer Länder zu dem gleichen Zweck in der 
Weise, daß an einzelnen größeren Anstalten periodisch Ausbildungs- 
kurse stattfinden, zu denen Teilnehmer aus verschiedenen Ländern 
entsendet werden, die nach Absolvierung des Examens in ihre Heimats- 
anstalten zurückkehren. 

Man müßte aber noch einen Schritt weiter gehen, um sicher zu 
stellen, daß an Erziehungsanstalten überhaupt geeignetes Personal tätig 
ist Zweifellos bildet es eine Aufgabe des Staates für Ausbildungs- 
möglichkeiten zu sorgen, wenn er die Fürsorgeerziehung in ent- 
scheidender Weise heben will. Die Lösung besteht in einem obligatori- 
schen staatlichen Examen nach Teilnahme an einem Ausbildungskurs 
in einer staatlichen Anstalt, für das künftighin an jeder, auch nicht- 
staatlichen Anstalt anzustellende Personal, soweit nicht etwa für be- 
stimmte Anstalten gleichwertige Ausbildungsmöglichkeiten bestehen, 
wie etwa in Diakonenhäusern, deren Examen staatliche Gültigkeit er- 
teilt werden kann. 

4. Schwestern. Die uneigennützige Tätigkeit charitativer Ge- 
sellschaften leistet dem in der Erfüllung seiner Aufgaben durch finan- 
zielle Nöte stark gehemmitem Staate unschätzbare Dienste. Insbesondere 
kann die durch keine zeitlichen Grenzen und persönliche Interessen 
beengte Arbeit der Ordensschwestern nicht hoch genug angeschlagen 
werden. Allerdings dürfen wir neben diesen verlockenden Vorzügen 
nicht den eigentlichen Zweck aus den Augen verlieren. 

Wir können diese Hilfe nur dann annehmen und gebrauchen, 
wepn sie ganz in den Dienst der Sache und des zu erstrebenden 
Zieles tritt. Vorbildlich muß die bewährte Schwesterntätigkeit in der 
Krankenpflege sein. Wer wird heute ein Wort darüber verlieren, daß 
im Krankenhaus nur dazu ausgebildetes Personal tätig sein darf? Kann 
man aber Kinder und Jugendliche und noch dazu schwer Erziehbare 
pädagogisch ungeschulten Schwestern überlassen? Es muß hier 


28 A. Gregor: 


von der gleichen Grundbedingung die Annahme der Hilfeleistung ab- 
hängig gemacht werden. Dies dürfte wohl auch dem der Anstalt 
Fernerstehenden einleuchten. Scharf muß aber betont werden, daß es 
im Anstaltsdienst keine Grenzen und Kompromisse gibt. Wer in der 
Erziehungsanstalt und an welcher Stelle immer tätig ist, muß päd- 
agogisches Verständnis haben. Wir wissen, daß dies keine selbst- 
verständliche und keine allgemeine Eigenschaft ist, sondern selbst 
bei vorhandener Anlage ausgebildet werden muß. Die innere Mission 
hat in richtiger Erkenntnis der Sachlage Diakonenhäuser gegründet. 
Analoge Bildungsstätten müssen jene Orden schaffen, die im Erziehungs- 
dienst ihre Geltung behaupten wollen. 


Die innige Berührung, in welcher die Anstaltsfürsorge zur offenen 
Fürsorge steht, fordert, daß wir in diesem Zusammenhang auch wenigstens 
in Kürze auf die weiteren Kreise Ausblick halten. Daß wir beim 
Jugendamt und Amtsgericht fachmännische Bildung erwarten 
müssen, wurde von mir kürzlich im Zentralblatt für Vormundschafts- 
wesen (Januarheft 1924) ausgeführt, wo auch die Wege gezeigt sind, 
auf denen die bestehenden Mängel beseitigt werden können. 

Das Geschick der aus der Anstalt entlassenen Zöglinge liegt viel- 
fach in den Händen der Fürsorger, die sich leider noch nicht überall 
über die Bedeutung und Verantwortlichkeit ihrer Tätigkeit klar zu 
sein scheinen. Was könnte an Erziehungskosten gespart werden, wenn 
der Zögling auch außerhalb der Anstalt sorgsam betreut würde, 
indem man ihn einer Persönlichkeit übergibt, die seine Wesenheit 
zu erfassen sich bemüht, dabei aber auch für ihn zu sorgen und sein 
Geschick zu lenken versteht. Herrmann!) hat über ausgezeichnete 
Formen der Nachfürsorge berichtet; es ist Sache des Jugeudamtes allent- 
halben Veranstaltungen ähnlicher Art zu treffen und dem Zögling 
wohlinstruierte Fürsorger an die Seite zu stellen. Wer dürfte dazu 
mehr berufen sein, als die Lehrer? Erst kürzlich haben wir aus dem 
Kreise der Hilfsschullehrer die überzeugte Versicherung gehört, daß 
sie sich in erster Linie berufen fühlen, Jugendänter und Gerichte im 
Sinne des Reichs-Jugendwohlfahrts- und Jugendgerichtsgesetzes zu 
unterstützen. Wir wollen sie ungesäumt beim Worte nehmen, aber 
auch dafür sorgen, daß allen anderen Kreisen, deren Hilfe für die 
Bekämpfung der Verwahrlosung brauchbar ist, rechtzeitig ein Ver- 
ständnis der Sache vermittelt wird. Hörern aller Fakultäten müßte 


2) W. Herrmann, Das Hamburger Jugendgefängnis Hahnöfersand. Ham- 
burg 1923. 


Ausbildungsfragen im Bereiche der Anstaltsfürsorgeerziehung. 29 


an jeder Universität Gelegenheit geboten werden, sich über die 
psychopathische Konstitution zu orientieren, wie es Ziehen?) 1914 
ausgeführt hat. Sie müßten aber auch von den Fürsorgebestrebungen 
Kenntnis bekommen und ihnen der Weg gewiesen werden, auf dem 
sie sich im Rahmen ihres Berufes an der sozialen Arbeit betätigen 
können. Für Volksschullehrer halte ich die Abhaltung obligater Kurse 
im Seminar durch Fachleute, die damit vom Staate betraut sind, für 
unbedingt nötig und habe auf diesen Modus in der Zeitschrift für päd- 
agogische Psychologie ?), sowie bei. der: im Vorjahre im Reichsgesund- 
heitsamt abgehaltenen Sachverständigenkonferenz hingewiesen. 


1) Ziehen, Vorlesungen über psychopathische Konstitutionen an den Uni- 
versitäten. Die Jugendfürsorge X111. Jahrg., Nr. 11, 1918. 

?) Über die Notwendigkeit einer psychopathologischen Ausbildung von Lehrern 
und Erziehern. Zft. f. pädag. Psychologie 21. Jahrg., 1920. 


Die pädagogische Ausbildung von Strafvollzugsbeamten 
an Jugendgefängnissen.!) 
Von 
Walter Herrmann, Hamburg. 


Die im folgenden ausgeführten Gedanken über die pädagogische 
Ausbildung der Gefängnisbeamten sind aus der praktischen Tätigkeit 
im Hamburgischen Jugendgefängnis Hahnöfersand erwachsen. Sie 
machen keinerlei Anspruch auf eine auch nur einigermaßen er- 
schöpfende Behandlung des Themas, sondern wollen nur ein Beitrag 
zu dieser Frage sein unter Berücksichtigung der besonderen Er- 
fordernisse, wie sie die Praxis gezeigt hat. 

Für das Gefängnis liegt die Grundfrage bei der Ausbildung der 
Beamten wesentlich anders als etwa in der Fürsorgeerziehung. Während 
es dort ganz selbstverständlich ist, die Erziehung in den Mittelpunkt. 
der Menschenbehandlung zu stellen, ist dies für den Strafvollzug durch- 
aus nicht unbestritten. Darum gab es bislang eine eigentliche Aus- 
bildung für den Strafanstaltsdienst nicht. Im »alten« Strafvollzug, der 
in der Hauptsache auf anderen als erzieherischen Prinzipien aufgebaut 
war, auf dem Gedanken der Abschreckung, der Vergeltung, der Be- 
wahrung des Rechtsbrechers, war die Stellung des Aufsehers, also 
desjenigen Beamten, der ständig mit dem Gefangenen zu tun hatte, 
fast nur die eines Wächters und Schließers. Ist es doch z. B. in 
manchen Strafanstalten bis vor gar nicht langer Zeit den Aufsehern 
streng verboten gewesen, anderes als rein Dienstliches mit den Ge- 
fangenen zu besprechen. Die pädagogische Einwirkung war lediglich 
dem Anstaltsleiter, dem Geistlichen und dem Lehrer vorbehalten. In 
diesem Strafvollzug erübrigte sich auch eine Ausbildung der unteren 


') Zu dieser Arbeit verweisen wir auf das von Dr. Walter Herrmann er- 
schienene Buch: :Das Hamburgische Jugendgefängnis Hahnöfersand«, Verlag von 
W. Gente, Hamburg. Prof. Liepmann, Hamburg, beschäftigt sich in seiner Vorrede 
eingehend und kritisch mit der Frage der Ausbildung der Gefängnisbeamten. 

Die Redaktion. 


Die pädagogische Ausbildung von Strafvollzugsbeamten an Jugendgefängnissen. 3] 


Beamten; es genügte, sie im Technischen und »Polizeilichen« zu 
schulen. 

Ganz anders ist es nun im »neuen« Strafvollzug. Je mehr die 
Gedanken einer Elisabeth Fry, eines John Howard, Obermaier, 
Wichern — um nur einige der Vorkämpfer der Reform zu nennen — 
sich durchsetzten, je mehr der Gedanke Vorherrschaft gewann, daß 
es nicht genüge, den Rechtsbrecher eine Zeitlang einzusperren, sondern 
daß als wichtigste Aufgabe der Freiheitsstrafe eine Einwirkung auf 
den Charakter des Inhaftierten hinzukommen müßte, um so klarer 
zeigte sich auch die Notwendigkeit, sämtliche Beamte im Strafvollzug 
zu dieser Aufgabe heranzuziehen. Der Besserungsgedanke muß so- 
lange illusorisch bleiben, als er nur von den oberen Beamten erfaßt 
und in die Praxis umgesetzt wird; er kann nur Wirksamkeit erlangen, 
wenn in sämtlichen Menschen, die mit dem Gefangenen in Berührung 
kommen, ein gleiches pädagogisches Wollen herrscht und alle Maß- 
nahmen vom Erziehungsgedanken getragen werden. Die Erziehung 
des Gefangenen darf nichts sein, was — losgetrennt vom gewöhn- 
lichen Tageslauf -- zu bestimmten Stunden von bestimmten Personen 
ausgeübt wird, vielmehr muß das ganze Leben des Gefangenen sich 
in einer »erzieherischen Atmosphäre« abspielen, an deren Schaffung 
und Aufrechterhaltung sämtliche Beamten gleicherweise beteiligt sein 
müssen. Von ganz besonderer Bedeutung wird diese pädagogische 
Atmosphäre in der Gemeinschaftshaft. | 

Aus dieser Situation ergibt sich die Doppelaufgabe, welche die 
Ausbildung der Beamten zu erfüllen hat. Es handelt sich darum, 
ihnen immer wieder die Notwendigkeit der Erziehung im Jugend- 
gefängnis vor Augen zu führen und sie von dieser Notwendigkeit zu 
überzeugen. Es ist selbstverständlich, daß es auch der besten Aus- 
bildung nicht gelingen kann. aus allen Beamten gute Erzieher im 
neuen Strafvollzug zu machen, — denn letzten Endes ist das Erzieher- 
sein eine Anlage und keine Fertigkeit — und es wird für das Jugend- 
gefängnis immer eine sehr scharfe Auslese vonnöten sein. Aber nur 
durch solche Ausbildung wird es überhaupt möglich, die geeigneten 
Persönlichkeiten herauszufinden und vor allem: nur durch eine gute 
Ausbildung lassen sich die erzieherischen Kräfte in den einzelnen Beamten 
zur Entfaltung bringen und für die Arbeit im Strafvollzug nutzbar machen. 

Im folgenden sollen nun einige Gebiete genannt werden, auf die 
sich die Ausbildung zu erstrecken hat. Die Gesichtspunkte sind bei 
den meisten von ihnen gleiche oder ähnliche; es sei deshalb gestattet, 
immer nur diesen oder jenen der einzelnen Punkte hervorzuheben, 
zu denen dann die anderen ergänzt werden künnen. 


32 W. Herrmann: 


Als erstes sind die Elementarkurse zu erwähnen. Sie sollen die 
Möglichkeit geben, Bildungslücken im Schreiben, Lesen, Rechnen, 
Grammatik usw. auszufüllen. Das ist sehr wichtig, damit nicht die 
Gefangenen das Gefühl haben, sie wären den Beamten in diesen 
ganz einfachen Dingen überlegen. Dadurch wird die Stellung der 
Beamten von vornherein sehr erschwert und ihre Autorität gefährdet. 
Andererseits kann die Beherrschung dieser Dinge mitunter die Ge- 
legenheit geben, dem einen oder anderen der Gefangenen zu raten 
und zu helfen — etwa bei der Aufsetzung eines Gnadengesuches, 
eines Briefes an die Staatsanwaltschaft u. dgl. — was für die Schaffung 
einer persönlichen Beziehung zwischen Erzieher und Gefangenen von 
Vorteil ist. 

Daneben haben Kurse verwaltungstechnischer Art stattzufinden. 
Sie sollen zu einer Kenntnis des Gefängnisbetriebes verhelfen, sollen 
Aktenkunde vermitteln, sollen vor allem auch auf die Erfordernisse 
bei der Erstattung von »Meldungen«, bei der Beurteilung der Gefangenen 
für Führungsberichte, Gnadengesuche u. dgl. hinweisen. Es ist un- 
bedingt wünschenswert, daß der Beamte, der ständig mit dem Ge- 
fangenen zusammen ist und der sich infolgedessen an sich ein be- 
sonders genaues Bild von dem einzelnen Menschen machen kann, 
auch zu seiner Beurteilung besonders herangezogen wird. Dazu muß 
er aber fähig sein — außer der richtigen Beurteilung. von der noch 
zu sprechen ist — seine Meinung auch verständlich auszudrücken, 
damit sie die berechtigte Berücksichtigung erfahren kann. 

Zu diesen mehr technischen Kursen gehören noch Stunden 
in denen etwa Stenographie, Singen und Turnen betrieben werden. 
Diese Kurse haben direkt den Zweck, die praktisch-pädagogische 
Arbeit der Beamten im Gefängnis zu ermöglichen. Es ist sehr 
wichtig, daß der Erzieher auch bis zu einem gewissen Grade der 
Lehrer der Gefangenen sein kann, weil dies die Achtung und Liebe 
zu dem Erzieher erhöht. Durch solche Fächer wie die genannten, 
die eine längere wissenschaftliche Schulung nicht oder nicht unbedingt 
erfordern, läßt sich dies erreichen. 

Zu der Ausbildung gehört weiter eine Unterweisung in der 
Kenntnis der in Frage kommenden Gesetze. Es sind hier die Grund- 
sätze über den Vollzug der Freiheitsstrafen zu nennen, vor allem ist 
aber eine Kenntnis des Jugendgerichts- und Jugendwohlfahrtsgesetzes 
zu vermitteln. Der Gefängnisbeamte muß wissen, welche Rechtsnormen 
für den Jugendlichen gelten und nach welchen Gesetzen er in die 
Strafanstalt gekommen ist. Es kann ihm aber auch durch die Be- 
sprechung der Gesetze immer wieder vor Augen geführt werden, daß 


Die pädagogische Ausbildung von Strafvollzugsheamten an Jugendgefängnissen. 33 


der Gesetzgeber im Jugendlichen nicht den »Erwachsenen kleinen 
Formats« sieht, sondern einen Menschen, zu dessen Beurteilung andere 
Gesichtspunkte maßgebend sind als zur Beurteilung des Erwachsenen 
und dessen Behandlung anders sein muß als die Behandlung des 
reifen und vollverantwortlichen Menschen. Hier kann immer wieder 
auf das stärkste auf den Erziehungsgedanken hingewiesen werden, 
unter dem die Arbeit im Jugendgefängnis einzig zu erfolgen hat, 
will man dem Wesen und der Persönlichkeit des heranwachsenden 
Menschen gerecht werden. 

Daß man sich damit nicht auf den Boden eines krassen Indivi- 
dualismus begibt und einer weichlichen »Humanitätsduseleie das Wort 
redet, können die Kurse über Gefängniskunde sehr gut zeigen. Hier- 
bei sind die Entwicklungslinien des Gefängniswesens zu zeichnen, 
welche darlegen, daß die gegenwärtige erziehliche Tendenz in der 
Behandlung der jugendlichen Rechtsbrecher nicht die Folge einer 
gefühlsmäßigen und verschwommenen Erweichung des Strafbegriffes 
ist. Sie ist vielmehr die Konsequenz aus der durch die Erfahrung 
vermittelten Erkenntnis, daß die bisherigen Methoden nicht der Krimi- 
nalität und Verwahrlosung haben steuern können; ein ernsthafter 
Versuch. der Lösung dieser Fragen mit pädagogischen Mitteln näher 
zu kommen, liegt im unmittelbaren gesellschaftlichen Interesse. Es 
müssen den Beamten die Wege der Strafvollzugsform gezeigt und in 
ihnen die Freude erweckt werden. selbst diese Wege zu betreten und 
sich um den Fortschritt zu mühen. 

Die Gefängniskunde muß aber auch rückwärtsblickend versuchen, 
die Ursachen des Verbrechens zu erkennen. um von da aus Richt- 
linien für die Behandlung des asozialen Menschen zu gewinnen. 
Hier, bei der Betrachtung jener Ursachen, die hauptsächlich im Milieu 
zu suchen sind, wäre auch der Punkt, den Gedanken einer gesell- 
schaftlichen Schuld an den Erzieher heranzubringen. Damit ist nicht 
gemeint. daß der Beamte zu einer Einstellung gebracht werden soll, 
von der aus er im Gefangenen immer ein »Opfer des Milieus« sieht; 
diese Einstellung wäre etwas Negatives. ganz Unfruchtbares und Un- 
erzieherisches. Die Beschäftigung mit diesem Gedanken soll ihn nur 
dauernd davor bewahren, sich dem Gefangenen gegenüber als der 
selbstgefällige »Gerechte« zu fühlen und die Menschen, die er er- 
ziehen soll, als Wesen zweiter Klasse anzusehen, eine Gefahr, die bei 
dem ständigen Umgang mit jungen Menschen, die »verurteilt« worden 
sind, die sich bereits in antisozialer Weise betätigt haben, nur zu 
nahe liegt. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 2%. Bd. 


34 W. Herrmann: 


Die Frage der veranlagungsmäßigen Ursachen zum Verbrechen 
führt weiter zu einer Beschäftigung mit den physischen und psy- 
chischen Minderwertigkeiten unserer Jugendlichen. Es kommt darauf 
an, diese Minderwertigkeiten zu verstehen — etwa zu erkennen, wie- 
weit die Widerspenstigkeit eines Jungen Folge seiner psychopathischen 
Konstitution, wieweit sie bewußtes Auflehnen gegen den Erzieher ist, 
wieweit Arbeitsunlust mit wirklicher Schwäche zusammenhängt oder 
einfach Faulheit ist u. ä& — und dann den einzelnen Menschen in 
angemessener Weise zu behandeln, um in erzieherischer Hinsicht 
möglichst viel bei ihm zu erreichen. 

Medizinisch hygienische Kurse haben diese Erkenntnis zu ver- 
mitteln und zu vertiefen. Daneben muß der Beamte die elementarsten 
hygienischen Fragen beherrschen, muß einiges über die häufigsten 
Krankheiten wissen, muß sich ein Urteil bilden können über Fragen 
der Körperpflege u. dgl. 

Hand in Hand damit geht eine Besprechung der wichtigsten 
Fragen der Lebensform, insbesondere der Alkohol- und Nikotinfrage, 
der Frage des Geschlechtslebens und des ganzen Komplexes von 
Problemen, die damit zusammenhängen. Dabei genügt es nicht, daß 
der Erzieher diese Fragen sieht und ihre Bedeutung für die Erziehung 
Jugendlicher kennt, sondern gerade in diesem Punkte ist es er- 
forderlich, den Erzieher immer wieder auf die Notwendigkeit hin- 
zuweisen, hier klar und eindeutig Stellung zu nehmen, ihn von der 
Wichtigkeit zu überzeugen, erzieherisches Wollen und persönliches 
Vorlebeu in Einklang zu bringen, wenn er überhaupt einen Einfluß 
auf den jungen Menschen gewinnen will. 

Damit wären einige der Hauptgebiete, in denen die Ausbildung 
der Beamten zu erfolgen hat, kurz skizziert. Es seien jetzt noch ein 
paar Worte über die praktischen Möglichkeiten dieser Ausbildung 
gesagt. Dabei soll wieder nur wie bisher die Ausbildung der unteren 
Beamten im Strafvollzug berücksichtigt werden. Für die oberen 
Beamtenkategorien, die Vorsteher, Sozialpädagogen u. dgl. müßte man 
die Frage gesondert behandeln. 

In der Gegenwart besteht noch der Gegensatz zwischen dem 
»altene und dem »neuen« Beamten, wobei — um das noch hervor- 
zuheben — kein Unterschied an Jahren sondern eine wesentlich ver- 
schiedenartige Einstellung zu den Gefangenen und zum Strafvollzugs- 
problem gemeint ist. Nur der »neue«, der innerlich junge Beamte 
kommt für die Ausbildung zum Erzieher in Frage. Es wird Aufgabe 
des Strafvollzugs sein, nur diesem Menschen den Eintritt in die Ge- 
fängnislaufbahn zu gestatten. Dann ist aber ein weiteres Erfordernis, 


Die pädagogische Ausbildung von Strafvollzugsbeamten an Jugendgefängnissen. 35 


daß für die Tüchtigen und innerlich an der Arbeit Interessierten die 
Möglichkeit besteht, in höhere und besser bezahlte Stellungen auf- 
zurücken. Gegenwärtig ist der Gefängnisaufseher in der Gehalts- 
klasse IV, daran wird man nicht festhalten dürfen, wenn man wirklich 
ernstbaft eine erzieherische Arbeit dieser Beamten erwartet und von 
ihnen ein stärkeres Interesse an ihrer Tätigkeit wünscht als es in den 
meisten Fällen bisher vorhanden war — und vorhanden sein konnte. 
Eine weitere Forderung als Voraussetzung zur praktischen Ver- 
wirklichung des Erziehungsgedankens im Jugendgefängnis müßte sein, 
daß nur diejenigen Beamten, welche die Gefängnisschule mit Erfolg 
besucht haben, was durch eine Prüfung und längere Probezeit zu 
zeigen wäre, auf lebenslängliche Anstellung rechnen können, damit 
nicht ungeeignete und uninteressierte Menschen dauernd im Beamten- 
körper mit durchgeschleppt werden müssen, die ein Hindernis für 
jede Neuerung und jeden Fortschritt sind. 

Auf die Durchführungsmöglichkeiten der oben skizzierten Kurse, 
auf die Einordnung der nachträglichen Ausbildung der bereits im 
Dienst befindlichen Beamten in ihre gegenwärtige Tätigkeit und auf 
die Ausgestaltung eines Lehrgangs für neueintretende Aufseher möchte 
ich im einzelnen nicht eingehen. Hierbei wird es doch immer sehr 
stark auf die örtlichen Verhältnisse ankommen, so daß es nicht 
gerechtfertigt erscheint, von den geringen llamburger Erfahrungen 
zu verallgemeinern. Außerdem soll auch nichts weiter über die Ein- 
gliederung akademischer Beamter — sei es nun, daß sie ihre Lauf- 
bahn gleich in höheren Stellen etwa als Sozialpädagogen oder, was 
wünschenswerter erscheint, als einfache Aufseher beginnen, gesagt 
werden. Die Frage der Erziehergemeinschaft, die als Voraussetzung 
der pädagogischen Arbeit im Gefängnis angesehen werden muß, weil 
nur durch sie die »erzieherische Atmosphäre« ermöglicht wird, ist 
zwar ungemein wichtig, würde aber über den Rahmen dieser Aus- 
führungen hinausgehen, die lediglich einen Beitrag zur Frage der 
pädagogischen Ausbildung der Beamten geben wollten. 


3s 


Die Vorlesungen und Übungen 
über Jugendwohlfahrt, Fürsorgewesen und Heilpädagogik, 
einschl. der 6renzgebiete an den Universitäten.') 


Vorbemerkung: 1. An allen Universitäten ist in der Regel ein Turnus von 
2 Semestern. Die juristischen und medizinischen Vorlesungen finden meist in jedem 
Semester statt. 

2. An allen Universitäten wird alle ein bis zwei Semester gelesen: Schulhygiene, 
Sozialhygiene, Einführung in die Psychiatrie, Einführung in die Rechtswissenschaft, 
Kriminalpsychologie, Einführung in die Sozialpolitik. 

3. Bei den Turnlehrerkursen an den Universitäten ist immer eine Vorlesung 
über Jugendpflege und Jugendbewegung. 


A. Universitäten mit besonderen Einrichtungen für das Studium 
der genannten Gebiete. " 


l. Frankfurt a. M. 


Abteilung Fürsorgewesen der sozialwissenschaftlichen Fakultät: 
Wintersemester 1922/23. 1. Klumker, Armen- und Wohlfahrtspflege. 2st. 
— 2. Ders., Jugendfürsorge. 1st. — 3. Ders., Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. 1st. 
— 4. v. Gerhardt, Blindenfürsorge. 1 st. — 5. Klumker, Proseminar: Besichtigungen 
und Besprechung. 2 st. — 6. Ders., Hauptseminar: Praktische Übungen. 2st. 


Sommersemester 1923. 1. Klumker, Geschichte und Theorie des Fürsorge- 
wesens. 4st. — 2. Ders., Grundfragen der Jugendfürsorge. 1st. — 3, Ders., Ge- 
schichte der Jugendfürsorge. 1st. —.4. v. Gerhardt, Blindenfürsorge. 1st. — 
5. Klumker, Proseminar: Besichtigung von Erziehungsanstalten. 2 st. — 6. Ders., 
Hauptseminar: Übungen und Besprechuugen. 2 st. 


Wintersemester 1923/24. 1. Klumker, wie W.-S. 1922/23, Nr. 1. — 2. Ders.. 
wie W.-S. 1922/23, Nr. 2, — 3. Ders., Jugendpflege und Jugendbewegung. 2st. 
— 4. v. Gerhardt, wie W.-S. 1922/23, Nr. 4.—5.—6. Klumker, Seminare wie 
W.-S. 1922/23, Nr. 5 und 6. 


Ergänzende Vorlesungen: 
a) Hygiene: 


Wintersemester 1922/23. 1. Ascher, Soziale Hygiene. 2st. — 2. Hanauer, 
Gewerbehygiene. 1st. 


1) S. diesen Band, S. 5 u. ff: Nohl, Die Ausbildung der Sozialpädagogen usw. 
Die Vorlesungen werden in der Reihenfolge gegeben. wie sie in den Verzeich- 
nissen stehen. 


Vorlesungen und Übungen. 37 


Sommersemester 1923. 1. Hanauer, Gesundheits- und Bevölkerungspolitik, 1 st. 
— 2. Ders. ‚Soziale Medizin. 2 st. 


Wintersemester 1923724. 1. u. 2. Wie W.-S. 1922/23. — 3. Ascher, All- 
gemeine Hygiene für Nichtmediziner. 1 st. 


b) Säuglingspflege usw.: 
Wintersemester 1922/23. 1. Heß. Über Säuglings- und Kinderfürsorge. 1st. 
Sommersemester 1923. — — 


Wintersemester 1923/24. 1. Heß, Über Säuglings- und Kinderfürsorge mit 
Berücksichtigung der Jugendfürsorge und des Krüppelgesetzes. 1st. 


a) Psychopathologie usw.: 

Wintersemester 1922/23. 1. Goldstein und Gelb, Seminar über psychopatho- 
logische Fragen. 2 st. — 2. Wagner, Methoden der Jugendkunde. 1st. — 3. Gelb, 
Vergleichende Psychologie, insbesondere der geistigen Entwicklung des Kindes. 2 st. 
— 4. Schulz, Jugendkundliche Psychologie und Pädagogik., 2 st. — 5. Raecke, 
Kriminalistische Propädeudik. 1 st. 

Sommersemester 1923. 1. Hahn, Psychopathologie des Kindes. 1 st. — 2. N. N., 
Heilpädagogik. 2st.— 3. N. N., Pubertät und Psychopathie. 1st. 


Wintersemester 1923/24. 1. Kleist, Allgemeine Psychopathologie. 2st. — 
2. Raecke, Kriminalpsychologie. 1st. — 3. Jahnel, Einführung in die Psychiatrie. 
l st. — 4. Hahn, Psychopathologie des Kindes. 1st. — 5. v. Düring, Heilpädagogik. 
2st. — 6. Ders., Die Behandlung schulentlassener Schwererziehbarer. lst. — 


~ 


‘. Gelb, Kinderpsychologie. 1st. 


d) Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft: 


Wintersemester 1922,23. 1. Mayer, Staatsbürgerkunde. 2st. — 2. Freuden- 
thal, Kriminalpolitik. 1st. — 3. Marr, Einführung in die Sozialpolitik. 1st. — 
4. Budge, Bevölkerungspolitik und soziale Frage. 1st. — 5. N. N., Besprechungen 
über soziale Fragen. 2 st. 


Sommersemester 1923. 1. N. N., Einführung in die Volkswirtschaftslehre. + st. 
Wintersemester 1923/24. 1. Marr, Einführung in die Sozialpolitik. 1 st. 


Il. Münster. 


Wintersemester 1922/23. 1. Rosenfeld (med.), Gesellschaftspathologie. 1st. 
— 2. Besserer, Bekämpfung ansteckender Krankheiten. 2st. — 3. Többen (med.), 
Über Jugendverwahrlosung und ihre Bekämpfung. 1st. — 4. Ders., Ursachen und 
Bekämpfung der Geisteskrankheiten. 1 st. — 5. Ermann, Grundzüge des Siedlungs- 
wesens. lst. — 6. H. Weber, Das Armenwesen und seine Stellung im Rahmen 
der sozialen Fürsorge. — 7. H. Weber, Die Gestaltung der Jugendfürsorge im neuen 
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. — 8. Besserer, Hygiene des Kindes. 


Sommersemester 1923. In der juristischen Fakultät besondere Abteilung für 
Jugendrecht: Prof. Weber, Dozent für soziales Fürsorgewesen. 1. Rosenfeld, Jugend- 
recht, einschl. ‚Jugendstraf- und -fürsorgerecht. 2 st. Mit Übungen. 1st. —2. Többen, 
Jugendpathologie. — 3. Weber, Soziale Aufgaben des Staates. 2 st. — 4. Ders., 
Neue Sozialgesetzgebung. 1st. — 5. Besserer, Sozialhygiene. II. — 6. Weber, 
Seminar: Einzelfragen der Jugendfürsorge und Jugendpflege. 2st. — 7. Wolf, 


38 Vorlesungen und Übungen. 


Die Aufgaben der Berufsberatung. lst. — 8. J. Weber, Einführung in die Berufs- 
psychologie. 1 st. — 9. Kabitz, Jugendkunde. 


Wintersemester 1923/24. 1. Weber, Die soziale Fürsorgearbeit. 2st. — 
2.—4. Wie W.-S. 1922/23. — 5. Wolf, Probleme der Berufswahl. lst. — 
6. J. Weber, Psychologie der Begabung und Berufseignung. 1st. 


Ill. Bonn. 


Jedes Semester: Soziale Fürsorge in Einzelvorträgen. 
Wintersemester 1922/23. 1. Ländliche Fürsorge. — 2. Wohnungshygiene. — 
3. Tuberkulosen-Fürsorge. — 4. Krüppel-Fürsorge — 5. Irren- und Idioten-Fürsorge. 
— 6. Geschlechtskranken-Fürsorge. — 7. Kinder- und Jugendlichen-Fürsorge. 
8. Blinden-Fürsorge. 


Sommersemester 1923. 1. Müller-Heß, Sozialmedizinische Aufgaben der Gegen- 
wart. — 2. Hofmann, Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. — 3. Salge, Be- 
kämpfung der Säuglingssterblichkeit. — 4. Müller-Heß, Fürsorgeerziehung im Rahmen 
des Jugendwohlfahrtsg®setzes. — 5. Moderne Schulfürsorge. — 6. Kriegsbeschädigten- 
fürsorge. — 7. Invaliden- und soziale Fürsorge. 


Wintersemester 1923/24. 1. Müller-Heß, Neue Aufgaben zum Schutz und 
Fürsorge gefährdeter, verwahrloster und straffälliger Kinder nach dem Reichs- 
jugendwohlfahrtsgesetz. — 2. Müller-Heß, Kriminalistik der Jugendlichen. — 3. Ders., 
Fürsorgeerziehung usw. — 4. In jedem Semester Führungen in Fürsorgeerziehungs- 
anstalten, Jugendgefängnis usw. 


Sonstige Vorlesungen: 


Wintersemester 1923/24. 1. Rumpf, Die sozialen Versicherungsgesetze. 1 st. — 
2. Heimberger, Gefängniswesen. 1 st. — 3. Poppelreuter, Klinische Psychologie für 
Philosophen. 1st. — 4. Kutzner, Jugendkunde. 


Sommersemester 1923. 1. Erfurth, Arbeiterfrage im Lichte der inneren Mission. 
lst. — 2. Ders., Die neueren Wohlftahrtsgesetze im Lichte der inneren Mission. 
lst. — 3. Sioli, Soziale Psychiatrie. 1 st. — 4. Löwenstein, Geistig abnorme Kinder. 
1st. — 5. Müller-Heß, Die öffentliche Fürsorge normaler. anormaler, verwahrloster 
und krimineller Jugendlicher einschl. Jugendschutz- und Jugendgerichtshilfe mit Be- 
sichtigungen. 2st. — 6. Schulz, Das Recht des unehelichen Kindes. 1st. — 
7. Hofmann, Die Geschlechtskrankheiten. 1st. — 8. Kutzuer. Jugendkunde. 2 st. 


Wintersemester 1923/24. i. Soziale Medizin. — 2. Öffentliche Jugendfürsorge, 
wie oben. — 3. Schulhygiene. — 4. Klinische Psychologie, wie oben. — 5. Kutzner, 
Kinder- und Jugendpsychologie. 


IV. Köln. 
Abteilung für Sozialpolitik. 


Wintersemester 1922/23. 1. Heimann, Sozialpolitik. 2 st. — 2. Schmittmann; 
Wohnungspolitik. 1st. — 3. Ders., Seminar über Wohlfahrtspflege. 2 st. — 4. Sigert, 
Seelenleben des Kindes. 1st. — 5. Busch, Psychopathologie der Jugendlichen. 
lst. — 6. Krautwig, Sozialhygiene. 2st. — 7. Czaplewski, Infektionskrankheiten. 
lst. — 8. Meder, Soziale Medizin. lst. — 9. Honigsheim, Sozialpädagogik. 
lst. — 10. Luchtenberg, Pädagogische Psychologie. 2st. — 11. Rustemeyer, 
Psychologie des Reifealters. 2st. — 12. Geschlechtskrankheiten. ] st. 


Vorlesungen und Übungen. 39 


Sommersemester 1923. 1. Wie oben. — 2. Lindemann, Kommunale Sozial- 
politik. 2 st. — 3. Schmittmann, Seminar: Aufgaben der Jugendfürsorge und Jugend- 
wohlfahrt nach dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. 1st. — 4. Siegert, Säuglings- 
und Kinderfürsorge. lst. — 5. Aschaffenburg, Kriminalpsychologisches Seminar. 
lst. — 6. Busch, Einführung in die Psychotherapie. 1st. — 7. Lindworsky, 
Psychologie der Berufe. 1st. — 8. Honigsheim, Angewandte Sozialpädagogik. 1 st. 


Wintersemester 1923/24. 1. Lindemann, Sozialpolitik. 2st. — 2. Siegert, 
Säuglings- und Kinderfürsorge. 1st. — 3. Thomas, Entwicklung des Kindes und 
ihre Gefährdung. 1 st. — 4. Busch, Nervöse und psychische Krankheiten des Jugend- 
alters. 1st. — 5. Krautwig, Soziale Hygiene. 2st. — 6. Czaplewski, Schulhygiene. 
l st. — 7. Luchtenberg, Pädagogische Psychologie. 2 st. — 8. Kahl, Großstadt- 
pädagogik. 1st. 


V. Göttingen. 


Wintersemester 1922,23. 1. Nohl, Allgemeine Pädagogik. 2 st. — 2. Rede- 
penning, Psychopathenerziehung. 2st. — 3. v. Hippel, Gefängniswesen. 1st. — 
4. Honig, Kriminalpsychologie. 1st. — 5. Boldt, Aufgaben dor Städte. 1st. — 
6. Blühdorn, Säuglings- und Kleinkinderernährung, -Pflege und -Fürsorge. 1st. — 
7. Eichelberg. Nervosität. 1st. — 8. Rosenthal, Schulhygiene. 1st. — 9. Ders., 
Gewerbehygiene. 1st. — 10. Ders., Volksgesundheitspflege.. 1st. — 11. Stern, 
Psychische Grenzzustände. 1 st. 


Sommersemester 1923. 1. Nohl, Pädagogik der Gegenwart. 2 st. — 2. Ders., 
Reichsschulkopferenz. 2st. — 3. Ach, Psychologie der Kindheit und der Jugend. 
3st. — 4. Eichelberg, Psychopathologie des Kindesalters. 1st. — 5. v. Hippel, 
Jugendstrafrecht. — 6. Bondy, Gefängniserziehung. 2st. — 7. Rosenthal, Schul- 
hygiene. 2st. — 8. Ders., Sozialhygiene. 1st. — 9. Staats, Einführung in das 
Reichsjugendwuhlfahrtsgesetz. 2 st. 


Wintersemester 1923/24. 1. Nohl, Pädagogische Persönlichkeitskunde. 1st. — 
2. Sachse, Zukunftsfragen der Schulpolitik. 1st. — 3. Seedorf, Wohlfahrtspflege 
auf dem Lande (Übungen). 2st. — 4. Bondy, Probleme der Gefährdetenfürsorge 
(Übungen). 2 st. — 5. Ders., Jugendwohlfahrtsgesetz (Übungen). 2 st. — 6. v. Hippel, 
Gefängniswesen. 1st. — 7. Honig, Kriminalpsychologie und Kriminaltechnik. 1 st. — 
$. Eichelberg, Alkoholismus. 1st. — 9. Rosenberg, Gewerbehygiene. 1st. — 
10. Ders., Sozialhygiene. 1st. — 11. Ders., Ausgewählte Abschnitte der Volksgesund- 
heitspflege. 1st. — 12. Stern, Psychische Grenzzustände 1st. — 13. Damsch, 
Staatliche und private Fürsorgemaßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose. 1st. 


B. Universitäten ohne besondere Einrichtungen; aber mit ent- 
sprechenden Vorlesungen. 


a) Berlin. 


Wintersemester 1922/23. 1. Köbner, Jugendrecht und Jugendwohlfahrt. 2 st. — 
2. Stier, Über psychische und nervöse Störungen im Kindesalter. 1 st. — 3. Kramer, 
Psychopathologie des Kindesalters. 1st. — 4. Jacobsohn-Lask, Die Untersuchungs- 
methoden zur Feststellung der geistigen Befähigung und der allgemeinen sittlichen 
Orientierung eines Jugendlichen. 2st. — 5. Schäfer, Medizinische Psychologie. 
2 st. — 6. F. J. Schmidt, Pädagogische Psychologie. 2 st. — 7. Rupp, Pädagogische 
Psychologie. 2st. — 8. Leubuscher, Gegenwartsfragen der Sozialpolitik. 1st. — 


40 Vorlesungen und Übungen. 


9. Ver-Hees, Sozialversicherung im Ausland gegenüber der Sozialfürsorge in Deutschland. 
2st. — 10. Grotjahn, Sozialhygiene I. 2st. — 11. Möllers, Gesundheitswesen und 
Wohlfahrtspflege im neuen Deutschen Reich. 1at. — 12. Wolpert, Wohnungshygiene. 
lst. — 13. Korff-Petersen, Schulbygiene. 2st. — 14. Möllers, Tuberkulose und 
ihre Bekämpfung. 1st. — 15. Jürgens, Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung. 
lst. — 16. Heller, Die historische, juristische und soziale Bedeutung der Geschlechts- 
krankheiten. 1st. — 17. Gonser, Die Alkoholfrage. 


Sommersemester 1923. 1. Steinweg, Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (Gast- 
vorlesung). 4st. — 2. Ulrich, Neuordnung der evang. Wohlfahrtspflege im Rahmen 
der allgemeinen Wohlfahrtspflege etwa 4 Stunden (Gastvorlesung). — 3. Ver-Hees, 
Sozialversicherung usw. wie oben. — 4. Möllers, Gesundheitspflege. 1 st. — 5. Wolpert, 
Wohnungshygiene wie oben. — 6. Korff-Petersen, Schulhygiene. 2st. — 7. Möllers, 
Tuberku:ose und ihre Bekämpfung. — 8. Jürgens, Volkskrankheiten und ihre Be- 
kämpfung. 1st. — 9. Köbner, Jugendrecht und Jugendwohlfahrt. 2 st. — 10. Grot- 
jahn, Sozialhygiene II. 2st. — 11. Kramer, Psychopathologie des Kindesalters. 
l st. — 12. Spitta, Öffentliche Gesundheitspflege. 1 st. — 13. Seelert, Alkoholismus. 
lst. — 14. Jacobsohn-Lask, Das uervöse, schwachsinnige und psychopathische Kind. 
lst. — 15. Lars, Einführung in die soziale Gesetzgebung. 1st. — 16. Herkner, 
Sozialpolitik. 2 st. — 17. Schumacher, Einführung in die Volkswirtschaftslehre. 2 st. 


Wintersemester 1923/24. 1. Döhring, Probleme des jugendlichen Lebensalters 
von Jugendpflege und Jugenäbewegung aus. lst. — 2. Köbner. Grundzüge des 


Jugendrechtes und der Jugendwohlfahrt. 1st. — 3. Mahling, Ionere Mission. 
2 st. — 4. Langstein, Probleme des Kinderschutzes. 1st. — 5. Stier, Psychische 
und nervöse Störungen im Kindesalter. 1st. — 6. Kramer, Psychopathologie des 


Kindesalters. 1st. — 7. Heller, Geschlechtskrankheiten. 1st. — 8. Möllers, Ge- 
sundheitswesen und Säuglingspflege. Ist. — 9.—12. wie W.-S. 22:23 12—15 u. 
S.-8. 23 5.—8. 


b) Hamburg. 


Wintersemester 1922,23. 1. Liepmann, Einführung in die Rechtswissenschaft. 
3st. — 2. Bruck, Sozialversicherung. 2 st. — 3. Link, Soziale Rechtspflege. 2 st. — 
4. Liepmann, Gefängniskunde. 1 st. — 6. Perels, Besichtigung sozialer Einrichtungen, 
— 7. Brand, Siedlungswesen. 1st. — 8. Ders., Einfübung in die Städte- und Ge- 
werbehygiene. — 9. Stuck, Tuberkulose. 1st. — 10. Fülleborn, Die Parasiten das 
Menschen. 1 st. — 11. Delbanco, Geschlechtskrankheiten als Staatsgefahr. 1st. — 
12. Ritterhaus, Grundfragen der normalen und pathologischen Psychologie. 1 st. 


Sommersemester 1923. 1. Perels, Staatsbürgerkunde 1st. — 2. Liepmann, 
Kriminalpolitik. 1st. — 3. Ders., Seminar über Gefängniswesen. 2 st. — 4. Hertz, 
Konversatorium über Jugendrecht. 2st. — 5. Schwarz, Sozialhygiene Ist. — 
6. Stern, Psychologie der frühen Kindheit. 


Wintersemester 1923/24. 1. Hertz, Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. lst. — 
2. Liepmann, Gefängniskunde. 1st. — 3. Ritterhaus, Normale und pathologische 
Psychologie. 1st. — 4. Ders., Gerichtliche Psychiatrie. 1st. — 5. Bondy, Übungen 
zur Gefängnispädagogik. 1st. — 6. Stern, Schulkindbeit. 


c) Heidelberg. 


Wintersemester 1922/23. 1. Bettmann, Geschlechtskrankheiten. lst. — 
2. Homburger, Die Affektstörungen des Kindesalters. 1st. — 3. Gruhle, Pro- 


Vorlesungen und Übungen. 41 


pädeutik zur psychiatrischen Klinik und medizinische Psychologie. 1st.— 4 Gruhle, 
Psychologie der Abnormen. 2st. — 5. Ders., Charakter und Charakterbildung. 
2st. — 6. Wetzel, Gerichtliche Psychiatrie. 2 st. —'7. Dressel, Sozialhygiene. 2 st- 


Sommersemester 1923. 1. Seng, Wohlfahrtspflege, besonders Jugendwohlfahrt. 
2 st. — 2. Gruhle, Kinderpsychologie. 2st. — 3. Ders., wie oben. 


Wintersemester 1923/24. 1. Seng, wie oben. — 2. Jagemann, Gefängnis- 
wesen. 1st.— 3. Gruhle, wie oben. — 4. Ders., Kinderpsychologie. 2 st. — 5. Hom- 
burger, Heilpädagogik. 1 st. 


d) München. 


Wintersemester 1922/23. 1. Kitzivger, Gefängniskunde 1st. — 2. Zahn, 
Sozialpolitik. 1st. — 3. Kaup, Sozialhygiene. 2 st. — 4. Schneider, Schulhygiene. 
2st. — 5. Seitz, Säuglingsfürsorge. 2st. — 6. Hecker, Grundlagen der körper- 
lichen Erziehung. 2 st. — 7. Uffenheimer, Soziale Jugendfürsorge. 2st. — 8. Gött, 
Psychopathologie des Kindesalters. 1 st. —- 9. Ders., Begutachtung schwachsinniger 
Kinder. 1st. — 10. Isserlin, Allgemeine und umschriebene geistige Ausfallserschei- 
nungen nach Hirnschädigung (Aphasie, Agnosie, Apraxic, Traumat. Demenz) und 
ihre Behandlung, mit Krankenvorstellungen und Vorführung des Unterrichts, durch 
Heilpädagogen. 2 st. — 11. Ders., Pädagogische Pathologie mit Vorführungen für 
Mediziner und Heilpädagogen. 1'/,st. — 12. Ders., Psychologie für Mediziner. 
1 st. — 13. Benjamin, Kinderärztliche Besprechung für Pädagogen. 2 st. — 14. Rüdin, 
Vererbung und Entartung. 1st. — 15. Wuth, Kriminalpsychologie. 1st. — 16. Joh. Lange, 
Über krankhafte Suchten. 1st. — 17. Specht, Psychologische Übungen über das 
Sinnengedächtnis (Anschauungsbilder) der Kinder. 1 st. — 18. Nadoleczny, Praktische 
Übungen in der Behandlung von Sprachstörungen. 1st. 


Sommersemester 1923. 1. Weber, Armenwesen und Wohlfahrtspflege. 1st. — 
2. Lenz, Gesundheitslehre. 3st. — 3. Hecker, Säuglings- und Kleinkinderfürsorge. 
2st. — 4. Isserlin, Heilpädagogik. — 5. Ders., Psychotherapie mit besonderer Be- 
rücksichtigung von Hypnose, Suggestion und Psychoanalyse. 1 st. — 6. Gött. Unter- 
suchung schwachsinniger Kinder. 1st. — 7. Nadoleczny, Sprachentwicklung und 
deren Hemmungen für Ärzte und Pädagogen. 1st. — 8. Ders., Praktische Übungen 
in der Behandlung von Sprachstörungen. 1 st. — 9. Adele Hartmann, Anatomie des 
Nervensystems mit besonderer Berücksichtigung psychologischer Fragen, — 10. Wie 
W.-S. 1922.23. 13. — 11. Wie W.-S. 1922/23, 15. — 12. Wie W.-S. 1922/23, 17. 


Wintersemester 1923/24. 1. Zahn, Sozialpolitik und Woblfahrtspflege. 2 st. — 
2. Lange, Die Psychopathischen Persönlichkeiten. 1st. — 3. Schneider, Schul- 
hygiene. — 4. Hecker, Körperliche Erziehung. — 5. Wie W.-S. 1922/23 Nr. 7. — 
6. Wie W.-S. 1922/23 Nr. 8. — 7. Wie W.-S. 1922,23 Nr. 13. — 8. Rüdin, Wie 
W.-8. 1922/23, 14. — 9. Isserlin, Wie W.-S. 1922,23, 10. — 10. Ders., Wie 
W.-S. 1922/23. 12. — 11. Wuth, Wie W.-S. 1922/23, 15. — 12. Nadoleczny, Wie 
W.-S. 1922/23. 18. — 13. Gött, Wie W.-S. 1922/23, 9. 


e) Leipzig. 


Wintersemester 1922/23. 1. Döllken, Kriminalpsychologie. 1 st. — 2. Schütz, 
Allgemeine Psychopathologie. 2 st. — 3. Bostroem, Gerichtliche Psychiatrie. 1'/, st. — 
4. Hohlfeld, Kinderfürsorge als soziale Aufgabe. 1st. — 5. Schulhygiene. 1st. — 
6. Jötten, Sozialhygiene. 1st. — 7. Ders., Soziale Fürsorge. 1st. 


49 Vorlesungen und Übungen. 


Sommersemester 1923. 1. Heller, Staatsbürgerkunde. 2st. — 2. Hohlfeld, 
Arbeiten in der Kinderfürsorge, Mütterberatungsstelle usw. 1 st. — 3. Seitz, Hygiene 
der Leibesübungen. 1st. 

Wintersemester 1923,24. 1. Pfeiffer, Psychopatbologie des Kindes und des 
Jugendlichen. 1st. — 2. Hohlfeld, Kinderfürsorge.. 1st. — 3. Volkelt, Kinder- 
psychologie mit Übungen. 3st. — 4. Klemm, Pädagogische Psychologie. 1 st. 


f) Gießen. 


Wintersemester 1922/23. 1. Mittermaier, Kriminalpsychologie. 1 st. — 2. Stumpf, 
Praktischer Strafvollzug. 1st. — 3. Sommer, Medizinische Psychologie. 1st. — 
4. Psychopathologie des Jugendlichen. 2 st. — 5. Gneßbach, Schulhygiene. 1st. — 
6. Stern, Psychologie der Jugendlichen. 1 st. 


Sommersemester 1923. 1. Stumpf, Psychologie des Strafvollzug. lst. — 
2. Stern, Sexuelle Frage in der Erziehung. 1st. 

Wintersemester 1923/24. 1. Stern, Probleme des Jugendlichen ia der Literatur. 
1st. — 2. Ders., Übungen über Jugendpflege, Jugendfürsorge und Jugendbewegung. 
3st. — 3. Koffka, Psychologische Grundfragen der Pädagogik. 2st. — 4. Roller, 
Pädagogische Psychologie. 2 st. 


g) Jena. 
Wintersemester 1922/23. 1. Strohmayer, Psychopathologie des Kindesalters 
1 st. — 2. Schultz, Charakterologie und Psychiatıie. 1 st. — 3. Keßler, Sozialpolitik 
3st. — 4. Weiß, Pädagogische Psychologie. 3 st. 
Sommersemester 1923. 1. Strohmayer, Seelisch abnorme Kinder- und Jugend- 
fürsorge. lst. — 2. Weiß, Bürgerliche und proletarische Jugendbewegung. 1st. 


Wintersemester 1923/24. 1. Strohmayer, wie 1. W.-S. 1922/23. — 2. Abel, 
Schulhygiene. 1st. — 3. Giese, Soziale Medizin. 1st. — 4. Peters, Psychologie 
des Kindes- und Jugendalters. 4 st. mit Übungen. — 5. Flitner, Übungen über Volks- 
bildungswesen. 2 st. — 6. Ibrahim, Säuglingskunde. ? st. 


C. Einzelne Vorlesungen an den übrigen Universitäten. 


Wenige einschlägige Vorlesungen in Marburg, Erlangen, Würzburg, 
Rostock und Kiel. 

Im Laufe von 3 Semestern wird gelesen in Breslau: einmal Säuglings- und 
Jugendfürsorge. Freiburg: einmal Gefängniskunde, zweimal Kinderfürsorge. 
Königsberg: einmal ländliche Wohlfahrtspflege, zweimal soziale Fürsorge, zweimal 
Arbeiten im Wohlfahrtsamt. Greifswald: einmal Heilpädagogik. Halle: einmal 
Säuglingspflege, einmal Wohnungsfrage, zweimal soziale Hygiene, besonders das Für- 
sorgewesen, einmal ländliche Wohlfahrtspflege, einmal Geistes- und Entwicklungs- 
störungen der Kindheit. Tübingen: Außer den obengenannten Vorlesungen: ein- 
mal Kinderfürsorge, einmal Berufspsychologie, einmal pädagogische Psychologie. 


Psychopathenfürsorge in Wohlfahrtsschulen. 43 


Psychopathenfürsorge in Wohlfahrtsschulen.!) 


Anläßlich der Oktober-Konferenz des Deutschen Vereins zur Fürsorge für 
jugendliche Psychopathen wurde von Frau Direktor Keller-Thale eine Anfrage 
folgenden Inhalts an 17 Frauenschulen Deutschlands gerichtet: 

1. BildetdiePsychopathenfürsorgeein besonderes Unterrichtsfach des Lehrplanes? 

2. Wird die Psychopathenfürsorge im Rahmen einer anderen Stunde behandelt 
und welcher ? 

3. Wieviel Stunden sind ihr gewidmet? 

4. Welche Kapitel der Psychopathenfürsorge werden behandelt? 

5. Welche Bücher stehen den Schülerinnen zur Verfügung oder welche 
werden ihnen empfohlen” 

6. Haben die Schülerinnen Gelegenheit während ihrer praktischen Ausbildungs- 
zeit in der Psychopathenfürsorge zu arbeiten ? 

Frl. Keller hat die Mitteilung des Ergebnisses dieser Anfrage der Heraus- 
geberin gütigst gestattet. 

Auf diese Anfrage gingen Antworten von 12 Schulen ein. Über 4 weitere 
Schulen kann die Unterzeichnete teils aus eigenen Erfahrungen, teils aus mündlichen 
Mitteilungen berichten. 

Frage 1 wurde allgemein bejahend beantwortet in 5 Fällen, verneinend in 
5Fällen. 1 Schule berichtet von »einer kurzen Vortragsreihe durch einen Psychiater«. 
Bei einer anderen wird außer der Behandlung des Themas im Rahmen der all- 
gemeinen Jugendfürsorge ein besonderer Vortragszyklus eingeschoben. In 3 Schulen 
wird in den Gesundheitsfürsorgestunden über das psychopathische Kind vom ärzt- 
lichen Standpunkt aus unterrichtet. In 2 von diesen wird »das schwererziehbare 
und psychopathische Kind« in 4 Doppelstunden innerhalb der allgemeinen Stunden 
über Jugendfürsorge behandelt. 1 Schule veranstaltet kurze Sonderlehrgänge (1 Woche 
innerhalb eines Ausbildungsganges). Den Sonderlehrgängen werden — ganz ver- 
schieden — von 4—30 Stunden in einem Ausbildungsgang gewidmet. Folgende 
Themen werden angegeben: 

1. »Körperliche Grundlagen der geistigen Störungen. Wichtigste Zustandsbilder 
bei geistig Abnormen und deren Stellung als Unsoziale und Antisoziale im Kultur- 
uad Wirtschaftsleben.« 

2. »Psychopathenfürsorge: Ursachen, Erscheinungen, Heilmethode, Anstalten 
und geschlossene Fürsorge. Offene Fürsorge, Beratungsstellen. Geschichte der 
Psychopathenfürsorge. Schutzvereinigungen. Prüfungsmethode usw.« 

3. »Schwererziehbare Kinder und Jugendliche; seelische und geistige Anormali- 
täten bei Kindern und Jugendlichen, Fürsorge für geistig schwache Minder- 
jährige.« 

4. »Nerven- und Geisteskrankheiten in der Wohlfahrtspflege.« 

Stoffverteilung. 


I. Einteilung der Geisteskrankheiten. 
A. Endogene, d. h. auf Stoffwechselstörungen beruherde Geistes- 
krankheiten. 
1. das Jugendirresein, 2. das epileptische Irresein. 
1) S, diesen Band. S. 17 u. ff. v. der Leyen, Die Eingliederung der Psycho- 
pathenfürsorge usw. 


44 


II. 


Ill. 


IV. 
V. 
VI. 


Psychopathenfürsorge in Wohlfahrtsschulen. 


B. Psychogene Geisteskrankheiten (innerlich mit A. verwandt, aber 
stärker als sie von äußeren Ereignissen und Störungen des Persön- 
lichkeitsaufbaus abhängig). 

3. Das manisch-depressive, der omanisch-melancholische Irresein, 
4. die Verrücktheit oder Paranoia, 5. das Zwangsirresein, 6. die 
Hysterie, 7. die psychopathischen Persönlichkeiten, 8. Die 
geistige Entwicklungshemmungen. 9. die Verwahrlosungsformen. 


C. Exogene Geisteskrankheiten (aus äußeren nicht im Gehirn und 
nicht im Seelenleben liegenden Ursachen entstehend). 

1. Alkoholismus (akute und chronische Geisteskrankheiten der 
Trioker), 2. die Gehirnerweichung, 3. Geistesstörungen bei 
akuten Infektionskrankheiten, 4. Geistesstörungen durch Alters- 
und Gefäßerkrankungen der Hirnrinde, 5. Geistesstörungen 
durch Erkrankung lebenswichtiger Drüsen. 


Bedeutung einiger psychischer Krankbeitszeichen. 
a) Dietobsüchtige Erregung, b) Bewegungsdrang, c) Bewegungshemmung 
und -sperrung, d) Wahnbildungen uud wahnhafte Vorstellungen, 
e) Sinnestäuschungen, Gestaltensehen, Stimmenhören, f) Bewußt- 
seinstrübungen. 
Einteilung der Nervenkrankheiten. 
A. Gehirnkrankheiten. 
1. Krankheiten der Hirnhäute, 2. Krankheiten der Gehirnmasse, 
3. Krankheiten des Kleinhirns, 4. Krankheiten der Brücke, des 
Hirnstamms und des verlängerten Marks. 


B. Rückenmarkskrankheiten. 


1. Rückenmarksdarre, 2. Rückenmarkslähmung, 3. Rückenmarks- 
entzündungen, -blutungen, -verhärtungen. 


C. Krankheiten der peripheren Nerven. 
D. Die Neurosen. 


Bedeutung einzelner körperlicher Krankheitszeichen des Nervensystems. 
Das geschlossene Irrenwesen. 
Die offene Irrenpflege. 

»Der Hauptnachdruck des Unterrichts liegt nicht auf den klinischen 
Erörterungen, sondern auf der Besprechung der Bedeutung, die die 
einzelnen Störungen bei den Fragen der Erwerbsbeschränkung, der 


Berufsberatung, der Zurechnungsfähigkeit, der Fürsorgeerziehung usw. 
haben.« 


»Fürsorge für Schwachsinnige, für Nervöse, für Geisteskranke und für 
Trinker.« — 
Da wo keine besonderen Lehrgänge stattfinden, teilweise aber auch neben 


‚len Sonderlehrgängen, wird die Psychopathenfürsorge im Rahmen anderer Unterrichts- 
fächer: Allgemeine Wohlfahrtspflege, Sozialpolitik, Hygiene, Jugendfürsorge, Praxis 
der Kinderfürsorge, Psychologie, behandelt. 


Nur von 3 Frauenschulen werden die Themen, die die P’sychopathenfürsorge 


innerhalb der übrigen Unterrichtsstunden behandeln, angegeben (Antwort auf Frage 4) 


P’sychopathenfürsorge in Wohlfahrtsschulen. 45 


l. »Alle Fragen der Psychopathenfürsorge.« 

2. »Psychologische Eigentümlichkeiten Nichtnormaler. Krankhafte Erscheinungen 
im Jugendleben als Ursachen der Verwahrlosung.« 

3. »Psyche des Psychopathen — nicht Psychopathenfürsorge.« 

Die Frage uach der praktischen Ausbildung der Schülerinnen (Frage 6) ist 
von 5 Frauenschulen allgemein bejahend beantwortet worden. Von 3 Schulen 
wird mitgeteilt, daß die Mädchen jeweils in Fürsorgeerziebungsanstalten, in der 
Gefährdetenfürsorge arbeiten; 1 Schule berichtet, daß die Stunden in der Heil- und 
Pflegeanstalt stattfinden (Demonstrationen Anm. d. Red.). Die Schülerinnen zweier 
Schulen arbeiten in der Heil- und Pflegeanstalt resp. nehmen an den Sprechstunden 
der Nervenklinik teıl. 2 Schulen lassen die dafür interessierten Mädchen !/, Jahr 
in der offenen Psychopathenfürsorge ausbilden. 

Die übrigen Antworten zu Frage 6 folgen wörtlich. 

1. -Während ihrer praktischen Ausbildungszeit haben die Schülerinnen auch 
die Möglichkeit in der Psvchopathenfürsorge zu arbeiten. Zurzeit ist eine Schülerin 
in der Abteilung Psychopathenfürsorge der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge 
(gemeint ist der Deutsche Verein zur Fürsorge jugendlicher I’sychopathen. Anm. 
d. Red.) in Berlin tätig.« 

2. »Eine Schülerin hat auf Wunsch in dem Psychopatbenheim bei Leipzig ge- 
arbeitet: alle haben die Kückenmühler Anstalten für Idioten usw., das Fürsorge- 
erziehungsheim in Züllchow (Knaben) bei Stettin und das für Mädchen von Pastor 
Jahn-Greifswald besucht und jedesmal von dem Direktor in einem entsprechenden 
Vortrag Einführung in die praktische Arbeit — auch an Psychopathen — erhalten.« 

3. »Gelegenheit zur praktischen Ausbildung in der Psychopathenfürsorge ist in 
München wenig gegeben, da die Stadt selbst kaum irgendwelche Einrichtung unter- 
hält, sondern alle Fälle, auch die noch im schulpflichtigen Alter stehenden Psycho- 
pathen in der Psychiatrischen Universitätsklinik behandelt werden. Mit der Heil- 
und Pflegeanstalt Haar bei München sind im letzten Semester Verhandlungen 
gepflogen worden und es wird in Zukunft möglich sein, dort jeweils eine Praktikantin 
unterzubringen. In Nürnberg, wo auch Schülerinnen von uns praktizieren, das jetzt 
einen eigenen Stadt-]’sychiater angestellt hat, liegen die Verhältnisse dadurch viel- 
leicht etwas günstiger, daß man einen Stadtpsychiater eingestellt hat, zumal auch 
eine große Beobachtungsstation errichtet wurde. durch die sämtliche Fürsorgezöglinge 
gehen, bevor sie einer Anstalt überwiesen werden.« 


Folgende Literatur wird insgesamt angegeben (Antwort auf Frage 5): 
Heller, Grundriß der Heilpädagogik. Gregor-Voigtländer, Die Verwahr- 
losung, ihre klinisch-psychologische Bewertung und Bekämpfung. Jacobi, Was 
sind Psychopathen und wie ist ihnen zu:helfen‘ Ohrloff, Weibliche Fürsorge- 
zöglinge. Blaum, Jugendwohlfahrt. Petersen, Jugendfürsorge Scholz- 
Gregor, Anomale Kinder. Schäfer, Scholz, W. Stern, Forel, Pfister., 
Freud, Bühler, Walter Hoffmann, Ziehen (ohne nähere Angaben), 
Mönkemöller, Die geistigen Defektzustände des Kindesalterss. Kluge, 
Wie haben wir die geistig Defekten und die psychopathischen Fürsorge- 

zöglinge zu behandeln ? 

Ruth v. der Leyen, Berlin. 


46 Heilpädagogische Bestrebungen. 


Heilpädagogische Bestrebungen. 


II. Kongreß für Heilpädagogik. 


Die Gesellschaft für Heilpädagogik, Arbeitsorganisation und 
Forschungsinstitution für Heilpädagogik, veranstaltet vom 29. bis 
31. Juli 1924 in München den 

II. KONGRESS FÜR HEILPÄDAGOGIK. 

Der Kongreß will die Interessenten aus den verschiedenen Berufen 
— Heilpädagogen, Psychiater, Seelsorger, Kinderärzte, Psychologen, 
Hilfsschul-, Taubstummen-, Schwerhörigen-, Blinden-, Krüppellehrer, 
Jugendrichter, Jugendämter, Fürsorger, Anstaltserzieher usf. — über 
den neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung und der all- 
gemeinen Fortschritte auf dem Gesamtgebiete der Heilpädagogik 
orientieren. 

Die bisher angemeldeten Referate und -Vorträge befassen sich 
mit allen einschlägigen Gebieten und bürgen für einen erfolgreichen 
Verlauf der Tagung. Referate und Vorträge haben bisher angemeldet: 
Bartsch-Leipzig, Bühler-Wien, Entres-München, A. Fischer- 
München, Fuchs-Berlin, Goldbaum-Wien, Gött-München, Gregor- 
Flehingen, Hamburger-Graz, Hanselmann-Zürich, Heller-Wien, 
Herold-Leipzig, Isserlin-München, Kehrein-Wien, Kuenburg- 
München, Lazar-Wien, v. der Leyen-Berlin. Lindworsky-Köln, 
Mann-München, Peters-Jena, Ranschburg-Budapest, Reinfelder- 
Berlin, Rüdin-München, Schubeck-München, Silberhuber-Wien, 
Weigl-Amberg, Würtz-Berlin. 

Weitere Anmeldungen von Vorträgen, Forschungsreferaten und Demonstrationen 
wollen bis spätestens 1. Juni 1924 an die Geschäftsstelle der Gesellschaft für Heil- 
pädagogik, München, Schule an der Klenzestraße gerichtet werden (Vortragsdauer 
20 Minuten). 

Geordnetes, ausführliches Programm erscheint später. 

Staatliche und städtische Behörden, Institute, Vereinigungen, Private, Tages- 
und Fachpresse in In- und Ausland werden um Verbreitung dieser Voranzeige 
gebeten. 

Zugleich wird auf den im Verlage von J. Springer-Berlin erschienenen Bericht 
über den I. Kongreß für Heilpädagogik in München 1922 empfehlend hingewiesen 
(Preis 3 M, für Mitglieder der Gesellschaft für Heilpädagogik 2,25 M). 

Anmeldungen und Anfragen an Erwin Lesch, stellvertretender Geschäftsführer 
der Gesellschaft für Heilpädagogik, München, Schule an der Klenzestraße. 


München, im Februar 1924, 
Die Vorstandschaft der Gesellschaft. 
Egenberger. Isserlin. Lesch. 


Heilpädagogische Bestrebungen. 47 


Tagung Norddeutscher Psychiater und Nervenärzte und der 
Gesellschaft der Neurologen und Psychiater &roß-Hamburgs. 
Hamburg, 9. 6. 1923. 


Rehm (Bremen) bespricht an der Hand ausführlicher Tabellen das von ihm 
untersuchte und beobachtete Material, welches aus rund 300 Fällen besteht und 
durch das Heim für Jugendliche der Stadt Bremen gegangen ist. In diesem Heim 
wurden bis vor kurzem alle jugendlichen Verwahrlosten aufgenommen. Die Knaben 
kamen etwas früher zur Verwahrlosung als die Mädchen. Die hereditäre Belastung 
mit Geisteskrankheiten war etwas, die mit Trunksucht erheblich größer als dem 
Gesamtdurchschnitt überhaupt entspricht. In ungefähr der Hälfte der Fälle fand 
sich ungünstiges Milieu, bei den Mädchen häufiger als bei den Knaben, wahrschein- 
lich deswegen, weil das ungünstige Milieu die Knaben wegen ihrer mehr selbständigen 
Entwicklung nicht so angreift. Im übrigen werden die Erfahrungen anderer Autoren 
bestätigt, daß Unstetigkeit und Neigung zu Eigentumsvergehen weitaus vorherrschend 
Eigenschaft der verwahrlosenden Knaben, sittliches und geschlechtliches Verkommen 
aber weitaus häufiger bei Mädchen vorkommt als bei Knaben. Angeborener Schwach- 
sinn fand sich bei etwa einem Drittel der Jugendlichen, während psychopathische 
Eigenschaften in mehr oder weniger starkem Maße ungefähr bei allen anzutreffen 
waren, in stärkerem Grade bei etwa 50°). Die Stadt liefert an jugendlichen Ver- 
wahrlosten mehr die Unsteten und das Gros der jugendlichen Prostituierten; es 
sind die Sittlichkeits-, Roheits- und Affektverbrecher geringer an Zahl als auf dem 
Lande. Eine große Rolle spielt in der Stadt die Bandenbildung, welche begünstigt 
wird durch die vielen Sportvereine, denen die Jugend jetzt angehört. Ungünstiges 
Milieu ist in den meisten Fällen die auslösende Ursache der Verwahrlosung, wenn 
auch auf Grund einer durch Vererbung oder Geburt erworbenen fehlerhaften Anlage. 
Jeder Fall eines sozial ungünstig sich auswirkenden Milieus muß Gegenstand für- 
sorgerischer Maßnahmen sein. Fälle von Verwahrlosung müssen von der Schul- 
zeit bis zur Mündigkeit und dann nach Entmündigung durch einen Berufsvormund 
betreut werden. Jeder Verwahrlosungsfall muß nicht nur fachärztlich untersucht, 
sondern soll auch fachärztlich beobachtet werden. Ein Arzt muß Mitglied des 
Jugendamtes sein. Bei der Unterbringung in Erziehungs- usw. Anstalten ist ärztliche 
Mitwirkung notwendig. Jugendliche Prostituierte dürfen nicht in Geschlechtskranken- 
stationen der öffentlichen Krankenanstalten behandelt werden. 

In der Aussprache wurde von Weygandt darauf hingewiesen, daß die gesamte 
Jugendbewegung das Gleichgewicht entbehre; die Neuerungsbestrebungen der Schule 
seien nicht immer günstig. — Rautenberg verlangte, daß das Jugendgefängnis der 
Jugendfürsorge unterstellt werde. — Rittershaus hielt es für nötig, daß nicht nur 
die Beobachtung, sondern auch die Erziehung der psychopathischen Fürsorgezöglinge 
unter psychiatrische Leitung kommt. — Grimme machte auf die Schwierigkeiten. der 
Unterbringung unsozialer Fürsorgezöglinge in den Heil- und Pflegeanstalten aufmerk- 
sam. Relım betonte im Schlußwort, daß ohne Engherzigkeit für die Unterbringung 
der psychopathischen Jugendlichen, event. auch ir den öffentlichen Anstalten. ge- 
sorgt werden müsse. Der sachverständige Arzt müsse überall in die Organisation 
hinein. 

In der gefaßten Resolution wird folgendes verlangt: 

Sowohl in der Auslese der Fürsorgezöglinge für die einzelnen Erziehungs- 
formen als auch in der Jugendgerichtshilfe und in der Durchführung der Für- 


48 Heilpädagogische Bestrebungen. 


sorgeerziehung sind psychiatrisch geschulte Fachärzte einzuschalten, denen ein 
bestimmender Einfluß auf das Jugendfürsorgewesen zugebilligt wiid. Im einzelnen 
sind die wichtigsten Forderungen folgende: 


1. Beratungsämter für Psychopathen und Eingliederung eines psychiatrischen 
Facharztes als Mitglied des Jugendamts. 

2. Psychiatrisches Erziehungsgutachten im Beginne der Fürsorgeerziehung 
und in geeigneten Jugendgerichtsfällen, möglichst nach durchgeführter 
Beobachtung. 

3. Kontrolle der Fürsorgeerziehung durch einen Psychiater, möglichst 1 mal 
jährlich. 

4. Heilerziehuugsheime für psychopathische Kinder im Alter von 5 bis 
14 Jahren, außerdem Sonderabteilungen für psychopathische Fürsorge- 
zöglinge unter psychiatrischer und pädagogischer Leitung. 

5. Schulung beamteter Hilfskräfte des Jugendfürsorgewesens durch psych- 
iatrische Fachärzte und durch praktische Tätigkeit an den psychiatrischen 
Erziebunugsanstalten. 


Für die nächste Versammlung der norddeutschen Psychiater und Nervenärzte 
wurde als Thema für ein Referat »Die Verwahrlosung der Großstadtjugend und die 
Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung« auf Vorschlag von Cimbal-Altona aufgestellt, 
in das sich die Herren Runge. Rehm, Draesecke und Cimbal teilen werden. 

Dr. Rehm-Bremen. 


Am 23. 1. 1924 ist in Bernburg (Anhalt) unter der Geschäftsführung von 
Dr. Heyse, Direktor der Landesheil- und Pflegeanstalt eine »zwanglose Ver- 
einigung für Heilpädagogik« ins Leben getreten. Träger der Veranstaltung sind 
in erster Linie die dort bestehende Irrenanstalt sowie zwei Fürsorgeerziehungs- 
anstelten und die städtische Hilfsschule. Außerdem sind beteiligt das städtische 
Jugendamt, das Jugendgericht, der Schularzt, die Iunere Mission, mehrere pädagogische 
Kräfte sowie der Leiter des lLandesjugendamts in Dessau. Den ersten Vortrag hielt 
Herr Hilfsschullehrer Ullmann über » Wesen und Bedeutung der Hilfsschule«; die 
Aussprache bewies durch ihre Lebhaftigkeit und ihr Hinübergreifen auf die ver- 
schiedensten Gebiete der Fürsorge, ein wie lebhaftes Bedürfnis für solche Erörte- 
rungen besteht. 


Bericht über die I. Landeskonferenz der Ungarischen 
Heilpädagogischen Gesellschaft. 


Die durch Zoltän Töth im Jahre 1922 gegründete Gesellschaft hielt am 14. 
und 15. Oktober 1923 in Budapest ihre erste Iandeskonferenz ab. 

Zoltán Tóth, der Organisator der Konferenz, berichtet über die Entstehungs- 
geschichte derselben; er hebt hervor, daß es gelang, Ärzte, Pädagogen, Juristen, 
sowie die verschiedenen an der Sache interessierten Ministerien zu gemeinsamer 
Arbeit zu vereinigen. i 

Staatssekretär Alexander Imre, der Vorsitzende der Konferenz, betont ebenfalls 
die Notwendigkeit der Zusammenarbeit; er zitiert die Worte Széchényis, wonach 
»Jeder im Rahmen seines Berufes mit solchem Eifer arbeiten möge, als würde die 
Wohlfahrt der ganzen Nation davon abhängen«. Gegenstand der Beratungen sei 
die Verhütung der verschiedenen Minderwertigkeiten. Das Endziel sei, daß Minder- 
wertige nicht mehr geboren werden mögen und daß sich kein Kind zu einem Minder- 


Heilpädagogische Bestrebungen. 419 


wertigen entwickle. Es genüge nicht, wenn nur jene zusammenwirken, welche sich 
bereits mit Minderwertigen beschäftigen, sondern der Kampf gegen die Minder- 
wertigkeit solle in der Öffentlichkeit geführt werden: das Problem sei jedem Priester, 
Lehrer, Gemeindenotar, Arzte, Richter, jedem Beamten und überhaupt jedem bekannt, 
dessen Wort etwas gilt; jeder von diesen möge eine auf die Verhütung gerichtete 
Sozialpolitik betreiben. Es handele sich nicht bloß um die Gründung neuer Ein- 
richtungen, sondern auch um die gewissenhafte Durchführung guter alter Gesetze, 
sowie um die Revision bestehender Einrichtungen. 

Paul Ranschburg bespricht das Problem vom Standpunkte der Medizin und 
der Heilpädagogik. Ein Drittel der Minderwertigen sei das Opfer der Nachlässigkeit, 
ein anderes Drittel Opfer der Unwissenheit, und nur vom letzten Drittel wissen 
wir noch nicht, ob dies unvermeidlich sei, oder ob auch noch dieses verhütat 
werden könnte. Der Vortragende schätzt die Zahl der Minderwertigen in Rumpf- 
Ungarn auf mindestens 100000. Nachdem der Einfluß der inkretorischen Drüsen 
auf den Auffassungstypus erwiesen sei, bestehe die Hoffnung, daß die geistige 
Entwicklung mit medizinischen Methoden zu beeinflussen sein wird. Jeder Lehrer 
müsse sowohl die Minderwertigkeiten, als auch die besonderen Begabungen erkennen. 
Die Weiterentwicklung der Heilpädagogik sei von der Vermehrung der heil- 
pädagogischen Laboratorien zu erwarten; dagegen sei es überflüssig, alle Pädagogen 
auf der Universität auszubilden. 

Staatssekretär Philipp Rottenbiller bsspricht das Problem vom sozialpolitischen 
und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte. Das Wichtigste sei die allgemeine Ver- 
vollkommnung der Erziehung und die Hebung des moralischen Niveaus. Die Ver- 
einigten Staaten ersparen jährlich 88828000 Dollar seit der Errichtung der Jugend- 
gerichte; denn ein großer Teil der Verbrecher wird nicht eingekerkert, sondern 
unter Schutzaufsicht gestellt, und viele von diesen gelangen nie mehr vor den 
Richter. Im Jahre 1916 mußte sich das Kreisgericht von Budapest und Umgebung 
mit 30000 jugendlichen Verbrechern beschäftigen. 

Josef Imre sen. macht zur Verhütung der Erblindung folgende Vorschläge: 
l. Vervollkommnung der ärztlichen Ausbildung in der Augenheilkunde; 2. Verteilung 
guter Augenärzte auch in den Provinzstädten und Errichtung von Augenspitälern; 
3. Organisation des Kampfes gegen Tuberkulose und Scrophulose ; Versorgung jeder 
Gemeinde mit einer Pflegerin; 4. Übermittlung der wichtigsten augenärztlichen 
Kenntnisse in den Lehrerbildungsanstalten und den Schulen; 5. unentgeltliche Am- 
bulanzen; ärztliche Untersuchung vor der Eheschließung; 6. Bestrafung der Unter- 
lassung des Eintröpfelns von Arg. nitr. durch die Hebammen; 7. Berufsberatung 
für schlecht sehende Schüler. 


Géza Krepuska zählt die Ursachen der Taubheit auf. Die Schwerhörigkeit der 
Kinder werde seitens der Eltern sogar vor dem Ohrenarzte verheimlicht. Deshalb 
seien die Statistiken unverläßlich. Zur Verhütung der Taubheit werden vorgeschlagen: 
die (heute vollkommen fehlende) Ausbildung der Ärzte in der Ohrenheilkunde; 
Verteilung von Ohrenärzten in den Provinzstädten ; Ohrenuntersuchung vom Kinder- 
garten an, Vermehrung der Schulen für Schwerhörige; Führung von schulärztlichen 
Aufzeichnungen; Versorgung der Taubstummenanstalten mit Ärzten. 

Michael Horväth befaßt sich mit der Verhütung des Krüppeltums. Jedes Kind 
Sollte zweimal jährlich daraufhin untersucht werden, ob es eine Rückgratsverkrümmung 
oder eine hierzu disponierende Krankheit habe. Die Hauptstadt Budapest habe 
bereits einen Kurs für Heilgymnastik eingeführt. Die Orthopädie sollte ein ob- 
ligates Studienfach in der ärztlichen Ausbildung sein. Für die Pflegerinnen seien 


Zeitschrift für Kinderforschung. 9. Bd. 4 


50 Heilpädagogische Bestrebungen. 


Fortbildungskurse nötig. Die Volkszählungen sollen auch Daten über die Ver- 
krümmungen liefern. 

Adolf Juba: Als Ungarn im Jahre 1885 die Schulärzte-Institution einführte,. 
kam es damit fast allen europäischen Staaten zuvor. Die Einrichtung besteht jedoch 
nur auf dem Papier und so gehören wir jetzt zu den Letzten. 

Sara Kende-Krausz fordert die psychotherapeutische Behandlung der gelähmten 
Kinder vom Beginne an, da ihre Verhöhnung durch die Kameraden schwere Neu- 
rosen verursachen könne. Im Krüppelheim gebe es keine Neurosen. 

Stefan Ákos verlangt, daß die Minderwertigen durch die Gemeindeämter evident 
gehalten und beraten werden. 

Karl Istenes bespricht die Verhütung von Sprachfehlern. Er schildert die 
Entwicklungsstufen der Sprache und die Entstehung der verschiedenen Sprachfehler, 
Viele Kinder erwerben die Sprachfurcht, weil sie von ihren Eltern mit der Schule 
geschreckt werden; das Kind betritt dann die Schule mit Angst, es stottert in seiner 
Aufregung, so oft es aufgerufen wird, dafür wird es gescholten und verspottet und 
so wird das Stottern zu einem dauernden Übel. Die Herabsetzung der Stotterer 
sei so allgemein, daß mancher Stotterer in seiner Verzweiflung an Selbstmord denke. 
Die Kenntnis der Sprachfehler sollte in Lehrerbildungsanstalten als besonderer 
Gegenstand gelehrt werden. | 

Peter Nagy erinnert daran, daß ein ertaubtes Kind während 4—5 Monaten 
die Sprache vergißt; bis es einer Taubstummenanstalt zugeführt werde, ist keine 
Spur mehr davon vorhanden. Für schwachsinnige Taubstumme sollten besondere 
Anstalten oder doch Schulklassen errichtet werden. 

Paul Ranschburg würde die Lehra von den Minderwertigkeiten nicht bloß auf 
der medizinischen, sondern auf allen Fakultäten und in den Lehrerbildungsanstalten 
einführen. Er untersützt Weygandts Vorschlag, wonach jede psychiatrische Klinik 
eine heilpädagogische Abteilung besitzen sollte. 


Artur Sarbó führt 80°,, der Fälle von Stottern auf die Sprachentwicklung in 
der Kindheit zurück. Der von ihm vor vielen Jahren eingeführte Vorgang, wonach 
jährlich je ein Lehrer jeder Lehrerbildungsanstalt am Kurse für Sprachkranke aus- 
gebildet wurde und nachher seine Lehrerkollegen ausbildete, wurde von fremden 
Staaten ebenfalls eingeführt. 


Leopold Szondi bespricht die Verhütung der intellektuellen Minderwertigkeiten. 
Wir können heute nicht einmal die Rolle, welche die Vererbung spielt, abschätzen, 
denn ihr Einfluß wird von den verschiedenen Autoren zwischen 1,7%), und 80°, 
eingeschätzt. Der Vortragende erkennt bloß die homologe Vererbung an, durch die 
heterologe Vererbung könne nichts erklärt werden, denn mit dieser wären wir alle 
belastet. Seine Vorschläge: 1. ärztliche Untersuchung vor der Eheschließung; 
2. Eheverbot für Schwachsinnige; 3. Ausschankverbot für Jugendliche unter 20 Jahren 
(Donath); 4. Erweiterung der heilpädagogischen Beratung und zwar: a) Evident- 
baltung der Schwachsinnigen; b) Einführung von heilpädagogischen Schulpflegerinnen ; 
c) heilpädagogische Ambulanzen; 5. Gründung einer ungarischen Liga für geistige 
Hygiene (Oláh). 

Stefan Mäday hält folgende Forderungen für die wichtigsten: 1. radikale Ver- 
besserung der öffentlichen Hygiene; 2. Verbreitung medizinischer Kenntnisse; jeder 
Arzt wirke gelegentlich jedes seiner Besuche als Volkserzieher;, 3. Ausbau der 
Schulärzte-Einrichtung; 4. Einführung der Psychologie als obligaten Lehr- und 
Prüfungsgegenstand für Ärzte; 5. Vermehrung der Hilfsschulen und Hilfsklassen ; 
6. behufs frühzeitiger Erkennung der Minderwertigen wäre die Idee des obligaten 


Heilpädagogische Bestrebungen. nl 


Kindergartens und des Hilfskindergartens zu erwägen; 7. das allerwichtigste aber 
sei die Vermehrung der heilpädagogischen Anstalten: wir brauchen eine möglichst 
große Zahl von möglichst spezialisierten, höchstens 5O-bettigen Anstalten, endlich 
ein zentrales Beobachtungs- und Instradierungs-Heim. 

Adolf Juba möchte die Untersuchung der Eheschließenden vorerst fakultativ, 
später obligat einführen. Die Sterilisation wäre nur unter den strengsten Kautelen 
zu verwirklichen. 

Mathias Eltes fordert ebenfalls die Errichtung von Anstalten. Er empfiehlt 
die Gründung von Hilfsvereinen für absolvierte Schüler der Hilfschule. In England 
werde jeaes schulentlassene Kind mittels Kartothek-Systems evident gehalten. 

Daniel Geguß berichtet, daß er im Jahre 1918 in Budapest die Organisation 
einer Kinderpolizei begonnen habe, deren Vollendung jedoch durch die Revolution 
verhindert wurde. In Budapest gebe es 20—30000 verwahrloste Kinder. 


Paul Ranschburg spricht über jene sehr verbreitete Ansicht, daß es schade 
sei, sich mit Schwachsinnigeu abzugeben. Tatsächlich gelangte ein großer Teil der- 
selben nach 6—7 jährigen Unterricht nicht weiter, als normale Kinder am Ende des 
ersten Schuljahres. Trotzdem werden sie zu guten Arbeitern und Handwerkern. 


Ladislaus Focher beschäftigt sich mit den endogenen Ursachen und der ärzt- 
lichen Verhütung der moralischen Minderwertigkeiten. Es gebe Fälle, in denen 
sich eine Geisteskrankheit durch ein einziges Symptom: durch die Kriminalität ver- 
rate, so daß das Vorliegen einer Geisteskrankheit nur durch gründliche Anamnese 
und Laboratoriumsuntersuchungen festgestellt werden könne. Es müßte eine In- 
stitution geschaffen werden, welche bei Verlängerung der Mündigkeit dem Minder- 
wertigen gegenüber die väterliche Gewalt ausüben und jeden Grad der Einschränkung 
der persönlichen Freiheit bis zur Internierung anordnen könnte. 

Edmund Gangel bespricht die sozialen Ursachen und die juristische Verhütung 
der moralischen Minderwertigkeit. Unter den zablreichen Milieu-Bedingungen der 
Kriminalität werden fulgende hervorgehoben: das durch die Arbeitslosigkeit hervor- 
gerufene Elend, der Alkohohl. die niedrige Intelligenz der Eltern, ungünstige 
Familienverhältnisse, übles Beispiel und Mißhandlung seitens der Eltern, Be- 
schäftigung der Mutter in der Fabrik oder im Büro. Vortragender legt auf den 
letztgenannten Umstand besonderes Gewicht: sei die Mutter fern, so könne es kein 
Familienleben geben, die Familie sei aber der allerwichtigste Erziehungsfaktor. Die 
Bestimmungen des Gesetzes vom Jahre 1913, durch welche das Jugendgericht er- 
richtet und dem Jugendrichter eine erzieherische Funktion zugeteilt wurde, werden 
lobend hervorgehoben. Es wird ein über das ganze Land verbreitetes Patronage- 
Netz gefordert, welches in jeder Gemeinde seinen Vertreter hätte. 

Paul Ranschburg hält die im Kindesalter auftretende Kriminalität in jedem 
Falle für pathologisch und zählt Fälle auf, in denen eine Encephalitis lethargica, 
eine vererbte Paralyse, eine Epilepsie die Grundkrankheit war. Bei einem Kinde 
mit Hydrocephalus gelang es durch den Anton-Bramann schen Balkenstich, die 
kriminellen Neigungen aufzuheben. Eine geringe Erhöhung des Gehirndruckes ver- 
ursachen Unruhe, Tatendrang, welcher nach einigen Autoren einesteils zur Kriminalität, 
andernteils zu genialen Schöpfungen führen könne. Die krankhaften psychischen 
Eigenschaften seien in vielen Fällen Folge und nicht Ursache der Verwahrlosung. 

Gustav Szentgyörgyi berichtet über die Kinderpolizei in Vác. Krieg und 
Revolution haben die guten Sitten und die Autoritäten vernichtet; wir sollten alle 
unsere Kräfte einsetzen, um die alte Ehrlichkeit wiederherzustellen. Das Unterrichts- 
ministerium möge sich mit dem Problem der Erziehung der Eltern befassen. Der 

4* 


52 Heilpädagogische Bestrebungen. 


Kinobesuch wäre den Jugendlichen überhaupt zu verbieten und nur der Besuch 
einzelner Stücke ausnahmsweise zu gestatten. Auch in den Polizeischulen müsse 
das pädagogische Interesse erweckt werden. Sämtliche Angelegenheiten des Kinder- 
schutzes sollten zu einem einzigen Ministerium gehören. 

Georg Kádas berichtet über die Kinderpolizei in Szeged. Die Leitung des 
Kinderschutzes wäre im ganzen Lande einem Senat anzuvertrauen, welcher 
Regierungsgewalt ausüben würde. Dieser Senat würde sich mit den Angelegenheiten 
der Wohnung, Ernährung, Sommerfrische, Heilgymnastik, Bäder, Beschäftigungs- 
und Zerstreuungs-Einrichtungen, endlich der Erziehung überhaupt und dem Unter- 
richt der Minderwertigen befassen. £r fordert eine allgemeine Kinderschutzsteuer. 
Es wäre eine Berufs-Kinderpolizei zu errichten, welche aus einem Kinderpolizei- 
richter, einem heilpädagogischen Aufseher, einem Kinderpolizeiarzte und aus 
Detektiven bestünde, über. ein Beobachtungsheim verfügen würde, und mit der 
Schule, den Kinderschutzvereinen und der freiwilligen Kinderpolizei in engem 
Kontakt wäre. 

Geza Baranyay berichtet über die Kinderpolizei in Erzsebetfalva. In dieser 
Stadt haben sich die Diebstähle derart vermehrt, daß sich die Zahl der Alteisen- 
handlungen während eines Jahres von 10 auf 50 erhöhte. Es wurden 30 Päda- 
gogen mit Legitimationen versehen. Die Zahl der durch Jugendliche verübten 
schweren Verbrechen fiel bereits im ersten Jahre von 75 auf 25. 

Stefan Mäday verlangt die Einreihung der Jugendrichter in einen besonderen 
Status, wohin nur Richter von pädagogischer Begabung aufzunehmen und für dieses 
Fach gründlich auszubilden wären. Er schildert als nachahmenswertes Beispiel die 
Organisation der Jugendfürsorge in Wien. 

Zoltán Tóth möchte die Kenntnis der Minderwertigkeiten durch volkstümliche 
Schriften, Fabeln, sowie durch Kinostücke verbreiten. 

Dr. Stephan von Mäday, Budapest. 


Die heilpädagogischen Bestrebungen der Deutschen 
in der tschechoslowakischen Republik. 


Die Heilpädagogix ist ein Gebiet, das mit dem starken Aufschwung der all- 
gemeinen Jugendfürsorge in den letzten 20 Jahren in den Sudetenländern nicht 
gleichen Schritt gehalten hat. Obwohl Schwachsinnigenfürsorge in Wien betrieben 
worden war, längst bevor die allgemeine Jugendfürsorge planmäßig organisiert wurde, 
blieb sie im großen ganzen auf Wien beschränkt. Nur einige Städte des ehemaligen 
Österreichs, die auch sonst der Sorge für fürsorgebedürftige Kinder Verständnis 
entgegenbrachten, wie Brünn und Prag, errichteten Hilfsschulen; eine einzige Privat- 
anstalt in Mähren und eine in Böhmen, die dort von der deutschen Landeskommission 
erhalten wurde, standen neben der großen Prager Anstalt, dem Ernestinum, zur 
Verfügung; die Psychopathenfürsorge war völlig unbebautes Land, bis um das Jahr 
1910 die heilpädagogische Abteilung an der Pirquet'schen Kinderklinik in Wien, die 
auf durchaus neuzeitlichen Grundsätzen aufgebaut war, unter der Führung Dr. Erwin 
Lazars, die Notwendigkeit aber auch den Wert solcher Bestrebungen einwandfrei 
bewies. Sie wirkte vornehmlich als Beobachtungsstelle, konnte aber nicht voll aus- 
gewertet werden, da wohl auf der heilpädagogischen Abteilung festgestellt wurde, 
wie dieses oder jenes Kind zu behandeln sei, die Anstalten jedoch fehlten, in denen 
diese Behandlung durchgeführt werden konnte. Dennoch hat Lazar eine neue 
Ära in der Heilpädagogik in Österreich begonnen. Dann kam der Umsturz; die 


Heilpädagogische Bestrebungen. 93 


Sudetenländer wurden zur tschechoslowakischen Republik vereinigt und natürlich 
auch die soziale Fürsorge von Wien losgelöst. Seither hat sich in der Republik 
auf dem Gebiet der Kinderlürsorge eine lebhafte Entwicklung vollzogen und auch 
die heilpädagogischen Bestrebungen wurden in geordnete Bahnen gelenkt. Es ist 
vor allem das Verdienst des Verbandes »Deutsche Hilfsschule in der tschecho- 
Slowakischen Republike mit dem Sitz in Reichenberg in Böhmen, der im November 
des Jahres 1920 ins Leben trat, daß eine günstige Entwicklung der Schwach- 
Sinnigenfürsorge zu erwarten ist. Seine Tätigkeit erstreckt sich auf 3 Gebiete: 
die wissenschaftliche Erforschung, die Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung und 
‚ die praktische Durchführung der Fürsorge selbst. 


Der wissenschaftlichen Arbeit dient die Herausgabe geeigneter Lehr- und 
Lernmittel und pädagogisch - wissenschaftlicher Werke; eine umfangreiche Fach- 
bibliothek steht nicht nur den Mitgliedern des Verbandes, sondern auch außerhalb 
Stehenden zur Verfügung; als Verbandsorgan dient die Zeitschrift zur Behandlung 
Schwachsinniger, deren Mitherausgeber der Verbandsobmann ist. Die alljährlich 
wiederkehrenden Tagungen geben dem Verband Gelegenheit zu wissenschaftlichen 
Vorträgen und legen Zeugnis ab von seiner regen Tätigkeit. Sie ist wichtig, vor- 
nehmlich auf dem Gebiet der Aufklärung in weiten Bevölkerungsschichten. Immer 
noch empfinden so manche Eltern es als Schande, ein schwachsinniges Kind zu 
haben, immer noch fehlt in weiten Kreisen die Einsicht, daß der größte Teil der 
Asozialen, die unsere Strafanstalten und Zwangsarbeitshäuser füllen, solche schwach- 
sinnigen oder schwachbegabten Menschen sind, um die sich zur rechten Zeit nie- 
mand gekümmert hat. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß der Verband in 
Reichenberg eine Auskunfts- und Beratungsstelle errichtet hat, die unentgeltlich 
Auskünfte an Einzelpersonen und Behörden über alle Fragen der Schwachsinnigen- 
fürsorge erteilt und Untersuchungen Schwachsinnsverdächtiger und Schwachsinniger 
vornimmt. Diese Tätigkeit reicht hinein in die praktische Arbeit, die vom Verband 
geleistet wird. Auf seine Anregung wurde von der Regierung der Entwurf eines 
Hilfsschulgesetzes ausgearbeitet, das die Grundlage bilden soll, damit der Gesamtheit 
der schwachsinnigen Kinder in der tschechoslowakischen Republik, soweit sie bildungs- 
fähig sind, entsprechender Unterricht vermittelt werde. 


Der Gesetzentwurf führt unter anderem an, daß überall dort, wo in einem 
Durchschnitt von 3 Jahren 15 schwachsinnige Kinder vorhanden sind, eine Hilfs- 
schule errichtet werden muß, die von demjenigen Schulerhalter sichergestellt werden 
muß, der für die allgemeinen Volksschulen des Ortes aufzukommen hat. Es ist nur 
zu hoffen, daß der Entwurf, der seit 2 Jahren zwischen den einzelnen Ministerien 
umherwandert, bald Gesetzeskraft erlangen wird. Der Verband »Deutsche Hilfs- 
schule« im Verein mit den tschechischen Organisationen für Schwachsinnigenfürsorge 
tut jedenfalls sein Mögliches, um die Erledigung zu beschleunigen, wie er auch 
sonst durch Denkschriften und Eingaben, durch Veröffentlichungen in der Presse 
das allgemeine Verständnis für die Schwachsinnigenfürsorge- und Bildung fordert. 

Eine seiner wesentlichsten Aufgaben erblickt er in der Fürsorge für die schul- 
entlassenen Schwachsinnigen. Während diese Armen früher mit 14 Jahren aus der 
Schule entlassen und ins Wirtschaftsleben gestellt wurden, in dem sie sich nur in 
Ausnahmsfällen zurecht finden konnten, strebt der Verband ihre grundsätzliche 
Fortbildung bis zum 17. Lebensjahr an, ein Gedanke, der in der Republik auch in der 
Fürsorge für die Nichtvollsinnigen heute noch viel zu wenig Beachtung findet; 
nicht selten wird dann der Erfolg ihrer jahrelangen Erziehung zunichte gemacht, 
weil sie unendlich viel leichter Schädigungen jeder Art ausgesetzt sind, als normale 


54 Heilpädagogische Bestrebungen. 


Jugendliche und weil sie nicht in der Lage sind, ihre erworbene Bildung selbständig 
zu verwerten. 

Eine Zählung der Schwachsinnigen in der Republik ergab 5860 deutsche 
Kinder, die der Ausbildung bedürfen; ihnen stehen nur 14 Hilfsschulen und 3 An- 
stalten zur Verfügung, so daß bisher nur 8,2 °/, versorgt werden konnten, trotzdem 
die Zahl der Hilfsschulen sich seit dem Umsturz verdoppelt bat; 91,8°/, dieser be- 
dauernswerten Geschöpfe sind noch immer ohne Bildung geblieben. 

Die Zählung der schwachsinnigen Kinder ergab, wie wir dem Tätigkeitsbericht 
des Verbandes »Deutsche Hilfsschule« für das Jahr 1922 entnehmen, folgende 
Einzelheiten: 

Nach dem Grade ihres Schwachsinns waren 


leicht . . . + . . . I200 Kinder, das sind 25°, 
mittel . . 2 . . . - 2100 „ zo sun Aa 
stark . . 2. . . . . 1600 . nn ee 


Außerdem wurden noch 900 Kinder als schwachsinnsverdächtig gemeldet. 
Das Verhältnis der Knaben zu den Mädchen betrug 32:17, rund 2:1. Am 
Ende des Jahres 1921 waren versorgt: 


Zahl der gemeldeten Fälle. . . . 2 . . . . 4900, das sind 100 °/ 
sy» versorgten Fälle: 
in 19 Hilfsschulklassen . . . . . . 380 \ 400 8.2 0, 
in in- und ausländischen Anstalten rund 20 nn m 
Zahl der unversorgten deutschen Schüler. . . . 4500, das sind 91,8 °/, 


Außerst segensreich wirken in der Republik die vorhandenen Anstalten für 
Schwachsinnige. Die älteste unter ihnen, das Ernestinum in Prag ist bekannt, der 
Name ihres Leiters, Herforths, hat in weiten Kreisen besten Klang. Doch auch 
das Marianeum in Troppau (Schlesien), die Anstalt der Schulschwestern von der Un- 
befleckten Empfängnis in Sternberg (Mühren) und die Böhmische Landesanstalt 
nehmen auf Stiftsplätze des Landesausschusses auch arme Kinder auf, die dann jede 
mögliche Ausbildung erhalten, im Marianeum werden auch Stotterer-Heilkurse ab- 
gehalten. Doch reicht dies alles nicht hin, der großen Zahl der Schwachsinnigen 
gerecut zu werden. 

Ist die Schwachsinnigenfürsorge jedoch auf dem Wege, zweckmäßig gestaltet 
zu werden, so ist bisher in der Republik auf dem Gebiete der Psychopathologie der 
Verwahrlosten, der Schwererziehbaren und der Kriminellen so gut wie nichts ge- 
schehen. Die psychiatrischen Feststellungen beim Jugendgericht beschräuken sich 
auf eine ganz oberflächliche Untersuchung, die diesen Namen kaum verdient. 
Ebenso unzulänglich ist die Fürsorge für die Nichtvollsinnigen. Während jedoch 
von den taubstunnmen Kindern 60°/, Unterricht genießen, steht es mit der Ver- 
sorgung der blinden Kinder viel schlechter. Insbesondere liegt die Fürsorge für 
die schulentwachsenen Taubstummen und Blinden ganz im argen. 

Der größte Mangel der Jugendfürsorge in der tschechoslowakischen Republik 
aber ist das Fehlen jeglicher Beobachtungsanstalt für jene Grenzfälle, die am 
schwersten festzustellen sind und erst nach längerem Studium durch den Pädagogen 
und den Psychiater richtig erkannt werden können. Die Erkenntnis von der Not- 
wendigkeit solcher Anstalten wird in den großen Landesorganisationen für Kinder- 
schutz in der Republik immer lebendiger, und wenn es noch nicht zu ihrer Er- 
richtung gekommen ist, so ist einzig die große Wohnungsnot daran schuld, sowie 
das Mieterschutzgesetz. das nicht gestattet. Mietparteien zu kündigen, um Raum zu 


Ausbildungsfragen. 55 


gewinnen, die so unentbehrlichen Beobachtungsheime zu erstellen. So manche der 
Bezirksorganisationen für Jugendfürsorge in der Republik haben bereits Durchgangs- 
stationen eingerichtet, die alle Kinder durchlaufen, die in fremder Pflege abzugeben 
sind, damit wenigstens bei ihnen grobe Fehler in der Unterbringung hintangehalten 
werden. Doch fehlt diesen Heimen allen die Mitwirkung des Psychiaters, ohne den 
eben Fälle mit pathologischem Einschlag nicht richtig erkannt und versorgt werden 
können. 


Es muß anerkannt werden, daß die Vorbedingungen zu einer gedeihlichen 
Entwicklung der Heilpädagogik und verwandter Bestrebungen in der tschecho- 
slowakischen Republik günstig liegen; in welchem Zeitmaß sie sich vollziehen wird, 
hängt mehr von äußeren Umständen, vor allem von der Gestaltung der finanziellen 
Verhältnisse ab; die Erkenntnis ihrer Bedeutung und ihres Wertes für das Volks- 
ganze ist schon heute in hohem Maße vorhanden. Dr. Roller, Brünn. 





Ausbildungsfragen. 
Gesundheitspflege and Erziehung in der Jagendfürsorge. 


Um der Einführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes in der Praxis vorzu- 
arbeiten und Einzelfragen der Jugendwohlfahrtspflege zu klären, hatte der Deutsche 
Verein für öffentliche und private Fürsorge-Frankfurt a.M. in Verbindung 
mit der Zentrale für private Fürsorge bereits zwei Kurse auf der Wegscheide abgehalten ; 
den ersten vom 6.—9. Juni 1922 über »Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und Schule«, 
den zweiten über »Reichsjugendwohlfahıtsgesetz und ländliche Wohlfahrtspflege« 
vom 25.—29. September 22. Als dritten in dieser Reihe veranstaltete der Verein 
vom 19 —22. September 23, ebenfalls auf der Wegscheide, einen Kursus über: 
»Gesundheitspflege und Erziehung in der Jugendfürsorge«. Der Kursus war von 
etwa 180 Teilnebmern, in der Hauptsache Verwaltungsbeamten, Fürsorgerinnen, 
Ärzten und Pädagogen besucht. Er sollte in der Hauptsache die Frage klären, 
wie das Zusammenarbeiten dieser verschiedenen Faktoren zweckmäßig zu gestalten 
sei. Sowohl in der Praxis als in der Literatur und auf Konferenzen war in der 
letzten Zeit häufig Streit darüber entstanden, welche Stelle, ob Jugendamt oder 
Gesundheitsamt, die gesundheitlichen Aufgaben für die Jugend zu übernehmen habe. 
Hier zeigten die eingehenden Erörterungen der verschiedensten Gebiete der ge- 
sundheitlicben Jugendfürsorge — Säuglings-, Kleinkinder-, Schulkinder-, Schul- 
entlassenenfürsorge — wie auf jedem einzelnen Gebiete und in jedem einzelnen 
Falle nur ein Erfolg von Fürsorgebestrebungen zu erwarten ist, wenn alle Hilfs- 
maßnahmen jeglicher Art in einheitlicher Weise auf das Kind als unteilbares Objekt 
der Fürsorge einwirken, also sowohl die Leitung aller Bestrebungen zum Wohle der 
Jugend wie die Ausführung der einzelnen Maßnahmen in einheitlichen Händen 
liegen muß. So wurde aus der früheren Frage nach der zweckmäßigen Arbeits- 
teilung die Frage nach der zweckmäßigen Form des Zusammenarbeitens. Für 
diese glaubte man keine für alle Verhältnisse geeignete Lösung finden zu können, 
forderte vielmehr weitgehende Berücksichtigung der persönlichen, finanziellen und 
örtlichen Verhältnisse. Eine große Erleichterung in den Fragen nach der zweck- 
mäßigen ÖOrganisationsform sah man darin, daß sich das System der Bezirks- 
familienfürsorge schon weitgehend durchgesetzt hat und damit die Ausführung der 
fürsorgerischen Maßnahmen in einer Hand liegt. 


56 Ausbildungsfragen. 


Nach dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz ($ 10) sah man alle Möglichkeiten für 
die verschiedensten Organisationsformen gegeben. Im Zusammenhang hiermit wurde 
berichtet, daß die Inkraftsetzung des RJWG angesichts der Finanznot auch von 
offiziellen Stellen in Frage gestellt wurde. Die Versammlung stellte sich einmütig 
auf den Standpunkt, daß unbedingt zu fordern sei, daß das RJWG mit Ausnahme 
von Abschnitt V, dessen Aufgaben anderweitig sicherzustellen seien, unbedingt in 
Kraft gesetzt werden müsse. Gerade angesichts der großen Not der letzten Zeit 
sah man Fortführung und Ausbau der Arbeiten der Jugendwohlfahrtspflege als un- 
geheuer wichtig an, wenn nicht mit unserer gefährdeten Jugend die Zukunft unseres 
Volkes preisgegeben werden soll. Wenn so im allgemeinen lebhaft gegen einen 
Abbau gerade in der Jugendfürsorge Front gemacht wurde, stand doch die Er- 
örterung der Einzelgebiete, besonders Krüppel- und Tuberkulosefürsorge, Erholungs- 
und Speisungsfürsorge sehr stark unter dem Gesichtspunkt, wie mit den geringsten. 
Mitteln gute Wirkungen zu erzielen seien. Für die verschiedenen Gebiete wurden 
rationelle Arbeitsmethoden herausgearbeitet. Besonders glaubte man Ersparuisse 
erzielen zu können, wenn man in individueller Weise für jedes Kind die seinem 
eigentümlichen Zustand geeignete Behandlungs- und Unterbringungsweise wählt und 
dabei versucht, so lange als möglich mit einfachen Mitteln auszukommen. Hierbei 
wurde besonders die örtliche Erholungsfürsorge mit ihren vielfachen Möglichkeiten 
eingebend besprochen. Für hesonders wichtig und durchaus durchführbar sah man 
allgemein an, daß die Unterhaltspflichtigen in individueller Weise weitgehend zur 
Kostentragun. herangezogen werden. Als wichtigstes Mittel, um die Jugend- 
wohlfahrtspflege in der augenblicklichen und kommenden schweren Zeit durch- 
zuhalten, wurde angesehen, den Willen zur Selbsthilfe zu wecken und die Volks- 
gemeinschaft selbst zum Träger der Aufgaben zu machen. 

Ein eingehender Bericht über den Kursus, der für die Praxis viele wertvolle 
Anregungen brachte, wird ın den nächsten Tagen erscheinen und ist durch die 
Geschäftsstelle des deutschen Vereins zu beziehen (Frankfurt a. M., Stiftstr. 30) 

Hildegard Schröder-Frankfurt a. M. 


Die Arbeitsgemeinschaft sozialhygienischer Reichsfachverbände 
und das Organisationsamt für Säuglings- und Kleinkinderschutz im 
Kaiserin Auguste Victoria-Haus veranstaltet in der Deutschen Gesundheitsfürsorge- 
schule den 1. Fortbildungslehrgang: »Wege und Ziele der Gesundheits- 
türsorge unter dem Gesichtspunkt der Planwirtschaft.« Leitung: Prof. 
Dr. Rott. 12. II.—8. IV. jeden Dienstag und Donnerstag abends 7—9 Uhr im 
großen Hörsaal des Hygienischen Instituts der Universität, Dorotheenstr. 28a. 

Zweck dieses Lehrganges ist, den Weg zur Planwirtschaft in der Gesundheits- 
fürsorge zu bahnen. Der Kursus ist bestimmt für Hörer und Hörerinnen aus Ärzte- 
kreisen, überhaupt aus der Gesundheitsfürsorge, aus der Jugendwohlfahrtspflege, der 
allgemeinen und wirtschaftlichen Wohlfahrtspflege, sowie auch aus der Verwaltung. 
Kursgebühr 10 M. 

Vorlesungsfolge: Einleitende Vorträge von Prof. Hahn, Dr. Wolz: »Die 
Volkswohlfahrtspflege unter dem Gesichtspunkt der Planwirtschaft.« Prof. Gott- 
stein: Gesundheitsfürsorge und Volkswirtschaft. 


I. Kindernot und Kinderfürsorge: 


Prof. Rott: Zur Frage der Kindernot. Notmaßnahmen und planmäßige 
Kinderfürsorge. Obermedizinalrat Prof. Tjaden: Die Vermeidung der Doppelarbeit 
und Zersplitterung durch planmäßige Abgrenzung der Tätigkeit zwischen Gesund- 


Ausbildungsfragen. 57 


heitsamt und Jugendamt. Prof. Rott: Neuere Gesichtspunkte bei der Durchführung 
der offenen und geschlossenen Säuglings- und Kleinkinderfürsorge. Planmäßige 
Organisation der Mutter-, Säuglings- und Kleinkinderfürsorge mit praktischem Bei- 
spiel für die Stadtgemeinde Berlin. Prof. Rott: Frauenarbeit und die Fürsorge für 
Kinder außerhäuslich erwerbstätiger Frauen. Wiedererrichtung des Krippenwesens. 
Einzelfragen aus dem Krippenbetriebe. Prof. Meyer: Probleme der Unehelichen- 
fürsorge. Wiederaufbau des Pflegestellenwesens. Prof. Lewandowski: Über die 
Ürganisation der Schulkinderfürsorge. Abteilungsdirektor Dr. Schweers: Erfahrungen 
auf dem Gebiete der Ernährungs- und Erholungsfürsorge und Vorschläge für die 
künftige Gestaltung. 


ll. Aktuelle Fragen des Anstaltsbetriebes. 


Abteilungsdirektor W. Mosbacher: Die Bedeutung der Anstalten für die 
Gesundheitsfürsorge. Rektor van Acken: Anstaltsbetrieb nach planwirtschaftlichen 
Gesichtspunkten. 


UI. Fürsorge für körperlich und geistig Gebrechliche. 


Prof. Langstein: Die Ausnutzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse 
für die vorbeugende Fürsorge für körperlich und geistig Gebrechliche. Prof. 
Biesalski: Die Aufgaben moderner Krüppelfürsorge, insbesondere vom Standpunkt 
der Vorbeugung und Ersparnis. Dr. Potozky: Das schwererziehbare und psycho- 
pathische Kind. Ruth v. der Leyen: Organisation der Psychopathenfürsorge. 
Sanitätsrat Dr. Bratz: Offene Fürsorge für Nerven- und Geisteskranke. 


IV. Bekämpfung der Volksseuchen. 


Dr. Langer: Neuere Ergebnisse der Tuberkuloseforschung. Bewertung der 
diagnostischen Proben. Die planmäßige Bekämpfung der kindlichen Tuberkulose, 
Generaloberarzt Dr. Helm: Die Bedeutung des preußischen Gesetzes zur Bekämpfung 
der Tuberkulose. Kommunalarzt Dr. Löwenstein: Sexualpädagogik unter Betonung 
der sozialen Vorsorge. Prof. Pinkus: Neuere Ergebnisse der Syphilisforschung. 
Kommunalarzt Dr. Loewenstein: Das Reichsgesetz zur Bekämpfung der Ge- 
schlechtskrankheiten. Geheimrat Dr. Rosenthal: Organisation und Aussichten der 
Fürsorge für erbsyphilitische Kinder. 


V. Fürsorge für gesundheitlich und sittlich Gefährdete. 

Regierungsrat Dr. Käthe Gaebel: Gesundheitliche und sittliche Gefährdung 
der schulentlassenen Jugend durch die Arbeitslosigkeit. Verhütung der Verwahr- 
keung. Anna Pappritz: Organisation und Wirkung der Gefährdetentürsorge. 
Prof. Gonser: Der heutige Stand der Alkoholforschung und Alkoholbekämpfung. 
Überverwaltungsgerichtsrat Dr. Weymann: Der Entwurf zu einem neuen deutschen 
Schankstättengesetz. 


VI. Berufsberatung und Gesundheitsfürsorge. 


Prof. Chajes: Grundsätze der Berufsberatung vom Standpunkt der Gesundheits- 
fürsorge Mitwirkung des Arztes und Psychotechnikers. Direktor Dr. Lieben- 
berg: Berufsberatung vom Standpunkt des Erziehers. Mitwirkung der Schule. 


VII. Rassenhygiene, Heilkunde und Fürsorge. 


Stadtrat Prof. Oettinger: Rassenhygiene und Gesundheitsfürsorge. Prof. 
Grotjahn: Über die Beziehungen zwischen Heilkunde, Arzt und Volkswirtschaft. 
Stadtarzt Dr. Harms: Organisation und Ziel der sozialen Krankenhausfürsorge 


5S Gesetzgebung. 


und der Hauspflege. Abteilungsdirektor Dr. Mosbacher: Die Versorgung der 
Unheilbar-Kranken. Asylwesen. 

Auskurft erteilt die Geschäftsstelle Charlottenburg 5, Mollwitz-Frankstr. 
(Wilhelm 5132—36). 


Auf Veranlassung des Hauptgesundheitsamtes der Stadt Berlin finden im 
l. Quartal 1924 Vorlesungen über das psychopathische Kind vor den Stadtärzten 
der einzelnen Bezirksämter statt. 


Dozent: Prof. Dr. Kramer-Berlin. 


Disposition: 1. Einführung, 2. Definition des psychopathischen Kindes, 
3. Wirkung von Milieu und Anlage, 4. Typen psychopathischer Kinder, 5. Praktische 
Schwierigkeiten (Lügen, Stehlen, Fortlaufen). 


Kursus über Psychopathenfürsorge vom Jügendamt der Stadt Berlin vom 
29. 1.—21, 2. 1924. Vortragsfolge: »Begriff der Psychopathie«, Stadtarzt Dr. Hodann. 
»Psychologie des Entwicklungsalters«, Stadtarzt Dr. Hodann. »Psychopathische 
Typen mit Demonstrationen«, 4stündig, Stadtarzt Dr. Kreuz. »Die geschlossene 
Fürsorge für Psychopathen«. Anstaltsleiter Schlanzke-Templin. »Die offene und 
balboffene Psychopathenfürsorge«, Justus Popp. Besichtigungen: 1. Jugendheim 
Tannenhof, Lichtenrade; 2. Heilerziehungsheim und Waldhof, Templin. 


Gesetzgebung. 


Wohlfahrtsschulen, soziale Frauenschulen usw. 


Erlaß vom 6. Dezember 1923, betr. vermehrte Ausbildung von Wohlfahrtspflegerinnen 
in dem Hauptfach »Gesundheitsfürsorge« — III W 1470, IM —. 


Im Anschluß an meinen Runderlaß vom 9. August 1923 — IH W419!) — 
will ich für die nächste an jeder staatlich anerkannten Wohlfahrtsschule zu ver- 
anstaltende Prüfung gestatten, daß Schülerinnen, die sich für das Hauptfach »Jugend- 
wohlfahrtspflege« vorbereitet, während der beiden Schuljahre auf dem Gebiet der 
Gesundheitsfürsorge mit besonderem Erfolg gearbeitet und auch den vermehrten 
Unterricht in der Gesundheitsfürsorge nach $ 11 der Prüfungsvorschriften erhalten 
haben, ausnahmsweise zur staatlichen Prüfung als Wohlfahrtspflegerin in dem 
Hauptfach »Gesundheitsfürsorge« zugelassen werden. Hieran kuüpfe ich jedoch die 
Bedingung, daß diese Wohlfahrtspflegerinnen die nach $ 4 Ziffer 5a der Prüfungs- 
vorschriften in der sich aus den Erlassen vom 14. Juni 1922 — III G 910°?) — und 
26. April 1923 — LIG 1477) — ergebenden Fassung vorgeschriebene fachliche 
Berufsschulung nachträglich innerhalb zwei Jahren erwerben und daß ihnen das 
herkömmliche Zwischenzeugnis über die bestandene Prüfung erst nach Erfüllung 
dieser Bedingung ausgehändigt wird. 

gez. Hirtsiefer. 


1) V, M. BI. S. 441. 
2) V.M. BI. $. 332, — 
3) V. M. BI. S. 263. 


Gesetzgebung. 


Ât 
O 


Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der staatlich 
anerkannten Wohlfahrtspflegerinnen. 


Die Regierungen der Länder sind übereingekommen, die staatlich anerkannten 
Wohlfahrtspflegerinnen nach folgenden Grundsätzen gegenseitig anzuerkennen. 

1. Als staatlich anerkannte Wohlfahrtspflegerin im Sinne dieser Ver- 
einbarung gelten: 

a) solche Wohlfahrtspflegerinnen, die in einem Lande die staatliche Anerkennung 
auf Grund der für die Gesundheitsfürsorge, Jugendwohlfahrtspflege oder wirt- 
schaftliche und Berufsfürsorge vorgeschriebenen fachtechnischen Ausbildung, 
des Besuches einer staatlich anerkannten Wohlfahrtsschule (sozialen Frauen- 
schule) mit. mindestens zweijährigem Lehrgang, einer staatlichen Prüfung und 
einer einjährigen Probezeit erlangt haben; 

b) solche Wohlfahrtspflegerinnen, die von den Ländern auf Grund der Übergangs- 
bestimmungen in den von ihnen erlassenen Prüfungsordnungen (Preußische 
Prüfungsordnung $ 19, Hamburgische $ 20, Badische $ 18, Sächsische $ 17) 
staatlich anerkannt worden sind. 

2. Die in einem Lande staatlich anerkannten Wohlfahrtsschulen gelten auch 
in einem anderen Lande als solche, vorausgesetzt, daß sie mindestens zweijährigen 
Lehrgang haben. 

3. Für die Anforderungen der Prüfung und Anerkennung gelten als Maßstab 
im allgemeinen die Forderungen der Preußischen Prüfungsordnung vom 22. Oktober 
1920 mit Nachträgen, der Badischen vom 17. März 1921, der Hamburgischen vom 
$. März 1921, der Sächsischen vom 21. Januar 1922. Auf neue in einem Lande 
eingeführte Prüfungen und Anerkennungen erstreckt sich diese Vereinbarung dann, 
wenn sie den Forderungen der genannten Verordnungen entsprechen. Bei wesent- 
lichen Abweichungen ist eine neue Vereinbarung zu treffen. 

4. Die Länder verpflichten sich auf Ansuchen, die Probezeit der Wohlfahrts- 
pflegerinnen gemäß $ 17 der Preußischen und Hamburgischen, & 16 der Badischen 
und $ 15 der Sächsischen Prüfungsordnung auch dann zu überwachen, wenn diese 
ihre Prüfung in einem anderen Lande abgelegt haben. Die Anerkennung erfolgt 
durch das Land, in dem die Wohlfahrtspflegerin die Probezeit durchgemacht hat. 

5. Bei Anerkennung unter 1b (Muster B) wird die Anerkennung in der 
Regel von dem Lande ausgesprochen, in dem die Praxis ausgeübt ist. Ist die 
Praxis in verschiedenen Ländern ausgeübt, so soll die Anerkennung im Ew- 
vernehmen der beteiligten länder ausgesprochen werden. 

6. Diese Vereinbarung gilt bis zum 31. Dezember 1925 in folgenden Ländern: 
Preußen, Sachsen, Württemberg, Baden, Thüringen, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, 
Braunschweig, Oldenburg, Anhalt, Lippe-Detmold, Lübeck, Mecklenburg-Strelitz, 
Waldeck. Lippe-Schaumburg. 


Erlaß vom 30. Juni 1923, 
betr. ärztliche Untersuchung der der Fürsorgeerziehung zu über 
weisenden und überwiesenen Minderjährigen — IILF 1853, I —. 
»Volkswohlfahrt« 1. 8. 23, Nr. 15/16. 


$ 65 Absatz 4 RJWG sieht vor, daß das Vormundschaftsgericht die ärztliche 
Untersuchung des Minderjährigen anordnen und ihn auf die Dauer von höchstens 
6 Wochen in einer zur Aufnahme von jugendlichen Psychopathen geeigneten Anstalt 


50 Gesetzgebung. 


oder in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt zur Beobachtung unterbringen 
lassen kann. Weiterhin soll nach $ 70 Absatz 2 Satz 4 RJWG auch die Unter- 
bringung der zur Fürsorgeerziebung überwiesenen Minderjährigen unter ärztlicher 
Mitwirkung erfolgen. Diesen Vorschriften des neuen Rechts tragen bereits die in 
der Statistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger für das Rechnungsjabr 1909 
Abschnitt B auf den Seiten 89—90 abgedruckten allgemeinen Verfügungen des Herrn 
Justizministers vom 24. Juni 1909 und 9. Januar 1911 und des Herrn Ministers des 
Innern vom 5. August 1909, S. 2523, und 3. Februar 1911, S. 384. zum Teil Rechnung. 
Nach diesen Erlassen, die ich hiermit in Erinnerung bringe, soll auch in Fällen, in 
denen für die Beschlußfassung des Vormundschaftsgerichts über die Fürsorgeerziehung 
eine ärztliche Untersuchung an sich nicht erforderlich wäre, eine solche durch einen 
vom Kommunalverbande zu benennenden Arzt eintreten. Zur Übernahme der da- 
durch entstehenden Kosten hatten sich sämtliche Kommunalverbände bereit erklärt. 
Dieses Verfahren, dessen Beobachtung sich im Hinblick auf das kommende Gesetz 
empfiehlt, hat vor der späteren Untersuchung den großen Vorteil voraus, daß dann 
der Arzt selbst die Anhörung von Auskunftspersonen, wie Eltern, Lehrer usw., vor- 
nehmen und die ganze Umgebung des Zöglings berücksichtigen kann. Die Unter- 
suchung soll indessen das Fürsorgeerziehungsverfahren nicht erheblich verzögern. 
Sie wird deshalb vor allem in größeren Orten, insbesondere Universitätsstädten, in 
denen geeignete, besonders vorgebildete Ärzte zur Verfügung stehen, in Anregung 
zu bringen sein. In ländlichen Bezirken dagegen wird sie zweckmäßig erst nach 
der Überweisung und Unterbringung des Minderjährigen einzusetzen haben. 


Schließlich sind nach $ 70 Absatz 2 Satz 5 RJGW diejenigen Minderjährigen, 
die an geistigen Regelwidrigkeiten (Psychopathie, Epilepsie, schwere Erziehbarkeit 
usw.) oder an schweren ansteckenden Erkrankungen (Tuberkulose, Geschlechtskrank- 
heiten usw.) leiden, soweit es aus hygienischen oder pädagogischen Gründen geboten 
erscheint, in Sonderanstalten oder Sonderabteilungen unterzubringen. Solche Sonder- 
anstalten oder -abteilungen müssen hei Inkrafttreten des Gesetzes vorhanden sein, 
da für die Bestimmung des $ 70 Absatz 2 RJWG ein späteres Inkrafttreten im 
Artikel 5 EG RJWG nicht vorgesehen ist. Die Auswah:ı der Sonderanstalt oder 
-abteilung hat aber die richtige Bestimmung des Geistes- und Körperzustandes des 
Minderjährigen zur Voraussetzung. 


Ich empfehle deshalb den Provinzialverwaltungen, schon jetzt Einrichtungen 
zu schaffen, in denen die Minderjährigen alsbald nach ihrer Überweisung auf ihre 
körperliche und geistige Beschaffenheit geprüft werden können. Es kann nicht all- 
gemein die Forderung aufgestellt werden, daß diese Prüfung unbedingt bei Allen 
überwiesenen Minderjährigen im Rahmen von besonderen Beobachtungsheimen oder 
-abteilungen erfolgen muß. Jedenfalls ist eine erste Untersuchung aller Minder- 
jährigen durch einschlägig, besonders psychiatrisch, vorgebildete Fachärzte geboten. 
Alle Fälle mit irgendeinem zweifelhaften Befund siud Beobachtungsheimen oder 
-anstalten zuzuführen. Die bisher gemachten Erfahrungen sprechen dafür, daß eine 
klinische Beobachtung allein oft nicht genügt, und daß gerade in Beobchtungsheimen 
sich die gewohnte Lebensweise des Minderjährigen in Unterricht, Arbeit und Muse 
am besten widerspiegeln kann. In ihnen wird zugleich auch die Heilerziehung ein- 
zusetzen haben; denn Beobachtungsanstalten mit dem Charakter reiner Verteilungs- 
stationen würden das Erziehungswerk nur in unerwünschter Weise verzögern oder 
unterbrechen zum großen Nachteil des gerade der Erziehung so bedürftigen Minder- 
jährigen. 

gez. Hiertsiefer. 


Gesetzgebung. | bl 


Reichsgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 


Das Reichsgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten soll am 1. X. 1923 
in Kraft treten. Es bringt Bestimmungen, die für die Leser unserer Zeitschrift 
von Interesse sind, da Kinder und Jungendliche oft an Geschlechtskrankheiten oder 
ihren Folgen leiden, und da sie anderseits auch vor Ansteckung geschützt werden 
müssen. 

Nach $ 2 des Gesetzes sind Eltern, Vormünder undi sonstige Erziehungs- 
berechtigte verpflichtet, für die ärztliche. Behandlung ihrer Pflegebefohlenen zu 
sorgen. Bisher haben die Erziehungsanstalten es schon als selbstverständlich an- 
gesehen, für ihre kranken Zöglinge zu sorgen. Insofern legt ihnen das Gesetz keine 
Verpflichtung auf, die sie uicht schon vorher erfüllt haben. Der Zeitpunkt ist aber 
geeignet, namentlich die Anstalten für schulentlassene Mädchen anzubalten, alle 
ihre Zöglinge auf Geschlechtskrankheit untersuchen zu lassen. Bisher geschieht das 
nur in einigen Anstalten, während andere sich auf ‘die Untersuchung verdächtiger 
Zöglinge beschränken; die Untersuchung der übrigen aber aus — leicht verständ- 
lichen — Gründen der Schamhaftigkeit ablehnen. Die Gefahr, eine bestehende Ge- 
schlechtskrankheit zu übersehen ist aber zu groß, als daß diese Gründe gegen eine 
Untersuchung angeführt werden können. 


Wenn bei einer Beratungsstelle in der offenen Fürsorge der Verdacht der 
Geschlechtskrankheit in begründeter Weise auftaucht, muß die Beratungsstelle die 
betreffende Person der zuständigen Gesundheitsbehörde zuführen, bezw. einem be- 
hördlich zur Untersuchung ermächtigten Arzt. 


$3,$4. Es wird zweckmäßig sein, bei Beratungen usw. Jugendliche darauf 
aufmerksam zu machen, daß eine Weiterverbreitung der Geschlechtskrankheit hart 
bestraft wird; in dieser Hinsicht herrscht vielfach Leichtsinn und Unkenntnis; ebeno 
über den § 5, der die Eingehung einer Ehe einem Geschlechtskranken verbietet, 
wenn er nicht vorher dem andern Teile Mitteilung von seiner Krankheit macht. 


$ 10 und 10a betrifft das Verbot der Ankündigung, Ausstellung usw. von 
Mitteln zur Heilung und von Gegenständen zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten. 
Da beides von Jugendlichen auch geschieht, so bedarf es der Belehrung über die 
Bestrafung. 

$ 11 und 12 enthalten Bestimmungen über das Stillen. Wer geschlechtskrank 
ist und trotzdem ein fremdes Kind stillt, wer ein syphilitisches Kind von einer 
anderen Person als der Mutter stillen läßt, oder ein geschlechtskrankes Kind in 
Pflege gibt, ohne den Pflegeeltern von der Krankheit Mitteilung zu machen, wird 
bestraft; eine Amme, die ein fremdes Kind stillt obne im Besitz eines ärztlichen 
Zeugnisses zu sein, daß an ihr keine Geschlechtskrankbeit nachzuweisen ist; wer 
eine Amme in Dienst nimmt ohne sich zu überzeugen, daß sie dieses Zeugnis hat: 
wer ein Kind, für dessen Pflege er zu sorgen hat, von einer anderen Person als 
der Mutter stillen läßt, ohne vorher einen Arzt zu Rate gezogen zu haben, wird 
bestraft. 


Diese Vorschriften sind sehr zu begrüßen; bis jetzt ist aus Unkenntnis und 
aus Leichtsinn bei der Besorgung von Ammen mancher Schaden angerichtet worden. 
Die Anstalten, in denen Säuglinge verpflegt werden, und die Anstalten mit schul- 
entlassenen weiblichen Zöglingen mögen gerade dieser $$ stets eingedenk sein. 

Das gilt auch für die Beratungsstellen. 


Gesetzgebung. 


(œp) 
ID 


x 13 enthält Abänderungen der $$ 180, 184 u. 361, Abs. 6 des StrGB; sie er- 
streben einen größeren Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gefährdung durch 
Sitte und Anstand verletzende Aufforderung zur Unzucht, durch Ausübung der Un- 
zucht in der Nähe von Kichen und Schulen, in Wohnungen, in denen jugendliche 
Personen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren wohnen. 

Die Fürsorgeschwestern werden in dieser Hinsicht eine unangenehme aber 
vielleicht erfolgreiche Tätigkeit ausüben können. 

Die Unterhaltung von Bordellen oder bordellartigen Betrieben gilt als Kuppelei. 
Ob durch diese Bestimmung nicht der heimlichen Prostitution Vorschub geleistet wird: 

Nach $14 müssen im ganzen Reich öffentliche Beratungsstellen für Geschlechts- 
kranke in ausreichender Zahl eingerichtet werden. Diese werden wohl am besten 
den Gesundheits- oder Wohlfahrtsämtern angegliedert werden. Es sollen noch Aus- 
führungsbestimmungen dafür erlassen werden. 

Ob es dann viel besser wird wie bisher, ist recht fraglich. Soweit Kinder 
und jugendliche Personen in Frage kommen, ist bisher im allgemeinen von den An- 
stalten und der offenen Fürsorge freiwillig die Hauptsache von dem, was jetzt 
durch Gesetz verlangt wird, geleistet worden. Dr. Lückerath, Euskirchen. 


Drack von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





JUL LG 


L3 ` Y 
UNAY 


ZEITSCHRIFT FUR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDET VONJ. TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN I. B, TH.HELLER- 
WIEN-GRINZING, E.MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN, 
F. WEIGL-AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN BERLIN BERLIN 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 


NEUNUNDZWANZIGSTER BAND, HEFT 2 
(AUSGEGEBEN AM 4. JUNI 1924) 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 


II Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Band, 2. Heft. 


Die Zeitschrift für Kinderforschung 


erscheint in zwanglosen, einzeln berechneten Heften, die zu Bänden von etwa 40 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 








Manuskripte werden erbeten an: 
Herrn Professor Dr. M. Isserlin, München, Krankenhaus Schwabing 


oder 
Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, Bayerische Str. 9. 


für den Öriginalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9, 


für den Referatenteilan Dr.R. Hirschfeld, Berlin W 9, Linkstr. 23/24. 


Die Verfasser erhalten von jeder Arbeit 50 Sonderdrucke unentgeltlich, weitere 
gegen Berechnung. 


Mit Rücksicht auf die außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung sestali Anzahl zu begnügen, und falls mehr 
Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom Verlage zu erfragen, 
um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 








29. Band. Inhaltsverzeichnis. 2, Heft. 
Originalienteil. Seite 
Kroh, ©. Die eidetische Anlage bei Jugendlichen „ . . . 2 2: 2 2 2 2 2 20. 63 
Lyon, E. Heilpädagogisches Erholungsheim . . . 2. 22: 2: 2 2 2 m m m nn. 75 
Thumm, M. Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig . 99 
I CH: ZUBE E a ee ee re RER TET 113 
Fürstenheim. Über den Zusammenhang der geisteswissenschaftlichen und der 
naturwissenschaftlichen Jugendrichtung . . . 2: m m m m nn 117 
Hesselbarth. Zum 100jährigen Bestehen der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf 131 
Bartsch, K. Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichtsanstalt . . . .. 138 
Tugendreich, 6. Über Säuglingsturnen . . 2. 2m nn nn 151 
HeiloEdsgoginchs Dopo otn EO . 4 a a a et 155 
AUSDBELANDBEIERIE NND 5 r ea EI ER IR oA 157 
BasrtszsbiiE 2 5 res ET a e a A 161 
= Referateteil. 
Biologie, Constitution, Rasse, Ver- Heilpädagogik u. Anomalen-Fürsorge 122 
ODE a ern 81 Schwachsinn, geistige und seelische 
Ä à 91 (Gefühls- und Willens-) Anomalien 122 
Psychologie . .. 2... 0 oe. Sinnendefekte, Sprachstörungen „ . 124 
Allgemeine und spezielle Psychologie. 

Modische, . . . . o 91 | Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung . . 127 
Angewandte Psychologie . . . . 100 Allgemeines . . .. 2.2.20. 127 
Genetische und vergleichende Psy- Säuglings- und Kleinkinderfürsorge „ 131 

SE. Re 101 Schulkinderfürsorge . . . ... 134 

N Se Berufsberatung . . . . 2 2.2. 136 
Psychopathologie und Psychiatrie . . 103 Jugendgericht u. Jugendgerichtsbilfe, 
Geistige Defektzustände. . . . . 103 Forensisches . 2 ...... 137 
Psychopathie, Verwahrlosung . . „ 105 | Fürsorgeerziehung . . 2 2 2... 138 
PRTDOEE ae 110 | Erzieher, Fürsorger, Ausbildungs- 
Krankheiten des Kindesalters (einschl. a 2 ae 140 
allgemeine Pathologie und Therapie) 110 | Allgemeines . . . 2. 2 2 2 20. 141 


Normale Pädagogik . ..... Fr BE IREERNOBEOR Re 144 


Die eidetische Anlage bei Jugendlichen. 
Von 


Professor Dr. O. Kroh, Tübingen. 


Als eidetische Anlage bezeichnen wir die Fähigkeit, subjektive 
Sinneserscheinungen mit wahrnehmungsähnlicher Deutlich- 
keit zu erleben. Doch bedarf diese an der Phänomenologie der 
eidetischen Erscheinungen orientierte Begriffsbestimmung einer näheren 
Determination durch den Zusatz, daß wir als Eidetiker, d. h. als Träger 
einer nicht latenten eidetischen Anlage, nur völlig normale In- 
dividuen ansehen. Dieser Zusatz scheidet alle krankhaften Sinnes- 
täuschungen von der Art der Halluzinationen, Pseudohalluzinationen 
und febrilen Bilder von der Betrachtung aus.!) Nur mit normalen 
Erlebnissen gesunder Individuen haben wir es also zu tun. 

Eidetische Erscheinungen sind auf allen Sinnesgebieten nach- 
gewiesen. Ihrer anschaulichen und doch völlig subjektiven Natur 
wegen sind sie als subjektive Anschauungsbilder bezeichnet 
worden. Wir erkennen z. B. jemandem subjektive optische An- 
schauungsbilder zu, wenn er imstande ist, Objekte früherer Wahr- 
nehmungen subjektiv wiederzusehen, d. h. aber sie im gegenwärtigen 
Gesichtsfeld neben und mit Objekten der wirklichen Wahrnehmung 
erscheinen zu lassen. Natürlich wird man auch die Gebilde der op- 
tischen Phantasie, sofern sie die gleiche Erscheinungsweise besitzen, 
hierher rechnen müssen. Entsprechend bestehen akustische An- 
schauungsbilder überall da, wo ein Individuum Wörter, Geräusche 
oder Musik mit sinnlicher Lebhaftigkeit subjektiv erlebt oder wieder- 
erlebt. Der Komponist, dem etwa in einer charakteristischen Stimmung, 
beim Anblick einer Landschaft oder beim Anhören eines ihn er- 
greifenden Gedichtes ganze Tonstücke oder Melodien deutlich im Ohre 
klingen, ist ebenso akustischer Eidetiker wie der Knabe, der im 
Geräusch des fahrenden Zuges rhythmische Weisen oder Sätze hört 


1) Diese Ausscheidung verneint keineswegs die phänomenale Verwandtschaft, 
die derartige Erscheinungen mit den eidetischen Erscheinungen verbindet. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 5 


64 O. Kroh: 


oder in dessen Ohr der Anruf der Mutter plötzlich erklingt. Kin- 
ästhetische, taktile, olfaktorische und gustatorische An- 
schauungsbilder sind gleichfalls nachgewiesen und treten viel 
häufiger auf, als man gemeinhin anzunehmen bereit sein wird. 

In allen diesen Fällen sind die Anschauungsbilder von den 
Vorstellungen der entsprechenden Sinnesgebiete wohl zu unter- 
scheiden. In welcher Richtung die Unterschiede liegen, mag an 
einem Beispiel veranschaulicht werden. Wir richten an eine Gruppe 
von Jugendlichen die Aufforderung, sich eine allen bekannte Person 
subjektiv zu vergegenwärtigen. Von vornherein scheidet die geringe 
Zabl derer aus, die vollkommen avisuell und daher zur Lösung der 
gestellten Aufgabe nicht imstande sind. Die übrigen sondern sich 
in zwei deutlich getrennte Gruppen. Die einen werden an irgend 
eine Wahrnehmungssituation denken, in der sie den Vorzustellenden 
besonders charakteristisch oder besonders oft gesehen haben. Dabei 
ist ihnen diese Situation visuell gegenwärtig. Aber sie erscheint ihnen 
nicht mit sinnlicher Lebhaftigkeit; das Auge fühlt sich unbeteiligt, 
und das Bild vermag in vollkommener Unabhängigkeit vom derzeitigen 
Wahrnehmungsraum zu erscheinen. Demgemäß lehnen sie es ab, für 
ihre Art der subjektiven Bilderzeugung die Bezeichnung »sehen« zu 
verwenden. Sie stellen sich das Bild nur vor. Die andern sind im- 
stande, ihr Bild mit halluzinatorischer Deutlichkeit vor sich im Wahr- 
nehmungsraum, etwa auf einem vorgelegten homogenen Grunde, zu 
erblicken. Das Bild verdeckt den Hintergrund und füllt eine be- 
stimmte Stelle des Sehraumes aus. Das Auge füblt sich sehend, ein 
Eindruck, der noch dadurch gesteigert wird, daß der Ort des Bildes 
sehr häufig von der jeweiligen Konvergenz und Akkommodation des 
Auges abhängig ist. Diese Individuen empfinden das Verb »seben« 
als die einzig angemessene Bezeichnung ihrer Art der Bildvergegen- 
wärtigung. Nur sie werden wir als Eidetiker bezeichnen dürfen. 
Demnach unterscheiden sich die Anschauungsbilder von den 
Vorstellungsbildern prinzipiell durch ihre sinnliche Leb- 
haftigkeit, ihr Auftreten im Wahrnehmungsraum und durch 
die scheinbare Beanspruchung des peripheren Sehapparats. 
Diese Tatsachen sind es auch, die den Eidetiker veranlassen, von 
einem Sehen seiner Anschauungsbilder zu sprechen. Dazu kommen 
noch sekundäre, nicht überall erfüllte Kriterien. Während Vorstellungs- 
bilder vielfach lückenhaft und flüchtig auftreten und der Tendenz 
zur Verblassung und Verschwimmung sehr stark unterliegen, erweisen 
sich die Anschauungsbilder in der Regel als äußerst detailreich, 
von hoher Persistenz und einer Wochen und Monate überdauernden 


Die eidetische Anlage bei Jugendlichen. 65 


Beständigkeit. Für die phänomenologische Scheidung der An- 
schauungsbilder von den Vorstellungsbildern spielen allerdings diese 
sekundären Kriterien, da sie nicht in jedem Falle verwirklicht sind, 
nur eine untergeordnete Rolle. 

Überhaupt ist die Fülle und Mannigfaltigkeit der Er- 
scheinungsformen der Anschauungsbilder sowohl als auch der 
Vorstellungsbilder so groß, daß in gewissen Grenzfällen die Zuordnung 
zu diesem oder jenem Erscheinungsgebiete Schwierigkeiten machen 
kann. Von der Vielgestaltigkeit und dem Formenreichtum der An- 
schauungsbilder mögen die folgenden AANEREN einen ungefähren 
Eindruck geben. 

Eine farbige Vorlage kann im Anschaaungebilä mit genau gleichen 
Farben, aber auch mit abgeblaßteren oder sonstwie veränderten Farben 
auftreten. Sogar komplementäre Bildfarben kommen vor (bei gewissen 
Übergangsformen, die dem negativen komplementären Nachbild nahe 
stehen). Daneben ist völlig farblose Wiedergabe der farbigen Vorlage 
möglich. Besitzt die Vorlage Oberflächenfarben, so können diese im 
Anschauungsbilde ebensowohl erhalten bleiben wie auch durch durch- 
sichtige oder undurchsichtige Flächenfarben oder durch durchscheinende 
Raumfarben ersetzt werden. Eine ebene Vorlage braucht nicht immer 
zweidimensional wiedergegeben zu werden; die Dreidimensionalität 
einer Vorlage kann ebenfalls im Anschauungsbilde erheblich modifiziert 
sein. Neben starken Abschwächungen des Tiefeneindrucks kommt 
auch Steigerung desselben vor. Der Erscheinungsort des Bildes, der 
in der Regel mit dem zentralen Teil des Blickfeldes zusammenfällt 
und dann also vom jeweiligen Konvergenz- und Akkommodationsgrade 
des Auges abhängt, ist in manchen Fällen eine ganz bestimmte Raum- 
stelle. Normale Blickbewegungen ändern dann an dieser »festen« 
Lokalisation nichts. Genau so wie die starken individuellen Unter- 
schiede im Behalten von Formen und Farben dazu nötigten, in der 
Vorstellungspsychologie von einem besonderen Form- und Farben- 
gedächtnis zu sprechen, genau so zeigen auch die Anschauungsbilder 
verschiedener Individuen bald eine stärkere Bevorzugung der Farbe, 
bald ein Überwiegen der formhaften Elemente. Neben dem Jugend- 
lichen, in dessen Anschauungsbildern farbige Flächen vorwiegen, steht 
ein anderer, dessen eidetisches Gedächtnis vorwiegend oder ausschließ- 
lich die Konturen betont, ja oft nichts andres als scharfe (dunkle, 
helle oder gar leuchtende) Konturen erzeugt. Auch die Größe der 
Anschauungsbilder ist keineswegs eindeutig festgelegt. Sie ändert 
sich mit dem Abstand, in dem die Erscheinung auftritt, und ist von 


gestaltenden Einflüssen, die durch die besondere Art der Einfühlung 
5# 


66 O. Kroh: 


ihres Erzeugers, aber auch durch mancherlei Umweltsbedingungen 
verursacht sein können, nicht unabhängig. 

Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die so entsteht, würde 
unübersehbar sein, wenn es nicht möglich wäre, sie nach bestimmten 
Prinzipien zu ordnen. Ordnung bedeutet aber hier, wo Zwischen- 
formen und Übergangsphänomene mannigfacher Art scharfe Gruppie- 
rungen kaum zulassen, nichts anderes als Herausarbeitung ty- 
pischer Formen. Diese typischen Formen sind aber ihrerseits 
wieder der Ausdruck ganz besondrer typischer Strukturverhältnisse 
der Gesamtpersönlichkeit. Auf sie als den zentralen Punkt führt auch 
hier jede Erklärung typischer Verhaltungsweisen und Erscheinungen 
‚zurück. — Aber auch die beim gleichen Individuum unter verschie- 
denen Bedingungen auftretenden verschiedenen Erscheinungsformen 
der Anschauungsbilder lassen sich aus der typischen Verhaltungsweise 
des Individuums und den Einflüssen, die durch die Abwandlung der 
Versuchsbedingungen bei ihm ausgelöst werden, recht gut verstehen. 
Das gilt insbesondere von denjenigen Faktoren des Versuchs, für die 
eine Optimalitätszone existiert, d. h. die in einer ganz bestimmten, 
für das betreffende Individuum charakteristischen Weise gegeben sein 
müssen, wenn der optimale Effekt, ein möglichst deutliches, vorlage- 
treues und beständiges Anschauungsbild erzielt werden soll. Hierher 
gehören Größe und Kompliziertheit des Objekts, Intensität und Dauer 
seiner Betrachtung, Helligkeits-- und Homogenitätsgrad des Hinter- 
grundes, Konzentration der Aufmerksamkeit bei der Projektion des 
Anschauungsbildes. 

Wie sehr die Anschauungsbilder die typische Einstellung ihres 
Trägers widerzuspiegeln imstande sind, zeigt sich schon bei der 
Untersuchung ihres Zustandekommens. Nachdem bei der Kenn- 
zeichnung der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsweise vorwiegend 
formale Eigenschaften zur Betrachtung standen, soll nun auch der 
bevorzugte Inhalt des Bildes und sein Zusammenhang mit 
der Gesamtperson des Trägers berücksichtigt werden. Wo bei 
einem jugendlichen Eidetiker eine ausgesprochen ästhetische Einstellung 
vorliegt, kann man mit Bestimmtheit eine Bevorzugung des Schönen 
im Anschauungsbilde erwarten. Man darf sich daher nicht wundern, 
wenn er von einer ästhetisch indifferenten oder gar häßlichen Vorlage 
ein Anschauungsbild nicht oder nur mit Anstrengung zu erzeugen 
vermag oder wenn nicht gefallende Teile der Vorlage im Anschauungs- 
bilde ausfallen oder durch gefälligere ersetzt werden. So berichtet 
u. a. auch Goethe, der als Eidetiker in unserem Sinne angesehen 
werden muß, daß sich die visuell vergegenwärtigten Vorwürfe zu 


Die eidetische Anlage bei Jugendlichen. 67 


einigen seiner Balladen, gleichsam ohne sein Zutun, im Laufe der 
Zeit immer reiner und schöner gestalteten. Noch häufiger als die 
ästhetische läßt sich eine Gebundenheit der eidetischen Anlage durch 
die vorherrschende Interessenrichtung ihres Trägers nachweisen. Der- 
artige Individuen vermögen nur Gegenstände ihres besonderen Inter- 
esses im Anschauungsbilde zu sehen. Uninteressantem gegenüber ver- 
sagt ihre Anlage. Gerade bei Jugendlichen ist diese Interesse- 
gebundenheit sehr häufig. Hier eröffnet sich ein einfacher Weg zur 
Bestimmung der Interessenrichtung, ein Weg, der vielfach eine ge- 
nauere Bestimmung ermöglicht als die bei Interesse- und Beliebtheits- 
untersuchungen sonst übliche Ausfrage- und Enquöte-Methode. Auch 
da, wo Uninteressantes im Anschauungsbilde wiedergegeben werden 
kann, läßt sich aus der geringeren Leichtigkeit und der oft erheblichen 
Ungenauigkeit, mit der die Wiedergabe des Uninteressanten erfolgt, 
die starke Wirksamkeit der Interessegebundenheit unverkennbar 
feststellen. Besonders merkwürdig sind diejenigen Fälle, in denen 
das Individuum eine an und für sich gleichgültige Vorlage durch eine 
bestimmte Art ihrer Bearbeitung zu einer interessanten macht. Der 
bekannte Mathematiker Dr. Rückle erreicht z. B. seine einzigartigen 
Leistungen auf dem Gebiete des Zahlengedächtnisses nur dadurch, 
daß er das spröde und gleichgültige Material zufällig zusammen- 
gesetzter Zahlenreihen erst zahlentheoretisch auf seine Eigenschaften 
und Beziehungen hin betrachte. Während der »unbearbeiteten« 
Zahlenreihe gegenüber sein vorzügliches eidetisches Gedächtnis ver 
sagt, kommt es bei der bearbeiteten, interessant gemachten Zahlen- 
reihe mühelos zur Entfaltung.) Auch die Arbeitsmethoden der 
Jugendlichen sind reich an ähnlichen Maßnahmen. — Im frühen 
Jugendalter tritt gelegentlich noch ein andres, die Gegenstände und 
die Deutlichkeit der Anschauungsbilder bestimmendes Prinzip hervor. 
Manche Kinder sind nicht imstande, vom Bilde eines Gegenstandes 
ein deutliches Anschauungsbild zu erzeugen, während sie vom Gegen- 
stande selbst ohne Schwierigkeiten ein deutliches, detailliertes Bild er- 
halten (Jaensch).— In ähnlicher Weise ist für manche Eidetiker die Wirk- 
samkeit des eidetischen Gedächtnisses an habituelle, bei andern wieder 
an besonders intensive Eindrücke gebunden. Im entwickelten Bewußt- 
sein spielt ebenso der Faktor der Bedeutung oft eine entscheidende 
Rolle. — Überall aber, wo eine solche Gebundenheit auftritt, ist 
sie der Ausdruck einer bestiimmenden psychischen Grund- 
haltung des Individuums und durch Untersuchungen und Be- 
obachtungen auf andern Gebieten verifizierbar. 


+) Vgl. O. Kroh, Eine einzigartige Begabung, Göttingen 1922. 


68 O. Krob: 


Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß vor allem da, wo das 
Bewußtsein sich spontan in eidetischen Erscheinungen auslebt, diese 
psychische Grundhaltung besonders deutlich zum Ausdruck kommen 
muß. Demgemäß sind die spontanen Anschauungsbilder eine 
Fundgrube für jeden, der in das Innere der Persönlichkeit eindringen 
will. In phantastischen Schöpfungen, vor allem auch beim Wachtraum, 
ist Gelegenheit, den spontanen Anschauungsbildern nachzugehen. 

Auch der Schlaftraum, dessen Phänomenologie sich mit der der 
eidetischen Erlebnisse aufs engste berührt, muß hier genannt werden. 
So sehr man von der oft einseitigen Traumdeuterei der modernen 
Psychoanalytiker abzurücken bereit sein wird, so wenig darf ver- 
kannt werden, daß auch diese, zu einem erheblichen Teil spontane, an- 
schauungsbildverwandte Äußerung unseres Bewußtseinslebens, wenn auch 
oft symbolhaft verkleidet, Wesenszüge der Persönlichkeit offenbart. 

Der Einwand, daß es sich bei den Angaben der eidetischen Indi- 
viduen über ihre Anschauungsbilder um unbewiesene und unbeweis- 
bare Behauptungen fragwürdiger Geltung handele, ist leicht abzuweisen, 
da die Realität der Anschauungsbilder mit jeder erwünschten 
Exaktheit nachgeprüft werden kann. Projiziert ein Eidetiker das 
gleichfarbige, helligkeitsgleiche Anschauungsbild eines gelben Papier- 
quadrats auf blauen Grund, etwa auf ein gleichgroßes blaues Quadrat, 
so tritt eine Verschmelzung der subjektiven Bildfarbe mit der ob- 
jektiven Gegenstandsfarbe im Sinne einer physikalischen Farben- 
addition ein. Komplementäre Farben verschmelzen dabei zu grau 
oder — wenn die subjektive und die objektive Farbe nicht gleich ge- 
sättigt sind — zu einer dem Grau nahestehenden Farbe geringerer 
Sättigung. Auch sonst gleicht das Verschmelzungsergebnis dem 
Resultat, das man bei Mischversuchen mit Maxwellschen Scheiben 
erhält. Derartige Versuche, die u. a von Herwig im Marburger 
Psychologischen Institut angestellt worden sind, lassen sich mit großer 
Genauigkeit durchführen. Ihre Ergebnisse sind für die Realität der 
Anschauungsbilder um so mehr beweisend, als die meisten Eidetiker 
an den Versuch mit der auf die sogenannten Farbensubtraktion ge- 
gründeten Erfahrung herantreten, daß Gelb und Blau stets Grün (und 
nicht Grau) ergeben müssen. In ähnlicher Weise konnte ich die 
Realität akustischer Anschauungsbilder nachweisen. Hört 
der akustische Eidetiker subjektiv den Klang eines bestimmten Tones, 
so ruft ein gleichzeitig objektiv gegebener Ton je nach dem Intervall 
Konsonanz- oder Dissonanzerlebnisse hervor. 

Die Erscheinung der subjektiven Anschauungsbilder ist keines- 
wegs selten. Nicht nur lebt in ihnen bei vielen Künstlern die stoff- 


Die eidetische Anlage bei Jugendlichen. 69 


liche Grundlage und der Antrieb zur künstlerischen Produktion. Auch 
bei Nichtkünstlern läßt sich garnicht selten bei genauerer Unter- 
suchung diese oder jene Form der eidetischen Anlage feststellen. 
Besonders häufig finden sich die subjektiven Anschauungsbilder bei 
Kindern und Jugendlichen. Wir können sie geradezu als eine Jugend- 
eigentümlichkeit!) ansprechen. An Schülern der Marburger 
höheren Schulen wurden z. B. 1918 folgende Häufigkeitsziffern ge- 
wonnen, wobei hier nur die Fälle höherer Bilddeutlichkeit berück- 
sichtigt werden sollen: 


Oberrealschule und Reformrealgymnasium: 
Alter in Sahren Anzahl der Schuler Davon Eidetiker mit 


überhaupt deutlicher Ansch.-B. Prozent 
19. u = & g 3 0 0 
18 ..... 20 1 5 
Ie % 5 x 41 7 17 
16 .... . 57 20 35 
15... .. 48 19 44 


1) Wie die Feststellung dieser Tatsache erstmalig gelang, mag auch hier kurz 
angegeben werden: Nachdem V. Urbantschitsch von merkwürdigen Phänomenen, 
denen er den Namen subjektive optische Anschauungsbilder beilegte und die er vor- 
zugsweise an jugendlichen Personen beobachtete, im Jahre 1907 berichtet hatte, 
wandte mein hochverehrter Lehrer Professor Jaensch-Marburg der Erscheinung sein 
Augenmerk zu. So berichtete er z. B. im Winter-Semester 1916/17 in seiner psycho- 
logischen Vorlesung, an der ich teilnehmen konnte, von den von Urbantschitsch 
beschriebenen Erscheinungen, dabei gleichzeitig und nicht ohne Erfolg nach Eideti- 
kern unter seinen Zuhörern suchend. Diese Angaben lieferten mir den Schlüssel 
zur Erklärung einer etwa */, Jahr später an dem Quintaner E. M. völlig zufällig 
gemachten Beobachtung. Der Schüler beschriet eine naturkundliche Beobachtung, 
deren selbständige Durchführung als Hausaufgabe gestellt war, mit starker Unmittel- 
barkeit und Anschaulichkeit. Dabei blickte er ständig auf die schwarze Wandtafel; 
auf meine Frage gab er an, daß er dort das »Bild« besser sehen könne. — Meine 
sofortige Nachforschung bei andern Schülern und ein in derselben Stunde an- 
gestellter Versuch ergaben, daß mehr als ein Dutzend Schüler der Klasse über 
deutliche optische Auschanungsbilder verfügte. Ähnliche Resultate lieferten Klassen- 
versuche an allen mir damals zugänglichen Klassen. In allen Fällen handelte es sich 
um völlig normale Schüler. Damit war die Erscheinung, die bei Urbantschitsch den 
Charakter einer Anomalie noch nicht verloren hatte, als Normalerscheinung mindestens 
für das Marburger Schülermaterial wahrscheinlich gemacht. In meiner Eigenschaft 
als Schüler und Doktorand meines verehrten Lehrers Jaensch führte ich diese und 
andre Schüler dem Psychologischen Institut zu, wobei sich die Ergebnisse der ersten 
Feststellung durchweg bestätigten. Bei den dann kurz vor Ostern 1918 an der 
Oberrealschule nebst Reformrealgymnasium zu Marburg durch Herrn Prof. Jaensch, 
die Herren Dr. Dr. Herwig, Reich und Feyerabend und mich durchgeführten Unter- 
suchungen sämtlicher Schüler ergaben sich die in obiger Tabelle angegebenen 
Resultate. 


70 O. Kroh: 


Anzahi der Schüler Davon Eidetiker mit 


Alter in Jahren überhanpt deutlichen Ansch.-B. Prozent 
14 . 2.2.2. 44 20 45,5 
13 ..... 59 19 40 
12 45 20 44 
11 57 23 40 
10 17 8 47 
9 3 0 0 


Im humanistischen Gymnasium war die Häufigkeit etwas geringer. 
Nicht überall liegen die Verhältnisse so wie in Marburg. In 
Göttingen konnte ich bei einigen Klassen — und einer größeren An- 
zahl von Einzelversuchen zwar eine nur wenig hinter dem Marburger 
Resultat zurückbleibende Zahl von Eidetikern überhaupt, aber eine 
verhältnismäßig sehr geringe Zahl von Eidetikern mit deutlichen An- 
schauungsbildern feststellen. In der Stadt Braunschweig und in 
ihrer näheren Umgebung finden sich optische Anschauungsbilder 
bei der eingeborenen Bevölkerung nur sehr selten. So zeigten unter 
den 9- und 10jährigen Schülern einer Volksschulklasse in Wenden 
bei Braunschweig nur die wenigen (aus Schlesien und der Lüneburger 
Heide) zugewanderten Schüler eidetische Anlage. Zu denken gibt 
sicher die mehrfach bestätigte Angabe zugewanderter erwachsener 
Eidetiker, daß sie während ihres Aufenthaltes in Braunschweig ein 
ständiges Zurückgehen ihrer Anlage zu beobachten Gelegenheit hatten. 
Hält man daneben, daß in den südlicheren, an den Harz angrenzenden 
Teilen des Braunschweiger Landes sowie im Harz selbst optische 
Anschauungsbilder nach übereinstimmenden mir vorliegenden Befunden 
etwa in der gleichen Häufigkeit und Ausgeprägtheit wie in Marburg 
vorkommen, »o ergibt sich hier eine Abhängigkeit der eidetischen 
Anlage von Rassen- und geophysischen Einflüssen, denen weiter nach- 
zugehen sicher lohnend wäre. Wer den Zusammenhang der An- 
schauungsbilder mit der künstlerischen Begabung im Auge behält, 
wird sich nicht wundern zu erfahren, daß nach den mir bis jetzt 
vorliegenden Erhebungen in Tübingen und andern schwäbischen 
Orten die subjektiven Anschauungsbilder in ganz besondrer Häufig- 
keit und Ausgeprägtheit zu beobachten sind. Schulklassen (höhere 
Schulen sowohl wie Volksschulen) mit 80 und mehr Prozent Eidetikern 
sind in Württemberg nichts Seltenes. !) 








’) Genauere Angaben werden demnächst erscheinende Spezialuntersuchungen 
einiger meiner Tübinger Schüler erbringen. 


Die eidetische Anlage bei Jugendlichen. 71 


Man wird sich nicht wundern dürfen, wenn Gruppenunter- 
suchungen, die unter ungleichen Bedingungen von verschiedenen 
Versuchsleitern an gleichen Versuchspersonen angestellt werden, 
nicht immer zu genau gleichen Resultaten führen. Gerade bei 
Kindern spielen die Vertrautheit mit den Untersuchenden, der Grad 
der Ruhe uud Natürlichkeit, den sie ihm gegenüber aufzubringen im- 
stande sind, sowie die Auswahl geeigneter Versuchsbedingungen (un- 
gestörter Raum, geeignete Vorlagen und Hintergründe) eine be- 
deutende Rolle. Daß ebenso ein an das Interesse und die Selbsttätig- 
keit der Schüler appellierender Unterricht eine fördernde Wirkung 
auf die Entwicklung der eidetischen Anlage auszuüben imstande ist, 
habe ich bereits früher an anderer Stelle betont. 

Noch ein Wort zur mitgeteilten Tabelle. Daß mit dem 15. bezw. 
16. Lebensjahre ein allmählicher Rückgang der eidetischen Er- 
scheinungen eintritt, erhellt ohne weiteres aus dem mitgeteilten 
Material. Daß weder die mit der Pubertät gerade beim Schüler einer 
höheren Schule verstärkt einsetzende Wendung zum abstrakten 
Denken, noch die typische Unrast und der Doktrinarismus des Puber- 
tierenden für die Entwicklung der eidetischen Anlage ein günstiger 
Nährboden sein können, liegt auf der Hand und macht den Rück- 
gang der Anschauungsbilder mit fortschreitendem Alter begreiflich. 
Ob und wie dabei auch die mit der Pubertät einsetzende Änderung 
der Drüsensekretionen mitwirkt, wird von medizinischer Seite noch 
zu untersuchen sein. Daß aber mit der Pubertät die eidetische An- 
lage nicht völlig verschwindet, zeigt die Zahl der Studierenden beiderlei 
Geschlechts, die sich zum Besitz subjektiver Anschauungsbilder be- 
kennt, zeigt vor allem auch die große Anzahl der Eidetiker unter den 
ausübenden Künstlern. Völlig abwegig ist es auch, wenn aus dem 
Umstand, daß in unserer Tabelle unter 3 neunjährigen Sextanern kein 
einziger deutliche optische Anschauungsbilder besitzt, der Schluß ge- 
zogen wird, daß die Anschauungsbilder erst in diesem Alter auftreten. 
Es muß leider immer noch gesagt werden, daß eine Anzahl von drei 
Versuchspersonen kein zureichendes Material für Folgerungen aus 
statistischen Erhebungen darstellt. Inzwischen haben nun auch Unter- 
suchungen an 6—10 Jährigen stattgefunden, die im wesentlichen die 
gleiche Häufigkeit von Anschauungsbildern auch auf diesen Alters- 
stufen erwiesen haben. Auf noch früheren Altersstufen wird eine 
systematische Untersuchung in vielen Fällen auf Schwierigkeiten 
stoßen. Trotzdem liegen genügend Zeugnisse gelegentlicher Beob- 
achtungen dafür vor, daß auch in diesem frühkindlichen Alter An- 
schauungebilder keineswegs zu den Seltenheiten gehören. Demnach 


72 O. Kroh; 
muß jeder Versuch, in den eidetischen Erscheinungen 
Dokumente der psychischen Pubertät zu sehen, als irrig 
abgelehnt werden. So wenig von den Erwachsenen, die noch 
über Anschauungsbilder verfügen, behauptet weıden kann, daß sie in 
der Pubertät stecken geblieben sind, so wenig wird man einer Theorie 
zuliebe Kinder vom 3.—10. Lebensjahr als in der Vorpubertät be- 
findlich ansehen wollen. 

Daß aber innerhalb der eidetischen Phase mit fortschreitendem 
Alter. (die Periode der Rückbildung natürlich ausgeschlossen) eine 
Entwicklung der Leistungsfähigkeit des eidetischen 
Gedächtnisses stattfindet, ist natürlich und nur der Ausdruck 
der zunehmenden Auffassungs- und Reproduktionsfähigkeit überhaupt. 
Man wird sich daher nicht darüber wundern dürfen, daß die über- 
legenen Leistungen der Eidetiker im späteren Kindesalter besonders 
eindringlich in die Erscheinung treten. Legt man solchen Jugend- 
lichen etwa ein kompliziertes Bild kurze Zeit (10—20 Sekunden ge- 
nügen oft schon) vor, so sind sie imstande, das Bild mit einer auch 
die kleinsten Einzelheiten nicht vernachlässigenden Genauigkeit zu 
beschreiben. Sie stützen sich nicht auf das, was man gemeinhin Er- 
innerung nennt, sie orientieren sich auch nicht an den bei der Be- 
trachtung der Vorlage etwa gemachten, urteilsmäßig formulierten Fest- 
stellungen. Einzige Grundlage ihrer Aussagen ist das Anschauungs- 
bild, das sie vor sich haben. Darum wird das subjektive Bild auch 
dauernd betrachtet und auf Fragen nach besonderen Einzelheiten mit 
genauerem Hinsehen oder mit der Antwort »das sehe ich nicht« reagiert. 
In der Regel entsteht so, selbst nach kurzer Betrachtung der Vorlage, 
eine Aussageleistung, die — wie eigens angestellte Vergleichsversuche 
bewiesen — unter gleichen Versuchsbedingungen gewonnene Aussagen 
(nichteidetischer) Erwachsener sowohl hinsichtlich der Fülle als auch 
der Sicherheit und Genauigkeit der Angaben weit übertrifft. Welche 
Hilfe hiernach die Anschauungsbilder ihrem Träger bei der Erarbeitung 
anschaulicher Inhalte zu leisten imstande sind, liegt auf der Hand. 
Man versteht die Ursachen der oft überraschenden Entwicklung, die 
man im Kindesalter auch bei nicht »Hochbegabten« beobachten kann. 
Das Anschauungsbild bestimmt aber, eben weil es der vor- 
herrschenden Einstellung so stark Rechnung trägt, in weitem Um- 
fang auch die Betätigung der Jugendlichen. Was sie 
zeichnen, bauen, basteln oder »erfinden«, das lebt zuvor in ihren 
Anschauungsbildern, deren sinnliche Lebhaftigkeit und starke Per- 
sistenz selbst einen erheblichen Antrieb zum Schaffen bedeutet. Daß 
bei einer Schaffensvorlage von der Natur eines deutlichen An- 


Die eidetische Anlage bei Jugendlichen. 13 


schauungsbildes, bei so mächtigen Antrieben, die noch dazu in der 
Richtung des natürlichen Interesses und der besonderen Begabung 
wirksam sind, dann Leistungen entstehen können, die weit über das 
Niveau der »kindlichene Leistung hinausragen, wird verständlich. 
Gerade die außerschulmäßigen Leistungen bieten sehr oft überzeugende 
Belege. Es ist keine geringe Anerkennung für die moderne Arbeits- 
schule, wenn festgestellt werden muß, daß es ihr gelungen ist, in den 
Zeichnungen, freien Schilderungen und Basteleien ihrer Schüler diese 
außerordentlichen Leistungsmöglichkeiten des Kindes sichtbar zu machen. 
— Nicht ohne Grund hat Wilhelm Ostwald vor einiger Zeit in 
seiner Zeitschrift »Die Farbe« (1922) diese Periode der kindlichen 
Entwicklung das :geniale« Alter genannt. 

Daß die Anschauungsbilder aber überhaupt eine wichtige und 
notwendige Stufe der psychischen Entwicklung darstellen, daß man 
von ihnen aus eine Fülle von psychologischen und andern Problemen 
neuen Lösungen zuführen kann, haben vor allem die zahlreichen 
Veröffentlichungen des Marburger Psychologischen Instituts be- 
wiesen. 

Hier ist nicht der Ort, diese allgemeineren Zusammenhänge weiter 
zu verfolgen. Dafür muß aber um so nachdrücklicher darauf hin- 
gewiesen werden, daß die Anschauungsbilder (optische sowohl wie 
akustische und taktile) geeignet sind, über Störungen der 
psychischen Gesundheit Aufschluß zu geben. Überlanges 
Persistieren der Anschauungsbilder, die Unfähigkeit, ein bestimmtes 
Bild abschütteln zu können, sind die Anzeichen von Zwangs- 
psychosen, wobei aus dem Inhalt der Anschauungsbilder in der Regel 
unmittelbare Schlüsse auf die Zwangsidee gezogen werden können. 
Und zwar läßt das Obsedieren der Anschauungsbilder die Diagnose 
auf eine in Entwicklung begriffene Zwangspsychose schon dann zu, 
wenn die üblichen diagnostischen Hilfsmittel einen eindeutigen Befund 
noch nicht geben. Ähnlich läßt sich auch die Auflockerung des 
Vorstellungs- und Denkverlaufs an der zu großen Sprunghaftig- 
keit und dem Mangel an wesentlichen ordnenden Kategorien, die in 
dem irregulären, flüchtig dahingleitenden Bildablauf mancher Indi- 
viduen zu beobachten sind, leicht erkennen. Gerade bei Beobachtung 
der spontanen Anschauungsbilder treten solche abnorme Formen 
besonders deutlich in die Erscheinung. Aber auch bei der Unter- 
suchung subjektiver Anschauungsbilder, die nach Betrachung von 
Vorlagen willkürlich erzeugt werden, lassen sich derartige psychische 
Anomalien überzeugend feststellen. Immer aber bewährt sich unser 
früher formulierter Ansatz, daß die Untersuchung der subjektiven An- 


74 O. Kroh: Die eidetische Anlage bei Jugendlichen. 


schauungsbilder, sowohl hinsichtlich ihres bevorzugten Inhalts als auch 
ihres formalen Ablaufs, die psychische Struktur der Persönlichkeit 
mit überraschender Deutlichkeit zu erkennen gestattet. An andrer 
Stelle habe ich kasuistisches Material eigener Erfahrung zusammen- 
gestellt, das besonders auch die Eignung der Anschauungsbildanalyse 
zur Diagnose abnormer Seelenzustände dartun sollte. Zahlreiche Mit- 
teilungen andrer Beobachter bestätigen mir, daß die Kenntnis der 
Anschauungsbilder eines Individuums einen vertieften 
Einblick in die Persönlichkeit gestattet. 


Genaueres in der einschlägigen Literatur: 

1. V. Urbantschitsch, Über subjektive optische Anschauungsbilder, Leipzig- 
Wien 1907. 

2. Die zahlreichen von E. R. Jaensch und seinen Schülern angestellten Unter- 
suchungen (großenteils in der Z. für Psychol. Bd. 84—94 erschienen), deren 
erste Serie unter dem Titel Ȇber den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre 
Struktur im Jugendalter« vor kurzem in einem inhaltsreichen Bande vereinigt 
wurde (Leipzig. Barth). 

3. O. Kroh, Subjektive Anschauungsbilder bei Jugendlichen, Göttingen 1922. 


Heilpädagogisches Erholungsheim.!) 
Ein Beitrag zur Typenbildung psychopathischer Jugendlicher. 


Von 
Dr. med. Erna Lyon, Nordhausen. 


Ehemal. Leiterin des heilpädagogischen Erholungsheimes des deutschen Vereins zur 
Fürsorge für jugendiiche Psychopathen. 


Am 1. Februar 1923 hat der deutsche Verein zur Fürsorge jugend- 
licher Psychopathen ein heilpädagogisches Erholungsheim im Harz 
eingerichtet. Dieser Gründung liegt der Gedanke zugrunde, eine 
Erholungsmöglichkeit für solche psychopathischen Kinder zu schaffen, 
deren Unterbringung in Heimen für normale Kinder nicht möglich 
oder nicht zweckmäßig ist, bei denen man sich aber von einer vor- 
übergehenden Erholung Erfolg versprechen kann und eine dauernde 
Entfernung aus dem Elternhause und Unterbringung in eine Anstalt 
für psychopathische Kinder nicht notwendig erscheint. In manchen 
Fällen, wo keine geeignete Häuslichkeit vorhanden ist, kann es sich 
darum handeln, die Kinder vorzubereiten zur Unterbringung in Familien- 
pflege oder in eine Erziehungsanstalt für normale Kinder. Bei der 
geringen Anzahl geeigueter Psychopathenheime ist das oft sehr 
wünschenswert. 

Es sind hauptsächlich drei Faktoren, die bei dem vorübergehen- 
den Erholungsaufenthalt psychopathischer Kinder wirksam sind und 
zum Erfolg führen können. 

i 1. Die körperliche Erbolung. 

Bei überempfindlichen, nervösen oder bei zappeligen, fahrigen 

Kindern bewirkt häufig allein die körperliche Erholung eine Besserung. 


2) Das heilpädagogische Erholungsheim des Deutschen Vereins zur Fürsorge 
für jugendliche Psychopathen in Gernrode wurde im August 1923 wegen der zu- 
nehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten vorübergehend geschlossen. Es wurde 
am 15. Januar 1924 als heilpädagogisches Erholungsheim und Dauerheim in Osterode 
bei Iifeld, Südharz in erweitertem Maßstab wieder eröffnet. Das Heim steht unter 
der Leitung einer speziell in der Psychopathenfürsorge ausgebildeten Jugendleiterin, 
unter der ärztlichen Fürsorge von Dr. Isemann und Fräulein Dr. Lyon, Nordhausen. 

R. v. der Leyen. 


76 E. Lyon: 


2. Die Milieuveränderung und vorübergehende energische 
Disziplinierung. 

Es gibt Kinder, die man nur in ein anderes für sie günstiges 
Milieu zu bringen braucht, um die Schwierigkeiten zu beheben, so 
daß man im Heim ihre Fehler gar nicht mehr zu sehen bekommt. 
Bei andern ist erst eine längere energische Disziplinierung nötig, um 
einen Erfolg zu erzielen. Erfahrungsgemäß genügt es bei manchen 
Kindern, sie in dieser Weise gewissermaßen auf den Schwung zu 
bringen, damit es nachher zu Hause wieder geht. 

3. Die Entspannung zwischen Eltern und Kind. 

Bei vielen schwererziehbaren Kindern hat sich durch die dauernden 
Reibereien mit den Eltern so viel Zündstoff zwischen beiden an- 
gesammelt, daß das Zusammenleben recht unerquickliche Formen an- 
genommen hat und ein weiteres Fortsetzen im Interesse beider nicht 
wünschenswert erscheint. Das Kind hat sich in eine Trotzstellung 
den Eltern gegenüber eingestellt und ist für alle Erziebungsmaßnahmen 
unzulänglicher als je; die Eltern halten das Kind für schlecht und 
mißraten, sind vergrämt und dem Kinde. gegenüber bitter und reizbar 
und daher als Erzieher ganz ungeeignet. Eine vorübergehende Trennung 
kann da oft sehr gut ausgleichend wirken. Die Erbitterung legt sich 
mit der Zeit auf beiden Seiten, das Kind sehnt sich wieder nach 
Hause, und die Eltern berührt die Anhänglichkeit des Kindes, an 
dessen Liebe sie gezweifelt haben, versöhnlich, und sie wollen es dann 
wieder mit Liebe und Verständnis versuchen. In vielen Fällen nehmen 
die Eltern auch dankbar Ratschläge für die Erziehung an, wenn sie 
gesehen haben, daß die Heimerziehung vorteilhaft auf ihr Kind ge- 
wirkt bat. 

Da das Ziel unserer Behandlung darauf gerichtet ist, das Kind 
wieder familienfähig zu machen, sind wir bemüht das Leben im Heim 
dem Familienleben möglichst anzugleichen. Gleichzeitig versuchen 
wir aber seine Fehler zu vermeiden, besonders die allzu affektvglle 
Einstellung dem Kind gegenüber, die zu Unkonsequenzen in der Er- 
ziehung führt. Das Familienleben bietet eine viel größere Vielgestaltig- 
keit und stellt größere Anforderungen an die Persönlichkeit des Kindes als 
ein schematisches Anstaltsleben, wo sich alles, was getan werden muß, 
von selbst ergibt. Familienähnlich ist es bei uns schon durch die 
kleine Zabl — durchschnittlich zehn Kinder — und das verschiedene 
Alter; es besteht nach unten und oben keine vorgeschriebene Alters- 
grenze, das Durchschnittsalter ist zwischen 6 und 15 Jahren. Daher 
beschäftigen sich die Kinder fast alle verschieden, ein Schema läßt 
sich da gar nicht durchführen. Ein Teil der Kinder besucht die 





Heilpädagogisches Erholungsbeim. 17 


öffentliche Volksschule oder Mittelschule, wenn sie mehrere Monate 
bei uns sind, und es für ihren Zustand geeignet erscheint. Einige 
helfen im Hause, machen Einkäufe für den Haushalt, andere betätigen 
sich im Garten. Die Kinder, besonders die Schulkinder haben ihre 
Freunde und Bekannten im Ort, sie besuchen sie, laden sie zu sich 
ein. Wir Erwachsenen nehmen uns dies und jenes Kind mal mit 
auf einen Spaziergang, beim Besuch zu Bekannten und empfangen. 
unsere Besuche in unserem allgemeinen Wohnzimner. Wir legen 
Wert darauf, daß die Kinder sich an die täglichen Abwechslungen: 
und Unregelmässigkeiten des Daseins gewöhnen, ohne sich dadurch 
übermäßig aufregen und aus der Ordnung bringen zu lassen. Natür- 
lich muß man darin ein gewisses Maß einhalten und auf die in- 
dividuelle Eigenheiten der Kinder Rücksicht nehmen, indem man 
z. B. besonders erregbaren Kindern mehr Ruhe zukommen läßt und 
sehr schüchternen, empfindlichen Kindern eine gewisse Zurückgezogen- 
heit zubilligt. 

Wir versuchen in weitgehender Weise auf die Eigenart der Kinder 
Rücksicht zu nehmen und ihnen die Freiheit zu lassen, sich ein per- 
sönliches Leben zu gestalten. Wir sind bemüht Freude und Abwechs- 
lung in ihr Leben zu bringen und in ihnen ein Gefühl von Heimat- 
lichkeit und Wohlbefinden aufkommen zu lassen. — Auf der anderen 
Seite besteht aber eine durchaus strenge Anstaltsordnung und Disziplin. 
Es ist eine genaue Zeiteinteilung für Essen, Spazierengehen usw. fest- 
gesetzt, die streng einzuhalten ist und nur bei besonderen Anlässen 
durchbrochen werden darf. Abends im Bett und bei der Nachmittags- 
ruhe hat absolute Ruhe zu herrschen. Es wird von jedem Kind ver- 
langt, daß es sich in die Hausordnung fügt und Rücksicht auf die 
Erwachsenen im Hause und die anderen Kinder nimmt. Diese Disziplin 
ist unbedingt notwendig, um innere Ruhe und Stetigkeit bei den 
Kindern zu erreichen, die ihnen Kraft zur Selbstbeherrschung und 
Mitarbeit an sich selbst geben. Die Kinder selbst empfinden nach 
einiger Zeit diese straffe Ordnung als wohltuend. Während sie zuerst 
gewöhnlich sehr heftig, besonders gegen die Nachmittagsruhe sich auf- 
zulebnen versuchen, sorgen sie später selbst für die Durchführung 
und weisen störende Neulinge zur Ruhe. 

Die körperliche Erholung wird durch eine möglichst reichliche 
und gute Ernährung zu erzielen gesucht, soweit das wirtschaftlich 
möglich ist; im Bedarfsfalle werden Extrazulagen verabreicht. Ferner 
reichliche Ruhe und Schlaf, Bewegung und Liegen im Freien. 

Ich habe versucht, ganz allgemein das Milieu zu kennzeichnen, 
das unser Heim für unsere Kinder darstellt. In diesem Milieu sehen 


78 E. Lyon: 


wir den stärksten Erziebungsfaktor. Da im übrigen die heilpädagogische 
Beeinflussung in jedem Falle auf anderem Weg erfolgen muß, um 
zum Ziel zu gelangen, je nach der individuellen Eigenart des Kindes, 
möchte ich das Bild unserer engeren heilpädagogischen Tätigkeit an 
der Hand von Fällen geben, und gleichzeitig über unsere Erfolge 
und Mißerfolge berichten. 

Zweck dieser Arbeit ist außerdem einen kasuistischen Beitrag zu 
den Typen psychopathischer Konstitution zu geben. In den ausführ- 
lichen Schilderungen einzelner Fälle sollen einmal die für den Typus 
charakteristischen Symptomenkomplexe hervortreten, daneben aber die 
bei jedem einzelnen Vertreter des Typus verschiedene Wesensart und 
Einstellung zur Umwelt gezeigt werden, deren Kenntnis erst die Hand- 
habe für das erzieherische Eingreifen bietet. 

Ich beginne mit der Gruppe der Überlebhaften oder hypomanischen 
Psychopathen. 


Ruth V. 10 Jahre. 

Ruth ist ein Künstlerkind. Die Mutter ist Opernsängerin, der Vater ist Film- 
schauspieler. Die Eltern sind geschieden, das Kind ist der Mutter zugesprochen. 
Um Ruth den Einflüssen der unregelmäßigen Häuslichkeit zu entziehen, ist sie seit 
dem vierten Lebensjahr außer dem Haus untergebracht. Sıe war in verschiedenen 
Instituten, in Privatpflegestellen und bei Verwandten. Nirgendwo hat man sie be- 
halten wollen. Überall klagte man über ihre übergroße Lebhaftigkeit und Unruhe, 
über Neigung zum Lügen und Bettnässen. Gelegentlich sind auch kleine Eigen- 
tumsdelikte vorgekommen; sie nahm Geld, kaufte Näschereien und Spielsachen 
dafür, die sie teilweise wieder verschenkte. 

Ruth wird uns an einem kalten Winterabend von ihrer Tante gebracht. Sie ist ein 
‚großes, kräftig gebautes, aber mageres Mädchen mit einem kleinen blassen Gesicht, 
großen grauen, klugen Augen. Sie sieht sich neugierig bei uns um, scheint durch 
‚die Situation wenig eingeschüchtert. Der Abszhied von der Tante ist ihr ziemlich 
gleichgültig. Sie wird in den Schlafsaal gebracht, wo die andern Kinder schon in 
ihren Betten liegen und führt sich mit der Frage ein: »Seid ihr auch solche Berliner 
Rangen wie ich?« — 

Ruth ist vom ersten Tag an bei uns zu Hause, mit allen Erwachsenen be- 
kannt, mit allen Kindern gleich befreundet. Die Freundschaft ist aber nicht ohne 
Konflikte, es gibt sehr viel Zank seit Ruth da ist. Sie ist bei allen Spielen ton- 
angebend, erfinderisch und voller Einfälle, aber rechthaberisch und herrschsüchtig. 
Bei Gesellschaftsspielen »schummelt« sie; wenn die andern sich das nicht gefallen 
lassen wollen, ist sie sehr beleidigt, »ihr versteht eben keinen Spaß«. Sie schimpft 
dann gleich sehr und will nicht mehr mitspielen. — Die Kinder sind empört über 
Ruths Prahlereien und Schwindeleien. Sie erzählt, ihre Mutter habe einen Salon 
mit goldenen Möbeln und auch ein goldenes Klavier. Sie berichtet langatınige Ge- 
schichten von feinen Gesellschaften, die sie mit ihrer Mutter mitgemacht habe, ver- 
tieft sich in tausend Einzelheiten, über das Menu und die Toiletten der Damen. — 
Zwischen Mein und Dein macht sie wenig Unterschied; mit der größten Selbst- 
verständlichkeit nimmt sie von den Sachen der andern Kinder, Haarschleifen, Brief- 
papier, Zeichenbögen. Sie ist empört, wenn jemand gegen dies Entleihen, wie sie 


Heilpädagogisches Erholungshein. 79 


das bezeichnet, etwas einzuwenden hat. Sie hat aber nie etwas heimlich entwendet. 
Für ihre Person ist sie für das Leihen gar nicht so eingenommen; sie hält Ordnung 
in ihren Sachen, und sie ist sehr aufgebracht, wenn jemand in ihrem Fach kramt 
oder gar etwas heraus nimmt. Ihre Puppen vor allem darf keiner anfassen. Niemand 
von den Kindern möchte aber auf die Dauer Ruth missen, denn keiner kann so 
schön spielen wie sie. Ihre Spiele sind Erlebnisse für sie; die Puppen sind durch- 
aus lebendige Wesen; in jede Rolle, die sie beim Spiel übernommen hat, vertieft 
sie sich ganz hinein. Sie veranstaltet Theaterabende, erdenkt sich Schauspiele, 
dichtet, komponiert, erfindet Tänze, macht die Kostüme, schminkt die Schauspieler 
und spielt die Hauptrolle. Dabei zeigt sie Temperament, Geschmack, künstlerisches 
Empfinden und viel Humor oft ans Groteske grenzend. 

Sie ist sehr vielseitig begabt, außerordentlich musikalisch, zeichnet und malt 
recht gut und ist sehr geschickt bei allen Handfertigkeiten. Eine ausgesprochene 
künstlerische Begabung zeigt sie beim Tanzen. — Sie ist sich ihrer Talente aber 
sehr bewußt und eine recht eitle kleine Person. die immer bewundert werden will. 
Zehnmal am Tag kommt sie zu einem mit einer Zeichnung, einem selbstgenähten 
Puppenkleid und fragt: » Wie babe ich das gemacht ?« Oder erzählt: »Ich bin die 
beste Zeichnerin in der Schule.«< Zuweilen bringt sie einem auch Sachen, die sie 
fälschlich als ihre Machwerke ausgibt. Sie kann eine Stunde vorm Spiegel stehen 
uud sich neue Frisuren ausprobieren und kommt dann inzwischen immer angelaufen, 
um sich bewundern zu lassen. Dabei ist sie wenig akkurat in bezug auf ibre Person, 
unordentlich und schmutzig, und bei aller weiblichen Eitelkeit wild wie ein Junge. 


Sie zeigt eine geradezu unbändige Wildheit und hochgradige motorische Un- 
ruhe. Sıe kann keinen Augenblick still sitzen. trampelt und schreit, schlägt mit den 
Türen, rutscht das Treppengeländer herunter. Beim Essen benutzt sie jede Gelegen- 
heit, um aufzuspringen; wenn etwas geholt werden soll, will sie es stets tun und 
ist zur Tür hinaus, bevor man etwas dagegen einwenden kann. Die wildesten Spiele 
sind ihr die liebsten. Beim Rodeln ist sie wie losgelassen, unter wildem Geschrei 
saust sie die steilsten Abhänge herunter, die Zöpfe gehen auf, sie verliert ihre Haar- 
schleifen, die Haare hängen wild um sie herum und die Augen leuchten. Schließ- 
lich fällt sie mit dem Schlitten um und verrenkt sich den Fuß, dann weint sie und 
ist sehr wehleidig. — Ruths Bewegungen sind ungezügelt und unbeherrscht, dabei 
allerdings nie ohne eine gewisse Grazie. Ihr Gesicht zeigt ein außerordentlich reges 
Mienenspiel, wechselt dauernd den Ausdruck und zeigt überraschend viele Ausdrucks- 
möglichkeiten. 

Durch ihre Unruhe, den Bewegungsdrang und den Betätigungsdrang, wobei 
ein Einfall den andern verdrängt, ist Ruth oft fahrig, unkonzentriert und ohne 
Ausdauer; sie kann ihre Gedanken nicht sammeln, bringt nichts fertig, fängt alles 
an Sie kann aber auch mit Konzentration bei einer Suche sein und sie zu Ende 
führen, wenn das Interesse groß genug ist. 

Rutbs Mund steht nie still. Sie spricht immer, und ist außerordentlich vor- 
laut. Sie hat immer etwas zu erzählen, und wenn sie kein Publikum hat, spricht 
sie mit ihren Puppen, oder unterhält sich mit sich selbst. Häufig redet sie auch 
inhaltsioses Zeug, spricht sinnlose Dinge vor sich hin, Klangassoziationen, oder 
imitiert das Stammeln eines klei.ıes Kindes, häufig in recht alberner Weise, oder 
plärrt wie ein Baby. Darüber kann sie sich außerordentlich amüsieren und plötzlich 
in ein ganz unbändiges Gelächter ausbrechen. Ihr Lachen klingt rauh und wild. 
Wenn sie mal gar nicht spricht, dann pfeift oder sammt sie mindestens eine Melodie 
vor sich hin. Wenn Ruth nach Hause kommt, hört man sie schon lange vorher 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 6 


80 E. Lyon: 


pfeifen und lachen, dann trampelt sie die Treppe herauf und stürmt ins Zimmer, 
und ohne Begrüßung fängt sie gleich an zu erzählen. Sie muß dann gewöhnlich 
noch mal herausgehen, um manierlich hereinzukommen, aber das knickt sie nicht 
allzu sehr, und sie nimmt ibre Erzählung gleich wieder auf. Und zu erzählen hat 
sie immer etwas, sie hat immer etwas erlebt, ihr ist immer etwas Interessantes 
passiert; manchmal allerdings etwas unglaubwürdige Dinge, wie zum Beispiel, daß 
ein offener Sarg über die Straße getragen worden sei, in dem eine Leiche mit 
schauerlichem Gesicht gelegen hätte. 

Wenn Ruth in ihren Berichten unterbrochen wird, kann sie sehr grob werden. 
Sie sagt überhaupt ihre Meinung immer sehr deutlich und kann schimpfen wie ein 
Marktweib mit laut erhobener Stimme. Um nicht überhört zu werden, pflegt sie 
immer recht laut zu sprechen, sie schreit so viel, daß sie dauernd heiser ıst. Ob- 
schon sie ein ganz gutes Hochdeutsch sprechen kann, zieht sie es vor, im schnoddrigsten 
Berliner Jargon zu reden und ist immer sehr erfreut, dadurch die Aufmerksamkeit 
der Leute auf sich zu ziehen, auf der Straße Bemerkungen der Passanten zu pro- 
vozieren, die sie schnippisch und schlagfertig beantwortet, wie ein Berliner Straßen- 
junge. Ebenso wie über ihre Sprache ist man über ihre schlechten Manieren er- 
staunt, da sie ımmer unter gebildeten Menschen gelebt hat. Den Gebrauch eines 
Taschentuches scheint sie nicht zu kennen, zu diesem Zweck dient ihr der Hand- 
rücken, der Kleiderärmel oder die Schürze. Sie schlingt das Essen hastig und laut 
schmatzend herunter ohne zu kauen, greift auch mal mit den Fingern ins Essen, 
versteht nicht ein Besteck richtig anzufassen. Sie ißt außerordentlich viel und ist 
nicht besonders wählerisch dabei. Sie ist hastig und gierig beim Essen, guckt sich 
genau an, was alle auf den Tellern haben und ist empört, wenn es ihr scheint, daß 
jemand zu gut weggekommen ist. Erstaunlich ist auch ihr geringes Ekelgefühl. Sie 
will ihre Zahnbürste in schmutzigem Wasser ausspülen. Den Tafelschwamm macht 
sie naß, indem sie ihn in den Mund nimmt. Bei einer Einkehr auf einem Ausflug 
macht sie sich daran, aus den Limonadengläsern sämtlicher Kinder die übrig- 
gebliebenen Reste auszutrinken. Durch ihre große Unruhe und Lebhaftigkeit, ihr 
vorlautes, oft freches Wesen und ihre Unmanierlichkeit fällt Ruth jedem Fremden 
unangenehm auf. Sie ruft auch bei Laien durch ihre außerordentliche Unruhe den 
Eindruck des Pathologischen hervor. 

In Gegenwart von Fremden treten Ruths unangenehme Seiten immer ganz be- 
sonders deutlich hervor; weil sie bemübt ist, Eindruck zu machen und die Auf- 
merksanıkeit auf sich zu zieben. Schüchternheit kennt sie nicht, im Gegenteil, sie 
drängt sich an jeden Fremden heran, zeigt dann oft eine große Gewandtheit. Ich 
stelle Ruth einmal einem von uns lang erwarteten Besuch vor und sage: »Die Ruth 
kennen Sie wohl noch nicht?« Darauf Ruth: »Wir kennen uns zwar noch nicht, 
aber ich habe schon viel von Ihnen gehört.« — 


Wenn die Situation etwas einschüchternd wirkt — was freilich selten vor- 
kommt, — macht Ruth zunächst einen recht vorteilhaften Eindruck. So urteilt der 
Schuldirektor bei der Anmeldung in der Schule sehr günstig über Ruth. Sie gibt 
sich dort frei und unbefangen, tut erstaunlich brav, erscheint sehr aufgeweckt. Von 
der Schule ist sie — wie von allem Neuen — zunächst begeistert. Sie kommt am 
ersten Tage strahlend nach Hause. Der Lehrer habe beim Rechnen gesagt: »Du 
scheinst ja schlau zu sein.« Die Turnlehrerin habe gesagt: »Du bist ja klug, du 
kapierst das am schnellsten.«e Alle hätten bewundert, wie gut sie zeichnen könne. 
Sie hat auch schon eine Freundin, die sie nach Hause begleitet hat, und hat sie zum 
Sonntag zu uns eingeladen. Sie findet sich in jeder Beziehung sofort in die Schule 


Heilpädagogisches Erholungsheim. 8l 


ein. Die Lücken, die sich in ihren Kenntnissen durch den Schulwechsel heraus- 
stellen, werden in wenigen Tagen ausgeglichen. Sie lernt spielend und mit Freude. 
Aber wenn sie viel Aufgaben hat, versagt sie zum Schluß trotz gutem Willen, sie 
wird dann flüchtig und unkonzentriert, fängt an zu »schmieren«. Wenn sie dann 
eine Schreibarbeit mehrmals machen muß, wird es immer schlimmer, die verbesserten 
Fehler aus der Vorschrift werden immer wieder mit abgeschrieben, die Rechen- 
aufgaben werden ihr immer unverständlicher. 

Wäbrend die Schule am Quartalsanfang immer einen wohltätigen Einfluß auf 
Ruth ausübt, und die geregelte Tätigkeit disziplinierend auf sie einwirkt, zeigt sie 
zum Schluß eine deutliche Ermüdung, sie ist den Anforderungen nicht mehr ge- 
wachsen, wird immer unkonzentrierter und zappeliger, sieht abgespannt aus und in 
den Ferien bemerkt man dann wieder eine Erholung und Nachlassen der Unruhe. 
Sie zeigt auch sonst eine leichte Ermüdbarkeit, die sich bei ihr aber meist nur in 
blassem Aussehen und zunehmender Unruhe, Albernheit, und Zerfahrenheit zeigt; 
sie klagt relativ selten über Müdigkeit, weil sie ihr durch ihre Aufgeregtheit gar 
nicht bewußt wird. Durch ihre Unruhe und Ablenkbarkeit dauert es abends auch 
lange, bis sie einschläft, sie ist sehr schwer zur Ruhe zu bringen, versucht immer 
wieder sich zu unterhalten. Wenn sie aber im Einzelzimmer schläft und jede An- 
regung von außen fehlt, verfällt sie fast momentan in einen außerordentlich tiefen 
Schlaf. — Wenn eine mit Anstrengung verknüpfte Sache Ruths Interesse stark in 
Anspruch nimmt, fällt geradezu ein Mangel an Ermüdbarkeit auf. So war Ruth am 
Anfang ihres Aufenthalts unermüdlich. Als Ruth wenige Tage bei uns war, machten 
wir einen Ausflug, obgleich das lange Marschieren noch dazu mit Steigung eine un- 
gewohnte Leistung für Ruth war, schien es ihr nichts auszumachen, sie war 
munter und frisch bis zum späten Abend, und während alle Kinder froh waren zu 
sitzen und sich aufs Bett freuten, sprang Ruth treppauf, treppab, holte das Essen 
und hatte gar kein Bedürfnis nach Ruhe. 

Ebenso zeigten sich auch andere Züge von Empfindiichkeit zuerst unter dem 
Eindruck des Neuen überlagert von der Lebhaftigkeit. So sprang sie am ersten 
Morgen im Nachthemd in dem sehr kalten Schlafsaal herum, um sich mit allen 
Kindern bekannt zu machen und wusch sich in eiskaltem Wasser, während sie später 
sehr empfindlich für Kälte war. — 

Ruths Grundstimmung ist vergnügt, immer lustig und munter, stets zum 
Lachen und Scherzen aufgelegt. Oft lacht sie wie toll und weiß selbst nicht warum. 
Zuweilen, wenn man böse mit ‚Ruth ist und mit ihr schilt, kann man merken, daß 
sie davon betroffen ist und doch aus ihrem Lachen nicht herauskommen kann, was 
ihr dann selbst peinlich ist. Dabei ist Rut empfindlich, weint sehr leicht, wenn 
sie Schelte bekommt, wenn sie sich zankt, wenn ihr etwas abgeschlagen wird oder 
bei körperlichen Schmerzen. Sie ist recht reizbar, wird über Kleinigkeiten auf- 
gebracht und wütend, schimpft dann sehr heftig, prügelt sich auch einmal mit einem 
andern Kind, aber derartige Ausfälle nehmen nie einen grob gewalttätigen Charakter 
an. Diese Art Stimmungswechsel vollzieht sich sehr plötzlich und ist im allgemeinen 
sehr schnell vergessen. Ab und zu treten aber bei Ruth auffallende Stimmungs- 
schwankungen von längerer Dauer auf. Es kommt vor, daß Ruth Stunden und Tage 
lang verstimmt ist. Sie ist dann mißmutig und ganz besonders reizbar und weint 
dann über die geringste Kleinigkeit. Sie ist in diesen Zeiten weniger unruhig, 
manchmal beinahe schwerfällig in ihren Bewegungen, kann lange Zeit still sitzen 
mit traurigem Gesichtsausdruck ohne Beschäftigung. Sie weint bisweilen still vor 
sich hin, weint sich abends in Jen Schlaf. Sie kann meistens den Grund ihrer 

6 F 


82 E. Lyon: 


Traurigkeit nicht angeben, zuweilen klagt sie über Heimweh. Im längsten Fall haben 
solche Verstimmungen bei Ruth einige Tage gedauert. 

Als Ruth zu uns kam, zeigte sie eine sehr intensive Neigung zu Bettnässen. 
Sie näßte fast jede Nacht oft mehrmals ein. Wir haben die Flüssigkeitsaufnahme 
beschränkt, und Ruth jeden abend regelmäßig um dieselbe Zeit aufgenommen, wobei 
‚wir grundsätzlich darauf geachtet haben, sie vor der Harnentleerung völlig wach zu 
machen. um einen Mechanismus zwischen Harndrang und Aufwachen herzustellen. 
Diese Aufgabe war nicht leicht; Ruth hatte einen ganz ungewöhnlich tiefen Schlaf. 
Wir haben sie aus dem Bett genommen im Winter in dem recht kalten Schlaf- 
zimmer, wir haben sie gerüttelt, sind mit ihr im Zimmer hin und her gelaufen, und 
zuweilen erst nach 20 Minuten hatten die Bemühungen Erfolg. Allmählich nahm 
der Schlaf an Tiefe ab, das Einnässen wurde seltener, nach sechswöchentlicher Behand- 
lung hörte das Bettnässen endgültig auf. Nach einiger Zeit ließen wir Ruth un- 
begrenzt Flüssigkeit aufnehmen, und nahmen sie abends nicht mehr auf; es ist im 
Verlauf von fünf Monaten, die Ruth dann noch bei uns war, kein Rückfall wieder 
aufgetreten. Die Schlaftiefe blieb weiterhin eine geringere. Nachdem Ruth 
wochenlang nicht mehr aufgenommen war, gelang es sie durch bloßes Anrufen auf- 
zuwecken. — 

Ruth neigt zu allerlei sexuellen Unarten; sie onaniert abends vorm Einschlafen 
oder lutscht am Daumen; es gelingt auf die Dauer immer nur eine dieser An- 
gewohnheiten zu beseitigen, eine von beiden bleibt immer als Mittel zum Einschlafen 
bestehen. Sie treibt auch sexuelle Spielereien mit anderen Kindern, zuweilen ist 
sie die Anstifterin, ein anderes Mal scheint sie durch andere mitgerissen zu sein. 
Sie bemüht sich auch in sehr ausführlicher Weise die anderen Kinder aufzuklären und 
liebt überhaupt Unterhaltungen erotischen Inhalts, wobei sie recht frühreif er- 
scheint. — 

Ruth zeigt die für den hypomanischen Typus charakteristischen Eigenarten. 
lm Vordergrunde steht die übergroße Lebhaftigkeit: 1. Die psychische Lebhaftigkeit: 
Das reiche Phantasieleben, die Unternehmungslust, der Betätigungsdrang, die Fülle 
der Einfälle, die sich manchmal so drängen, daß ihre Handlungen unkonzentriert und 
ihre Reden ideenflüchtig werden. 2. Die Bewegungsunruhe. Sie ist zum Teil Aus- 
fluß der psychischen Lebhaftigkeit, ist Betätigungsdrang; außerdem bestebt aber 
auch eine reine Bewegungsunruhe, der sınnlose Drang sich zu bewegen, wie er in 
geringerem Grade bei Kindern normal ist. — Durch den Mangel an Ausdauer und 
dem sich Drängen der Einfälle entsteht der Eindruck der Oberflächlichkeit. Der 
Ausdruck ist nicht ganz berechtigt, im Moment ist durchaus ein der Situation ent- 
sprechendes Empfinden da, nur das schnelle Aufeinanderfolgen von Einfällen und 
Ausdrücken läßt dieses Gefühl manchmal gar nicht zum Ausdruck kommen, oder es 
wird so schnell wieder verwischt, daß man geneigt ist, die Tiefe der Empfindung 
überhaupt zu bezweifeln. — Neben dieser übermäßigen Lebhaftigkeit fällt die heitere 
Stimmungslage auf. der Sinn für Scherz und Humor, das Nichthaftenbleiben trauriger 
Eindrücke. Typisch sind auch die Gewandtheit, Dreistigkeit, das Bestreben sich be- 
liebt zu machen, die Höflichkeit und Gefälligkeit, die geringer wird, sobald das Kind 
sich zu Hause fühlt. 


Charakteristisch sind die Erziehungsschwierigkeiten, die sich hier gezeigt 
haben: Stehlen, und zwar hemmungsloses Nehmen, ohne sich im Augenblick Ge- 
danken darüber zu machen, und die Verwendung des gestohlenen Geldes zur Er- 
füllung von Augenblickswünschen und um sich bei andern beliebt und wichtig zu 
machen. Lügen, und zwar Zwecklügen, die sie in geschickter und treuherziger 


Heilpädagogisches Erholungsheim. 83 


Weise vorbringt, und phantastische Lügen, hauptsächlich prahlerischen Inhalts. 
Schwierig wurde sie zu Hause ferner durch das laute unbändige Wesen. 

In diesem Fall bestehen neben der Überlebhaftigkeit einige Züge von Über- 
empfindlichkeit: Wehleidigkeit bei Schmerzen, leichte Ermüdbarkeit, — beides oft über- 
lagert durch die übergroße Lebhaftigkeit — leichtes Beleidigtsein und Neigung zum 
Weinen. Neben der hypomanischen Veranlagung besteht eine depressive Komponente 
erinnernd an die Mischzustände des manisch-depressiven Irreseins. 

Ruth ist sechs Monate bei uns gewesen. Es haben sich in dieser Zeit keine 
groben Erziehungsschwierigkeiten im Sinne unsozialer Handlungen gezeigt. Sie hat 
bei uns nicht gestohlen und nicht in auffallender Weise gelogen. Hier hat also 
schon einfach die Milieuveränderung günstig gewirkt. Große Schwierigkeiten hat 
Ruth durch ihre Unruhe und ihr unbeherrschtes Wesen gemacht. Bis zu einem 
gewissen Grade wirkte die Anstalts- und Schuldisziplin in dieser Richtung günstig: 
doch zeigte es sich, daß wir damit allein nicht zum Ziel kamen. Wie schon er- 
wähnt, entfernten wir Ruth aus dem allgemeinen Schlafsaal und sahen eine günstige 
Wirkung von der Unterbringung im Einzelzimmer; Ruth schlief schneller und ruhiger 
ein und wurde auch im ganzen ruhiger. Auch am Tage wurde Ruths Zusammen- 
sein mit den anderen Kindern zeitweise eingeschränkt, da sie sich allein ruhiger 
und konzentrierter beschäftigt und die Gegenwart anderer Menschen sie immer 
aufregt. — 

Ermahnungen, Zureden und Schelten machen keinen nachhaltigen Eindruck 
auf Ruth; sie ist zwar im Augenblick aufrichtig betrübt, wenn man böse mit ihr 
ist, aber im nächsten Moment ist sie schon von einem andern Eindruck beherrscht 
und alles ist vergessen. Man muß ihr daher das, was man von ihr verlangt, ganz 
besonders häufig und intensiv deutlich machen. So hatte ich sie bei den Mahl- 
zeiten immer neben mir sitzen, um sie zu einem manierlichen Essen anzuhalten. 
Wochenlang mußte man ihr dieselben Dinge sagen, sie von der Gemeinschaft beim 
Essen ausschließen, oder ihr eine Speise entziehen, bis ein Erfolg zu bemerken war. 
Es ist nicht möglich immer im Guten mit ihr auszukommen; sie ist zuweilen so in 
ihre Spiele und Tobereien vertieft, daß man sie heftig anfahren oder ihr einen 
Schlag versetzen muß, um sich bei ihr durchzusetzen. Dabei liegt keineswegs böser 
Wille vor, sondern alle guten Vorsätze werden immer wieder durchkreuzt von der 
triebhaften Unruhe und der starken Ablenkbarkeit. 

Letzten Endes sind wir aber doch zu einem einigermaßen zufriedenstellenden 
Resultat gekommen. Ruth fügte sich in die Disziplin, wurde wesentlich konzentrierter 
und ruhiger; sie blieb bei einer Beschäftigung, konnte mit großer Geduld etwas 
basteln oder malen, kam durchaus ihrer Pflicht in der Schule nach, so daß sie ohne 
Schwierigkeiten in der Schule behalten wurde. Auch ihr Gesichtsausdruck wurde 
gesammelter und ruhiger. Die rein motorische Unruhe blieb allerdiogs immer uoch 
groß und zeigte sich schwer beeinflußbar. — 

Neben den Nachteilen, die das Zusammenleben mit den anderen Kinder für 
Ruth bot, wirkte es in anderer Beziehung außerordentlich günstig. Sie wurde ver- 
träglicher, legte das affektierte, gekünstelte Wesen, das sie anfangs oft zeigte, 
immer mehr ab; das Prahlen verlor für sie an Reiz, da sie keinen Eindruck bei den 
Kindern damit machen konnte. Wesentliche Fortschritte machte Ruth von der 
Zeit an. wo sie zu der Einsicht ihrer Schwächen gekommen war und sich bemühte, 
an sich zu arbeiten. In diesem Bestreben unterstützte sie der Wunsch, mit uns 
gut auszukommen und uns etwas zu Liebe zu tun. Ruths Zuneigung und Ver- 
trauen sind nicht leicht zu gewinnen. Sie schließt sich oberflächlich leicht an, 


84 E. Lyon: 


„macht sich an jeden heran“, aber zu einer tieferen Anhänglichkeit ist sie selten 
bereit. Anhänglich ist sie nur bei Menschen, bei denen sie instinktiv fühlt, daß sie 
Verständnis für sie haben und spüren, daß hinter dem wilden, unbeherrschten, 
scheinbar oberflächlichen Wesen mit den vielen Ungezogenheiten eine reichbegabte 
Persönlichkeit steckt. 

Die günstige Entwicklung, die Ruth nahm, bewegte sich keineswegs in gerader 
Linie. Es kam wieder zu Rückfällen inzwischen, die dann überwunden werden 
mußten, und mit Rückfällen wird man auch weiterhin bei Ruth zu rechnen und zu 
kämpfen haben. Es ist aber anzunehmen, daß es bei geeigneter Erziehung gelingen 
wird, sie vor groben Entgleisungen zu bewahren und einen sozial brauchbaren, viel- 
leicht sogar hochwertigen Menschen aus ihr zu machen. 


Wie wir gegen das Bettnässen vorgingen, wurde schon erwähnt. Es gelang 
nicht die sexuellen Unarten endgültig zu beseitigen. Es wurde gesagt, daß sie die 
Manier behielt, sich durch Daumenlutschen oder ÖOnanieren einzuschläfern. Die 
Neigung zu sexuellen Spielereien und Gesprächen sexuellen Inhalts tauchte immer 
wieder in den Zeiten des allgemeinen Rückschrittes auf. 

Ruth kam nach der Entlassung zu Bekannten der Mutter, in ein ruhiges Haus 
an einem kleinen Ort. Sie sollte dort die Schule besuchen. Die Dame, die ihre 
Erziehung übernehmen wollte, nahm großes Interesse an dem begabten Kind. Sie 
kannte Ruts schlechte Eigenschaften und war sich der Schwierigkeit der Aufgabe. 
die sie übernahm, bewußt. 


Karl M. 9 Jahre. 

Karl stammt aus einer gut bürgerlichen, kinderreichen Familie, die in ge- 
ordneten Verhältnissen lebt. Der Vater ist Ingenieur. Ein Bruder leidet an 
Epilepsie. 

Vor zwei Jahren ist Karl einmal fortgelaufen. Er ist darauf nach Finnland 
zur Erholung gekommen. Dann ging es lange Zeit gut. In den letzten Wochen ist 
er nun wieder fünfmal weggelaufen. Einmal ist er mit einem Freund in den Harz 
gereist, weil er das Gebirge kennen lernen wollte. Das letzte Mal war er mehrere 
Tage und Nächte in Berlin unterwegs. Fr fuhr mit der Stadtbahn, war in mehreren 
Warenbäusern und sah sich die Spielzeugausstellungen an. Die Nächte hat er ın 
Treppenhäusern zugebracht, obwohl er sich sehr ängstigte. Er litt schließlich sehr 
unter Hunger, entschloß sich endlich zu Bekannten zu gehen, von dort wurde er 
nach Hause gebracht. Er hat auch mehrmals von zu Hause Geld entwendet und 
auf seine Ausflüge mitgenommen für Fahrgeld und Essen. Aus der Schule wurde 
er wegen des Fortlaufens vom Direktor entfernt. Er hat sich im übrigen in der 
Schule gut geführt, in seinen Leistungen war er ausreichend, er faßt leicht auf, ist 
aber sehr unkonzentriert. Er ist sonst gewissenhaft mit dem Schulbesuch gewesen, 
hat sich morgens keine Zeit zum Frühstücken gelassen, um zur rechten Zeit zu 
kommen. Zu Hause hat er abgesehen von dem Fortlaufen keine groben Schwierig- 
keiten gemacht. Er fiel den Eltern auf durch seine übergroße J.ebhaftigkeit und 
Phantasie, zeigte Neigung zu pseudologischen und Zwecklügen, wobei er mit großer 
Geschicklichkeit vorzugehen pflegte. Er war unruhig, ohne Aurdauer und schwer 
zu beschäftigen. 

Karl ist ein stämmiger, frischer Junge mit kecker Stumpfnase und braunen 
Schelmenaugen. Am ersten Tage fühlt er sich bei uns schon völlig zu Hause und 
ist jedermanns Freund. Der Abschied vom Vater, der ihn gebracht hat, fällt ihm 
sehr leicht. Karl macht bei uns keine Schwierigkeiten, und fügt sich in die Dis- 


Heilpädagogisches Erholungsheim. 85 


ziplin, ist manierlich und nett. Er ist frisch und abgebärtet, macht sich nichts aus 
Kälte. Im Essen ist er nicht wäblerisch. Er liebt es im Freien herum zu tollen, 
ist begeistert von dem Herumklettern in den Bergen und möchte nie wieder in die 
Großstadt zurück. 


Er ist immer tätig, muß immer etwas unternehmen. Alles was im Hause ge- 
tan werden soll, will Karl machen. Er hackt Holz, er putzt Gemüse, wäscht Ge- 
schirr ab, macht die Betten, wischt Staub, macht Einkäufe, gleichzeitig will er Briefe 
schreiben, rodeln, spielen usw. Am liebsten möchte er alles auf einmal machen. 
Wenn er das eine angefangen hat, will er schon wieder das andere tun; ein Ein- 
fall verdrängt den andern. Zwischen Entschluß und Ausführung ist bei ihm keine 
Pause. Wenn er etwas holen soll, hat man keine Zeit. ihm Bescheid zu sagen, 
weil er im selben Augenblick davon stürzt. Bei allem, was er tut, ist er mit Über- 
eifer, und bei aller Geschäftigkeit schafft er eigentlich recht wenig. Durch seine 
Gefälligkeit, Höflichkeit und sein nettes Wesen macht er sich überall beliebt; alle 
haben Freude daran, sich mit dem aufgeweckten Jungen abzugeben. So hat er sich 
in einer Sägemühle angefreundet, wo er bei der Arbeit zusieht und sich alles er- 
klären läßt. Ein Fuhrmann läßt ihn auf seinem Pferd reiten, und dann ist Karl so 
ausgefüllt, daß er vergißt zum Frühstück zu kommen, obgleich er sonst immer einen 
sehr guten Apetit hat. Beim Spielen iet er voller Einfälle, weiß immer etwas vor- 
zuschlagen, und macht sich sofort zum Anführer aller Kinder, die sich seiner liebens- 
würdigen Art gern fügen. Er hat für die anderen Kinder immer etwas Mitreißendes, 
seine Rodellust steckt alle an, alle laufen heraus und wollen mithalten, während sie 
vorher immer jammerten, es sei zu kalt. Wenn Karl anfängt zu singen, singen alle 
mit Nie ist der Chor unserer Kinder so gut gewesen, als zu der Zeit, in der Karl 
da war. lın Gegensatz zu seiner sonstigen Unkonzentriertheit zeigt er viel Ausdauer 
beim Singen. Er übt den Kindern Lieder ein, achtet darauf, daß alle Strophen 
durchgesungen werden, sieht streng auf Takt und Rhythmus. Er versteht gut den 
Ton zu halten und schmettert so, daß er alle übertönt. Er liebt dabei allerlei Ver- 
anstaltungen zu machen. So hat er Märsche eingeübt, zog eine zeitlang morgens 
als Anführer mit sämtlichen Kindern unter Gesang vom Schlafsaal in den Tages- 
raum und dann durchs ganze Haus und jeder Bewohner bekam ein Morgen- 
ständchen. — 


Karl hat ein außerordentlich gutes Orientierungsvermögen. Nach einigen 
Tagen weiß er bereits in den Straßen Bescheid; nachdem er eine Woche da ist, 
zeigt er Fremden die Wege, begleitet sie, und tut als ob er ein Einheimischer wäre. 
Er kennt bald alle Geschäfte, weiß alle Preise, und findet heraus, wo es etwas 
Billiges zu kaufen gibt. 

Karl ist immer lustig. Wenn er morgens aufwacht, lacht und singt er schon. 
Man kennt ihn nicht anders als pfeifend und singend, so daß man es oft nicht mehr 
vertragen kann. Im ganzen Ort ist er bekannt durch seinen schmetternden Gesang, 
mit dem er durch die Straßen zieht. Straßenweit hört man ihn schon kommen. 
Alle Straßenkinder singen nach einiger Zeit Lieder aus Karls Repertoir, worauf er 
sehr stolz ist. Wenn ihm etwas Erfreuliches begegnet, z. B. ein Brief von zu 
Hause kommt, weiß er sich gar nicht zu lassen vor Vergnügen, schlägt einen Purzel- 
baum nach dem anderen, jauchzt laut und lacht. Ein trauriger Eindruck haftet bei 
ihm gar nicht. Als die Mutter nach Ablauf seiner Erholungszeit kommt, fällt er 
ihr um den Hals. küßt sie wie toll, ist außer sich vor Freude, daß er wieder nach 
Hause soll. Die Mutter sagt ihm, daß er nicht nach Hause, sondern in ein Internat 
kommen wird. Karl macht ein sehr langes enttäuschtes Gesicht. Nach wenigen 


86 E. Lyon: 


Minuten strahlt er schon wieder, freut sich unbändig, daß er verreisen kann, Neues 
zu sehen bekommt, und eine Menge Kameraden in seinem Alter haben soll. 


Karl redet sehr viel, hat das Bestreben, unterhaltend zu sein; so liebt er es 
Witze zu erzählen, und zwar immer dieselben, dabei macht es ihm nichts aus, daß 
schließlich niemand mehr zuhört, er selbst amüsiert sich immer wieder köstlich 
darüber. In dem Verlangen, sich interessant zu machen und zu prablen, hat er 
sich im Beginn seines Aufenthaltes in eine unangenehme Situation gebracht. Vom 
ersten Tag an hat er den Kindern eine aufregende Geschichte erzählt, die er jeden 
Tag fortsparn. Er berichtete, daß er einmal zu Schiff nach Finnland gefahren sei, 
auf dem Schiff sei er erkrankt, habe erbrechen müssen. Die Ärzte hätten Darm- 
verschlingung festgestellt. Es sei aber keine Darmverschlingung gewesen, daber 
habe er sich gegen die Behandlung gewehrt und die Ärzte nach der Landung bei 
der Polizei angezeigt. Die Polizei habe sich auf Seiten der Ärzte gestellt und ihu 
festnehmen wollen. Er wäre dann geflohen, und nun sei ihm die Polizei auf den 
Füßen, und er müsse von einem Ort zum anderen fliehen. Er habe deshalb von 
Finnland wieder nach Berlin müssen, und da man dort auch schon wieder auf ihn 
aufmerksam geworden war, habe er sich in den Harz zurückgezogen. Diese etwas 
konfuse Geschichte berichteten die Kinder, und Karl später ungefähr überein- 
stimmend. Karl vorstand diese mysteriöse Sache so wahrscheinlich darzustellen, 
daß alle Kinder sich sehr aufregten, und den armen gehetzten Karl lebhaft be- 
dauerten. Ein Mädcben wollte an ihren Onkel, der Rechtsanwalt ist, schreiben, ob 
sich in dieser Angelegenheit gar nichts tun lasse. Nach einiger Zeit wird dem 
Karl die Geschichte unheimlich, er fürchtet, es werde sich doch eines Tages heraus- 
stellen, daß alles geschwindelt sei, und greift dem vor, mit dem Geständnis, daß er 
sich alles Scherzes halber erdacht habe. Die Kinder sind empört, daß sie so an- 
geschwindelt worden sind, wollen gar nichts mehr mit Karl zu tun haben, und 
wollen ihm nie wieder etwas glauben. Karl schämt sich sebr. Am Morgen finde 
ich ibn, der sonst immer der erste aus dem Bett ist, schluchzend unter der Bett- 
decke versteckt. Im Laufe des Tages scheint die Geschichte bald vergessen, und 
Karl ist munter wie immer. Am nächsten Morgen geht er fort um Milch zu holen. 
Er kommt den ganzen Tag nicht wieder, erst abends finden wir ihn weinend im 
Dunkeln vor der Tür stehen. Er ist ganz aufgelöst vor Schluchzen, naß und 
schmutzig, und kann sich kaum auf den Füßen halten. Die Füße sind geschwollen,, 
er ist sehr hungrig und durstig. Er hat den ganzen Tag im Wald zugebracht, ob- 
schon es unausgesetzt geregnet und geschneit hatte, und alle Wege aufgeweicht 
waren. Er hat nichts gegessen außer zwei Brötchen, die er sich für das Milchgeld 
gekauft hat. Als Karl sich gewärmt und gesättigt hat, wird er wieder munterer, 
am nächsten Morgen ist alles vergessen. Die nächsten zwei Monate. die Karl dann 
noch bei uns war, verlaufen obne Zwischenfälle. 


Karl ist ebenfalls ein charakteristischer Vertreter des bypomanischen Typus. 
Bei ihm fällt vor allem die gehobene Stimmungslage auf und die Gewandtheit und 
Liebenswürdigkeit, wodurch er sich jeden zum Freunde gewinnt; ferner die Viel- 
geschäftigkeit, Unternehmungslust und der Betätigungsdrang. Sehr stark tritt bei 
ihm das Pseudologische hervor, und zwar ist er viel stärker pseudologisch als Kuth. 
Bei Ruth ist es mehr das Aufschneiden. Karl sucht sich zwar auch interessant zu 
machen, seine Erfindungen sind aber für ihn tatsächliches Erlebnis, das durchaus 
Realitätswert hat, obschon er sich bewußt ist, das es nicht wahr ist. Die Er- 
ziehungsschwierigkeit, die er macht. ist das Fortlaufen. Einmal ist es das typische 
Fortlaufen des Überlebhaften aus Unternehmungslust, um den Harz kennen zu 





Heilpädagogisches Erholungsheim. 87 


lernen, oder die vielen interessanten Dinge in den Warenhäusern zu sehen. Das 
Fortlaufen bei uns war mehr die Reaktion des Empfindsamen. Es geschah aus 
Scham, und verlief ohne jegliches Unternehmen. Auch bei dem Fortlaufen in Berlin 
entsprach sein Verhalten zum Teil nicht dem lebhaften, unternehmenden Wesen; 
nachdem er zuerst aus Unternehmungslust fortgelaufen war, überwog nachher Angst 
und das Gefühl der Hilflosigkeit. 

Bei Karl hat schon die Veränderung des Milieus gewirkt. Die engen Groß- 
stadtverhältnisse boten kein passendes Feld für seinen regen Tätigkeitsdrang und 
für seine Unternehmungslust, so daß er bei dem Bestreben, ‘diese Triebe zu be- 
friedigen, entgleisen mußte. Bei uns konnte er sich nach Herzenslust austoben, 
und fand reichlich Gelegenheit zu Betätigungen nach seineın Geschmack, Holzhacken, 
Reiten usw. Er kam gar nicht auf den Gedanken, zur Befriedigung seiner Aben- 
teuerlust auszureißen, und so kam er aus der Gewohnheit des Fortlaufens heraus. 
Er kam in ein Erziehungsinstitut für normale Knaben, und ist dort nicht fortgelaufen. 
solange wir noch von ihm Bericht bekamen (2 Monate). Das Fortlaufen im Beginn 
seines Aufenthaltes bei uns ist kaum in die Reihe der übrigen Fälle zu rechnen, da 
es nur eine hilflose Reaktion aus Empfindsamkeit darstellt. — Die regelmäßige 
Tageseinteilung und Disziplin hat günstig auf Karls unruhiges, fahriges Wesen ge- 
wirkt. Im J.aufe der Zeit ist es uns ganz gut gelungen, Karl daran zu gewöhnen, 
begonnene Arbeiten zu beenden und übernommene Pflichten zu erfüllen. Man muß 
seinen Ehrgeiz in dieser Beziehung wecken und ihm dabei nicht mehr zumuten, als 
er auch zu leisten imstande ist, um ihn durch die Freude des Erfolges zu größeren 
Leistungen anzustacheln und ihn sich nicht mißmutig an Arbeiten herumquälen zu 
lassen, mit denen er doch nicht zu einem befriedigenden Abschluß kommt. 


Ursula M. 1? Jahre. 


Ursula ist das einzige Kind eines mittleren Beamten. Es geht mit ihr nicht 
in der Schule trotz guter Begabung, weil sie unkonzentriert ist, leicht ablenkbar 
und zappelig, und sich schlecht in die Disziplin fügt. Die Mutter wird mit ihr 
nicht fertig, sie tut absolut nur, was sie will, hat gar keinen Respekt; wenn man 
es mit Energie bei ihr versucht, wird sie wütend. Sie ist sehr launisch, die Grund- 
etimmung ist jedoch eine heitere. Sie schwindelt mit großer Geschicklichkeit: hat 
auch zu Hause kleine Geldsummen entwendet. Sie ist an ihrer Person unordent- 
lich und nachlässig. — Sie ißt sehr schlecht, mag nur Näschereien essen. Sie ist 
empfindlich gegen unangenehme Gerüche und laute Geräusche, Sie ist an der Haut 
empfindlich, will keine wollenen Strümpfe tragen, weil sie kratzen. Sie ekelt sich 
leicht, trinkt nicht aus einem Glas, das ein anderer benutzt hat, und verlangt zum 
Essen immer ihren eigenen Löffel, der von keinem sonst benutzt werden darf. Sie 
klagt oft über Kopfschmerzen. Hat früher stark onaniert. 

Ursel ist ein kleines, zartes Mädchen mit klugem lebhaften Gesichtsausdruck. 
Sie ist bei uns die eısten Tage etwas eingeschüchtert. Nachdem sie aufgetaut ist, 
ist sie sehr lebhaft und wild, sie ist immer in Bewegung, redet sehr viel. ist sehr 
laut. Sie ist häufig albern und läppisch, liebt dumme Redensarten auf denen sie 
tagelang perseveriert. Stößt dauernd irgendwelche sinnlosen Laute aus, z. B. i-a-u 
oder mi-mi. Sie bat wenig Ausdauer bei ruhigen Beschäftigungen. spielt am liebsten 
draußen herum, liebt gewagte Kleiterpartien, klettert auf alle Bäume. Zum Lesen 
hat sie keine Ruhe. Alle Spiele verlieren nach kurzer Zeit für sie an Reiz. Ihr 
häufigster Ausspruch ist: »Ach, das ist so langstielzig.« Am ehesten hält sie noch 
bei Handfertigkeiten aus. Sie zeigt dabei ein große Geschicklichkeit und hat hübsche 
Einfälle. Sie malt auch sehr nett, hat eine auffallend gute Beobachtungsgabe. Eine 


88 E. Lyon 


erstaunliche Ausdauer im Gegensatz zu ihrer sonstigen Ruhelosigkeit zeigt sie bei 
Wanderungen. Sie kann viele Stunden wandern, ohne über Ermüdung zu klagen und 
hat ein liebevolles Interesse für die Natur. 


Sie ist immer guter Laune, lacht von morgens bis abends. Sie nimmt alles 
sehr leicht, man hat den Eindruck, daß ihr nichts tiefer geht. Bei näherem Kennen- 
lernen merkt man jedoch, daß die Oberflächlichkeit nur scheinbar ist, im Grunde 
hat sie eine durchaus adäquate Empfindung für traurige Ereignisse, aber sie will 
es nicht zeigen, und versucht durch eine gemachte Lustigkeit darüber hinweg zu 
täuschen. Ebenso, wenn man böse mit ihr ist, oder sie sich mit einem Kind gezankt 
hat, tut sie ganz gleichgültig. Aber eine gewisse Befangenheit, blasses Aussehen 
und Schwerfälligkeit beim Bewegen verraten, daß sie sich unbehaglich fühlt. 


In die Disziplin fügt sie sich zunächst garnicht. Sie hat gar kein Autoritäts- 
gefühl, beantwortet Ermahnungen in frecher Weise, um Anordnungen kümmert sie 
sich nicht, und widersetzt sich gauz öffentlich. Sie treibt im Schlafraum allerlei 
Schabernack, stößt und ziept die anderen Kinder, spuckt vom Bett aus in den be- 
nachbarten Schlafsaal. Ihre Scherze sind oft recht grob und so, daß sie anderen 
Schmerzen bereiten oder sie kränken. Das bekümmert Ursel aber wenig, im 
Gegenteil sie findet das sehr lustig. Dabei ist sie ganz gutmütig, im Augenblick 
ist sie nur ganz erfüllt von der Komik der Situation. Sie ist außerordentlich un- 
ordentlich, wirft ihre Sachen hin, wo sie gerade steht, man hat den Eindruck, daß 
sie gewöhnt ist, daß ihr alles fortgeräumt wird. In ihren Schubfächern herrscht 
ein Chaos, zum Aufräumen ist sie nur unter den größten Schwierigkeiten zu be- 
wegen. Spielsachen und Bücher sind in wenigen Tagen entzwei. — 

Sie schläft sehr unruhig, ist sehr leicht durch Geräusche zu wecken. Lutscht 
am Daumen. Beim Essen ist sie sehr mäkelig, verschiedene Kleider will sie nicht 
tragen, weil sie kribbeln, unter die wollenen Strümpfe zieht sie baumwollene, weil 
ihr die Wolle an der Haut unangenehm ist. Wenn man sie heftig anfährt, sieht sie 
einen mit großen erschrockenen Augen an, ist beleidigt, und bockt tagelang. Sie 
lenkt dann von selbst wieder ein, und leidet offenbar seibst unter der Diffarenz. 

Auch hier findet sich wieder die übermäßige Lebbaftigkeit, Unruhe, Mangel 
an Konzentration und Ausdauer und scheinbare Oberflächlichkeit. Dabei bestoht in 
diesem Fall eine ausgesprochene Kombination mit Zügen von Überempfindlichkeit. 
Sie ist leicht beleidigt, empfindlich für Uneinigkeiten mit ihrer Umgebung; sie ist 
auch körperlich überempfindlich, mäkelig im Essen, empfindlich an der Haut, für 
Geräusche und Gerüche. 

Ursel bat sich im Laufe der Zeit recht gut entwickelt. Sie hat sich körper- 
lich ausgezeichnet erholt, erheblich zugenommen, und ist in den 5 Monaten, die sie 
bei uns war, bedeutend gewachsen. Nachdem es gelungen ist, mit Ursel in ein 
näheres Verhältnis zu kommen, zeigt sie sich recht gut beeinflußbar. Man muß 
sich kameradschaftlich mit ihr anfreunden und auf ihre Interessen eingehen, um ihr 
Vertrauen zu gewiunen. Zunächst hat sie ein großes Mißtrauen gegen jeden Er- 
wachsenen, und nimmt eine aggressive Stellung ein. Seit wir mit ihr Freundschaft 
geschlossen hatten, war sie eifrig bemüht, im Guten mit uns auszukommen. Sie 
kannte ihre schwachen Seiten sehr gut, und arbeitete mit Energie an ihrer Selbst- 
beherrschung. Es durfte aber niemand merken, daß es Eindruck auf sie machte, 
wenn man etwas bemängelte. Sie hatte große Angst in den Ruf eines »Tugend- 
moppels« zu kommen, obschon sie wenig Anlage dazu hatte. Ihr ganzes Wesen 
wurde ruhiger, ausgeglichener, und sie war später gut imstande, sich auf eine Tatig- 
keit zu konzentrieren. Mit großer Geduld und Geschicklichkeit war sie beim Basteln. 


Heilpädagogisches Erholungsheim. 89 


Von einem Schulbesuch haben wir im Hinblick auf ihren schwächlichen Ge- 
sundheitszustand bei ihrer Einlieferung abgesehen. Es zeigte sich am Schluß ihres 
Aufenthaltes, als wir ihr einige Schulstunden wöchentlich erteilen ließen, daß sie 
in ihren Leistungen wesentlich besser geworden war als früher trotz des langen 
Aussetzen des Unterrichts. Sie war imstande gute Diktate zu schreiben, bei denen 
sie früher infolge ihrer Flüchtigkeit gänzlich versagte. Die günstige Wirkung ist 
zu einem großen Teil der körperlichen Erholung zuzuschreiben, dann auch der all- 
gemeinen Disziplinierung und Herstellung des inneren Gleichgewichts. Eigentums- 
delikte und Lügen sind bei uns nicht vorgekommen. Ursel hat sich im Gegenteil 
als ein aufrechter und zuverlässiger Charakter erwiesen. Wenn sie eine Dummheit 
gemacht hat, hat sie sie frei zugegeben. Wenu sie ihr Wort auf etwas gegeben 
hat, hat sie es unter allen Umständen gehalten. 

Sie ist nach 5 monatlichem Aufenthalt nach Hause gekommen, wo es gut mit 
ihr gehen soll. 


Edith B. 12 Jahre. 


Edith stammt aus guter Familie. Der Vater war Offizier, nach dem Krieg 
höherer Beamter. Die Mutter starb, als Edith 6 Jahre alt war. Seitdem ist eine 
Wirtschafterin im Hause, die es offenbar nicht verstanden nat, die Erziehung dieses 
schwierigen Kindes zu leiten. Vorübergehend war Edith bei der Großmutter und 
in einem Internat gewesen. Seit Jahren macht sie Schwierigkeiten in der Er- 
ziehung. Sie lügt und hat Kleinigkeiten fortgenommen. In der Schule kam sie 
nicht weiter, trotzdem sie gut begabt ist. Mit 12 Jahren sitzt sie noch in der 
4. Klasse. Mit ihrem Betragen war man immer sehr unzufrieden. Sie ist in 
mehreren Lyzeen gewesen und immer aus der Schule gewiesen worden. Es ist 
nie recht klar geworden, weswegen sie immer gescheitert ist. Sie ist immer zuerst 
eine ausgezeichnete Schülerin gewesen; in ihren Leistungen hat sie dann nach 
kurzer Zeit versagt. zeigte sich als unkonzentriert und völlig interesselos. Ihr Be- 
tragen erregte viel Anstoß, ohne daß es eigentlich zu recht konkreten Anklagen kam, 
wurde sie aus der Schule gewiesen, weil sie einen ungünstigen Einfluß auf die Mit- 
schülerinnen ausübte, die ganze Klasse gegen die Lehrer aufhetzte und eine Gefahr 
für die gesamte Schuldisziplin darstellte. In einer Schule hat sie die Unterschriften 
gefälscht. i 

Zuletzt hat Edith der Wirtschafterin einen kostbaren Brillantring entwendet. 
Sie gab an den Ring genommen zu haben, um sich damit zu schmücken, in der 
Absicht ihn später wieder zurückzulegen, und habe ihn daon verloren, weil er ihr 
gu weit war. Es erscheint diese Darstellung nicht unglaubwürdig. Nach diesem 
letzten Vorfall hat der Vater alle Hoffnung verloren, daß aus Edith noch ein ordent- 
licher Mensch werden wird, und zog sich ganz von ibr zurück, mit der Wirt- 
schafterin stand sie schon vorher dauernd auf Kriegsfuß. Darauf kam sie zu uns. 

Edith ist ein für ihr Alter auffallend großes und körperlich weit entwickeltes 
Mädchen. Sie wirkt wie ein 15—16jähriges Mädchen. Sie hat einen schelmisch- 
treuherzigen Gesichtsausdruck. In ihrer ganzen Erscheinung hat sie etwas Pro- 
letarierhaftes, 

Edith ist in den ersten Tagen etwas eingeschüchtert, was sich dann aber bald 
völlig gibt. . Sie ist sehr bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Sie ist sehr 
liebenswürdig und gefällig, immer hilfsbereit und höflich. Sie macht zunächst einen 
sehr netten und günstigen Eindruck. Aber bald erscheint einem ihre Höflichkeit 
übertrieben und aufdringlich, ihre Hilfsbereitschaft unangebracht und lästig. Überall 
ist sie tätig, vielgeschäftig und übereifrig, begleitet alles mit einem Schwall von 


90 E. Lyon: 


Worten. Im allgemeinen kommt bei aller Tätigkeit gar nicht viel heraus, sie macht 
das meiste nur oberflächlich und unzureichend. Wenn sie will, kann sie aber auch 
tatsächlich etwas leisten, sehr nett im Hause helfen. 

In die Disziplin scheint sie sich zunächst ausgezeichnet zu fügen: wenn sie 
im Anfang aus Unkenntnis gegen die Hausordnung verstieß, entschuldigt sie sich 
sehr wortreich und zerknirscht. Bald merkt man aber, daß diese Fügsamkeit nur 
eine scheinbare ist. Wo sie kann, widersetzt rie sich den bestehenden Anordnungen, 
aber so, daß man ihr selten etwas nachweisen kann. Sie versteckt sich Schmöker 
unter das Kopfkissen, um im Bett zu lesen, sie verursacht Unrahe im Schlafsaal, 
hat immer allerlei Heimlichkeiten vor und bringt Unruhe und Unbehaglichkeit in 
unsere Gemeinschaft, ohne daß man ihr immer etwas Positives nachweisen kann 
oder auch nur eigentlich genau sagen kann, worin die Störung besteht. 

Bei den Kindern ist Edith außerordentlich beliebt. Sie betrachten sie schon 
als halberwachsen, obschon sie gar nicht die Älteste ist: sie sind sehr anhänglich 
bei ihr, zanken sich darum, wer mit ihr gehen darf, wer sie einhaken soll, wem 
sie beim An- oder Auskleiden helfen wird. Sie versteht es aber auch ausgezeichnet, 
mit den Kindern umzugehen, wird mit allen fertig, versteht sie zur Ruhe und 
Ordnung anzubalten, Spiele anzugeben, die alle interessieren; bringt die Kleinen, 
die nicht essen wollen zum Essen, so daß sie selbst gar nicht merken, daß 
der Teller leer wird. Die Kinder gehorchen ihr ohne Schwierigkeit, weil sie immer 
liebenswürdig ist und dabei voll scherzhafter Einfälle. Wenn Edith ihre guten 
Zeiten hat, konnte man sich keine bessere Helferin denken als sie. — Aber ebenso 
groß wie ihr Einfluß auf die anderen Kinder im guten ist, ist er im schlechten. 
Wenn sie bockig ist, weil sie sich über irgend etwas geärgert hat, weil ihr nicht 
paßt, daß man etwas an ihr auszusetzen hat oder irgend etwas abgeschlagen hat, 
kann sie die ganze Gesellschaft aufhetzen. Dabei hat sie es glänzend heraus, einen 
allgemeinen Widerstand zu provozieren und dabei selbst im Hintergrund zu bleiben. 
Auch bei Erwachsenen versteht Edith sich beliebt zu machen, und ganz besonders 
bei einfachen, ungebildeten Personen. Mit dem Dienstmädchen in unserem Hause 
schließt sie enge Freundschaft, sie sitzt viel mit ihr zusammen, läßt sich Tanz- 
bodenerlebnisse erzählen und raucht mit ihr heimlich Zigaretten. Von einer Scheuer- 
frau, die nur wenige Male bei uns gearbeitet hat, erhält sie häufig Briefe. 

Sexuell ist sie sehr frühreif und übererregbar. Auf der Straße wirft sie jedem 
Mann herausfordernde Blicke zu. Mit einigen jungen Leuten aus unserer Nachbar- 
schaft bändelt sie an, wirft ihnen mit Steinchen beschwerte Zettel ins Fenster, die 
sehr unzweideutige erotische Aufforderungen enthalten. Sie erzäblt uns im Ton 
tiefster Empörung von ihrer Lehrerin und ihren Mitschülerinnen in Berlin, die seien 
so ordinär gewesen, wären abends mit Herren ausgegangen und hätten sich dafür 
bezahlen lassen. — Bie liebt es auch mit den anderen Kindern Gespräche sexuellen 
Inhalts zu führen. Ihre Gedanken bewegen sich immer in dieser Richtung, wenn 
auch oft in ganz harmloser Form. So zeigen die Rollenspiele der Kinder seit Ediths- 
Anwesenheit einen neuen Interessenkreis. Die Kinder spielen jetzt immer elegante 
Damen, die einen »Freund« oder »Schatz« besitzen, der Baron ist, enorm viel Geld 
besitzt und seine Freundinnen zu interessanten Reisen in ferne Länder einladet. 
Beim Spiel 3 Fragen hinter der Tür wirft Edith stets Fragen auf wie »ob sie einen 
Bräutigam hate oder »ob sie schon mal einen Mann geküßt hate. Ihre Interessen 
sind sehr einseitig, sie liebt Backfischbücher oder Romane von Courths-Mabler, spielt 
auf dem Klavier die neusten Schlager und tanzt mit Leidenschaft moderne Schiebe- 
tänze, wobei sie recht ordinär wirkt. Sie hat in ihrer ganzen Art etwas ausgesprochen 


Heilpädagogisches Erholungsheim. 91 


Backfischmäßiges und liebt übermäßige Liebesbezeugungen. In ihren Briefen schreibt 
sie: Liəber, goldiges, süßes Tantchen. Die Damen hier sind goldig und entzückend. 
Die Kinder sind lieb und süß. Zum Schluß schickt sie dann miudestens einige 
Millionen Küsse. Zärtlichkeiten teilt sie in überreichlichem Maße aus, läßt sich 
auch dadurch nicht stören, daß man das unangenehm empfindet. Sie kann einen 
eben noch mit Liebesbezeugungen überhäufen und dann hingehen und allerlei 
bäßliche Klatschereien über denselben Menschen verbreiten. Doch ist das wohl kaum 
eine bewußte Falschheit, sondern im Moment ist die Zuneigung empfunden, aber 
es ist alles obne Nachhaltigkeit bei ihr. Ebenso wenn man mit ihr über ihre 
Schwächen spricht oder über Dummbheiten, die sie angestellt hat, so erscheint sie 
im Augenblick recht einsichtsvoll, ist voller guter Vorsätze, nimmt auch mal einen 
kleinen Anlauf, aber nach kurzer Zeit ist es dann wieder alles beim alten. Wenn 
man mit ihr böse ist, fühlt sie sich sehr unbehaglich, versucht wieder einzulenken, 
und wenn sie dann nicht gleich den erwünschten Erfolg bemerkt, fängt sie an zu 
bocken. Es geht ihr nichts tiefer. Daß ibr Vater sich innerlich ganz von ihr 
zurückgezogen hat und schwer dabei leidet, macht wenig Eindruck, obschon sie den 
Vater auf ihre Art liebt und ein starkes Bedürfnis nach Liebe empfindet. Sie be- 
rubigt sich mit Briefen, die mit »süßes ‚Papachen« anfangen und voll kindlicher 
Versprechungen sind; dabei wäre sie bei dem Grad ihrer Intelligenz imstande ein- 
zusehen. daß derartiges ganz unangebracht ist. 

Sie ist recht gutmütig, sie tröstet, wenn sie einen traurig sieht; sie gibt gern 
ab, und dabei muß man aufpassen, daß sie nicht alle ihre Sachen fortschenkt. Bei 
dieser Schenksucht spielt auch der Wunsch sich beliebt zu machen eine Rolle; 
häufig ist sie auch dabei von einer unangenehmen Aufdringlichkeit. — 

Sie prahlt geru und schwindelt. So erzählte sie einem Jungen, ihr Vater sei 
sehr reich, habe 3 Autos, ihre Mutter sei eine Engländerin. Der Vater brauche 
nur 4 Stunden am Tag zu arbeiten. Die Eltern besuchten immer sehr vornehme 
Gesellschaften. Sie selbst besäße sehr elegante Kleider. Auf die Frage, warum 
man die nie zu sehen bekommt, sagt sie, die seien zu Hause und würden geändert. 
Einem Herrn erzählt sie, sie sei Amerikaneriv und wäre als Kind an den Niagara- 
fällen gewesen. Sie erzählt davon so anschaulich, daß kein Zweifel an der Wahrheit 
ihrer Berichte aufkommt. Ediths Grundstimmung ist meist eine heitere. Oft ist 
sie übermäßig lustig. 

Bei Edith finden wir dieselben Züge, wie bei den anderen Kindern, es trägt 
aber alles einen etwas anderen Charakter. Edith ist auch lebhaft, phantasiereich, 
neigt zu pseudologischen J.ügen, ist unkonzentriert und ohne Ausdauer. und bei ihr 
berrscht auch die beitere Stimmungslage vor. Auch Edith versteht es, sich beliebt 
zu machen, zu blenden, prahlt gern. Das, was sie aber von den anderen Kindern, 
deren Charakteristik hier gegeben wurde, unterscheidet, ist das tatsächlich Oberfläch- 
liche. Sie glaubt zwar auch im Augenblick an ihre Versprechungen. meint im 
Moment ihre Liebesbezeugungen ernst, hat wohl auch mal den Willen, an sich mit- 
zuarbeiten, aber es ist alles ohne Nachhaltigkeit, Während Ruth und Ursel durch 
ihre Impulsivität, die Ideenflucht den Eindruck des Oberflächlichen hervorrufen, ist 
bei Edith diese Oberflächlichkeit wirklich vorhanden, es ist alles gar nicht erst tief 
empfunden, nicht nur überlagert und verdrängt durch andere Eindrücke und Eiufälle. 
Außerdem besteht bei ihr eine ausgesprochene Haltlosigkeit, es fehlt ihrem Willen 
an Intensitat und einheitlicher, zielbewußter Richtung. Sie unterscheidet sich von 
den anderen auch dadurch, daß ihre I.ebhaftigkeit und Phantasie ohne jede Pro- 
duktivität ist. Sie ist viel mehr fahrig uad unkonzentriert als ideenreich. 


92 E. Lyon: 


Edith hat während der Zeit ihres Aufenthaltes bei uns keine groben Erziehungs- 
schwierigkeiten gemacht, vor allem keine Eigentumsdelikte begangen, aber trotzdem 
haben wir bei ihrer Entlassung nicht das Gefühl gehaht, unser Erziehungsziel er- 
reicht zu baben. Es ist uns nicht gelungen, in wirklich engen Konnex mit ihr 
zu treten, ihr bewußt zu machen, wo ihre Schwächen liegen, und in wie fern sie 
gefährdet ist, und es ist daher auch nicht zu einer Mitarbeit von ihrer Seite ge- 
kommen. Bei ihrer Oberfiächlichkeit, Haltlosigkeit und übererregbaren Sexualität 
scheinen Entgleisungen auf die Dauer bei ihr nicht ausbleiben zu können. 

Die Fälle, von denen ich bisher berichtet habe, zeigen alle eine 
Reihe gleicher Symptome, die es gestatten, sie unter einem Typus zu- 
sammen zu fassen. Innerhalb dieses Typus zeigt aber jeder einzelne 
Fall seine besondere Eigenart, einmal dadurch daß eine Kombination 
mit Eigenheiten eines anderen Typus stattgefunden hat, wie z. B. sehr 
deutlich bei Ursula (gesteigerte Lebhaftigkeit und Überempfindlichkeit), 
ferner durch die Charakterveranlagung des betreffenden Kindes, den 
eigentlichen Kern seiner Persönlichkeit, der unberührt bleibt durch 
die psychopathische Konstitution. Dieser Kern der Persönlichkeit ist 
es, der letzten Endes den Ausschlag für die Prognose gibt. So sind 
Ruth und Ursel im Grunde ihres Wesens ganz zuverlässige, auf- 
richtige Menschen, von denen man erwarten kann, daß sie bei ge- 
eigneter Erzielung ohne schwere Entgleisungen durchs Leben kommen 
werden, dagegen ist Edith zweifellos ethisch weniger wertvoll, ganz 
abgesehen von ihrer Psychopathie, und die Aussicht, daß sie mal ein 
brauchbarer Mensch wird, ist viel geringer. 

Es folgen jetzt einige Fälle aus der Gruppe der überempfindlichen 
Psychopathen. Einige Züge von Überempfindlichkeit zeigten sich ja 
schon bei der vorigen Gruppe, besonders ausgesprochen bei Ursel. 


Helmuth S. 9 Jahre. 

Er ist das einzige Kind wohlhabender Eltern. Seit Jahren leidet er sehr an 
Kopfschmerzen, weswegen die Mutter den Arzt aufsuchte. Auf Empfehlung des 
Arztes kommt er für eine kurze Erholungszeit zu uns. 

Helmuth ist ein großer, schlanker Junge, der wie ein 12jähriger wirkt. Er 
sieht blaß aus, hat einen sehr weichen Gesichtsausdruck. Die Mutter bringt ihn 
zu uns, verabschiedet sich sofort von ihm. Helmuth ist ganz erstarrt von Schreck, 
als er plötzlich in der fremden Umgebung allein gelassen wird. Als er aufgefordert 
wird, sich auszuziehen, und zum Essen zu kommen, brüllt er laut los wie ein zwei- 
jähriges Kind, erklärt dann, er wolle nichts essen, er habe Kopfschmerzen. Er klagt 
viel über Kopfschmerzen in der ersten Zeit, ganz besonders wenn er sich damit 
einer unangenehmen Sıtuation entziehen will. — Er gewöhnt sich schwer an die 
fremde Umgebung, macht aber keine Schwierigkeiten. Er ißt wenig, ist mäkelig im 
Essen, überwindet sich aber nach einiger Zeit. Er ist sehr besorgt um seine 
Peıson, vermeidet alle Anstrengungen und lebhaften Bewegungen, weil er sonst 
Kopfschmerzen oder Stiche bekommt. Wilde Spiele liebt er nicht, spielt lieber mit 
den Mädchen als mit den Knaben. Er hat eine Vorliebe für weibliche Beschäftigungen, 
deckt den Tisch, wischt die Stuben auf und macht das alles recht geschickt. Von 


Heilpädagogisches Erholungsheim. 93 


den lebhaften Kindern zieht er sich zurück und schließt sich lieber an die stillen 
an. Aber auch diesen gegenüber bewahrt er stets eine gewisse Reserviertheit. 
Er ist ein guter Kamerad, verträglich und nachgiebig. Unfreundlich wird er nur, 
wenn er in seinem Gefühl für Rechtlichkeit verletzt ist. Er ist aufs äußerste ent- 
setzt, als er erfährt, daß Kinder Geld und Schokolade genommen haben. Mit diesen 
Kindern will er nichts mehr zu tun haben. Ein derartiger Eindruck bleibt lange 
bei ihm haften. Ebenso trägt er lange nach, wenn er gekränkt worden ist. Er ist 
sehr empfindlich und leicht beleidigt. Er ist folgsam, leicht zu lenken und gibt zu 
Strafen keinen Anlaß. Er kann aber auch sehr eigensinnig werden, z. B. als es- 
sich darum handelt, sich vom kalten Baden auszuschließen. — Er weint leicht, 
schreit sogar manchmal laut, schämt sich dann aber sehr dabei. 


Er jist auch körperlich sehr empfindlich, wie erwähnt, leidet er an Kopf- 
schmerzen. Er neigt zu Schwindel, z. B. beim Herabsehen von Höhen. Er ist 
vasomotorisch leicht erregbar, wechselt leicht die Farbe. Wenn er sich an Brennesseln 
verletzt hat, bekommt er dick aufgelaufene (uaddeln, klagt tagelang über Brennen 
und Jucken. Er zeigt eine sehr deutliche dermographische Reaktion. Er friert und 
schwitzt leicht, ist schnell ermüdbar. Lärm kann er nicht vertragen, und liebt es- 
daher nicht, im allgemeinen Spielzimmer zu spielen. Für schlechte Luft ist er sehr 
empfindlich, klagt dann über Kopfschmerzen. Er ist auffallend sauber, wäscht sich 
sehr sorgfältig, sieht stets adrett aus, beschmutzt sich nie beim Spielen. Helmuth 
ist sehr ordnungsliebeud, geradezu pedantisch. Seine Kleider werden abends stets 
in derselben Reihenfolge und in dieselben Falten zusammengelegt. Eine Unregel- 
mäßigkeit darin macht ihn unglücklich und mit einer überraschenden Beharrlichkeit 
im Gegensatz zu seiner sonstigen Weichheit, besteht er dann darauf, wieder Ordnung 
in seinem Sinn herzustellen. 


Helmuth zeigt alle charakteristischen Eigenheiten des überempfindlichen 
Psychopathen. Überempfindlichkeit auf psychischem Gebiet: leicht gekränkt, nach- 
trägerisch. Überempfindlichkeit auf körperlichem Gebiet: vasomotorische Erregbar- 
keit, Hypersensibilität auf allen Sinnesgebieten. Wie die Mehrzahl dieser Art von- 
Psychopathen ist er außerordentlich leicht erziehbar. Aber gerade in dieser über- 
mäßigen Leichtlenksamkeit und Beeinflußbarkeit und im etwas schwächlichen Sich- 
nachgeben liegt die Gefahr für diese Kinder. Helmuth neigt zu psychogenen Re- 
aktionen, die sich häufig auf dem Boden dieser Konstitution entwickeln. Die Kopf- 
schmerzen, die ursprünglich eine somatische Ursache hatten, bilden allmählich bei. 
ihm eine willkommene Krankheit, in die er sich flüchtet, um einer unangenehmen. 
Situation zu entgehen. Hier muß die Erziehung energisch einsetzen. Die Methode 
der Mutter, die ın solchen Fällen besorgt und ängstlich war, ist geeignet, aus dem 
Kinde mit der Zeit einen Hysteriker zu machen. 

Helmuth war nur einige Wochen bei uns, er hat sich körperlich gut erholt, 
ist auch psychisch viel robuster geworden. Der Umgang mit den Kameraden, vor 
denen er sich nicht blamieren wollte, hat günstig auf ihn gewirkt. Wenn man ihn 
bei seinem männlichen Ehrgefühl packte, konnte man allerlei erreichen. Er legte- 
Wert darauf, als Kavalier zu gelten, und war bereit, ein ziemlich schweres Paket 
einen sonnigen Weg zu tragen, ohne irgendwelche Klagen zu äußern, wenn er 
einem von uns die Arbeit abnehmen wollte. Seine Kopfschmerzen und sonstigen. 
Klagen haben wir wenig beachtet, ohne indes gewaltsam dagegen anzugehen. Wenn 
er 2. B. über Appetitlosigkeit und Kopfschmerzen klagte, was gewöhnlich geschah, 
wenn er sich geärgert hatte oder traurig war, haben wir ihn ruhig zu Bett gehen 
lassen. Es war deutlich zu beobachten, daß solche Reaktionen sofort abklangen,. 


94 E. Lyon: 


wenn man weder mit Gewalt ihn beispielsweise zum Essen zwingen wollte, noch 
dem Vorgung sonst eine besondere Beachtung schenkte. In der letzten Zeit hat er 
sich körperlich sehr wohl gefühlt, auch nicht mehr über Kopfschmerzen geklagt. 


Erika H. 8 Jahre. 


Erika war bis zu ihrem dritten Lebensjahr im Hause der Eltern. Die Familie 
lebte in sozial sehr schlechten Verhältnissen. Der Vater leidet an Epilepsie, hat 
sich von der Mutter der Patientin scheiden lassen und hat sich zum zweiten Male 
verheiratet, Erika soll von der Mutter vernachlässigt worden sein, die Stiefmutter 
soll sich noch weniger sorgfältig um sie gekümmert haben, und wurde wegen Miß- 
handlung angezeigt. Im dritten Jahr kam Erika in die Kinderklinik der Charité, 
weil sie dauernd einnäßte und einkotete, und der bebandelnde Arzt die Diagnose 
auf einen chronischen Darmkatarrh gestellt hatte. In der Klırik war sie nach 
einigen Tagen sauber. Sie fiel dort auf durch eine übermäßige Gefräßigkeit, sie aß 
dreifache Portionen, und fiel dann noch über das Essen der anderen Kinder her 
und leckte die schmutzigen Teller ab. Sie zeigte auch sonst ein ungewöhnlich ge- 
ringes Ekelgefühl, holte sich schmutzige Sachen aus dem Mülleimer heraus und 
steckte sie in den Mund. Gegen Geräusche war sie sehr empfindlich. Im übrigen 
machte sie einen stumpfen und teilnahmslosen Eindruck. Sie kam zu den Eltern 
zurück, fing wieder an Urin und Stuhl unter sich zu lassen, und schmierte mit dem 
Stuhl herum. Sie naschte, log sehr hartnäckig, zeigte auch Neigung zu pseudo- 
logischen Lügen, machte die Eltern in der Nachbarschaft schlecht, erzählte Dinge, 
die nachweislich nicht den Tatsachen entsprachen. Fur Schmerzen soll sie sehr 
unempfindlich gewesen sein, sie hatte offene, entzündete Stellen am Körper, ohne 
über Schmerzen zu klagen. Der Vater gab an, daß körperliche Züchtigungen gar 
keinen Eindruck be: ihr machten. Sie zeigte keinerlei Anhänglichkeit an die Eltern 
oder sonst jemand, schien auch kein Bedürfnis nach Liebe überhaupt zu baben. 
Zu Tieren war sie roh, quälte die Katze. Sie onanierte und soll auch sexuelle 
Spielereien mit andern Kindern vorgenommen haben. Sie machte einen ganz 
stumpfen. gleichgültigen Eindruck, zeigte keine Freude, keine Trauer, keine Furcht. 

Mit 3 Jahren wurde sie endgültig aus dem elterlichen Hause fortgenommen. 
Sie war einige Wochen im Hause der Fürsorgerin. Dort zeigte sich nichts mehr 
von den früheren Schwierigkeiten, sie bot überhaupt ein ganz anderes Bild. Sie hielt 
sich sehr sauber, näßte allerdings noch ein. Sie war sehr ängstlich, empfindlich 
gegen schlechte Luft, laute Geräusche. stellte sich sehr an beim Nägelschneiden. 
Dann war sie 4 Jahre in einem Heim für psychopathische Kinder. Dort entwickelte 
sie sich körperlich außerordentlich gut. Es wurde von dort berichtet, daß sie ein- 
näßte, onanierte und stotterte. Intellektuell entwickelte sie sich ganz gut, wurde 
lebhafter, erreichte aber nicht die Intelligenzstufe ihres Alters. Aus äußeren Gründen 
konnte sie in dem Heim nicht länger bleiben. 

Sie kommt dann zu uns. Sie ıst ein sehr kleines Mädchen, sieht wie etwa 
6 Jahre aus, blond und blauäugig mit roten Pausbacken, ein richtiges Kindergesicht, 
das jeden anspricht. Zuweilen ist man überrascht über einen plötzlich auftretenden 
ordinären Zug in ihrem Gesicht. Sie fällt in erster Reihe durch übergroße Empfind- 
lichkeit und Ängstlichkeit auf. Sie fürchtet sich so vor Hunden, daß sie nicht allein 
auf die Straße gehen will. Wenn sie von weitem einen Hund sieht, klammert sie 
sich an, schreit und zittert. Sie will zuerst nicht allein aufs Klosett gehen, lange 
Zeit will sie bei uns nicht im Dunkeln die Treppe heruntergehen, obschon dort 
elektrisches Licht ist. Beim Spazierengehen im Wald mit allen Kindern und 
mehreren Erwachsenen weint sie, weil sie glaubt, wir könnten uns verlaufen. Sie 


Heilpädagogisches Erholungsheim. 95 


fürchtet sich an dunklen Winternachmittagen, mit mir in die Stadt zu gehen. Sie 
gibt selbst an, daß sie einnäßt, weil sie zu bange ist, nachts aus dem Bett zu steigen. 
Vor Fremden ist sie schüchtern, antwortet leise und verlegen, und hängt sich an 
den Rock wie ein ganz kleines Kind. Wenn sie aber aufgetaut ist, kann sie recht 
dreist werden. Als sie in der Schule angemeldet wird, ist sie überaus furchtsam, 
sieht den Rektor nicht an, versteckt den kopf in meinen Kleidern, klammert sich 
an, antwortet sehr zögernd und leise, schließlich gar nicht mehr und weint. Die 
ersten Tage gibt sie in der Schule keine Antworten. 


Sie ist außerordentlich leicht beleidigt, wenn etwas bei ihr getadelt wird, wenn 
ihr ein Wunsch abgeschlagen wird, wenn ein Kind nicht nett mit ihr ist. Als 
Reaktion darauf bockt sie in ganz ungewöhnlich heftiger Weise, was schon von 
klein an bei ihr aufgefallen sein soll. Sie wird dann trotzig, frech und ungehorsam. 
»Fällt mir gar nicht ein, tu ich nicht, nun gerade nicht zum Trotz, kann ich mir 
ja auch bloß leisten.«< Sie räkelt sich herum, wirft sich auf den Boden, stößt 
stereotype, unartikulierte Laute aus. Sie ist dann von einer blinden Zerstörungswut 
befallen, die sich hauptsächlich gegen sich selbst richtet. Sie zerreißt ihre Kleider, 
schneidet sich die Haare ab, geht ganz nahe an den Ofen heran, und sagt mit bos- 
haftem Gesichtsausdruck: »Jetzt versenge ich mir mein Kleid.« Sie geht in Frost 
und Kälte, wogegen sie sonst sehr empfindlich ist, auf den Balkon ohne Mantel 
oder im Hemdchen ins kalte Treppenhaus, bleibt dort, wenn man sie nicht holt, 
stundenlang. Erika fühlt sich außerordentlich unglücklich, wenn sıe bockt, bringt 
es aber nicht fertig, einzulenken. Sie ist glücklich und erleichtert, wenn man ihr 
hilft, aus diesem Zustand herauszukommen. Nachher ist sie besonders fügsam und 
anschmiegeam. Sie mag später gar nicht daran erinnert werden. Manchmal ver- 
sucht sie in ihrer Hilfslosigkeit und Unbehaglichkeit davonzulaufen. Häufiger droht 
sie nur damit, weil doch oft-die Ängstlichkeit überwiegt. Folgende Unterhaltung 
mit einem kleinen Jungen zeigt, wie unglücklich sie sich dabei fühlt. Eriku: »Ich 
reiße aus, ich laufe in den Wald.« Werner: »Und wenn Du Dich verläufst und 
die Hunde kommen?« Erika: »Das ist mir einerlei.«e »Dann kommt der Jäger und 
schießt Dich tote »Das ist mır gerade recht, ich wäre froh, wenn ich tot wäre.« 
Sie bringt das ganz ernst und bitter hervor. Es ist im Augenblick durchaus emp- 
funden. Zuweilen macht sie Bemerkungen, die ein merkwürdig starkes Reflektieren 
zeigen, und nicht im Verhältnis zu ihrem sonstigen Intelligenzgrad stehen. » Niemand 
möchte ich sein, ioh selbst möchte auch nicht ich sein.« Später, als die Bockig- 
keit verschwunden war, und sie weniger unter sich selbst zu leiden hat, verschwinden 
diese Überlegungen, und gleichzeitig auch das bewußte An-sich-arbeiten. Gegen das 
Bovken und Trotzen hat sie bewußt angekämpft, und verstanden sich selbst zu über- 
winden. Je mehr diese Trotzreaktionen verschwanden, desto weicher und empfind- 
licher wurde sie. Sie weinte dann sehr viel, und auch das hat sich mit cer Zeit 
wieder etwas gegeben. 

Sie ist sehr liebebedürftig und anschmiegsam. Ganz besonders war sie das 
in der Zeit, wo sie noch so sehr ängstlich war und sich schutzbedürftig fühlte. Sie 
leidet darunter, wenn man ihr nicht gut ist. Sie ist auffallend beliebt bei Erwach- 
senen und Kindern. Sie ist freundlich, liebenswürdig, in ihren guten Stunden 
sonnig und heiter. Den anderen Kindern ist sie ein guter und zuverlässiger 
Kamerad. 

Ebenso leicht wie Unlustgefühle bei ihr hervorgerufen werden, sind Lust- 
gefühle bei ihr auszulösen, und ebenso hemmungslos ist sie in ihren Äußerungen. 
Erika ist mit allem zu erfreuen. Über eine leere Pappschachtel, ein kleines Bändchen 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 7 


96 E. Lyon: 


kann sie außer sich vor Freude sein, und in ihrer Freude ist sie so strahlend, daß 
sie alle mitreißt. 

Auch auf körperlichem Gebiet ist Erika sehr empfindlich. Das Waschen ist 
bei ihr immer eine große Aufregung. Sie fürchtet sich vur kaltem Wasser. Bei- 
nahe noch mehr Angst hat sie vor heißem Badewasser. Besonders unangenehm ist 
ihr die Brause, »da kann das Wasser in die Augen kommen«. »Das Waschen tut 
weh, das ruffelt so.« Mit der Bürste mag sie gar nicht gebürstet werden, beim 
Nägelschneiden stellt sie sich sehr an, das Kämmen »ziept so«. Wenn ihr ein 
Kleidungsstück nicht bequem sitzt, nestelt sie den ganzen Tag daran herum. Im 
Essen war sie anfänglich sehr mäkelig. Für Kälte ist sie empfindlich, bei Wärme 
schwitzt sie gleich. Sie ist auch sonst vasomotorisch leicht erregbar, sieht leicht 
blaß aus, errötet häufig bei Erregung. — Erika schläft sehr fest, näßt nachts ein, 
aber immer nur in Perioden von einigen Wochen. In diesen Perioden stottert sie 
auch, während sie sonst ganz fließend sprechen kann. Sie spricht viel im Schlaf, 
schreit ängstlich auf. Sie ist sehr leicht ermüdbar, bei Spaziergängen klagt sie bald 
über Müdigkeit, sie läßt sich dann sehr gehen, jammert, gebt mit kleinen Schritten 
und schlürfenden Füßen. 

Neben der Überempfindlichkeit fiel Erika bei uns von Anfang an durch 
motorische Unruhe auf. Sie ist nicht übermäßig lebbaft, nicht wild. Im Gegenteil, 
sie wollte anfänglich nie mit den anderen Kindern spielen, weil sie das Zusammen- 
sein mit den vielen Kindern, die lebhaft und laut waren, ängstigte. Aber sie zappelt 
dauernd, klettert auf die Möbel, hoppst im Bett herum, räkelt sich auf dem Fuß- 
boden, läuft immer im Zimmer hin und her, dreht sich im Kreise herum, fuchtelt 
mit den Händen, und stößt dabei unartikulierte Laute aus. Sie kann sich dann zu- 
weilen in eine solche Unruhe und Aufregung hineinsteigern, daß sie kaum zu 
bändigen ist. An manchen Tagen ist sie besonders unruhig, redet sinnloses Zeug 
vor sich hin, sagt dann von sich selbst, ich habe heute meinen Quasseltag, Beim 
Spielen ist sie ohne jede Ausdauer. Sie versteht sich überhaupt nicht zu be- 
schäftigen, hat nie einen Einfall, immer langweilt sie sich. Bei den Schularbeiten 
ist sie anfänglich sehr unkonzentriert und ablenkbar und schnell ermüdbar, so daß 
man mit ihr nicht das Pensum erledigen konnte. Man mußte sich begnügen, wenn 
man sie für einige Minuten bei einer Arbeit fixieren konnte. 

So wie wir Erika kennen gelernt haben, war sie der Typus des überempfind- 
lichen Kindes. Leicht lenksam, übermäßig ängstlich, leicht gekränkt, und mit allen 
Zeichen körperlicher und sensorischer Überempfindlichkeit. Nicht unbedingt zu dem 
Bilde des Typus gehörend, aber doch häufig mit ihm kombiniert ist die motorische 
Unruhe, dıe sich bei ihr findet. 

Als kleines Kind hat Erika ein ganz anderes Bild geboten. Sie hat Eigen- 
schaften gezeigt, die keineswegs zu dem Typus des Überempfindlichen gehören, ihm 
geradezu entgegengesetzt sind. Nach dem Bericht des Arztes, der sie das erste Mal 
begutachtete, war sie roh. gefühllos, ohne Ekelgefühl, stumpf, grausam, ohne Furcht- 
gefühle, obne Liebesbedürfnis, mit Neigung zu pseudologischen Lügen, deren Inhalt 
vorzugsweise Verleumdungen sind. Nachdem Erika aus dem häuslichen Milieu ent- 
fernt wurde und in eine andere Umgebung gebracht, entwickelte sie sich zu einem 
überempfindlichen Kind. Erika gehört zu den sensiblen, ganz besonders milieu- 
empfindlichen Kindern, die bei ungünstigem Milieu alle die Eigenschaften zeigen, 
die man früher unter dem Namen des moralischen Schwachsinns zusammenfaßte. 
Man hat früher geglaubt, daß das asoziale, Abscheu erregende Verhalten dieser 
Kinder ganz besonders tief in ihrer Anlage wurzelt, und sie für unerziehbar gehalten 


Heilpädagogisches Erholungsheim. 97 


Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß es sich in einer großen Reihe 
von Fällen solcher unerziehbaren Kinder um die Folge eines ungünstigen Milieus 
und einer verkehrten Erziehung handelt, und daß diese Kinder im Grunde sogar 
besonders empfindliche Kinder sind wie in dem vorliegenden Fall. Man ist daher 
wohl zu der optimistischen Auffassung berechtigt, daß auch in den Fällen, die sich 
letzten Endes als praktisch unerziehbar erwiesen haben, der Fehler in der Behand- 
lung und Erziehung, und nicht ausschließlich iu der Veranlagung der Kinder gelegen 
hat Zwar sind die Kinder wohl abnorm veranlagt, aber nicht in dem Sinne, daß 
ihnen alle ethisch höheren Eigenschaften fehlen, sondern so, daß sie infolge über- 
großer Empfindsamkeit durch verständnislose Behandlung in ihrer Entwicklung ge- 
hemmt und geradezu in das Gegenteil umgebogen werden. Das Milieu braucht dabei 
gar nicht in grobem Sinne schlecht zu sein, aber es ist eben für diese besonders 
schwierigen und empfindlichen Kinder ungünstig; während andere Kinder sich in 
derselben Umgebung vielleicht ungestört entwickeln können. Dieses Umschlagen 
der Eigenschaften in ihr Gegenteil ist eine Art Schutzwehr, die sich die Kinder 
gegen ihre Umwelt errichten; zum Teil handelt es sich dabei um Trotzreaktionen, 
zu denen sie aus Hilfslosigkeit greifen, zum Teil um ein Abschließen des Bewußtseins 
gegen unliebsame Reize, die ihnen sonst unerträglich wären. So kann man es sich 
erklären, daß ein Kind, das übermäßig empfindlich gegen Schmerzen ist, unter 
Umständen auf schmerzhafte Reize gar nicht reagiert; es handelt sich dabei ver- 
mutlich um einen ähnlichen Mechanismus wie bei den Gefühlsstörungen Hysterischer. 


Als Erika zu uns kam, hatte sich die Rückentwioklung zum überempfindlichen 
Kind bereits vollzogen. Unsere Aufgabe war es, nun jetzt wieder die übermäßige 
Empfindsamkeit zu bekämpfen. Im großen und ganzen hat sich Erika im Laufe 
der Zeit recht zufriedenstellend entwickelt. Sie ist viel robuster und wilder ge- 
worden, hat sich an das Zusammensein mit anderen Kindern gewöhnt, ist nicht 
mehr so lärmempfindlich, so leicht aufgeregt und versteht nett zu spielen. Trotzdem 
se lebhafter geworden ist in psychischer Beziehung, ist sie motorisch viel ruhiger 
geworden. Sie geht allein ins Dunkle, begegnet Hunden ohne zu schreien, hat 
sgar auch schon Hunde gestreichelt. Sie macht mit uns weite Spaziergänge, geht 
mit strammen Schritten mit, ohne sich zu ängstigen und ohue über Müdigkeit zu 
jammern. Sie wirkt jetzt viel älter. Früher war sie wie ein kleines vorschul- 
päichtiges Kind in ihrer ängstlichen schutzsuchenden Art. Sie hat aber auch 
gleichzeitig viel von dem Feinen und Zarten verloren, was sie hatte. Sie spricht 
nachlāssiger, ist im Essen weniger wählerisch, ißt ziemlich stark. Auch im Aus- 
schen und in Bewegungen ist sie derber geworden. Es dauerte lange, bis Erika 
sch in die allgemeine Disziplin und Ordnung gefügt hatte. Sie benahm sich, wie 
an etwa dreijähriges Kind, folgte immer ihren Trieben und Augenblickimpulsen, 
und lernte nur langsam sich einzuordnen. Später aber hat sie gerade darin gar 
keine Schwierigkeiten mehr gemacht. Nachdem sie so weit war, schulten wir sie 
ein. Sie hatte nie vorher eine Schule besucht, war in dem Kinderheim mit unter- 
richtet worden. Dort hatte sie als leicht sohwachsinnig gegolten, und hat mit ihren 
Altersgenossen nicht Schritt halten können. In der Schule ging es zuerst sehr 
schwer mit Erika. Anfänglich antwortete sie aus Schüchternheit gar nicht, ging 
ungern hin, hatte Angst vor den Kindern. Dieses Stadium wurde nach kurzer 
Zeit überwunden. Schwieriger war es, ihr den Ernst der Schule und des 
Lernens beizubringen. Wenn wir an der Rechenmaschine rechneten, machte sie 
Muster aus den Kügelchen, und wenn sie rechnen sollte, weinte sie. Selbst bei 
bestem Willem ihrerseits gelang es ihr nur äußerst schwer, sich auf eine Aufgabe 


7, 
i” 


98 E. Lyon: Heilpädagogisches Erholungsheim. 


zu konzentrieren. Wir sind da sehr langsam vorwärts gekommen, und haben uns 
mit kleinen Erfolgen begnügt, und bei aller Energie, mit der wir versucht haben, 
Erika zu fixieren, haben wir es immer sorgfältig vermieden, sie zu übermüden. 
Da sie große Lücken in ihren Kenntnissen hatte, und wir anfänglich so langsam 
weiter kamen, haben wir sie trotz ihrer 9 Jahre nochmals ins zweite Schuljahr 
eingeschult. Erika ist 7 Monate bei uns gewesen. In den letzten Monaten ging 
es in der Schule wesentlich besser, sie schaffte das Klassenpensum, gehörte zuletzt 
sogar zu den besten Schülerinnen. Erika kam dann in eine Famlie, wo man sich 
mit viel Interesse und Verständnis mit ihr abgab. Es ging dort recht gut mit ihr. 


Aus der Fülle der Bilder psychopathischer Kinder habe ich in den 
angeführten Beispielen nur zwei Hauptgruppen herausgegriffen, die 
überlebhaften oder hypomanischen Psychopathen, und die überemp- 
findlichen, mit der Untergruppe der durch das Milieu umgebogenen. 
Diese beiden Gruppen bilden das Hauptkontingent für die Erholungs- 
fürsorge. Die Gruppe der epileptoiden Psychopathen, d. h. solcher, 
die die Charakterveränderungen der Epileptiker (Reizbarkeit, mürrisches 
Wesen, Neigung zu Verstimmungen und Triebhandlungen) als Kon- 
stitution zeigen, ohne Anfälle, kommen für die Erholungsfürsorge kaum 
in Frage. Ebenso eignen sich die Charakterveränderungen nach 
Encephalitis lethargica, die wenn auch nicht zu den psychopathischen 
Konstitutionen, so doch zu den schwererziehbaren Kindern gerechnet 
werden müssen, nicht für eine kurzfristige Behandlung. 

Durch die größere Anzahl der Beispiele habe ich versucht zu 
zeigen, daß mit der Einordnung in einen Typus nur eine grobe 
Charakterisierung des Falles gegeben ist. Damit daß wir einen Fall 
als zugehörig zu einem Typus erkennen, ist uns erst mal die Bahn 
zum Verständnis geöffnet, aber zum tieferen Verstehen, zum Erkennen 
des Erziebungsweges und der prognostischen Aussichten muß man 
über die Typuseingliederung hinausgehen und sich in die individuelle 
Eigenart des einzelnen Kindes vertiefen. 

Wie ich schon in der Einleitung sagte, läßt sich eine Darstellung 
der Methode bei der heilpädagogischen und psychotherapeutischen Be- 
handlung nur in ganz groben Zügen geben. Neben den speziellen 
Zielen der Erholungsfürsorge für psychopathische Kinder, die ich be- 
reits genannt habe, gehört es zu unseren Erziehungszielen bei schwer 
erziehbaren Kindern überbaupt, ihnen, falls sie intellektuell weit ge- 
nug sind, ihre Schwächen und Schwierigkeiten bewußt zu machen, 
und sie zu einer aktiven Bekämpfung derselben zu veranlassen. Wie 
man da im einzelnen vorgeht, hängt so viel von dem Einfluß der 
erziehenden Persönlichkeit auf die Kinder, von ihrem Einfühlungs- 
vermögen und ihrem erzieherischen Takt ab, daß es sich schwer dar- 
stellen läßt. — 


Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim 
Jugendamt Leipzig.!) 


Von 
Dr. M. Thumm, Leipzig-Dösen. 


Die Frage psychiatrischer Beratungsstellen bei den Jugendämtern 
wird immer bedeutungsvoller und dringlicher, je mehr die Finanzlage 
in Ländern und Kommunen die erweiterte Ausgestaltung der Be- 
obachtungsheime und die allgemeinere Durchführung stationärer Be- 
obachtung für die angehenden Fürsorgezöglinge unmöglich macht. 
Daß dieser Notstand ein vorübergehender bleiben, und eine hoffentlich 
nahe Zeit uns wieder Gelegenheit zur gründlicheren klinischen und 
charakterologischen Beurteilung der Zöglinge — eben im Rahmen der 
stationären Beobachtung — bringen muß, wird Jedem klar sein, der 
in der Praxis des FE-Wesens stehend weiß, wie leicht sich bei nur 
flüchtigerer Kenntnis Fehlurteile einschleichen, wie auch die akten- 
mäßigen Unterlagen — Erhebungen, Schulberichte — fehl leiten können 
(und zwar öfter durch zu krasses Auftragen in der Schilderung als 
durch das Gegenteil), wie endlich Kinder und Jugendliche nach Ein- 
gewöhnung und längerem Aufenthalt auf einer Beobachtungsabteilung 
oft ihr Wesen ganz anders offenbaren, als es nach dem ersten Ein- 
druck oder nach dem Akteninhalt den Anschein hatte. (Selbst- 
verständlich will diese Feststellung nicht die andre Tatsache durch- 
streichen, daß für eine ganze Anzahl von Fällen tatsächlich auch die 
ambulante Beurteilung ausreicht.) Für den Augenblick und die 





1) Die beiden Beiträge von Dr. Thumm, Leipzig-Dösen und von Dr. Lyon, 
Nordbausen veröffentlichen wir in diesem Heft, weil daraus hervorgeht, in wie 
weitgehendem Maße die offene und die Erholungsfürsorge sowohl der Unter- 
brivgung der Jugendlichen in Beobachtungsstationen als in endgültiger Anstalts- und 
Heimfürsorge vorbeugen kann. In je intensiverem Male die ärztlichen Beratungs- 
stellen mit der sozial-pädagogischen Fürsorge Hand in Hand arbeiten, je besser die 
nachgehende Fürsorge nach intensiver heilpädagogischer Beeinflussung im Erholungs- 
heim eintritt und die dort einmal begonnene Arbeit amı Kinde fortsetzt, um so 
sicherer werden die Erfolge der offenen (beratenden), der beaufsichtigenden und 
der Erholungsfürsorge sein. Die Redaktion. 


100 M Thumm: 


nächste Zukunft jedenfalls sind wir in einer Zwangslage, die es 
notwendig macht, die Beratungsstellen gegenüber den Beobachtungs- 
stationen mehr zu betonen. Sie werden ohnedies auch nach Wieder- 
belebung der letzteren und neben diesen stets ihre wichtige Sonder- 
aufgabe behalten, denn sie stehen auf breiterer Basis. Wir haben es 
hier ja nicht mit Verwahrlosungsfällen allein zu tun: Soll die Be- 
ratungsstelle ihr wichtigstes Ziel, die prophylaktische Erfassung 
der schwer erziehbaren, nervösen, psychopathischen Kinder und Jugend- 
lichen erreichen, so muß sie eben weiter ausgreifen, sie darf sich 
nicht nur auf die schon Gestrandeten und nicht nur auf die amtlich 
zugewiesenen Fälle beschränken, sondern muß eine öffentliche, jedem 
zugängliche Einrichtung nach Art poliklinischer Sprechstunden sein, 
wo jeder, Eltern wie Lehrer und Erzieher, sich Rats erholen kann. 
Der Erfahrene weiß, wie bei abwegig gearteten Kindern gerade die 
frühzeitige Erkennung des Zustandes von Wichtigkeit ist, weil 
falsche Beurteilung und Behandlung durch die Umgebung (und sie 
ist fast die Regel!) die pathologischen Eigenschaften verstärken, ja 
hochzüchten kann, während weise Einstellung der Eltern und Erzieher 
beim psychopathischen Kind manchen Ausgleich zu schaffen und es 
vielfach auf der Bahn sozialen Verhaltens zu sichern vermag, — 
um so eher je frühzeitiger das Kind unter heilpädagogische Be- 
urteilung trat. 

Die psychiatrische Beratungsstelle beim Leipziger JA wurde 
Anfang 1918 von Gregor ins Leben gerufen. Im Folgenden wird 
eine Zusammenstellung über ihre Tätigkeit während der beiden letzten 
Jahre 1922 u. 23 gegeben, während deren der Verfasser die Fort- 
führung in Händen hatte. Vorausgeschickt seien noch einige Be- 
merkungen über die äußere Handhabung: Die Sprechstunden finden 
statt am Sitz des JA in Diensträumen des Stadthauses. Ein aus- 
führliches Journal über die zugehenden Fälle wird geführt, die nötigen 
gutachtlichen Äußerungen sogleich im Wortlaut festgelegt und zu den 
Akten genommen. Das JA stellt einen Kanzleiassistenten als Schreib- 
kraft zur Verfügung; das bedeutet nicht nur eine Entlastung vom 
Schreibwerk, sondern auch eine Erleichterung des Verkehrs mit den 
verschiedenen amtlichen Stellen: Ziehkinder-Abteilung, Waisenamt, 
Schulamt, Fürsorgeamt, Zentrale für Jugendfürsorge (eine halbamtliche 
Organisation, die sich im besondern der Verwahrlosten-Fürsorge an- 
nimmt, durch ihre Helfer und Helferinnen die Schutzaufsicht übt usw.), 
dann die Zentralstelle »Stadtkinder aufs Land«, endlich gegebenenfalls 
das Vormundschaftsgericht. Dem JA entstehen durch die Beratungs- 
stelle keinerlei direkte Unkosten. — Die Sprechstunden fanden 


Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig. 101 


2wöchig vormittags statt, doch brachte namentlich im letzten Jahre 
der große Abstand vielfach eine Überlastung der einzelnen Sprechtage 
mit sich und machte in dringenderen Fällen wiederholt auch Unter- 
suchungen außerhalb der Sprechzeiten notwendig, Im Folgenden 
werden die Zahlen für die beiden letzten Jahre zusammengefaßt, z. T. 
aber in Klammer noch differenziert angeführt. 


I. 
Allgemeine Verhältnisse. 


Die beiden Jahre 1922 u. 23 brachten im Ganzen 42 Sprech- 
tage (21 + 21) mit 207 Beratungen (94 + 113). Durchschnittlich 
fielen auf einen Sprechtag nahezu 5 Beratungen, au einzelnen Tagen 
11, 12 und 13. 

Bei den insgesamt zur Untersuchung gelangten 185 Kindern 
und Jugendlichen überwog bei weitem das männliche Geschlecht 
und bei beiden Geschlechtern das schulpflichtige Alter. Im einzelnen 
ergeben sich die Zahlen aus nachstehender Tabelle: 


Männlich Weiblich 
1922 1923 Zusammen 1922 1923 Zusammen 
Unter 2 Jahre . . . — — — 1 2 3 
2—6 Jahre alt . . . 4 3.7 3 4 7 
Schulpflichtige . . . 42 56 98 22 29 51 
Schulentlassene. . . 6 6 12 3 4 7 
Summe 52 65 117 29 39 68 


Nur wenige Fälle (14) stammten aus dem Landbezirk Leipzig 
oder den äußeren Vororten, alle übrigen aus den zentralen Stadtteilen. 
Das Material war also durchgängig großstädtisch. 

Zugewiesen waren vom JA (mit Akt) 55, vom Schulamt (mit 
åkt) 9, von Kinderheimen 5. Von Jugendpflegerinnen der Zentr. f. 
Jugendfürsorge wurden vorgeführt 9, von Bezirkspflegerinnen der 
Amtshauptmannschaft Leipzig 12, vom Klassenlehrer (oder -lehrerin) 
22, vom Hausmann der Schule 1, von Angehörigen begleitet 130 (so 
meist auch die amtlich zugewiesenen Kinder), vom Vormund 2. 
Nur 4 Exploranden waren allein gekommen. Schriftliche Mitteilungen 
des Klassenlehrers brachten 13, des Schularztes 3. 

Unehelich geboren waren 35 d. h. mehr als !/, der Unter- 
suchten. 

Was die Hereditätsverhältnisse anlangt, so sind naturgemäß 
die in poliklinischer Sprechstunde möglichen Feststellungen unzu- 
länglich und lückenhaft. Die folgenden Zahlen geben nur die 


102 M. Thumm: 


sicheren Ergebnisse wieder, sind also Minimalzahlen. — Belastet 
waren von Elternseite mit Epilepsie 4 (1 Epileptiker, 3 Psychopathen), 
mit Alkoholismus 3 (eine Zahl, die sicher weit hinter der Wirk- 
lichkeit zurückbleibt), mit Psychosen 6, Chorea 1, Hysterie 3; eines 
der Eltern oder beide »nervös«, »aufgeregt« bei 16, »nicht normal« 
bei 3, liederlich bei 3, Mutter Prostituierte bei 2 Fällen (1 Idiot, 
1 Psycropath), Vater Abenteurer bei 1. Schwachsinn bei einem 
Geschwister in 3 Fällen. — Mindestens lag also Heredität 45 mal vor 
d. h. in reichlich !/, der Fälle. 


II. 
Klinische Gruppierung. 


Angeborener Schwachsinn: 41 Fälle (= ca. 22°/,). 

Idiotie 6, wovon erethische Form 4, torpide 2. 

Imbezillität 25, wovon erethischer Typ 11, torpide 12, sonstige 
2 (darunter 1 mit Aplasie der Schilddrüse). 

Debilität 10 Fälle, worunter 5 mit psychopathischer Über- 
lagerung (2 Erregbare, 2 Nervöse, 1 mit psychogener Gehstörung). 

Psychopathie-Gruppe: 104 Fälle (=55°/,. Die hier folgende 
Unterteilung verstebt sich natürlich nicht im Sinne starrer Diagnose. 
Gerade bei den verschiedenen Formen degenerativ-psychopathischer 
Veranlagung vermischen sich ja untereinander die Einzelerscheinungen: 
so vielfältig — ganz besonders innerhalb der 3 zuerst aufzuzählenden 
Kategorieen —, daß jedem Abgrenzungsversuch von vornherein ein 
Moment subjektiver Willkür anhaften muß. Aber auch wenn man 
sich dessen bewußt ist, bleibt doch immer das Bedürfnis unabweisbar.,, 
in die unübersichtliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Gliederung 
zu bringen, indem man eben nach dem hervorstechendsten Sym- 
ptom die Zuteilung der Fälle vornimmt. 

l. Nervöse, neuropathische Konstitution: 41 Fälle Hier- 
unter habe ich gerechnet die Kinder mit den mannigfaltigen Schlaf- 
störungen, Neigung zu Kopfschmerz, mit den objekt. Symptomen der 
Reflexsteigerung und des Vasomotorismus; zum Bilde gehört weiter: 
verträumtes, zerstreutes und vergeßliches Wesen, Aufmerksamkeits- 
störung, vielfach auch Geräuschempfindlichkeit und gemütliche La- 
bilität; 11 mal fanden sich nervöse Tics. 5mal bestand zugleich aus- 
geprägtere Anämie, 2 mal Skrofulose. 

2. Nervös-Unruhige: 24 Fälle. Die Kinder hatten übermäßig 
lebhaftes, zappeliges, quecksilbriges Wesen, waren »fispelig«, fahrig, 
konnten keine Minute still sitzen, kaum einen Augenblick die Hände 


Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig. 103: 


ruhig balten, machten Faxen und Allotria oder grimmassierten; sie 
waren vielfach Stimmungswechsel und Launen unterworfen, faßten 
schnell — aber oberflächlich auf und vergaßen wieder schnell; sie 
waren äblenkbar, unaufmerksam, flatterhaft, unbeständig, jähzornig, 
hatten eine leicht erregbare Fantasie, waren schwer zu lenken. Sie 
waren eine wahre crux für das Haus und für die Schule; im Klein- 
kindalter hielten sie die Mutter unausgesetzt in Atem, in der Schule 
brachten sie eine ganze Klasse durcheinander (ein 9jähriger Knabe 
machte mitten im Unterricht »Wandstand«!). 

In einem der Fälle (13jähriger Knabe, P. G.) wurde der Beginn der 
psychopathischen Entwicklung von den Eltern mit einem vor 3 Jahren 
überstandenen schweren Typhus zeitlich in Zusammenhang gebracht. — 
In einem andern Fall blieb differentialdiagnostisch Verdacht auf Chorea 
bestehen. 

3. Erregbare: 10 Fälle. Schon in den ersten Jahren unbekämpf- 
barer Eigensinn, »Schreikrämpfe«, Sich-hinwerfen, Um-sich-schlagen 
oder -beißen. Später: aufbrausend, reizbar; unbeherrschte Affekte, 
förmliche Wutanfälle und Erregungszustände z. T. mit leichter Trübung 
des Bewußtseins und der Erinnerung. — Auch hierbei vielfach. all- 
gemeine Unruhe und mancherlei nervöse Symptome mit untermengt. 
2 mal lag Skrofulose vor. 

Ein 11jähriges Mädchen, A. H., wird in der Schulnotiz folgendermaßen 
geschildert: >... Bei geringem Anlaß gerät sie in höchste Wut; dann ver- 
sucht sie Gegenstände in ihrer Hand zu vernichten, wirft sich auf die 
Bank, gebraucht häßliche Schimpfworte, wird trotzig, schlägt ohne Über- 
legung zu — selbst aufs Auge und beißt ihre Mitschülerinnen, die sie 
angeblich geärgert haben. Eine Mitschülerin ist bereits 5mal in Hals und 
Arm gebissen worden; die Spuren waren noch nach Tagen zu sehen.« 

Unter obige 10 miteingerechnet ist ein Fall, der dem Symptomen- 
bild nach hierbergehört, ätiologisch aber eine Sonderstellung ein- 
nimmt: 

Ein 8jähriger Knabe, K. T., hat seit Jahresfrist im Anschluß an ein 
schweres Schädeltrauma (wahrscheinlich Basisfraktur) eine Charakter- 
veränderung i. S. der Erregbarkeit erfahren, ist übermäßig reizbar, be- 


kommt Wutanfälle, in denen er sich zu Boden wirft; zertrümmerte 
wiederholt Scheiben. 


In einem andern Fall war vorübergehend der Verdacht auf 
Hebephrenie aufgetaucht, aber auf Grund weiterer Beobachtung wieder 
fallen gelassen. 

4. Willensschwache: 8 Fälle. Schlaffe, Haltlose, Unstete, die 
es zu keinem ernsten Willenseinsatz brachten, immer wieder etwas 
Neues anfingen, nirgends aushielten, nicht vorankamen, von allen 


104 M. Thumm: 


Seiten beeindruckbar — keiner Versuchung Widerstand entgegensetzen 
konnten. — 

Daß diese Gruppe verhältnismäßig wenig zahlreich ist, erklärt 
sich meines Erachtens aus der Art unsres Materials, das vorwiegend 
aus schulpflichtigen Kindern bestand. Sicher wird mancher, der 
jetzt noch der Gruppe 1 oder 2 zuzurechnen war, später im Pubertäts- 
alter zu Gruppe 4 hinüberwechseln. Meine Erfahrung am stationären 
Material des Beobachtungsheims spricht dafür, daß unter den schul- 
entlassenen Jugendlichen die Verhältniszahl der Nervösen und der 
motorisch Unruhigen wesentlich abnimmt zugunsten teils der Gruppe 
der Erregbaren teils und mehr noch der Haltlos-Willensschwachen. 

5. Fantasten und Pseudologisten: 8 Fälle (als »Nebenbefund« 
überdies in 4 anderen Fällen, die schon in den vorausgehenden 
Gruppen eingereiht sind). — Überwuchern der Fantasietätigkeit; Leben 
in einer unwirklichen erträumten Welt; fantastische Erzählungen von 
erdichteten Situationen und Erlebnissen, Überfällen, Reichtum der 
Eltern u. ä&; Lügen, auch wo es keinen Sinn hat, aus Freude am 
Fabulieren; vielfach zerstreut, unaufmerksam, faul. Im übrigen teils 
gutmütig teils aber auch tückisch, klatsch- und verleumdungssüchtig. 

6. Überempfindliche: 3 Fälle. Gemütlich wohldifferenziert, 
weichherzig, leicht gerührt, sensibel, ehrgeizig; bei Widerständen leicht 
aus dem seelischen Gleichgewicht, Bereitschaft für Suizidneigung und 
andre psychogene Reaktionen. 

Ein besonderer, auch kriminalpsychologisch wichtiger Fall ist 
folgender: 

11 jähriges Mädchen, L. D., aus ärmlichen Verhältnissen, zu Hause ver- 
nachlässigt, von jeher sehr empfindlich, ehrgeizig, gute Schülerin; Bett- 
nässen bis heute. Übrige Vorgeschichte belanglos.. Früher keine er- 
ziehlichen Schwierigkeiten. Hat neuerdings den Hauswirt um größeren 
Geldbetrag bestohlen; von diesem noch weiterer Diebstähle, die sie bestritt, 
bezichtigt und unter Stockschlägen und Drohungen zu einem Geständnis 
zu bringen gesucht. Daraufhin Selbstmordversuch durch Ertränken unter 
Mitnahme eines 4jährigen Knaben; sie selbst auf ihr Geschrei wieder 
aus dem Wasser gezogen, sagt nichts davon. daß der Knabe noch im Wasser 
liege; er ertrank. Zunächst Leugnen, dann bei Konfrontation mit der Mutter 
des Knaben, die die beiden zusammen natte gehen sehen, halbes Geständnis: 
Der Junge sei von sich aus mit ihr gegangen und ohne hr Zutun hinter 
ihr drein ins Wasser gesprungen! — Ängstlich, verschüchtert, weinerlich; 
lebhafte Sehnenreflexe; sonst nichts Auffälliges. — — Motiv zum Selbst- 
mordversuch: gekränkte Empfindlichkeit. Dunkel dagegen bleibt das 
Motiv zum Mord an dem Knaben, der einer unbeteiligten Familie ent- 
stammend dem Mädchen vom Spiel auf der Straße bekannt war; wohl 
lediglich Wunsch, im Tod nicht allein zu sein ; als leidendes Objekt das nächste 
beste kleine Kind gewählt, von dem kein Widerstand zu erwarten war. 








Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig. 105 


7. Ängstliche: 4. Schreckhaft, scheu, Furcht vor Dunkelheit: 
manche auch empfindlich, unaufmerksam, vergeßlich; Neigung zum 


Onanieren. 

8. Als epileptoid bezeichnen möchte ich einen Fall von periodenweise 
auftretendem Wandertrieb, der jeweils mehrere Tage dauerte und durch 
nichts zu bekämpfen war, so daß der Vater des 10jährigen Jungen auf 
den absonderlichen Gedanken kam, ihn mit einer Kette an den Füßen 
zur Schule zu schicken. 

In der Zwischenzeit verträglich und lenksam. Keine Anfälle, kein 
Einnässen. Schaut manchmal starr vor sich hin, »simuliert«. Besucht 
Sonderklasse. — Der Fall bedarf noch der Klärung. 

Die Stellung der folgenden Gruppen ist insofern problematisch, 
as sie möglicherweise schon aus dem Rahmen der Psychopathie 
hinausfallen und das Vorstadium einer psychotischen Entwicklung 
darstellen könnten, Nr. 9 in Richtung auf die Hebephrenie, 10 und 11 
in Richtung auf das manisch-depressive Irresein. Zur Zeit lagen 
jedoch keine eindeutigen psychotischen Merkmale vor. 

9. Apathische: 1. Gleichgültig in Haus und Schule, und zwar 
von jeher. Intellektuell gut begabt. Keine schizophrenen Zeichen. 

10. Depressiv: 1. Nie recht heiter gewesen. Nimmt alles 
schwer. Kein Selbstvertrauen. 

11. Hypomanische Konstitution: 1. 

H. E., 18jährig, ehemaliger Gymnasiast. Von jeher für »komisch« ge- 
golten. Unstetes Leben: in Detektivbüro, dann Filmstatist, Versicherungs- 
Angestellter, technischer Zeichner, Berufsboxer. Verkebr in Verbrecher- 
kneipen, Spielen, 2 mal Gonorrhoe, gewalttätig gegen Mutter, an Salvarsan- 
Schiebereien beteiligt, Versuch zur Fremdenlegion zu gelangen. — Be- 
zeichnet sich selbst als »Optimist von jehere; geht lächelnd über Vorhalte 
weg. Schnoddrig großspuriges Wesen. Hypomanische Stimmungslage. 
Keine intellektuellen Mängel. 

Unter den bisher besprochenen Psychopathieformen nicht recht 
zu rubrizieren war foigender Fall von 

]2. eigenartiger psychopathischer Reaktion: 

10jähriger Junge, A. K., bis vor !/, Jahr guter Schüler und unauf- 
fällig, zeigt seitdem in der Schule verändertes, unverständliches Wesen, 
lief umher, konnte dem Unterricht nicht mehr folgen, störte sehr, hatte 
»ganz andern Blick« als früher, fand einmal nicht den Weg nach Hause. 
In der Schule zunehmend unmöglich, während zu Hause nichts beobachtet 
außer Zerstreutheit und Schreckhaftigkeit. — Befund: eigenartiges Ver- 
halten, schlaff, läßt sich gehen, albert herum; pseudodementer Gesichts- 
ausdruck, gibt verkehrte Antworten, die an Vorbeireden erinnern; S. RR. 
lebhaft. — Ein emotioneller Anlaß zunächst nicht zu ermitteln. 


Epilepsiegruppe (im weitesten Sinn): 13 Fälle. 
Davon genuine Epilepsie: 7. Ein besonders schwerer und 
rapid verlaufener Fall von genuiner Epilepsie ist folgender: 


106 M. Thumm: 


12jähriger Junge, E. W. — Vater hat seit 12. Lebensjahr ab und zu 
aber sehr selten Anfälle, wo er steif wird und hinfällt, keine Zuckungen, 
niemand hatte an Epilepsie gedacht. Von 3 Kindern 2 gesund. P. war 
besonders guter Schüler gewesen, hatte Begabtenklasse besucht. Seit 
2 Jahren unvermittelt Krämpfe, anfangs nur kurz dauernde Starre- 
zustände, später regelrechte Krampfanfälle mit Zu-Boden-Stürzen, starken 
Zuckungen, Zungenbiß, Urin- und Kotabgang. Anfälle trotz reichlichen 
Bromgebrauchs immer häufiger geworden, bis zu 18 an 1 Tag. Auch 
nachts viele Anfälle. Keine Schwindelattacken. — Schlaffes teilnahmloses 
Wesen. Rascher Intelligenzverfall, so daß P. Schule richt mehr be- 
suchen, einfachste Fragen (z. B. nach seinem Lebensalter) nicht be- 
antworten kann. 


Traumatische Epilepsie 2 Fälle. 


a) 12 jähriger Junge, W. E., Zangenentbindung. Schon am 2. Lebens- 
tag fiel auf, daß linke Gliedmaßen »schwach«, Auge geschlossen. Mit 
2 Jahren laufen gelernt: Linkes Bein schleppte, linker Arm blieb 
schwach. — Jetzt seit 1'/, Jahren »Krämpfe«, Zuckungen immer nur 
links, — allmäblich werde dann Körper steif und es trete Bewußt- 
losigkeit ein (?). Dauer ca. 5‘. Aura im linken Arm. 2—3 Anfälle 
täglich. Fazialisschwäche links, motorische Schwäche im linken Arm 
und Bein. Während Untersuchung Anfall beobachtet: isolierte 
Zuckungen im linken Arm, Bein und Fazialisgebiet, kein Zu-Boden- 
fallen, kein Bewußtseinsverlust. — Intellektuell etwas zurückgeblieben. 


14jähriges Mädchen, A. W. Im 3. Lebensjahr 2 Stockwerk hoch 
heruntergestürzt, Schädelbruch, operiert, 12 Tage bewußtlos, 5 Wochen 
lang ohne Sprache. Seitdem Lähmung des linken Arms und Beins. 
Erst 7 Jahre später setzten Anfälle ein, fast täglich, auch nachts. 
Keine ausgesprochenen großen Krampfanfälle, sondern Abscencen und 
kurz dauernde Verwirrtheitszustände mit starrem Dreinschauen, sinn- 
losen Bewegungen, nachheriger Amnesie. Besucht Hifsklasse. — Großer 
rechtsseitiger Defekt am Scheitelbein, z. T. ossifiziert. z. T. Pulsation 
zeigend. Spastische Lähmung der linken Extremitäten mit leichter 
Verkürzung und Atrophie. Arm und Hand in Beugekontraktur. PSR 
links gesteigert. Hirnnerven o. B. 


b 


u 


Es ist klar, daß im 1. Fall, wo es sich um Anfälle Jackson- 
schen Typus’ handelt, eine Operation Erfolg bringen könnte, während 
im 2. Fall — posttraumatische Epilepsie mit spastischer Extrem.- 
Lähmung, Absencen und Dämmerzuständen, ohne motorische Ent- 
ladung — von einem Eingriff kein Nutzen zu erwarten war. 


Epilepsie bei Erbsyphilis: 1 Fall. 


lljähriger Junge, W. S., schwachbegabt, Stottern, Sonderklasse. Seit 
1 Jahr typische epileptiforme Krampfanfälle. — Differente starre 
Pupillen, Strabismus diverg. links. Wa.R. im Blut und sämtlichen 
Liquorreaktionen positiv. Babinski f. In den Monaten vor P.s Geburt 
waren Vater und Mutter wegen Syphilis in Behandlung. 


Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig. 107 


Anfälle fraglicher Art: 3 Fälle. 

In einem Fall unentschieden, ob Epil. oder Hysterie, wahrscheinlich 
erstere. — In einem 2. Fall (l11jähriger Junge, H. S.) keine Krampf- 
anfälle, aber periodisch auftretende Ahwesenbeitszustände, wobei P. oft 
mitten im Satz abbricht, »mit verdrehten Augen« stier dasitzt, nichts von 
sich weiß und erschrickt, wenn durch Anrufen geweckt; in der Turnstunde 
läuft er plötzlich aus der stillstehenden Reihe mit schwankendem Gang 
so lange, bis ihm ein Hindernis in den Weg tritt; Dauer einige Minuten, 
mehrmals am Tage (Angabe des Lehrers). 

Hysterie: 3 Fälle, worunter 1 Anfallshysterie. 2 hysterische 
Charaktere. 

15'/,jähriger Bursche, H. Sch. Mutter schwere Hysterie. P. von jeher 
unbeständig, extrem in seinen Neigungen, wechselt beständig seine Ziele, 
ist launenhaft, arbeitsscheu; sucht immer aufzufallen; ist Blender, 
raffiniert liebenswürdig gegen Fremde, quält er seine nächsten Angehörigen 
bis aufs Blut; pathologischer Lügner, Schwindeleien; unzüchtige Reden. 
Sexuelle Frühreife: am Weibnachtstag früh 3 Uhr durch Polizei aus 
Bordell geholt. — Hat aufgeregtes Wesen an sich. 


Manisch-Depressives Irresein: kein Fall. Vgl. Bemerkung unter 
Psychopathiegruppe S. 105. 


Hebephrenie: mit Sicherheit konnte nur in 1 Fall diese Diagnose 
gestellt werden. 
18jähriges Mädchen, F. S. Wesensänderung. Versagen in Dienststellen. 
Läppisches Verhalten. Unbeherrschte, eckige Bewegungen. Grimassieren 
und Gesichterschneiden. 
In 3 weiteren Fällen blieb der Verdacht auf beginnende Hebe- 
phrenie offen, ohne zu einer Klärung zu gelangen. 


Psychische Störungen nach Encephalitis epidemica: 4 Fälle. 
lljähriges Mädchen, G. R., früher gesund und unauffällig. Vor 
3 Jabren schwere Grippe mit 41° Fieber, vollkommener Apathie und 
Schlafsucht, die nach Abklingen der übrigen Erscheinungen noch wochen- 
lang anhielt. Seitdem Charakter »wie umgewandelt«: unruhig, 
läppisch, vorlaut, stellt alberne Fragen, bringt die ganze Klasse außer 
Rand und Band; grimassiert, speichelt; zeigt auch ethische Defekte: 
lügt und zwar oft ganz sinnlos, stiehlt, ist unverträglich. Kein Intelligenz- 
rückgang, etwas Muskelrigor, sonst neurologisch kein abweichender Befund. 
Um die gleiche, an das Bild der läppischen Verblödung 
(»Moria«) erinnernde psychische Störung in Verbindung mit asozialem 
Verhalten handelte es sich in 2 weiteren Fällen (9jähriger Junge, 
Yjähriges Mädchen); beim letzteren ist noch vermerkt: Strabismus, 

artikulatorische Sprachstörung, Einschlafen im Unterricht. 

Bei derartigen Kindern machte die Unterbringung in der Regel 
große Schwierigkeiten: sie sind nicht schulfähig, können auch nicht 


108 M. Thumm: 


in der Familie noch in der Erziehungsanstalt oder im Krankenhaus 
gehalten werden, gehören vielmehr auf alle Fälle in fachärztliche Hand, 
sei es nun im Heilerziehungsheim oder (bei den schwersten Graden) 
in der Heilanstalt. 


Ein differentes Bild bot ein anderer Fall: 


l4jähriger Junge, R. G. Vor 7 Jahren fieberhafte Erkrankung mit 
Schlafsucht und »Veitstanz«e. Seitdem und bis heute bestehen choreiforme 
Zuckungen in Arm, Schulter, Schlenkern des Kopfes, Grimassieren, auf- 
geregtes Wesen und unruhiger Schlaf (postenoephalit. Chorea), aber keine 
Charakterveränderung nach der asozialen Seite. 


Little’sche Krankheit: 1 Fall. 


2!/,jähriger Knabe, H. F. Starke Spasmen an den unteren, geringere 
an den oberen Extremitäten. Kann weder geben noch sitzen. 


Spastische cerebrale Kinderlähmung: 1 Fall. 


7jähriges Mädchen, K. S.; dabei phsychogene Auflagerungen, Über- 
treibung der Funktionsstörung, Unerzogenheit. 


Chorea minor: 1 Fall. 


Chorea nach Trauma: 1 Fall. 


8jähriger Knabe, M. M. Mit 2'/, Jahren Sturz aus dem Wagen; seit- 
dem Zuckungen. Sprach- und Gehfähigkeit zunächst wieder verloren, erst 
mit 6 Jahren neugelernt. Starke choreatische Unruhe der Gliedmaßen, 
des Kopfes und der Gesichtsmuskulatur; Sprachstörung, Grimassen 
Weinerlichkeit. Auffassung gut. Nicht schulfähig. 


Noch etwas über allgemeine Krankheitserscheinungen. 


Rhachitis in Vorgeschichte oder Befund fand sich 24mal; 
Kinderkrämpfe im Säuglingsalter (»Zahnkrämpfe«) wurden 14 mal 
angegeben, Bettnässen 46mal — also in i/, aller untersuchten Fälle —, 
wovon annähernd ®/, auf Psychopathen entfielen, der Rest auf Schwach- 
sinnige. Schlafunruhe, nächtliches Aufschrecken, Angstträume 
oder übermäßiges Schlafsprechen fand sich 39 mal, »Alpdrücken« 1 mal, 
eigentliche somnambule Zustände 4mal, — all dies ausschließlich bei 
Psychopathen, und zwar vorwiegend solchen der 1. und 2. Gruppe. 
Gleichfalls bei den beiden letzteren (gelegentlich auch bei der 3. Gruppe) 
wurde häufig das Fazialisphänomen sehr lebhaft gefunden. Aus- 
gesprochene Nägelkauer waren 10. Funktionelle Sprachstörung bei 
Psychopathen — also nervöses Stottern, Poltern, Sigmatismus — fand 
sich 17 mal (die artikulatorischen Sprachmängel Schwachsinniger sind 
hierher nicht gerechnet). 


Zwei Jahre poliklinısche Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig. 10% 


Infantilismus (der im stationären Material des Heilerziehungs- 
heims Kl. Meusdorf ein sehr häufiger Befund ist), fand sich hier nur 
einmal, bei einem erregbaren Psychopathen; desgleichen mongoloide 
Gesichtsbildung in ausgesprochenster Form bei einer, übrigens intel- 
lektuell gut veranlagten 9jährigen Psychopathin (auch in meinem 
stationären Material habe ich diesen sonst bei Schwachsinnigen be- 
schriebenen Entartungstypus wiederholt gerade bei Psychopathen be- 
gbachtet). 

Auffällige Stereotypien batte ein psychopathisches Kind im 
\. Lebensjahre nach Angabe der Mutter gehabt in Form stärkster 
Schaukel- und Wackelbewegungen, die jetzt im Schulalter noch in 
der gemilderten Form fortbestehen, daß das Kind nachts im (offenbar 
lichten) Schlafe ständig mit dem Kopfe hin- und herwackelt. — 
Ähnlich hatte ein leicht Imbeziller die Angewohnheit, nachts laut 
limend hin- und herzuschaukeln und gegen das Bett zu schlagen; 
aders konnte er nicht zum Einschlafen gelangen. — In 3 Idiotie- 
fillen fanden sich während der Untersuchungen die bekannten Bewegungs- 
stereotypien. 


II. 
Verwahrlosungsformen. 


Zu einem eindringlicheren Studium der Verwahrlosungsformen 
in rein ambulante Handbabung nicht wohl gelangen. Ich habe 
ar daher hier Beschränkung auferlegen müssen, von vornherein z. B. 
darauf verzichtet, das Ineinanderwirken von Milieuschäden und 
endogenen Faktoren im einzelnen zu verfolgen. Ähnliches gilt von 
“er Feststellung der moralischen Entwicklungsstufe im Sinne 
Gregors (moralisch intakt, m. schwach, m. minderwertig, asozial): so 
xertvoll in der stationären Beobachtung sich mir diese Differenzierung 
erwiesen hat,!) weil sie besser als irgend andere Kriterien einen 
'ruchbaren Anhaltspunkt für die Prognose und die weitere praktische 
Behandlung der Verwahrlosungsfälle gibt, so habe ich doch im poli- 
iinischen Betrieb der Beratungsstelle von vornherein diesen Gesichts- 


') Stier hat sich zu Unrecht gegen Gregors Einteilung gewendet; es ist ein 
Miöverständnis, hinter ihr ein unangebrachtes Moralisierenwollen zu vermuten. Es 
adelit sich dabei doch lediglich um eine naturwissenschaftliche Feststellung, wie 
&irieens auch sonst jeder Psychiater sie übt, wenn er ein Urteil zu gewinnen sucht 
über die ethischen und moralischen Vorstellungen und Gefühle bei seinen Ex- 
paden. Warum soll beim FZ die Stufe der moralischen Entwicklung nicht 
ee gut der Beobachtung und Begutachtung zugänglich sein wie die der in- 
te.leituellen? 


110 M. Thumm: 


punkt zurücktreten lassen und nur in den Fällen, wo die Sachlage 
ohne weiteres klar zutage lag, ein Urteil abgegeben. Wenn ich also 
die Zahl der ausgesprochenen moralisch Minderwertigen aus dem 
untersuchten Material mit 15 angebe, so kann das nur als eine Mindest-, 
nicht aber als eine Verhältniszahl, die Schlüsse auf das Gesamtmaterial 
zuließe, betrachtet werden. 
Bemerkenswert unter diesen 15 ist ein Yjähriger Knabe, A. R., nervöser 
Psychopath, bei dem sich die Stehlneigung schon mit dem 3. Lebensjahr 
eingestellt und dann zunehmend verschlimmert hatte. — Ein 6'/, jähriger, 
ebenfalls psychopathischer, dazu skrofulöser Junge, H. G., stahl zu Hause 
häufig große Geldbeträge, kaufte auf seines Vaters Namen ohne Bezahlung 
Waren in den verschiedensten Geschäften, stand mitten in der Nacht auf, 
um die Speisekammer zu plündern, log »mit jedem Worte, onanierte stark, 
lief den Mädchen nach, gefährdete, das 3jährige Schwesterchen. 

Was im Einzelnen die Art der Verwahrlosung bei den unter- 
suchten Fällen anlangt, so fand sich Bummeln, Umbhertreiben, 
Schwänzen 18mal; triebhaftes Fortlaufen (bei Psychopathen) 3mal; 
Unehrlichkeit, kleinere Diebereien und Unterschlagungen 45 mal; 
größere Diebstähle Y9mal; Lügenhaftigkeit 32mal; Roheit, Ge- 
walttätigkeit, Tierquälerei 4mal; Unfug eigentümlicher Form 2 mal. 


10jähriges Mädchen, psychop., verschmiert in der Schule die Wände, 
zerstört Gegenstände, defäziert auf den Boden. 


Abartung des Trieblebens auf sexuellem Gebiet: 15mal, 
worunter unsittliches Verhalten gegen andere 4mal, extremes Onanieren 


mal, Exhibitionieren 2 mal, sadistische Neigungen 1mal, sexuelle 
Frühreife 3mal. 


Ad Sadismus: 9°, jähriger Junge, H. T., empfindet Wollust, wenn er 
jemand Schmerz leiden sieht, tanzt dann vor Freude; quält auch aktiv 
Tiere und labt sich an ihrem Schmerzgeschrei. 

. Ad Frühreife: 14jähriger Junge onaniert nicht nur stark, sondern 
treibt sich in Animierkneipe in Kellnerinnengesellschafl herum und be- 
sucht Bordell; 15jähriger geht gleichfalls ins Bordell. 


Bei annähernd der Hälfte (90) der insgesamt untersuchten Kinder 
lag keine Verwahrlosung vor, während bei den übrigen 95 die Ver- 
wahrlosung mit oder ausschließlich der Grund war, weshalb die Be- 
ratungsstelle in Anspruch genommen wurde. Unter diesen 95 war 
nur bei 12 Untersuchten (=!/,) kein klinisch abweichender Befund zu 
erheben, die Diagnose also lediglich auf »Verwahrlosung zu 
stellen, bei den übrigen lagen mehr oder minder ausgeprägte Störungen 
verschiedenster sub lI näher skizzierter Art vor; die weitaus größte Mehr - 


zahl fiel unter die Gruppe der Psychopathie- und der Schwachsinns- 
formen. 


Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig. 1ll 


IV. 
Heilmaßnahmen. 


Es liegt im Wesen einer Beratungsstelle, daß sie sich des eigent- 
lichen therapeutischen Handelns enthält; so wurden auch hier aus- 
gesprochene Behandlungsfälle an den Hausarzt, den Spezialisten oder 
das Krankenhaus verwiesen. Was trotz dieser Beschränkung der Be- 
ratungsstelle an Positivem zu tun bleibt, mag die folgende Zusammen- 
stellung der im Zeitraum des Berichts angeregten Maßrahmen zeigen. 

Allgemeine ärztliche, diätetische oder erzieherische bezw. 
heilpädagogische Ratschläge wurden in 39 Fällen erteilt, 4mal 
bandelte es sich um Berufsberatung. Land-, Erholungs- bezw. 
Kuraufenthalte wurden in 16 Fällen begutachtet, Schul- 
dıspens 6mal erteilt. Verweisung in eine Sonderklasse für 
Nervöse erfolgte 16mal, in eine Hilfs- bezw. Förderklasse für 
Schwachbefähigte und Leicht-Schwachsinnige 5mal, in die Hilfs- 
schule für Schwachsinnige 9mal, in Nervenklinik oder Heilanstalt 
3mal,in eine Schwachsinnigenanstalt 11 mal; in den letzteren 
Fällen war in der Regel auch die Frage der Schul- bezw. Bildungs- 
fähigkeit zu prüfen. (Die Einweisung in die Sonderklassen be- 
gegnete dadurch ab und zu Schwierigkeiten, daß leider in manchen 
Schulen die S.-Kl. praktisch als Hilfsklasse dient und dann natürlich 
ihrem eigentlichen Zweck, der individuellen Versorgung nervöser und 
psychopathischer Kinder nur unzulänglich oder gar nicht mehr nutz- 
bar gemacht werden kann.) Wiederholt konnten Kinder mit Sprach- 
störungen auf Sprachkurse bezw. Stotterkurse verwiesen werden. 

In Verwahrlosungsfällen wurde 5mal Stellung unter Schutz- 
aufsicht begutachtet, 35mal Einleitung des FE-Verfahrens, 
wobei in 5 Fällen Familienpflege, in 14 Erziehungs- 
anstalt, in 16 Heilerziehungsheim in Frage kam. Außer- 
halb des Rahmens der FE wurde außerdem in 6 Fällen stationäre 
Beobachtung im Heilerziehungsheim Kl. Meusdorf angeraten. 

In der Mehrzahl der untersuchten Fälle waren gutachtliche 
Äußerungen oder briefliche Mitteilungen erforderlich. 

Genaue Zusammenarbeit mit den amtlichen Stellen ist nötig, da- 
mit die angeregten Maßnahmen auch wirklich zur Durchführung ge- 
bracht werden können. Erleichtert wird dies wesentlich, wie schon 
erwähnt, durch Abhaltung der Sprechstunden an zentraler Amtesstelle 
und durch Teilnahme eines Beamten des Jugendamts. Aktive Unter- 
stützung durch Lehrer, Waisenräte, Fürsorgerinnen, Wohlfahrts- 
pflegerinnen fördert die Wirksamkeit der Einrichtung. Gelegentliche 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 8 


112 M. Thumm: Zwei Jahre poliklinische Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig. 


Hinweise im redaktionellen Teil der Tageszeitungen seitens des Jugend- 
amtes sind angezeigt. — Private, vereinsmäßige Beratungs- und Für- 
sorgetätigkeit, wie sie in Berlin der rührige »Verein zur Fürsorge 
für jugendliche Psychopathen« in großzügiger Weise übt, wird eine 
wertvolle Ergänzung amtlicher Beratungsstellen zu sein vermögen, 
ohne sie freilich ersetzen zu können; die heute allem voranstehende 
leidige Finanzfrage wird eine gleiche Entwicklung außerhalb Berlins 
auch kaum zulassen. 


Poliklinische psychiatrische Beratungsstellen für Kinder und 
Jugendliche können und müßten an allen Orten geschaffen werden, 
wo Jugendämter sich befinden oder neu gegründet werden; sie können 
— das haben wohl meine Ausführungen dargetan — dem Vorhandenen 
leicht ohne neuen komplizierten Apparat und ohne wesentliche Kosten 
eingegliedert werden, wo nur immer eine geeignete psychiatrische 
Kraft zur Verfügung steht. Ich habe meinen Bericht absichtlich aus- 
führlicher gehalten und durch Beispiele erläutert, um — wo nötig — 
Anregungen und Hinweise hierfür zu geben. 

Ziel der Beratungsstellen wie aller psychiatrischen 
Jugendfürsorge überhaupt muß es sein, für die Zukunft zu 
erreichen, daß 

l. alle Bedürftigen möglichst frühzeitig von der 
»offenen« Fürsorge erfaßt werden, die allein prophylaktisch 
zu wirken vermag, und 

2. kein FE-Beschluß ergehe ohne psychiatrische Mit- 
wirkung. 


Die Kinderlüge. 
Von 
Dr. Charlotte Bühler, Wien. 


Eine Lehrerin, Joh. Haas, machte unter Leitung der Verf. an 
zwei Wiener Volksschulen eine Erhebung über Kinderlügen. Die 
Arbeit wurde mit der Fragestellung »Gibt es Fälle, in denen man 
lügen muß?« ursprünglich vom Stadtschulrat aus angeregt und brachte, 
jedenfalls infolge der geschickt gewählten Frage so interessante Er- 
gebnisse, daß ich hier kurz darüber berichten möchte. Ich will dabei 
einige Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken, die für den Heil- 
pädagogen von besonderem Interesse sind und auf die ich in der 
Veröffentlichung der Resultate selbst nicht ausführlich zu sprechen 
komme. !) 

»Gibt es Fälle, in denen man lügen muß?« Die Frage wirkt 
suggestiv in der Richtung auf das Beibringen von positiven Beispielen. 
So baben denn auch nur 25 von den 249 Kindern die Notwendigkeit 
der Lüge einigermaßen entschieden abgestritten. Die befragten Kinder 
entstammten im wesentlichen dem Kleinbürgertum, aus Kreisen kleiner 
Handwerker, kleiner Geschäftsleute, kleiner Fabrikanten und Beamten. 
Arbeiterschaft und geistige Berufe waren nur wenig vertreten. Be- 
fragt wurden die 2., 3., 4., ©. Klasse (-Schuljahr) einer Knaben- und 
einer Mädchen -Volksschule eines innerstädtischen Wiener Gemeinde- 
bezirks. Das reguläre Alter der Kinder war 7—11. Diejenigen, 
welche das 12. oder 13. Lebensjahr überschritten hatten, waren Re- 
petenten. Auf sie komme ich noch zu sprechen. Das Material lag 
also im ganzen vor der Pubertät, in der späten Kindheit. Einige 
Fälle mußten als unklar ausgeschieden werden. Es blieben dann 
97 Buben, welche 187 Beispiele brachten, und 95 Mädchen mit 
125 Beispielen zum Beweis der Notwendigkeit der Lüge. Nur 23°/, 


— 





1) Die Veröffentlichung erfolgt als Heft 1 der neu erscheinenden Serie: Wiener 
Arbeiten zur pädagogischen Psychologie, herausgegeben von Ch. Bühler und 


V. Fadrus, Wien, Deutscher Verlag für Jugend und Volk. 1924. 
5” 


114 Ch. Bühler: 


dieser Beispiele zeigen den Versuch, die Lüge moralisch zu recht- 
fertigen. Alle übrigen begnügen sich mit der bloßen Tatsache. »Wenn 
man genascht hat, da muß man doch lügen, sonst, bekommt man ja 
Strafe.« Das ist etwa der Standpunkt, der einem am häufigsten ent- 
gegentritt. Oder aber: »Die Nachbarin wollte die Mutter sprechen, 
aber der Vater sagte, daß sie nicht da sei, denn was hätte er sonst 
mit dem kleinen Kind anfangen sollen.e Uud diese Antwort führt 
uns auf einen der interessantesten Teile des Materials, auf die Er- 
wachsenenlügen, die das Kind beobachtet bat. »Gibt es Fälle, in 
denen man lügen muß?« Es blieb den Kindern überlassen, wie sie 
dieses >man« verstehen wollten. Die, welche sich selber sicherzu- 
stellen wünschten, behielten das »man« oder »jemand« in der Antwort 
bei, oder aber sie brachten Beispiele von Erwachsenenlügen. Dieses 
»Sich-drücken-wollen«e, was zur Fehlerquelle hätte werden können, 
wird hier zu einem der interessantesten Ergehnisse: wir sehen, in 
welchem Maße die Kinder Einblick haben in die Lügen ihrer er- 
wachsenen Umgebung. 38°/, der Beispiele sind Erwachsenenlügen, 
weitere 10°/, sind Lügen, zu denen die Kinder von den Erwachsenen 
veranlaßt wurden. Also nahezu die Hälfte aller Beispiele kommt auf 
Konto der Erwachsenen! Die kleinen Mädchen sind vor allem Zeugen, 
Mitwisser und Mithelfer in tausend kleinen Verlegenheitslügen des 
täglichen Lebens, wie sie gerade die Enge des kleinbürgerlichen 
Milieus immerfort nötig zu machen scheint. Die etwas älteren Knaben 
dagegen haben von den Geschäftskniffen und Geschäftslügen ihrer 
Väter schon genug erlauscht, um zu wissen, wie die Sache gemacht 
wird. »In geschäftlichen Dingen muß man immer lügen.«e »Wenn 
man schlechte Waren hat, muß man lügen.«e »Wenn Revision kommt, 
muß man lügen«, das sind so einige der zahlreichen Antworten 
dieser Art. 

Ich habe, um der vielen Motive Herr zu werden und zu einer 
fruchtbaren Auswertung zu gelangen, nach vorangehender phänome- 
nologischer und ethischer Begründung drei Hauptkategorien unter den 
Beispielen begründet: soziale, asoziale und antisoziale Lügen. 
Soziale Lügen sind solche, in denen das Kind durch seine Lüge 
einem anderen eine Hilfe, Freundschaft, Unterstützung zu erweisen 
glaubt, also Lügen zur Bewahrung eines Geheimnisses, Lügen, um der 
Mutter eine Überraschung vorzubereiten, Lügen am Krankenbett oder 
sonst zur Schonung und Erleichterung eines anderen. Asoziale 
Lügen nenne ich solche, bei denen das Kind ganz von einem Ich- 
affekt beherrscht ist, indem es lügt; Furcht oder Gier pflegt das 
häufigste zu sein; Fälle, bei denen an Nutzen oder Schaden eines 


Die Kinderlüge. 115 


andern nicht gedacht wird. Antisoziale Lügen endlich sind solche, 
bei denen das Wissen um die Schädigung eines andern zweifelsfrei 
mitgegeben ist, oder bei denen Betrug oder Übervorteilung eines 
andern sogar bewußt erstrebt werden. Auch die Verleumdungen 
gehören hier hinein. 

Es ist nun interessant festzustellen, daß das Kind unserer Alters- 
stufen mit über 50°/, asozial lügt. D. h. das Kind lügt aus Ich- 
affekten heraus, es lügt aus Furcht oder Gier vor allem, ohne viel 
an die anderen zu denken. Die nächstgroße Zahl hat in der Früh- 
zeit die soziale, in der Spätzeit die antisoziale Motivierung. Und das 
bestätigt nun aufs beste das sonst aus der Kinder- und Jugend- 
psychologie Bekannte.) Das Kind ist ein durchaus sozialer Mensch 
und wird erst in der Pubertät, gegen die Pubertät zu, für längere 
Zeit antisozial. 

Damit komme ich auf jene heilpädagogisch interessanten Fälle. 
E waren 10 Kinder, teils in der 4., teils in der 5. Klasse, die das 
12. Lebensjahr bereits überschritten hatten, zurückgebliebene also, die 
von Rechts wegen schon zur Pubertät oder Vorpubertät ihrem Typus 
nach gehören müßten. Sie brachten 15 Beispiele und zwar 3 von 
Mädchen, 11 von Knaben, davon 2 -}- 10 von 12—13-Jährigen und 
1+2 von 13—14-Jährigen. Unter den 12 Knabenmotiven sind ins- 
gesamt 5 bewußte Übervorteilungslügen und 1 Verleumdung (von den 
4 V, die überhaupt nur vorkommen), also die am stärksten anti- 
sozialen und jn unserer Beispielsreihe ethisch am niedrigsten zu be- 
wertenden Motive. Weitere zum Antisozialen gerechnete Motive 
kommen noch 4 -+ Imal, vor, 3mal das asoziale Motiv der Notwehr, 
Imal ein soziales Motiv. ?/, der Motive dieser Zurückgebliebenen 
sind also antisoziale.e Und zwar sind nur 2 von all diesen Beispielen 
Erwachsenenlügen. Der Einfluß der Erwachsenen tritt nämlich, wie 
auch hier aus den Motivierungen hervorgeht, mit zunehmender Ent- 
wicklung zurück. Die Beispiele aus dem Leben der Erwachsenen 
sind am stärksten in den mittleren Jahren 9—11, während die von 
den Erwachsenen veranlaßten Kinderlügen schon vorber ibren Höhen- 
punkt haben. Verschiedenes mag zusammenwirken, daß die Älteren 
weniger Erwachsenenlügen beibringen als die Jüngeren, obwohl sie 
ja zweifellos noch mehr Gelegenheit und Geschick haben, Erwachsenen- 
lügen zu beobachten als die Jüngeren. Einerseits halten sie es viel- 
leicht weniger für nötig, sich selbst zu verstecken als die Kleineren, 
andererseits stehen sie den Erwachsenen zum Teil bereits mit der 


') Vgl. Verf. »Seelenleben des Jugendlichen«. 2. Aufl. Jena 1923. 


116 Ch. Bühler: Die Kinderlüge. 


Pubertätsverachtung und Antipathie gegenüber und glauben nicht 
mehr, daß die Lügen der Großen besser gerechtfertigt seien als ihre 
eigenen, wie es den Jüngeren vielleicht gelegentlich erscheinen mag. 
So haben wir in 13 von den 15 Beispielen der 12—14-Jährigen tat- 
sächlich eigene stark antisozial eingestellte Lügen vor uns. 

Bekannte Tatsachen werden also hier wieder von einer neuen 
Seite beleuchtet. Daß der intellektuell Minderwertige zur antisozialen 
Einstellung neigt, ist bekannt und leicht erklärlich. Für ihn, der 
überall sich leicht zurückgesetzt und schwächer fühlen muß, ist die 
antisoziale Haltung eine Art Notwehr. Das starke Hervortreten der 
antisozialen Motive darf in unsern Beispielen sowohl als Minderwertig- 
keits- wie als Pubertätsmerkmal ausgelegt werden. Diese Kinder sind 
zwar intellektuell zurückgeblieben, zeigen aber in ihrer sozialen Ein- 
stellung bereits die Haltung, die erst in der Pubertät für einige Zeit 
allgemein wird. Sie werden dann vermutlich diese Einstellung über 
die Pubertät hinaus bewahren und damit ein Pubertätssymptom in 
sich fixieren. Über 12jäbrige Kinder in einer normalen 5. oder gar 
4. Volksschulklasse zu belassen, halte ich daher pädagogisch für über- 
aus verhängnisvoll und schädlich, sowohl im eigenen Interesse der 
Zurückgebliebenen, die unter Gleichartigen weit weniger Antriebe 
zum antisozialen Verhalten finden werden wie im Interesse der 
anderen Kinder, die von diesem Verhalten vorzeitig angesteckt werden 
können. 


Über den Zusammenhang der geisteswissenschaftlichen 
und der naturwissenschaftlichen Jugendsichtung. 


Von 


Stadtmedizinalrat Dr. Fürstenheim, Frankfurt a. Main. 
Leiter der städtischen Jugendsichtungsstelle. 


Wer früher aus der Lebenspraxis des Lehrers, Kaufmanns, Arztes 
in das Verständnis fremden Seelenlebens einzudringen suchte, konnte 
über seine Methode garnicht im Zweifel sein: er mußte die Äußerungen 
fremden Seelenlebens beobachten, mußte — unter Heranziehung eigener 
innerer Erfahrungen,der unmittelbarsten Wurzel aller Seelenforschung — 
sich in das Innere des Andern einzufühlen, es fühlend nachzuerleben 
suchen, um dann im praktischen Handeln am Erfolg oder Mißerfolg 
seiner Maßnahmen die Treffsicherheit seines Urteils nachzuprüfen und 
so durch fortschreitende Erfahrung zu lernen. — Als man dann, aus- 
gehend von den persönlichen Fehlern bei astronomischen Beobachtungen, 
angefangen hatte, den Verlauf seelischer Vorgänge zeitlich zu messen, 
als man die Beziehungen zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke 
experimentell zu verfolgen, den Verlauf von Willensleistungen graphisch 
zu registrieren anfing, entwickelten sich die Grundzüge einer schein- 
bar ganz anderen Psychologie, einer messenden, zählenden, kurz der- 
jenigen Psychologie, die heute als die elementare, analytische, experi- 
mentelle bezeichnet wird. Den großen Unterschied dieser zwei ver- 
schiedenen Arten des Psychologiebetriebes findet man heute vielfach 
betont.!) Aber es will fast scheinen, als ob man jetzt gelegentlich 
schon geneigt sei, über den unleugbaren Unterschieden den untrenn- 
baren Zusammenhang zu übersehen; als ob man in wenig glücklicher 
Weise anfange Gıenzlinien zu ziehen, die den Fortschritt der Wissen- 
schaft eher aufhalten als fördern würden. Denn man stellt nicht nur 
der experimentellen die intuitive, sondern auch die analytische, auf 


1) J. Wagner, Das Problem der psychischen Strukturen. Ztschr. f. pädag. 
Psychol 24. Jahrg. 1923. Nr.7 u. 8. 


118 Fürstenheim: 


seelische Elemente ausgehende Psychologie einer Ganzheits- oder auch 
einer Strukturpsychologie gegenüber. Man ist geneigt, die experi- 
mentelle und analytische Richtung nur zur Erforschung der aller- 
einfachsten seelischen Vorgänge für geeignet und außerdem auf die 
Untersuchung von Einzelmenschen beschränkt zu halten; man be- 
zeichnet diese Forschungsrichtung wohl auch als die naturwissen- 
schaftliche und stellt sie der geisteswissenschaftlichen Psychologie 
gegenüber, die allein imstande sei, Fragen des höheren geistigen 
Lebens, seelischer Gruppenerscheinungen und Zeitströmungen zu be- 
wältigen. Folgerichtig nimmt man daher an, daß die geisteswissen- 
schaftliche Richtung auch auf dem Gebiete der Jugendforschung und 
-Förderung, wo es sich ja im wesentlichen um höhere geistige Leistungen 
und Zusammenhänge handele, weiter reiche, die angemessenere und 
fruchtbarere sei und deswegen wohl auch im Bildungsgange der 
Jugenderzieher, Berater und Fürsorger eine besondere Berücksichtigung 
verdiene. 

Um Entmutigung und Verwirrung zu vermeiden, kann man den 
jüngeren Arzt, Erzieher, Fürsorger, Richter, kurz jeden, dem es in 
erster Linie auf ein ins Einzelne und Genaue gehendes Bild der 
seelischen Vorgänge und ihres Zusammenhanges beim Einzelmenschen 
ankommt, nicht ernsthaft genug darauf hinweisen, daß er sich vor 
einer Überschätzung der Bedeutung dieser oder jener psychologischen 
Theorie zu hüten hat, mindestens aber, daß ihm die Beschäftigung 
mit psychologischen Theorien niemals die praktisch-analytische Arbeit 
ersetzen kann. Für den, der die Gabe zur Erfassung fremden Seelen- 
lebens mitbringt, empfiehlt und lohnt sich besonders deren Nach- 
prüfung und Weiterbildung durch methodische Einzelarbeit. Wer sich, 
auch ohne einer besonderen psychologischen Begabung sicher zu sein, 
vom Einzelversuch ausgehend zur Beobachtung des inneren seelischen 
Verhaltens der Versuchspersonen während des Versuchs aufzuschwingen 
vermag, wird auch im Laboratorium allmählich ein »Menschenkenner« 
werden und die erkannte Eigenart seiner Versuchspersonen auch 
außerhalb des Laboratoriums in ihrer Lebensweise und Arbeitsleistung 
aufspüren. Die Nötigung, das Verhalten verschiedener Menschen 
gegenüber den immer gleichen Versuchsbedingungen zu beobachten, 
ist ein ausgezeichnetes Mittel, sich über grundlegende innere Ver- 
schiedenheiten innerhalb der Seelenverfassung der Versuchspersonen 
klar zu werden. Diese Einstellung auf die verschiedene Art des 
inneren Zustandekommens äußerlich gleicher oder ähnlicher Ergeb- 
nisse, das Ausdenken von Versuchsanordnungen, um entsprechende 
Vermutungen nachzuprüfen und zur Gewißheit zu erheben oder in 


Zusammenhang der geisteswissenschaftl. u. d. naturwissenschaftl. Jugendsichtung. 119 


ihrer Unzulänglichkeit zu durchschauen und auf andere zu sinnen, 
das gerade macht das Laboratorium zu einem so vorzüglichen prak- 
tischen Einführungsorgan in die psychologische Forschungs- und Denk- 
weise. Erst wer sie besitzt, von Haus aus oder durch entsprechende 
Schulung, ist zur intuitiven Erfassung fremden Seelenlebens so recht 
fähig, kann oft, ohne es einstweilen noch begründen zu können, sich 
vorstellen, wie sich dieser oder jener Mensch außerhalb des Unter- 
suchungsraumes in diesen oder jenen Lagen verhalten wird, versteht, 
wieder ohne vieles Grübeln, den andern richtig anzufassen und zu 
behandeln. Umgekehrt ist natürlich die Fähigkeit zur intuitiven Er- 
fassung eines Menschen der beste Weg, um durch Nachdenken über 
die Ursache des gewonnenen Eindrucks zur Auswahl der geeigneten 
Versuchsanordnungen zu schreiten, mit deren Hilfe er seinen sub- 
jektiven Eindruck objektiv nachprüfen und, was ihm in schwankender 
Erscheinung innerlich vorschwebte, in die aufzeigbare Dauergestalt 
bestimmter Testergebnisse oder Kurven bannen kann. Experimentelle 
Forschung ohne Intuition ist schließlich gar nicht mehr möglich, In- 
tuition ohne Experiment bliebe ohne Sicherheit und Beweiskraft. 
Deshalb ist ein gut eingerichtetes Laboratorium in erster Linie ganz 
unentbehrlich für denjenigen, der verantwortliche und womöglich nach- 
prüfbare, nicht bloß rein subjektive Gutachten als Grundlage der Ent- 
scheidungen von Schul-, Erziehungs-, Rechts-, Fürsorge- und Berufs- 
beratungsbehörden liefern soll. Ein solches Laboratorium muß mit 
einem ständigen, nicht zu kleinen Mitarbeiterstab rechnen dürfen, um 
seine Untersuchungen nicht auf zufällig ihm überwiesene Einzelfälle 
einschränken zu brauchen, sondern um sie planmäßig und umfassend 
ausdehnen und so erst zu einer rechten Beurteilung und Einordnung der 
Sonderfälle auf dem Hintergrunde solcher Gesamtuntersuchungen fort- 
schreiten zu können. — Für den werdenden jungen Psychologen aber, 
möge er nun aus dem ärztlichen, pädagogischen, juristischen oder 
sozial-fürsorgerischem Lager kommen, gibt es keine bessere praktisch- 
psychologische Schulung als eine mehrmonatige planmäßige Mitarbeit 
in solcher Sichtungsstätte.e Daß diese ihre Gutachten, aus Gründen 
der Sicherheit und Vollständigkeit, zur Selbstkritik, wie zur beständigen 
Verbesserung ihrer Methoden nicht auf psychologische Laboratoriums- 
arbeit allein gründen, daß sie vielmehr alle irgendwie greifbaren 
sozialen und pädagogischen Vorermittlungen einschließlich der Lehrer- 
auskünfte planmäßig heranzieben, daß sie vor allem auch die Ergeb- 
nisse einer ärztlich-anthropologischen Untersuchung, also die körper- 
lichen Maß-, Form- und Funktionsverhältnisse neben dem Entwicklungs- 
und Gesundheitszustande und in engster Verbindung mit dem psychischen 


120 Fürstenheim: 


Befunde auswerten muß, gilt in der Praxis, mindestens der Frankfurter 
Jugendsichtung, längst als selbstverständlich. !) 

Keineswegs also mangelt es in solchem Betriebe an Intuition, 
die vielmehr aufs eifrigste gepflegt werden muß; aber auch darin 
läge ein ungerechtfertigter Vorwurf, wenn man seine Zuständigkeit 
auf die Prüfung der einfachsten sensorisch -motorischen seelischen 
Leistungen beschränkt erklären wollte. Vielmehr können im methodischen 
Fortschritt auch hochentwickelte Begabungen sich bei geeigneter Ver- 
suchsanordnung »präzis«e und »demonstrabel« offenbaren, vor allem 
demjenigen intuitiv arbeitenden schöpferischen Psychologen, der die 
rechten Methoden für den rechten Prüfling herauszufinden und anzu- 
wenden weiß. Ein siebzehnjähriger stellungsloser, aber auch angebotene 
Beschäftigungen abweisender Jüngling, der in einer politischen Versamm- 
lung tätlich geworden ist und sich seitens der Eltern als unbeeinfluß- 
bar erwiesen hat, soll etwa auf seine Eignung zur Fürsorgeerziehung 
untersucht werden. Schon eine kurze Unterhaltung belehrt den Sach- 
verständigen über die gespannte Affektlage, die Verbitterung, den 
Pubertätstrotz des Jünglings, läßt aber gleichzeitig aus mancherlei hier 
zunächst nicht näher zu erörternden Anzeichen die Vermutung künstle- 
rischer Begabung aufkommen. Eine entsprechende Befragung speziali- 
siert diese Vermutung noch in der Richtung literarischer Neigung; 
und ein recht angepaßtes Thema ist bald gefunden, das nun in kurzer 
Zeit den Prüfling fesselt, ablenkt, ausfüllt und — ihn zu einer kleinen 
Novelle von soviel Schlagkraft, Feinsinn und Humor begeistert, daß 
die psychologische Vermutung — zur wissenschaftlichen Gewißheit 
wird. — Auf diese Weise können die verschiedenartigsten Leistungen 
als Beweis vermuteter Begabungen hervorgelockt und einmal der 
Funktionsanalyse durch weitere methodische Bearbeitung bis zur Er- 
forschung der biologischen Grundlagen zugänglich gemacht werden; 
andererseits bieten sie Einblicke in den Vorstellungs- und Gefühlsinhalt 
und Anknüpfungspunkte zu dessen weiterer Erforschung nach seiner 
Herkunft aus unterrichtlicher Beeinflussung oder gelegentlicher Lebens- 
erfahrung, seiner Wirkung auf die Stimmungslage, auf die Einstellung 
des Jünglings gegenüber den Anforderungen der beruflichen, gesell- 
schaftlichen, staatsbürgerlichen Umwelt. Der Übergang von solcher 
Selbstdarstellung in Leistungen zur Selbstbeschreibung, also der bio- 
graphischen Methode, die ja schon vielfach angewendet wird, ergibt 
sich von selbst. 


1) Eine genauere Schilderung der Frankfurter Einrichtung und Verfahrungs- 
weise bleibt vorbehalten. 


Zusammenhang der geisteswissenschaftl. u. d. naturwissenschaftl. Jugendsichtung. 121 


Es gilt weiterhin dem Mißverständnis entgegenzutreten, als ob 
‚experimentellee Psychologie mit elementarer, atomisierender Be- 
trachtungsweise untrennbar verbunden und nur auf ihrer Grundlage 
anzuwenden sei; das ist offenbar unrichtig. Hat man z. B. als Lehrer 
beobachtet, daß Fritz M. ein Leichtfuß ist, will man diesen unbestimmten 
Eindruck zu einem schärferen gestalten und womöglich auch andere 
davon überzeugen, den Eindruck also »präzise und »demonstrabel« 
machen, so kann man verschiedene Versuchsreihen anstellen, die in 
ihrer gegenseitigen Beleuchtung die Erscheinung der Leichtfertigkeit 
nicht nur erhärten, sondern auch gerade in ihrem Zusammenhang mit 
gewissen anderen Seelenzügen aufzeigen, ja die Gesamtheit dieser und 
verwandter Erscheinungen auf eine allgemeine seelische Eigenschaft, 
in diesem Falle vielleicht den zu schnellen Ablauf aller seelischen 
Vorgänge, zurückzuführen gestatten. Also gerade die Einheit oder 
Einheitlichkeit der gesamten Seelenvorgänge und zwar in einer ganz 
bestimmten Weise und Richtung wird experimentell erhärtet, die 
Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen in ihrem Zusammenhang er- 
kannt und dargestellt; genau das Gegenteil einer atomisierenden, auf 
psychische Elemente ausgehenden Betrachtungsweise ist das Ziel und 
Ergebnis solcher experimentellen Forschung. 

Bei weitem die größte Unklarheit und Verwirrung droht aber 
aus dem Versuch, die geisteswissenschaftliche Methode einer neueren 
»Strukturpsychologie« dem naturwissenschaftlich-analytischen Verfahren 
der Jugendsichtung gegenüberzustellen und beide in ihrer Bedeutung 
für den Pädagogen gegeneinander abwägen zu wollen. Gewiß: man 
kann zwei Hauptrichtungen in der praktischen Psychologie unter- 
scheiden, die man als die »bildschöpferische« der »bildzergliedernden « 
gegenüberstellen kann. Dem Psychologen ist ja der Gegenstand seiner 
Forschung nicht ohne weiteres gegeben, er muß ihn sich erst er- 
schaffen. Der eine Weg zu solcher »Bildschöpfung« ist schon oben 
gekennzeichnet worden, der Weg der »Einfühlung« oder »Erschauung«, 
der intuitive Weg: und wie das psychologische Experiment ihn zu- 
erst vorbereiten, dann späterhin seiner Ergebnisse nachprüfen und 
sichern kann, ist dort bereits ausgeführt. — Neben dem intuitiven 
gibt es nun aber noch einen zweiten Weg der Bildschöpfung, den 
man als den »ideogenen« oder rationalen bezeichnen kann.!) Ein 
glänzendes Beispiel für ihn bietet Spranger in seinen »Lebensformen«. ?) 


1) Vgl. hierzu die nachfolgende schematische Zeichnung, in der auch der hier 
micht erwähnte dritte Weg der Bildschöpfung, der historisch-biographische berück- 
sichtigt ist. 

?) E. Spranger, Lebensformen, 3. Aufl. Halle 1922. 


122 Fürstenheim: 


Spranger selbst bezeichnet seine Methode freilich als »geisteswissen- 
schaftlich auf strukturpsychologischer Grundlage« und leistet damit 
allerdings einem Mißverständnis Vorschub. Denn das Wort »Struktur« 
ist durchaus mehrsinnig und wird heute von ärztlichen Psychologen, 
etwa Birnbaumscher Richtung, den Strukturanalytikern, aber auch von 
den Philosophen z. B. Paul Hofmann-Berlin in seiner grundlegen- 
den »antithetischen Struktur des Bewußtseins«!) in ganz anderem 
Sinne gebraucht. Diese meinen nämlich die organisch -strukturelle 
Seite des Seelenlebens, bei deren Erforschung man von der Struktur 
oder Form der Einzelleistungen zur Struktur von Funktionen und 
Funktionszusammenhängen (Fähigkeiten, Anlagen) fortschreitet, die 
dann endlich in einer biologischen Struktur der Grundlagen des Seelen- 
lebens wurzeln, die einer psychologischen Erforschung gar nicht mehr 
zugänglich ist. — 

Spranger dagegen versteht unter Struktur offenbar das innere 
sinnvolle Gefüge, also den inneren Aufbau irgend welcher einzelnen 
Seeleninhalte oder auch des gesamten Seeleninhalts in seinem dem 
nachlebenden Verständnis zugänglichen, von der Natur des Inhalts 
bestimmten eigenwüchsigen Zusammenhange Hat man sich neben 
dem ersten auch diesen zweiten Sinn des Wortes einmal klar gemacht, 
so versteht man, wie Spranger seine Darlegungen als Struktur- 
psychologie bezeichnen zu können glaubt, bei denen er aus der »Idee« 
eines religiösen, sozialen, ökonomischen Menschen heraus dessen Bild 
entwirft, vielleicht unter Seitenblicken auf wirkliche Lebenserfahrungen, 
auf die Kenntnis dieser oder jener ihm vertrauter Menschen. Diese 
Konstruktion aus der »Idee« oder dem »Sinn« heraus ist aber, was 
man auch sagen möge, keine Wissenschaft im streng induktiven Sinne 
des Worts, ist eine mehr produktive, künstlerische, dichtende Tätigkeit, 
so etwa wie in lebensvollerer, stärker individualisierender Form der 
Dramatiker, der Romanschriftsteller seine Gestalten erschafft. 


Das Mißverständnis wird sofort vermieden, wenn man, wie es 
hier geschehen ist, die intuitive und die ideogene Methode als die 
bildschöpferische oder auch als die »eidoplastische« ?) zusammenfaßt 
und sie der bildzergliedernden gegenüberstellt; die hier gemeinte Zer- 
gliederung geht aber nicht auf »Empfindungen« als die »Seelenatome«, 
sondern auf die Hauptwurzeln des seelischen Geschehens, die »Umwelt« 
oder »Reizlage« und die »Anlage«. Zum Unterschied von der elementar- 


1) P. Hofmann, Antithetische Struktur des Bewußtseins. Berlin G. Reimer, 
1914. 
2) Nach einem dankenswerten Vorschlage von J. Ziehen, Frankfurt a. M. 


Zusammenhang der geisteswisseuschaftl. u. d. naturwissenschaftl. Jugendsichtung. 1:23 


analytischen, also auf seelische Elemente zurückgehenden Zergliederung 
empfiehlt es sich diese auf Vorstadien des seelischen Geschehens ein- 
schließlich der biologischen Grundlagen zielende Methode als die 
aitiologisch-analytische oder kurz als die »aitiolytische« zu bezeichnen. 

Zutreffend ist es, wenn man die eidoplastische Methode als die 
geisteswissenschaftliche der aitolytischen als der naturwissenschaftlichen 
gegenüberstellt.!) Denn in den Schöpfungsmythen der Alten, den 
Weltbildern der Philosophen, den Geschichtsbildern der Historiker 
herrscht in der Tat zunächst die bildschöpferische Methode. — Heute 
aber stehen wir wieder einmal im Begriff, auch auf die Produkte der 
Geisteswissenschaften die Methode der Naturwissenschaften anzuwenden. 
So werden z. B. in der Erkenntniskritik die verschiedenen Systeme 
der Denker (Idealismus, Realismus usw.) auf die antithetische Struktur 
des Bewußtseins zurückgeführt.?) Auch in der Psychologie im engeren 
Sinne vollzieht sich nunmehr ein Gleiches; denn das Verhältnis der 
eidoplastischen zur aitiolytischen Methode ist höchst durchsichtig: 
die eidoplastische stellt der aitiolytischen die Probleme. 
Ein Lehrer hat sich z. B. in der Schule ein Bild von einem Jungen 
zu machen gesucht; es ist ihm aber nicht völlig gelungen, sei es, daß 
ihm nicht klar ist, ob es sich um eine seltsame Veranlagung oder das 
Produkt einer eigenartigen Erziehung handelt, sei es, daß das Bild 
lückenhaft oder widerspruchsvoll ist und sich durch Nacherleben 
schlechterdings nicht verstehen läßt, vielleicht, daß außer- oder vor- 
psychische Kräfte biochemischer oder organisch-struktureller Art den 
sinnvollen Zusammenhang immer wieder zerreißen, also etwa ein krank- 
hafter Einschlag mitspricht. Dann gehört der Fall in die Sichtungsstelle! — 
Auch die eidoplastischen Typen Sprangers bedürfen der Aitiolyse. 
Tatsächlich können innerhalb der verschiedenen Lebensgebiete, die 
Spranger mit seinen Lebensformen erfüllt, die verschiedensten 
organisch-biologischen Strukturen sich betätigen. Und erst die Unter- 
suchung, etwa die biographische, oder geradezu der Versuch lehrt uns 
im Einzelfall, was denn Krupp oder Rothschild zum ökonomischen 
Menschen gemacht hat; welche ganz verschiedenen Arten von Seelen- 
verfassungen eigentlich hinter dem ökonomischen Menschen stecken 
und zu ihm hinneigen. Die Richtung der Seele auf bestimmte Lebens- 
gebiete sagt noch nichts über die Art und Weise, wie sie diese Lebens- 





1) Wo die bildschöpfende Methode im Gebiet der Naturforschung auftritt, ver- 
leibt sie dieser eine Art dichterischer Steigerung. Man denke als Beispiel etwa an 
A. v. Humboldts: »Ansichten der Natur«. 

» P. Hofmann, Die Antinomie im Problem der Gültigkeit. V. W. V. Berlin 
u Leipzig, 1921. 


124 Fürstenheim: 


gebiete erfüllt, wie die eigentliche Lebensleistung denn psychologisch 
zustande kommt, genau so, wie ein und dasselbe Rechenexempel, ein 
und dieselbe Testleistung von verschieden veranlagten Kindern auf 
verschiedene Weise gelöst werden kann und auch tatsächlich gelöst 
wird. — Erst am Schlusse seines Buches wirft Spranger die Frage 
auf nach der Konstanz der Menschen gegenüber seinen Typen. Kann 
etwa ein vorwiegend ökonomisch gerichteter Mensch durch Lebens- 
erfahrung oder irgend welche Umwelteinflüsse zu einem vorwiegend 
religiösen werden? Und ist überhaupt der ökonomische Mensch, der 
er vorher war, ein »erschaffener«, d. h. ein natürlicher geborener Typ 
und nicht vielmehr, mindestens zu einem guten Teil, nur durch Schick- 
sal, Lebenseinflüsse und dergl. geformt worden? An diesem Punkte 
erst rührt das Sprangersche Buch an unser Problem. Spranger 
scheint bisweilen anzunehmen, daß sich Anlage, Schicksal und Unter- 
weisung in der Bildung des Menschen fast unentwirrbar verflechten. 
Hier resignieren hieße aber auf die eigentliche psychologische Erfor- 
schung konkreter Einzelmenschen, Menschengruppen oder menschlicher 
Strömungen (Zeitbilder) völlig Verzicht leisten. Das aber wollen wir 
nicht, wir können es gar nicht und brauchen es auch nicht. Viel- 
mehr setzt hier erst die eigentliche Sichtungsarbeit ein und zeigt 
sich in ihrer ganzen methodologischen und praktischen Fruchtbarkeit. 
Nehmen wir z. B. irgend einen jungen Menschen, der uns vom Be- 
rufsamt geschickt wird und nicht recht weiß, was er werden will. 
Wir würden fehlgehen, wenn wir nur seine Intelligenz und Hand- 
geschicklichkeit erforschen wollten, wir müssen uns auch über 
seinen Gesundheitszustand und Reifegrad, seine wirtschaftlichen und 
Familienverhältnisse klar werden, vor allem aber — über seine 
Willensverfassung. Warum ist dieser junge Mann so unentschlossen ? 
Fehlt es ihm an einer ausgesprochenen Begabungsrichtung, oder steht 
er im Konflikt zwischen äußeren Schwierigkeiten und inneren Neigungen ? 
Ist er vielleicht charakterlich noch unreif, sind seine Lebensziele noch 
unklar und unentwickelt, oder ist etwa seine Willensveranlagung mangel- 
haft, seine Willensstruktur — im engeren biologischen Sinne — un- 
zulänglich? Daher gilt es, zunächst ganz unabhängig von bestimmten 
eigenen Idealen des Jünglings, die Formeigenschaften seines Willens 
zu prüfen, die Ansprechbarkeit, die Richtbarkeit, die Zähigkeit, den 
Rhythmus seiner Willensleistungen nur unter der allgemeinen Ziel- 
setzung eines möglichst günstigen Prüfungsergebnisses Es ist nicht 
zu übersehen, daß die biologischen Willensanlagen in engster Wechsel- 
wirkung mit den geistigen, etwa durch Belehrung vermittelten Willens- 
zielen stehen. Diese Willensziele sind verschieden nach ihrer Höhen- 





Zusammenhang der geisteswissenschaftl. u. d. naturwissenschaftl. Jugendsichtung. 125; 


lage, wie nach ihrer Richtung; sie hängen ab von Bildung und Übung, 
wesentlich aber auch vom Maßverhältnis der Seelenanlagen, vor allem 
son der Begabungshöhe und Richtung, also zweifellos strukturellen, 
organisch-biologischen Dauereigenschaften. Andererseits wirken die 
Willensziele nicht nur richtend, sondern auch spannend, vereinheit- 
lichend, innerhalb gewisser Grenzen auch rhythmusändernd auf den 
Ablauf der Willensleistungen zurück. Das enthebt uns aber niemals 
der Notwendigkeit der Analyse; umgekehrt nötigt es uns geradezu zu 
einer vertieften und geklärten Einsicht in dies Wechselspiel zwischen 
Seeleninhalt und Seelenanlage, weil wir ohne das den Schlüssel zu 
dem uns zunächst verschlossenen Problem der Willensverfassung des. 
Jünglings gar nicht finden, ihn also auch gar nicht zweckentsprechend. 
beraten können. Vielleicht hat ihm bisher nur die rechte Führung 
zefehlt, vielleicht hat ein biologischer Einfluß, eine starke Geschlecht- 
iehkeit ihn bisher gestört und abgezogen; wie können wir ohne genaue- 
tirperlich-seelische Untersuchung des ganzen Menschen ihn nur ver- 
sehen, geschweige denn ihm helfen? 

Die Unterscheidung zwischen dem Seeleninhalt und der Seelenform,. 
dem Inhaltsgefüge und den biologisch-strukturellen Grundlagen, die der 
werdende praktische Psychologe von seiner Untersuchungsarbeit am 
Einzelfall kennen gelernt hat, gibt ihm auch den Schlüssel zum Ver- 
tändnis von seelischen Gruppenerscheinungen, wie sie z. B. dem Lehrer: 
n der Klasse entgegentreten, und wie er sie verstehen muß, um sie 
uestem zu können. Ein und dieselbe seelische Veranlagung läßt je 
wch der Gemeinschaft, in der sich der Einzelne befindet, verschiedene- 
Ilßerungen zu, diese oder jene »Seiten« der Veranlagung der ver- 
xtiedenen Schüler treten hervor und schaffen in einer Klasse eine ge- 
se dispositionelle Grundlage, auf die nun irgend ein Klassenereignis 
übt; etwa ein Neuling von bestimmter Eigenart tritt in die Klasse ein 
der auch irgend ein Lehrer mit gewissen den Kindern auffälligen. 
Fgentümlichkeiten. Alsbald zeigt sich eine mindestens von außen 
ehen einheitliche Art des Klassenverhaltens, ein gewisser Klassen- 
ist der — je nach seiner Art — um ihn zu pflegen oder zu bannen 
‚enfalls verstanden werden, d. h. inhaltlich-historisch, wie strukturell- 
“logisch untersucht werden muß. Die Klassenveranlagung ist tat- 
schlich die Resultante der Einzelveranlagungen in der Klasse, und das- 
Äassenereignis spielt auf dieser Veranlagung wie auf einer Klaviatur, 
zeugt das Klassenerlebnis. Das analytische Verständnis des Zustande- 
immens dieses Klassenerlebnisses hilft zur richtigen Behandlung, die 
ıB. darin bestehen kann und muß, daß ein einziger Junge, der dis- ` 
Fsttionell ungünstig auf die Klasse gewirkt hat, entfernt wird. In 


126 Fürstenheim: 


andern Fällen wieder kann eine ganz bestimmte Stellungnahme des 
Lehrers, eine die Klasse packende Ansprache das Gespenst bannen, 
oder es gilt bestimmte äußere Einflüsse abzuschneiden. Hier sollte 
ja nur gezeigt werden, wie die Auffassung und Meisterung seelischer 
Gesamterscheinungen vom Standpunkt der praktischen Aitiolyse aus 
angegriffen, verstanden und geübt werden kann. 

Daß hiermit auch dem Verständnis historischer Gesamterscheinungen 
aus ihren geschichtlichen, wirtschaftlichen, erdgebundenen Bedingungen 
einschließlich der biologisch-strukturellen, also der Arteigenschaften 
der tragenden Menschenschicht, vorgearbeitet wird, liegt auf der Hand. 
Wohl ist in dieser Höhenlage und zumal den Völkern der Vergangen- 
heit gegenüber eine experimentelle Forschung nicht mehr möglich. 
Um so wichtiger wird als Forschungsgrundsatz und Fragestellung die 
hier entwickelte und betonte methodologische Unterscheidung, die 
gegenseitige Bedingtheit von Schicksal und Artbeschaffenheit der Völker. 
Irgend ein geschichtsloses Volk produziere in einer unberührten Natur 
eine Kulturphase A. Schon die nächste Generation des Volkes ent- 
wickelt dann unter dem Einfluß dieser Kulturphase und zunächst wohl 
vielfach im Gegensatz zu ihr die Kulturphase B und so fort. Grund- 
legende strukturelle Eigentümlichkeiten des Volkes müssen sich schließ- 
lich in den verschiedenen Kulturphasen aussprechen, allmählich als 
solche erkannt und bewußt gepflegt werden (Tradition). Andererseits 
wirkt wieder der sich so entfaltende Kulturinhalt auf das tragende 
Volk zurück, begünstigt bestimmte Typen und drängt andere zurück, 
so daß allmählich auch die organisch-strukturellen Grundlagen im Volke 
durch Änderung des Mengenverhältnisses der Typen sich verschieben: 
geistig beweglichere Typen steigen z. B. auf, andere sinken ab, jener 
Vorgang, der uns die »Geschichte als Umschichtung«e erkennen und 
verstehen lehrt. — Das Wechselspiel mit anderen gleichzeitig leben- 
den Völkern kommt hinzu und gestaltet die Aufgabe noch reizvoller, 
aber auch schwieriger. Das darf uns jedoch mindestens da nicht ent- 
mutigen, wo die Zeugnisse der Vergangenheit so reichlich fließen, daß 
sich aus ihnen zunächst wirklich ein Bild, eine künstlerisch-intuitive 
Zusammenschau als Grundlage der Analyse gewinnen läßt. — Frucht- 
bar ist unter allen Umständen der Gedanke, daß in die Kulturäußerungen 
eines Volkes seine organisch-strukturelle Eigenart mit eingeht, ebenso 
wie gewisse allen Völkern gemeinsame Entwicklungsgesetzlichkeiten 
offenbar in allgemeinen organischen Struktureigenschaften der Menschen 
wurzeln müssen. Zu warnen ist freilich vor jenen bekannten vor- 
‘ schnellen Verallgemeinerungen, die — auf Grund ungenauer Vor- 
arbeiten und unzulänglicher Kenntnisse der wirklichen Begebenheiten, 


Zusammenhang der geisteswissenschaftl u. d. naturwissenschaftl. Jugendsichtung. 127 


Zustände und Zusammenhänge — oberflächliche Ähnlichkeiten zu 
historisch-morphologischen »Homologien«, also Parallelentwicklungen 
und Gleichsetzungen aufbauschen, um sie dann womöglich im Sinne 
struktureller Übereinstimmungen in der Anlage der Menschen zu deuten. 
Es ist eben keine Methode so gut, daß sie nicht mißbraucht werden könnte. 

In unserer hochentwickelten Wissenschaft wird sich, je nach der 
Veranlagung der Forscher, jeweils eine gewisse Arbeitsteilung not- 
wendigerweise herausbilden. Aber es ist nicht der geringste Vorzug 
unserer Zeit, daß sie bei aller sorgsamen Pflege der Fachwissenschaften 
doch wieder stärker das Bedürfnis nach der universitas literarum emp- 
findet, daß sie dem einheitlichen Zusammenhang und dem Aufeinander- 
angewiesensein der einzelnen Forschungsrichtungen huldigt. So sollte 
denn auch hier in erster Linie die enge Verflochtenheit der beiden 
Hauptforschungsrichtungen in der Psychologie, der geisteswissenschaft- 
lichen wie der naturwissenschaftlichen, aufgezeigt werden. In der 
praktischen Sichtungsarbeit ist eine Trennung überhaupt nicht möglich 
und würde zu den größten Schiefheiten und Halbheiten führen. — 

Wenn man als Freund begrifflicher Abgrenzungen und aus prinzi- 
piellen Gründen in Zukunft sagen will: Jugendsichtung ist die 
Aitiolyse des Kindes- und Jugendalters; wenn man ihr eine 
eidoplastische pädagogische Jugendkunde gegenüberstellen will, so mag 
man das tun: aber man bleibe sich klar darüber, daß man damit nur 
eine, wenn auch sehr wesentliche Seite der Jugendsichtung gekenn- 
zeichnet hat. Diese — die Jugendsichtung — muß schon aus äußeren 
Gründen, d. h., weil ihr einstweilen nur in seltenen Fällen deut- 
liche Kinderseelenbilder zur Analyse überliefert werden, sich solche 
meistens erst selbst aus oft dürftigen Daten auferbauen. — Man möge 
nicht übersehen, daß beide Seiten der Jugendkunde erst ein Ganzes 
ausmachen und endlich, daß, wie die pädagogische Jugendkunde un- 
mittelbar das aitiolytische Bedürfnis weckt, so auch die experimentelle 
und analytische Arbeit im Laboratorium zur aufbauenden, seelen- 
architektonischen Tätigkeit des Jugendbildners aufs Beste anleitet. — 
Auch dagegen ist natürlich nicht viel einzuwenden, wenn man das 
Wort »Strukturpsychologie« künftig allgemeiner verwenden will, als 
es hier geschehen ist; wenn man die »Strukturpsychologie« der 
»Elementarpsychologie« gegenüberstellt und innerhalb der Struktur- 
psychologie die synthetische und die analytische Richtung sondert, 
klarer aber werden die Verhältnisse dadurch nicht.!) 





') Im Gegenteil, die Verwechslung des Eidos mit der Struktur, des »Sinn- 
gefüges: mit den organisch-strukturellen Grundlagen, dem »Aıtgefüge« wird fast 
unvermeidlich. — 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 9 


128 Fürstenheim: 


i Die analytische Richtung wird jedenfalls stets »bipolar« sein, d. h. 
sie wird sich dem Seeleninhalt, wie der Seelenform zuwenden müssen. 
Bei der Erforschung des Seeleninhalts, des seelischen Sinngefüges, 
wird sie dieses immer wieder als »reizbestimmt« und als »artbestimmt« 
zu erkennen sich bemühen, entsprechend der Grundunterscheidung 
aller Selbstbeobachtung, nach welcher nur ein Teil unseres Seelen- 
inhaltes und seiner Ordnung vom »Ich« abhängt, der andere also 
— vom »Nichtich«. Wurzelt doch wesentlich in diesem Grunderlebnis 
die Annahme einer Außenwelt. — Aber auch die Seelenform ist, wie 
wir sahen, sinnbestimmt, logisch-inhaltlich bestimmt und artbestimmt, 
z. B. die Willensform durch Willensziele und Willensveranlagung. !) 


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Daher wird die Erforschung der Seelenform immer wieder die engen 
gesetzmäßigen Beziehungen und Ähnlichkeiten zur Körperform auf- 
decken. Denn Körperform und Seelenform, soweit diese nicht sinn- 
bestimmt ist, sind ja beides Darstellungsformen ein und desselben mit 
sich identischen objektiven Ichs, eben der >Art«. So führt die aitio- 





1) Die obige schematische Übersicht bietet diese Verhältnisse in klarer und 
einprägsamer Weise. Psychoanalyse ist die Rückwärtsaufrollung des Erlebnis- 
films, wie sie vor allem die Freudsche Schule benutzt; Elementaranalyse heißt die 
theoretische Auflösung der seelischen Handlung (unabhängig von ihrem speziellen 
Inhalt) bis in ibre letzten seelischen Elemente, die Empfindungen. — Im Gebiete der 
Eidoplasie oder Bildschöpfung ist es die Intuition, die das Individuum aus seinen 
Erscheinungen, seinen Äußerungen mehr errät; die ideogene oder rationale Methode 
dagegen erfindet es eigentlich bezw. konstruiert es aus einer mehr allgemeinen ab- 
straktiven Idee heraus. Eine Zusammenfassung der beiden aitiolytischen Wurzeln 
des seelischen Lebens bietet endlich die historisch-biographische Methode. Sie stellt 
das Einzel- oder Gruppenwesen in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit, seiner 
räumlich-zeitlichen Verflochtenheit dar und läßt das Dauernde im Wechsel der Er- 
scheinungen sowohl des Einzellebens, wie auch des Lebens der Familie. des Stammes, 
kurz die »Art« erst nach und nach herausleuchten. Vgl. auch Rickert, Die Grenzen 
der naturwissenschaftl. Begriffsbildung. lI. Auflage. Tübingen. J. C. B. Mohr, 1913. 


Zusammenhang der geisteswissenschaft]. u. d. naturwissenschaftl. Jugendsichtung. 129 


lytische Jugendsichtung unmittelbar auf die spezielle psychische und 
physische Anthropologie, die Artkunde des Kindes- und Jugendalters.!) 

Für die soziale Fürsorge ist die Kenntnis der Art als des Dauernden 
im Wechsel der psychischen Erscheinungen von grundlegender, weil 
wegweisender Bedeutung. Ob ein Kind dauernd in Anstaltspflege ge- 
hört und dann in welche Art von Anstalt, ob es noch in der eignen 
Familie bleiben kann oder, wie etwa in großem Zügen die artgemäße 
Pflegefamilie aussehen muß, welches die Hauptschwierigkeiten und 
Hauptkunstgriffe in der artgemäßen Erziehung sein müssen, läßt sich 
aus der Art des Kindes oft ohne weiteres ableiten. 

Für den Lehrer ist mit der Kenntnis der Art des Kindes freilich 
erst ein Ausgangspunkt gegeben; allerdings ein so bedeutsamer, daß 
man seine Kenntnis neben derjenigen des Lehrgutes entsprechend 
pflegen und seine Berücksichtigung im Lehr- und Erziehungsverfahren 
bei der Ausbildung des pädagogischen Nachwuchses vielleicht noch 
mehr, als es bisher schon geschieht, üben sollte Der in der Praxis 
stehende Pädagoge möge über diese Forderung nicht erschrecken. Ihm 
selbst wird aitiolytische Arbeit im allgemeinen gar nicht zugemütet, 
Es sollte oben an dem Beispiel mit der Schulklasse nur die Betrachtungs- 
art der Aitiolyse solchen Gruppenerscheinungen gegenüber erläutert, 
die möglichst genaue Kenntnis der Kinderwelt als Voraussetzung zu 
ihrer richtigen Behandlung betont werden. Für den Praktiker genügt 
es zu wissen, daß es so etwas wie Jugendsichtung überhaupt gibt, 
und daß er hier eine Einrichtung hat, die ihm bei der Klärung unter- 
richtlicher und erzieherischer Schwierigkeiten, soweit sie in der Person 
des Kindes wurzeln, gern zur Seite steht. Er wird aber die Auskünfte 
der Sichtungsstätte um so besser würdigen und ausnutzen können, 
wenn er an ihrer Erarbeitung selbst wenigstens eine Weile tätig mit- 
gewirkt hat. — Überdies bietet sich hier eine neue Gelegenheit 
Forderungen, wie sie für die Schule längst erhoben und auch schon 
weitgehend durchgeführt sind, nämlich nach selbsttätiger Erarbeitung 
des Geistigen, hier insbesondere des psychologischen Erkenntnisinhalts, 
auch für die Lehrerbildung zu verwirklichen. 

Das Vortragen und Anhören philosophischer und historischer 
Lehrmeinungen mag ruhig beibehalten werden; aber man möge auch 
noch in ganz anderem Ausmaß, als es bisher geschieht, dafür sorgen, 
daß solchen allgemeinen Darlegungen von unten her entgegengearbeitet 
wird durch methodische Untersuchung am Konkreten und Einzelnen, 
womit am sichersten einem innerlichen und tiefen, verständnisvollen, 


!) Streng genommen sind »Arten« nur erbbeständige Anlagestrukturen. — 
g> 


130 Fürstenheim: Zusammenhang d. geisteswissenschaftl. u. d. naturwissenschaftl. usw. 


unter Umständen aber auch kritischen Nacherleben jener vorgetragenen 
geistigen Zusammenhänge gedient wird. In einer Zeit, in der wieder 
einmal das Hegelsche Gespenst des objektiven Geistes umgeht, in 
der Spekulation und Mystik blüht und sich immer wieder das Chaos 
erheben will, gilt es erst recht, die kleine Insel des sicher Bekannten 
zu verteidigen und durch methodische, vorsichtig bescheidene, aber 
um so sicherer voranschreitende Einzelarbeit allmählich zu erweitern. 


Zusammenfassung. 


1. Das Modeschlagwort »Struktur« ist mehrdeutig. In Zukunft 
ist scharf zu unterscheiden zwischen dem Sinngefüge oder der Inhalts- 
struktur und dem Artgefüge oder der Anlagenstruktur. Nur für diese 
sollte das Wort »Struktur« künftig verwendet werden. 

2. Zur vollständigen Kenntnis des Menschen gehört die Kenntnis 
seines Seeleninhaltes wie diejenige seiner körperlich-seelischen Ver- 
anlagung. — Die Gewinnung eines vollständigen körperlich-seelischen 
Erscheinungsbildes heiße Eidoplasie. (Bildschöpfung; beschreibende 
Jugendkunde.) 

3. Die Untersuchung der Entstehung solchen Gesamtbildes aus 
Anlage und Umwelt, besonders mit dem Ziel der Herausschälung der 
Veranlagung, heiße Aitiolyse. (Bilddeutung; erklärende Jugendkunde, 
Jugendsichtung im engeren Sinne. 

4. Grundsätzlich gilt diese Betrachtungsart nicht nur für Einzel- 
wesen, sondern auch für das räumliche Nebeneinander von Gruppen, 
wie für das zeitliche Nacheinander von Folgen oder Phasen. — 

5. Hinter ähnlichen Gesamtleistungen, besonders unter ähnlich- 
artigen äußeren Verhältnissen, können sich ganz verschiedenartige 
Veranlagungen verbergen; ähnliche Veranlagungen können unter ver- 
schiedenen Verhältnissen zu verschiedenartigen Gesamtbildern und Ge- 
samtleistungen führen. 

6. Es besteht Wechselwirkung zwischen Seeleninhalt und Seelen- 
anlage. Die Seelenanlage wirkt strukturierend auf den Seeleninhalt 
ein, der Seeleninhalt formend auf die Seelenanlage zurück. 

7. Diese Umformung erstreckt sich zunächst nur. d. h. im Einzel- 
leben, auf einzelne Seelenanlagen. Ihr Beziehungsgesetz, eben die 
Struktur, ändert sich nicht, sie regelt vielmehr als ein Umwandlungs- 
oder Entwicklungsgesetz die Veränderungen des körperlich-seelischen 
Erscheinungsbildes unter umformenden äußeren Einflüssen. — Sie 
heißt in allgemeinster Form auch die »Konstitution« des Organismus. !) 


u vgl. Fürstenheim, Ärztliche Fürsorge für schwererziehbare Kinder. Vortr. 
im soz. Seminar z. Berlin. Leipzig, Verlag des L.-V. 1910, S. 73. 


Zum 100 jährigen Bestehen der Landeserziehungsanstalt 
Bräunsdorf. 


Von 
Schuldirektor Hesselbarth, beauftragt mit der Leitung der Landeserziehungsänstalt. 


Am 5. März 1924 vollendsten sich 100 Jahre sozialer Arbeit 
in der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf. In Rücksicht darauf, daß 
die Landeserziehungsanstalt eine der größten und ältesten Fürsorge- 
etziehungsanstalten Deutschlands ist, und im Hinblick darauf, daß sie 
ihre Jubelfeier begeht in einer Zeit des rücksichtslusesten Abbaues 
aller kulturellen und sozialen Institutionen, erscheint es berechtigt, 
ihren Werdegang sowie die in ihr verwirklichten Erziehungsgrund- 
lagen und Tendenzen in kurzem Rückblick zu würdigen. 


I. Geschichtliches. 


Zufolge des Wiener Kongresses verlor Sachsen 1815 die Waisen- 
anstalt zu Langendorf bei Weißenfels. Es ergab sich die Notwendig- 
keit, dem Leipziger-, Erzgebirgischen- und Vogtländischen Kreis eine 
neue Unterbringungsstätte zu eröffnen. Zu diesem Zwecke wurde 
das Rittergut Bräunsdorf bei Freiberg erworben und der veränderten 
Bestimmung unter geringem Kostenaufwand angepaßt. Am 5. März 
1824 erfolgte unter dem Vorsitz des Konferenzministers von Nostitz 
und Jänckendorf im Beisein geladener Gäste und des Hauspersonals 
die feierliche Übergabe. Am gleichen Tage wurden zur Erinnerung 
4 junge Linden, die noch heute grünen, im Anstaltsgarten angepflanzt. 
Die einleitenden Worte des Eröffnungsprotokolls lauten: »Da es 
mit der Einrichtung der von Er. Königl. wegen der 
allgemeinen Straf- und Versorgungsanstalten ver- 
ordneten hohen Commision auf dem der Armenhaus 
Hauptkasse zugehörigen Ritterguthe Bräunsdorf neu 
begründeten Landes Waisen Anstalt so weit ge- 
diehen, daß deren Eröffnung nunmehr erfolgen 
können, so zwar, um Letziere desto feierlicher und 
denkwürdiger zu machen, der heutige Tag als der 


132 Hesselbarth: 


Namenstag des allerdurchlauchtigsten Fürsten und 
Herrn Friedrich August, Königs von Sachsen etc. 
etc. etc. unsers allergnädigsten Herrn, hierzu fest- 
gesetzt worden.«e In die Anstalt, die unter der Leitung des 
Magisters Kaupisch stand, hielten am gleichen Tage 13 Waisen 
(8 Knaben und 5 Mädchen) ihren Einzug. Sie bot Raum für 
120 Waisen. Außerdem gehörte zur Anstalt eine 1722 vom Magister 
Romanus Teller errichtete Kapelle, die er aus dem Anlaß, daß der 
»irdische Bergsegen« erlusch, den Ortseinwohnern gestiftet hatte. Im 
Erdgeschoß derselben befand sich eine »deutsche Schule«. Unter 
der Führung des Magisters Kaupisch nahm die Entwicklung der 
Landeswaisenanstalt einen günstigen Verlauf und versorgte später 
gegen 80 Insassen. 

Im Jahre 1832 erfuhr die Landeswaisenanstalt ihre erste Um- 
stellung. Auf Grund einer Besichtigung »der wegen der allgemeinen 
Straf- und Versorganstalten verordneten Komnission«, die damals 
unter dem Vorsitz des Staatsministerss von Lindenau stand, wurde 
bestimmt, daß die Anstalt ausschließlich auf die Erziehung verwilderter 
Kinder, die »zur Beförderung der öffentlichen Sicherheit« verwahrt 
werden müßten, umzustellen sei. Soweit angängig, wurden die vor- 
handenen Waisen in Familienpflege beurlaubt. Die Anstalt nahm 
nun die Entwicklung zur Korrektionsanstalt für Kinder. Um 
beiden Gesichtspunkten in disziplineller Hinsicht Rechnung zu tragen, 
wurden 4 Erziehungsklassen, die unterschiedlich waren hinsichtlich 
der Versorgung, Kleidung und Erziehung, eingerichtet: die Mittel- 
und Ehrenklasse für die Waisen und die Korrektions- und Zuchtklasse 
für die Korrektionäre. Um das Jahr 1840 waren die letzten Waisen 
anderweit untergebracht. Nach Einführung des sächsischen Kriminal- 
Besetzes (1838) enthielt die Anstalt fürderhin 2 Klassen Zöglinge: 
solche, die zur Verbüßung einer bestimmten Strafzeit »vom Landes- 
Justiz-Kollegio« eingeliefert waren und solche, welche die »Landes- 
direktion«e auf unbestimmte Zeit unterbrachte. Die Zöglinge der 
Zuchtklasse wurden äußerst streng gehalten und in bezug auf Er- 
nährung und Kleidung nur auf das notwendigste versorgt. Die 
Beamten führten die Amtsbezeichnung »Zuchtmeister« und trugen 
Uniformen. 1838 trat unter Ernennung zum Hauptmann der Ober- 
leutnant Hennig als Direktor an die Spitze der Anstalt. Unter 
seiner Leitung kam der Bau des jetzigen Hauptgebäudes der Anstalt 
(1841—1842) zur Ausführung (250 Plätze), welches am 16. März 1853 
teilweise abbrannte. Nach der Vollendung des Hauptgebäudes konnte 
das Staatsgut seinem ursprünglichen landwirtschaftlichen Zweck zurück- 


Zum 100jährigen Bestehen der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf. 133 


gegeben werden. Im Jahre 1843 übernahm in der obengenannten 
Kommission Geheimrat Dr. Schaarschmidt den Vorsitz. Nach voran- 
gegangener Revision der Anstalt versuchte er, etwas mehr dem eigent- 
lichen Erziehungszweck, der Förderung sittlich-religiöser Bildung, 
Geltung zu verschaffen. Zu einer durchgreifenden Änderung kam 
es jedoch erst im Jahre 1850, nachdem die neue sächsische Armen- 
ordnung in Kraft getreten war und die Bestrebungen Wicherns auch 
auf die übrige soziale Gesetzgebung Sachsens fördernden Einfluß 
ausübten. 

Mit dem 9. September 1850 begann für die Entwicklung der 
Anstalt der 3. Abschnitt. Zufolge einer Verordnung des Ministeriums 
des Innern, das die Kompetenzen der früheren Kommission über- 
nommen hatte, wurde die Korrektionsanstalt fortab als Erziehungs- 
und Besserungsanstalt bezeichnet. Sie wurde bestimmt zur Auf- 
nahme von Kindern, welche 

l. wegen eines Verbrechens verurteilt, aber im Wege der Be- 
gnadigung ihr zugeführt wurden, 

2. wegen entwickelter verbrecherischer Neigung die öffentliche 
Ordnung gefährdeten und bei denen die zu Gebote stehenden 
Erziehungsmittel versagt haben, 

3. welche zwecks strengerer Erziehung auf Antrag von Gemeinden, 
Eltern oder Vormündern zugeführt werden. 

Die Bestimmung unter 3. wurde ergänzt durch das im Jahre 
1865 in Kraft getretene B. G. B., durch $ 5 des Volksschulgesetzes 
von 1873. Zweck und Aufgaben der Anstalt wurden wesentlich er- 
höht und erweitert dadurch, daß die Grenze der Strafmündigkeit, die 
das sächsische Strafgesetzbuch von 1855 auf 14 Jahre festgesetzt 
hatte, durch das Reichsstrafgesetzbuch auf 12 Jahre abgemindert wurde. 
Zufolge der damit bedingten höheren Zahl der Straffälligen, nahm die 
Belegzahl der Anstalt bedeutend zu. Dem veränderten Zwecke wurde 
Rechnung getragen durch Abberufung des Hauptmanns Hennig. Er 
wurde ersetzt durch Pastor Schweingel (1350), einem Schüler 
Wicherns. Die Versorgung der Zöglinge wurde besser und die Er- 
ziehung und ihre Mittel in mildere Bahnen übergeführt. Ein Versuch, 
»Aufseher« im »Rauhen Hause« vorbilden zu lassen, schlug fehl, so 
daß die Direktion sich zumeist gedienter Unteroffiziere oder Männer 
obne bestimmte Vorbildung. aus dem Volke bediente, die Neigung und 
Eignung nach kurzer Probezeit bewiesen hatten. Direktor Schweingel 
übernahm 1869 das Pfarramt zu Kolıren und wurde abgelöst durch 
Pastor Burkhardt, der im gleichen Jahre starb. Sein Nachfolger, 
Pastor Giesemann (bis 1885), richtete sein Augenmerk vor allem 


134 Hesselbarth: 


auf die Ausbildung des Personals. Allerdings wurde unter ihm auf 
Drängen der Aufseher hin die vom Direktor Schweingel abgeschaffte 
Uniform, die mit dem Gedanken und inneren Zusammenhange jeg- 
lichen Erziehungswerkes nicht recht vereinbar ist. im Jahre 1870 
wieder eingeführt. In den Jahren 1885—91 stand die Anstalt unter 
der Leitung des Pastors Bässler. Im Jahre 1839 wurden 94 Zöglinge 
der Anstalt Großhennersdorf nach Bräunsdorf überführt, da Groß- 
hennersdorf der Unterbringung Schwachsinniger dienen sollte. 


Der jüngsten Abschnitt in der Entwicklung Bräunsdorfs um- 
grenzen die Jahre 1891—1923. Der bereits innerlich teilweise voll- 
zogen gewesenen Trennung der Besserungsanstalten von den Straf- 
anstalten folgte eine äußere im Staatshaushaltsplan. Erstere wurden 
aus dem Verband der Strafanstalten gelöst und mit den Anstalten für 
Blinde und Schwachsinnige als besondere Gruppe »Erziehungs- 
anstalten« geführt. Die Landesanstalt erhielt die Bezeichnung 
»‚Erziehungsanstalt für sittlich gefährdete Kinder«. Inner- 
halb dieses Zeitraumes lag die Amtszeit der Direktoren Müller 
(1891—1905) und Böttcher (1905—1923), die ebenfalls Theologen 
waren. Während der Tätigkeit des ersteren war für die Landes- 
erziehungsanstalt von besonderer Bedeutung die Errichtung der 
Pflegerhäuser Hochweitzschen und Hubertusburg, in denen das Personal 
aller Landesanstalten in Lehrkursen als Pfleger vorgebildet wurde. 
Die Aufseher in Uniform wurden abgelöst durch den Pfleger in blauer 
Joppe und gleichfarbiger Mütze mit Kokarde. Die Erziehungsarbeit 
in der Landesanstalt unter der Direktion Böttcher stand im Brenn- 
punkt des sächsischen Gesetzes über die Fürsorgeerziehung (1909). 
Die Auswirkung dieses Gesetzes, sowie das erwachende starke Inter- 
esse der Öffentlichkeit am Kinde überhaupt, hatte nicht nur zur Folge, 
daß versucht wurde, die Grundlage und Methoden der Anstalts- 
erziehung psychologisch-pädagogisch zu durchdringen, sondern es er- 
folgte auch ein großzügiger Um- und Ausbau der Anstaltseinrichtungen 
und Neubau zweckmäßiger Gebäude. Im Jahre 1917 wurde vorüber- 
gehend eine Zweigstation von 120 Burschen im Schloß Sachsenburg 
errichtet. 


ll. Gebäude und Einrichtungen. 


Die Landeserziehungsanstalt bietet zurzeit Raum für 425 Zög- 
linge beiderlei Geschlechts. Es sind nach erfolgtem Personal- 
abbau in ihr tätig 85 Beamte und Arbeiter. An Gebäuden und Ein- 
richtungen sind vorhanden: das Hauptgebäude (Wohn- und Schlaf- 
räume für schulpflichtige männliche Zöglinge — Schneiderwerkstätten 


Zum 100jährigen Bestehen der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf. 135. 


— Verwaltungsräume — umgebaut 1914—16). das Mädchenhaus 
(Wohn- und Schlafräume für sämtliche schulpflichtige und schul- 
entlassene weibliche Zöglinge — Schwesternheim — erbaut 1910), 
das Burschenhaus (Wohn- und Schlafräume für schulentlassene 
männliche Zöglinge — Pflegerheim erbaut 1913), die psychiatrische 
Station (untergebracht im Mädchenhaus und im ehemaligen Gerichts- 
gebäude — errichtet 1924), das Wirtschaftsgebäude (Anstaltsküche 
— Strohflechterei — Buchbinderei — Holzspalterei — erbaut 1911), 
dieSchule (10 Lehrkräfte — 13 Unterrichtszimmer — Schulwerkstätte 
— erbaut 1910), die Kapelle (erbaut 1722), das Nebengebäude 
(Schuhmacherwerkstätten — Korbflechterei), die Turnhalle, das 
Krankenhaus, die Wäscherei, die Wasserturbinenstation im 
Striegistal (Licht-, Kraft-, Wasserbeschaffung), 8 Beamten- und 


Arbeitswohnhäuser, das Staatsgut (160 ha Feld, 110 ha Wiese 
und Wald). 


ill. Grundlagen und Tendenzen der Erziehungsarbeit. 


Die aufgeführten 4 Entwicklungsstufen der Landeserziehungs- 
anstalt sind mehr oder weniger gekennzeichnet dureh bestimmte 
erziehliche Grundlagen und durch besondere Einstellung 
der Leitung und des Personals den Zöglingen gegenüber. 
Während des 1. Abschnitts (1824—1832) war die leibliche und 
geistige Versorgung der Zöglinge, da unter den Waisen erziehlich 
schwierige Elemente und moralisch minderwertige Kinder anscheinend 
nieht vorhanden gewesen sind, sehr gut. War es doch sogar möglich, 
dem Waisenhaus ein Pensionat für unbescholtene Knaben 
aus gutsituierten Familien anzuschließen. 

Anders gestalteten sich die erziehlichen Verhältnisse im 2. Ab- 
schnitt der Entwicklung (1832—1850). Nachdem die letzten Waisen 
fortgezogen waren und die Anstalt voll und ganz den Charakter der 
Korrektionsanstalt angenommen hatte, hörte man auf, eine pädagogische 
Einstellung zu wahren. Es herrschte der Grundsatz: Vergeltung 
zu üben und Sühne zu fordern; denn nach der öffentlichen 
Meinung wurden »die jungen Verbrecher und verwilderten Subjekte« 
beherbergt, welche die Anwendung entsprechender Maßnahmen er- 
beischten. Mit Mauern und Zäunen wurde die Anstalt umfriedigt. 
Der korrektionelle Jugendliche erhielt nur das zur Existenz Unerläß- 
lichste an Kleidung und Beköstigung (fleischlose Kost, keine Butter). 
Vergehen wurden durch die Zuchtmeister streng geahndet (harte 
Arbeit und strengste körperliche Strafen). Der erklärlich wachsenden 
Neigung zu Entweichungen wurde vorgebeugt (Anlegen von Beineisen 


136 -= Hesselbarth: 


— Erteilung des »Willkomms«s bei der Wiedereinlieferung).. Das 
Kriegsministerium stellte sogar eine Kanone auf, aus der beim 
Entweichen jedes Zöglings 2 Schüsse gelöst wurden. 

Einen Lichtblick bildete daher in pädagogischer Be- 
ziehnung die 3. Entwioklungsstufe Bräunsdorf (1850—1891). Die 
Umwälzung auf dem Gebiete der Menschheitserziehung sowohl hinsicht- 
lich der Zielsetzung als auch der Methoden (Erziehung zur Humanität 
— Auswirkung der Pädagogik Pestaluzzis-Herbarts — auf dem Gebiete 
der sozialen Erziehungsarbeit Wicherns) brachten es mit sich, daß auch 
in der Landesanstalt menschenwürdigere Erziehungsmaßnahmen mehr 
und mehr angebahnt wurden. Kanone, Beineisen usw. wurden der 
Historie überlassen. Die eingelieferten Mädchen beraubte man nicht 
mehr des Haares. Die Anstaltsleitung und die Aufseher, die an Stelle 
der Zuchtmeister getreten waren, betrachteten die Zöglinge nicht mehr 
als junge Verbrecher, sondern als entwicklungs-, bildungs- und er- 
ziehungsfähige Kinder. 

Im 4. und letzten Abschnitt der 100jährigen Entwicklung erfuhr 
die Einstellung der Anstaltserziehung eine bedeutsame Vertiefung. 
Es gelangte neben planmäßigem Unterricht eine gesunde päd- 
agogische Arbeitserziehung zur Durchführung. In stetigem Fort- 
schritt fühlte und erkannte man, daß die äußere und auch innere 
Verwahrlosung des Jugendlichen nicht in erster Linie dessen 
eigenes Verschulden ist, sondern eine Komponente, gebildet aus 
einer Anzahl Faktoren, die außerhalb der Willenshandlung 
des Zöglings liegen und diese zumeist bedingen (Milieu, Ver- 
erbung, Degeneration, Demenz, psychopathische Erscheinungen usw.): 
Diese Tatsache, die theoretisch und praktisch vor allem in den letzten 
beiden Jahrzehnten erhärtet wurde, hatte im Gefolge, daß man den 
irrenden und fehlenden Fürsorgezögling in hohem Grade als einen 
Psychopathen betrachtete. Dies brachte es ferner mit sich, daß 
Anstaltsleitung, Schule und Pfleger versuchten, in psychologisch und 
pädagogisch begründeter Methode dem Zögling gerecht zu werden. 

Mit der Wende des Jahrhunderts steht die Landeserziehungs- 
anstalt für sittlich gefährdete Kinder vor einer neuen Phase 
ihrer Entwicklung. 2 sozial-politische Gesetze drücken 
der künftigen Arbeit den Stempel auf: das am 1. April 1924 in Kraft 
tretende Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt, ergänzt durch 
das sächsische Wohlfahrtspflegegesetz. Wenn auch feststeht, 
daß segensreiche Arbeit im verflossenen Jahrhundert, insbesondere in 
den letzten beiden Jahrzehnten in hohem Maße geleistet worden ist, 
so soll dies nicht zum Stillstand verleiten, sondern einen Ansporn 


Zum 100jährigen Bestehen der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorff. 137 


dazu bedeuten, daß die im Sinne dieser beiden Gesetze bereits be- 
gonnenen Reformen rüstig weiter gefördert werden. Worin 
bestehen diese? Beseitigung jeglichen militärischen Drills und 
aller dominierenden religiösen Tendenzen — Erziehungsarbeit nach 
dem Gesichtspunkte praktischer heilpädagogisch -psychopathologischer 
Erfassung des Zöglings auf wissenschaftlicher Grundlage — Heran- 
ziehung der Anstaltslehrer zur fachpädagogischen Mitarbeit als Führer 
einer Abteilung — grundsätzliche Reform der Ausbildungskurse im 
Pfleger- und Schwesternhaus -— fachliche Ertüchtigung der Pfleger 
und Schwestern durch Veranstaltung eigener Kurse in den wichtigsten 
Disziplinen der Heilpädagogik — Ausbau der errichteten psychiatrisch- 
pädagogischen Beobachtungsstation — Durchführung einer nach päd- 
agogischen Grundsätzen aufgebauten Straforduung — Ausbau der 
Zöglingsunterhaltungsabende (Theater, Lichtbilder, Gesangs-, Konzert- 
vorträge) — Gewinnung des Interesses der Angehörigen des Zöglings 
sowie der Öffentlichkeit zum Zwecke vertrauensvoller Mitarbeit am 
mühevollen Erziehungswerke. 

Die kalten, lebenerstickenden Mauern der Anstalt sind im Ver- 
fallen. Nun ströme Licht und Luft herein und durchdringe 
die Arbeit des neuen Jahrhunderts mit lebendigem Geiste zum Segen 
der kommenden Generationen! 


Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichts- 
anstalt. 


Von 
Hilfsschullehrer Karl Bartsch, Leipzig. 


Auf meinen Artikel hin: Die Hilfsschule, eine heilpädagogische 
Anstalt, 28. Band, Heft 2 der Zeitschrift für Kinderforschung, Verlag 
_ Springer-Berlin, sind mir verschiedene schriftliche Zustimmungen zu- 
gegangen. Darin wurde u. a. darauf hingewiesen, daß eine Änderung 
des Schulgesetzes nötig sei, daß ein ausführlicher Plan für die Unter- 
stufe erwünscht wäre und daß endlich eine Zuteilung der Kinder in 
den A- und B-Zug der Oberklassen wohl Schwierigkeiten bereiten 
könnte, zum wenigsten nicht leicht sei. 

Meiner Ausführung liegt das sächsische Übergangsgesetz für das 
Volksschulwesen vom 22. Juli 1919 zugrunde In ihm findet das 
Hilfsschulwesen nicht die Beachtung, nicht das Verständnis, das es 
braucht und verdient, wenn es sich in rechter Weise auswirken und 
entwickeln will. 

Die heilpädagogische Unterrichtsanstalt darf nicht mit dem all- 
gemeinen Gesetze für das Volksschulwesen verquickt und darin in 
wenigen angehängten Sätzen abgetan werden. Wir bedürfen eines 
besonderen Gesetzes für die heilpädagogische Unterrichtsanstalt. Genau 
so, wie man erklärt hat, das allgemeine Übergangsschulgesetz hat für 
Taubstummenanstalten keine Gültigkeit, für sie werden besondere Be- 
stimmungen erlassen, genau so muß man mit der heilpädagogischen 
Unterrichtsanstalt verfahren. Daß man auch die heilpädagogische Er- 
ziehungsanstalt nicht vergessen darf, ist selbstverständlich. Ihr hat 
man bisher gar keine Beachtung geschenkt. Bei Durchführung des 
Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes wird man aber je länger je mehr und 
nachdrücklich sie fordern und fordern müssen. Auf sie kann ich 
aber nicht näher eingehen, da mich zunächst nur die heilpädagogische 
Unterrichtsanstalt berührt. 

Das Gesetz für die heilpädagogische Unterrichtsanstalt will ich 
noch bei seinem alten Namen nennen: Hilfsschulgesetz. 


Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichtsanstalt. 139 


Der Ruf nach einem Hilfsschulgesetz wird nicht erst heute er- 
hoben, schon lange wird es gefordert. Zuletzt stand es zur Beratung 
auf der dritten Vertreterversammlung des Verbandes der Hilfsschulen 
Deutschlands in Hannover am 22. August 1920 und der Entwurf, 
der dort vorlag, ist abgedruckt in der Zeitschrift »Die Hilfsschule«, 
Novembernummer 1920. 

Diesem Entwurfe habe ich nicht viel hinzuzufügen. Mich mit 
ihm auseinanderzusetzen würde zu weit führen. Bemerken möchte ich 
aber kurz: In das Volksschulgesetz ist aufzunehmen, daß alle psychisch 
abnormen Kinder, die so große Störungen des Intellekts, Willens und 
Gemütes aufweisen und deren Erziehung und Unterricht infolgedessen 
so starke Schwierigkeiten bereitet, daß sie nicht in der Volksschule 
verbleiben können, den heilpädagogischen Anstalten (heilpädagogischen 
Erziehungsanstalten oder heilpädagogischen Unterrichtsanstalten) zu 
überweisen sind. 

Aufgabe der heilpädagogischen Unterrichtsanstalt ist es, die 
psychischen Störungen aufzudecken, sie durch heilpädagogische Mittel 
zu behandeln und die Kinder durch planmäßige Übung der körper- 
lichen und geistigen Kräfte im Sinne sittlicher Lebensentfaltung zu 
fördern, sie zu hingebender Pflichterfüllung im Dienste der Gemein- 
schait zu erziehen und sie zu befähigen, sich auf Grund ihrer be- 
sonderen Veranlagung in das Erwerbsleben einzugliedern. 


Die Schüler sind verpflichtet, noch 3 Jahre über den Zeitpunkt 
hinaus, zu dem sie der allgemeinen Volksschulpflicht genügt haben 
würden, die heilpädagogische Unterrichtsanstalt zu besuchen und zwar 
wöchentlich 9 Stunden, wenn sie in einem Arbeitsverhältnisse stehen, 
wöchentlich 30 Stunden !), wenn sie noch nicht fähig sind, sich ins 
Erwerbsleben einzugliedern. 

Die soziale Fürsorge für die Zöglinge bleibt nicht der kom- 
munalen oder gar privaten Wohlfahrtsvereinigung vorbehalten, sondern 
ist Aufgabe des Staates, solange sich die Zöglinge nicht ins Erwerbs- 
leben eingliedern können. (Vgl. hierzu meine kurze Ausführung im 
Artikel: Die Hilfsschule, eine heilpädagogische Anstalt.) 





Zwei Hauptforderungen müssen in der heilpädagogischen Unter- 
richtsanstalt erfüllt werden: »Formalbildung«e bildet die Grundlage, 
»Materialbildung« baut auf ihr auf. 


ı) Die Zabil richtet sich nach der jeweilig geltenden Zahl für Normalfort- 
bildungsschulen und Hilfsschulen im letzten Jahrgange. 


140 K. Bartsch: 


Jede Materialbildung setzt gewisse formale Kräfte voraus. Lese- 
mann-Hannover sagt!): »So fordert Rechnen z. B. einen gewissen 
Grad von Aufmerksamkeit, Kollektivauffassung, Abstraktionsfähigkeit, 
Kombinationsstärke usw., also einen bestimmten Stärkegrad reiner 
Geisteskräfte.e Und in dieser psychischen Energie vor allem unter- 
scheidet sich ja der Schwachsinnige vom normalen Menschen; 
geringe Kraft im Bereiche der verschiedenen Geistesfähigkeiten 
drücken ihm den Stempel des Abnormen auf. Nicht Stoffeinpauken, 
sondern Stärkung der allgemeinen geistigen Anlagen, Weckung und 
Emporbildung der vorhandenen schwachen Geisteskräfte muß vor- 
nehmstes Ziel der Hilfsschule sein. Durch besondere, systematisch 
aufgebaute planmäßig betriebene Übungen können formale Kräfte ge- 
stärkt werden. Es ist somit eine geistige Orthopädie?) möglich, auf 
die von führenden Männern der heilpädagogischen Arbeit schon ver- 
schiedentlich aufmerksam gemacht worden ist. Diese geistig- ortho- 
pädischen Übungen umfassen alle jene besondere Maßnahmen außer- 
halb des üblichen Unterrichtsrahmens, die bezwecken, die an sich 
schwachen Geisteskräfte zu stärken, und somit einen heilenden Ein- 
fluß auf ein geschädigtes Geistesleben ausüben.« 

Planmäßige Formalbildung steht in der Unterstufe im Mittel- 
punkte und ihr gesellt sich zu triebgemäßer Erlebnisunterricht3), der 
neben Formalbildung Materialbildung vermittelt. Stellen wir uns so 
ein, so kommen wir der Forderung Professor Dr. Meumanns ent- 
gegen, die er einkleidet in den Vorwurf, daß unsere Methode, Lehr- 
pläne, Lehr- und Lernmittel sich immer noch zu sehr in den Bahnen 
des Herkömmlichen, des aus der Schule mit normalen Kindern Über- 
nommenen bewegen. 

Die Unterrichtspraxis hat eine große Umwälzung erfahren durch 
Einführung des Gesamtunterrichtes und des Arbeitsunterrichts. Wirin der 
heilpädadogischen Unterrichtsanstalt dürfen aber nicht soweit gehen, daß 
wir glauben, solch ein Unterricht erfülle alle Anforderungen, die an einen 
heilpädagogischen Unterricht zu stellen seien. Er ist nicht imstande, den 
bei unsern Zöglingen vorliegenden psychischen Mängeln gründlich zu 
Leibe zu gehen und die das Wesen unsrer Zöglinge ausmacbenden 
Fehler zu behandeln und nachdrücklich zu beeintlussen. Wir müssen 
verlangen, daß neben diesen Gesamtarbeitsunterricht eine planmäßige 





1) Lesemann: Geistig-orthopädische Übungen in der Hilfsschule. Julinummer 
1923 der Zeitschrift »Die Hilfsschule«. 

2) Auf dem I. heilpädagogischen Kongreß 1922 in München auch von mir 
gefordert. 

», Gürtler: Triebgemäßer Eılebnisunterricht. Verlag Marhold-Halle., 


Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichtsanstalt. 141 


Formalbildung tritt, die von der Materialbildung zunächst vollständig 
losgelöst ist, was aber nicht bedeutet, daß sie sich nicht an jene an- 
lehnt, soweit es sich ermöglichen läßt. 

Die Formalbildung bezweckt die planmäßige heilpädagogische Be- 
handlung aller gestörten psychischen Funktionen. Die Materialbildung 
setzt die formalen Kräfte in die Praxis um und übt deren Betätigung 
in der Umwelt. Über eins müssen wir uns von vornherein klar sein: 
theoretisch wohl können wir feststellen, welche psychische Funktion. 
gestört ist und welche den Habitus des Zöglings am meisten aus- 
macht. Praktisch aber können wir nie und nimmer eine Gliederung 
und Scheidung unsrer Zöglinge nach diesem Gesichtspunkte durch- 
führen. Wir können also nicht alle die zusammenfassen, bei denen 
z. B. Störungen in der Aufmerksamkeit oder in den assoziativen Pro- 
zessen am größten sind, sondern sind zur Massenbehandlung gezwungen, 
die Zöglinge bunt gemischt durcheinander, selbst leichte und schwere: 
Fälle untereinander, besonders dort, wo nur wenig Schüler vorhanden: 
sind. Gemildert wird dieser Übelstand durch die geringe Zahl der 
Zöglinge in einer Abteilung (Klasse). Dazu kommt noch, daß es noch. 
lange kein Fehler ist, wenn bei einem Zögling eine psychische Funk- 
tion geübt wird, die nicht gestört ist. Im Gegenteil, das bedeutet eine- 
Förderung, denn alle psychischen Funktionen greifen ineinander über 
und beeinflussen einander, und je stärker und normaler die eine ver- 
läuft, desto größer wird ihr Einfluß auf die abnorme sein und damit 
auch größer die Möglichkeit, auf sie später aufzubauen und die spätere- 
Eingliederung ins Leben vorzunehmen, falls es nicht gelungen sein 
sollte, die abnormen psychischen Funktionen soweit genügend umzu- 
gestalten und auszubauen, daß sie nicht mehr störend wirken, sich als 
nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu betätigen. Wir 
müssen uns immer wieder der Tatsache der »Mıtübung« erinnern, 
dann werden wir nicht fordern, daß allein die gestörte Funktion heil- 
pädagogisch zu behandeln sei, dann werden wir Massenbehandlung 
verschiedener gestörter psychischer Funktionen durch planmäßige 
Formalbildung zugestehen. 

Ein bis ins einzelne gegliederter Plan der Übungen zur Formal- 
bildung läßt sich nicht aufstellen. Unsere Arbeit ist keine Arbeit. 
vom grünen Tische aus, ist keine Arbeit, die nicht von äußeren Ein- 
flüssen stark bestimmt und beeinflußt würde. Sie ist eine Arbeit am 
lebenden Organismus, den nicht wir bestimmen können, der allein 
uns und unsere Maßnahmen bestimmt, dem wir entgegenkommen und 
Rechnung tragen müssen. Den Weg zum Ziele »Ausgleich der ge- 
störten psychischen Funktionen bis zum Ende der Unterstufe zu er- 


142 K. Bartsch: 


reichen«, können wir nicht in einzelne Stationen auflösen. Das Ge- 
samtziel muß vor Augen stehen, und aus diesem Grunde haben die 
Zöglinge bis zum Ende der Unterstufenzeit in der Hand ein und des- 
selben Lehrers zu bleiben. Es ist einfach unmöglich, sie nach einem 
‚Jahre in andere Hände zu geben mit dem Bemerken: Bis dahin bin 
ich gekommen, dort ist einzusetzen! 

Aufmerksamkeit wird mitbedingt von eiher gewissen Beherrschung 
aller Körperbewegung. Der erethische und torpide Typ stehen im 
-Gegensatze zueinander, und doch sind wir gezwungen, sie gemeinsam 
zu behandeln, obwohl gerade beide Gruppen noch am leichtesten in 
zwei Gruppen sich zusammenfassen ließen. In der Praxis werden sie 
wohl stets zusammenbleiben und gleichzeitig an ein und derselben 
Übung teilnehmen, ohne Schaden zu erleiden. Nehmen wir z.B. die 
‚einfachsten Übungen an, Stillsitzen, Gebetsstellung der Hände! Diese 
Übungen sind natürlich für den Erethiker berechnet. Darf sie aber 
ein Torpider nicht auch ausführen? Er darf sie wohl ausführen. Es 
ist ein Unterschied, ob er freiwillig auf Grund seiner Anlage diese 
Stellung einnimmt, oder ob er sie auf Befehl einnimmt. Jetzt liegt 
für ihn ein Zwang in diesem Verhalten: er muß jetzt in der be- 
treffenden Stellung verharren und darf nicht, wenn es ihm gerade 
einfallen sollte, sie ändern. Freilich ist die Ausführung für ihn viel 
leichter als für den Erethiker, aber eine Unterstützung seines Phlegmas 
dürfte die Übung nicht bedeuten. Würden wir ibn von der Übung 
ausschalten, so säße er vielleicht neben seinem Spielzeuge und frönte 
seinem Ruhebedürfnisse auf eine andere Weise und zwar intensiv, 
‚denn dem Lehrer dürfte es nicht möglich sein, ihn davon abzuhalten, 
wenn er sich mit den Erethikern allein beschäftigen wollte. Zwei 
Herren zu gleicher Zeit zu dienen ist nicht möglich. 

Oder: Den Kopf langsam seitwärts drehen und längeres Ver- 
harren in dieser Stellung! Diese Übung zeigt deutlicher, daß auch 
sie für den torpiden Typ geeignet ist. Wenn er ursprünglich, die 
Hände gefaltet, still vor seinem Tische sitzt, so muß er sich aus seiner 
Rube herausreißen und gerade dann den Kopf drehen, wenn der Be- 
fehl dazu kommt. 

Übungen, die ibrem Wesen nach zur Behandlung des torpiden 
Typs geeignet erscheinen, dürfen umgekehrt auch unbedenklich vom 
Erethiker ausgeführt werden, ohne daß man befürchten muß, sie 
würden den Erethiker in seiner abnormen Anlage unterstützen. 
Nehmen wir einmal die Übung »Wegziehen der Hände vom Tische 
auf Befehle an. Daß diese Übung für Torpide zunächst berechnet ist, 
bedarf keines Beweises. Darf sie auch ein Erethiker ausführen? Sie 


Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichtsanstalt. 143 


verlangt, daß der Zögling zunächst still sitzt und seine Hände vor 
sich auf die Tischplatte legt — also eine Übung zur Bekämpfung der 
Erethik. Die Hände müssen solange still liegen, bis der Befehl zum 
Wegziehen kommt — eine neue Übung zur Selbstbeherrschung. Das 
schnelle Wegziehen selbst fällt dem Erethiker nicht schwer, das 
braucht er nicht erst zu lernen. Dieser Teil der 'ganzen Übung ist 
für den Torpiden etwas Neues. 

Ich glaube gezeigt zu haben, daß Erethiker und Torpide gleich 
zeitig beschäftigt werden können; denn in jeder Übung liegt eine 
das Abnorme mehr oder weniger bekämpfende Teilübung versteckt. 

Aufmerksamkeitsübungen, die eine bewußte Beherrschung des 
Körpers zum Ziele haben, müssen betrieben werden, denn ohne 
Beherrschung des Körpers ist ein Beherrschen des Geistes nicht 
möglich. 

Ich zähle solche Übungen auf, ohne sie zu erschöpfen. Sie sind 
ja so vielseitig, wie es auch alle die anderen Übungen zur Be- 
handlung psychischer Störungen sind, und jeder Heilpädagoge wird 
nene erfinden und ersinnen, je länger er sich als Heilpädaguge be- 
tätig. Eins aber muß hier betont werden: ein einmaliges Üben 
nützt nichts, fortgesetzt müssen sie geübt werden. Nicht vielerlei 
Übungen, sondern wenig Übungen immer und immer wieder und 
gründlich, auch wenn sie für den Lehrer monoton wirken sollten. 
Aber für den Lehrer an einer heilpädagogischen Unterrichtsanstalt 
kann und darf nichts monoton wirken. Er muß imstande sein, »fort- 
gesetzt im Elementarsten zu wühlen, gerade das zu ertragen, was 
seine Arbeit so schwer macht, was seine Arbeit von der des Normal- 
lebrers so wesentlich unterscheidet. Es gibt kein Hasten, er hat ja 
Zeit; denn erst am Ende der Unterstufenzeit soll er sein Ziel nach 
Möglichkeit erreicht haben. Wollen wir das ja nicht vergessen. Zu 
solchem Hasten wurden wir leicht verführt, als unsere heilpädagogische 
Unterrichtsanstalt noch eine Hilfsschule, eine Nachhilfeschule war, als 
wir noch mit Erfolgen im Lesen, Schreiben und Rechnen mit der 
Normalschule in Wettbewerb treten wollten. Diese Zeiten müssen 
vorbei sein. Die Zeit der Hilfsschule mußten wir durchmachen, sie 
war Voraussetzung, um zur heilpädagogischen Unterrichtsanstalt zu 
kommen. Diese Entwicklungsperiode muß aber hinter uns liegen. 

Und nun die Übungen selbst!): Stillsitzen mit verschiedenen 
Armhaltungen — langsames Drehen des Kopfes — nach verschiedenen 


1) Vgl. hier und auch weiterhin: Lesemann|- Hannover: Geistig-orthopädische 
Übungen in der Hilfsschule. Juliheft der Hilfsschule 1923. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 10 


144 K. Bartsch: 


Seiten hin — Fixieren eines rubenden oder sich bewegenden Punktes 
— Turnübungen: Armspreizen, Beinspreizen, Beugen des Körpers — 
Laufübungen: Marschieren hintereinander, nebeneinander, Gehen auf 
einem Striche — auf Befehl aufsteben, sich setzen, knieen, hinlegen, 
aus der Bank treten — Spreizen der Finger, Strecken der Finger 
einzeln von geballter Faust aus — Balancier- und Gleichgewichts- 
übungen wie Stehen auf einem Beine, Schreiben mit der rechten oder 
linken Hand in der Luft, Ziel- und Treffübungen mit ausgestrecktem 
Arme und Zeigefinger, Tragen eines vollen Gefäßes, Tragen eines 
mehr oder minder hohen, aus Klötzchen gebauten Turmes, Halten 
eines Buches auf drei Fingern — Kriechübungen, Steigen auf Fuß- 
bank, Stuhl, Treppengehen, Leitersteigen usw. 

Zielten die bisher genannten Übungen auf eine Beeinflussung 
der Körperbewegungen, so sollen nachfolgende rein geistig-ortbo- 
pädische Übungen sein. Wenn ich sie hier als Aufmerksamkeits- 
übungen anführe, so soll das nicht bedeuten, daß sie lediglich zur 
Übung in Aufmerksamkeit verwandt werden können. Viele von ihnen 
wenden sich nämlich auch noch an eine andere psychische Funktion 
und können auch zur Behandlung dieser gebraucht werden. Man 
schlägt also mit einer Klappe zugleich zwei Fliegen. 

Benennen kurz gezeigter Gegenstände! Hierbei gilt es zunnächst, 
seine Aufmerksamkeit auf das zu konzentrieren, was kommen soll. 
Geschieht dies, dann kann auch eine zweite Funktion sich betätigen: 
die Auffassung, die rasch alle wesentlichen Merkmale überschaut, 
zusammenfaßt und früher aufgenommene Bilder desselben Gegen- 
standes reproduziert. Voraussetzung ist freilich Anspannung der Auf- 
merksamkeit. 

Also: Aufmerksamkeitsübungen! Jeder Übung geht ein Sich- 
Einstellen voraus. Sitzt still, nehmt die Hände zusammen! Diese 
Voraussetzung ist zu beachten und beeinflußt die Dauer der Auf- 
merksamkeitsübungen. Ist der Erethiker nicht mehr imstande, sich 
auf Aufmerksamkeitsübungen einzustellen, dann haben Aufmerksam- 
keitsübungen keinen Zweck mehr, zum mindesten ist auf eine neue 
Art Übung einzugehen, eine Art, die z. B. diese Körperanspannung 
nicht mehr zur Voraussetzung hat, was z. B. bei Durchstechaibeiten, 
Perlenarbeiten der Fall ist. 

Es ist also zu verstehen, daß ein genau durchgeführter Plan 
aller geistig-orthopädischen Übungen nicht gegeben werden kann, 
nicht für ein Jahr, erst recht nicht für die gesamte Untersiufe. Der 
Heilpädagoge muß eben Heilpädagoge genug sein, seinen Plan selbst 
zurecht zu legen, geleitet vom Endziel, das ihm gesteckt worden ist. 





Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichtsanstalt. 145 


Benennen kurz gezeigter Gegenstände, Farben, Buchstaben, Ziffern 
— Bewegung nachahmen (dabei auf rechtzeitiges Einsetzen der Nach- 
abmebewegung und rechtzeitiges Aufhören derselben achten) — mit 
geschlossenen Augen Schalleindrücke erfassen und deuten: Rasseln 
mit Schlüssseln, Pfeifen, Klopfen, Klingeln — Kinder an ihrer Stimme 
erkennen — aus dem Berühren mit der Hand das Ding erkennen — 
Kinder spreizen alle fünf Finger, der Lehrer berührt oder schließt 
einen oder einige und Schüler müssen sagen, welche bezw. wieviel 
geschlossen oder berührt worden sind — Würfel, Kugeln, Pyramiden, 
Quadrate und Rechtecke sind untereinander gemischt. Es werden nur 
die Würfel oder Kugeln usw. herausgesucht — Sortieren von Perlen 
nach Farbe — Aufreihen von Perlen: eine rote und eine blaue ab- 
wechselnd usw. — Durchstecharbeiten — Verbinden zweier Punkte 
durch Senkrechte — einen Punkt mit Rotstift ausmalen, einen frei- 
lassen — Variationen davon — Flechtarbeiten — Malübungen: Nach- 
zeichnen dünn vorgezeichneter Figuren — Legeübungen mit Stäbchen 
oder Täfelcben — aus der Mundstellung den Laut erkennen lassen 
— aus hingeworfenen Buchstaben der Lesemaschine alle gleichen 
beraussuchen lassen — Würfel in einer Reihe hintereinander, neben- 
einander aufbauen —- innen zwei, drei Würfel aufeinandersetzen — 
zwei und drei Würfel abwechselnd — beim Zeigen eines bestimmten 
Dinges eine bestimmte Bewegung ausführen; z. B. wird ein Stäbchen 
gezeigt, so wird der Arm hochgehoben, oder beim Zeigen des Würfels 
klopfen und beim Zeigen der Pyramide wischen — Spiel: Alles was 
fliegen kann, fliegt. 

Merkfähigkeit und Gedächtnis: Jedes Kind hat vor sich eine 
Schachtel, in der allerlei Dinge liegen, z. B. Nagel, Knopf, Bleistift, 
Streichbolzschachtel, Zwirnrolle usw. Der Lehrer zeigt aus seiner 
Schachtel kurz ein Ding und läßt es das Kind aus seiner Schachtel 
aussuchen — welche Dinge haben wir nacheinander ausgesucht? — 
auf kleine Papptäfelchen sind Dinge gezeichnet. Der Lehrer zeigt 
ein solches Bild in vergrößertem Maßstabe rasch vor und das Kind 
muß entsprechendes Bild unter seinen Papptäfelchen aufsuchen — 
dasselbe mit inbaltslosen Figuren, Buchstaben — jedes Kind bekommt 
ein in 9 Quadrate geteiltes Quadrat vorgelegt, dazu mehrere Damen- 
brettsteine. An der Wand hängt in vergrößertem Maßstabe ein ebenso 
eingeteiltes Quadrat. Der Lehrer zeigt mit einem Zeigestocke in ein 
oder mehrere Felder, und das Kind muß auf seinem Quadrate durch 
die Damenbrettsteine die vom Lehrer gezeigten Felder belegen — 
Nachzeichnen von kurz gezeigten Figuren: Quadrat, Rechteck, Dreieck, 
Kreuz, Doppelkreuz, Rechteck auf der kurzen, langen Seite stehend, 

10* 


146 K. Bartsch: 


Kreis, Kreis mit Punkt, mit Henkel, mit aufgesetztem Kreuze usw. — 
2 Buchstaben kurz zeigen und sie zusammensetzen, zusammenziehen 
lassen. — Es werden nacheinander, zugleich 2 oder mehrere Dinge 
aus dem Sammelkasten vorgezeigt. Unmittelbar danach sucht das 
Kind diese Gegenstände aus seinem Kasten — dieselbe Übung, nur 
vergehen !/,, 1, 2 Minuten, ehe das Kind aussucht — dasselbe mit 
inhaltslosen Figuren — jedem Kinde wird ein Wort zugerufen. 
Weun jedes Kind ein Wort erhalten hat, wiederholt jedes Kind sein 
Wort — dasselbe mit mehreren Worten — dasselbe mit Zahlen — 
dasselbe mit Sätzen von 2, 3, 4 Worten, Verschen lernen — Er- 
gebnissätze im Unterrichte. 

Kombinationsfähigkeit: Zusammensetzen von einfachen Bildern, 
die in zwei oder mehrere Teile zerschnitten sind — dasselbe mit Bildern, 
die eine Szene darstellen (Märchenbilder)!) — dasselbe mit inhalts- 
losen Figuren — Zusammensetzen von Figuren aus Quadraten und 
' Dreiecken (nach Art des Kopfzerbrechers aus Ankers Steinbaukasten- 
fabrik). 

Wohl können systematische Übungen durchgeführt werden, um 
den Zögling vorwärts zu bringen im Auffassen und Beobachten, seine 
Einbildungskraft zu stärken und ihn im Assoziieren zu unterstützen. 
Und solche Übungen sollen und müssen durchgeführt werden, aber 
nicht losgelöst vom »Stoffe«, sondern im Anschluß an den Stoff, der 
den Zögling ganz erfaßt hat, im Anschluß an den triebgemäßen Er- 
lebnisunterricht. Es erübrigt sich, darüber viel zu sagen. Es genügt, 
auf Gürtlers Schrift: »Triebgemäßer Erlebnisunterricht, Verlag Mar- 
hold-Halle« hinzuweisen und aufzufordern, aus der Schrift selbst zu 
lernen, was triebgemäßer Erlebnisunterricht ist und wie gerade durch 
ihn in inteusivster Weise die Beobachtungsfähigkeit, Einbildungskraft, 
Auffassung und das Assoziieren als psychische Funktionen beeinflußt 
und bearbeitet werden. 

Dieser triebgemäße Erlebnisunterricht bezweckt nicht »Material- 
bildunge. Freilich ist er materialbildend, das aber nebenbei, zufällig. 
Das ist nicht Hauptzweck. Alles wird getrieben der Formalbildung 
wegen. Gürtler sagt selbst S. 25: »Die Stoffauswahl richtet sich ein- 
fach nach folgenden zwei Fragen: 

Kann jedes Kind mit dem Dinge hantieren ? 

Bietet es Gelegenheit zu Illusionsspielen, sowie zu mannigfaltiger 
Darstellung? | 





!) Die bekannten Bilderwürfelzusammensetzspiele sind noch zu schwer, weil 
jeder Würfel 6 Teilstücke aufweist. 


Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichtsanstalt. 147 


S. 63: Wir Erzieher der Geistesschwachen müssen dagegen unausgesetzt unser 
Augenmerk auf unsere Schüler richten und unsere Stärke nicht in der Stoffülle, 
sondern in der kindesgemäßen Durcharbeitung des Lehrstoffes suchen. Unsere Sorge 
muß sich weniger auf eine reichliche Nahrungszufuhr als vielmehr auf die Ver- 
dauung richten; denn diese verwandelt die Speise erst in Lebenssäfte.« 

Man nehme einmal Gürtlers »Hitsche«-Lektion zur Hand und 
studiere sie einmal daraufhin durch, wie Auffassung, Beobachtungs- 
fähigkeit, Einbildungskraft in Anspruch genommen und geübt werden. 
Man wird den Eindruck gewinnen, daß sich die ganze Lektion um 
diese psychischen Funktionen gruppiert und sich ganz in den Dienst 
dieser stellt. 

Die Hitsche-Lektion ist, wie Gürtler selbst sagt, kein extra ge- 
eignetes Paradestück. Für eine derartige Unterrichtsmethode stehen 
genügend Stoffe aus der Umgebung des Kindes zur Verfügung. Ganz 
leicht könne er 30 Themen nennen. 


Soll ich nun für die Unterstufe einen Lehrplan für den trieb- 
gemäßen Erlebensunterricht zusammenstellen? Wohl nicht! Kann 
jedes Kind mit dem Dinge hantieren und bietet es Gelegenheit zu 
Illussionsspielen und zu mannigfaltiger Darstellung — dann ist's der 
rechte Stoff! 

Mit triebgemäßem Erlebnisunterrichte und mit systematischen 
Üben der psychischen Funktionen ist es auf der Unterstufe freilich 
noch nicht getan. Wir würden die Kinder totreiten. Laßt sie spielen, 
spielen, sich scheinbar selbst überlassen und doch nicht sich selbst 
überlassen, laßt sie spielen wie daheim ein jedes Kind spielt, damit 
sich auch so die einzelnen psychischen Funktionen betätigen können, 
spontan, frei, ungezwungen. 

Die Bedeutung des Spieles für die Entwicklung aller psychischem 
Funktionen ist zu bekannt, als daß hier besonders darauf eingegangen 
werden müßte. Darum muß jede Abteilung reich mit Spielzeug aller 
Art ausgestattet werden: Puppen, Puppenwagen und Puppenstuben; 
Pferde, Pferdeställe und Wagen; Baukästen, Bilderbücher. Und mit 
diesem Spielzeug dürfen, sollen und müssen die Kinder spielen, als 
wenn sie daheim wären. Der Erwachsene hat nicht ins Spiel einzu- 
greifen, hat nur zu beobachten und darf, wenn ihn die Kinder frei- 
willig ins Spiel hineinziehen, selbst mitspielen, aber nicht als Er- 
wachsener oder gar als Lehrer, sondern als Kind unter Kindern. 

Das kann aber nur geschehen, wenn das Zimmer in der heil- 
pädagogischen Unterrichtsanstalt kein Unterrichtszimmer im bisherigen 
Sinne, mit der bisherigen Ausstattung ist. Schulbänke müssen ver- 
schwinden. An ihre Stelle treten kleine Kindertische und richtige, 


148 K. Bartsch: 


bequeme Kinderstühle. Sechs bis acht genügen, für jedes Kind ein 
Stuhl. Sie lassen sich einzeln stellen, an jeden Tisch 2 Stühle. Dann 
können die Kinder bequem Bilderbücher ansehen, können still für 
sich allein oder mit einem Freunde gemeinsam bauen, Kaufmann und 
Puppenmutter spielen. Die Tische können zusanımengeschoben werden 
zur langen Tafel bei gemeinsamer Arbeit. Sie können übereinander 
gestellt und in die Ecke geschoben werden — ein geräumiger Saal 
ist fertig. Und schließlich können die Stühle allein in Reiben vor 
dem Tische des Lehrers aufgestellt werden, und nun können syste- 
matische heilpädagogische Übungen beginnen, kann Lesen, Rechnen, 
Sprechen getrieben werden. 

Auf Lesen, Schreiben und Rechnen muß ich noch etwas näher 
eingehen. Ich verlange, daß regelrechtes Lesen, Schreiben und 
Rechnen erst spät auftreten und behaupte, es würde am Ende nicht 
weniger erreicht werden als bisher, wohl aber besteht die Wahr- 
scheinlichkeit, daß mehr erreicht werden wird, trotz der gekürzten 
Übungszeit, und das deshalb, weil die Unterstufe einen günstigeren 
Boden geschaffen hat, auf den systematisches Lesen, Schreiben und 
Rechnen iu der Oberstufe gepflanzt werden kann. 

Schon die Normalschule bemüht sich nicht mehr, im 1. Schul- 
jahre das Lesen zu erlernen. Wohlrab-Brambach sagt: Unser (sein) 
Ziel ist also nur, daß am Ende des 1. Schuljahres das kleine Schreib- 
und Druckalphabet im Lesen und Schreiben »sitze«.. Das 2. Schul- 
jahr greift nun zu den großen Buchstaben. Wohlrab legt dem Lehr- 
gange eine Fibel zugrunde. Die Hauptarbeit aber verrichtet er mit 
dem Lesekasten. Siebe Wohlrab, Lebensvoller Unterricht, Verlag 
Beltz- Langensalza. 
| Die Unterstufe soll nicht jedes Lesen beiseite lassen. Sie: soll 
lesen. Sie soll das Ziel so setzen, wie es Wohlrab im 1. Schuljahre 
tut. Scheiden wir nach der Unterstufe die Kinder in einen A- und 
B-Zug, dann kann der A-Zug bequem mit systematischem Leseunter- 
richt einsetzen. Die Grundvoraussetzung zum Lesenkönnen bringen 
die Kinder mit, es gilt nur noch neben die Kleinbuchstaben die Groß- 
buchstaben zu setzen — keine allzu zeitraubende Aufgabe. Und dann 
hinein ins Lesen, vielleicht an Hand »Von Gestern und Heute«, Ver- 
lag Dürr-Leipzig herausgegeben vom Leipziger Lehrerverein. Und 
dann folgen Schaffsteinbücher oder »Ein Korb voll Kirschen«, Verlag 
Marhold-Halle. 

Zunächst vom Lesen und Schreiben in der Unterstufe!' Wenn 
man weiß, daß das Ziel erst in 3 Jahren erreicht werden soll, und 
dazu ein Ziel, das nicht zu hoch gesteckt ist, dann liegt kein Hasten 


Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichtsanstalt. 149 


auf der Arbeit, und man kann in die Breite gehen, was hier zugleich 
ein Gehen in die Tiefe bedeutet. 


Das Fundament bildet die Phonetik. Wir treiben Lesen, los- 
gelöst vom gedruckten und geschriebenen Buchstaben und stellen als 
erstes Teilziel auf: Erfassen des Lautes. Doch streben wir diesem 
Ziele nicht zu in der ausgesprochenen Absicht, den Laut erfassen zu 
wollen, sondern stellen das Lautieren in den Dienst des systematischen 
Übens der psychischen Funktionen. Üben wir z. B. das A, so wollen 
wir damit das Kind zur Konzentration der Aufmerksamkeit anhalten, 
wollen das Gedächtnis üben und die Beobachtungsfähigkeit stärken. 
Gerade im Üben eines Lautes liegt die Möglichkeit, verschiedene 
psychische Funktionen zu behandeln, und als Nebenerfulg fällt uns 
ein Stück Lesenlernen in den Schoß. Julius Fuchs-Leipzig ist ein 
Vertreter dieses Gedankens, und viele Hilfsschullehrer Deutschlands 
haben Gelegenheit gehabt, dies bei ihm zu beobachten und sich von 
den Erfolgen zu überzeugen. Das ist Lesen und doch kein Lesen. 
Das ist geistig-orthopädische Übung. 

Und warum soll nicht auch der Druckbuchstabe und Schreib- 
buchstabe eingeführt werden? Wird dadurch nun das Lesen zum 
eigentlichen Lesen und das Schreiben zum eigentlichen Schreiben ? 
Nein! Dieses Lesen und Schreiben ist geistig-orthopädische Übung. 


Ich führe das I ein als einen Jungen, der seine Mütze hoch 
wirft und i schreit: Ein solcher Junge erscheint im Bilde vor den 
Kindern. Wie jetzt die Aufmerksamkeit eingestellt werden muß, wie 
beobachtet, aufgefaßt wird. wie die Einbildungskraft arbeitet, wie ab- 
strahiert und assoziiert wird, bis sich endlich der Junge zum Druck- 
buchstaben i umgestaltet. Dann erscheint das gedruckte oder ge- 
schriebene i, nackt, entblößt von allem darum und daran und ruft 
doch lebhaft das Bild des Jungen mit der Mütze wach und löst aus 
den Ruf »ie. Genau so, wenn ich das e als den Kutscher in der 
Schoßkelle auf dem Wagen vorführe, der eeh ruft, um die Pferde 
anzuhalten, wenn er absteigen will. 

Welche Fülle von geistig-orthopädischen Übungen lassen sich mit 
dem Lesekasten ausführen, die als Nebenprodukt uns eine gewisse 
Lesefertigkeit schenken. Wollte noch jemand behaupten, solches 
Lesenlernen wäre noch Lesenlernen im alten Sinne? 

Und endlich das Rechnen! Ich erinnere an Gürtlers Hitsche- 
Lektion. Ich erinnere an die Aufmerksamkeitsübung: lege 3 blaue 
und 3 rote Stäbchen abwechselnd hin. Ich erinnere an die Merk- 
fähigkeitsübung: 4 Punkte ihrer Lage nach im neungeteilten Quadrate 


150 K. Bartsch: Die Hilfsschule — die heilpädagogische Unterrichtsanstalt. 


zu bestimmen! Das ist Rechnen, obgleich es kein Rechnen ist. Tritt 
das Kind dann in die Oberstufe ein, dann kann mit dem Kinde, das 
so vorbereitet ist, wohl systematischer Rechenunterricht betrieben 
werden. 

Ich fasse zusammen: Einen wohlgeordneten Lehrgang für die 
Unterstufe aufzustellen ist nicht möglich, ist vor allen Dingen auch 
ganz unnötig. Freilich müssen wir dabei von der Voraussetzung aus- 
gehen, daß erfahrene Heilpädagogen in der Unterstufe arbeiten, die 
gründlich vorgebildet wurden und durch praktische Lehrertätigkeit 
hindurchgegangen sind. Dann wird auch ein Einordnen der Zöglinge 
in die Gruppe, in die sie gerade gehören, nicht allzuschwer sein. 
Leicht kann diese Entscheidung nicht sein, denn sonst könnte man 
dem Schulschreiber eine Elle in die Hand geben und sagen: »Miß 
und ordne ein!« 








Über Säuglingsturnen. 


Von 
Dr. med. G. Tugendreich, Berlin. 


Der reichverzweigte Baum der »Ertüchtigung der Jugend« treibt 
gegenwärtig eine neue Blüte, das »Säuglingsturnen«. 

Ist es ein Zufall, daß man diese früheste Altersgruppe so lange 
in turnerischer wie gymnastischer Hinsicht vernachlässigt hat, obwohl 
doch die Körperübungen der Schüler und Jugendlichen in Deutschland 
auf eine über zweihundertjährige Geschichte (Joh. Christoph Guts- 
Muths: Gymnastik für die Jugend, anno 1793) zurückblicken können. 

Ich glaube nicht. Das Wort »Turnen« stammt bekanntlich von 
Jahn her; er bezeichnete damit die Gesamtheit der Übungen, welche 
die wahre vom Geist beherrschte Leibhaftigkeit entwickeln. Gerade 
dadurch bewirkt ja das Turnen wie körperliche so auch geistige Er- 
tüchtigung. Daß im Säuglingsalter Körperübungen vom Geist be- 
herrscht werden können, dürfte füglich bezweifelt werden. Hier 
herrscht der Trieb. Und die weise Mutter Natur hat keineswegs dem 
unvernünftigen Säugling den Nutzen körperlicher Übungen vorenthalten. 
Im wachen Zustande vollführt der gesunde Säugling sehr zweckmäßige 
gymnastische Übungen. Beugen und Strecken der Arme und Beine 
übt er unermüdlicher als der Schüler in der Turnstunde, nicht minder 
die Rumpfmuskeln. Kürzlich legte ich mein sechsmonatiges Töchterchen, 
in eine Decke gehüllt, auf den Teppich. Durch kräftiges Strampeln 
mit Armen und Beinen (Beugen und Strecken) hatte es sich sebr 
bald von der ihm lästigen Hülle befreit, und nun schob es sich, auf 
dem Rücken liegend, durch starkes Anspannen der langen Rücken- 
muskeln unter schlangenhaften Bewegungen mit überraschender Ge- 
schwindigkeit von dem Teppich herunter. Eine andere Übung wird 
häufig von ihm in der Weise ausgeführt, daß es durch kräftiges Hin- 
und Herschleudern des Rumpfes den Korb des Kinderwagens in eine 
stark schaukelnde Bewegung versetzt. Wenn nun gar bei fort- 
schreitendem Alter die Bemühungen, zu sitzen, zu stehen, zu kriechen, 
zu gehen hinzukommen, so ist damit ein Reichtum von Körper- 


152 G. Tugendreich: 


übungen gegeben, die in ihrer Zweckmäßigkeit künstlicher Nachhilfe 
nicht bedürfen. Gewiß steht der lebhafte Bewegungsdrang des Kindes 
in Beziehung zu dem durch das Wachstum gesteigerten Stoffwechsel. 
Je langsamer bei zunehmendem Alter das Wachstum vor sich geht, 
um so langsamer und spärlicher werden diese triebhaften Bewegungen. 
Je jünger das Kind, desto schneller seine Bewegungen, wie denn das 
Kleinkind, wenn es einmal die rechte Herrschaft über seine Beine 
erlangt hat, fast nur läuft, und Spazierengehen an der Hand des Er- 
wachsenen dem jungen Kinde eine rechte Qual bedeutet. 

Für den gesunden Säugling bedarf es also keines »Turnens«, 
keiner »Gymnastik«. Es genügt vollständig, seinen natürlichen Be- 
wegungsdrang nicht künstlich einzudämmen. Weder Bekleidung noch 
Bettung darf ihn hemmen. Das leider noch immer nicht ganz ver- 
schwundene endlose Wickelband, die schweren weichen Federbetten 
zwingen das Kind zum ruhigem Liegen in einer der Körperentwicklung 
höchst abträglichen Weise. Im Gegenteil soll dem Kinde so viel wie 
möglich Gelegenheit zu ungehemniter Körperbetätigung geboten werden. 
Bei sonnigen Sommertagen kann man es stundenlang unbekleidet liegen 
lassen, und man wird seine Freude daran haben, wie es in der 
schlaffreien Zeit triebhafte Gymnastik treibt. Aber auch in der kalten 
Jahreszeit soll der Säugling in geheiztem Zimmer sein tägliches Luft- 
bad nehmen. Dem Kriechling gebührt das »Ställchene. Der Beginn, 
der Fortschritt der statischen Funktionen hängt nicht nur vom Zu- 
stande des Körpers, sondern auch vom Wagemut des Kindes ab. Dieser 
wird manchmal erschüttert, wenn das Kind bei seinen ersten Steh- 
oder Gehversuchen allzu unsanft fällt. Durch ein gut gepolstertes 
»Ställchen« wird diese Gefahr ausgeschaltet. 

Ist also für den gesunden Säugling, das gesunde Kleinkind der 
natürliche Bewegungsdrang, dem man freilich weitesten Spielraum 
lassen muß, der beste Turnlehrer, so gibt es allerdings Gruppen von 
Kindern, die einer Nachhilfe bedürfen; solche nämlich, die wenig 
Antrieb zu aktiven Bewegungen verspüren, und solche, deren Muskeln 
schwach sind. 

Zu der ersten Gruppe gehören außer gewissen Arten von Geistes- 
gestörten manche psychopathische Säuglinge, deren Hauptcharakteristikum 
eine auffallende Trägheit in vielen willkürlichen Lebensäußerungen 
ist (z. B. auch Saugen u. a.) Derartige Kinder verhalten sich auffällig 
ruhig, und so sind auch ihre Körperbewegungen auf ein geringes Maß 
herabgesetzt. 

Die zweite Gruppe besteht vornehmlich aus den Kindern, die 
mit der schweren Form der englischen Krankheit (Rachitis) behaftet 


Über Säuglingsturnen. 153 


sind. Die englische Krankheit ist ja hierzulande außerordentlich 
bäufig, zumal in leichteren Graden. Die schweren Formen sind seltener. 
Wenngleich die sinnfälligsten Kennzeichen der Krankheit an den 
Knochen auftreten (O-Beine, Rückgratsverbiegungen, Hühner- oder 
Trichterbrust u. a. m.), so läßt die Krankheit, die ja eine Stoffwechsel- 
störung ist, auch die Muskulatur nicht unverschont. Die Muskeln 
der Rachitiker weisen bei mikroskopischer Untersuchung Krankeits- 
zeichen auf, und beim Abtasten fühlen sie sich schlaffer an als 
normale. Eine bekannte Folge dieser Muskelschlaffheit ist der so- 
genannte »Kartoffelbauch« der Rachitiker, dessen starke Wölbung 
dadurch zustande kommt, daß die schlaffe Bauchmuskulatur den ge- 
blähten Därmen nachgibt, statt sie zurückzuhalten. Die schlaffe Muskulatur 
der Rachitiker führt zur Bewegungsträgheit. 

Schließlich leidet auch die Muskulatur von Kindern, die langwierige 
Krankheiten überstanden haben (Atrophie usw.). Für solche Säuglinge 
und Kleinkinder nun, die aus seelischer oder körperlicher Ursache zu 
körperlicher Passivität neigen, wenig Bewegungsdrang an den Tag legen, 
ist künstliche Nachhilfe vorteilbaft. Ein frühzeitiges Erstarken der Mus- 
kulatur ist insbesondere für die Rachitiker sehr erwünscht, weil eine 
kräftige Muskulatur wesentlich zur Verhütung von Knochen- und Rück- 
gratsverbiegungen beiträgt. Seit langem wird daher für den Rachitiker 
die Massage empfohlen, die man ja als »passives Turnen« bezeichnet 
hat. Eine Kräftigung der Muskulatur ist damit sicherlich zu er- 
reichen; nicht aber die mannigfachen erzieherischen Einwirkungen des 
Turnens. Neuerdings nun hat man sich in zunehmendem Maße damit 
beschäftigt, turnerische oder gymnastische Übungen für diese frühe 
Altersstufe zu ersinnen. Neumann-Neurode ist wohl als erster auf 
den Plan getreten auf Grund der Erfahrungen, die er an seinen 
eigenen Kindern gesammelt hat. Allmählich hat sich eine kleine 
Literatur!) über diesen Gegenstand gebildet. 

Das Turnen der jungen Säuglinge geht ohne besondere Apparate vor 
sich; Hände, Arme, Rumpf der Mutter — das ist die gesamte Apparatur. 
In Rückenlage des unbekleideten Säuglings wird Arm- und Bein- 
strecken wie -beugen geübt, jedes mehrere Minuten täglich. Indem 


mm —— 


1) Neumann-Neurode, Säuglingsgymnastik, Berlin 1923 bei A. Reher. Ferner 
siehe Baeyer u. Winter, Kinderturnen, Leipzig-Berlin bei Teubner. Engel u. 
Runge, Die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes im 1. u. 2. Lebens- 
jahr, München 1923 bei Bergmann. Deppe, Körperliche Erziehung des Säuglings 
und Kleinkindes (3. Bd. des Handbuchs der Leibesübungen von Diem- Mallwitz- 
Neuendorff), Berlin 1923, Weidmannsche Buchhandlung. — Jellinegg, Über 
Massage und Turnen beim Säugling. Münch. med. Wochensch. 1923 Nr. 9. 
Czapski, Gymoastische Übungen im Säuglingsalter, Med. Klinik 1923 Nr. 5. 


154 G. Tugendreich: 


die Mutter die eine Hand unter den Nacken des Kindes, die andere 
unter das Gesäß schiebt, wird der Säugling zur Übung der Rücken- 
muskeln veranlaßt. Legt man das Kind auf den Bauch und kitzelt 
es in Höhe der Lendenwirbelsäule, so erfolgt als Abwehr eine Streckung 
des Rückens, kitzelt man es links, so erfolgt Seitenbiegung des Rumpfes 
nach links (rechts entsprechend). Durch geeignetes Vorhalten von 
Gegenständen kann man das Kind zu allerlei Bewegungen bringen. 
Ein Hochheben des Kindes an den Füßen, so daß der hängende 
Kopf frei schwebt, führt zu Anspannung der Nacken- und Rumpf- 
muskulatur usw. 

Kann das Kind erst sitzen, stehen und gehen, so wächst damit 
die Mannigfaltigkeit der Übungen, die dann auch durch einfache 
Apparate vermehrt werden können. Altbewährt z. B. ist der Epsteinsche 
Schaukelstuhl, in dem das Kind so sitzt, daß es der Rückenlehne das 
Gesicht zukehrt. Die Bewegung des Stubls führt zur rhythmischen 
kräftigen Streckung und Beugung des Rückens. Einzelne Übungen 
hier zu beschreiben, erscheint nicht angängig; denn um sie zu be- 
herrschen, gehört praktische Erfahrung. Doch dürfte es für den in 
der Kinderpflege Geübten nicht schwer sein, sich diesen neuen 
Aufgabenkreis anzueignen. 

Eins ist aber bei alledem in erster Reihe erforderlich, Geduld. 
Denn wie alles Lernen im frühen Kindesalter, darf auch Turnen und 
Gymnastik den Kleinen nur spielend beigebracht werden. Von einem 
»systematischem«Üben darf nicht die Rede sein. Zwar bringen die Kinder 
gewöhnlich großen Mut mit, weil sie sich ja der möglichen Gefahren 
zunächst nicht bewußt sind, ist aber einmal ein etwas schmerzhaftes 
Mißgeschick (Stoßen, Fallen) vorgekommen, so ist es bei manchem 
Kinde für lange Zeit mit dem Mute vorbei. Die Erinnerung an den 
Unfall haftet oft erstaunlich lange. Da muß es denn der geschulte 
Erzieher verstehen, diesen Angstzustand schnell zu überwinden. 

Die Festigung des Mutes schon beim Kleinkinde ist nicht der 
geringste Nutzen des Turnens. Seine Begrenzung findet dies Streben 
in der Gefahr, die Nerven der Kinder zu sehr anzuspannen. Da ja, wie 
eingangs ausgeführt, der Unterricht gerade für psychopathische und 
neuropathische Säuglinge und Kleinkinder besonders geeignet ist, so 
gilt es, wachsam aufzumerken, daß durch den Unterricht Seele und 
Nerven des Kindes unbeschädigt bleiben. 

Das setzt viel Erfahrung voraus. Deshalb sollte das Turnen des 
Säuglings und Kleinkinds nur auf ärztlichen Rat und nach ärztlicher 
Verordnung stattfinden. 


Heilpädagogische Bestrebungen. 


Die Fürsorge für jugendliche Psychopathen in Mannheim. 


Der Aufbau der Fürsorge für jugendliche Psychopathen in unserer Stadt hat 
manche Konstruktions- und Schönheitsfehler. Aber der Versueh, den das Jugend- 
amt mit der Errichtung einer Beratungsstelle für schwererziehbare Kinder und 
Jugendliche im November 1922 gemacht hat, darf im ganzen als wohlgelungen be- 
trachtet werden. Bis zum Ende des Jahres 1923 erschienen in den zweiwöchent- 
lich einmal stattfindenden Beratungsstunden 170 Jugendliche, 112 männliche und 
58 weibliche, im Alter von 3—18 Jahren. Davon hatte das Jugendamt selbst 111 Fälle 
überwiesen, ein Zeichen sowohl für die gewissenhafte Behandlung der jugendlichen 
Verwahrlosungsfälle durch diese Behörde, wie für das Bedürfnis nach psychopatho- 
logischer Beratung bei den Stellen, denen der Schutz und die Erziehungsfürsorge 
der gefährdeten Jugend anvertraut ist. Sonst bedienten sich konfessionelle und 
andere Fürsorgeorganisationen, auch die Schule und Schnlarztstelle, sowie Ärzte in 
der Stadt, der Beratungsstelle. Bedauerlich ist, daß bisher nur in 13 Fällen die Eltern 
aus eigenem Antriebe die Beratungsstunden aufsuchten. Unser Bestreben geht da- 
hin, Eltern und Erziehungsberechtigte zu spontaner Benutzung der Fürsorgestelle 
für schwererziehbare Kinder zu veranlassen; jedenfalls haben wir uns bemüht, eine 
geistige Atmosphäre in den Beratungsstunden zu schaffen, in der die Kinder und 
ihre miterschienenen Angehörigen das Gefühl haben, nicht etwa zu einem amtlichen 
Verhör erschienen zu sein, vielmehr an einer Stätte, wo sie Liebe und Verständnis 
für ihre äußeren und inneren Nöte finden. Dem Arzt steht eine Berufsfürsorgerin 
und eine ehrenamtlich tätige Frau zur Seite. Über jeden Fall wird ein Gutachten 
erstattet, das durchweg dem Jugendamt, bei allen Schulpflichtigen der Schularztstelle, 
sonst den an dem Fall interessierten Stellen und Personen übermittelt wird. Der 
Schwerpunkt der Beratung liegt in der Aussprache mit den Zöglingen selbst und 
mit ihren Eltern und Erziehern. Allerdings konnten wir uns nur in 50 der 170 
Fälle lediglich auf erzieherische und gesundheitliche Ratschläge beschränken, 55 mal 
mußten wir Fürsorgeerziehung beantragen oder befürworten, in 40 Fällen kam 
Berufsberatung und Arbeitsbeschaffung in Frage, in den übrigen Fällen mußte eine 
Schutzaufsichtt durch Jugendamt oder Jugendfürsorgeorganisationen angeordnet 
werden. In der engen Fühlungnahme mit den Organen dieser Außenfürsorge, die 
neben der Beratungsstelle das wichtighte Glied der offenen Fürsorge für jugend- 
liche Psychopatben darstellt, erblickt der Leiter der Beratungsstelle, der gleichzeitig 
Mitglied des Jugendamts ist, eine seiner wesentlichen Aufgaben, zu deren wirksamen 
Erfüllung auch die Ausbildung der Fürsorgepersonen gehört. Als Dozent an der 
hiesigen Handelshochschule, die eine eigene psychologisch-pädagogische Abteilung 


156 Heilpädagogische Bestrebungen. 


besitzt, als Lehrer an der Sozialen Frauenschule und am Fröbelseminar habe ich in 
Vorlesungen und praktischen Kursen, in Ärzten, Geistlichen, Lehrern, Fürsorge- 
beamten, Jugendleiterınnen einen Stab von Mitarbeitern herangezogen, die Ver- 
ständnis für die pädagogischen Bedürfnisse der seelisch abgearteten Jugend gewonnen 
haben und als beamtete oder freiwillige Helfer die Arbeit der Beratungsstelle er- 
gänzen und fördern. 

Das reichgegliederte Schulwesen der Stadt Marnheim, das mit dem Namen des 
soeben in Ruhestand getretenen Stadtschulrats Dr. Sickinger verknüpft ist, ge- 
stattet eine Berücksichtigung der Vorschläge der Beratungsstelle, die sich auf die 
der Eigenart des Jugendlichen angepaßten schulische Versorgung beziehen. Eine 
unentbehrliche Ergänzung der Beratungsstelle bildet die Beobachtungsstation, 
als welche das Städtische Kinderheim Rheinau dient. Das Heim bildet eine Unter- 
kunftsstätte für irgendwie heimbedürftige Kinder, deren es etwa 100 aufnehmen 
kann. Durch Erlaß des Justizministeriums ist es als vorläufige Unterbringungs- 
station und als Beobachtungsstation für schulpflichtige Fürsorgezöglinge erklärt 
worden. Zurzeit sind rund 40 Fürsorgezöglinge untergebracht. Durch die Personal- 
union der ärztlichen Beratung in der Fürsorgestelle mit der in diesem Heime ist 
die zur Erfüllung des wabren Zweckes einer Beratungsstelle für jugendliche Psycho- 
pathen dringend notwendige Gelegenheit zur längeren stationären Beobachtung vieler 
fürsorgebedürftiger Kinder gewährleistet. 

Unsere Beratungsstelle hält gute Fühlung mit der hier bestehenden und von 
einem Arzte der Heilanstalt in Wiesioch geleiteten Fürsorgestelle für Geistes- 
kranke, welche die Fürsorge unserer Zöglinge, wenn sie aus dem Jugendalter her- 
austreten, übernimmt und uns Jugendliche, die ihr zur Kenntnis kommen, überweist. 


Was das medizinische Ergebnis der Untersuchungen betrifft, so waren von den 
170 Jugendlichen nur 40 frei von jeglicher psychischer Anomalie, bei 40 wurde 
angeborener Schwachsinn der verschiedenen Grade festgestellt — nicht selten zur 
größten Überraschung der Erzieher —, in den übrigen Fällen handelte es sich um 
psychopathische Konstitutionen in buntester Mischung mit Ausnahme von 5 Psychosen, 
darunter 1 Fall von juveniler Paralyse und 2 Fälle von Dementia präcocissima. 

Als häufigstes Frühsymptom der drohenden Verwahrlosung häufiger noch als 
Diebstahl wurde Schulschwänzen und Vagabondage Veranlassung zum Aufsuchen der 
Beratungsstelle. In Zunahme begriffen ist die sexuelle Gefährdung und Betätigung, 
wohl begünstigt durch die Wohnungsmisere. Immer mehr drängte sich uns die 
Überzeugung auf, daß die Reaktion abnorm veranlagter Kinder auf ein durch allerlei 
eheliche Zerrüttungen und Zerreißungen geschädigtes häusliches Milieu sich oft in 
Verwahrlosung und Asozialität umsetzt. Dr. Moses. 


Der »Zeitschrift für das österreichische Blindenwesen« Nr. 11/12, S. 1653 ent- 
nehmen wir, daß an der XVI. Volksschule in Wien versuchsweise eine Sonder- 
klasse für sehschwache schulpflichtige Kinder errichtet werden soll. Es sollen 
dort Kinder aufgenommen werden, deren Sehschärfe trotz optischer Hilfsmittel nur 
ein Fünftel bis ein Zehntel der normalen beträgt. Höchstzahl der aufzunehmenden 
Kinder 15. Der Aufnahme geht eine ärztliche Untersuchung voran, die unentgelt- 
lich übernommen wird. 


Ausbildungsfragen. 157 


Ausbildungsfragen. 
Plan des heilpädagogischen Seminars (H.P.S.), Zürich. 


I. Teilnehmer: Als ordentliche Teilnehmer gelten pur Inhaber eines kan- 
tonalen Primarlehrerpatentes, welche sich für die Absolvierung aller Veranstaltungen 
des H.P.S. verpflichten. Daneben können vereinzelte Interessenten als Hörer zu 
einzelnen Veranstaltungen zugelassen werden. 

II. Prüfung und Ausweis. Am Ende des Kursus wird den Teilnehmern 
im Anschluß an eine theoretische und praktische Prüfung ein amtlicher Ausweis- 
erteilt. 

Ill. Die Ausbildungszeit am H. P.S. dauert ein Jahr, wovon '/, (Sommer- 
semester) vorwiegend der theoretischen und ?/, (Sommer, Herbst, Winter) vorwiegend: 
der praktischen Ausbildung gewidmet sind. 

IV. Theoretische Ausbildung. Es sind folgende Unterrichtsgegenstände- 


vorgesehen: 

a) Allgemeine Psychologie . . . . . wöchentl. 3 Std.. 
b) Spezielle Psychologie (Kinderpsycholgie, angewandte 

Psychologie, Demonstrationen). . . is 3. 
c) Psychopathologie mit Demonstrationen . e ee N: 3% 
d) Allgemeine Pädagogik. . . a 3. 
e) Spezielle Pädagogik (Heilerziehung und. Fürsorge) . 3. 
f) Grundzüge der Anatomie mit besonderer Berück- 

sichtigung der Heilerziehung . . Š Bi ai 
g) Grundzüge der Physiologie mit besonderer Berück- 

sichtigung der Heilerziehung . . . ER: a 2 
h) Hygiene (Sozialhygiene, Anstaltshygiene) . De Å 2 


wöchentl. 21 Std. 


V. Die praktische Ausbildung: 

a) Im Sommersemester sind vorgesehen wöchentlich 1—2 Besuche in 
der Blinden- und Taubstummenanstalt, in den Anstalten für krüppel- 
hafte Kinder. für Epileptische, für Schwachsinnige, in den Spezial- 
klassen für Schwerhörige, für Stotterer, für Schwachbegabte, in den. 
Beobachtungsstationen für Psychopathische, in den Erziehungs- und 
Korrektionsanstalten, in den Anstalten für Bildungsunfähige usw. 
Mit diesen Anstaltsbesuchen sind entsprechende, in die Methodik des 
speziellen Unterrichtes und der Erziehung einführende Vorträge der 
Anstaltsleiter verbunden. 

b) An 1—2 Vormittagen des Sommersemesters sind freie Besprechungen 
der Kandidaten unter der Leitung des Vorstehers des H. P.S. über 
Anstaltsbau und -betrieb, offene und geschlossene Fürsorge, Literatur- 
Beratung abzuhalten. 

c) Nach Schluß des Sommersemesters und während des ganzen Winter- 
semesters sind die Kandidaten als Volontäre in den verschiedenen 
hierfür zur Verfügung stehenden Anstalten untergebracht und ver- 
pflichtet, am Unterricht und an der Beaufsichtigung der Zöglinge- 
nach Anordnung der Anstaltsleitung, der sie, wie das übrige Per-- 
sonal, unterstehen, teilzunehmen. 


158 


Ausbildungsfragen. 


d) Unter Leitung des Seminarvorstehers werden wöchentlich an zwei 
Nachmittagen oder während eines ganzen Tages gemeinsame 
seminaristische Übungen abgehalten aus folgenden Gebieten: 


1. Kritische Lektüre heilpädagogischer Literatur. 

2. Einführung in Beobachtung und Übung ın mündlicher und 
schriftlicher Berichterstattung über Zöglinge. 

3. Anhörung von Referaten der Kandidaten über ihre Tätigkeit. 

4. Einführung in die Fürsorge für die schul- oder anstaltsentlassenen 
Anomalen. 

5. Anhörung von Vorträgen über Zivil- und Strafgesetz mit be- 
sonderer Berücksichtigung der Anomalen. 

6. Einführung in das Turnen mit Anomalen. 

7. Gelegentliche Teilnahme an Sitzungen des Jugendgerichtes. 


VI. Dem Handarbeitsunterricht ist die größte Aufmerksamkeit zu 


schenken. Er ist auf das Sommer- und Wintersemester zu verteilen. 


Richtlinien für die Schaffung eines heilpädagogischen Seminars. 


L 


& 


Der Verband Heilpädagogisches Seminar errichtet und betreibt ein heil- 
pädagogisches Seminar, das eine theoretische und praktische Ausbildung 
umfaßt. 

Daneben sind vorgesehen: 

a) für länger im Berufe stehende Heilerzieher: Fortbildungskurse, welche 
die Fortschritte und den neuesten Stand der Heilerziehung zum Gegen- 
stande haben; 

b) Spezialkurse. 

Die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich unterstützt den Verband, 


a) indem sie ihm die für den Betrieb erforderlichen Räume, sowie die An- 
schauungs- und Unterrichtsmittel der kantonalen Bildungsanstalten zur 
Verfügung stellt; 

b) durch Erteilung von besonderen Lehraufträgen ; 

c) durch Übernahme der aus a und b erstehenden Kosten; 

d) indem sie für die Schüler des heilpädagogischen Seminars die Erlaubnis 
zum Besuch der staatlichen Erziehungsanstalten und Beobachtungsstationen 
unter Führung des Seminarleiters erteilt, bezw. vermittelt; 

e) durch die Ermöglichung der Aufnahme einzelner Schüler für die Dauer 
des Kurses in den unter 2d genannten Anstalten als Hilfskräfte gegen 
freie Verpflegung. 


. Der Semivarleiter hat das Recht, der Erziehungsdirektion Vorschläge zu machen 


für die Lehraufträge, für welche der Verband die Hochschule in Anspruch 
nimmt. 


. Der Verband wählt nach Verständigung mit der Erziehungsdirektion den Leiter 


des Seminars. Dabei setzt der Verband voraus, daß der Lehrauftrag für 
Heilerziehung und Fürsorge dem Leiter des Seminars übertragen wird. 


. Für die Lehraufgaben, für welche das heilpädagogische Seminar die Hilfe 


der Hochschule nicht in Anspruch nimmt, wählt der Verband nach Vorschlag 
des Seminarleiters die ibm geeignet erscheinenden Lehrkräfte. 


. Die Beschaffung der Betriebsmittel, soweit sie nicht nach Leitsatz 2 von der 


Erziehungsdirektion übernommen wird, ist Sache des Verbandes. 


Ausbildungsfragen. 159 


In Aussicht genommen sind: 

a) Beiträge des Bundes; 

b) Beiträge von Erziehungsdirektionen und anderen Behörden; 

c) Beiträge der interessierten gemeinnützigen Gesellschaften, Heilerzieher- 
und Fürsorgevereine; 

d) Beiträge von Privaten. 


Dem »Pädagogischen Zentralblatt« 1924, 3 entnehmen wir: Karsus für Heil- 
pädagogik und Psychopathenfürsorge, veranstaltet vom Deutschen Institut für 
wissenschaftliche Pädagogik und dem Caritasverbande des Bistums Münster in der 
Zeit vom 10.—14. Juni 1924: Prof. Dr. Ettlinger: Grundbegriffe der Psy- 
chologie. Oberschulrat Hellwig: Allgemeine Pädagogik. Privatdozent Dr. 
Honecker: Experimentelle Psychologie. Schwester Josepha Werl: Willens- 
und Charakterbildung bei Psychopathen. Privatdozent Dr. Müncker: Die 
moralische Wertung der Handlungen von Psychopathen. Prof. Dr. 
Tobben: Heilpädagogik und Verwahrlosung. Universitätsprofessor Dr. Weber: 
Sozialökonomische Tatsachen als Schadensquellen für die Jugend. 
Sämtliche Anfıagen sind zu richten an das Deutsche Institut für wissenschaftliche 
Pädagogik, Münster i. W., Borromäum. Die Teilnehmerkarten werden von dort 
versandt. Karten für die gesamte Veranstaltung (Kosten) 10 M, für die Vorlesungs- 
stunde 1 M. 


Dem »Pädagogischen Zentralblatt«e 4. Jahrg., Heft 1, S. 26 entnehmen wir 
Lehrgänge für psychologische Schülerbeobaehtung beabsichtigt das Zentral- 
institut im Jahre 1924 in verschiedenen Städten einzurichten. Sie sollen die 
Kenntnis der allgemeinen seelischer Verfassung der Jugend und ihre Differenzierung 
nach Alter, Geschlecht, Abstammung und sozialer Umwelt, ebenso die Kenntnis 
vorkommender individueller Unterschiede auf dem Gebiete der Aligemeinbegabung, 
der Sonderbegabung, Talente, Neigungen, Temperaments- und Charaktereigenschaften, 
ferner die Kenntnis der psychologischen Faktoren der Schularbeit in den einzelnen 
Fächern erweitern und vertiefen und die Fähigkeit zu richtiger Erfassung und 
Verwertung der psychologischen Momente ausbilden helfen, die im Schulleben 
mitspielen. 


Der »L Infanzia Anormale« Nr. 6 entnehmen wir, daß vom Psychopädagogischen 
Institut in Buenos Aires ein Fortbildungskursus für l,ehrer veranstaltet wird, 
die sich über abnorme Kinder und Jugendliche zu unterrichten wünschen. Bei dem 
Kursus sollen nur 20 Hörer zugelasseu werden. Näheres hierüber folgt in einer 
der nächsten Nummern dieser Zeitschrift. 


Lehrgang über die Verordnung über die Fürsorgepflicht 


vom 13. Februar 1924 veranstaltet vom »Archiv für Wohlfahrtspflege«, Berlin, in 
der Zeit vom 30. April 1924 bis einschl. 21. Mai 1924. Lehrzeit: Montags und Mitt- 
wochs von 5.30—7 Uhr nachm. pünktlich. Lehrstätte: Archiv für Wohlfahrtspflege, 
Flottwellstr. 41. Beginn der Vorlesungen: Mittwoch, den 30. April 1924. Teilnehmer- 
karten Mk. 3 für den Lehrgang. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 11 


160 Ausbildungsfragen. 


Vorlesungen. 
I. Inhalt der Verordnung. 


Mittwoch, den 30. IV. 24, 5.30—6.15 Uhr: S. Wronsky, Entstehung und Bedeutung 
der Verordnung. 

Mittwoch, den 30. IV. 24, 6.15—7 Uhr: Ministerialrat Dr. Wölz, Träger der Für- 
sorge ($$ 1—5 d. V.). | 

Montag, den 5. V. 24. 5.30—6.15 Uhr: Oberregierungsrat Dr. Behrend, Umfang der 
Fürsorge (8 6 d. V.) und Grundsätze über Voraussetzung, Art und Maß öffent- 
licher Fürsorgeleistungen vom 28. III. 24. 

Montag, den 5. V. 24, 6.15—7 Uhr: Ministerialrat Dr. Wittelshöfer, Zuständigkeit 
($§§ 7—15 d. V.), Kostenersatz (8$ 16—18 d. V.). 

Mittwoch, den 7. V. 24, 5.30—6.15 Uhr: Stadtrat Muthesius, Arbeits- und Unter- 
haltspflicht (88 19—26 d. V.). 

Mittwoch, den 7. V. 24, 6.15—7 Uhr: Stadtrat Dr. Friedländer, Schluß- und Über- 
gangsbestimmungen (§§ 27—39 d. V.). 


II. Durchführung der Verordnung. 


Montag, den 12. V. 24, 5.30—6.15 Uhr: BürgermeisterAugustin, Die Armenpflege 
auf Grund des U.W.G. und der Bestimmungen in der Verordnung über die 
Fürsorgepflicht. 

Montag, den 12. V. 24, 6,15—7 Uhr: Ministerialrat Dorothea Hirschfeld, Die soziale 
Fürsorge für Kb. und Kh. Die Durchführung des R.V.G., Abschn. II und 
der »Zuständigkeitsgrundsätze« im Rahmen der Bestimmungen der Verordnung 
über die Fürsorgepflicht. 

Mittwoch, den 14. V. 24, 5.30—6.17 Uhr: Regierungsrat Dr. Richter, Die Sozial- 
und Kleinrentner-Fürsorge auf Grund des Gesetzes über Notstandsmaßnahmen 
zur Unterstützung von Rentenempfängern der Invaliden- und Angestellten- 
Versicherung vom 7. XII. 21 nebst Ergänzungsverordnungen und des Gesetzes 
über Kleinrentnerfürsorge vom 4. II. 23. Die Durchführung der Fürsorge 
im Rahmen der Verordnung über die Fürsorgepflicht. 

Mittwoch, den 14. V. 24, 6.15—7 Uhr: Direktor Dr. Becker, Die Fürsorge für 
Schwerbeschädigte und Schwererwerbsbeschränkte. Arbeitsbeschaffung nach 
dem Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 12. I. 23 im 
Rahmen der Verordnung über die Fürsorgepflicht. 

Montag, den 19. V. 24, 5.30—6.15 Uhr: Dr. jur. Margarete Berent, Die Fürsorge 
für hilfsbedürftige Minderjährige im R.J.W.G. und die entsprechenden Be- 
stimmungen in der Verordnung über die Fürsorgepflicht, 

Montag, den 19. V. 24, 6.15—7 Uhr: Reg.-Rat Dr. Käthe Gaebel, Die Wochen- 
fürsorge nach dem Gesetz vom 9. VI. 22 nebst Ergänzungsverordnungen und 
die Durchführung im Rahmen der Verordnung über die Fürsorgepflicht. 

Mittwoch, den 21. V. 24, 5.30—6.10 Uhr: Obermag.-Rat Dr. Ollendorft, Die Organi- 
sation der Öffentlichen Fürsorge. Die Durchführung auf Grund der Ver- 
ordnung über die Fürsorgepflicht im Rahmen der bestehenden Fürsorgeämter 
(Woblfahrts-, Jugend- und Gesundheitsämter). 

Mittwoch, den 21. V. 24, 6.10—6.50 Uhr: S. Wronsky, Die Zusammenarbeit der 
öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege auf Grund des § 5 der Verordnung 
über die Fürsorgepflicht. 


Gesetzgebung. 161 


Mittwoch, den 21. V. 24, 6.50—7.30 Uhr: Ministerialrat Helene Weber, Die Arbeit 
der beamteten und ehrenamtlichen Kräfte in der Wohlfahrtspflege auf der 
Grundlage der Verordnung über die Fürsorgepflicht. 


Gesetzgebung. 


Verordnung der Beichsregierung über das Inkrafttreten des 
Beichsgesetzes tür Jugendwohlfahrt. 
(Vom 14. Februar 1924. Reichsgesetzbl. I, S. 110.) 


Auf Grund des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923 (Reichgesetzbl. I, 
S. 1179)*) verordnet die Reichsregierang nach Anhörung eines Ausschusses des 
Reichsrats und des Reichstags: 


Artikel 1. Artikel8 des Einführungsgesetzes zum Reichsgesetze für Jugend- 
wohlfahrt vom 9. Juli 1922 (Reichsgesetzbl. I, S. 647)?) erhält folgende Fassung: 


Bis auf weiteres sind Reich und Länder nicht verpflichtet, Bestimmungen des 
Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt durchzuführen, die neue Aufgaben oder eine 
wesentliche Erweiterung bereits bestehender Aufgaben für die Träger der Jugend- 
wohlfahrt enthalten. Es wird daher unter Aufrechterhaltung des Gesetzes im übrigen 
folgendes bestimmt: 


1. Die oberste Landesbehörde kann den Gemeinden oder Gemeindeverbänden 
($ 8) die Befuguis erteilen, statt der Einrichtung von Jugendämtern nach den $ 9 
und 10 die dem Jugendamt obliegenden Aufgaben einer anderen nach Maßgabe des 
Gemeindeverfassungsrechts gebildeten Amtsstelle der Selbstverwaltung oder einer 
anderen geeigneten Amtsstelle zu übertragen, die erforderlichenfalls eine auf die 
Jugendwohlfahrt hinweisende Zusatzbezeichnung zu führen habe. Hierbei ist den 
im Bezirke der Amtsstelle wirkenden freien Vereinigungen für Jugendwohlfahrt und 
Jugendbewegung eine den Bestimmungen des $ 9 Abs. 2 entsprechende Mitwirkung 
innerhalb der Amtsstelle zu gewährleisten. 


2. Die Durchführung der §§ 12 bis 14 über das Landesjugendamt wird dem 
Ermessen der Länder überlassen. Die 88 16 und 17 über das Reichsjugendamt 
treten nieht in Kraft. Im $ 77 wird hinter »Landesbehörde« eingeschoben »oder 
dem Landesjugendamte«. 

3. Die oberste Landesbehörde kann von der Durchführung der Aufgaben des 
& 3 Nr. 5 bis 8 befreien. 


4. Eine Verpflichtung zur Durchführung der im $ 4 bezeichneten Aufgaben 
besteht nicht. 


5. Die oberste Landesbehörde kann auf Antrag die Altersgrenze des § 19 
herabsetzen. Die Herabsetzung ist nur zulässig, wenn die Durchführung des $ 19 
eine wesentliche Erweiterung bestehender Aufgaben bedeuten würde. 

6. Die oberste Landesbehörde kann auf Antrag Gemeinden und Gemeinde- 


verbände von der Durchführung der Bestimmung über die gesetzliche Amtsvor- 
mundschaft (38 35 bis 40) befreien. 





1) Nicht abgedruckt. 
1) Veröff. 1922, S. 556. 


11* 


162 Gesetzgebung. 


7. Die Ausübung der Schutzaufsicht ($ 60) darf auf ein Jugendamt nur mit 
seinem Einverständnis übertragen werden. 

8. Die Bestimmung des § 70 Abs. 2 Satz 5 wird aufgehoben. 

Artikel 2. Der Abschnitt V des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt ein- 
schließlich des $ 3 Nr. 3 wird mit Ausnahme des $ 55 aufgehoben. Bis zum Erlaß 
anderer Bestimmungen gelten die Vorschriften im § 49 Abs. 1 und 2 als Vor- 
schriften im Sinne des $ 6 der Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 
13. Februar 1924.) 

Artikel 3. $ 78 des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt wird aufgehoben. 


Artikel 4. Diese Verordnung tritt am 1. April 1924 in Kraft. 


1) Veröff. S. 202. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


200M 
romcat ROON 
GENERAL LIBRAKY pig 19 


ZEITSCHRIFT FUR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDETVONJTRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E.V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


Aa: 
RD 1 
Á ti 


UNTER MITWIRKUNG VON 


GQ. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN I. B., TH. HELLER- 
WIEN - GRINZING, E. MARTINAK-ORAZ, H. NOHL - GOTTINGEN, 
F. WEIGL- AMBERQ 


HERAUSGEGEBEN VON + 


F. KRAMER RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN. BERLIN. BERLIN. 

M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURO, R. EGENBERGER, 
MÛNCHEN. MÜNCHEN. MÜNCHEN. 


NEUNUNDZWANZIGSTER BAND, HEFT 3 
(AUSGEGEBEN AM 5. JULI 1924) 





BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 


II Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Band. 3. Holt. 





Die Zeitschrift für Kinderforschung 


erscheint in zwanglosen, einzeln berechneten Heften. die zu Bänden von etwa 40 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 
Manuskripte werden erbeten an: 
Herrn Professor Dr. M. Isserlin, München, Krankenhaus Schwabing 
oder 
Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W. 15, Bayerische Str. 9. 
Redaktionelle Anfragen sind zu richten 
für den Originalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W.15, 
Bayerische Str. 9, 
für den Referatenteil an Dr. R. Hirschfeld, Berlin W.9, Linkstr. 23/24. 


Die Verfasser erhalten von jeder Arbeit 5U Sonderabdrucke unentgeltlich, weitere 
gegen Berechnung. 

Mit Rücksicht auf dio außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung gestellten Anzahl zu begnügen, und falls mehr 
Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom Verlage za er- 
fragen, um unlicbsame Überraschungen zu vermeiden. 








29. Band. Inhaltsverzeichnis. 3. Heft. 
Seite 
Zade, Martin. Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter . . . . . . 163 
Eliasberg, W. Wie entstehen und verlaufen aufgabefreie »natürliche« en. 
vorgänge? . . . . 187 
Theissen, A. Eine Mehrleistung auf de Gebiete des Gedächtnisses T eiaem 
Schwachsinnigen . . m gea e u a a ee ea e e a ES 
Heilpädagogische Besklebuineen ae a a ae ae Pe. Sag Fra re Bo 
Ausbildungsfragen . .. 20 ln ee. 26 
Gesetzgebung . 22. l nn EP a E E a; 
Verschiedenes >. 5. 4 1% we u: = Eu Eau ae Be 298 


Verlag von Julius Springer in Berlin W 9 


Soeben erschien: 


Zur Phänomenologie und 
Klinik des Glücksgefühls 


Von Dr. H. C. Rümke, Amsterdam 
(IV, 98 S.) — 6 Goldmaırk ı Fürs Ausland 1.45 Dollar 
(Heft 39 der Monographien aus dem Gesamtgebiete 
der Neurologie und Psychiatrie) 
Herausgegeben von O. Foerster-Breslau und K. Wilmanns- Heidelberg 





Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 


Von 


Prof. Dr. Martin Zade, Heidelberg. 
Mit 3 Abbildungen. 


Die vorliegende Abhandlung will den Leser mit dem Wesen 
der Blindheit bekannt machen und den heutigen Stand der Blinden- 
fürsorge des Kindesalters in kurzen Umrissen darstellen. 

Die Definition des Begriffes blind stößt insofern auf Schwierig- 
keiten, als es nicht angängig ist, nur denjenigen als blind zu be- 
zeichnen, der gar keine Lichtempfindung hat. Es wird der Zustand 
des völligen Fehlens jeglicher Lichtempfindung von den Augenärzten 
mit Amaurose bezeichnet. 

Der Amaurotische ist blind im wissenschaftlichen Sinne, und es 
ist erforderlich, den Begriff der praktischen Blindheit von dem 
der wissenschaftlichen abzusondern. Es ist klar, daß jemand, der 
noch hell und dunkel unterscheidet, aber größere Gegenstände optisch 
nicht mehr erfassen kann, praktisch zu den Blinden gerechnet werden 
muß. Um nun den Begriff der vraktischen Blindheit genauer zu 
kennzeichnen, ist schon vor einer Reihe von Jahren von Lachmann 
(1843) der Vorschlag gemacht worden, die Erwerbsfähigkeit als 
Maßstab heranzuziehen und als praktisch blind denjenigen zu bezeichnen, 
der wegen der fehlenden Sehkraft erwerbsunfähig ist. Dieser Gedanke 
ist nun in neuerer Zeit wieder aufgenommen und wohl alle neueren 
Autoren stimmen der kurzen Axenfeldschen Fassung zu, welche lautet: 
optisch nicht erwerbsfähige Menschen sind blind. Wird dies 
als Grundsatz angenommen, so bleibt immer noch die Frage: bis zur 
Grenze welcher Sehfähigkeit darf dabei gegangen werden? Natürlich 
ist zu bedenken, daß die optischen Anforderungen der Berufe sehr 
verschieden sind und daß persönliche Eigenschaften, besonders der 
Intellekt, zu berücksichtigen sind. Danach sieht es so aus, als ließe 
sich eine bestimmte Grenze gar nicht ziehen. Um das doch zu er- 
reichen, muß man einen Durchschnitt nehmen, um so nach Möglich- 
keit zu zahlenmäßigen Festlegungen zu kommen. In der Tat hat sich 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 12 


164 M. Zade: 


jahrelang die Bestimmung gehalten, daß praktisch blind derjenige ist, 
der die Finger der ausgestreckten Hand bis zu einer Entfernung in 
ein Meter nicht zählen kann, das entspricht einer Sehschärfe von !/so. 
Wie ist man auf diese Zabl gekommen? Ehe die Erwerbsfähigkeit 
als Maßstab eingeführt war, ging man bei dem Begriff der praktischen 
Blindheit von der Orientierungsfähigkeit im Raume aus, indem man 
sagte, blind ist derjenige, welcher das optische Orientierungsvermögen 
verloren hat, sich also in unbekannten Räumen ohne Führer nicht 
zurecht finden kann (in bekannten Räumen bewegen sich Blinde mit 
überraschender Sicherheit). Die optische Orientierungsfähigkeit hört 
aber mit etwa !/,, Sehschärfe auf. So ist denn diese Grenze von 
t/o Sehschärfe bis in die letzte Zeit als das Maß für den Begriff der 
praktischen Blindheit geltend gewesen. Erst die Jahre nach dem 
Weltkrieg baben durch die große Zahl der Kriegserblindungen (in 
Deutschland wurden nach Bab [1] im Jahre 1922 3349 Kriegsblinde 
gezählt) erhöhtes Interesse für diese Frage wachgerufen, und es zeigte 
sich, daß die optische Erwerbsunfähigkeit bei wesentlich besserer Seh- 
schärfe als !/,, im Durchschnitt beginnt, nämlich schon bei einer 
Herabsetzung auf !/,, bis ein !/,,, das ist etwa Fingerzählen in 2,5 
bis 3m. Hinzuzufügen ist noch, daß die zentrale Sehschärfe nicht 
allein maßgebend ist, sondern daß bei starken Gesichtsfeldstörungen 
trotz noch besserer Sehschärfe Blindheit als vorliegend zu erachten 
ist. Das klassische Beispiel dafür ist die sogenannte Retinitis pigmen- 
tosa, die auf ererbter Grundlage beruhende Degeneration der Netzhaut, 
bei welcher das Gesichtsfeld schließlich so hochgradig eingeengt wird, 
daß eine Orientierung im Raume auch bei noch besserer Sehschärfe 
als 1/,, ausgeschlossen sein kann. 

Gehen wir noch einen Schritt weiter und überschreiten wir die 
Grenze von !/,, Sehschärfe, so kommen wir an den Zustand der 
Augen, der als Schwachsichtigkeit bezeichnet wird. Von dieser soll 
später die Rede sein. 

Wenden wir nun unser Interesse der Blindheit im Kindesalter 
zu, so fällt zwar scheinbar die Erwerbsfähigkeit zunächst als zu be- 
rücksichtigender Faktor fort, aber es ist kein Grund vorhanden, für 
den späteren Erwachsenen besondere Normen anzunehmen, so daß, 
was die Kinder betrifft, die genannte Definition ohne weiteres über- 
nommen werden kann. Deyl |2] macht den guten Vorschlag für 
solche Blinde, die zwar noch einiges räumliches Orientierungsvermögen 
haben, aber doch erwerbsblind sind, die Bezeichnung sozialblind ein- 
zuführen. Hochgradig Schwachsichtige, die nach unserer Definition 
als praktisch blind anzusehen sind, nennt der Volksmund gerne Halb- 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 165 


blinde im Gegensatz zu den Ganzblinden, welche als stockblind oder 
vollblind bezeichnet werden. 

Die Diagnose der Blindheit wird dem Augenarzt vorbehalten 
bleiben müssen, am schwierigsten gestaltet sie sich bei Kindern. Die 
wichtigsten Merkmale ergibt vor allem die objektive Augenunter- 
suchung. Bei blinden Augen pflegt die Pupille auf Lichteinfali sich 
nicht zu verengern, was frejlich nicht Gesetz ist. Wesentliche Trü- 
bungen der brechenden Medien, Leukonie der Hornhaut, Staarbildungen 
sind bei seitlicher Beleuchtung im Dunkelzimmer leicht festzustellen, 
die Augenspiegeluntersuchung gibt Auskunft über Veränderungen der 
Netzhaut, Aderhaut und am Sehnerven. 

Die subjektive Untersuchung, das heißt die Sehprüfung, ist bei 
Kindern vor dem Schulalter schwierig. Man hält bei kleinen Kindern 
Gegenstände vor die Augen und beobachtet, ob das Kind die Gegen- 
stände fixiert und Bewegungen derselben folgt. Ist das nicht der 
Fall, so wird der Versuch mit einer Lichtquelle gemacht: am besten 
läßt man im Dunkelzimmer mit dem Augenspiegel Licht von ver- 
schiedenen Seiten in das zu prüfende Auge fallen (das andere Auge 
zuhalten oder zubinden) und beobachtet, ob Augenbewegungen nach 
dem Licht spendenden Spiegel gemacht werden, was gut durch 
Beobachtung des kleinen Spiegelbildchens der Hornhaut festzustellen 
ist. Man kann sich auch einer Kerze bedienen, die vor den Augen 
des Kindes bewegt wird. Neugeborene Kinder machen von ihren 
Augen keinen Gebrauch, es fehlt die psychische Lichtperzeption. 
jedoch reagieren die Pupillen auf Lichteinfal. Nach Gaupp [3] 
fehlen die psychischen Reflexe in den eısten zwei Monaten, ebenso 
fehlt zuerst der ‚,Drohreflex“ (der Augenschluß bei rascher An- 
näherung von Gegenständen). Jedoch schließt sich schon am zweiten 
Tage nach der Geburt das Auge bei Annäherung einer Lichtquelle 
oder es tritt Blinzeln auf. Manche Säuglinge wenden schon bald 
nach der Geburt Kopf und Augen einer plötzlich erscheinenden Hellig- 
keit zu. Mit 6—7 Wochen lernt das Kind blicken und Augen- und 
Kopfbewegungen sinngemäß kombinieren (Gaupp) und es folgt etwa 
vom 4. Monat ab mit den Augen und dem Kopfe einem glänzenden 
Gegenstande. Während des Schulalters, wo genauere Angaben zu 
erwarten sind, wird zuerst die Sehprüfung an der Tafel nach Snellens 
Prinzip vorgenommen; wird an der Tafel nichts erkannt, läßt man 
Finger zählen; ist auch das nicht möglich, wird geprüft, ob Hand- 
bewegungen erkannt werden und wenn das nicht der Fall ist, erfolgt 
die Untersuchung im Dunkelzimmer (Lichtschein und Projektion). 

12* 


166 M. Zade: 


Der Begriff der Blindheit, wie er hier dargelegt wurde, bezieht 
sich nicht auf das einzelne Auge, sondern auf den blinden Menschen, 
wir haben also stillschweigend vorausgesetzt, daß es sich hier nur um 
doppelseitige Blindheit handeln kann. Weiter ist noch zu be- 
tonen, daß eine Abhandlung über Blindenwesen sich nur mit den 
Fällen von unheilbarer Blindheit beschäftigt. Denu die durch 
ärztliche Behandlung heilbare Blindheit ist als ein vorübergehender 
Zustand, als eine heilbare Krankheit anzusehen, während nur die un- 
heilbar Blinden pflege- und der ständigen sozialen Fürsorge bedürftig sind. 

Unsere Definition der praktischen Blindheit lautet endgültig: 
praktisch blind ist, wer dauernd und unheilbar so wenig sieht, daß 
ihm dadurch jeder Beruf unmöglich gemacht wird, welcher den 
Gebrauch der Augen verlangt (nach Fuchs) [4]. 

Für die Aufnahme in Blindenanstalten gelten Bestimmungen, die 
dem Wesen nach diese Definition enthalten. 

Haben wir somit gesehen, daß nicht alle, die blind genannt 
werden, in gleicher Weise blind sind, indem neben dem Amaurotischen 
ein hochgradig schwachsichtiger zu finden ist, was in den Blinden- 
anstalten stets zur Geltung kommt, so müssen wir nun weiter die 
verschiedenen Formen der Blindheit nach der Ursache derselben 
unterscheiden. Während es für den einzelnen Blinden im allgemeinen 
belanglos ist, wodurch er erblindet ist, so sind die Blindheitsursachen 
von hoher Bedeutung für die Bestrebungen, Blindheit zu verhüten. 
Es sollen deshalb Ursachen und Verhütung der Blindheit 
gemeinsam besprochen werden. 

Von dem Gesichtspunkt der Verhütung aus wäre es am besten, 
die Blindheitsursachen einzuteilen in vermeidbare und unvermeid- 
bare Ursachen; es brauchten dann nur die vermeidbaren besprochen 
zu werden. Da lassen sich nun aber keine scharfen Grenzen ziehen, 
aber es muß die Vermeidbarkeit tunlichst berücksichtigt werden. 
Nach übereinstimmendem Urteil vieler Autoren sind bei uns noch 
30—40 /, der Erblindungen zu vermeiden, es ist also für die Arbeit 
noch ein wertvolles Feld vorhanden. 

Wir betrachten die Erblindungsursachen in folgender Reihenfolge: 

l. auf erblicher Grundlage beruhend, 
2. erworbene Ursachen, 
a) idiopathische Augenkrankheiten (Infektionen, Glaukom, Myopie, 
Erkrankungen der einzelnen Teile des Auges, Verletzungen); 

b) durch Körpererkrankungen. 

Die zur Blindheit führenden vererbbaren Krankbeiten können 
echte Vererbungen sein wie z. B. bei der Retinitis pigmentosa, oder 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 167 


aber es ist der Keim vor der Geburt erkrankt wie bei der ererbten 
Syphilis. Oft ist beides nicht zu unterscheiden wie z. B. bei der 
Tuberkulose, wo es zweifellos eine Vererbung der Disposition gibt, 
andrerseits auch analoge Verhältnisse wie bei der Syphilis vorliegen 
können. 

Angeboren kommen eine Reihe von Mißbildungen vor, vom Fehlen 
der Augäpfel (Anophthalmus) bis zur Verkümmerung einzelner Teile 
oder des ganzen Organs (Mikrophthalmus). Weiter können einzelne 
- Organteile mangelhaft entwickelt oder, was nicht immer festzustellen 
ist, intrauterin erkrankt und dadurch zum Hinschwinden gekommen 
sein, so werden Kinder mit Atrophia nervi optici, mit Staar geboren, 
mit Entartung der inneren Häute (Retina, Chorioidea). Die Augäpfel 
der Neugeborenen sind in seltenen Fällen abnorm ausgedehnt, es 
handelt sich dann um angeborenes Glaukom oder Hydrophthalmus, 
auch Buphthalmus genannt. Alle diese Veränderungen können be- 
wirken, daß das Kind blind zur Welt kommt, sehr häufig aber tritt 
die Erblindung erst in den ersten Lebensjahren ein (Heller) [5]. Das 
Letztere ist gewöhnlich der Fall bei den verschiedenen Formen der 
Netzhautentartung und bei Sehnervenentzündung. Die vererbbaren 
Infektionen werden besser später besprochen. 

Die Zahl der ererbten Erblindungen beträgt 7 bis etwa 20°/, der 
Erblindungen, die Zahlen sind wie die meisten statistischen Blinden- 
zahlen recht ungefähr. Aus drei Jahrgängen der badischen Blinden- 
anstalt zu Ilvesheim (1913—14, 1915—16 und 1921—22) errechnet 
sich die Zahl der angeborenen Blinden auf 18,6°%,. Es sind dabei 
nur die gezählt, welche in der Anstaltsstatistik als angeboren be- 
zeichnet sind. Bei all diesen zahlenmäßigen Feststellungen ist hinderlich, 
daß irgendwo Angaben von Laien verwertet werden müssen, die auf 
Zuverlässigkeit keinen Anspruch machen. Nach der Schädlerschen 
Statistik aus Bayern [6] (1905) kommen auf ererbte Krankheiten nur 
7,65°/ der Blinden. Es ist dabei zu betonen, daß die genannten 
18°/, sicb auf Kinder im schulpflichtigen Alter beziehen, während 
diese 7°/, alle Lebensalter mit umfassen. Offenbar erreichen die 
meisten kein hohes Alter. 

Als ursächliches Moment bei den vererbbaren zur Erblindung 
fübrenden Augenkrankheiten kommt der Verwandtenehe eine gewisse 
Bedeutung zu, am meisten gilt dies für die Retinitis pigmentosa. Sie 
kommt in blutsverwandten Ehen dreißigmal häufiger als bei anderen 
Kindern vor (Fuchs). Prophylaktische Maßnahmen gegen die Ver- 
wandtenehe sind über das bisher Bestehende hinaus in absehbarer 
Zeit von Staats wegen wohl nicht zu erwarten. Es hat eine eugenische 


168 M. Zade: 


Bewegung eingesetzt, die ihre Ziele sehr weit steckt. Was die Blinden 
betrifft, so verlangt Grotjahn [7] die zwangsweise Asylierung und 
ein Hinarbeiten auf die Ehelosigkeit, indem er vorschlägt, Unter- 
stützungen nur an unverheiratete Blinde zu gewähren. Es ist das 
sicher zu weit gegangen. Was die Ehe betrifft, so ist man längst 
darüber einig, daß sie fur den männlichen Blinden ratsam, für die 
Frau aber nicht empfehlenswert ist. Andere prophylaktische Maß- 
nahmen als die auf eugenischem Gebiet liegenden haben bei den er- 
erbten Krankheiten nur Sinn bei den Infektionskrankheiten. 

Die weitaus größere Zahl machen die erworbenen Krankheiten aus, 
und es spielen unter den zur Erblindung führenden Augenkrankheiten 
die erste Rolle die Infektionskrankheiten. Von den sogenannten 
konstitutionellen Infektionskrankheiten stehen obenan Tuberkulose 
und Syphilis. 

Beide Erkrankungen finden wir bei den Blinden häufiger in den 
ersten Lebensjahren durch Übertragung von den Eltern, weniger wohl 
durch vererbte Disposition, bei der Tuberkulose meist erworben. Bei 
Kindern finden wir als Erblindungsursache oft Skrophulose an- 
gegeben, und es ist bei den blinden Kindern, da es sich um die Be- 
urteilung eines Endzustandes handelt, selten möglich, noch diagnostische 
Unterscheidungen zu machen. Jedenfalls dürfte die der Tuberkulose 
verwandte Skrophulose — die meisten Pädiater fassen sie als eine be- 
sondere Form der Tuberkulose auf — häufiger sein als echte Tuber- 
kulose. Was nun die Bekämpfung anbetrifft, ist diese Unterscheidung 
nicht von Bedeutung. Es braucht an dieser Stelle nur gesagt zu 
werden, daß die Tuberkulosebekämpfung auch einen Teil zur Ver- 
hütung der Blindheit beiträgt. Um einen zahlenmäßigen Anhaltspunkt 
zu haben, sei angegeben, daß in der erwähnten Zusammenstellung der 
badischen Blindenanstalt auf Tuberkulose und Skrophulose 3°/, der 
Blinden kommen. 

Im Gegensatz zur Tuberkulose kommt der Syphilis eine große 
Bedeutung als Blindheitsursache zu, wahrscheinlich noch mehr, als 
aus Statistiken zu ersehen ist. Wie Igersheimer betont, müßte zur 
genauen Feststellung die Wassermannsche Lues-Reaktion herangezogen 
werden. Wir finden in älteren Statistiken die Syphilis als Blindbeits- 
ursache teils gar nicht, teils sehr niedrig angegeben, so bei Hirsch [8] 
mit 3,7°/,. Dem steht als Extrem gegenüber, daß Brühl!) bei Taub- 
blinden die Syphilis in 50°/, als Ursache annimmt und zwar »ererht«. 
Widmark [10] gibt für Stockholm 14—15°/, an, Harmann [11] 


1) Zitiert nach Eversbusch [9]. 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 169 


(Amerika) kommt auf 40°/, im Kindesalter und auf nur 9°/, bei Er- 
wachsenen. Es leuchtet ein, daß es bei der Syphilis ganz darauf an- 
kommt, ob bei der Zählung städtische oder ländliche Bevölkerung 
vorliegt, am schlechtesten schneiden die Großstädte ab (Crzellitzer) [12]. 
Geben die Zahlen auch kein getreues Bild, so zeigen sie doch die 
ungeheure Bedeutung, welche der Bekämpfung der Geschlechtskrank- 
keiten für das Volkswohl zukommt und man möchte im Hinblick auf 
die hier genannten Zahlen meinen, daß noch mehr als 40°/, der Er- 
blindungen vermeidbar sind. 

Hat die Syphilis die größte Bedeutung als vererbbare Krankheit 
(wie gesagt nicht als echte Vererbung, sondern als Infektion der 
Keimzellen), so ist die andere immer noch stark verbreitete Geschlechts- 
krankheit, die Gonorrhoe, am gefährlichsten für das früheste Kindes- 
alter. Sie tritt bei Neugeborenen als sogenannte Blennorrlioea neo- 
natorum auf und ist hier eine der bedeutsamsten Blindheitsursachen. 
Sie beruht auf Infektion der Augenschleimhäute mit dem von Neisser 
entdeckten Gonokokkus, die Gefahr für das Auge beruht darauf, daß 
dıe schwere eitrige Entzündung sich leicht dem Augapfel, der Horn- 
haut, mitteilt, nach deren Zerstörung die Sehkraft erlischt. Es kommt 
diese Krankheit auch bei Erwachsenen vor (Blennorrhoea adultorum), 
und es ist die Gefahr für die Hornhaut des Erwachsenen noch größer 
als bei Kindern. Dennoch sind Blennorrhoeerblindungen bei Er 
wachsenen selten, weil die Übertragungen auf die Augen seltener sind. 
Bei Neugeborenen erfolgt die Ansteckung unter der Geburt, wenn die 
mütterliche Schleimhaut mit Gonokokken infiziert ist. Die Krankheit 
tritt in den ersten Lebenstagen auf. Die Augeneiterung der Neu- 
geborenen, wie dio Krankheit meist genannt wird, war gegen das 
Ende des vorigen Jahrhunderts in rund 30°/,, nach anderen Angaben 
bis zu 60 °/, Erblindungsursache. In den Gebäranstalten war man ge- 
wöhnt, einen Teil der Neugeborenen an dieser Krankheit leiden zu 
sehen, bis der Dresdner Frauenarzt Cred& 1881 als prophylaktische 
Maßnahme vorschlug, jedem neugeborenen Kind einen Tropfen einer 
2prozent. Höllensteinlösung in den Bindehautsack zu träufeln. Es 
hat sich diese Maßnahme allmählich Bahn gebrochen und ist im Laufe 
der Jahre sogar in den meisten Ländern obligatorisch eingeführt 
worden. Die Hebamme wird verpflichtet, nach jeder Geburt den 
Tropfen zu geben. Von untergeordneter Bedeutung ist für diese Be- 
trachtung, daß statt der Höllensteinlösung Ersatzmittel in Gebrauch 
sind, so ist in Baden vor nicht langer Zeit das Sophol eingeführt. 
worden. Bayern führte die Credösche Prophylaxe zuerst ein (1898), 
Preußen im Jahre 1911. 


170 M. Zade: 


Syphilis und Gonorrhoe sind die verderblichsten Geschlechts- 
krankheiten, sie zeigen ihre verheerende Bedeutung auch im Blinden- 
wesen; nach Igersheimer [13] kommen auf beide Erkrankungen zu- 
sammen etwa !/, aller Erblindungen. 

Wir kommen weiter zu der sogenannten ägyptischen Augen- 
krankheit, dem Trachom. Die Trachomerreger wirken spezifisch auf 
das Auge und kommen an anderen Körperteilson als krankmachend 
nicht in Frage. Die Erreger sind nicht mit voller Sicherheit bekannt, 
die von Prowatzek und Halberstaedter entdeckten »Chlamydozoen« 
sind vielleicht die Erreger. Das Trachom tritt als schleichende in- 
fektiöse Krankheit auf, es entwickeln sich in den Bindehäuten, var- 
wiegend der oberen Lider körnerartige Erhebungen (Follikel), daher 
der Name Körnerkrankheit. Die Gefahr für das Sehorgan liegt genau 
wie bei der Blennorrhoe, aber doch in ganz anderer Art darin, daß 
die Hornhaut mitergriffen wird. Während bei der Blennorrhoe die 
Hornhaut durch geschwürigen Zerfall in kurzer Zeit zerstört werden 
kann, wird sie beim Trachom in der Weise ergriffen, daß sich dicht 
unter der Oberfläche, stets oben beginnend, eine häutchenartige 
Wucherung langsam vorschiebt, gleichzeitig neugebildete Gefäße mit- 
bringend (Pannus trachomatosus).. Das durch den Pannus veränderte 
Gebiet fällt für die Lichtbrechung fort, es ist entzündlich verändert, trübt 
sich und ist unregelmäßig geformt. Schiebt sich der Pannus über 
die Pupille fort und bildet er sich allmählich auch von anderen Seiten 
her, so geht das Sehvermögen sehr stark zurück. Im weiteren Ver- 
lauf des Trachoms treten Vernarbungen in den Lidern auf, die zu 
Verkrümmungen derselben führen und zu Stellungsanomalien der Lider, 
wobei die Wimpern sich gegen den Augapfel richten und zu weiteren 
Zerstörungen der Hornhaut führen. Bis ein unbebandeltes Trachom 
zur Erblindung führt, können Jahre vergehen, man trifft deshalb in 
den von Trachom durchseuchten Ländern mehr erwachsene Trachom- 
blinde als Kinder. 

Das Trachom ist heilbar, das hat es mit der Blennorrhoe gemein- 
sam. Bei rechtzeitig eingeleiteter sachgemäßer Behandlung und bei 
konsequenter Durchführung — das Trachon muß sehr lange in Be- 
obachtung bleiben — sollte keine Erblindung durch eine dieser beiden 
Krankheiten vorkommen. Es ist also alles daranzusetzen, Erkrankte 
der augenärztlichen Behandlung so bald als möglich zuzuführen. Wie 
weit das möglich ist und welcher Erfolg dabei zu erzielen ist, zeigt 
der Bericht von Ewald [14]: durch planmäßige Bekämpfung ist das 
Trachom im Regierungsbezirk Königsberg im Jahre 1899 noch zu 
13,8°/, in der Bevölkerung verbreitet gewesen, im Jahre 1905 nur 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 171 


noch zu 3.50%. Warum das Trachom gewisse Länder bevorzugt, 
also seine Geographie hat, ist nicht genau bekannt. Daß die 
hygienischen Verhältnisse von Bedeutung sind, ist klar, bevorzugt 
werden Flußniederungen (Ägypten, Donau usw.), in Deutschland ist 
der Osten nie frei, sporadische Fälle kommen in Hessen und der 
Rheinpfalz vor. 

Noch seltener als die Trachomblindheit ist bei uns die Pocken- 
blindheit dank der Durchführung der Impfungen. Es beteiligen 
sich die Augen oft bei der Pockenerkrankung, viele von den Be- 
troffenen sterben, ein gewisser Prozentsatz erblindet. Vor Einführung 
der obligatorischen Impfung verdankten 35°), der Blinden ihre Blind- 
heit. den Pocken. 

Gegenüber den genannten Infektionen treten andere als Erblindungs- 
ursachen ganz zurück. Diphtheriebazillen können schwere Hornhaut- 
entzündung machen. Die Lepra kennen wir fast nur noch dem Namen 
nach, ganz selten kommen Leprainfektionen am Auge bei uns zur 
Beobachtung. 

Zwei eigenartige Augenerkrankungen führen zur Blindheit: das 
Glaukom und die hochgradige Kurzsichtigkeit. Das Glaukom hat 
sein Wesen in Erhöhung des intraokularen Druckes, und das macht 
sich bei Kindern anders geltend als bei Erwachsenen. Während bei 
Erwachsenen die Augenwände (Sklera) starr sind und der erhöhte 
Druck nicht die Form des Auges verändern kann, gibt die kindliche 
Augenwand nach und es kommt zu einer Vergrößerung des ganzen 
Auges (Hydrophthalmus, Buphthalmus). Das Glaukom des Kindesalters 
kann angeboren sein, es kann auch die Blindheit schon angeboren 
sein, meist aber tritt sie erst in den kindlichen Lebensjahren, oft auch 
gar nicht ein, der Prozeß kann zum Stillstand kommen. Das Glaukom 
ist sehr verbreitet, die jüdische Rasse wird häufiger befallen. Die 
Entstehungsursache ist nicht klar, eine vererbbare Veranlagung muß 
angenommen werden. Kurzgebaute, hyperope Augen sind prädisponiert, 
es geht aber aus den Feststellungen Axenfelds hervor, daß auch 
hochgradig Kurzsichtige an Glaukom erkranken können. Das Glaukom 
des Kindesalters ist nicht so selten, und gerade bei Kindern führt 
es noch häufiger zu hochgradiger Sehschwäche oder Blindheit. 
In der badischen Blindenanstalt finde ich aus dem erwähnten Durch- 
schnitt von drei Jahrgängen schulpflichtiger blinder Kinder den hohen 
Prozentsatz von 8,75°/,. Eine Verhütung könnte auf eugenischem 
Gebiet liegen (Verhütung von Ehen), ob Konsanguinität im Spiele ist, 
ist unsicher, vor allem aber ist sorgfältige frühzeitige Behandlung 
anzustreben. 


172 M. Zade: 


Ein Gegenstück zum Glaukom ist die Myopie (Kurzsichtigkeit) 
in ihren höheren Graden. Sie beruht dem Wesen nach auf einer 
abnormen Verlängerung des Augapfels. Während beim jugendlichen 
Glaukom die Augenwand im ganzen nachgibt, dehnt sich hier vor- 
wiegend der hintere Pol stark aus. Die Kurzsichtigkeit ist eminent 
erblich, sie kann im Laufe der Schuljahre zunehmen und pflegt jen- 
seits der Pubertätsjahre zum Stillstand zu kommen. Außer der Erb- 
komponente wird allgemein angenommen, daß zur Entstehung und 
zum Fortschreiten der Kurzsichtigkeit starke und übertriebene Nah- 
arbeit beiträgt. Es ist deshalb von schulhygienischer Seite dieser 
Frage große Bedeutung beigemessen worden, zahlreiche Arbeiten haben 
die erforderliche Lichtmenge, die Haltung des Kindes beim Lesen und 
Schreiben zum Gegenstand gehabt, alles um die Kurzsichtigkeit zu 
bekämpfen. Es kann hier nicht auf diese interessante Frage näher 
eingegangen werden, zu bedenken ist aber, daß die hochgradige Kurz- 
sichtigkeit eine Abnormität für sich zu sein scheint. Sie hängt sicher 
nicht mit Naharbeit zusammen, sie kommt bei der ländlichen Be- 
völkerung und bei Leuten, die nicht lesen und schreiben, fast noch 
häufiger vor als bei Naharbeitern. Eine große Absage der Naharbeit 
als ätiologisches Moment der Myopie enthält die Rektoratsrede von 
E. v. Hippel (Göttingen 1923). v. Hippel mißt die Hauptbedeutung 
der Vererbung zu. Sollen damit, wenn das anerkannt würde, alle 
schulhygienischen Bestrebungen, die durch die alte Kurzsichtigkeits- 
lehre entstanden sind, zusammenfallen? Das darf auf keinen Fall 
geschehen, denn diese Errungenschaften, die sich auf die Anlage von 
Schulen, die Einrichtung von Klassenzimmern, Stundenzahl im Unter- 
richt und vieles andere beziehen, kommen auch anderen und nicht 
den unwichtigsten hygienischen Forderungen zugute, sie dürfen nicht 
wieder verschwinden. 

Als Erblindungsursache finden wir die hochgradige Kurzsichtigkeit 
— nur diese ist mit Gefahren verknüpft, die niederen Grade sind 
harmloser — nicht sehr oft, namentlich nicht bei Kindern. Es ent- 
wickelt sich ja die hochgradige Form schon frühzeitig, dadurch unter- 
scheidet sie sich von den niederen Formen, die wegen ihrer Ent- 
wicklung in der Schulzeit den Namen Schulmyopie erhalten hat; aber 
zur Erblindung führt sie doch, wenn überhaupt, erst in späteren 
Lebensaltern. Die Erblindung erfolgt durch Erkrankungen der Netz- 
haut, entweder in Form atrophischer Prozesse oder der Netzhaut- 
abhebung. Die Prozentzahl der Erblindungen durch Myopie ist nach 
Magnus [15] 6,62°/,, davon kommen auf Netzhautabhebung 5,68 °/,. 
Es sind hier aber die Kinder nicht getrennt angegeben. In der 





Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 173 


badischen Blindenanstalt sind manche Jahrgänge ganz frei von myopie- 
blinden Kindern. Im Jahrgang 1921/22 sind unter 85 Zöglingen 
zwei solche aufgeführt. 

Die Erkrankungen der einzelnen Teile des Auges sollen uns hier 
nicht lange beschäftigen, schon deshalb nicht, weil weil wir hier vieles 
wiederfinden, das schon erwähnt ist, denn ein großer Teil der Augen- 
erkrankungen wird durch, freilich nicht immer nachweisbare, Infektionen 
hervorgerufen. Einen anderen Teil finden wir bei den angeborenen 
Erkrankungen, z. B. viele Formen von Sehnervenentartung, von 
Störungen der Netzhaut. Und da uns am meisten die Frage der 
Verhütung interessiert, die nur einigermaßen behandelt werden kann, 
wenn ursächliche Zusammenhänge bekannt sind, gehen wir über zu 
den Verletzungen des Auges. In einer Darstellung der Blindheits- 
ursachen hätten wir drei Arten zu unterscheiden: 1. Verletzungen im 
Kindesalter, 2. Berufsverletzungen und 3. Kriegsverletzungen. Hier 
sollen uns also die Verletzungen im Kindesalter beschäftigen. Nach 
Schirbach!!) sind von 3773 Verletzten 658 = 17,4 °/, Kinder. Teilt 
man die Verletzten nach Geschlechtern, so kommen auf 3274 männ- 
liche Verletzte 15°, Kinder, während unter 499 weiblichen Ver- 
letzten 30°/, Kinder sind. Das erklärt sich unschwer daraus, daß 
die männlichen Verletzungen in der Mehrzahl Berufsverletzungen sind, 
während bei Frauen mehr Unfälle anderer Art vorkommen; ein Unter- 
schied, der sich freilich bei immer weiter einsetzender Frauenarbeit 
noch verschieben wird. Andere Statistiken fallen ähnlich aus, z. B. nach 
Köthe (1880) bieten Kinder bis zum 10. Lebensjahr 20°/, der Ver- 
letzten, nach Schwarzkopf 21,99%. Der westfälische Blinden- 
verein gibt 1922 20°/, an. Schaidler findet in Bayern nur 12,3 %/,. 
Im auffallenden Gegensatz steht eine jüngere amerikanische Statistik 
von: Lamb [17] aus dem Staate Missouri (1922), er findet die Ver- 
letzungen mit 4,6°/, unter 3910 Blinden. Wo in den Statistiken nur 
die blinden Kinder gezählt werden, sind die Zahlen kleiner: nach 
Darrieux [18] (1920) 3°%,. Im der badischen Blindenanstalt Ilves- 
heim bilden die Verletzungen der Kinder im schulpflichtigen Alter 
in einer Zusammenfassung von drei Jahrgängen noch 5°/,. 

Der Natur nach sind die Kinderverletzungen von einer gewissen 
Gleichheit, es gibt ganz typische Verletzungen der Augen bei Kindern, 
die zwar im einzelnen Falle der Umgebung als eine ausgesuchte 
Seltenheit erscheinen, aber dem Augenarzt doch durch das rythmische 
Vorkommen schon geläufig sind. Zu diesen Verletzungen gehören die, 


1) Siehe Wagenmann [16]. 


174 M. Zade: 


die durch Spielerei mit Sprengstoffen entstehen. Gewöhnlich wird 
Pulver in einer Metallröhre durch Anzünden zur Explosion gebracht. 
Der Schuß geht nicht leicht los, einer der jungen Schützen will nach 
der Ursache forschen und während er seine Augen in die gefährliche 
Nähe bringt, erfolgt die Explosion. Solche Schießereien sind in 
manchen Gegenden in der Neujahrsnacht üblich und trotz aller Ver- 
bote nicht auszurotten. Weiter sind nicht selten Explosionen durch 
ungelöschten Kalk, den die Kinder in eine Flasche füllen. All diese 
Verletzungen betreffen oft beide Augen und führen nicht selten zu 
Blindheit. Weiter sind perforierende Augenverletzungen bei Kindern 
durch Stiche mit Messern oder Gabeln häufig. Die perforierenden Ver- 
letzungen treffen in der Regel nur ein Auge. Es kann aber das 
andere Auge durch sympathische Ophthalmie verloren gehen. Die ist 
nun glücklicherweise nicht sehr häufig. Lamb findet sie unter seinen 
3910 Blinden in 1,8°/, als Ursache. Die sympathische Ophthalmie 
dürfte noch weit seltener werden, wenn die augenärztliche Versorgung 
noch weiter gebessert wird. Nach Fuchs (1885) war früher die Hälfte 
der Erblindungen durch sympathische Ophthalmie bedingt! — Und 
im letzten großen Krieg sind bei bester augenärztlicher Versorgung 
nur ganz verschwindend wenige Fälle vorgekommen. Es ist Haupt- 
gewicht darauf zu legen, daß die Verletzten sobald als möglich in 
augenärztliche Behandlung kommen und bis zur Heilung in Über- 
wachung bleiben. Über die Verhütung der Verletzungen ist an dieser 
Stelle nichts Besonderes zu sagen, sie hängt ab von pädagogischen 
Einflüssen, und da hier die Familie den größten Anteil hat, wird das 
soziale Moment eine große Rolle spielen. 

Haben wir in großen Zügen die Blindheitsursachen kennen ge-: 
lernt, so kommen wir weiter zur Verbreitung der Blindheit. 

Die statistischen Erhebungen über die Zahl der Blinden 'sind 
zwar mit großen Fehlern behaftet, wir erhalten aber doch ein un- 
gefähres Bild. Die Zahl der Blinden beträgt nach Mayr [19] (1877) 
auf 10000 Einwohner in Europa 9,19, auf die Erde verteilt 8,7. 
Deutsch [20] gibt (1914) folgende Zahlen an. 


Auf 10000 Einwohner kommen Blinde: 


Dänemark. . . . 1901 4,27 ( 7,9) 
Beigien. . . . . 1909 4,36 ( 8,1) 
Österreich . . . . 1905 5,3 ( 9,4) 
Bayern. . . . . 1903 5,48 (—) 
Preußen . . . . 1905 5.6 ( 8,3) 


Deutschland . . . 1900 6,1 ( 8,5) 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 175 


Schweden . . . . 1900. 6,64 ( 8,0) 
Frankreich . . . 1901 7,0 ( 8,4) 
Schweiz . . . . 1900 1,2 ( 7,6) 
Schottland . . . 1901 12 (—) 
Großbritannien . . 1901 7,9 ( 8,8) 
Norwegen . . . . 1900 8,46 (13,6) 
Verein. Staaten von 

Amerika . . . 1900 8,5 ( 9,7) 
Nordamerika . . . 1900 8,5 ( 9,7) 
Philippinen . . . 1909 9,0 (—) 
Irland . . . . . 1901 9,5 (12,0) 
Ungarn . . . . 1901 10,0 (12,8) 
Italien . . . . . 1901 11,8 ( 7,5) 
Portugal . . . . 1903 13,4 (21,9) 
Niederl. Indien . . 1906 16,1 (—) 
Algier . . . . . 1906 23,5 (—) 


Die in Klammern beigefügten Zahlen stammen aus der Veröffent- 
lichung von Cohn aus dem Jahre 1886. Sie erlauben einen Einblick 
in die Bewegung der Blindheit. Mit Ausnahme von Italien hat in 
allen Ländern die Zahl der Blinden abgenommen. Es ergibt sich 
weiter aus den Zahlen, daß die Blindenquote auf 10000 Einwohner 
einen Durchschnitt von etwa 6 aufweist, und daß Deutschland auf 
diesem Durchschnitt steht. Die absolute Blindenzahl war in Deutsch- 
land 1900 = 34.334. 


Wovon hängt die Blindenzahl in den einzelnen Ländern ab? Die 
Antwort, die erwartet: werden muß, ist die, daß die sozialen und 
bygienischen Verhältnisse von entscheidendem Einfluß sind. So wie 
in den einzelnen Ländern nachweislich die niederen Stände eine größere 
Blindenzahl aufweisen als die besser gestellten, so haben die hygienisch 
weniger hochstehenden Länder die größten Blindanzahlen aufzuweisen. 
Kerschenbaumer schätzt die Blindenquote auf 10000 Einwohner 
in Ländern, in denen es jeder Augenbehandlung und Augenhygiene 
mangelt, auf 25, hingegen sei die Quote der unvermeidbaren Er- 
blindungen 3. Ganz deutlich veranschaulicht folgende Tabelle von 
Kerschenbaumer das Gesagte. Es werden die Blindheitsursachen 
Anfang der 90er Jahre in dem hygienisch schlechtbestellten Bosnien, 
denen in dem besser verwalteten Österreich gegenübergestellt. 


176 M. Zade: 


Blindheitsursache bei 100 Blinden in Bosnien in Niederösterreich 


Retinitis pigmentosa . . . 15 1,5 
Blennorrhoe . . . . . 300 6,0 
Pocken . . .. . . . 800 0,5 
Masern . . ..... 10 1,0 
Scharlach . . . . . . . 10 1,0 
Skrophulose . . . . . 60 0,5 
Diphtherie . . . 2. . . 05 0,5 

Zusammen 73,0 12,8 


Diese Zahlen sprechen deutlich. Die Augeneiterung der Neu- 
geborenen (Blennorrhoe), die Pocken und die Skrophulose wirken bei 
scblechten hygienischen Verhältnissen verheerend. Bei den Pocken 
ist die Schutzimpfung ausschlaggebend. 

Rechnen wir unter den Begriff soziale Verhältnisse auch die ärzt- 
liche und augenärztliche Versorgung, so wie die Ausbildung der Ärzte, 
so haben wir wohl die Hauptfaktoren für Entstehung und Verbreitung 
von Blindheit getroffen. Klimatische Verhältnisse spielen sicher eine 
Rolle; so hat das Trachom seine eigene Geographie. Was die Lebens- 
alter betrifft, so erblinden mehr Erwachsene als Kinder, wofür folgende 
Aufstellung ein Beispiel gibt: 

In Preußen waren 1910 von sämtlichen 20953 Blinden 

im Alter bis 15 Jahre . . 1918 
»„ „von 15—30 Jahren 2700 
» =» —»„ 30—60 Jahren 7332 
„ „ über 60 Jahre . . 9003 


Dennoch ist die Blindheit im Kindesalter für den Staat eine 
größere Belastung als die der Erwachsenen, da die Kinder die geringere 
Zahl durch die größere Zahl der versorgungsbedürftigen Jahre mehr 
wie ausgleichen. | 


Das blinde Kind. 


Wir wenden uns jetzt der Frage zu, welchen Einfluß die Blind- 
heit auf das Kind ausübt, sowohl in körperlicher als in geistiger 
(seelischer) Beziehung. 

Ein Einfluß auf den Körper findet nur in indirekter Weise 
statt. Der Blinde kann sich nicht frei bewegen wie der Sehende, 
und wenn auch blinde Kinder in bekannten Räumen sich frei be- 
wegen, so bleibt im Vergleich mit dem sehenden Kind doch ein großes 
Maß von Bewegungsbeschränkung übrig. Namentlich bei Kindern, 
die in der Familie gehalten werden, verursacht eine gutgemeinte aber 


Blipdenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 177 


übertriebene Obhut, daß die Kinder ein ängstliches und zurückhaltendes 
Wesen zeigen. Es folgt daraus schlechtere Durchblutung der Haut 
und der Organe, schlechte Haltung und eine gewisse Eckigkeit der 
Bewegungen. Oft machen blinde Kinder gewohnheitsgemäß merk- 
würdige Bewegungen wie Wackeln mit dem Kopf, Zappeln mit den 
Händen. Viele bohren gern mit den Fingern in den leeren Augen- 
höhlen. 

Der Einfluß der Blindheit auf das geistige Leben und die geistige 
Entwicklung des Kindes ist gewaltig. Der Ausfall des Sehorgans ver- 
anlaßt das Kind automatisch, andere Sinnesorgane zum Ersatz der 
Sehwahrnebmung heranzuziehen, nämlich in erster Linie das Tast- 
gefühl und weiter das Gehör. Das Tastgefühl vermittelt nur die Er- 
kenntnis dreidimensionaler Gegenstände, alles zweidimensionale ist dem 
Blinden verschlossen, also unsere Schrift, Zeichnungen und andere- 
bildliche Darstellungen. Es muß deshalb alles, was den Blinden ver- 
mittelt werden soll, in das dreidimensionale übertragen werden. Auf 
diese Weise kann der Blinde an dem geistigen Leben der Menschen 
teilnehmen, er kann einen hohen Grad von Bildung erfahren, aber er 
ist dabei beschränkt, wie wir schon bei der Besprechung der Blinden-- 
schrift erkennen werden. Wird diese Beschränkung richtig erkannt 
und bei der Erziehung berücksichtigt, so wird die geistige Entwick- 
lung des blinden Kindes nahezu Schritt halten mit der des Sehenden. 
Hindernd aber ist falsches übertriebenes Mitgefühl. Nur der kann 
dem blinden Kinde ein Erzieher sein, der zielbewußt die im Kinde- 
liegende Kraft zur Entfaltung zu bringen sucht. Wenn die Blindheit 
in zahlreichen Fällen dazu führt, daß der Blinde an Selbstvertrauen 
einbüßt, weichlich und zart, mithin den Widerständen des Lebens. 
weniger gewachsen wird, so dürfte das eine Erscheinung sein, die mit 
einer nicht das Richtige treffenden Erziehung und mit der Umgebung 
zusammenhängt. Der französische Schriftsteller Diderot hat in seiney 
Schrift über die Blinden in der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf- 
sehenerregende Mitteilungen über das Leben der Blinden gemacht, die- 
diesen zum Teil nicht zum Ruhme gereichen. Zweifellos hat er stark 
übertrieben und vor allem nicht bedacht, daß die Blinden der damaligen 
Zeit ohne Hilfe und Entwicklungsmöglichkeit waren. 

Ein wesentlicher Unterschied besteht schon bei Kindern — mehr 
natürlich bei Erwachsenen — zwischen Blindgeborenen beziehungs- 
weise in frühester Jugend Erblindeten und Späterblindeten. Der Spät- 
erblindete hat das Licht und die Farben gesehen, er kann sich also- 
auf das optisch Erfahrene besinnen und seine Vorstellungswelt in 
optischen Dingen entwickeln und bereichern. Der Blindgeborene hin- 


178 M. Zado: 


gegen kann sich von den Sehdingen nicht die richtige Vorstellung 
machen, er lernt sie durch Beschreibung der anderen kennen und 
solche Blinden brauchen gern Bezeichnungen, die das Licht und die 
Farbe betreffen. 

Es ist viel darüber disputiert worden, inwieweit das fehlende 
Augenlicht Ersatz durch die anderen Sinne erfahren kann, und es ist 
jetzt anerkannt, daß ein echter Ersatz eines Sinnes durch einen anderen, 
ein sogenanntes Sinnesvikariat, nicht existiert. Aber das ist sicher, 
daß die anderen Sinnesorgane bei Verlust des Augenlichtes durch 
Übung geschärft werden. Der Blinde kennt besser als jeder Sehende 
den Gang durch das Ohr, vor allem wird das Tastgefühl durch Übung 
‚außerordentlich fein ausgebildet. Das Gedächtnis des Blinden wird 
ebenso wie seine Konzentrationsfähigkeit gebessert und verfeinert. Es 
sind ja bei dem Sehenden hauptsächlich die Seheindrücke, die ab- 
lenkend wirken, so daß der Nichtsehende von selbst auf sein Inneres 
‚angewiesen ist. 

Eine besondere Ausbildung erfährt der Gefüblssinn in Gestalt des 
sogenannten Ferngefühls.. Es steht fest, daß Blinde nicht gegen ein 
vor ihnen stehendes Hindernis, Wand oder dergleichen anstoßen, 
‚sondern kurz vor dem Hindernis stehen bleiben. Sie wissen selbst 
nicht anzugeben, was für ein Signal sie auffordert, plötzlich stehen 
zu bleiben. Festgestellt ist, daß das Hindernis von fester Beschaffen- 
heit sein muß (Holz, Stein) und daß es mindestens in Kopfhöhe und 
nicht niederer sein darf. Wir verdanken Untersuchungen darüber 
unter anderen Kunz [21], der zu der Annahme kummt, daß der Ge- 
füblssinn an der Stirn und dem Gesicht die Annäherung wahrnimmt 
und nicht etwa das Ohr, wie von anderer Seite gedeutet wurde. 
Freilich ist, diese Annahme als richtig vorausgesetzt, wahrscheinlich, 
‚daß andere Sinne helfend eingreifen. Für die Verfeinerung des Ge- 
‚hörsinns sei angeführt, daß Blinde hören, ob ein Zimmer leer ist, 
indem sie mit dem Finger knallen. Für alle diese Tatsachen ist zu- 
‚sammenfassend gültig, daß es sich nicht um neue hinzuerworbene 
Eigenschaften, sondern um eine Verfeinerung und Vervollkommnung 
schon vorhandener Fähigkeiten handelt. 

Wie sehr das Tasten beim Blinden geübt und zur zweiten Natur 
geworden ist, erhellt aus der Tatsache, daß Blinde, die geheilt werden, 
durchaus nicht sofort Gebrauch von ihren Augen machen. Das ge- 
heilte Kind — es handelt sich meist um Kinder — muß geradezu 
am Tasten gehindert werden, wenn ihm ein zu erkennender Gegen- 
stand vorgehalten wird. Es müssen solche Kinder das Sehen erst 
lernen. Weiter steht fest, daß Kinder, die schon gesehen haben, aus- 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 179 


nahmsweise sogar Erwachsene, das Sehen verlernen können. Über 
das Lernen und Verlernen des Sehens gibt es interessante Angaben, 
die bei Seydel [22], Uhthoff [23], Axenfeld [24] und neuerdings 
bei Moreau [25] zu finden sind. 


Erziehung und Unterricht. 


Die Geschichte des Blindenwesens zeigt, daß eine zielbewußte 
Erziehung des blinden Kindes, von seltenen Ausnahmen abgesehen, 
der neueren Zeit angehört. Sowohl im Altertum als im Mittelalter 
führten die Blinden ein trostloses Dasein, sie waren Bettler, die vom 
Mitleid der Menschen abhingen und, was das Schlimmste ist, sie 
hatten keine Gelegenkeit, sich am geistigen Leben ihrer Mitmenschen 
zu beteiligen. Am bedeutsamsten war das für die Kinder, die ohne 
jede Erziehung aufwuchsen. Ein Wandel trat in diesen Dingen ein 
gegen das Ende der französischen Revolution. Bis dahin hatte man 
die Geisteskranken in Ketten gelegt, bis sie durch Pinel einer 
menschenwürdigen Behandlung zugeführt wurden; die Tauben fanden 
Hilfe durch die Bemühungen des Abbé l’Epee und für die Blinden 
war der Retter der Lehrer Valentin Haüy in Paris. Haüy be- 
obachtete das Leben der Blinden, und da er die Bekanntschaft mit 
einer hochstehenden und wohlerzogenen Blinden machte, nämlich der 
Maria von Paradis, die an den französischen Hof von Wien ge- 
kommen war, sah er, was sich erreichen läßt und verfolgte sein Ziel, 
den Blinden eine planmäßige Erziehung zu verschaffen, mit Ausdauer. 

Es hat schon immer hie und da Blinde gegeben, welche durch 
Fleiß und Nachdenken zu einer hohen geistigen Entwicklung gelangt 
sind. Die erwähnte Maria von Paradis soll unter anderem hervor- 
ragende Leistungen in der Musik gezeigt haben. In Deutschland lebte 
zu jener Zeit ein Blinder namens Weißenberg, der in Mannheim 
durch den Lehrer Niessen eine Ausbildung als Mathematiker er- 
halten hat. Niessen benützte zum Unterricht selbsterfundene Hilfs- 
mittel, die vielleicht auch Haüy gekannt hat und von mancher Seite 
wird Niessen als der erste Blindenlehrer bezeichnet. 

Die Erziehung der Blinden stellt sich die Aufgabe, den Verlust 
des Sehorgans gewissermaßen vergessen zu machen und die Entwick- 
lung des blinden Kindes dem des Sehenden so viel als möglich an- 
zunähern. Daß eine völlige Angleichung nicht möglich ist, weiß der 
Lehrer und hat er zu berücksichtigen. Das wertvollste Mittel, den 
Sehverlust zu ersetzen, bietet das Tastgefühl. Wo dem Tastgefühl das 
Erinnerungsvermögen zu Hilfe kommt, wirkt es Erstaunliches, z. B. 
was die Orientierung im Raume betrifft: in bekannten Räumen können 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 13 


180 M. Zade: 


sich Blinde so bewegen, daß ein Unbeteiligter die Blindheit nicht zu 
bemerken braucht. Blinde können in ihnen bekannten und gewohnten 
Häusern Treppen auf- und ablaufen wie Sehende und frappierend 
ist es, solche schnellen und ungehinderten Bewegungen im Dunkeln 
oder im Halbdunkel vor sich gehen zu sehen. Es sollte das bei 
einigem Nachdenken gewiß nicht überraschen, da ja der Blinde vom 
Licht unabhängig ist, aber es kommt immer wieder vor, und der 
Augenarzt wird in solchen Fällen als Sachverständiger hinzugezogen, 
daß Blinde für Simulanten gehalten werden, weil man ihre erstaun- 
liche Orientierungsfähigkeit mit Mißtrauen beobachtet. 

Der Tastsinn wird im Unterricht des blinden Kindes weitgehendst 
verwertet. Es werden Dinge, die der Sehende mit dem Auge erfaßt, 
plastisch dargestellt: Tiere, Häuser, ganze Gehöfte, Landkarten in 
Reliefdruck usw. und die Kinder lernen mit großer Schnelligkeit, 
durch Abtasten die Gegenstände sich einzuprägen und wiederzuerkennen. 
Die Schnelligkeit, mit der z. B. auf einer dem Kinde vorgelegten 
Reliefkarte eine Stadt, ein Fluß erkannt wird, setzt den Sehenden 
immer wieder in Staunen. Und doch ist die Erfassung durch das 
Gefühl der tastenden Hand stets langsamer als durch das Auge, welches 
mit einemmal überblickt, was das Tastgefühl nacheinander wahr- 
nimmt. Dieses langsamere Erfassen ist es, was den Blinden stets 
hinter dem Sehenden wird zurückstehen lassen, und es kommt dieser 
Unterschied um so mehr zur Auswirkung, je neuer und unbekannter 
dem Blinden die Umgebung ist. 

In zielbewußtem Unterricht lernen blinde Kinder Turnen, es gibt 
sogar radelnde und reitende Blinde. 

Das wichtigste Hilfsmittel des Blindenunterrichtes ist die Er- 
lernung der Blindenschrift. Schon im Altertum hat man versucht, 
die Schrift der Sehenden für die Blinden durch plastische Nach- 
bildung aus Holz oder anderem Material lesbar zu machen. Wirk- 
lichen Erfolg hatten aber erst die Bestrebungen, die nach der Zeit 
von Valentin Haüy einsetzten. Man hat zuerst die Buchstaben der 
Sehenden in Reliefdruck dargestellt, so daß sie der tastende Finger 
entziffern konnte. Diese Schrift war auch für den Sehenden lesbar. 
Bei verschiedenen Bemühungen, die Schrift zu vereinfachen, kam 
man doch erst da zu einem Erfolg, als man erkannte, daß die Blinden- 
schrift sich von der der Sehenden frei zu machen habe; es geht nicht, 
daß man eine für Blinde zum Lesen und Schreiben geeignete Tast- 
schrift findet, die auch zugleich der des Sehenden bis zur Lesbarkeit 
für diesen äbnelt. Die erste Blindenschrift, die die richtige Konse- 
quenz gezogen hat, war die von Barbier, die bald von Braille so ver- 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 181 


bessert wurde, daß die Braillesche Schrift heute noch als die Blinden- 
schrift anzusehen ist. Braille erkannte, daß der tastende Finger 
besser Punkte als kontinuierliche Linien erfassen kann und so wurde 
seine Schrift eine Punktschrift, je zwei nebeneinander zu einem stehen- 
den Rechteck angeordnet (in einigen Ländern ist ein liegendes Recht- 
eck mit je drei Punkten nebeneinander). Ein Punkt bedeutet a, 
zwei Punkte b usw. An der Zahl der Punkte und an ihrer Stellung 
zueinander werden sie durch die tastende Hand unterschieden. Auf 
diese Weise wird nicht nur das ganze Alphabet sondern auch die Inter- 
punktionszeichen, Zahlen und sogar Musiknoten dargestellt (Abb. 1 u. 2). 


Das Alphabet. 


EEE 
K l m n o p = r S t 
u v X y z ss i 
au eu ei ch sch 5 2 | 
w a k 

Abb. 1. 


(Nach Bielschowsky.) 


HE EEE F "a sa 


e erzeichn | 





Abb. 2. 
(Nach Bielschowsky). 


Die Braillesche Blindenschrift nimmt natürlich einen größeren 
Raum ein als die der Sehenden, schon weil das Papier für die er- 
habenen Buchstaben dick und fest sein muß. So ist der Umfang 
eines in dieser Blindenschrift geschriebenen Buches 30—50mal so 
groß als der des gedruckten Buches gleichen Inhaltes, während die 
Schrift selbst nur etwa 10mal so viel Raum einnimmt. Es hat sich 
deshalb eine Kurzschrift mit vereinbarten Kürzungen ziemlich all- 
gemein eingeführt; sie braucht nur 7mal so viel Raum als die Schrift 

157 


182 M. Zade: 


der Sehenden. Die Geschwindigkeit im Lesen der Blindenschrift ist 
5—10mal geringer als der der Sehendenschrif. Zum Schreiben der 
Punktschrift dienen besondere Vorrichtungen. Geschrieben wird die 
Schrift durch ein griffelförmiges Instrument, mit welchem das Papier 
von der Rückseite eingebeult wird; es muß deshalb von rechts nach 
links geschrieben werden, damit von links nach rechts gelesen 
werden kann. Die Geschwindigkeit, mit der der tastende Finger das 
Lesen vermittelt. ist für den sehenden Zuschauer überraschend, und 
doch bleibt, wie erwähnt, die Lesegeschwindigkeit hinter der der 
Sehenden zurück. 


TITTITETTETTTITERZETETTEEZG 
DEREEREREREREERR LETTER RR 
BERESIEEEEBEREEKEE RER ER ERENN 
JEREEBEEREREE LIKE RER RER EEE 
SEEREETTEERBERETERBERE RS TEN 
SREREEERERERE RER ERBE RER ER ER 
BESEREEEERREEREER ER EBEN 
BRREREREKEREREERE EEE ETEREES 
TEERRREREERERRER RE ER ET ERREEE 
BERBEETETEERREZR TER ER IERUER 
BEREEEEREFEIBERER EEE E 
JEREEREREREREEBRRR ERBE E RAR E RE 
BEREEREREERERTER ER RETB RE R 
ERRREZEETERERE ERBE RR EB I 8 
BEREEREBEREBRDERERER ET ET R ER 
EREEBEEREREETREER EEE TBB RR U 6 
BUEERETSEREETEERERR UBER EB 
BEKERKRREERERBERERRR EUER ER 
BREEREEZERREREETERE TE ER HERR 
KEREREERDERERTERRRR ET ERBE Ft 
BEREEKERERRRER TREE EEE TE HR 0 5 8 





Abb 3. 
Schreibtafel für Blindenschrift (nach Bielschowsky). 


Wenn auch die Braillesche Punktschrift ihren Siegeslauf durch 
die Welt angetreten hat — die Einführung erfolgte unter Kämpfen 
von 1850—1870 — so haften ihr doch Mängel an. Es ist in ein- 
fachster Weise das Alphabet der Buchstabenbedeutung zugrunde ge- 
legt. Wir wissen aber von der Schreibmaschine, daß für den Ge- 
brauch die Häufigkeit des Vorkommens zu berücksichtigen ist in der 
Anordnung der Buchstaben, um größere Schreibgeschwindigkeit zu 
erlangen. Analog dieser Erfahrung dürfte die Braillesche Schrift 
dahin verbessert werden können, daß häufiger vorkommende Buch- 
staben von einfacheren Zeichen dargestellt werden, und daß die kompli- 
zierten Gebilde seltener werden. Es ist dieser Gedanke nicht neu 
und es steht seiner Ausführung entgegen, daß die Punktschrift, wie 
sie heute ist, nicht ohne große Umwälzung geändert werden kann. 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 183 


Anfang der 70er Jahre waren in Leipzig Bemühungen, die Blinden- 
schrift in dem genannten Sinne zu ändern, im Gange und aus der 
neueren Literatur finde ich Angaben von Blaas [27], die sehr ein- 
leuchten, während die Vorschläge von Cantonnet [28] weniger brauch- 
bar zu sein scheinen, weil er die bewährte Punktzahl 6 verläßt und 
zu 9 Punkten übergeht, obgleich festgestellt ist, daß 6 die höchste 
Punktzahl ist, die der tastende Finger zugleich erfassen kann. 

Was sonst versucht worden ist, die Blindenschrift zu ersetzen, 
steckt noch in den Anfängen. Immer wieder wird der Versuch ge- 
macht, das Licht selbst dem Blinden erkennbar zu machen, wenn 
auch nicht mit dem Auge, so doch in der Weise, daß das Licht Wir- 
kungen ausübt, die in irgend eine Bewegung umgesetzt werden. Das 
Element Selen hat die Eigenschaft, durch Bestrahlung mit Licht seine 
Leitungsfähigkeit für den elektrischen Strom zu ändern. Es ist des- 
halb möglich, von einer belichteten Selenzelle aus Licht und Licht- 
änderung anzuzeigen. Es wird — so macht es Fournier d’Albe 
(nach Bielschowsky [29]) — auf sieben Selenzellen ein Buchstabe 
projiziert. Je nach der Zahl der von der Lichtprojektion getroffenen 
Zellen wird der Strom benützt, um Telephone zum Tönen zu bringen 
und verschiedene Akkorde ertönen zu lassen. Der Blinde hört den 
Akkord als Buchstaben. Dieses Instrument wird als Lichthörer be- 
zeichnet. 

Die Erziehung des blinden Kindes wird selten in der Familie 
gut durchgeführt werden können. Auch die berühmte taubblinde 
Helen Keller war in verwahrlostem Zustande, bis ihre Lehrerin Sullivan 
sich ihrer annahm. Es ist weniger und seltener Rohheit und Ver- 
nachlässigung, wodurch die Erziehung gehindert wird, als vielmehr 
Unkenntnis und deshalb übertriebene und falsch angewandte Nach- 
sicht. Es wäre desbalb für das blinde Kind das beste, wenn es so 
früh als möglich, also schon vor dem schulpflichtigen Alter in be- 
sondere Obhut käme. Es gibt heute schon eine Anzahl von Blinden- 
vorschulen in Deutschland, sie sind bei Matthies [30] und bei 
Strehl [31] mit den anderen Blindenbildungsanstalten aufgeführt. 

Deutschland hat 33 Blindenschulen, in denen Kinder im schul- 
pflichtigen Alter unterrichtet werden. Es besteht in Preußen seit 
1912 Schulpflicht für blinde Kinder, in Baden nur Unterrichtspflicht, 
so daß doch wohl die meisten blinden Kinder den Blindenanstalten 
zugeführt werden. Die Schulen werden von Fachmännern geleitet 
und der Unterricht wird von Fachiehrern bezw. Lehrerinnen erteilt. 
‘Der Unterrichtsstoff entspricht dem einer guten Volksschule, über die 
Unterrichtsmittel ist schon einiges gesagt; das Tastgefühl wird weit- 


184 M. Zade: 


gehendst geübt, das Voıstellungsvermögen so weit als möglich ent- 
wickelt, besonders die Raumvorstellung. 

Die Blindenschule soll aber außer dem elementaren Unterricht 
auch nach Möglichkeit auf einen Beruf vorbereiten. Die Blinden- 
berufe sind nicht zahlreich. Es kommen in erster Linie Arten von 
Handwerk in Frage, die durch das Tastgefühl erlernt und ausgeübt 
werden können, nämlich Korbflechten, Bürstenbinden, Seilerei, weiter 
Massage, die besunders in Japan geübt wird und dort lange das 
Privileg der Blinden war, Schuhmacherei, Kunstweberei, Klavier- 
stimmen. Im und nach dem Weltkrieg ist man intensiv bemüht 
gewesen, den Blinden noch weitere Berufe zu erschließen, so als 
Telephonist, an der Schreibmaschine, in der Industrie, in der Land- 
wirtschaft (Silex [32] u. a). Es sind dabei bemerkenswerte Erfolge 
verzeichnet, die hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, daß es sich 
bei einem großen Teil der Kriegsblinden um sonst gesunde, leistungs- 
fähige Menschen handelt, mit lebhaftem Willen, dazu lauter Spät- 
erblindete, die die Erfahrungen der räumlichen Orientierung voll 
besitzen und nach Einübung des Tastgefühls verwerten können. 

In bezug auf die Erlernung geistiger Berufe ist prinzipiell dem 
Blinden kein Hindernis gesetzt, und es ist ebenfalls nach dem Kriege 
viel für die geistige Ausbildung Blinder getan worden; in Marburg 
ist eine Blindenbildungsanstalt ins Leben gerufen worden (Biel- 
schowsky, Strehl). Jedoch wird die Blindenanstalt, wie sie hier 
geschildert wurde, sich nicht höhere als die genannten Ziele setzen 
dürfen, da sie der Allgemeinheit dient und deshalb sich mit einem 
Durchschnitt von Erreichbarem begnügen muß. 

Das Blindenbibliothekswesen steht in Deutschland auf einer guten 
Höhe, so daß den Blinden die Möglichkeit gegeben ist, eine große 
Auswahl von Punktschrift- Literatur auf allen Gebieten zu erhalten. 

Aus all dem Gesagten geht hervor, daß der Blinde in weit- 
gehendem Maße bildungsfähig, daß er zu einer Anzahl von Berufen 
befähigt ist, daß seiner geistigen Entwicklung keine prinzipiellen 
Schranken gesetzt sind; daß aber die Bildungs- und die Berufsfähigkeit 
bestimmte Grenzen haben. Da das Tastgefühl den Hauptersatz des 
fehlenden Lichtes darstellt, kann der Blinde nur Dinge erfassen. die 
er berührt oder die durch plastische Übertragung seinem Tastgefühl 
zugänglich gemacht werden. Weiter ist trotz aller Übung das Tast- 
gefühl nie so schnell im Erfassen als es das Auge vermag. Das 
Auge überblickt gleichzeitig eine Fläche, einen Raum, die tastende 
Hand muß nacheinander die einzelnen Teile berühren, sie arbeitet 
nicht analysierend sondern synthetisch. Aber auch sonst bleibt der 


Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 185 


Blinde hinter dem Sehenden zurück, weil er ohne diesen und ohne 
seine Hilfe nicht leben kann. 

Es sind die Beschränkungen, denen der Blinde unterworfen ist, 
genau zu berücksichtigen, wenn die Ziele der Blindenbildung auf- 
gestellt werden, und es sind die Beschränkungen weiter die Ursache 
dafür, daß der Blinde der Fürsorge bedarf. Die Fürsorge ist so zu 
gestalten, daß alle im Blinden schlummernden Möglichkeiten zur Ent- 
wicklung kommen, daß aber andrerseits nicht Unmögliches erstrebt 
wird. Der Blinde soll so behandelt werden, daß er nicht das Gefühl 
hat, Almosen zu empfangen, sondern daß er mit seinen beschränkten 
Kräften einen Platz in der Gesellschaft verdient. 

Das weitaus Meiste geschieht heute noch durch private Wohl- 
tätigkeitt Die Blinden sind in Vereinen zusammengeschlossen, die im 
Reichsverband der deutschen Blinden einen Zusammenhalt haben. 
Für erwachsene Blinde ist das Blindenheim Zufluchts- und Lern- 
stätte. Solche Heime gibt es in zahlreichen größeren Städten Deutsch- 
lands, nach der Tabelle von Strehl sind es 34, es unterrichtet diese 
Tabelle auch über die bestehenden Fortbildungsklassen, über Aus- 
bildungsschulen, Werkstätten und Verkaufsstellen, über Feierabend- 
häuser, Büchereien und über sonstige Fürsorgetätigkeit. Diese letztere 
hat Unterstützungsfonds zur Verfügung, es wird Berufsberatung erteilt, 
arbeitende Blinde werden mit Handwerkszeug, Arbeitsmaterial versorgt, 
Robmaterialien werden beschafft usw. In neuerer Zeit werden Er- 
holungsheime errichtet, die der Erhaltung der Gesundheit und Lebens- 
frische dienen. 


Literatur. !) 


l. Bab, W., Die Zahl der Kriegsblinden in Deutschland nebst Bemerkungen über 
das Kriegsblindenwesen anderer Länder. Klin. Monbl. f. Augh., Bd. 70, S. 187 
bis 191, 1923. 

2. Deyl, J., »Deyluv Obzor« 1918, Nr. 6. Ref. Zeitschr. f. d. österr. Blinden- 
wesen 1919. 6. Jahrg., S. 1065. 

3. Gaupp, Psychologie des Kindes (aus Natur und Geisteswelt). 4. Aufl. Leipzig, 
Teubner. 

4. Fuchs, E., Die Ursachen und die Verhütung der Blindheit. Wiesbaden 1885. 

5. Heller, Th., Studien zur Blindenpsychologie. Leipzig 1904. 

6. Schaidler, A.. Die Blindenfrage im Königreich Bayern. München, Oldenbourg, 
1905. 

‘. Grotjabn, Krankenhauswesen und Heilstättenbewegung, Kapitel »Blinden- 
anstalten«e. 1908. 


Åe en m ae e ae 


1) Eine ausführliche Literaturzusammenstellung findet sich am Schlusse meines 
eben erscheinenden Sammelreferats im Zentralblatt für Ophthalmologie. 


186 M. Zade: Blindenwesen und Blindenfürsorge im Kindesalter. 


. Hirsch, L., Entstehung und Verhütung der Blindheit. Klin. Jahrb., Bd. 8, 


1902. 


. Everbusch, O., Die Augenerkrankungen im Kindesalter. Leipzig 1912. 
. Widmark, Über die Bedeutung der venerischen Krankheiten als Ursache der 


Erblindung. Wittms. Mitt. a. d. Augenklinik zu Stockholm 1902, H. 4. 


. Harman, N., Causes and Prevention of blindness. Amer. journ. of opthalm., 


Bd. 4, Nr. 11, S. 824—834, 1921. 


. Crzellitzer, Blindheit im Haudbuch der sozialen Hygiene v. Grotjahn u. Kaup. 


Leipzig 1912, Bd. 1. 


. Igersheimer, Syphilis und Auge. Berlin 1918. 

. Ewald, W., Soziale Medizin. Berlin 1911. 

. Magnus, H., Die Blindheit, ihre Entstehung und Verhütung. Breslau 1883. 

. Wagenmann, A., Die Verletzungen des Auges in Graefe-Saemisch, Handbuch 


der Augenheilkunde. 3. Auflage. 


. Lamb, H. D., Blindness in Missouri as revealed by examinations under the 


state blind pension law of 1921. Journ. of the amer. med. assoc., Bd. 79, 
Nr. 16, S. 1305—1308, 1922. 


. Darrieux, J., Les causes de la cécité dans les dix premières années de la vie, 


Ann. d’ocul. Bd. 157, H. 7, S. 421—425, 1920. 


. Mayr, G., Die Verbreitung der Blindheit, Taubstummheit, des Blödsinns und 


des Irrsinns in Bayern. München 1877. 


. Deutsch Ernö, Sozialhygienische Versorgung der abnormen Kinder. Pest. 


med. chir. Presse, Jahrg. 50, Nr. 5, 6 und 7. 


. Kunz, M., Das Orientierungsvermögen und das sogenannte Ferngefühl der 


Blinden und Taubblinden. Geschichte der Blindenanstalt Illzach. Leipzig, Engel- 
mann, 1907. — Derselbe, Meine Versuche über das Orientierungsvermögen 
und das Ferngefühl Blinder, Taubblinder und Sehender. Klin. Monbl. 1909, 
Jan.-Heft. 


. Seydel, Lernen, Verlernen des Sehens. Klin. Monbl. f. Augh. 1920, 1. Bd. 


40, 5. 97 und ebenda, Beilageheft, S. 29. 


. Ubthoff, W., Untersuchungen über das Sehenlernen eines 7jährigen blind- 


geborenen und mit Erfolg operierten Knaben. Hamburg und J.eipzig 1891. 


. Axenfeld, Th., Ein Beitrag zur Lehre vom Verlernen des Sehens. Klin. 


Monbl. 1900, Bd. 38, Beilageheft S. 29. 


. Derselbe, Blindsein und Blindenfürsorge. Prorektoratsrede. Freiburg 1905. 
. Moreau, Histoire de la guörison d’aveugle nö Ann. d’ocul. Bd. 149, 8.81, 1913. 
. Blass, I., Ein deutsches Punktschriftalphabet. Zeitschr. f. d. österr. Blinden- 


wesen 1919, Nr. 5, S. 1125. 


. Cantonnet, L’öcriture d’aveugles Cantonnet-Nouet en caractère usuels. Arch. 


de méd. et de pharm. milit., Bd. 77, Nr. 4, S. 476—481, 1922. 


. Bielschowsky, A., Blindenwesen und Kriegsblindenfürsorge. Berlin, Julius 


Springer, 1916. 


. Matthies, Deutsche Blindenanstalten in Wort und Bild. Halle 1913. 
. Strehl, C., Die Kriegsblindenfürsorge, ein Ausschnitt aus der Sozialpolitik. 


Berlin, Julius Springeı, 1922. 


. Silex, Neue Wege in der Kriegsblindenfürsorge. Berlin, Karger, 1916. — Der- 


selbe, Kriegsblinde in der Landwirtschaft. Klin. Monbl. f. Augh. 1917, Bd. 58, 
S. 463. — Derselbe, Bericht der Kriegsblinden-Lazarettschule "zu Berlin, 
Mittelstrasse 5, 1919. 


Wie entstehen und verlaufen aufgabefreie »natürliche« 
BeobachtungsvorgängeP'!) 

Eine experimentelle Untersuchung über Abstraktionsvorgänge an vorschul- 
pflichtigen Kindern, normalen Erwachsenen, Aphatikern und Dementen. 
Von 
Dr. W. Eliasberg, München. 


Die Problemlage, von der die gegenwärtige Untersuchung aus- 
geht, ist etwa folgende: als Abstraktion wird auf Grund philo- 
sophischer Theorien ein Denkprozeß bezeichnet, durch den selbst- 
ständige oder unselbständige Teile aus einem oder mehreren Objekten 
bei einmaliger oder wiederholter Darbietung herausgelöst werden. 

Die Psychologie fragt, durch welche psychischen Vorgänge diese 
Leistung zustande kommt. Dann kann man auch in der Psycho- 
logie fragen, wie die so umrissene Leistung sich entwickelt (genetisches 
Problem). | 

Ein anderes genetisches Problem als das eben bezeichnete ist es, 
was denn überhaupt an Beachtungsvorgängen in der Seele des jungen 
Kindes vorhanden sein möchte. Es könnte ja sein, daß die Abstraktion 
des Kindes sich auf etwas ganz anderes richtet, als auf die Heraus- 
hebung von Teilinbalten. 

In der Tat gibt es ja auch beim Erwachsenen Abstraktions- 
leistungen, die schlechterdings nicht als Herauslösung von Teilinhalten 
aufgefaßt werden können. Wir meinen die Beachtung von etwas 
nicht Vorhandenem, oder, wie wir dafür sagen werden, die Heraus- 
hebung des Nonzusammenhanges. Man übersieht ohne weiteres, 
daß die Beachtung von etwas nicht Vorhandenem unter einem Gesichts- 
punkt wohl zu unterscheiden ist von der Nichtbeachtung eines vor- 
handenen Teiles, der sogenannten negativen Abstraktion. 

Wenn man also das genetische Problem wirklich angehen will, so 
muß man darauf verzichten, irgendwelche theoretischen Anschauungen 
über das Wesen des Abstraktionsvorganges in die Aufgabe hinein- 
zunehmen. 


— 





t) Vortrag, gehalten auf der Jenenser Tagung des deutschen Vereins für 
Psychiatrie 21.—23. September 1923. 


188 Eliasberg: 


Es genügt, daran zu erinnern, daß die ersten Abstraktionsuntersuchungen von 
Grünbaum, Achenbach, Moore und anderen dieser Forderung nicht genügen. 

Weiterhin ergibt sich die Forderung, jedenfalls sowohl auf die 
sprachliche Formulierung der Aufgabe als auch auf den Einbau sprach- 
licher Elemente in die Lösung zu verzichten. Denn die Sprache ist ein 
Komplex festgelegter Abstraktionsrichtungen, durch die vielleicht jener 
natürliche, originäre Beachtungsvorgang, den wir suchen, gänzlich 
überlagert sein mag. 


Und endlich: es könnte sein, daß die Beachtungsvorgänge beim 
Erwachsenen durch »die Einstellung des Erwachsenen« soweit ver- 
ändert und überlagert sind, daß das natürliche Geschehen nicht mehr 
oder nur unter besonderen Bedingungen zu erkennen ist. Daraus er- 
gibt sich die Forderung, solcbe Untersuchungen an jungen vorschul- 
pflichtigen Kindern durchzuführen. Die Bedeutung der Kinderpsycho- 
logie für viele Probleme der generellen Psychologie hat ja besonders 
Katz (Abstraktionsprozesse bei vorschulpflichtigen Kindern, Wissen- 
schaftliche Beiträge zur Pd. u. Psych. H. 4, 1913) betont. 


Wollen wir aber das Wesentliche an den Beachtungsvorgängen 
kennen lernen, so müssen wir den gleichen Ablauf nicht nur bei 
Kindern, sondern auch bei Erwachsenen, gebildeten und ungebildeten, 
verfolgen. Der Einfluß der Sprache sollte besonders durch den Ver- 
gleich von Kindern mit Aphatikern, der Einfluß von Denkstörungen 
durch den Vergleich mit Fällen von erworbener und angeborener 
Demenz, der Einfluß von Aufmerksamkeit, Gedächtnis usw. durch den 
Vergleich mit pathologischen Fällen, in denen gerade diese Funktionen 
elektiv gestört waren, dargetan werden. 


Die Versuche wurden durchgeführt an 17 vorschulpflichtigen Knaben 
und Mädchen, 4 Schulknaben und Mädchen, 2 weiblichen normalen 
Jugendlichen, 2 männlichen von Geburt an Abnormen (Dementen), an 
4 akademisch gebildeten Erwachsenen, an 5 Hirnverletzten mit Aphasie 
und Intelligenzstörung, 5 Hirnverletzten mit Aphasie ohne Intelligenz- 
störung, 8 Hirnverletzten mit Intelligenzstörung ohne Aphasie, und 
5 Hirnverletzten ohne Apbasie, ohne Intelligenzstörung mit besonderen 
pathologischen Ausfällen. 

Die Versuchsanordnung bestand aus Blättern von schwarzer. weißer, gelber, 
blauer, roter, grüner Farbe. Von jeder Farbe gab es Blätter, die auf der weißen 
Rückseite mit Zigaretten beklebt waren und solche ohne dieses Merkmal. Es waren 
Zigaretten gewählt als ein relativ neutrales Merkmal, das aber doch deutlich ist, 
Dieses Merkmal wurde auch in den Kinderversuchen beibehalten, denn es erweist 
sich nicht als zweckmäßig, wie man es etwa in Anlehnung an Tierversuche glauben 
konnte, starke Affektträger zu verwenden. Der Affekt ist beim Kinde niemals und 
namentlich nicht in einer längeren Versuchsdauer so konstant zu erhalten, wie das 


Wie entstehen und verlaufen aufgabefreie »natürliche«e Beobachtungsvorgänge? 189 


beim Tier der Fall ist. Zudem — was hätte man mit den vielen Schokoladestückchen 
machen sollen? Entweder man hätte sie den Kindern gegeben, und dann hätten 
sie sich den Magen verdorben, oder man hätte sie ihnen nicht gegeben, und dann 
hätte man ihnen die Laune verdorben. Zwischen den Stückchen zu differenzieren. 
und nur einige zu geben, war aber erst recht untunlich, weil sich dann eben die 
Beachtung nicht gerade an dieses Merkmal hätte heften können. 

Es waren nun stets Blätter einer Farbe mit dem Merkmal versehen, wenn die 
der anderen Farbe leer waren. Die Blätter wurden in Anzahl von 2—7 jeder Farbe 
entweder in einer Reihe oder in die Fläche verteilt gelegt und zwar so, daß man 
von oben nicht erkennen konnte, urter welchen Blättern sich eine Zigarette befand. 
Leere und beklebte Blätter zeigten den gleichen Bug. — Als Instruktion wurde dem 
Kind ein Blatt jeder Farbe vorgezeigt und vor seinen Augen umgedreht, dann wurde 
mit einer Geste auf die Versuchsanordnung gedeutet. 

Für den Erwachsenen war dieser Teil der Instruktion der gleiche, statt der 
Geste oder auch mit ihr zusammen wurde »bitte« gesagt und dann noch dazu ge- 
fügt »>Ihre Gedanken und Beobachtungen sprechen Sie ungezwungen ause. Das 
Wort Selbstbeobachtung wurde namentlich bei den psychologisch vorgebildeten Vp. 
in der Regel aufs Sorgfältigste vermieden, nur in einigen Fällen experimenti causa 
ausdrücklich in die Instruktion aufgenommen. Eine Aufgabe wurde also ausdrück- 
lich nicht formuliert. 


Ergebnisse. 


A. Bevor wir aus dem Vergleich der Ergebnisse an so verschieden- 
artigen Vp. das Wesentliche des Beachtungsvorganges selbst heraus- 
schälen können, wird es gut sein, die differenziell- psychologischen 
Momente der einzelnen Gruppen in Kürze darzustellen. 


I. Die Gruppe der 3—5 jährigen Kinder. 


Diese 17 Kinder lassen sich völlig zwanglos in 3 Gruppen teilen. 
In der ersten Gruppe finden sich die für ihr Alter sprachlich gut 
entwickelten Kinder, bei denen die Heraushebung des positiven Zu- 
sammenhanges bereits im 1. Versuch erfolgt. D.h. hat das Kind beim 
Fortnehmen der Blätter bemerkt, daß die eine Farbe das Merkmal 
trägt, so werden nun unter Überspringen der Blälter der anderen 
Farbe nur die Blätter dieser Farbe gewählt. Die andere Farbe ver- 
bleibt in Nichtbeachtung. Erst allmählich verwandelt sich die Nicht- 
beachtung in Beachtung des Nichtvorhandenseins. Das geschieht in 
dem Maße, wie die Sicherheit des Kindes — durch Fragen eventuelle 
Suggestivfragen leicht zu prüfen — wächst. 

Eine weitere Prüfung der Regel, die das Kind für sein Handeln 
aus den Tatsachen entnimmt, liegt in den sogenannten Störungs- 
versuchen. Wir können mit dem vorliegenden Material folgende 
Störungsversuche vornehmen: 


190 Eliasberg. 


l. In einem Farbenpaar, das erlernt ist, tritt eine neue positive 
oder eine neue Leerfarbe auf. 

2. Es tritt ein ganz neues Farbenpaar auf (N. F.). 

3. Die unvollständige Umkehrung, in dem eine der bisherigen 
Farben ihren Plus- oder Minuscharakter ändert. 

4. Die vollständige Umkehrung (U. V.) Beide Farben ändern 
ihren Charakter untereinander. 

5. Der Störungsversuch im engeren Sinne (St. V.). Unter den 
positiven oder negativen Blättern finden sich eines oder mehrere mit 
entgegengesetztem Charakter: z. B. eines der Plusbiätter wird minus. 

6. Änderungen der Anzahl, der Größe, des Anordnungstypus: 
linear, Fläche. 


Als wesentlich bei den Kindern dieser Gruppe zeigt sich nun, 
daß sie 1. von all denjenigen Störungen, die mit der selbstgebildeten 
Aufgabe in keinem Zusammenhang stehen,(Größe, Anordnungstypus usw.), 
völlig unabhängig sind, 2. daß sie durch den Störungsversuch gefördert 
werden in der Richtung der Loslösung der Relation von den Relations- 
trägern. Diese Kinder sind bald unabhängig von dem erlernten An- 
schauungsmaterial. Sie übertragen z. B. den bekannten Zusammen- 
bang, daß von 2 Farben nur die eine das Merkmal hat obne weiteres 
auf ein neues Farbenpaar, bezw. sie gewinnen auch den Nonzusammen- 
hang mit sehr erbeblicher Ersparnis für das neue Farbenpaar wieder. 
In der 2. Gruppe finden sich Kinder, die für ihr Alter sprachlich 
relativ unentwickelt sind. Dieses Urteil bezieht sich sowohl auf die 
rezeptive wie die expressive Komponente der Sprache. Es stützt sich 
stets aucb auf die Aussagen von Personen, die die Kinder genau 
kennen. Während nun der eigentliche Beachtungsvorgang die Ge- 
winnung des positiven Zusammenhangs, des Anzeichens der Farbe 
auch bei diesen Kindern prompt verläuft, erweisen sie sich in höherem 
Maße bei den verschiedenen Störungsversuchen als abhängig von den 
Relationsträgern. Die Art, wie sie Hilfen und Merkmale selbständig 
finden und dargebotene verwenden, braucht sich nicht wesentlich von 
denen der ersten Gruppe zu unterscheiden. 

In der 3. Gruppe finden sich sprachlich relativ unentwickelte 
Kinder, bei denen auch die Gewinnung des positiven Zusammenhanges 
sehr erheblich verzögert ist, beachtungsschwache Kinder. Auch bei 
ihnen ist die Abhängigkeit von den Relationsträgern, wenn einmal 
der Zusammenhang erlernt ist, groß. 

Die 4 Geschwisterpaare, die wir untersuchten, gehörten immer der gleichen 


Gruppe an, und zwar zwei der dritten, eins der zweiten, eins der ersten. Das 
erwies sich als ganz unabhängig von dem Altersunterschied der Geschwister. Wir 


Wie entstehen und verlaufen aufgabefreie »natürlichee Beobachtungsvorgänge? 191 


glauben also in dem Beobachtungsvorgang eine psychische Leistung vor uns zu 
sehen, die sich, wenn sie einmal vorhanden ist, als unabhängig von dem Alter er- 
weist. Ein wichtiger Beitrag zur Frage des Iutelligenzalters. 


Il. Gruppe der jüngsten Kinder im Alter von 1'/,—2'/, Jahren. 


Bei diesen Kindern bat sich das Vorhandensein einer eigentlichen 
Beachtung unter einem Merkmal nicht erweisen lassen. Bei ihnen 
treten gelegentlich Komplexbildungen hervor, auf Grund ursprünglicher 
notorischer Tendenzen, auf Grund von Lustaffekten und endlich be- 
dingt durch die Kohärenz des Gleichen. Wie weit davon unabhängige 
Iterationstendenzen (Wreschner) oder wie man heute öfter sagt, 
Perseverationstendenzen mitspielen mögen, mag dahingestellt bleiben. 


Die allgemeine Einstellung des 3jährigen Kindes. 


Wir sagten schon, daß das 3jährige Kind aus dem Sachverhalt, 
den es vorfindet, durchaus spontan die Aufgabe sich bildet, die 
Zigaretten herauszufinden, und daß es im Verfolg der Lösung dieser 
Aufgabe die allgemeine Regel gewinnt: Von 2 beliebigen Farben ist 
nur immer eine Träger des Merkmals. Diese Regel zu formulieren, 
ist das Kind in der Regel nicht imstande. Nur besonders sprach- 
begabten Mädchen im Alter von über 3!/, Jahren gelingt das. Aber 
— das Verhalten aller Kinder der ersten Gruppe auch eines Mädchens 
von 2,8 Monaten ist so, als ob es diese Regel hätte. 

Dabei sind nun die Kinder in keiner Weise auf etwas eingestellt, 
was das gegenwärtige Spiel überschreitet. Das Kind bildet sich keine 
kausalen Theorien, und es stellt in keiner Weise die Person des Ver- 
suchsleiters, seine Absichten in Rechnung. Ist einmal die erste Fremd- 
heit überwunden, so wird der Versuchsleiter nicht mehr beachtet. 

Stellen wir diese Tatsachen einander gegenüber: Auf der einen 
Seite ein überraschender Reichtum an spontaner Beziehungserfassung 
und gedanklicher Entwicklung, gegenüber Sachverhalten; auf der 
anderen Seite völliges Fehlen von bewußter Reflexion, von personaler 
Einstellung. 

Dazu die bekannte Suggestibilität des Kindes, die natürlich auch 
in unseren Versuchen bei fast allen hervortritt. Und denken wir 
auch daran, wie zu dieser Zeit nach den bekannten Bildbeschreibungs- 
versuchen W. Sterns sprachliche Äußerungen des Kindes beschaffen 
sind: dürftige Dingbeschreibuugen (Substanzstadium), kein Erfassen 
von Aktionen oder Relationen in der Bildbeschreibung. Wie soll 
man das alles vereinigen? An den beiden Eckpfeilern von Tatsachen 
muß die Theorie angreifen. Es sind einerseits die Fülle von Relationen 


192 Eliasberg: 


auch rein intellektueller Art in diesem Versuch, der das Sprachliche 
ganz ausschaltet, andererseits und die dürftigen Dingbenennungen im 
Beschreibungsversuch. Wir glauben mit dieser Gegenüberstellung den 
klaren Beweis erbracht zu haben dafür, wie sehr das sprachliche Mittel 
mit seiner eigenen Technik, seiner eigenen Zwangsläufigkeit, die ur- 
sprüngliche Erlebens- und Denkweise des Kindes verändert. Zwei 
Seelen wohnen in der Brust des in die Welt der großen Leute hinein- 
wachsenden Kindes. Eine ursprüngliche Welt affektiver und in- 
tellektueller Beziehungen und eine in der es mit der Sprache soziologi- 
schen Einflüssen der Erwachsenen unterliegt, und in der sein ur- 
sprünglicher Reichtum an Beziehungen, an Beseelung retardiert wird. 

Wir können uns nach dem Gesagten kurz fassen über die Frage 
der logischen Leistungen des Kindes. Es ist jedenfalls fähig, in 
formuliertem oder in unformuliertem Denken zu einer disjunktiven 
Regel von völliger Allgemeinheit zu gelangen. 

Diese Ausführungen über die allgemeine Einstellung des Kindes 
lassen auch die großen Vorteile des Kinderexperimentes gegenüber 
dem Versuch an Erwachsenen erkennen. Man braucht im Kinder- 
experiment nicht mit all den Fehlerquellen zu rechnen, die, allgemein 
gesagt, aus der Reflexion des Erwachsenen stammen. Ein Übungs- 
fortschritt ist also wirklich auf den Faktor der Übung zu beziehen 
und auf nichts anderes. 


Il. Die Gruppe der Erwachsenen und der Halberwachsenen 
(Normalen). 

»Der angeborenen Farbe der Entschließung, wird des Gedankens 
Blässe angekränkelt.«c Das Verhalten des Erwachsenen in Versuchen 
läßt sich mit diesen Worten darstellen. Was beim Kinde ganz 
fehlt, die Einstellung auf den Versuchsleiter und die Reflektion tritt 
in allen möglichen Graden und Verwicklungen auf. Die Protokolle 
zeigen, daß sie sich bei den dementen Kranken mit dem Gefühl der 
Unterlegenheit zu einer eigenartigen Situation des Gefopptwerdens, 
zu einer Zaubersituation vereinigen kann. (Näheres in einer ausführ- 
lichen Darstellung.) 

Der natürliche Beachtungsvorgang, in Andeutung immer vor- 
handen, wird immer wieder überlagert. Die positive Zuordnung, vom 
3jährigen Kinde im ersten Versuche geleistet, die Zuordnung zwischen 
Farbe und Merkmal nämlich, wird von einem Unirersitätsprofessor in 
S Versuchen noch nicht abstrahiert. Alle möglichen Merkmale werden 
sonst noch beachtet. Auch ein Aufgabebewußtsein tritt angedeutet 
ein, und dennoch dieses merkwürdige Ergebnis, das uns warnen kann, 


Wie entstehen und verlaufen aufgabefreie »natürlichee Beobachtungsvorgänge ? 193: 


vor der Verwendung der reinen Leistungsprüfung als Intelligenztest. 
Differenziell psychologisch ist es von Wichtigkeit, daß diese geistige 
Verhaltungsweise des Erwachsenen beim Knaben etwa um das zehnte 
Lebensjahr erscheint. 

Die Aufgabe, die das Kind sich ganz automatisch aus der 
Situation entnimmt, vermißt in dieser Versuchsanordnung der Er- 
wachsene. Und das ist ihm höchst qualvoll. Der geschulte Er- 
wachsene, aber auch der ungebildete ist in der Situation des Ver- 
suches gewöhnt, genaue Direktiven zu erhalten und er bringt nur die 
Bereitschaft mit, das zu tun, was von ihm verlangt wird. Unsere 
Protokolle geben hier wichtige Beiträge zur Psychologie der Aufgabe 
und der Veränderung der natürlichen Abläufe unter der Wirkung 
der Aufgabe. 


IV. Die Aphatiker. 


Die Aphatiker, an denen wir unsere Untersuchungen anstellten,, 
waren alle seit mehreren Jahren in heilpädagogischer Behandlung: 
(Abt. für hirnverletzte Krieger, München, Chefarzt Prof. Isserlin).. 
Ihrer Persönlichkeit nach waren diese Erwachsenen zum Teil ziemlich. 
kindlich, was sich auch aus dem Schulmilieu des früheren Militär- 
lazaretıs erklären mag. Fast bei allen gelang die Aufgabe ganz ähn- 
lich wie bei den Kindern der Gruppe II. Der eigentliche Beachtungs- 
vorgang verlief prompt, aber die Abhängigkeit von den Relations- 
trägern erwies sich in Übertragungsversuchen als ziemlich groß. 
Daneben zeigte sich bei Angehörigen gebildeter Stände die typische- 
Einstellung des Erwachsenen und die Verzögerung in der Gewinnung 
des positven Zusammenhanges. Wir wissen, daß ein wichtiges Hilfs- 
mittel des Aphasieunterrichts die Heranziehung der Veranschaulichung 
ist, und man könnte geneigt sein, die stärkere Abhängigkeit von der 
anschaulichen Gegebenheit als ein Kunstprodukt aufzufassen. Dagegen 
spricht aber, daß wir die gleiche Erscheinung auch bei geistig gut 
beanlagten aber sprachlich aus irgendwelchen Gründen zurück- 
gebliebenen Kindern finden. (Gruppe 2 der Kinder) Hier scheint 
sich doch wohl zu erweisen, welche Bedeutung die Sprache hat, um 
das Denken unabhängig zu machen vom Anschaulichen. 


D. h.: also der eigentliche Beobachtungsvorgang ist unabhängig 
von der Sprache; dagegen die weitere gedankliche Entwicklung ist 
ohne Sprache nur schlecht möglich. 


194 Eliasberg: 


V. Die angeborene und erworbene Demenz. 
Das Wesentliche bei den Fällen schwererer Demenz ist die Be- 
` achtungsschwäche: die Anzeichenfunktion hat gelitten. Dabei ist be- 
merkenswert, daß solche Demente, sofern sie nicht auch aphatisch sind, 
Einzelsachverhaite sprachlich in Form des Urteils formulieren können. 
Die sprachliche Form des Urteils bleibt dem Dementen als leere Hülse 
zurück. Aber das ist offenbar etwas ganz anderes, als die Anzeichen- 
funktion. Diese eigentliche Beachtungsschwäche ist ein feines Kriterium 
des Intelligenzdefektes. Sie ist natürlich bei den komplizierteren Ein- 
stellungen des Erwachsenen nicht immer leicht herauszuarbeiten. Bei 
Jugendlichen im Alter von etwa 16—21 Jahren mit angeborenen 
Schwachsinn vereinigt sich die Beachtungsschwäche mit den störenden Ein- 
stellungen des Erwachsenen zu einem ganz besonders schlechten Resultat. 


VI. Gruppe der besonderen Ausfälle ohne Aphasie und der 
pathologischen Ausfälle ohne Demenz. 


Die Hirnverletzten dieser Gruppe waren zunächst alle auf Schwach- 
sınn verdächtig, erst die Ergebnisse dieses Versuches haben in der 
Regel den Irrtum aufgedeckt. Es handelte sich z. B. um sehr schwere 
Korsakoff-ähnliche Merkfähigkeitsstörungen mit Konfabulationsneigung 
und äußerster Unsicherheit selbst in bezug auf die Wahrnehmung 
(bei multipler Sklerose). Ferner um Fälle von eigenartiger, nicht 
willensmäßig oder intentional bedingter allgemeiner Verlangsamung 
aller psycbischen Abläufe. Die Differenzialdiagnose gegenüber Demenz 
konnte sich in solchen Fällen auf folgendes stützen: So sehr auch der 
eigentliche Beachtungsvorgang verzögert war, so erwiesen sich die 
Störungsversuche ganz im Gegensatz zur Demenz immer als förderlich. 
Zum 2. zogen die Kranken spontan Lösungsmethoden heran, die ge- 
eignet waren, ihren Defekt auszugleichen. Also: spontane Sach- 
verhaltskonstatierungen, Abzählen usw. Im wesentlichen, da es sich 
um eine Schwäche im Behalten des Anschaulichen handelte, um 
Hilfen, die den Sachverhalt in abstrakter Weise festzuhalten gestatten. 
Sehr wesentlich ist, daß sich in dieser Gruppe auch der Einfluß einer 
konstanten Aufmerksamkeitsspannung auf das Gelingen des Ver- 
suches als nicht wichtig erweisen ließ. In einem Falle von ver- 
bigerierender Ideenflucht war die Beachtung und die weitere gedank- 
liche Entwicklung die Ablösung der Relation von den Relationsträgern 
trotz dauernden ideenflüchtigen Schwätzens in keiner Weise gestört. 
Dies Ergebnis haben wir nach den Beobachtungen an den 3jährigen 
Kindern bereits erwartet. Denn auch bei diesen störten Zwischen- 
spiele aller Art die Entwicklung in keiner Weise. 


Wie entstehen und verlaufen aufgabefreie »natürliche« Beobachtungsvorgäuse? 19A 


Die Theorie des Beachtungsvorganges. 


Den Ergebnissen an den jüngsten Kindern entnehmen wir 
als wichtiges Resultat: Der eigentliche Beachtungsvorgang ist ent- 
weder vorhanden oder nicht vorhanden. Es ist nicht möglich, ihn 
aus heterogenen Elementen zu synthetisieren, seine Genese auf irgend 
einer Altersstufe zu verfolgen. Solche Funktionen, die sich an der 
Erfahrung bewähren, aber nicht synthetisiert werden können, nennen 
wir mit dem Ausdruck Kants apriorisch. Unsere Ergebnisse 
an den Fällen schwerer traumatischer Demenz bestätigen das. Der 
eigentliche Beachtungsvorgang kann verschwinden, ohne daß die 
sprachlichen Formen des Denkens, das Urteil und das Erlebnis der 
Sachverhaltskonstatierung gleichfalls verlorengehen müssen. 

Bei unseren allerjüngsten Versuchspersonen fanden wir zwar 
schon Synthesen vor. Man kann sie mit einem neutralen Ausdruck 
Komplexbildungen nennen, wenn man nicht den Köhlerschen Be- 
griff der Struktur verwenden will. Immerhin so viel ist klar, zwischen 
diesen Komplexen und den Relationen besteht eine Kluft, und es war 
uns nicht möglich, eine Brücke nachzuweisen. (Näheres in der aus- 
führlichen Publikation.) 


Unsere Versuchsanordnung nahm darauf Bedacht, die Strukturen (Komplex- 
bildungen) auf Grund von Kohärenz der Reize unmöglich zu machen.. Daher 
wurden meist Komplementärfarben oder unbunte Farben großen Abstandes gewählt. 


Was unterscheidet denn die Relation von der Struktur? Nun, 
die völlige Unabhängigkeit von der Wahrnehmungsgegebenheit. Die Ab- 
gelöstheit von den Relationsträgern. Das sehen wir ja auch in pathologi- 
schen Fällen. Wir finden z. B.!), daß in der Versuchsanordnung nach 
Grünbaum Kranke mit erheblichen optischen Störungen die Gleich- 
heit optischer Reize prompt erkennen. Und wir wissen ja auch sonst, 
daß die Relation bewußt werden kann bei nur sehr unvollkommenen 
repräsentierten Relaten. Der Beachtungsvorgang und seine gedank- 
liche Entwicklung ist wie von den anschaulichen Relationsträgern 
so auch von der Sprache in weitem Maße unabhängig. 


Unabhängig ist er auch von einer besonderen konkreten Aufgabe- 
stellung. Es gibt offenbar Tendenzen, in bestimmten Situationen, 
in bestimmter Weise der Gegebenheit gegenüberzutreten, sie auf- 
zufassen, sie zu verarbeiten. Wir möchten das in Beziehung setzen 
mit dem, was Bühler in seiner »Geistigen Entwicklung des Kindes« 


1) Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 85: Gräfin v. Kuenburg, Über 
das Erfassen einfacher Beziehungen an anschaulichem Material bei Hirngeschädigten. 
Zeitschrift für Kirderforschung. 29. Ed. 14 


196 Eliasberg: 


als die orthoskopische Auffassung bezeichnet. So wie bestimmte An- 
sichten der optisch räumlichen Gegebenheit für das Bewußtsein ein 
Übergewicht erlangen, so muß es auch bestimmte Tendenzen der ge- 
danklichen Bearbeitung geben. Ihr Ziel ist die Gewinnung dessen, was 
man die Erfahrungnennt. Wenn wir dafür den Freudschen Ausdruck 
des Realprinzips gebrauchen wollen, so müssen wir uns darüber klar 
sein, daß ihr wesentlicher Anteil nicht irgendwie soziologischen, empiri- 
schen Ursprungs ist, sondern, daß es ursprüngliche intellektuelle Ten- 
denzen sind, die mit der inneren Reifung hervortreten und die Be- 
arbeitung des empirischen Materials übernehmen. 

Mit einem der Erkenntnistheorie entnommenen Ausdruck kann 
man diese Funktionen auch transzendental nennen, insofern sie objektiv 
sind und Gegenstände geben. Die Gegenstände, die durch die Be- 
achtungsvorgänge entstehen. sind nicht Teile der vorhandenen Gegen- 
stände. Das wird deutlich bei dem, wes wir oben den Nonzusammenhang 
nannten. Also z. B. für den Gegenstand: blaues Blatt ohne Zigarette. 

Aber nur der Beachtungsvorgang als solcher trägt den transzen- 
dental-apriorischen Charakter. Die Lösungsmethoden, die in den 
Dienst der Aufgabe treten, sind durchaus subjektiv und ihr Inter- 
esse ist ein differenziell-psychologisches. Das wurde uns deutlich 
bei der Gruppe der pathologischen Fälle ohne Demenz. Otto Selz 
hat unseres Erachtens nicht genügend geschieden (Zur Theorie des 
produktiven Denkens und des Irrtums. Bonn 1922) zwischen den 
transzendentalen Funktionen des Denkens und den Lösungsmethoden. 
Das erklärt sich bei ihm daraus, daß die Vp. vor fertige Aufgaben 
gestellt wurden und nun nur noch Lösungsmethoden betätigen konnten. 
Aber das Wesentliche des produktiven Denkens ist die Gewinnung 
des Problems, ist es die Aufgabe selbst zu bilden. Das produk- 
tive Denken ist sokratisch, wenn es vom Nichtwissen zum Wissen- 
wollen fortschreitet. Wie das beim Kinde geschieht, wie das Kind 
unter der Wirkung innerer Anlagen zunächst freilich zwangsläufig 
die Aufgabe sich stellt, dazu hat unsere Versuchsanordnung gleich- 
falls einen Beitrag geliefert. 

Es sind noch eine ganze Reihe von Problemen, zu denen wir auf 
Grund unserer Protokolle Stellung nehmen können. So vor allem die 
wichtige Frage, ob man das ganz und gar untheoretische, nur auf 
empirische Regeln eingestellte Verhalten des Kindes als einsichtig 
bezeichnen kann. Wir sind allerdings dieser Meinung, ohne das hier 
näher ausführen zu wollen. 

Und ein weiteres wichtiges Problem ist das des Verhältnisses 
der motorischen Vorgänge, die wir ja nur im Versuch beobachten 


Wie entstehen und verlaufen aufgabefreie »natürliche« Beobachtungsvorgänge ? 197 


können, zum Denken. Dies Problem ist für die Tierpsychologie grund- 
legend. Bekanntlich hat neuerdings Köhler den Versuch gemacht, 
das tierische Verhalten aus dem menschlich-einsichtigen heraus zu 
deuten und zuzuseben, wie weit man kommt, wenn man eine Art von 
primitiver, an der Wahrnehmung haftender Einsicht in optische Zu- 
sammenhänge annimmt. Gegenüber diesem Standpunkt verfängt es 
nicht, wenn Köhler nicht in der Lage ist, ein objektives Kriterium 
der Einsicht anzugeben. Das objektive Kriterium ist unbedingt ge- 
fordert, nur vom Standpunkt der Maschinentheorie Descartes. Sonst 
aber stehen beide Als-Obstandpunkte zunächst gleichberechtigt neben- 
einander und wir werden denjenigen anerkennen, der die Tatsachen 
eindeutig erfaßt. In unseren Versuchen war es nicht möglich, ob- 
gleich wir doch die Tatsache der Einsicht aus sprachlichen Äußerungen 
sicherstellen konnten, ein motorisches Verhalten aufzuzeigen, das mit 
Notwendigkeit und Eindeutigkeit die Einsicht erwies. So haben wir 
z. B. das überspringende Verfahren bei einem Patienten auf Grund 
affektiver Komplexbildung bei sicher fehlendem Beachtungsvorgang 
gefunden. Einzig und allein die Übertragung gestattet den Schluß 
auf Einsicht. Aber man wird von Übertragung ja nicht mit Bezug 
auf rein motorisches Verhalten sprechen können. 


14” 


Eine Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses 
bei einem Schwachsinnigen. 


Von 
Dr. A. Theissen, Köln. 


In der Bildungs- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige in Waldniel 
(Niederrhein) erregt ein Zögling dadurch ein gewisses Aufsehen, daß 
er für Daten in auffallend kurzer Zeit mit überraschender Sicherheit 
den Wochentag angeben kann. Wenn nicht schon der ganze äußere 
Habitus, besonders die Haltung der Hände und die Kopfbildung den 
Schwachsinnigen verrieten, würden die Leiter der Anstalt sagen können, 
daß es sich um einen notorisch Geistesschwachen handelt. 

Dieser Fall steht nicht vereinzelt da. Nach Th. Heller (Grundriß 
der Heilpädagogik, Leipzig 1912) wurde ein solcher Kalenderkünstler 
einmal in Wien in der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie 
von Witzmann vorgeführt; auch Heller selbst lernte einen l14jährigen 
Knaben mit dieser Spezialbefähigung kennen. Auch hier handelte es 
sich um Schwachsinnige. — Debilität und hochwertige einseitige Be- 
gabung! Ohne Zweifel ein reizvolles Objekt für eine psychologische 
Untersuchung, die mit dem Bescheid: »Es gibt eine Reihe von ‚Teil- 
gedächtnissen‘ und von diesen sind einige gestört, das eine aber ist 
ausgebildete (Heller), nicht zufrieden sein kann, sondern unter plan- 
mäßiger Verwendung von Experiment und Beobachtung das ganze 
seelische Leben eines solchen Gedächtniskünstlers psychologisch zu 
erforschen bestrebt sein muß. 

Es wären demnach durch unsere Untersuchung folgende Fragen 
zu beantworten: 

1. Welche überwertigen Leistungen sind vorhanden? 

2. Welche psychischen Mängel sind nachweisbar? 

3. Wie sind beide psychologisch zu werten? 

Die Untersuchung hat stattgefunden in der Anstalt vom 3. bis 
16. August 1922 und vom 21.—23. Mai 1923. Der Verkehr zwischen 
dem Vl. und der Vp. gestaltete sich zwanglos. Wenn an und für 
sich schon für das Erleben einer Vp. die Anwesenheit und die Art 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 199 


und Weise des Auftretens des VI. eine wohlzubeachtende Mitbedingung 
ist, so war im vorliegenden Falle besondere Vorsicht geboten; denn 
die Vp. machte infolge hastigen Sprechens und der Zuckungen der 
Augenlider den Eindruck, als ob sie nervös sehr reizbar sei; ferner 
konnten aus der Stellung der Vp. als Zögling heraus für den Erlebnis- 
ablauf unliebsame Hemmungen eintreten. Diese Klippen wurden je- 
doch glücklich umgangen, sowohl durch einen gewissen freudigen 
Stolz bei dem Zögling, seine »Kunst« zeigen zu können, als auch 
durch das Bemühen des Vl., ruhig und freundlich die Untersuchung 
einzuleiten. 

Die Vp. ist am 18. März 1923 20 Jahre alt geworden. In unserer 
Abhandlung trägt sie den Namen »Josef«. 


1. Abschnitt. 
Die Mehrleistung. 


1. Der Tatbestand. 


a) Die Osterdaten. Josef erklärt, vom Jabre 1583 bis zum 
Jahre 2000 die Osterdaten nach dem gregorianischen Kalender zu 
wissen. Es wurden im Laufe der Untersuchung 318 Osterdaten ge- 
fragt. Dabei kamen 14 Fehlreaktionen vor —4,4°/,, die durchschnitt- 
liche Reaktionszeit betrug 1,76“, die m. V. = 0,76. 

b) Die Tagbestimmung. Vp. ist infolge der Kenntnis des 
Österdatums eines jeden Jabres von 1583—2000 in der Lage, auf 
jedes Monatsdatum dieser Jahre den Wuchentag anzugeben. 221 Daten 
wurden gefragt; die Tagbestimmungen erfolgten bei 23 = 10.4°/, 
Fehlreaktionen mit einer durchschnittlichen Reaktionsgeschwindigkeit 
von 4,205“; die m. V. = 1,9. 


2. Nähere Untersuchung der Gedächtnisleistung. 


a) Die Genesis der Leistung. Im 12. Lebensjahr bekam 
unser Zögling, so erzählte er selbst, von seinem geistlichen Onkel 
einen gregorianischen Kalender, der die Osterdaten von 1583—2000 
enthielt. 

Josef lernte diese 418 Daten auswendig. sei es, daß die Autorität 
seines Onkels ihn bestimmte oder der Ehrgeiz ihn trieb, seine ihm 
bewußt gewordene Begabung im Behalten von Zahlen und Namen in 
einer für seine Umgebung unerhörten Leistung zu zeigen, um da- 
durch sowohl den Spott seiner Mitschüler als auch den Unwillen 
seines Vaters seiner sonstigen mangelhaften Leistungen wegen zum 
Schweigen zu bringen. In aller Stille, im Garten, oder im Hause, 


200 A. Theissen: 


eignete sich Josef die Daten an, indem er täglich die Tabelle 3 
bis Amal durchlas. Wenn er einmal an einem Tage nicht hatte 
lernen können, verdoppelte er am folgenden seinen Eifer, so daß er 
manchmal die Tabelle 10 mal durchging. In einem Monat war sein 
Ziel erreicht; die Daten »saßen«. Nun ging er daran, seine Kennt- 
nisse auszuwerten. Vom ÖOsterdatum aus bestimmte er die Daten für 
verschiedene Feste, z. B. für Christi-Himmelfahrt, Pfingsten,  Fron- 
leichnam oder für Septuagesima. Ferner kam er auf die Idee, die 
verschiedensten Daten eines Jahres in den Wochentag umzurechnen. 
Anzunehmen ist, obwohl die Angaben des Zöglings seiner Suggesti- 
- bilität wegen sich widersprechen, daß er zunächst sein eigenes Geburts- 
datum, dann das seiner Angehörigen in den Wochentag umsetzte, er 
bildete sich, wie sich später herausstellen wird, sein bestimmtes System, 
Übung und Eifer ließen ihn die Umrechnung in kurzer Zeit voll- 
führen, und dann trat er auf den Plan: Seine Mitschüler oder Nach- 
barn frug er nach ihrem Geburtsdatum, und in wenigen Sekunden 
sagte Josef den Wochentag. 

Man rechnete nach, man besann sich, ja, es stimmte. So war 
der Ruhm seiner Gedächtniskunst begründet, und das Staunen in der 
Umgebung Josefs wuchs um so mehr, weil er es verstand, das » Wie« 
seiner Tagerrechnung nicht zu verraten. — Von da ab bildete sich in 
ihm das Bestreben, Daten in den Wochentag umzurechnen, gewisser- 
maßen zur Manie aus, und das Fundament der Tagerrechnung, die 
Kenntnis der Österdaten, wurde Tag für Tag befestigt, die Daten 
immer wieder repetiert. 

Wenn man nun die Art und Weise der Rinprägung der Daten 
psychologisch etwas genauer charakterisieren soll, so ist man sehr auf 
Vermutungen angewiesen; wenn man eine Zahl für die Einprägung 
nennen will, so kann man sagen: »Für die erste Einprägung inner- 
halb eines Monats, zur völligen Beherrschung von 418 Komplexen 
zu je drei (Zahlen)-Einheiten (Jahreszahl, Monat, Tag), waren etwa 
100—120 Wiederholungen notwendig. 

b) Für den Vl. kam es nun zunächst darauf an, der Methode 
der Tagesrechnung nachzuspüren. 


Versuchsanordnung: 


Es wurden Versuchsreihen von insgesamt 132 Fragen angesetzt, 
die Daten aus dem November und Dezember und Daten aus der 
Nähe des Ostertages enthielten; in diese Daten waren solche aus dem 
Januar und März, also solche vor dem Österdatum verstreut. Die 
Daten aus der Nähe des Östertages so wie von November und 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 201 


Dezember (vom Osterdatum entfernt) wurden abwechselnd gefragt, um 
nicht etwa eine womöglich allmählich eintretende Ermüdung zu un- 
gunsten der einen oder anderen Gruppe wirken zu lassen. Dem 
Versuche lag der Gedanke zugrunde, durch Vergleichen der einzelnen 
Reaktionszeiten das Geheimnis der Tagerrechnung enthüllen zu können. 


Versuchsergebnis. 


l. Die Daten in der Nähe des Ostertages (aber nach 
Ostern): 
41 Daten wurden gefragt, das arithmet. Mittel der Reaktions- 
zeiten beträgt: 3,897"; 4 Fehlreaktionen 10°/,. 


2. Die Daten vom November und Dezember: 
45 Daten wurden gefragt, das arithmet. Mittel der Reaktionszeiten 
ist: 3,906“, 9 Fehblreaktionen = 20°/,. 


3. Die Daten vor Ostern: 

46 Daten wurden gefragt; das arithmet. Mittel der Reaktionszeiten 
beträgt: 4,387“, 2 Fehlreaktionen = 4,3°/,. 

21 Daten waren genommen aus dem Januar und 25 aus dem 
März und April, d. h. also kurz vor dem Osterdatum. Für die Januar- 
daten ergibt sich eine durchschnittliche Reaktionsgeschwindigkeit von 
4,333*, für die übrigen eine solche von 4,248“. 

Ein Vergleich der durchschnittlichen Reaktionszeit besagt demnach, 
daß es der Vp. gleichgültig ist, ob die Daten aus den Monaten kurz nach 
Ostern oderausden Monaten November und Dezember genommen werden. 
Der Unterschied in der Reaktionszeit von 0,009“ darf hier unberück- 
sichtigt bleiben; die höhere Zahl der Fehlreaktionen im November 
und Dezember braucht nicht unbedingt durch die Errechnung des 
Wochentages verursacht zu sein, sondern kann daran liegen, daß Josef 
das Osterdatum, von dem er ausging, nicht mehr genau wußte. Hin- 
gegen ist es auffallend, daß die Reaktionszeit für die Daten vor dem 
Ostertage höher ist und zwar im Vergleich zu den Daten kurz nach 
Ostern um 0,38” und im Vergleich zu den November- und Dezember- 
daten um 0,38“. Ferner ist die Reaktionszeit für die Daten kurz 
vor dem Ostertermin kleiner als die für die Januardaten und zwar 
um 0,085”. Dieser Befund deutet darauf hin, daß die Vp. die Daten 
nach Ostern mit größerer Leichtigkeit in den Wochentag umrechnet, 
als die vor Ostern. Vielleicht hat Josef für die Daten nach Ostern 
eine bestimmte Formel, während er die Tagbestimmung vor Ostern 
»errechnen« muß. Die durch diese »kirrechnung« bedingte größere 


202 A. Theissen: 


Aufmerksamkeitsentfaltung würde den geringeren Prozentsatz der Fehl- 
reaktionen erklären. 

c) Ein mehrmaliges Befragen der Vp. bestätigt diese Annahme. 
Bei der außergewöhnlichen Suggestibilität der Vp. mußte vorsichtig 
verfahren werden. Die Befragung geschah darum gelegentlich bei 
anderen Versuchsreihen, die einen anderen Zweck verfolgten. Zu- 
nächst legt Vl. der Vp. einen selbstentworfenen Kalender vor, auf 
dem unter dem Monatsnamen nur die Zahlen: 1, 2, 3 usw. für die 
Wochentage untereinanderstehen. Die Instruktion lautete: »Sieh mal, 
Josef, hier ist ein Kalender, den ich selbst gemacht habe. Wie 
machst Du es nun, um mir zu sagen, an welchem Wochentage das 
einzelne Datum war? z. B. 1. Juni 1675? Antwort: »Im Jahre 1675 
war Ostern am 14. April; dann war das ein Sonntag, dann war auch 
der 28. April ein Sonntag, dann war der 1. Mai ein Mittwoch und 
der 1. Juni ein Samstag.« »Wie rechnest Du das denn aus«? »Nein, 
das brauche ich nicht, das ist so.« 

Auf diese Antwort hin wurde die Untersuchung in einer anderen 
Richtung hin fortgesetzt. 

Das Ergebnis dieser 1. Befragung ist, daß die Vp. vom Oster- 
datum zum 1. des folgenden Monates springt und von da aus das in 
Frage kommende Datum bestimmt. 

Bei der 7. Versuchsreihe (Jahreszahlen werden in einem Lese- 
spalt gezeigt) kam Vl. zwanglos noch einmal auf die Erlernung der 
Österdaten zurück, wobei vom Vl. ein besonderes Interesse dafür be- 
kundet wurde, wie die Vp. ihr Wissen den Kameraden des Dorfes 
gezeigt hätte durch die Bestimmung des Wochentages bei den Ge- 
burtsdaten. »Wenn nun ein Junge im Dezember geboren war und 
Ostern war im April, wie hast Du denn da gerechnet?« 

»Die Dezembertage fallen 3 Tage zurück wie die Maitage.« 
»Und im November?« — »5 Tage« — »Wenn nun Ostern im März 
ist?« — »Auf den April fällt der Dezember 6 Tage, der November 
3 Tage, der Oktober 6 Tage zurück.« 

Hier wurde eine kleine Pause in der Befragung gemacht, damit 
der Vl. einige Notizen machen konnte; denn während der »Befragung« 
d. h. Unterhaltung wurde vom V]. selten geschrieben, weil ihm alles 
darauf anzukommen schien, den Gang einer Befragung durch die Ab- 
lenkung des Vl. und der Vp. auf das Schreiben wicht zu stören. In 
dieser Pause rechnete der Vl. an Hand seines Kalenders aus, daß der 
1. Dezember auf den 1. April in der Bestimmung des Wochentages 
nicht 6 Tage, sondern nur 1 Tag zurückfäll. Vl. frug darum den 
Zögling, ob er sich auch ganz bestimmt darüber klar wäre, daß 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 203 


der Dezember 6 Tage zurückfalle Vp. gab zur Antwort: »6 Tage in 
der Aufwärtsbewegung.« 

Man kann aus dieser Antwort schließen, daß Josef beim Dezember 
vorwärts zäblt, während er, was auch die weitere Untersuchung er- 
gab, bei allen übrigen Monaten rückwärts geht und zwar, wenn Ostern 
in den März fällt, für den Mai 5, den Juni 2, den Juli 0, den 
August 4, den September 1, den Oktober 6, den November 3 Tage; 
hat Josef also den Wochentag des 1. April bestimmt, zählt er sofort 
die erforderlichen Tage zurück und er hat den Wochentag des 1. des 
betreffenden Monates. Fällt Ostern in den April, so bestimmt Josef 
zuerst den 1. Mai und zählt dann zurück, für den Juni 4, den Juli 2, 
den August 6, den September 3, den Oktober 1, den November 5, 
den Dezember 3 Tage. Auffallend war dem Vl., daß diese Angaben 
von der Vp. nicht so prompt gegeben wurden, wie man hätte er- 
warten können; bei den 4 letzten Angaben beträgt die durchschnitt- 
liche Reaktionszeit 4,06“. Über diese Erscheinung wird später.noch 
zu sprechen sein. 

Hat die Vp. nun den 1. irgend eines Monates bestimmt, so ist 
es leicht, von dort aus das gefragte Datum in den Wochentag umzu- 
setzen; denn der 1., 8., 15., 22. und 29. des Monates haben denselben 
Wochentag. Diese Tage werden so der Vp. zu besonderen Hilfs- 
stationen. 

Für die Monate vor dem Österdatum hilft sich Josef damit, daß 
er, wie er sagt, »zurückstößt«. Er behauptet, daß ihm diese Monate 
nicht lieb seien. 

Das Ergebnis der Befragungen stimmt demnach mit dem Befund 
der Experimente hinsichtlich der Reaktionszeit überein. 


3. Der Typus. 


Da zur psychologischen Bewertung der Gedächtnisleistungen die 
Kenntnis des Vorstellungstypus nicht ohne Bedeutung ist, wurden zu 
seiner Ermittlung verschiedene V.-Ren. angesetzt. 


a) Der Vorversuch. Die Untersuchung mußte zunächst ihr 
Augenmerk darauf richten, festzustellen: »Welcher Unterschied be- 
steht zwischen den Reaktionszeiten bei vorgesprochenen und ab- 
gelesenen Daten und was ergibt sich daraus für die Typus- 
bestimmung?« 

Zuerst wurde die Sehschärfe der Vp. geprüft. Josef vermochte 
die Zahlen in einem Kraepelinschen Rechenhefte auf eine Ent- 
fernung von 2,50 m gut zu lesen und zwar 36 Zahlen in 22,4”; Text 
las er ebensogut. 


204 A. Theissen: 


ad 


Diese Prüfung wurde deshalb für nötig befunden, weil VI. die 
Befürchtung hegte, die Vp. habe ein Augenleiden; denn Josef kniff 
manchmal die Augenlider zusammen, wie wenn man die Augen gegen 
grelles Licht schützt; zudem waren die Lider manchmal gerötet. 

Ferner wurde bei Gelegenbeit der V.-R. 2 die V.-A. so geändert, 
daß die Daten nicht vorgesprochen, sondern auf Blättchen in Größe 
von 2><4,5 cm vorgelegt wurden zum Ablesen. Die Rzt. war natur- 
gemäß infolge der Neuheit der V.-A. erheblich: m. Rzt. = 9,4” bei 
13 Daten. 

Dieser V.-R. (2) schloß sich eine Befragung an, deren 1. Teil 
bereits oben mitgeteilt wurde. Auf die Antwort der Vp. hin, daß 
sie nicht zu rechnen brauche, sondern die Antwort feststehe, lautete 
die Frage: »Siehst Du denn die Zahlen?« Antwort: »Ja, sie kommen 
mir in den Kopf geflogen.«e »Wann denn?« — »Wenn ich weiß, 
wann in dem Jahre Ostern ist.« 

»Hier, Josef, sieh Dir noch einmal meinen (selbstgemachten) 
Kalender an! Wenn am 14. April Ostern war, wie siehst Du denn 
die Zahl, schwarz, blau oder rot?« — »Rot, denn alle Sonntage sind 
rot.« — »Siehst Du denn auch den ganzen Kalender 'so eingestellt in 
rote und schwarze Zahlen?«e — »Jale — »Dann zeige mir mal, 
welche Tage siehst Du nun im Oktober rot?« — »Der 7., 14. 21. 
und 28.« 

Die Vp. nannte diese Daten sofort und zeigte dabei die Zahlen 
auf dem Kalender. 

Nach dieser Befragung glaubte der Vl., das Geheimnis der Tag- 
bestimmung entlüftet zu haben, nämlich: Ist der Ostertermin der Vp. 
bekannt, dann ordnet sich dementsprechend im Kopfe der Vp. der 
ganze Jahreskalender in rote und schwarze Zahlen, die Vp. braucht 
also nur abzulesen, es »fliegt ihr in den Kopf«. Der Vorstellungtypus 
ist also visuell. 

Doch bei genauer Nachprüfung dieser Befragung ergibt sich ihr 
zweifelhafter Wert. Denn in dem Frageverfahren liegt ein großer 
Fehler; die Frage: »Wie siehst Du denn die Zahl, schwarz, blau oder 
rot?« ist eine Suggestivfrage. Es war dadurch, wie sich auch später 
herausstellte, die große Wahrscheinlichkeit, man kann sogar sagen, 
die Gewißbeit gegeben, daß assoziativ die Vorstellung von einem 
Wandkalender oder Abreißkalender geweckt wurde. Ferner stimmt 
die Bezeichnung der Oktobersonntage nicht; wenn am 14. April Ostern 
ist, dann sind im Oktober der 6., 13., 20., 27. Sonntage. Ein wertvoller 
Aufschluß in dieser Befragung liegt in dem Satz: »Sie (die Zahlen) 
kommen mir in den Kopf geflogen«, wobei es nicht notwendig ist, 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 205 


einzig und allein auf visuelle Vorstellungsbilder zu schließen, sondern 
eher an akustisch-motorische zu denken. 


b) Hauptversuche. Es wurden nun neue V.-Ren. eingeleitet, 
die darauf hinausgehen sollten, 


1. nachzuprüfen, ob die Vp. eine visuelle Vorstellung von der 
Tabelle des gregorianischen Kalenders habe, die zum Auswendig- 
lernen gedient hatte und 

2. den Unterschied in der Rzt. festzustellen zwischen einer Reihe 
vorgesprochener und abgelesener Jahreszahlen, bei denen das 
Osterdatum angegeben werden sollte. 


a) 1. Versuchsanordnung! Das Österdatum sollte genannt 
werden zu 180 Jahreszahlen, 

die mit Ausnahme der letzten Reihe (f) nach bestimmten Ge- 
sichtspunkten ausgewählt waren: 


a) die ersten 20 Zahlen waren aus der 1. Gruppe der Tabelle ge- 
nommen in auf- und niedersteigender Zickzacklinie, z. B. 1600, 
1701, 1802, 1903, 1804 usw. 


b) die folgenden 10 Zahlen brachten von den 5 Hauptgruppen je 
eine Zahl von der rechten und linken Außenseite der Tabelle, 
z. B. 1619, 1639, 1659 usw. 


c) weitere 20 Fragen repräsentierten die untereinanderstehenden 
5 Kolonnen unter »drei« (nämlich 1603—1903, 1623—1923, 
1643—1943, 1663—1963, 1683—1983), 


eine Reihe mit 74 Fragen brachte die Jahreszahlen, die gleiche 
Osterdaten haben am Schluß und Anfang von zwei aufeinander- 
folgenden Kolonnen z. B. (1901—1602): (1902, 1603) — (1906, 
1606) usw. Die Jabreszahlen 1901, 1902, 1906 usw. wollen 
wir der besseren Orientierung wegen A-Zahlen, die übrigen 
B-Zahlen nennen, 


weitere 20 Fragen erkundigten sich nach dem Osterdatum jener 
Jahreszahlen, die im Laufe der Jahrhunderte in einem be- 
stimmten Turnus dasselbe Datum haben, z. B. (1602, 1613) — 
(1702, 1713) — (1802, 1813) — (1606, 1617) usw. 

1602, 1702 u. f. = A-Zahlen, 

1613, 1713 „ „ = B-Zahlen. 


Nach je zwei Jahreszablen mit dem gleichen Datum wurden 
2 Jahreszablen mit verschiedenem Datum gefragt, 


f) die letzten 16 Fragen waren wahllos aus allen Gruppen ge- 
nommen. 


d 


a 


e 


a 


206 A. Theissen: 


Ergebnis: 1. Vergleich der einzelnen Reaktionszeiten! 
Das a. M. der Rztm. beträgt: 








für Zahlen 
AM. davon für die für ohne bestimmte 
Reih sämtlich 
Zu Eee A-Zahlen die B-Zahlen Aufeinander- 
. folge 
| | 
| = | 
un | = 
| 2,68“ | — 
2,40" | 1 ‚79 “ 
E 1,56“ 





Der ganzen Versucheräike lag die Annahme zugrunde, daß bei 
einer etwaigen visuellen Vorstellung von der Tabelle die Reaktions- 
zeit durch die bestimmte Aufeinanderfolge beeinflußt werden müsse 
und zwar zu ungunsten der Jahreszahlen ohne gesetzmäßige Folge. 
Der Überblick über die Rzten. lehrt nun überraschend deutlich, daß 
bei den aus allen Gruppen der Tabelle wahllos genommenen Zahlen 
die Rzt. am kleinsten ist, während sie bei bestimmter Aufeinanderfolge 
zum Teil wesentlich höher ist. Besonders bei den B-Zahlen ist die 
Erhöhung der Rzt. beträchtlich. 

Fehlreaktionen waren nicht zu verzeichnen. 


2. Die Befragung im Anschluß an die einzelnen Reihen! 
Reihe a) 

Frage: Josef, stell Dir den gregorianischen Kalender vor, den Du ja auswendig 
kannst. Hast Du beim Abfragen eben nichts gemerkt? Kannst Du mir sagen, in 
welcher Reihenfolge ich gefragt babe? 

Antwort (nach einem Nachdenken von 6“). 

Sie baben durcheinander gefragt. 

Reihe b) 

Dieselbe Frage. — 

Keine Antwort (10“). 
Reihe c) 

(Nach 10 Jahreszahlen.) 

Frage: Nach welcher Reihenfolge habe ich gefragt? 

Keine Antwort (10%). 

Frage: Kannst Du mir sagen, aus welcher Gruppe ich gefragt habe? 

Antwort: Aus der 6., 7. 8. Gruppe haben Sie gefragt. (Falsch!) 

Frage: Weißt Du denn noch, was eine Gruppe auf dem Kalender ist? 

Antwort: Ja, ich weiß, was Gruppe ist, 1600 -16!9 ist die erste Gruppe, 
1620—1639 ist die 2. Gruppe. 

Frage: Kannst Du Dir wohl denken, nach welcher Reihenfolge ich wohl 
weiter fragen werde? 

Antwort: Näb, das kann ich nicht denken. 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 207 


(Nach 20 Jahreszahlen.) 

Frage: Hast Du den Eindruck, als ob ich durcheinanderfrage oder nach einer 
bestimmten Reihenfolge? 

Antwort: Nach einer bestimmten Reihenfolge, so alle 100 Jahre. 

Reihe d) 

Frage: Gewisse Antworten hast Du schnell gegeben, andere langsam; hast Du 
das nicht gemerkt? 

Antwort: Ja, das habe ich gemerkt. 

Frage: Wie kam das denn? 

Antwort: Das weiß ich nicht. 

Reihe e) 

Frage: Hast Du denn bei manchen Jahreszahlen nicht gemerkt, daß sie das- 
selbe Datum haben ? 

Antwort: Ja, nach 11 Jahren ist dasselbe Datum, Schaltjahre nicht. 

Frage: Hast Du das auch früher gesehen, als Du die Tabelle auswendig 
lerntest ? 

Antwort: Ja — 

Zeig mir mal, wie ich lernen müßte, wie Du es gemacht hast! — »Ich fange 
oben an, 1583—1600, dann 1600, 1601, 1602 (Josef zeigt mit dem Finger weiter 
bis 1619). — »Und dann?« — Dann 1620, 1621 (zeigt wieder weiter), — »Bis wie 
weit?« »Bis 1700. »Hast Du also zuerst alle Daten von 1600—1700, dann von 
1700—1800 usw. auswendig gelernt? Jawohl! 

Reihe f) 

Frage: Stehen die Zahlen, die ich jetzt gefragt habe, auf der Tabelle neben- 
einander oder untereinander oder durcheinander? 

Antwort (nach 6”): »Sie stehen untereinander.< (Falsch!) 


Sämtliche Fragen, die auf eine Prüfung nach einer visuellen Vor- 
stellung der Tabelle abzielten, werden demnach negativ beantwortet. 
Die Auskunft auf die Frage bei Reihe c) »die Jahre folgten so alle 
100 Jahre aufeinander«, war selbstverständlich und fällt deshalb nicht 
ins Gewicht, weil sie keinen Aufschluß gibt über die lokalen Be- 
ziehungen der Zahlen auf der Tabelle. Auffallend ist die Tatsache, 
daß Vp. bei Reihe d) im Laufe des Abfragens von 74 Jahreszahlen 
nicht »dahinterkommt«, daß jedesmal die Zahlen paarweise dasselbe 
Datum haben. Vielmehr war der Reproduktionsverlauf so, daß Josef 
das Datum auf die sogenannte A-Zahl sofort sagte, während bei der 
B-Zahl beim Aufsuchen desselben Datums eine Hemmung eintrat, wie 
wenn die Vp. sagen wollte: »Dasselbe Datum? stimmt das?« Vp. 
machte auch äußerlich den Eindruck, als ob sie nochmals revidiere. 
Dieser Vorgang wiederholte sich bei sämtlichen B-Zahlen, auch bei 
der Reihe e). Daraus erklärt sich auch die hohe Rzt. Wichtig ist bei 
Reihe e) die Mitteilung unserer Vp. über die Art und Weise der 
Einprägung der Tabelle. 


Ebenfalls gelang es der Vp. nicht, auf einem Blatt einige Jahres- 
zahlen so niederzuschreiben, wie sie auf der Tabelle stehen; gefordert 


208 A. Theissen: 


war, auf einem Blatt die Zahl 1619 (äußerste Ecke oben rechts, 1. Gruppe) 
und dazu die Zahlen 1680--1980 (äußerste Kolonne links unten, 
5. Gruppe) niederzuschreiben. 

Ferner konnte Vp. sich nicht darauf besinnen, daß neben einigen 
Jahreszahlen auf der Tabelle ein Sternchen steht zur Bezeichnung der 
Schaltjahre, während Vp. wohl wußte, welche Jahre überhaupt Schalt- 
jahre sind. 

Gelegentlich einer anderen V.-R. (7) wurde der Vp. noch einmal 
die Aufgabe gestellt, auf einem Blatt die Jahreszahlen, die der V]. 
nannte, so aufzuschreiben, wie sie auf der Tabelle ständen. Die Auf- 
gabe wurde nicht gelöst; Vp. zögerte jedesmal, suchte auf dem Blatt 
herum und schrieb schließlich die genannte Zahl irgendwo nieder. 

Diese Versuche ergaben demnach evident, daß bei der 
Vp. von einer visuellen Vorstellung der Tabelle nicht ge- 
sprochen werden kann. 

ad 2. Um einen etwaigen Unterschied in der Rzt. zwischen vor- 
gesprochenen und abgelesenen Zahlen zu konstatieren, mußte eine bessere 
Prüfungsmethode gefunden werden als die bereits früher erwähnte 
Hilfe der verdeckten Blättchen. Es wurde darum ein »Gedächtnis- 
apparat« aus grauweißer Pappe konstruiert; anstatt der Trommel wurde 
eine Schiebevorrichtung angebracht, durch die man Papierstreifen mit 
Jahreszahlen hindurchziehen konnte. Der Lesespalt hatte eine Öffnungs- 
weite von 3><1,4 cm; die kräftig auf weißem Papier mit Tinte auf- 
gezeichneten Zahlen (4stellige Zahlen) füllen einen Raum von 
1><2,5 cm aus; die Beleuchtung des Lesespaltes und seine Stellung 
zur Augenhöhe der Vp. war gut. Es wurden einige Vorübungen ge- 
macht mit Zahlen aus dem 13. und 14. und 15. Jahrhundert. Die 
Instruktion: die Jahreszahl, die im Spalt erscheine, zu sehen und 
schnell das Osterdatum zu sagen, ohne vorher die Zahl auszusprechen, 
wurde mehrmals eingeschärft. Die Expositionszeit dauerte jedesmal 
eine Sekunde. Einer der Herren der Anstalt hatte die Liebens- 
würdigkeit, den Aparat zu bedienen. Sobald die Zahl im Spalte sicht- 
bar wurde (durch den Ruck der Schiebevorrichtung war sie jedesmal 
ganz zu übersehen), wurde die Stoppuhr abgedrückt, und sobald die 
Vp. die Antwort auszusprechen begann, gestoppt. 

50 Jahreszahlen wurden im Apparat gezeigt; 2 Antworten wurden 
nicht bewertet, weil die Zahl nicht ganz zu sehen gewesen war. 


Das Ergebnis: 


Bei den 48 Antworten beträgt die durchschnittliche Rzt. 2,59“, 
die m.V.: 0,89. Im einzelnen sind die Resultate für die Streifen folgende: 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 209 


1. Streifen 9 Zahlen a.M.d.Rzt.: 3,84; m.V.: 1,68; 
2, 7 9 Mr s» 9» 200; „ 0,42; 1 Fhir. 
3. a 9 Mr „une. 231; „ 084; 1 Fhir. 
4 5 11 T „on 9 269; „ 107; 1 Fhir. 
5 7 10 R vsu n 218; „ 0,90. 


Ein Vergleich der hier durchschnittlichen Rzt. von 2,59” mit 
der 4. V.-R. (66 Jahreszahlen wurden vorgesprochen) von 1,657“ läßt 
den Schluß zu: 

»Die Vp. ist nicht optisch, sondern akustisch ver- 
anlagt.« 

c) Befragung und das äußere Verhalten der Vp. Ergänzt 
wurden obige Experimente durch neue Befragungen und die Deutung 
des äußeren Verhaltens der Vp. 

Nach der 4. Reihe wurden zunächst Fragen gestellt über die 


Tagesbestimmung. 

Dann: »Wenn Du schnell die Antwort gibst, siehst Du denn die Zahl in 
Deinem Kopf?« — »Nein, es ist bloß ein Gedanke. Er kommt mir angeflogen.« — 
»Wie kommt es denn, daß Du den Tag so schnell ausrechuen kannst? — »Das 
kommt nun einmal so, es ist mir, als wenn einer neben mir stände und mir das 
vorsagte.«e — »Wie ist die Stimme denn?» — »So wie ich spreche.« — Du hast 
mir heute morgen gesagt, Du sähest die Zahlen, die Sonntage wären rot und die 
anderen Tage schwarz?« — »Ja, das habe ich so gemeint: Wenn man einen Kalender 
an der Wand hat, einen Abreißkalender, dann sind die Sonntage rot und die Werk- 
tage schwarz. Aber in meinem Kopfe ist das nicht so. Da sehe ich keine 
Zahlen.« 

Gelegentlich der 6. v. R. wurde gefragt: »Warum hast Du einzelne Antworten 
schneller gegeben? Bei einzelnen hast Du Dich wohl lange bedenken müssen, wie ?« — 
‚Das ist halt so, das eine kommt schnell, das andere langsam; das eine geht schnell, 
weil ich ja warten muß, bis die Stimme mir das sagt, und das andere geht langsam, 
weil ich ja auch warten muß, bis die Stimme mir das sagt.« 


Auch das äußere Verhalten der Vp. vermag einigen Aufschluß 
über den Typus zu geben. 

Bei jeder Antwort sieht die Vp. vor sich, die Stirne legt sich 
in Falten, die Finger werden vom Daumen bis zum kleinen Finger 
abwechselnd auf die Tischplatte oder das Knie leise aufgestoßen, der 
Körper, besonders der Kopf neigt sich sehr oft bei der Antwort nach 
vorne, die Jahreszahlen werden in der Form ausgesprochen, daß Vp. 
für 1912 z. B. stets sagt: »Eintausendneunhundertzwölf.« 

d) Versuch mit Zahlenkarrees. Ergänzt werden obige Ex- 
perimente durch Versuche mit sogenannten Zahlenkarrees. 


210 A. Theissen: 


Ein Karree mit 9 Buchstaben wurde der Vp. zum Auswendig- 
lernen gegeben. 





h t l 
——— 
k | j | 2 

| | | 

Die Instruktion lautete: »Sieh Dir die Buchstaben gut an, Du 
mußt sie mir nachher aufschreiben können; Du kannst lernen, so lange 
Du wilist.« 

Nach 34,2“ gab Josef zu verstehen, daß er reproduzieren wolle. 
In 10,2“ notierte er die Buchstaben in ein freies Karree ein und 
zwar kolonnenmäßig von oben nach unten: f, h, k usw. Nach einer 
Zwischenpause von 1‘, in der Vl. mit der Vp. über belanglose Dinge 
geredet hatte, wurde dem Zögling ein zweites freies Karree dargeboten. 
Er mußte jetzt den betreffenden Buchstaben in dasjenige Karreefeld 
einzeichnen, das ihm vom Vl. gezeigt wurde mit der Frage: »Was 
stand hier?” Die Reihenfolge war: t, z, k, m, f, h, a, j, l. Die Auf- 
notierung dauerte 16“ ohne Fehlreaktion. 

Von wesentlicher Bedeutung war dabei die Art und Weise des 
Aufnotierens: Bei allen Buchstaben außer f, a, m zeigte Josef mit 
dem Bieifstift auf die einzelnen Felder kolonnenmäßig von oben nach 
unten und sprach dabei halblaut die betreffenden Buchstaben aus, 
bis er zum Zielfelde kam, in das er eintragen sollte. 

Nach 20‘ und nach 6 Stunden brachten die Aufzeichnungen nur 
Fehlreaktionen. Es muß dabei erwähnt werden, daß Vp. in diesen 
Zwischenzeiten Texte und auch Karrees mit Ziffern auswendig gelernt hatte. 

Zwei weitere Versuche mit Zahlenkarrees zeigen dasselbe Bild. 


Diese Experimente deuten unzweifelhaft auf den akustisch-motor. 
Typ der Vp. hin. 


e) Vorwärts und rückwärts buchstabieren des Alpha- 
betes. In 6,4“ buchstabiert Vp. das Alphabet vorwärts, in 1' 24“ 
rückwärts mit einem Fehler, indem r sowohl nach t wie nach s ge- 
nannt wurde. Der Vl. knüpfte die Frage an: »Das war schön; wie 
hast Du das denn fertig gebracht?« 

Antwort: »Ich habe immer vier Buchstaben vorwärtsgedacht, und 
dann rückwärts aufgesagt.«e — »Sag mir mal ein Beispiel!« — Z. B.: 
>Q, T, S, te dann hab ich gesagt: »t, s, r, q.« 


Mebhrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 211 


f) Zusammenfassung. Nach den Resultaten dieser Versuche 
und ferner durch den Befund der Befragungen und die Deutung des 
äußeren Verhaltens ist die Vp. ein akustisch-motorischer Typ. Außer- 
dem bringen die oben wiedergegebenen Antworten der Vp. noch andre 
wertvolle Aufschlüsse, auf die bei der psychologischen Betrachtung 
am Ende der Abhandlung zurückzukommen sein wird. 

Wie klar und eindeutig auch die Befunde der Prüfung dieser 
überwertigen speziellen Gedächtnisleistungen erscheinen mögen, so 
wollen wir doch mit einer eingehenden psychologisch - kritischen 
Prüfung des Tatbestandes hintanhbalten. Denn angesichts der Einheit- 
lichkeit unseres Geisteslebens würde eine jetzt vorzunehmende schema- 
tische Rubrizierung und Bewertung der Leistungen sich der Gefahr 
aussetzen, am Ende der ganzen psychologischen Untersuchung, wenn 
auch nicht direkt falsch, so doch in einem anderen Lichte zu er- 
scheinen. Wir wollen darum zunächst die Ergebnisse der Prüfung 
neuer Gedächtnisleistungen und der Intelligenz abwarten. 


2. Abschnitt. 
Neue Gedächtnisleistungen. 


1. Ist es der Vp. möglich, neue Gedächtnisleistungen zustande zu 
bringen? 
2. Wie erscheinen diese Leistungen in der psychologischen Analyse? 
Es wurde, wo es nötig schien, durch Abwechslung mit anderen Experimenten 
oder durch anderweitige geistige Inanspruchnahme dafür gesorgt, daß der Einfluß 
von Perseverationstendenzen ausgeschaltet blieb. 


Des Raummangels wegen können einige Versuche nur kurz ge- 
streift werden. 


a) Karree-Versuche. 

Der Vp. werden Karrees mit Zahlen und Buchstaben geboten; 
die Instruktion lautete dahin, die Zahlen und Buchstaben sich so zu 
merken, daß sie nachher auf einem anderen Blättchen genau so auf- 
gezeichnet werden könnten wie auf dem ursprünglichen Zettel. Der 
Vp. wurde ein Blatt mit den 16 kleinen Karrees in der Größe von 
je 1 qcm ohne Ziffern gezeigt und daran die Instruktion nochmals 
erklärt und eingeschärft.: Die Dauer der Einprägung war in das Be- 
lieber der Vp. gestellt; acht Versuche wurden gemacht. 

Ergebnis: 

a) Zahlen haben bei der Einprägung vor Buchstaben keinen Vorzug. 

b) Eine fehlerfreie Aufnotierung wird nach einer Erlernungsdauer 
von 2?' 50“ ermöglicht. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 15 


212 | A. Theissen: 


c) Eine systematische Anordnung der Zahlen oder Buchstaben im 
Karree wird nicht beachtet, Vp. lernt und notiert kolonnenmäßig 
von oben nach unten. 

d) Nach 24 Stunden ist das gelernte dem Gedächtnis fast gänzlich 
wieder entschwunden. | 

Besonders wollen wir der späteren Zusammenfassung der 
Wichtigkeit wegen vorwegnehmen, daß die Vp. jedwede Gedächtnis- 
stütze, jeden Gesichtspunkt, jedes System bei den Gedächtnisleistungen 
dieser Experimente außer acht läßt. Vp. lernt, wie der Volksmund 
sagt, »stumpfsinnige«. 


b) Der Fahrplanversuch. 


Um nun der Vp. die Möglichkeit zu bieten, mit Zahlen irgend- 
welche Vorstellungen zu verbinden, wurde der sogenannte »Fahrplan- 
versuche gemacht. Vl. sagte der Vp.: »Sieb mal Josef, Du hast ein 
gutes Gedächtnis; denk Dir mal, Du könntest Eisenbahnschaffner 
werden. Dann wäre es schön, wenn Du den Leuten, ohne einen 
Fahrplan aufmachen zu müssen, sagen könntest, wann die Züge ab- 
fahren. So, nun lerne einmal so schnell Du kannst, die Abfahrtzeiten 
der Züge von Köln nach Bonn. Sobald Du sie weißt, sagst Du 
sie mir.« 

Die 24 Abfahrtzeiten wurden in 11‘ 37” gelernt. Obwohl der 
Vp. zur Komplexbildung wesentliche Hilfen geboten waren durch die 
Aufeinanderfolge der Ziffern 6—12 und durch günstige Zahlen- 
kombinationen, wie 6° 3#3 und durch die Uhr oder Zeitvorstellung, 
obwohl ferner dem Eifer durch die Zielsetzung der Aufgabe größere 
Wirkungsmöglichkeit gegeben war, ist bei diesem Versuch die Ein- 
prägungsdauer nicht geringer wie bei den anderen Versuchen. 


c) Der Versuch mit Figuren. 


Um die Merkfähigkeit für Figuren zu prüfen, wurden der 
Versuchsperson sinnlose Gebilde im Gedächtnisapparat geboten (siehe 
S. 213) und zwar jedesmal 2 Figureu zu konstant wiederkehrenden 
Paaren vereinigt, während die Reihenfolge der Paare wechselte, um 
nur die Assoziation der Figuren in einem Paar zu begünstigen. Die 
Instruktion lautete, die Figuren genau zu besehen, sie müßten nach- 
her nachgezeichnet werden können. Die Instruktion war absichtlich 
allgemein gehalten. 

Nachdem jedes der 6 Figurenpaare 4mal je zwei Sekunden lang 
dargeboten war, wurden der Vp. die Figuren, die links in den Paaren 
gestanden hatten, auf einem Blatt vorgelegt mit der Aufgabe, die 
rechtsstehenden Figuren daneben zu zeichnen. 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 213 


Die Aufgabe konnte nicht gelöst werden. Es wurden die Figuren 
nun &mal je 2 Sekunden dargeboten. Der Erfolg war, daß Vp. wohl 
neben die vorgelegten Figuren andere Figuren zeichnete, die jedoch 
mit einer einzigen Ausnahme nur entfernt an die Versuchsfiguren 
erinnerten. Eine Assoziation zwischen den Gebilden der einzelnen 
Paare war auch kaum erkennbar. 

Der Vp. wurde nun die Möglichkeit gegeben, die eigenen 
Zeichnungen mit den Versuchsfiguren zu vergleichen. Josef erkannte, 
daß er nichts richtig gemacht habe«. Der Versuch wurde ab- 
gebrochen und am anderen Tage fortgesetzt. Die Figuren 
wurden nun 20mal je 2“ gezeigt. VI. spornte die Vp. 
zum Eifer und zur Aufmerksamkeit an. Vp. sah scharf JA 
auf den Lesespalt des Apparates und zeichnete mit dem 
Zeigefinger der linken und rechten Hand auf der Tisch- 
platte herum. Dem V]. schien es, als ob Vp. die höchst AN J 
mögliche Aufınerksamkeit aufbiete. 

Der Erfolg war nicht viel besser als am Tage vor- 
her; nur fiel auf, daß Vp. jetzt unsicherer zeichnete als AN f 
Tags zuvor. Beim Vergleich mit den Versuchsfiguren 


bemerkte Josef, daß er die Kreise neben das Türmchen 
hätte malen müssen. N )\ Ma 
Der Versuch wurde fortgeführt und die Figuren 


wiederum 20 mal je 2” geboten; jedoch bei den letzten 

Darbietungen ließ trotz der Aufmunterung von seiten des MY U 
Vl. der Eifer der Vp. nach; so schien es wenigstens; 

Josef malte nicht mehr mit den Fingern, sah oft, so- 

bald das Figurenpaar im Lesespalt erschien, seitwärts oder 

zur Zimmerdecke. Bei der Aufzeichnung zeigte es sich Jan O 
jedoch, daß die von der Vp. gemalten Figuren mit einer pi, ironian: 
einzigen Ausnahme den Versuchsfiguren als ähnlich 

gedeutet werden konnten, und daß die Assoziation zwischen den Figuren 
der einzelnen Paare eingeleitet war. Josef wurde dann noch darüber 
befragt, ob er sich unter den Figuren auch etwas vorgestellt hätte, 
m. a W., ob er den Versuch gemacht habe, die sinnlosen Gebilde 
irgendwie sinnvoll zu machen. Die Vp. verneinte die Frage, nur ein 
»Türmchen« und »Kreis« wären dagewesen. 

Denselben Versuch hat Vl. später mit einem schulentlassenen 
Jungen von 151/, Jahren, einem Gärtnerlehrling, angestellt. Der 
Junge hatte schlechte Augen und trug eine Brille; im Zeichnen hatte 
er das Prädikat »mangelhafte. Sonst wurde er als ein fleißiger und 


zeweckter Bursche bezeichnet. 
15* 


214 A. Theissen: 


Die V.-A. war genau dieselbe wie bei unserer Vp. Hier war 
der Erfolg so, daß der Bursche bei der 3. Aufzeichnung nach 
14 Darbietungen von je 2” die Figuren so malen konnte, daß nur 


bei einer die Lage umgekehrt war, anstatt IN . J ; nach 6 


weiteren Darbietungen konnten die Figuren genau wiedergegeben 
werden und zwar als sinnlose mathematische Figuren, bei denen alle 
Verzerrungen wegfielen; Vp. hatte nämlich von den 12 Figuren 10 
als sinnvoll gedeutet; diese Deutung wirkte natürlich bei der Auf- 


zeichnung anfangs überall mit; so malte er z. B. die Figur Y 


als ein Horn: S? 


Der Gang des Erlebnisses bei der 2. Vp. war also der, daß die 
Vp. anfangs emsig strebte, sich unter den Figuren etwas vorzustellen, 
und daß sie später sich wieder von der »Deutung« losmachte und 
die Figuren als sinnlose Gebilde reproduzieren konnte. 


Dieser 2. Parallelversuch mit einer anderen Vp. hat zwar nicht 
die Voraussetzung, daß man die Resultate beider miteinander schlecht- 
hin vergleichen und bewerten darf, indem man die Leistung des einen 
als Maßstab für die des anderen als objektiv gültig ansähe, sondern 
der 2. Versuch sollte nur als Parallelversuch dienen, um bei einer 
Vp., die zwar zum Versuche nicht die günstigsten Vorbedingungen 
hinsichtlich Gestaltauffassung und Zeichnen mitbrachte, den Gang des 
Erlebnisses zu kontrollieren; was man darum sagen kann, ist dies: 


Unsere Vp. Josef kam durchweg nicht dazu, sich die Figuren 
sinnvoll zu deuten; darum sind nach 52 Darbietungen die Auf- 
zeichnungen die Erfolge des rein anschaulichen Gedächtnisses; diese 
Aufzeichnungen vervollkommnen sich von Aufzeichnung zu Auf- 
zeichnung, und man kann die Vermutung aussprechen, daß bei der 
genügend großen Zahl von Darbietungen die Vp. zu einer annähernd 
fehlerfreien Wiedergabe der Figuren kommen könne. 


Die Figur jedoch, die von Anfang an sinnvoll gedeutet wurde 
(»Kreise« neben »Türmchen«) wurde auch sofort richtig und stets in 
derselben Form wiedergegeben. 


Uns interessiert hier hauptsächlich, wie bei allen diesen Ver- 


suchen auf neue Gedächtnisleistungen hin, neben der Forschung nach 
der Wertigkeit der Leistuugen die Frage: 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 215 


»Wie läuft das Erlebnis der Vp. ab und welcher Zusammenhang 
ist zwischen Wertigkeit und Ablauf?« 
Wir kommen später darauf zurück. 


d) Der Versuch mit Karten. 


Bei einem anderen Versuch, die Merkfähigkeit zu prüfen, 
wurden der Vp. 35 farbige Karten in der Größe 8,8><13,8 cm mit 
Darbietungen aus der Bibel von Robert Leinweber vorgelegt. 

4 Karten wurden je 2“, die übrigen 5“ exponiert; eine In- 
struktion war nicht gegeben worden. Am anderen Tage, nach 
17 Stunden wurden die Karten wiederum gezeigt; jetzt wurden noch 
11 unbekannte Karten derselben Art hinzugenommen und mit den 
anderen in unregelmäßiger Abwechslung dargeboten. Bei jeder Karte 
wurde gefragt: »Hast Du die Karte gestern gesehen?« Vp. antwortete 
prompt bei den 4 Karten, die nur 2" tags vorber exponiert worden waren, 
und bei den 11 neuen Karten mit »Nein«, bei den übrigen ebenso 
prompt mit >Ja«. Vp. brauchte niemals zu überlegen, niemals sich 
die Karte genauer anzusehen; daraus erhellt, daß das Wiedererkennen 
hier bedingt war durch die Güte der ursprünglichen Wahrnehmung, 
die (sc. die Güte) abhängt von Reizdauer und Reizart (Farbe), nicht 
aber von dem Sinn der Darstellung; hing die Exaktheit des Wieder- 
erkennens hier von dem Dargestellten ab, dann hätte die Vp. 
sicherlich einmal eine Fehlreaktion machen müssen, indem sie bei 
der engen Begrenztheit des von den Karten dargestellten Stoffes die 
eine oder andere noch nicht gesehene Karte als »bereits dagewesen« 
hätte bezeichnen müssen. 


Eine Bestätigung dieser Ansicht brachten zwei Parallelversuche 
mit geistig normalen Vpnen. Beide gaben an, ein gutes Gedächtnis 
zu haben. — Die Versuchsanordnung war die nämliche wie oben, 
jedoch war die zweite Darbietung bei Vp. I schon nach 2‘, bei Vp. II 
nach 15 Stunden. 


Resultat: 


1. Beide Vp. behaupteten, auf den Sinn der Darstellung geachtet 
und daran die Karten wieder erkannt zu haben; 

2. bei beiden Vp. werden die nur 2“ exponierten Karten als 
bereits »dagewesen« erkannt. 

3. Vp. I, die 2 Minuten nach der Darbietung auf das Wieder- 
erkennen geprüft wurde, machte 3 Fehlreaktionen; 2 von den 
11 hinzugefügten Karten wurden als »dagewesen«, und eine 
von den dargebotenen als »nicht gesehen« erklärt; 


216 A. Theissen: 


Vp. II antwortete nach 15 Stunden bei den sämtlichen 11 
neuen und bei 7 früher exponierten Karten mit »nein«. 


Es wurde nun der Vp. gestattet, sich eine Karte genauer anzu- 
sehen. Sie stellt in guter farbiger Reproduktion nach Kubel eine 
Szene aus dem Märchen »Dornröschen« dar. Expxt.—=3. 


Bei der sofortigen Reproduktion werden die gestellten Fragen 
folgendermaßen beantwortet: 

Wieviel Personen sind auf der Karte? »2 Personen, alte Hexe und Königstochter.« 
Wieviel Tiere? »2, Katze und Rabe«. 

Welche Farbe hat die Bluse des Mädchens? »Rot.« 

Wie sehen die Strümpfe des Mädchens aus? »Weiß.« 

Was hat die Frau auf dem Kopfe? »Eine weiße Haube.« 

Zähle alles auf, was du auf der Karte gesehen hast! 

»Eine alte Hexe und dessen Königstochter; die Hexe hat in der Hand eine 
Spindel, um sie der Königstochter darzureichen, daß sie sich totstechen soll. Die 
Hexe sitzt in einem Stuhl, die Königstochter steht vor ihr. Sie sind in einer ge- 
wöhnlichen Stube.« 

Nach 24 Stunden und 3 Tagen werden die Fragen 1—5 in der- 
selben Weise beantwortet; bei Nr. 6 sagt Vp. in beiden Fällen: »Wie 
die alte Hexe im Stuhl sitzt und der Königstochter eine Spindel dar- 
reicht. um auf die Erde tot hinzufallen; und der Rabe und die Katze 
gucken zu!« 

Während der Arbeitszeit hatte Vp. einige Male an die Karte 
gedacht. Eine Antwort Nr. 4 ist unricktig; die Strümpfe des Mädchens 
sind nicht weiß, sondern strohgelb mit brauner Schattierung. 

Bemerkenswert ist, daß die Reproduktion in den 3 Fällen kon- 
stant bleibt. Das kommt daher, weil die Vp. 3 Minuten Zeit hatte, 
sich die Karte anzusehen; ferner spielt hier deutlich das Wissen aus 
der Jugendzeit mit. Außerdem scheint die Vp., wie sich auch später 
zeigen wird, für gewisse Farbenempfindungen gut disponiert zu sein. 
Daß die Vp. die Farbe der Strümpfe nicht richtig angeben konnte, 
rührt vielleicht daher, daß die Farbe des weißen Katers in der Nähe 
und des grauweißen Kleiderrockes dominierte. 


een 


e) Textversuche. 


Einen Beitrag zur Untersuchung der neuen Gedächtnisleistungen 
liefern ferner 2 Textversuche. Beide sentenzartige Texte waren ge- 
nommen aus: »Mich ruft es zur Arbeit«e von Jakob Weiler, er- 
schienen 1920 bei Herder. Sie wurden auf Zetteln in der Größe von 
14>< 11 cm in Maschinenschrift vorgelegt. 


Text 1: »Irgend ein Menschenleben aus Bosheit oder Fahrlässigkeit vernichtet 
oder auch nur beschädigt zu haben, gilt bei allen Völkern als eines der schwersten 


Mebrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 217 


Verbrechen. Unschuldig vergossenes Menschenblut fordert die Rache des Himmels 
heraus; Gott allein ist Herr und Gebieter über Leben und Tod!« 

Text 2: »Der Anblick des friedlichen Sternenhimmels hat für die Menschen- 
seele einen wunderbaren Zauberreiz. Er macht uns das irdische Hasten und Jagen 
vergessen; er weckt das Heimweh nach jener Welt über dem Sternenrund, senkt 
uns Vertrauen in die schuldbeladene Brust. Die Heimat der Seele ist droben im 
Licht. « 

Beide Texte wurden deshalb als geeignet befunden, weil sie in 
einem inhaltlich bekannten Schlußsatz die Gedanken des vorhergehenden 
zusammenfassen und die beherrschende Linie für die Einprägung der 
Texte werden können. 

Die Instruktion wurde gegeben, die Sätze zu lesen und sich ein- 
zuprägen, worüber nachher eine Prüfung stattfinde; Expzt. = 1'. 


Reproduktion bei Text 1. 


a) Sofort nach der Einprägung: »Ein Menschenleben eines der schwersten 
Verbrechen ist, und es gilt nur aus Bosheit oder Nachlässigkeit; es fordert noch 
Rache zum Himmel; Gott allein ist Herr über Leben und Tod!« 

b) Nach 24 Stunden: »Irgend ein Menschenleben kann nicht schrecklicher 
sein als es sein mag. Die Rache des Menschen fordert Gerechtigkeit. Gott allein 
ist Herr über Leben und Tod!« 

(Der Anfang: »Irgend ein Menschenleben« wurde der Vp. vorgesagt.) 

c) Nach 3 Tagen: »Irgend ein Menschenleben ist schöner als alle Sterne des 
Himmels. Gott allein ist nur Herr über Leben und Tod!« 

(Der Anfang: »Irgend ein Menschenleben« wurde wiederum vorgesagt.) 


Reproduktion bei Text 2. 


a) Sofort nach der Einprägung: »Daß der Anblick des wunderschönen 
Sternenhimmels einen wunderbaren Reiz hat, er macht die Mühseligkeit und den 
Zauberreiz vergessen und sendet schuldbeladen in die Brust. Die Heimat der Seele 
ist droben im Licht.« 

Die Vp. beginnt deshalb mit »Daß«, weil die Instruktion lautete: »Nun sag 
mir mal, was Du noch weißt.« 

b) Nach 24 Stunden: »Der Anblick des friedlichen Sternenhimmels ist eine 
wunderschöne Beleuchtung. Da vergißt man auf alles Verzagen und Ver- 
zweifeln — — —. Die Heimat der Seele ist droben im Licht.« 

Vorgesagt wurde: »Der Anblick des friedlichen Sternenhimmels« ... und 
»Die Heimat der Seele .. .« 

c) Nach 3 Tagen: »Der Anblick des Sternenhimmels ist für die Natur ein 
wunderschöner Abend. Die Heimat der Seele ist droben im Licht.« 

Der Anfang: »Der Anblick des Sternenhimmels« wurde wieder vorgesagt. 


Bei der Prüfung des Experimentergebnisses findet man, daß 
Josef anfangs Bruchstücke der Texte in sinnloser Kombination wieder- 
gibt und daß er nach 24 Stunden und nach 3 Tagen fremde Elemente 
in eine wenigstens formell richtige Kombination aufnimmt, während 
er die beiden sentenzartigen Schlußsätze ziemlich getreu und ohne 
Hilfe (mit einer Ausnahme) reproduziert. Die beiden Schlußsätze 


218 A. Theissen: 


waren der Vp. sicher aus der Jugend her bekannt; der erstere durch 
den Religionsunterricht und der zweite durch das Lied, das früber 
in dem Lehrplan für Gesang an den Volksschulen aufgenommen war: 
»Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh’?«e Der Schlußsatz des 
Liedes lautet nämlich genau so wie die unseres Textsatzes. 

Im Verlauf der weiteren Untersuchung werden wir ebenfalls 
noch auf gut erhaltene Reste des Wissens aus der Jugend der Vp. 
stoßen. 

Die Frage, ob Vp. bei diesen Text-Experimenten eine Gedächtnis- 
leistung aufgebracht habe, ist also dahin zu beantworten, daß Vp.: 

l. bei einer Lernzeit von nur 1‘ einen Text in vorliegender Aus- 

dehnung und inhaltlicher Schwierigkeit unmittelbar nach der 

Einprägung nur ın Bruchstücken wiedergeben kann, 

. daß Vp. sich nicht scheut, diese Bruchstücke manchmal in einen 

widersinnigen Zusammenhang zu bringen und 

3. daß Vp. die beiden Schlußsätze deshalb reproduzieren kann, weil 
sie, so darf mau annehmen, bereits in der Jugend eingeprägt 
wurden. 

Daneben wollen wir die Tatsache betonen, daß Vp. unzusammen- 
hängende Bruchstücke reproduziert, die im Laufe von 3 Tagen mehr 
und mehr verschwinden und durchweg fremden Elementen Platz 
machen; wenn wir bei der Reproduktion nach drei Tagen den vor- 
gesagten Anfang abstreichen, bleibt bei beiden Texten nichts mehr 
von dem ursprünglichen Reproduzierten übrig als die Schlußsätze. 

Zur Kontrolle wurden später zwei weitere Versuche mit Texten 
gemacht; die Lernzeit war in das Belieben der Vp. gestellt. 

Das Ergebnis bestätigt obigen Befund. 


ID 


f} Versuch mit sinnlosen Silben und mit dreistelligen 
Zahlen. 

Da angenommen werden konnte, daß Experimente mit sinnlosen 
Silben infolge des fremdartigen Lernmaterials bei der Vp. nicht das 
notwendige Interesse finden würden, hatte Vl. dem Zögling zur Er- 
zielung einer guten Einstellung und des Eifers gesagt, er solle sich 
denken, er müsse jetzt eine fremde Sprache lernen; es wäre für ihn 
sehr wichtig, wenn er sich sehr eifrig zeige. — Die Vorübungen mit 
sinnlosen Silben wurden jedesmal abgebrochen, wenn die Zahl der 
Wiederholungen auf 60 gestiegen war. 


Versuchsanordnung. 


Die Streifen mit sinnlosen Silben und dreistelligen Zahlen wurden bei der 
opt. Darbietung vor der Vp. auf den Tisch gelegt. Ein grau-weißes ziemlich steifes 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 214 


Papier mit einem Lesespalt von 3 >< 1,5 cm konnte zwischen zwei auf dem Tisch 
befestigten Pappstreifen in Art einer Rollade über den Streifen mit dem Reizmaterial 
auf und ab bewegt werden, so daß eine Zahl sichtbar wurde, alle übrigen aber be. 
deckt blieben. Diese V.-A. hatte nun keinen methodischen Hintergedanken, obschon 
es nicht ausgeschlossen ist, daß dadurch die Erlernung beeinflußt wird; hier war 
allein der Umstand maßgebend, daß beim Fehlen eines Lipmannschen Apparates 
die V.-A. so am bequemsten war. Außerdem wechselten optische und akustische 
Darbietung. ferner Silben- und Zahlenreihen miteinander ab. Zwei Reihen (Silben 
und Zahlen) hatten je 12, und zwei Reihen (Silben und Zahlen) je 6 Glieder. Die 
Expositionszeit für jedes Glied war so ungefähr 1 Sekunde; die V.-A. ließ ja eine 
haarscharfe Präzision der Darbietungszeit nicht zu. — Das Verhalten der Vp. war 
das oben geschilderte, lautes Lernen wurde nicht gestattet. 

Sofort nach der ersten Darbietung erkundigte sich der Vl. nach dem Ergebnis 
der Einprägung. Dann wurde die Darbietung so lange fortgesetzt, bis die Vp. durch 
ein Zeichen ihren Wunsch, zu reproduzieren, kundtat, die Zahl der Wiederholungen 
und der Hilfen wurden notiert; daraufhin wurde die Reihe so oft wiederholt, bis 
Vp. eine fehlerfreie Wiedergabe erzielte. Dann setzte auch bei jeder Reihe die 
Prüfung nach den Treffern ein. 

Die beigefügten Tabellen geben eine Übersicht über das Resultat der Versuche. 


Die Reihen mit sinnlosen Silben. 








Zahl der | | 
j behaltenen Zahl der 
Anzah) ri Glieder Zahl Zahl Wieder- Zahl Gesamt- 
der | der [nach der |__Cer der | holungen der zahl der 
Silben | PAT- | ersten Wieder- | Hilfen | bis zur Treffer | Wieder- 
bietung Dar . holungen fehlerfreien holungen 
Wiedergabe 





| Behaltene 










| | 
Glieder | A Summe 
. i Nochmalige |! 
lieder| Dar- nach der | Wieder- Hilten | Wieder- | Treffer | der 
bietung | ersten jholungen ; Wieder- 
holungen 
2 holungen 





bietung 
| 





1.| 12 ak 4 19 | 3 8 

2.1 12 ' opt. 6 18:3 3 6 = 100 „ 21 
3.1 6 ak. 5 2 10 0 3— 10 „ 12 
4.1 6 | opt. 5 | 7 | 0 0 2 — 66,6 „ 7 


220 A. Theissen: 


Einige Momente verdienen nach einem Überblick über die beiden 
Tabellen hervorgehoben zu werden: 


a) Die Zahl der noch behaltenen Glieder naclı der Darbietung ist 
beträchtlich. Es wurden stets die ersten Reizglieder genannt, 
nie die letzten. Die Reihenfolge der reproduzierten Glieder 
entsprach nach dem 1. Glied nicht der Reihenfolge der Dar- 
bietung. 

b) Der Übungsfaktor tritt stark in die Erscheinung, bei den sinn- 
losen Silben noch mehr wie bei den Zahlen. 


c) Es überrascht die meist geringe Anzahl der Treffer trotz der 
voraufgegangenen fehlerfreien Reproduktion. Es fiel auf, daß 
die größte Schwierigkeit für die Vp. in der Erfassung der 
gegebenen Reihenfolge lag. Darauf kann nicht bloß die hohe 
Zahl der Wiederholungen, sondern auch zum Teil der hohe 
Prozentsatz der Fehlreaktionen bei den Treffern zurückzuführen 
sein. Ferner »klangen« die sinnlosen Silben im Munde der Vp. 
zu einem Teil anders als in der Aussprache des Vl.; z. B. sagte 
Vp. anstatt reup: röp, aostatt göl: göll; da nun der VI. bei 
der Reproduktion die Art der Aussprache nicht immer behalten 
konnte, mußte beim Trefferverfahren die Vp. manchmal den 
Eindruck haben, es handele sich um neue Silben. Das zeigte 
auch ein gewisses Lächeln der Vp. und ihre Auskunft, »es 
komme ihr die ganze Sache so erbärmlich fremd vor«. 

d) Die optische Darbietung erzielte die besseren Resultate. 

e) Wenn auch die Zahl der Wiederholungen bei den sinnlosen 
Silben bedeutend höher ist als bei den Zahlen, so darf man 
doch auf Grund des großen Übungsfaktors sagen, daß die Silben 
bei fortgesetzter Untersuchung wohl ebenso gut und schnell 
eingeprägt werden können wie die dreistelligen Zahlen. 


g) Die Prüfung des unmittelbaren Behaltens von 
vorgesprochenen Zahlen und Buchstaben 
ergab, daß Reihen von 5—10 Gliedern reproduziert werden konnten. 


Bei den Buchstaben kam in der Reihe mit 10 und bei Zahlen 
in der Reihe mit 11 Gliedern die erste Fehlreaktion vor. 


h) Zusammenfassung. 


Überschauen wir nun die Ergebnisse der Experimente, die nach 
neuen Gedächtniesleistungen auf die Suche gingen, so kann man 
sagen: 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 22] 


Die Vp. ist imstande, neue Gedächtnisleistungen zu 
vollbringen. Ä 
Wir können folgendermaßen rubrizieren: 


a) Das unmittelbare Behalten: 

Zahlen und Buchstaben in zusammenhängender Reihe bis zu 
10 Gliedern, 40°), der sinnlosen Silben und 55°/, der dreistelligen 
Zahlen nach der ersten Darbietung können reproduziert werden. Diese 
Leistung ist sehr gut. 

Die Einprägung längerer Reihen, besonders der sinnlosen Silben 
und der dreistelligen Zahlen erfordert eine beträchtliche Summe von 
Wiederholungen, die durch Übung und Eifer verringert werden 
können. Zahlen werden vor Buchstaben von der Vp. im Behalten 
kaum begünstigt. 


b) Das dauernde Behalten: 


Lernmaterial, das Anklänge bringt an Assoziationsreihen, die in 
der Jugend eingeprägt wurden (cf. Schlußsätze der Texte, Dorn- 
röschenkarte), ferner farbige Darstellungen (cf. Karten) und vor allem 
Geburtsdaten von Personen, die dem Zögling nahestehen, sind fest 
und dauernd dem Gedächtnis eingeprägt. 

Das unmittelbare und dauernde Behalten ist abhängig: 

l. von dem Interesse, mit dem die Vp. an den Lernstoff heran- 
geht, 

2. von der Reizdauer (ct. Karten) und 

3. von der Komplexart des Lernmaterials. Nur kleine Komplexe 
werden im Behalten gesichert. 


c) Ist die Einprägung des Lernmaterials aber 
gebunden an die Erfassung eines Gesichtspunktes, eines Systems, also 
an die Einsicht in die logische und räumliche Beziehung der Kom- 
plexe zueinander, dann ist die Leistung überraschend schlecht, unter- 
normal. (cf. Textversuche: Erkennung von Figuren, Karreeversuche.) 
Dieser Mangel gibt uns einen wertvollen Fingerzeig für die 
weitere Untersuchung. 


3. Abschnitt. 
Intelligenzprüfung. 
1. Prüfung nach der B.-S.-Methode. 


Mag man auch noch so kritisch der von W. Stern und seinen 
Schülern vertretenen B.-S.-Methode zur Intelligenzprüfung gegenüber- 
stehen, mag man auch nicht ohne Grund mit Stern streiten über 


222 A. Theissen: 


seine Definition der Intelligenz, sicher ist, daß die B.-S.-Methode als 
Einleitung der Intelligenzprüfung wertvolle Dienste leistet; denn die 
Tests treffen psychische Funktionen, die sicher irgendwie mit der 
Intelligenz zusammenhängen. Die B.-S.-Methode ist zu vergleichen 
mit einer Einschießübung auf weitem Gelände, bei dem man schließ- 
lich doch ahnen kann, wo der »Has hüpft«. Die Intelligenzprüfung 
an unserer Vp. wurde vorgenommen nach der Anleitung von Bober- 
tag und mit Hilfe der vom Institut für angewandte Psychologie in 
Berlin herausgegebenen Materialien. 

Das Ergebnis dieser Prüfung wird erläutert durch folgende 
Übersicht: 


A. S. 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 
a) . E a e e a a a a 

b) . = mE e o oe o e e 
c) . ee ee a e 
d) . TOO O ee e e E e 
e) . Too o e e o a 


Rein äußerlich betrachtet zeigt unsere Tabelle genau dasselbe Bild, 
wje es von Psychologen wie Block-Lippa u. a. für Schwachsinnige 
gezeichnet wird: (iroße »Staffelstreuung« und das I. A. 9—10 Jahre; 
I. A. nämlich = 3 + (32:5 —) 6?/, =9?/,. Jedoch muß man hier berück- 
sichtigen, daß bei einem weiteren Ausbau der Teststufen auch die 
+-Leistungen sich vermehren und das I. A. sich bedeutend erhöhen 
würde. Es ist deshalb nicht angängig, den Intelligenzprüfungen bei 
Schwachsinnigen nur die B.-S.-Methode zugrunde zu legen, wenn man 
feststellen will, ob bei den Prüfungen ein Fortschritt oder Stillstand 
in den Leistungen im Laufe der Zeit zu verzeichnen ist. 

Da wir nun im Verfolg unserer Aufgabe von dem Streben ge- 
leitet werden, nicht bloß an Hand der Tabelle den Intelligenzquotienten 
für die Vp. zu bestimmen, müssen wir jetzt fast jede Testlösung 
untersuchen, sowohl die »+«- wie die »—«-Leistungen; wir wollen 
ja wo möglich das Funktionieren der Intelligenz, nicht das »Ob« sondern 
das »Wie«, zuletzt die physiologisch -biologischen Voraussetzungen 
dieses »Wie« zu erfassen uns bemühen. Darum geht es uns nicht 
bloß darum, in dem Befunde einer Intelligenzprüfung einen Quer- 
schnitt durch die intellektuelle Entwicklung der Vp. aufzuzeigen oder 
uns mit der Errechnung eines Intelligenzquotienten zu begnügen, 
sondern herauszufinden, warum die Vp. hier versagt und dort eine 
Lösung zustande bringt, warum die Vp. auf einen Test zum Teil positiv 
und zum Teil negativ reagiert. Mit andern Worten wir wollen uns fragen: 

»Was steckt hinter der Lösung oder Nichtlösung einer Aufgabe ?« 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 223 


Wir kommen demnach dazu, die wichtigsten Testlösungen genauer 
zu prüfen. 


a) Die nicht gelösten Tests: 


Test 4d: Vor der Vp. stehen die beiden gleich aussehenden Kästchen mit ver- 
schiedenem Gewicht. Das schwerste soll gegeben werden. Vp. hebt die Kästchen 
einige Male auf, gibt dann das Kästchen, das dem VI. zunächst steht, herüber (das 
leichtere) mit den Worten: »Sind beide leicht, keins ist schwer.« Als beim zweiten- 
mal das schwerere Kästchen dem Vl. zunächst stand, wurde dies herüber gegeben 
mit denselben Worten wie oben. 

Der Gewichtsunterschied von 10 g wird wohl deshalb von der 
Vp. übersehen, weil sie die Aufgabe: das schwerere der beiden 
Kästchen herüberzugeben, nicht erfaßt hat, sondern unter dem Ein- 
fluß einer Einstellung steht: »Ich muß etwas Schweres herüber- 
geben.«e Vp. vergleicht also nicht die beiden Gewichte miteinander, 
sondern beide mit anderen, ihr bekannten, beträchtlichen Gewichts- 
größen, wie Korb mit Kartoffeln, Gartengeräte u. dgl. Es ist als 
sicher anzunehmen, daß der Gewichtsunterschied von 10 g erlebt 
wird; aber diese Wahrnehmung wirkt sich unter der faischen Auf- 
gabeeinstellung nicht aus: »Sind beide leicht, keins ist schwer.« 

Anders liegt der Fall bei 

Test 9d: Die Kästchen sullen der Schwere nach gestellt werden. Die Auf- 
gabe war der Vp. hinreichend klar gemacht worden. Vp. ordnete die Gewichte nun 
in der festgesetzten Zeit folgendermaßen (l = schwerste Gewicht usw.): 

a) 3, 1, 2, 5, 4. b) 3, 2, 1,5, 4. c) 2, 1, 3, 4, 5. 

Wir sehen bier ein feineres Unterscheidungsvermögen für die Ge- 
wichte, das beim 3. Versuch ungefähr eine richtige Lösung herbeiführt. 

Vp. hob zunächst ziemlich hastig mit der rechten Hand alle 
Kästchen auf, griff dann nochmals nach dem einen oder anderen 
Kästchen und stellte dann die Antipoden der Reihe auf: das (nach 
ihrer Ansicht) schwerste und das leichteste; dazwischen wurden nun 
die anderen Kästchen eingeordnet. 

Beim Aussuchen des schwersten und leichtesten Kästchens war 
das letzte Aufheben maßgebend; so kam es, daß Vp. sowohl beim 1. 
wie beim 2. Versuch zwei Kästchen an die Enden der Reihen setzte, 
die nur um 5 g voneinander verschieden sind. Erst beim 3. Versuch 
ist durch das öftere Aufbeben und durch die infolge der V.-A. be- 
dingte größere Aufmerksamkeitsentfaltung die Gewichtsunterschieds- 
empfindung stärker. 

Test 6a und 7d: Zwei Dreiecke sollen zu einem Rechteck zusammengelegt 
werden. — Ein Rhombus soll nachgezeichnet werden. 


Vp. brachte die beiden Dreiecke, eins mit der linken, das andere mit der 
rechten Hand, auf der Tischplatte in verschiedene Stellung zueinander, bis Vp. 


224 A. Theissen: 


nach 20‘ sich mit einer Zusammenleguug zufrieden gab, wobei die Diagonalen 
der entstandenen Figur aufeinander senkrecht stehen. Vp. erklärte auf Befragen, 
daß diene Figur genau so wäre, wie das vor ihr liegende Rechteck. Jedoch ließ 
die genaue Beobachtung der Vp. vermuten, daß die Vp. selbst nıcht recht an die 
Wahrheit ihrer Worte glaubte, sondern damit etwa sagen wollte: »Unter den vor- 
liegenden Umständen ist eine bessere Figur nicht herauszufinden«; denn Vp. be- 
trachtete noch, nachdem sie auf die Frage: »Jetzt ist die Figur genau so wie hier 
(Rechteck)?« mit »Ja« geantwortet hatte, die beiden Figuren und versuchte noch- 
mals, allerdings ohne Erfolg, eine Korrektur herbeizuführen. Sie kam aber nicht 
auf den Gedanken, eins der beiden Dreiecke aufzuheben und durch Drehung um 
180° auf der Hypothenuse oder einer Katbete zu dem anderen Dreieck in die 
rıchtige Beziehung zu bringen. 

Beim Nachmalen eines Rhombus zeigte es sich, daß der Vp , vulgär gesprocher. 
die richtige Schätzung fehlt, indem wohl bei der neuen Figur unverkennbar gewisse 
Ähnlichkeiten, z. B. die Lage, auch die obere Spitze, mit dem ursprünglichen Rhombus 
zustande kamen, aber das Verhältnis der Seiten und Winkel zueinander verkannt 
wird. Das Nichtlösen des Tests kann auch auf zeichnerisches Unvermögen zurück- 
zuführen sein; Vp. beginnt mit dem Aufzeichnen an einer Ecke, geht dann resolut 
kontinuierlich weiter. bis sie mit einer gewissen Verblüffung bemerkt, daß die 
4. Seite zum Ausgangspunkt nicht gradlinig zurückkehrt, die 4. Seite wird darum 
krumm gezeichnet. Beim Abzeichnen eines (Quadrates (Test 5d) war wenigstens die 
Größe der Winkel erfaßt worden; auch hatte die Vp. den Karton gezeichnet und 
die Lage des Quadrates auf ihm richtig angegeben; fehlerbaft jedoch war das Ver- 
hältnis zueinander aufgefaßt worden: das [_)—= 2,7/3,6 cm. wobei eigentümlicher- 
weise die Verzeichnung in die Breite und nicht in die Höhe ging. Trotzdem ist 
diese Testlöstung mit Rücksicht auf die Winkel und Lageentfaltung von uns als 
»—+-«-Leistung gebucht worden. 


Test Sc, 1la. Schon bei dem Test 8c (Vergleich aus der Er- 
innerung) reagierte Vp. negativ und zwar mit der Geste eines ge- 
wissen beleidigten Stolzes: »Schmetterling ist eben Schmetterling und 
Fliege ist Fliege« usw., mit andern Worten: Wie kann man nur so 


fragen? Vp. hatte die Aufgabe, zu vergleichen und Unterschiede 
herauszusuchen, nicht erfaßt. 


Auch bei Test 11a: Abstrakte Begriffe sollen erklärt werden, ver- 
sagte Vp. Die Fragen wurden gestellt nach Bobertags Anweisung; 
wohl ‘wurde die Instruktion noch etwas erweitert, indem Vl. von der 
Erklärung der Dinge überhaupt ausging, z. B. wie man es machen 


muß, um einem Unwissenden eine Maschine oder eine Straßenbahn 
zu erklären. 


1. Frage: Was ist Mitleid? Vp: »Z. B. wenn mir etwas Trauriges 
passiert ist oder wenn ich traurige Nachrichten erhalten habe!« — Beispiel: »Wenu 


ein Freund gestorben ist, und er bekommt die Nachricht, das tut ihm leid, also hat 
er Mitleid.« 


2. Frage: Neid? >Z. B. weun jemand es gut geht, und dem anderen geht 
es furchtbar schlecht, da ist der eine neidisch, dem es gut geht; und dem es schlecht 
geht, der freut sich noch darüber, daß es nicht so bei ihm ist.« 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 225 


Frage des Vl.: »Denk Dir Josef, da liegt einer krank im Bett, der andere ist 
ein gesunder Kerl, — wer ist nun neidisch?« — »Der im Bett liegt.< — 

3. Frage: Gerechtigkeit? »Z. B. wenn man gute Werke ausübt, z. B. 
wenn man in die Kirche geht, wenn man arbeiten tut, wenn man mäßig ist in 
Speise und Trank.« 

Vl.: »Denk Dir Josef, da ist ein Junge im Garten am Äpfelstehlen; ein anderer 
Junge paßt an der Hecke auf, ob jemand kommt; da kommt plötzlich ein Bruder 
(Vorgesetzter); den Jungen, der gestohlen hat, läßt er laufen und straft ihn nicht, 
den anderen an der Hecke aber bestraft er: war das gerecht?« — »Nein, das war 
richt gerecht, er mußte den durchhauen, der gestohlen batte; der andere hat aller- 
dings auch Strafe verdient; denn der durfte nicht an der Hecke stehen und auf- 


passen.« 
Kritik. 

Bei Frage 1: »Wasist Mitleid?« ist der Komplex jener funda- 
mentalen Sachverhalte, deren Wissen den Begriff ausmacht, für die 
Vp. augenscheinlich zu groß gewesen. Nur der Teilkomplex: »leid« 
wird erlebt, und von ihm geht die Reproduktionstendenz aus, die die- 
Vorstellungen: »Tod eines Freundes — Trauer« auslöst. Der übrige 
Teilkomplex, das » Mitleiden«, kommt nicht zur Geltung. Man kann 
nicht annehmen, bei der Vp. sei der Begriff: Mitleid nur gleich dem. 
Wissen des einen Sachverhaltes »der Freund ist tot, der arme Kerl'!« 
m. a. W. sie habe den Begriff nur auf das Unglück des toten 
Freundes anwenden wollen, das hieße dem Ergebnis der Leistung, 
wie es sich in dem V.-Protokoll darstellt, einen Zwang antun. Vp. 
erklärt lediglich durch Erleben des Leidkomplexes den Begriff: 
»Trauere ein Weitergehen zu dem naheliegenden Komplex: » Die 
Angehörigen sind schwer betroffen, der Freund war ihre 
einzige Stütze, sie verdienen Mitleid«, kommt nicht zustande. 
Man muß zwar annehmen, daß dieser Sachverhalt der Vp. durch den 
Schulunterricht (cf. Bibel: Der Jüngling zu Nain!) geboten worden 
ist, aber die Komplexeinheit der zu dem Begriff »Mitleid« notwendigen 
Sachverbalte wird nicht erlebt. 

Bei Frage 2: »Was ist Neid?« können wir das Versuchs- 
ergebnis genau so deuten. Die Teilkomplexe: »Dem einen geht’s gut, 
dem anderen schlechte, vermitteln, da sie nicht als Komplexeinheit 
zusammengefaßt werden, auch nicht die Einsicht in den gesamten 
Sachverhaltskomplex und somit nicht den Begriff. Dagegen ist bei 
dem sich anschließenden Beispiel die Begriffsanwendung richtig. 
Ebenso wird bei der 

Frage 3: »Was ist Gerechtigkeit?« die Einsicht in den Sach- 
verbaltskomplex, den das Beispiel vom Äpfelstehlen bot, besonders 
dadurch ermöglicht, daß dieser Komplex durch die Anstaltserziehung, 


226 A. Theissen: 


als Einheit erlebt wird. Diese Einsicht bedingt bei der Vp. aber nur 
hic et nunc die richtige Anwendung des Begriffs »Gerechtigkeil« 
würde man andere Sachverhalte der Vp. bieten, die inhaltlich denen. 
in Beispiel bei 3 ähnlich sind, die aber unsere Vp. als einheitlichen 
Komplex noch nicht erfaßt und erlebt hat, so wäre nach Beispiel ? 
es sehr wahrscheinlich, daß Vp. eine richtige Anwendung des Begriffs 
nicht geben könnte. 
Es ergibt sich also: 

1. die Begriffsbildung ist bei der Vp. unentwickelt, infolge der 
Schwäche, nur kleine Sachverhaltskomplexe zu erfassen, _ 

2. die Einsicht in einen größeren Sachverhaltskomplex und somit 
die Begriffsanwendung scheint bedingt zu sein durch die 
»Erlebnisnähee, d. h. durch die Entfaltung des Sachverhalts- 
komplexes, so daß durch die Stärke und die Wiederholung des 
Erlebnisses die Teilkomplexe ihr bestimmtes Zeitmoment erhalten, 
das die Reproduktion ermöglicht. 


Test 11c (Absurditäten kritisieren). 

1. Frage: »Ich habe drei Brüder, Paul, Ernst und ich; kann man so sagen’« 
Vp.: »Ja, so kann man sagen.« 

Vl. erklärt nun, daß und warum man so nicht sagen könne und ermahnt die 
Vp. scharf auf die folgenden Fragen aufzupassen. 

2. Frage: »Neulich fand man in einem Walde eine Leiche, die in 18 Stücke 
geteilt war; manche Leute giauben, daß ein Selbstmord vorliegt, ist das wohl mög- 
lich?« — VI. hatte diese Frage scharf akzentuiert vorgetragen. — Vp.: »Nein, 
der hat sich nicht selbst ermordet, es waren andere dabei, die ihn ermordet haben.« 
— »Warum meinst Du das denn?« — »Wenn man sich selbst tötet, kann man sich 
nicht in 18 Stücke teilen.« 

3. Frage: »Gestern verunglückte ein Radfahrer auf der Straße, so daß er 
sofort tot war; man brachte ihn in ein Krankenhaus, wo man hofft ihn bald wieder 
entlassen zu können, ist das möglich?« Vp.: »Ja, man kann hoffen, daß er ent- 
lassen werden kann.« — VI. wiederholte die Frage, es kam dieselbe Antwort. 

Vl. las nun die 4. Frage wiederum sehr deutlich vor mit Heraushebung der 
wichtigsten Stellen. 

4. Frage: »Vorhin las ich in einer Zeitung von einem Eisenbahnunglück; es 
war aber kein schweres; es waren bloß 48 Tote: war das richtig gesagt?« 
Vp.: »Das ist nicht richtig gesagt, 48 Tote ist schon ein schweres Unglück.« 


Es ist auffallend, wie die Vp. es fertig bringt, einmal das Ab- 
surde einer Behauptung richtig zu erkennen, ein anderes Mal aber 
zu übersehen. Woher kommt das? Da wir die Vp. über ihre 
seelischen Vorgänge selbst nicht befragen können, müssen wir ver- 
suchen, diese eigenartigen Resultate zu deuten. Fest steht zunächst, 
daß Vp. eine Absurdität aufdecken und richtigstellen kann unter 
brauchbarer Begründung. Warum versagt Vp. nun bei einer anderen 
Frage? Entweder war die Aufmerksamkeit zu schwach oder die Vor- 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 227 


stellungsentfaltung zu gering, oder aber es hat sich ein anderes Er- 
lebnis eingeschaltet, welches die Lösung auf Abwege drängte In 
keinem Falle ist anzunehmen, daß es an Eifer ganz und gar gemangelt 
hat. Unter Eifer verstehen wir am besten den »guten Willene. Daran 
fehlte es der Vp. nicht; sowohl bei der ersten wie bei der 3. Frage 
nicht; denn bei der ersten Frage wurde, da der Test begann, ja die 
Aufmerksamkeit der Vp. herausgefordert, bei der 3. Frage hatte VI. 
die Frage wiederholt. Es soll nicht gesagt werden, daß die Aufmerk- 
keit bei der Vp. überhaupt nicht einer Variation fähig wäre, und es 
scheint, als wenn bei der 2. Frage ein größerer Eifer die richtige 
Lösung befördert hätte. 


Der Grund der falschen Lösung bei Frage 1 scheint darin zu 
liegen, daß Vp. die Vorstellung »Brüder«e und >»ich« nicht klar ent- 
faltet hatte. 

Bei der Frage 3 könnte man annehmen, daß die 2. Hälfte des 
Testsatzes: wo man hofft, ihn bald wieder entlassen zu können, als 
ein Teilkomplex die ganze Aufmerksamkeit der Vp. deshalb in An- 
spruch nimmt, weil er einen bestimmten Erlebnisfaktor hatte und da- 
durch seine Beziehung zum Gesamtkomplex gelockert wurde Man 
kann sich vorstellen, daß Vp. daran dachte, wie sein Vater als Soldat 
während des Weltkrieges im Lazarett lag und dann wieder entlassen 
wurde; Vp. mag auch an ihre eigene Entlassung aus der Anstalt ge- 
dacht haben. 


Diese Ausdeutung trägt anscheinend das Gepräge der Willkür- 
lichkeit und des Ratens; aber wenn — was durch die ganze Unter- 
suchung zutage tritt — das geistige Leben der Vp. sich nur in kleinen 
Vorstellungskomplexen abspielt, dann haben wir das Recht zu einer 
psychologisch sich richtig einfühlenden Konstruktion, wenn die V.-A. 
nur irgendwie dazu Anlaß gibt. Die Zähigkeit, mit der Vp. bei ihrer 
Antwort bleibt, läßt vermuten, daß irgend ein Erlebnismoment in den 
Vorstellungslauf eingetreten ist. Dasselbe könnte man auch annehmen 
bei den richtigen Lösungen, so daß man sowohl bei Frage 2 wie bei 
Frage 4 die »-+«-Leistung zum Teil sich eindrängenden Nebenvor- 
stellungen zugute rechnen könnte. | 


12f 1. Test: Worte ordnen: 

sein verteidigt Herrn mutig Hund guten seinen.«e Vp.: »Ein guter Mensch«; 
VI. greift ein: »Steht doch nicht da, Josef, nur die Worte in einen vernünftigen 
Satz bringen, die da stehen, gut aufpassen!« 

Vp.: »Ein Soldat verteidigt seinen Herrn mutig — seinen Hund.« 

Vl. stellt nun den Satz richtig und erläutert die Instruktion noch einmal. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 16 


298 A. Theissen: 


i u 


2. Test: »Wir Ferien auf gereist das sind in Land den.« Vp.: »Wir sind in 
den Ferien gereist auf das Land zu den Verwandten.e — Nochmals genaue Er- 
klärung. 

3. Test: »ich habe Lehrer meine verbessern gebeten zu Arbeit meinen.« 

Vp.: »Jch habe meinen Lehrer gebeten, zu verbessern meine Arbeıt.« 

(Dauer des ganzen Experimentes 3,10.) 

Bei dieser Testlösung sehen wir in etwa bestätigt, was wir soeben 
vermuteten. Das Wort »guter« bringt die Reproduktion der Vor- 
stellung: »Mensch« und das Wort »verteidigte: »Soldat«. Die 
»Ferienreise« bringt die »Verwandten« herzu. Es scheint demach, als 
wenn Vp. auf ein Reizwort gut reagieren könnte und zwar so sehr, 
und in so eng begrenztem Komplex, daß die log. Beziehung der Test- 
glieder zueinander nur mit größter Mühe und straffer Hinlenkung auf 
die Aufgabe zustande kommt, und zwar in der halbwegs richtigen, 
vom Test verlangten Form nur bei Nr. 3, und deshalb wohl, weil hier 
die Vp. als Lehrerssohn durch die auftauchenden Erinnerungen zur 
richtigen Lösung gedrängt wurde. 


Test 1le cf. 9e Bilderklärung. 


1. Biid: »2 Spitzbuben werden das sein; die haben eine Scheibe eingeschlagen; 
da kommt ein Schuster und packt den einen Spitzbuben, der die Tafel hat, an den 
Haaren und zeigt darauf hin, daß er die Scheibe eingeschlagen hat; der andere Spitz- 
bube steht am Brett und hat drei Steine vor sich stehen und lacht den Schuster 
aus und macht ihm eine lange Nase.« 


2. Bild: »Da ist ein junger Maon und davor steht ein kleiner Sohn und ist 
auf den Steinboden gefallen; es wird ihm etwas passiert sein; er ist jedenfalis 
schwindelig geworden und liegt bewußtlos am Boder. Zum Fenster schauen zwei 
junge Mädchen heraus; und der junge Mann schaut die jungen Mädchen an. — 
»Kannst Du mir sagen, warum der Junge wohl gefallen ıst? Sieh das Bild genau an'« 

Vp.: »Näh, das kann ich nicht sagen.« 

3. Bild: »Da steht eine Familie, dessen Mann hat die Augen mit einem 
Taschentuch zugebunden und zieht das Tischtuch herunter, und die Kaffeetassen 
und die Kaffeekrüge fallen zum Boden hinab. Und dessen älteste Tochter. — 
(Vl. »Zeig mal!«) »Ja näh, die jüngste-Tochter, geht hinter den Tisch her. — Das 
ist alles!« 

Vl.: »Kannst Du mir sagen, warum der Mann die Augen zugebunden hat” 

Vp.: Näh, das kann ich nicht sagen.«e — »Warum denn nicht?«e — »Weil 
es mir nicht auffällt. 


Kritik. 

Vp. findet nicht die von der B.-S.-Methode geforderte »spontane« 
Bilderklärung. mit andern Worten die wesentlichen, ursächlichen 
Beziehungen der Dinge und Personen auf dem Bilde zueinander, wo- 
durch die Eigenartigkeit der dargestellten Situation erklärt wird. Vp. 
bemerkt richtig: »Weil es mir nicht auffällt.« Es kommt ihr nur 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 229 


die Einsicht in jene durch die Bildbetrachtung hervorgerufenen Vor- 
stellungskomplexe, die klein sind. 

Die Vorstellungsreihe bei Bild 1 ist folgende: 

Eingeschlagene Fensterscheibe — Spitzbube — Mann mit gelber 
Schürze (Schuster) wehrt sich — ein Spitzbube verkriecht sich, hält 
Steine zurecht und verspottet den Mann. 

In dieser Reihe treten die Vorstellungen: Fensterscheibe entzwei 
— die Jungen sind Spitzbuben — als ein kleiner Komplex auf, an 
den die anderen Vorstellungen angereiht werden, indem sie von 
übigem Vorstellungskomplex aus ergänzend reproduziert werden. Der 
andere Komplex: Da liegt Schnee — ein Junge hat seinen Mitschüler 
geworfen — das Ziel wurde verfehlt — die Fensterscheibe zer- 
sprang usw. tritt deshalb nicht auf, weil die Vp. nicht wahrnimmt, 
daß auf dem Bilde Schneemassen dargestellt werden und weil gegen- 
über dem sofort bei der Bildbetrachtung sich einstellenden Komplex: 
Fensterscheibe — Spitzbube die Vorstellungen: Harmlose Schul- 
knaben — sie haben gespielt — Fensterscheibe wird durch unglück- 
lichen Zufall zerstört — der Unschuldige wird gefaßt — nicht zur Ent- 
faltung kommen. 

Bei der Erklärung des 2. und 3. Bildes begnügt sich Vp. mit 
einer Aufzählung; eine Deutung wird nicht gegeben; ein kleiner 
Komplex läßt sich finden bei der Erklärung über das Hinfallen des 
Knaben (Bild 2). Aber dieser Komplex ist so lose, daß nach wenigen 
Sekunden die Vp. nicht mehr angeben zu können vorgibt, warum 
der Junge gefallen ist. 

Der Grund demnach, weshalb Vp. die geforderte Bilderklärung . 
nicht findet, liegt darin, daß Vp. den jeweiligen Sachverhalt nicht 
durchschaut; sie durchschaut die Sachverhalte nicht, weil die Be- 
ziehungserfassung nur in kleinen Vorstellungskomplexen vollzogen 
wird, und sie erfaßt endlich in kleinen Komplexen den richtigen 
Sachverhalt nicht, wenn die Vorstellungen nicht entfaltet sind. 


b) Gelöste Tests. 


Es kann zur Klärung unseres Problems auch der eine oder andere 
Beitrag aus den richtigen Lösungen, den »-+«-Leistungen heraus- 
geholt werden. Wir wollen besonders diejenigen Tests auswählen, die 
nach der B.-S.-Methode auf die Intelligenz ganz besonders abzielen. 


Tests 8a und 10a. 
(Lesen und 6 Hauptpunkte sollen angegeben werden.) 
Der Text: »Am ersten Feiertage zeigte der Arbeiter Hugo Nitschke seinem 
zwejjährigen Sohne, den er auf dem Arme bielt, den Christbaum, wobei er in der 
16* 


230 l A. Theissen: 


anderen Hand die Petroleumlampe hielt. Als Nitschke um den Weihnachtsbaum 
herumging, stolperte er und fiel mit dem Kind und der Petroleumlampe hin, wobei die 
Lampe zerbrach. Die herbeieilenden Nachbarn löschten zwar sofort den entstandenen 
Brand; Nitschke und das Kind erlitten aber solche Brandwundeu, daß sie nach Ein- 
lieferuug in das Krankenhaus beide starben. 

Vp. reproduziert in 2'7“ nach einer Lesezeit von 3,04' also: »Am 1. Feier- 
tage ging ein Arbeiter — — — (Vp. stockte und suchte nach dem Namen) in den 
Wald. Sie wollten einen Christbaum holen. Da nahm er seinen zweijährigen Sohn 
mit. Der hatte in der Hand eine Axt und eine Petroleumlampe. Unterwegs zer- 
brach die Tetroleumlampe und der Wald ging in Brand und der Vater und der 
Sohn haben das Feuer gelöscht und erhielten nachher Brandwunden. Da wurden 
sie ins Krankenhaus gebracht und starben nachher.« 


Kritik. 

Vp. weiß zwar, Hauptpunkte anzugeben, aber in einer wider- 
sinnigen Zusammenstellung. Wir machen bei dieser Lösung dieselbe 
Beobachtung wie früher: Es kommen Vorstellungen, die den Gang 
der ursprünglichen Erzählung auf Abwege drängen und von der Vp. 
kritiklos und willig angenommen werden, ohne daß Vp. das Unsinnige 
der Verknüpfung erlebt. 


Die Assoziationsreihe ist: Arbeiter — Sohn — Christbaum — 
Wald — Axt — Petroleumlampe — Sturz — Brand — Löschung 
— Brandwunden — Krankenhaus — Tod. 


Vp. verbindet kaltblütig in der Tendenz der Aufgabe, nachzu- 
erzählen, Vorstellungen zu den schlimmsten Ungereimtheiten: Der 
Arbeiter trägt eine Petroleumlampe in den Wald, das 2jährige Kind 
beteiligt sich an dem Löschen des Brandes. 

Die Leistung kann man im Rahmen der B.-S.-Methode als 
»-+-ce-Leistung bezeichnen, wenn es nur darauf ankommen soll, daß 
Vp. einige Hauptpunkte anzugeben hat; aber wenn man bei dieser 
Leistung den Spuren der Intelligenztätigkeit nachgehen will, muß 
man den Test als nicht gelöst ansehen. Die Vorstellungen kommen 
rein gedächtnismäßig oder werden assoziativ herbeigezogen, aber das, 
was der Reproduktion den Stempel des » Vernünftigen« aufdrückt, die 
richtige Beziehung der Glieder zueinander, wird nicht geleistet. 

Die Vp. hätte darlegen müssen: 

a) Die Situation, das Zusammensein von Vater und Kind am 

Weihnachtsabend; | 

b) das Vorhaben des Vaters; 

c) die Ursache und Folge des Unglückes. 

Test 9a (Oberbegriffe sollen gesucht werden!) Der Vp. wurden zu- 


nächst die notwendigen Erläuterungen gegeben mit einigen Beispielen. Es wurde 
über die Anleitung Bobertags zur I.-Pr. hinausgegangen und der Vp. gezeigt, wie 


ae 








Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 231 


man zuerst sich fragen muß: »Was ist der eine, was der andere?« »Was hat der 
eine, was der andere?« »Haben sie etwas gemeinsam, dann kann man einen 
Namen finden, der für beide paßt.« 

1. Soldat — Jäger. 

Vp.: »Soldat bat blaue Uniform, Jäger einen grünen Anzug.« Vp. gibt sich 
mit dieser Antwort zufrieden. 

Vl.: »Beide baben auch ein Gewehbr!« Nun sag mir einen Namen, der für 
beide paßt!« 

Vp.: »Weiß ich nicht!« 

Vl.: „Denk Dir Josef, da steht ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, 
beide sind Kinder. Nun denk wieder an einen Soldaten und einen Jäger; was sind 
beide ?« 

Vp.: »Männer!« 
Perd — Hund. 
Vp.: »Pferd ist hoch, Hund wiederum tiefer.« 
VL: »Nun sag mir wieder einen Namen, der für beide paßt!« 
Vp.: »Tiere.« 
- Puppe — Ball. 
Vp.: »Puppe ist so schlank, der Ball ist rund.« 
Vi.: »Nun sag mir wieder einen Namen, der für beide paßt!« 
Vp.: »Nein, das kann ich nicht sagen.« 
Stuhl — Tisch. 
Vp.: »Auf dem Stuhl sitzt man, auf dem Tisch ißt man.« 
Vl.: »Was sind beide?« 
Vp.: »Möbel!« 
Gabel — Messer. 
Vp.: »Das sind beides Eßwerkzeuge.« 


tv 
. 


W 


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en 


Kritik. 


Vp. zeigt lediglich Unterschiede auf. Es ist demnach festzustellen, 
daß Vp. wenigstens Vergleiche anstellt; jedoch das tertium compa- 
rationis findet Vp. erst (mit Ausnabme von Nr. 3) unter erneuter 
Anleitung von seiten des Vl. Erst bei Beispiel 5 kommt sofort die 
richtige Antwort. Es ist bemerkenswert, daß Vp. in den ersten 
4 Fällen gleichsam unter dem Banne einer falschen Einstellung steht, 
der trotz der jedesmal einsetzenden Hinweise auf die Aufgabe erst 
im letzten Augenblick gelöst zu sein scheint. Sobald die Aufgabe 
ganz und richtig erfaßt ist, und ferner, wenn die Vorstellungen so 
entfaltet sind (Erlebnisfaktor), daß die Sachverhalte erkannt werden, 
dann ist die Bildung des Öberbegriffes möglich. Im Beispiel 1: 
Soldat — Jäger hätte Vp. auf die Anregung des VL: »beide haben 
ein Gewehr!« sagen müssen: »Gewehrmänner oder Schützen.« Bei 
Nr. 3 müßte die Antwort kommen: »Spielzeuge.. Die Vp. versagt 
desbalb, weil die Vorstellungen durch die Lebenserfahrung nicht so 
geläufig sind, daß die Sachverhalte durchschaut werden. Vp. be- 


232 A. Theissen: 


trachtet Jäger und Soldat lediglich als Männer; ihre Eigenart, der 
Sachverhalt der Bewaffnung, wird nicht erfaßt. Ebenso bei dem 
Begriffspaar: Puppe — Ball; der Sachverhalt, daß diese Dinge zum 
Spielen da sind, ist von der Vp. nicht erlebt worden, wenigstens 
nicht so, daB das Sachverbaltswissen den Begriff darstellte: Spielzeug. 
Man hat keinen Grund, anzunehmen, der Vp. hätte der richtige sprach- 
liche Ausdruck gefehlt; dann würde Vp. sicher Umschreibungen ge- 
bracht haben; ferner, wenn Vp. bei Beispiel 5 prompt den Ausdruck 
gebraucht: Eßwerkzeuge, so darf man vermuten, daß sie auch bei 1 
und 3 den passenden Ausdruck zur Hand gehabt hätte, wenn ein 
Sachverhaltswissen vorhanden wäre. 


Die Vorstellungskomplexe Pferd — Hund; Stuhl — Tisch; Gabel 
— Messer sind durch die tägliche Erfahrung so entfaltet, daß eine 
Beziehungserfassung ermöglicht ist und unter der Aufgabetendenz 
eintritt. 


Denselben Tatbestand findet man bei den Testlösungen 
12 g und 12 h. 

Bei Testlösung 12 g wurden richtige Textergänzungen prompt 
gegeben; die Testlösung dauerte mit Aufnotierung 2'10“. Man kann 
sagen: »Weil der Vp. die Situation bekannt, die Vorstellungsentfaltung 
vollständig klar war, kam die Ergänzung assoziativ sofort. 


Dasselbe ist der Fall bei Testlösung 12h. In 15“ nannte Vp. 
zu »Hand« 4 Reimwörter: Band, Sand, Rand, Wand. 


Test 11b (3 schwere Verstandesfragen). 


1. Was muß man tun, wenn man von einem Freunde aus Versehen geschlagen 
worden ist? 
Antwort: »Man muß ihn um Verzeihung bitten, daß er nächstens nicht 
schlagen tät« (4,2”). 

2. Was muß man machen, ehe man etwas Wichtiges unternimmt? 
Antwort: »Man muß sich vorher bedenken: (3,8”). 

3. Denk Dir mal, es fragt jemand nach Deiner Meinung über einen anderen 
Menschen, den Du nur wenig kennst, was würdest Du dann sagen? 
Antwort: »Dann würde ich sagen, dann muß ich mal mit ihm öfter sprechen, 
mit der Zeit lerne ich ihn kennen« (4,6*). 


Kritik. 


Bei der ersten Frage ist die Vorstellungsentfaltung nicht aus- 
giebig genug gewesen. Vp. antwortet auf 2 Fragen 1. Was muß man 
machen, wenn man aus Versehen einen anderen schlägt (um Ver- 
zeihung bitten), und was muß man tun, wenn man von einem Freunde 
geschlagen worden ist (bitten, daß er es nicht mehr tut). — 





Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 233 


Hier haben wir wieder die oben gefundene Tatsache: Ist der 
Reizvorstellungskomplex eng, ist die Situation, der Sachverhalt be- 
kannt und gegeben, dann erfolgt in Kürze, ja sofort eine Reaktion, 
auch dann, wenn die Vorstellungsentfaltung unklar war, was dann 
eine logische Ungereimtheit der reproduzierten Vorstellungen bedingt, 
die aber von der Vp. als solche nicht erkannt wird. 

Die angegebenen Zeiten stellen die Summe dar von Reaktions- 
zeit + Aufsagezeit, indem wir als Reaktionszeit den zeitlichen Zwischen- 
raum zwischen dem letzten Wort der Frage und dem ersten der 
Antwort auffassen. 


2. Die Frage nach der Beziehungserfassung. ` 


Die Ergebnisse der L-P. nach der B.-S.-Methode geben uns wert- 
volle Fingerzeige. Jedoch dürfen wir uns nicht verhehlen, daß wir 
hier und dort über Vermutungen nicht hinaus gekommen sind, zumal 
den Testdeutungen kein Argument aus der Selbstbeobachtung der 
Vp. zur Seite steht. Vp. zeigt sich nämlich ganz und gar unfähig, 
über seelische Vorgänge und Zustände Aufschluß zu geben. Wir 
müssen unsere Vermutungen durch neue Experimente klären und 
stärken, und zwar fragen wir: 

1. Ist eine Beziehungserfassung bei der Vp. möglich? 
2. Wenn eine Beziehungserfassung ausbleibt, woran liegt das? 

Bei den Versuchen können nun 2 Wege eingeschlagen werden: 

1. Wir gehen von der Vorstellung a aus, lassen die Vorstellung b 
suchen, und geben den Weg an. 

2. Wir geben die Vorstellung a und b und lassen den Weg suchen. 
ad 1. Gegenteil — Ursache — Wirkung. 


Versuchsanordnung. 


Der Vp. wurden die einzelnen Reizwörter akustisch gebnten, der 
VI. schrieb selbst die Reaktionen nieder, um die Vp., die nur langsam 
schreibt, in ihrem Vorstellungsablauf nicht zu behindern. 

Betont werden muß, daß die Vp. ohne Anleitung nicht in der 
Lage war, das konträre Gegenteil, die Ursache oder Wirkung zu 
nennen; es mußten darum jedesmal an Hand von Beispielen die Be- 
griffe und der Sinn der Aufgabe erklärt werden. Auf die Reiz- 
wörter kamen die Reaktionen sofort und ohne Unterbrechung; nach 
45“ wurde jedesmal der Versuch beendet; die Vp. war stets vorher 
fertig, wurde zu weiteren Leistungen angespornt, jedoch ohne Erfolg. 
>Näh, ich weiß nichts mehr.« Die Vp. machte nicht den Eindruck, 
als wolle sie sich anstrengen und »suchen«. 


234 A. Theissen: 


(a Gegenteil (konträres): 
1. Gesang — Spiel, Ruhe, Arbeitsmut. 
2. Milch — Wasser, Wein, Schnaps, Limonade, Bier. 
b) Ursache: 
1. Krankheit — Unreifes Obst, schlechtes Wasser. 
2. Flucht — Aus Furcht vor dem Feinde, weil es wo nicht gefällt. 
3. Wasser — Aus der Quelle, Bach, Fluß, Meer, See. 
4. Tuch — Fabrik, Ausland, Geschäfte, Weberei. 
c) Folge: 
1. Arbeit — Fleiß, Anstrengung, Zufriedenheit. 
2. Regen — Überschwemmung, schlechtes Jahr, schlechte Ernte, Hungersnot. 
3. Unmäßigkeit — Zerstörung der Gesundheit. Krankheit, früher Tod, Rui- 
nierung der Organe. 
4. Krieg — Häuserbrand, Hungersnot, Pest, Cholera, Typhus. 


Aus diesen Versuchen ergibt sich: 


a) Die Vp. hat die Aufgabe erfaßt und den Gesichtspunkt, unter 
dem von einer gegebenen Vorstellung zu einer anderen ge- 
schritten werden soll, verstanden. 

b) Es sind bei jedem Versuch Vorstellungen aufgetreten. 

Nach der qualitativen Seite hin sind diese Vorstellungen meist 

anschaulich-konkret. 

In dynamischer Hinsicht, und das interessiert uns hier am meisten, 

verläuft die Reproduktion der Vorstellungen in der gleichen Richtung. 


Es wäre für uns von großem Werte, wenn wir die Vp. nach 
dem Reproduktionserlebnis und seinem Ablauf mit Erfolg hätten be- 
fragen können; so sind wir darauf angewiesen, aus den Reaktionen 
und auch aus dem Verhalten der Vp. Rückschlüsse zu ziehen. Das 
Reproduktionserlebnis scheint folgendermaßen sich abgewickelt zu 
haben: Die Tendenz der Aufgabe veranlaßte die Reproduktion der 
ersten Vorstellung; der qualitative Wert dieser ersten Reproduktion 
ist abhängig von der klaren Entfaltung der Reizvorstellung und von 
der Erfassung des Gesichtspunktes, der Beziehung. Diese Vorbedingungen 
sind bei den Versuchen, die hier zur Besprechung stehen, durchweg 
erfüllt. Die auf die erste folgenden Reproduktionen scheinen in den 
meisten Aufgaben aber nicht mehr durch die Aufgabe intendiert zu 
sein, sondern durch die erste Reaktion. 


Diese Ansicht wird erhärtet durch das äußere Verhalten der Vp.; 
sobald das Reizwort gesagt war, sah Vp. vor sich, nach kurzer Zeit 
kam die erste Reaktion und darauf sofort die anderen, wobei Vp. 
den Eindruck machte, als ob sie in der Volksschule etwas aufzusagen 
hätte. Dann war die Arbeit abgeschlossen, und auf die Frage: »Sonst 
weißt du nichts?« kam die Antwort: »Näh, ich weiß nichts mehr!« 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 235 


ad 2: Es muß versucht werden, obigen Befund durch andere 
Experimente heller zu beleuchten. 


Versuchsanordnung. 


Es wurden der Vp. Vorstellungen geboten und die Aufgabe ge- 
stellt, die Beziehung zu finden. Der Vp. wurde an Beispielen aus- 
führlich Instruktion gegeben: 


Die Aufgabe lautete, aus den dargebotenen Wortpaaren möglichst 
viele richtige Sätze zu bilden. 


Erste Reihe: 

a) Josef — Rechenbuch. 

Vp.: »Josef hat aus dem Rechenbuch gerechnet !« 

Vp. gibt sich zufrieden. 

VI.: »Sag mir einen anderen Satz! 

Vp.: »Josef hat aus dem Rechenbuch viel gerechnet.« 

VL: »Noch anders!e 

Vp.: »Josef hat gut, schnell, soviel Seiten gerechnet.« 

(Dauer des Versuchs mit Aufnotieren durch den VI. 1'47“.) 

b) Zöglinge — Kartoffelkeller. 

Vp.: »Die Zöglinge arbeiten im Kartoffelkeller.ce »Die Zöglinge sind beschäftigt 
im Kartoffelkeller.« 

Vl.: »Ist der Kartoffelkeller nur da, daß die Zöglinge darin arbeiten? Was 
macht man mit den Kartoffeln? Bilde einen anderen Satz!« 


Vp.: »Die Zöglinge essen Kartoffeln aus dem Kartoffelkeller!« 
(Versuchsdauer 1'41”.) 


c) Zigarren — Kopfschmerzen. 

Nach 2'15” reagiert Vp.: 

»Wenn man Zigarren übermäßig raucht, bekommt man Kopfschmerzen.« 

Die Ermunterung zu anderen Reaktionen bleibt erfolglos. (Versuchsdauer 3‘.) 


d) Schule — Tüchtigkeit. 
Vp : »Die Schule, in der man etwas lernen kann, ist zur Tüchtigkeit notwendig.« 
Vl.: »Oder einen anderen Satz.« 


Vp.: »Die Tüchtigkeit ist die Schule dagegen, wo man etwas ordentliches 
lernen kann.« 


(Versuchsdauer 2'45.) 


e) Sonne — Lampen. 

Vp.: >»Die Sonne ist das Licht der Lampen.« 

VL: »Nun denk gut nach! Einen andern Satz!« 

Vp.: »Die Sonne sendet Sonnenstrahlen, die Lampen senden Lichtstrahlen.« 
Vl.: »Oder anders!« 

Vp.: »Wie die Sonne heiß ist, so ist auch der Zylinder der Lampe heiß.« 
Vl.: »Josef, welcher Satz gefällt Dir am besten, welcher Satz ist der richtigste’« 
Vp.: »Die Sonne ist das Licht der Lampe.« 


236 A. Theissen: 


éd 


f) Hunger — Barmherzigkeit. 

Vp.: »Der Hunger ist ein Werk der Barmherzigkeit. « 

Vl.: »Du kannst mehrere Sätze bilden, in denen jedesmal eines der Wörter 
vorkommt, z. B. Pferd — Hund, das Pferd läuft, der Hund läuft!« 

Vp.: »Wenn man Hunger mit Freuden leidet, übt man ein Werk der Barm- 
herzigkeit aus.« 

Vl.: »Oder anders!« ` 

Vp.: »Das Pferd übt kein Werk der Barmherzigkeit aus, nur der Mensch übt 
ein Werk der Barmherzigkeit aus, wenn er mit Freuden Hunger leidet.« 

Vl.: »Woher weißt du das alles? 

Vp.: »Das habe ich in der Volksschule im Katechismus gelernt.« 

(Versuchsdauer = 4'2°.) 


Bewertung. 


Die Reizwörterpaare waren hinsichtlich der inhaltlichen Schwierig- 
keit in dieser Klimax- und Reihenfolge ausgewählt worden. Wir sehen 
darum auch, daß Vp. bei den Versuchen a—c und in der ersten 
Reaktion bei d eine Beziehung zwischen den beiden Reizvorstellungen 
findet und zwar deshalb, weil sowohl die Vorstellungen infolge der 
Erfahrung der Vp. als konkrete Vorstellungen entfaltet sind und weil 
auch dieselbe Erfahrung die Vorstellungen oft zu einem Komplex 
vereinigt hat. Die durch die Aufgabe bedingte Reproduktionstendenz 
war schnell am Ziel, wo sie sich dann in dem Aufspüren von eng 
verknüpften Nebenassoziationen auswirkt (Beispiel a und b). Bei b 
wurde ferner durch die erneute Instruktion und die dadurch hervor- 
gerufene bessere Vorstellungsentfaltung (Kartoffelkeller) eine andere 
Beziehung gefunden; bei der 2. Reaktion bei d und ferner bei e und 
f versagte die Vp. im großen und ganzen. Warum wohl? Die Vp. 
weiß sicher, was Schule, Tüchtigkeit, Sonne, Lampen, Hunger und 
Barmherzigkeit sind, aber die Beziehungserfassung setzt voraus, daß 
der Beziehende die Vorstellungen klar entfaltet hat, d. h. zunächst 
die Tendenz darauf richtet, die einzelnen Vorstellungen bis in jede 
Einzelheit aufleuchten zu lassen. Bei der Vp. wirkt die Tendenz der 
Aufgabe: Einen richtigen Satz zu bilden, so, daß sie von der ersten 
Vorstellung assoziativ zur zweiten geht, gleichsam den Weg abkürzt. 
Das Schema der Aufgabe veranlaßt einen Reproduktionsablauf, der 
bei der Vp. das Gefühl der Zufriedenheit auslöst, was besonders Bei- 
spiel e deutlich zeigt, wo die Vp. am glücklichsten ist über ihre falsche 
Reproduktion. Erst der Druck der V.-A. bringt die Vp. dazu, bei e 
Beziehungen zu suchen; man erkennt deutlich an den Reproduktionen, 
daß Vp. ihre Aufmerksamkeit darauf richtete, die Vorstellungen zu 
entfalten und zwar mit dem Erfolge, daß bei der 3. Reproduktion eine 
in etwa richtige Beziehung gefunden wird, was bei d (2. Teil) und 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtuisses bei einem Schwachsinnigen. 237 


bei f gänzlich ausblieb. Bei f hat das -Aufleuchten des Schulwissens 
die Vp. gleichsam fasziniert, wozu noch das gegebene Beispiel: »Das 
Pferd läuft« verhängnisvoll wird. 

Aus dem Ganzen ergibt sich: Eine Beziehungserfassung ist mög- 
lich; aber die Reizvorstellungskomplexe werden nur dann bis in alle 
Winkel ausgeleuchtet und entfaltet, wenn die Vorstellungskomplexe 
an Umfang und Inhalt über ein gewisses Maß nicht hinausgehen und 
einen starken Erlebnisfaktor haben. Vp. beherrscht oder erlebt für 
gewöhnlich nur einen Teilkomplex des gesamten Reizkoınplexes, und 
von diesem Teilkomplex geht die Reproduktionstendenz zur nächsten 
assoziativ verknüpften Vorstellung; dadurch kann unter Umständen 
ein richtiges Ergebnis zustande kommen, meist aber geht die Re- 
produktionstendenz dabei in die Irre, ohne daß die Vp. zur Kritik 
über ihre Leistung gelangte. Sie kann sogar nicht zur Kritik kommen, 
denn das Übergehen von dem kleinen, psychisch erfaßten Vorstellungs- 
komplex zur nächsten Vorstellung löst notwendig das durch den Re- 
produktionsablauf bedingte Gefühl aus: »Du hast deine Sache gut 
gemacht. « | | 

Es ist aber nicht zu verkennen, daß eine stärkere Aufmerksam- 
keitslenkung den Kampf gegen den Mechanismus des zwangsmäßigen 
Vorstellungsablaufes aufnehmen kann, daß also die Reproduktions- 
tendenz, die allein unter dem Banne einer psychischen Gegebenheit 
(Beziebung) eine Denkleitung zustande bringen kann, auf eine geistige 
Aktivität sich stützen muß, den Willen! 


Zweite Versuchsreihe: 


Die V.-A. wurde insofern geändert, als die gegebenen Vorstellungen 
in einen Satz eingestellt wurden, in dem die Beziehung der Vorstellungen 
zueinander nicht in Worten ausgedrückt war, sondern gesucht werden 
mußte. | | 

Die Sätze waren in Maschinenschrift geschrieben und wurden 
der Vp. vorgelegt, mit der Aufforderung, die Sätze laut zu lesen und 
das Fehlende hinzuschreiben. Es wurde der Vp. noch einmal der 
sogenannte Ebbinghaus-Test aus der B.-S.-Methode vorgelegt und 
daran erinnert, daß Vp. die fehlenden Wörter richtig ergänzt hatte. 
Der Versuch wurde noch einmal gemacht. 

Da man vermuten darf, daß eine Vp. durch das Niederschreiben 
im Vorstellungsablauf behindert werden kann, schrieb Vp. nur bei 
den ersten 4 Versuchen selbst; bei den anderen der VIl. Es wurde 
kein Wert darauf gelegt, ein Resultat in einer bestimmten Zeit zu 
erzielen, wohl aber darauf, festzustellen, wie durch das Ein- 


238 A. Theissen: 


greifen des VIl. während: eines Experimentes das Ergebnis 
sich gestalten würde. 


Exp. a) 

Vor den Fenstern der Anstalt blühen schöne Blumen: die Fremden, die vor- 
beigehen, meinen, in diesem Hause wohnen sicher — (Anm.: Während der Sommer- 
zeit steheu vor allen Fenstern der 4 großen Anstaltsgebäude Kästen mit blühenden 
Geranien, so daß die noch nicht lange erbaute Anstalt einen überaus freundl. und 
reizvollen Eindruck macht.) 

Vp. hatte den Satz laut gelesen. Als erste Reaktion schrieb sie nieder: 
»Menschen, die nicht ganz vernünftig sind.« Als Vp. sich damit zufrieden geben 
will, bemerkt Vl.: »Das ist noch nicht genug, schreib etwas anderes hin; denk gut 
nach, ließ den Satz genau und ganz; das, was Du schreibst, muß passen.« 

»Vp.: »Wärter und Brüder.« 

Als sie das hinschreiben will, bemerkt Vl.: »Das würde ich nicht schreiben; 
die Fremden, die vorbeigehen, können doch gar nicht wissen. ob hier Wärter, 
Brüder oder Jungens wohnen. Lies den Satz noch einmal!« Vp. liest und schreibt 
dann sofort: »feine Leute« kurz darauf »Blumengärtner«. Vp. denkt weiter nach, 
kann aber nichts mehr finden. Vl.: »Josef, Du hast ein dreifaches hingeschrieben, 
was gefällt Dir am besten ?%« 

Vp.: »Feine Leute, — Blumengärtner.« 

VI.: »Warum?« 

Vp.: »Weil oben steht, schöne Blumen.« Dabei zeigt Vp. auf die Wörter auf 
dem Blatte. 

Dauer des ganzen Versuchs 2'24“. 


Es darf nicht unterlassen werden zu bemerken, daß der VI. mit ziemlichem 
Nachdruck in Wort und Mienenspiel die Vp. anfeuerte. Die Hand der Vp. zitterte 
ziemlich stark beim Niederschreiben. Der Verlauf des Versuches war bei den 
folgenden Experimenten der gleiche. Der Vl. plauderte nach jedem Versuch mit 
der Vp. über gleichgültige Dinge in freundschaltlichster Weise oder gab ihr einige 
Leckerbissen zu essen, die Vp. besonders dankbar und freudig annahm. 


Exp. b) 

Josef Schmitz war ein arbeitsamer Mann. Durch ihn waren seine Eltern zum 
Wohlstand gekommen; nun hielt er sich auch für — — — seiner Geschwister. 

1. Reaktion: seinen Verdienst \ I 

2. „den Beruf ED 

3. is die Freude, 

4 4 den Nutzen. 


Vl.: »Welche von den 4 Antworten gefällt dir am besten? oder sind alle 
gleich gut?« 

Vp.: Am besten ist: »den Nutzen« und am schlechtesten ist: »seinen Verdienst « 

Vi. »Warum?« Vp.: »Nutzen ist am besten, weil die Geschwister sich ge- 
freut haben, weil aus ihm etwas wurde. Verdienst ist deshalb am schlechtesten, 
weil es lange gedauert hat, bis seine Geschwister was davon hatten. Josef Schmitz 
hat noch viel arbeiten müssen, bis er soweit war.« 

Dauer des ganzen Versuchs 5’ 5*. 

Exp. c) Peter Schulte war der einzige Sohn seiner Eltern, die ihn sehr liebten 


und verwöhnten, so daß er immer Geld in der Tasche hatte und tun konnte, was er 
wollte, so kam es, daß er die Nachbarkinder . . . 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 239 


1. R. »Von seinem gekauften Geide beschenkte.« 

2. R. »Mit Essen beschenkte.« Dauer 3°. 

3. R. »Lieb hatte.« 

Vl.: »Was ist das beste ?« Vp.: »Mit Essen beschenkte ist deshalb besser, weil 
die Kinder doch wenigstens etwas zu essen hatten. Darum ist das besser, das 
paßt hier am besten.« 


Exp. d) Die Bücher sind die... der Menschen. 

l. R. »Praktische notwendige Wissenschaft«. 

2. R. »Grundlage.« Dauer 3°. 

3. R. »Erbauung.« 

Vl.: »Sind alle Einfälle gleich gut?« 

Vp.: »Nein.e Vl.: »Welcher ist am besten ?« 

Vp.: (Nach einigem Nachdenken) »Grundlage«. ° 

Vi.: »Warum?« Vp.: »Damit alles festsitzt und man alles behält, was man 
lernen muß.« 

Vi.: »Wie lautet der Satz also am richtigsten ?« 

Vp.: »Die Bücher sind die praktische notwendige Wissenschaft der Menschen.« 

Vl.: »So? Ist also das am besten ?« 

Vp.: »Ja.« Vl: »Eben hast Du anders gesagt!« 

Vp.: »Hah so! Grundlage ist besser. Die Bücher sind die praktische not- 
wendige Grundlage der Menschen.« 

Dauer der Unterhaltung 2° 10*. 


Exp. e) Die Schwalben sind bei den Bauersleuten sehr beliebt, denn sie 
gelten als.... 

1. R. »Zugvögel.« 

2. R. »Vögel wo sie Nahrung zu sich nehmen können.« 

3. R. »Schädliche Tiere in fremden Ländern.« 

4. R. »Achtenswerte Vögel in unsern Ländern.« 

Dauer 3°. 

VL.: »Josef, Woher weißt du das alles?« Vp.: »Aus der Schule, das hab ich 
dort gelernt.« 

Vi.: »Was paßt nun am besten in den Satz ?« 

VL: »Daß sie Nahrung zu sich nehmen können.« 

VL: »80?«e Vp.: »Achtenswerte Vögel in unsern Ländern, das paßt am besten.« 

Versuchsdauer 2‘ 15". 


Exp. f) In meinem Zimmer hängen schöne Bilder; schöne Bilder sind.... 
der Menschen. 

l. R. »Die Zierde.« 

2. R. »Die Freude.« 

3. R. »Die Lust.« 

4. R. »Die Berühmtheit. « 

VL: »Was paßt nun am besten in unsern Satz?« Vp.: »Freude und Lust.« 

VI.: »Warum?« Vp.: »Deswegen, weil man, wenn man irgendwo hinkommt, 
freut man sich und Lust gehört so mit dazu. 

Ganze Versuchsdauer 2' 25". 


Versuchsdauer 1’ 20”. 


240 A. Theissen: 


Bewertung der Versuchsergebnisse. 


Das Resultat der oben behandelten Versuche wird bestätigt; man 
könnte auch bei diesen letzteren Versuchsergebnissen sagen: Das Ziel 
der Aufgabe, einen Satz zu bilden, wird erfaßt; die Ergänzung ist 
jedoch nur von einem Tell des Gesamtreizkomplexes bedingt. 

Da es sich nun hier um größere Reizkomplexe handelt, bietet 
das einzelne Ergebnis einen lehrreichen Einblick in die Denkarbeit 
der Vp. 

Wir wollen das Resultat der Exp. a) analysieren: 

Der Zögling hat von dem Reizkomplex: Anstalt, schöne Blumen 
an den Fenstern, vorübergehende Fremde, wer mag wohl im Hause 
wohnen? nur die beiden Teile: Anstalt-Insassen erfaßt und bringt sie 
auf Grund seines Wissens, daß die Anstalt für Schwachsinnige be- 
stimmt ist, in Beziehung und ergänzt so den Satz; der Hinweis des 
Vl. bringt die zweite Reaktion, die dartut, daß Vp. die Vorstellung: 
Insassen noch mehr entfaltet hat. Unter Anleitung des Vl. beginnt 
dann die Aufmerksamkeit sich auch den anderen Teilen des Komplexes 
zuzuwenden. Die »schönen Blumen an den Fenstern« bringen, da 
der Zögling seit der Schulentlassung auch schon vor der Anstalts- 
erziehung hanptsächlich in der Gärtnerei beschäftigt ist, die Erinnerung 
an Häuser, an denen er selbst die Blumen bewundern konnte, oder 
bei denen er selbst die Blumen pflanzen und pflegen half; die Vp. 
reagiert darum im Gedanken an die Einwohner dieser Häuser mit: 
»feine Leute«, kurz darauf mit: »Blumengärtner.< 

Durch die Intensität, mit der die Vp. die Vorstellungreihe »schöne 
Blumen«, »Blumengärtner, blumengeschmückte Häuser der feinen 
Leute« bisher immer wieder erlebt hat, ist somit die Komplexbildung: 
Anstalt — schöne Blumen — Fremde, die vorbeigehen — Insassen? 
— Bilumengärtner oder feine Leute — und damit auch die Be- 
ziehungserfassung möglich geworden. 

Die übrigen Versuchsergebnisse zeigen, daß die Vp. zunächst 
von einem Teil des ganzen Reizkomplexes ausgeht: Exp. b): Arbeit- 
samer Mann — Verdienst, Exp. c): Geld — beschenkte, Exp. d): 
Bücher — Wissenschaft — Exp. e): Schwalben — Zugvögel; Exp. f): 
schöne Bilder — Zierde und dann unter dem Einfluß der V.-A. 
wenigstens die Reizvorstellung, von der ausgegangen wurde, weiter 
entfaltet: aber das Erlebnis der Beziehungserfassung zwischen den 
Teilen des ganzen Reizkomplexes tritt nicht ein. 

Es muß darauf hingewiesen werden, das Vp. doch imstande ist, 
eine Beziehung zu finden, d. h. eine Denkleistung zustande zu bringen. 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 24} 


Die von der Vp. aufgebrachten psychischen Leistungen leuchten wie 
ein schwacher Hoffnungsschimmer über der Enge und Begrenztheit 
der Vorstellungsabläufe der Vp. 

Erwähnt seien noch einige Versuche, die das vorgenannte Re- 
sultat nur bestätigen, aber etwas Neues nicht bringen. Nämlich: 

Der Vp. wurden kurze Märchen vorgelesen aus dem Buche: 
Arabische Märchen (Volksvereinsverlag M.-Gladbach. Die Märchen 
waren der Vp. nicht bekannt. Die Instruktion ging dahin, daß Vp. 
den Kernpunkt der Erzählung angeben sollte, was nicht gelang; sie 
reproduzierte lediglich das eine oder andere von dem Gehörten. 


3. Confabulation? 


Einige Versuchsergebnisse, besonders die Testlösungen 12f, 11e, 
10a bieten Anlaß zu der Frage, ob Vp. fabuliere. Zur Klarstellung 
dieser Frage wurden der Vp. Karten vorgelegt, mit farbigen oder 
schwarz-weißen Darstellungen aus der biblischen und profanen Ge- 
schichte und der Märchenwelt. 21° Versuche wurden gemacht; die 
Instruktion lautete: »Josef, besieh Dir die Karten, die ich Dir vorlege. 
Ich will nicht wissen, ob Du das kennst, was da gemalt ist, sondern 
Du kannst selbst eine »Geschichte«, eine Erzählung machen!« Es 
wurde der Vp. gestattet, die Karte 3‘ lang zu betrachten, jedoch war 
es ihr nicht verwehrt, auch schon eher mit der sich anschließenden 
Meditation von 3 Minuten zu beginnen. Auch hier war es in das 
Belieben der Vp. gestellt schon früher zu reproduzieren! 

Die Versuchsergebnisse sind alle ohne Ausnahme in derselben 
Richtung ausgefallen. Sie bringen lediglich Aufzählung und ab und 
zu den Ansatz einer Deutung, zumal da, wo es sich um Darstellungen 
handelte, die der Bibel oder Geschichte, oder aus dem Märchen schon 
bekannt waren. 

Zwei Protokolle seien hier aufgeführt: 

a) XII, 5. Die Karte bringt eine gute Reproduktion des Gemäldes von Otto 
Peter.’ der die Tellgeschichte dargestellt hat, nämlich: Schwur auf dem Rütli. 

Die Karte wurde 3° exponiert, Zeit zum Nachdenken = 2' 4“. 

Protokoll: »Auf der Karte habe ich gesehen, wie Männer da sind, in der 
Mitte ist ein Feuer angezündet, dann habe ich gesehen, wie die Männer die Hände 
bochheben zum Zeichen, daß sie bei der Fahne bleiben werden; und die Schwerter 
haben sie, weil sie wohl in den Krieg ziehen werden, um das Vaterland zu ver- 
teldigen.« 

E XIU, 3. Schwarz-weiße Karte, Silhouette von R. Borrmeister, Exp.-Zeit 1‘, 
Meditationszeit = 2°. 

Protokoll: »Auf der Karte habe ich gesehen 3 Knaben und ein Mädchen, 
der Knabe gibt dem Esel einen Stoß bei den Hinterbeinen, nämlich deswegen, damit 
er besser vorankommt, und wahrscheinlich sollen der Knabe und das Mädchen, das 


242 A. Theissen: 


rechts steht, von dem Esel umgerannt werden. Der Knabe tut das deswegen, weil 
‘er noch klein ist und Spaß am Unsinn hat.« 


Diejenigen Sachverhalte, die die Vp. aus dem Leben und der 
bisherigen Erziehung als bedeutsam kennt, werden aufgezählt, streng 
assoziativ bedingt durch das Reizmaterial, aber nirgends bei den 
21 Versuchen ist ein leiser Anflug, sich über den Rahmen dieser 
assoziativ gegebenen Reproduktion in das Reich der Fabulierung zu 
begeben. 


4. Versuche im Zeichnen. 


Ob die Vp. es versteht, die ıichtige Beziehung zwischen Vor- 
‚stellungen zu erfassen oder nicht, muß sich auch im Zeichnen dartun. 
Die Ergebnisse der Versuche im Zeichnen sind überraschend ein- 
deutig. 

Die Vp. batte die Aufgabe, einen Baum, einen Wagen, einen Korb, 
ein Haus, einen Tisch, einen Mann, eine Frau, ein Pferd, eine Katze 
und ein Huhn zu zeichnen. Dabei begnügte sich die Vp. damit, die 
‚einzelnen Glieder oder Teile in rohen Umrissen darzustellen; aber die 
Beziehung der Glieder und Teile zueinander und vor allem zur Welt 
-der Umgebung wird vollständig außer acht gelassen, so daß Karrikaturen 
entstehen, die nach C. Bühler als spezifische Kinderzeichnungen an- 
zusprechen sind. 

Er deutet nur Merkmale an, zerstückelt, und zwar deshalb, weil 
‚die ganze Vorstellungswelt nur in kleinen Komplexen tätig ist. 


5. Die musikalischen Leistungen der Vp. 


Für den ersten Augenblick mag es überraschend sein, zu hören, 
daß Josef die Meisterwerke unserer besten Tonkünstler, eines Beet- 
hoven, Haydn, Schubert auf dem Klavier zu spielen imstande ist. 
‚Schon frühzeitig bekam er im Elternhaus musikalischen Unterricht. 
Doch sein Spiel ist kein Vortrag; er spielt nur Noten, ohne Takt, 
ohne Rhythmus, ohne Beachtung der Vortragszeichen. Der VI. ließ 
sich u. a. Mendelsohns: »Lieder ohne Worte« vorspielen. Was Noten- 
kenntnis und Fingerfertigkeit angeht, ist nach der Aussage des musik- 
kundigen Leiters der Anstalt ihm kaum ein Stück zu schwer; aber 
nur mit Mühe, wenn laut dabei gezählt wird, ist ihm der Takt bei- 
zubringen. 


Auch hier tritt die Tatsache besonders auffallend in die Er- 
scheinung: »Die Vp. ist nicht imstande, in Komplexen psychisch zu 
arbeiten. Denn Takte und Rythmen sind ja größere Vorstellungs- 
komplexe, die von der Vp. nicht bewältigt werden.« 


Mebrieistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 243 


6. Kann Vp. noch im Kopf rechnen? 


Zunächst mußte Josef im Rechenheft für psychiatrische Kliniken 
addieren. Beim ersten Versuch wurden in 3><3 Minuten 742 Addi- 
tionen ausgeführt, beim zweiten in 8><3 Minuten 920 Additionen 
beim dritten in 10 >< 3 Minuten 1342 Additionen; also durchschnitt- 
lich in der Minute 22, 38, 45 Additionen. Der Übungsfaktor machte 
sich stets stark bemerkbar. 

Ferner wurde in den 4 Rechenspezies mit 2-, 3- und 4stelligen 
Zahlen geprüft, wobei auch Brüche vorkamen. Auf eine einzelne 
Leistung kommt eine durchschnittliche Reaktionszeit von 2,22”. Fehl- 
reaktionen waren nicht zu verzeichnen. 

Der Zögling rechnet demnach wie ein normaler Schüler der Ober- 
stufe einer Volksschule. 


4. Abschnitt. 
Physiologisch-biologische Voraussetzungen. 


Wenn man die seelischen Zustände eines Schwachsinnigen unter- 
suchen will, wird man nicht an der Frage nach der erblichen Be- 
lastung vorbeikommen können. Die bis jetzt behandelte Untersuchung 
hat lediglich gegenwärtige Leistungen des seelischen Lebens bei unserer 
Vp. festgestellt und diese Tatachen psychologisch zu deuten versucht. 
Aber das Warum? dieser eigenartigen Zustände wird beantwortet 
durch die Vererbungslehre, die uns die physiologisch - biologische 
Grundlage der psychischen Eigenart erkennen läßt. 

Bei den nun folgenden Ausführungen sind wir angewiesen auf 
einen Bericht, den der Vater unserer Vp. bereitwilligst und in dankens- 
werter Offenherzigkeit gegeben hat und der besonders mit Rücksicht 
auf die Stellung des Schreibers als Hauptlehrer den Charakter strenger 
Ubjektivität an sich trägt. Danach bekundete unsere Vp. schon früh 
ein gutes Gedächtnis, indem sie bereits mit 4—5 Jahren sämtliche 
Blumen des Schulgartens mit botanischen Namen kannte und mit 
Il Jahren die Osterdaten von 1583—2000 wußte und die einzelnen 
Daten in die Wochentage umzurechnen verstand. Diese merkwürdige 
Veranlagung gab dem Vater Anlaß zu großer Sorge, zumal sein Sohn 
in der Schule außer dem ausgeprägten Gedächtnis für Zahlen nichts 
leistete und für die Lehrer eine Qual und für die Mitschüler eine 
Zielscheibe des Spottes war; denn er erwies sich als unfähig, in Zu- 
sammenhänge, wie geschichtliche Tatsachen und Begebenheiten, in 
angewandte Aufgaben, Einsicht zu gewinnen. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 17 


244 A. Theissen: 


Man versuchte verschiedentlich, den Knaben in Erziehungs- 
anstalten zu fördern, jedoch ohne Erfolg. Sowohl der Vater, wie der 
Großvater bemühten sich, jener mit Strenge, dieser mit überaus großer 
Geduld und Hingebung, dem jungen Menschen ein lebensnotwendiges 
Wissen zu vermitteln, wobei der Großvater unstreitig den größten 
Erfolg erzielte, so daß sein Enkel nicht bloß mit 14 Jahren das 
Pensum der Volksschule zur Not erreichte, sondern auch im Klavier- 
spielen sich so viel Geschick und Kenntnisse aneignete, daß er nach 
dem Bericht des Vaters sogar schwere Stücke vom Blatt spielen 
konnte. Die Kriegsverhältnisse brachten es mit sich, daß sowohl der 
Vater wie der Großvater sich wenig mehr um die Ausbildung ihres 
Sorgenkindes kümmern konnten. Josef kam zu verschiedenen Gärtnern 
in die Lehre, wurde aber nach kurzer Zeit wieder wegen Un- 
brauchbarkeit entlassen, weil er im Geschäft sich ungeschickt benahm 
und von gewissenlosen Menschen sich ausbeuten ließ.. Dann machte 
er wieder Bekanntschaft mit verschiedenen Anstalten, bis er schließ- 
lich im St. Josefsheim zu Waldniel landete, wo er in der Gärtnerei 
beschäftigt ist. Die Erziehungsgeschichte dieses Menschen ist bis jetzt 
ein fortwährender Wechsel von Pädagogen, Methoden und Umgebung 
gewesen. Man staunte über seine Gedächtniskunst und hielt ihn für 
außergewöhnlich begabt und andererseits wußte man wegen seiner 
Ungeschicklichkeit und Schwachsinnigkeit nichts mit ihm anzufangen, 
und jeder war froh, die Verantwortung für dieses Erziehungsobjekt 
wieder anderen Händen anvertrauen zu können. 

Soweit in großen Umrissen die bisherigen Lebensschicksale 
unserer Vp. 

In der Geschichte der Vorfahren, die aus 2 Generationen be- 
kannt ist, sind außer den »Normalen« 3 Typen zu unterscheiden: 

1. die Trinker, 2. die Schwermütigen, 3. die Überbegabten. 

In der väterlichen Linie sind in 2 Generationen 3 Trinker und 
2 Überbegabte. Unter den letzteren ist besonders der Großvater 
unserer Vp. eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Er war ein über- 
aus befähigter Lehrer und Pädagoge, rhetorisch und schriftstellerisch 
tätig und bis in sein hohes Alter (er starb mit 86 Jahren) von 
eisernem Fleiße beseelt, so daß er noch mit 85 Jahren täglich 10 und 
noch mehr Unterrichtsstunden im Polnischen gab. Besonders auf- 
fällig war seine Gedächtnistreue. Als Amtmann des Dorfes war er 
lebhaft an dem Wohl und Wehe seiner Nachbarn interessiert. Sein 
Sohn schreibt über ihn folgendes: »Er hatte ein glückliches Ge- 
dächtnis; er wußte von allen Bewohnern das Alter, den Geburtstag, 
die Anzahl ihrer Ackermorgen, die Verwandtschaftsverhältnisse usw. 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 245 


Nach 20 Jahren wußte er noch, daß die Soscka Seleck, die er als 
Standesbeamter damals getraut, dann aber nicht mehr gesehen hatte, 
am 27. Oktober 1864 geboren war. 

Dieser vielgereiste und welterfabrene Lehrer hatte mit Recht 
den Beinamen: »Lebende Geschichte und sprechende Geographie.« 

In der mütterlichen Linie überwiegt das schwermütige Element. 
Während schon die Großmutter väterlicherseits eine stille, scheue 
Frau war, trug die Großmutter mütterlicherseits offensichtlich die 
Symptone der Melancholie an sich. 6 Geschwister starben, wie unser 
Gewährsmann berichtet, am Gehirnschlag. Von ihren Kindern sind 
die 2 Söhne gut begabt und in verantwortlichen Stellungen; die 
Töchter scheu und schwermütig; die Mutter unserer Vp. sogar aus- 
gesprochen melancholisch. Die vertraülichen Mitteilungen ihres 
Mannes lassen dies mit aller Deutlichkeit erkennen. Von ihren 
5 Kindern sind 2 in jugendlichem Alter an Kinderkrankheiten ge- 
storben; drei Mädchen sind normal; der noch lebende Sohn ist unsere 
Vp., in dem das Erbgut von väterlicher und mütterlicher Seite 
möglicherweise so zur Geltung kommt, daß er einseitig mit einem 
hervorragenden Gedächtnis begabt ist, im übrigen aber, so darf man 
vermuten, leidet er an den Folgen des Alkoholismus im väterlichen 
Stamme und der Melancholie im mütterlichen Zweig. 

Bisweilen hört man die Ansicht, als ob einseitige Begabung ein 
Symptom von Schwachsinn oder Degeneration wäre. Dieser Satz 
dürfte wohl kaum Anspruch auf Gültigkeit haben; denn die tägliche 
Erfahrung belehrt uns, daß Menschen mit einseitiger Begabung, z. B. 
in Musik, Rechnen und dgl. mit Fug und Recht Anspruch darauf 
erheben, als »Normale« betrachtet zu werden. Es scheint vielmehr 
der Fall so zu liegen, daß, wenn ein Schwachsinniger eine Spezial- 
begabung zeigt, diese Einseitigkeit, die sich aus Vererbung herleitet, 
sich gegen jenes Erbgut durchzusetzen vermocht hat, welches in ver- 
hängnisvoller Weise die physiologische Grundlage für ein normales 
Geistesleben angegriffen und gestört hat. 

Ferner macht es den Anschein, als ob die Einseitigkeit bei 
Schwachsinnigen das gesamte Interesse gleichsam aufsauge, so daß 
staunenerregende Leistungen auf einem bestimmten Gebiete zustande- 
kommen, während im übrigen die geistige Minderwertigkeit offen zu 
Tage tritt. 

Von dieser Einstellung aus sind uns sowohl die Mehrleistungen 
als auch die psychischen Mängel unserer Vp. verständlich, und von 
hier aus ergeben sich auch Gesichtspunkte und Winke für die Er- 


ziehung der Schwachsinnigen überhaupt. 
| 17* 


246 A. Theissen: 


5. Abschnitt. 
6esamtbetrachtung. 


a) Die Mehrleistung. 

Die Zahl der Wiederholungen bei der Einprägung der Tabelle 
ist ziemlich groß; über das Vergessen können nur Vermutungen 
angestellt werden; sicher ist, daß Vp. allmählich eine Anzahl der 
Daten vergißt; der Zögling benutzt darum die freie Zeit und die 
willkürlichen und unwillkürlichen Arbeitspausen dazu, die Daten zu 
repetieren. Man kann sogar sagen: Wo der Junge geht und steht, 
er beschäftigt sich meist mit den Osterdaten. Er wird dazu angeregt 
durch die gelegentlichen »Vorführungen«, bei denen er stolz seine 
Kunst zeigt. Fehlreaktionen wurden bei späterem Nachfragen korri- 
giert, andere, vorher richtige, Antworten wurden später zu Fehl- 
reaktionen. 

Wertvoller ist der Aufschluß, den die Betrachtung der Reaktions- 
zeit uns gibt. 

Bei dem Nennen von Osterdaten beträgt die durchschnittliche 
Rzt.: 1,75“; dabei muß wohl bedacht werden. daß sämtliche Reaktions- 
zeiten berechnet wurden, so daß die bei Versuchen erzielten hohen 
Reaktionszeiten den Durchschnitt wesentlich erhöhen. Beim Abfragen 
ist die Rzt.— 1”, d. h. auf die Fragen folgen die Antworten Schlag 
auf Schlag. 

Bei der Errechnung des Wochentages ist die Durchschnitts- 
Rzt.:= 4,2". Bei dem Nennen der Osterdaten ist Reiz-Reaktion ein 
kleiner Komplex von 2 Gliedern: Jahreszahl, Datum; bei der Tag- 
bestimmung muß die Reproduktionstendenz einen größeren Komplex 
durchlaufen: Jahreszahl-Osterdatum — 1. Tag des folgenden Monats — 
Das Reizdatum. Daraus ergibt sich eine größere Reaktionszeit. 

Lohnend ist auch eine Betrachtung der Fehlreaktionen. 

Die Osterdaten für die 418 Jahre liegen auf der Zeitspanne vom 
22. März bis zum 25. April; so kommt es, daß manche Jahre das- 
selbe Datum haben. 

Man könnte nun vermuten, daß die Fehlreaktionen dort häufig 
auftreten, wo die meisten Jahre mit demselben Osterdatum versehen 
sind. Das ist nicht der Fall. Ferner fallen die Fehlreaktionen nie 
außer der Zeitspanne vom 22. März bis 25. April, meist wird ein 
Datum von einer gleichklingenden oder verwandten Zahl genannt: 
z. B. gefragt war das Osterdatum von 1704; es wurde genannt das Datum 
für 1904, anstatt für 1682 für 1782, anstatt für 1886 für 1986 ust 


Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsinnigen. 247 


Verfügt nun die Vp. über ein ausgesprochenes Zahlen- 
gedächtnis? 

Auf Grund vorliegenden Materials muß man die Frage verneinen. 
Der Zögling bevorzugt die Zahlen nicht wesentlich vor Buchstaben. 
Musiknoten und farbigen Darstellungen. 

Er ist ein sogenannter Kalenderkünstler; dank seiner biologisch 
fundierten Veranlagung und seiner mit Eifer fortgesetzten Übungen 
hat er es zu dieser staunenswerten Mehrleistung gebracht, so daß er 
nicht bloß die Osterdaten weiß und die Tagbestimmungen ausführt, 
sondern auch die Geburtsdaten von allen Persönlichkeiten, die sein 
Interesse erwecken, zu erfahren sucht, den Wochentag bestimmt und 
diese Daten nicht mehr vergißt; ebenso sind die Daten von einzelnen 
Ereignissen ihm stets präsent. 

Bei der Untersuchung über 

neue Gedächtnisleistungen 
wollen wir nur die auffallende Tatsache anführen, daß die Güte der 
Leistung in der Hauptsache abhängig ist von der Komplexart oder 
besser gesagt: Komplexkonstruktion. Je kleiner der Komplex, um so 
besser ist die Leistung; bei der Einpräguug von kleinen Komplexen, 
die bisher der Vp. fremd waren (sinnlose Silben), nimmt die anfäng- 
lich große Zahl der Wiederholungen rasch ab. 

Verhältnismäßig gute Leistungen bei unserer Vp. sind demnach: 
Einprägung und Reproduktion kleiner Komplexe. 


b) Die psychischen Mängel 
sind in der Untersuchung, besonders in der Intelligenzprüfung, klar 
zutage getreten und psychologisch analysiert worden. Die Haupt- 
ursache war immer wieder die Art der Komplexbildung. 

Wir können demnach als vornehmliches Resultat der vorliegenden 
Arbeit buchen: 

Das gesamte psychische Leben unserer Vp. äußert sich in kleinen 
Komplexen; dadurch erklärt sich auch die Anomalität auf intellek- 
tuellem Gebiet und in bestimmten Gedächtnisleistungen, bei denen 
die Einsicht in größere Komplexe Vorbedingung ist; andererseits 
werden dadurch aber nicht die Gedächtnisleistungen, bei denen es 
sich um Lernmaterial von kleiner Komplexkonstruktion handelt, vorab 
nicht die Mehrleistung unmöglich gemacht. 

c) Welche Möglichkeit bestebt, den Schwachsinn bei 
unserer Vp. zu beheben und welche Winke er- 
geben sich aus unserer Untersuchung für die Er- 
ziehung der Schwachsinnigen überhaupt? 


248 A. Theissen: 


L 


Nach unserer Ansicht ist es möglich, den Zögling, der als Vp. 
diente, so zu erziehen, daß er selbständig den Kampf ums Dasein 
in irgend einem Berufe aufnehmen kann. Wir setzen dabei natürlich 
voraus, daß nicht irgend eine Störung des Organismus und besonders 
im Zellenleben auftreten kann, die wir bei dem Mangel an medizinischen 
Kenntnissen nicht voraussehen und nicht in Rechnung stellen konnten. 

Die Erziehung unserer Vp. müßte darauf bedacht sein: 

a) die Aufmerksamkeit von den »Gedächtniskünsten« abzulenken; es 
müßte streng darauf gesehen werden, daß dem Zögling keine Gelegen- 
heit mehr geboten würde, seine Kunstin Tagbestimmungen zu zeigen; 

b) in irgend einem passenden Berufe die notwendigen Kenntnisse 
in ruhiger, klarer, bestimmter, oft wiederholender Darlegung in 
kleinen Komplexen mit streng logischem Aufbau zu vermitteln 
und die Anwendung der Kenntnisse in kleinen Fortschritten zu 
überwachen ; 

c) darüber hinaus einen kleinen Wissensschatz zu geben, der die 
Beziehungen im Gemeiuschaftsleben in religiöser, kultureller, 
politischer, sozialer Hinsicht erkennen läßt. 

Daß diese Erziehungsarbeit möglich ist, ergibt sich aus der vor- 
liegenden Untersuchung. Die zwei eigens zur Prüfung dieser Frage ein- 
geleiteten Experimente bringen Ansätze, die unsere Behauptung bestätigen, 
im Rahmen dieser Arbeit aber nur als »Anmerkung« gelten können. 

ad a) Um zu sehen, ob der Reproduktionsablauf bei den Ge- 
dächtnisleistungen in der »Kalenderkunst< beeinflußt, d. h. gefördert 
oder gehemmt werden könne, wurde der Versuch gemacht, den 
Zögling durch Farben abzulenken; dabei zeigte es sich, daß »rot« zu 
fördern, während »schwarz« zu hemmen scheint. 

ad b) Die Behauptung, daß der Zögling durch eine Darbietung 
von Wissensstoff in kleinen Komplexen mit logischem Aufbau zur 
Bildung größerer Komplexe, zu einer Beziehungserfassung und damit 
zu Denkakten kommen könne, wird bestätigt durch einen Versuch 
mit Zahlenkarrees. 

V.-A.: 

Der Zögling sollte das System der Aufnotierung der Zahlen in einem Feld 
mit 16 Karrees finden. 

Es wurde der Vp. zunächst ein Blatt mit leeren Karrees vorgelegt; die ein- 
zelnen Karrees mußten gezeigt und gezählt werden. Dann wurden nacheinander 
23 Blätter mit Zahlenkarrees vorgezeigt, wobei ein Blatt stets eine oder zwei (unter 
Umständen auch mehrere) Zahlen in der Reihe 1—9 mehr enthielt als das vorhergehende. 


Das erste Biatt trug nur die Ziffern 1 und 2. Die Zahlen mußten jedesmal 
in ein leeres Karree eingetragen werden. Die Fragen, die zwischendurch gestellt 





Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses bei einem Schwachsionigen. 249 


wurden, besonders dann, wenn das System der Aufzeichnung im nächsten Karree 
eine entscheidene Richtung nahm, lauteten: »Womit fangen die Zahlen immer an ?« 
— (Die Aufmerksamkeit sollte auf die Ziffer 1 gelenkt werden.) — »Wie gehen 
die Zahlen weiter?« (Um eins mehr.) 

Durch diese Versuchsanordnung fand die Vp. das System der Aufnotierung 
und zwar in einer Spirale von links nach rechts und in Form der Diagonalen, bald 
links, bald rechts oben beginnend. Die Vp. notierte nicht mehr, wie in früheren 
Versuchen (siehe 2. Abschnitt), in Kolonnen von oben nach unten. Der ent- 
scheidende Moment in der Systemfindung lag bei Karree 9: 





EEREBEN 


Vp. notierte nach einer Lernzeit von 10“ richtig in 6“ in der systematischen 
Aufeinanderfolge. 

Von da ab wuchs auch das Interesse und der Eifer der Vp. So kam es, daß 
jetzt die Vp. ein in Spiralenform gefülltes Zahlenkarree nach einer Lernzeit von 
34“ in richtiger Weise aufnotieren konnte; ein Karree mit der Aufeinanderfolge 
der Ziffern in Form der Diagonalen und Spirale, indem die von den Diagonalen 
nicht ausgefüllten Karres von rechts nach links besetzt werden, wurde nach einer 
Lernzeit von 1°9“ mit einer kleinen Abweichung wiedergegeben. 

In der an den Versuch sich anschließenden Unterhaltung bemerkte die Vp. 
auf die Frage: »Was hast Du denn jetzt gelernt?«: 

»Es geht immer der Reihe nach, in einer Richtung; ich sehe, wo die 1 steht, 
und dann geht’s zur 2 und dann zur 3 usw.« 

Am anderen Tage wurden Karrees mit Buchstaben gegeben ohne die oben 
geschilderte V.-A. Das System wurde sofort gesucht und erfaßt, so daß die Vp. 
nach einer Lernzeit von 58” ein mit 16 Buchstaben gefülltes Karree richtig wieder- 
geben konnte in der systematischen Reihenfolge. 

Aus diesen Versuchen ergibt sich: Die Vp. scheint noch 


bildungsfähig zu sein. 





II. 


Welche Winke ergeben sich für die Erziehung der 
Schwachsinnigen überhaupt? 


Es versteht sich von selbst, daß im Rahmen dieser Arbeit, die 
sich mit dem Geistesleben nur eines einzigen Schwachsinnigen befaßt, 
nicht eine fein säuberliche ausgearbeitete Schwachsinnigenpädagogik 
geboten werden kann. Es handelt sich hier nur um die Aufstellung 
einiger Richtlinien : 


250 A. Theissen: Eine Mehrleistung auf dem Gebiete des Gedächtnisses usw. 


Die Schwachsinnigenfürsorge muß stets ergänzt werden 
durch die Schwachsinnigenbildung. 

Das ist nun nichts Neues; der Verein der katholischen Schwach- 
sinnigenanstalten Deutschlands z. B. hat diese Forderung schon längst 
aufgestellt. Jedoch ist das Programm, man kann sagen, in seiner 
Verwirklichung gerade erst angefangen worden, aber noch nicht zur 
vollen Durchführung gekommen. Man bemüht sich, hauptsächlich die 
Schwachsinnigen im schulpflichtigen Alter zu »bilden«, während für 
die schulentlassenen oder die nach Schulentlassung eingelivferten 
Zöglinge nur die sogenannte Fürsorge in Frage kommt, weil man der 
Meinung ist, daß mit diesen Objekten nicht mehr viel zu machen ist 
und höchstens die Frage ventiliert wird, wo im großen Anstalts- 
betrieb der Zögling am besten — im betriebstechnischen Sinne — 
zu gebrauchen ist. 

Wir stellen demgegenüber folgende Richtlinien auf: 

a) Es muß eine Dezentralisation der Schwachsinnigenbildungsarbeit 
eintreten; eine Anstalt darf nicht Zöglinge sämtlicher Schwach- 
sinnsstufen von der Jeisesten Debilität bis zur krassen Idiotie 
beherbergen; es muß eine dauernde räumliche Trennung der 
Zöglinge nach Stufen gewahrt werden; denn das Zusammen- 
leben, oder auch das gelegentliche sich Sehen (Gottesdienst) von 
debilen und ganz idiotischen Kindern ist für erstere zweifels- 
ohne von schädlichem Einfluß. 

b) Zur Ermittlung des Schwachsinnsgrades wäre eine große An- 
stalt mit ausgebautem psychologischen Laboratorium wünschens- 
wert und erforderlich. Diese Anstalt dient als Durchgangs- oder 
Beobachtungsstation.e Von hier aus geht die Verteilung der 
Zöglinge auf die zahlreichen Anstalten der Provinz oder des 
Landes vor sich und zwar so, daß eine Anstalt nur Zöglinge 
derselben Stufe erzieht. 

An diesen Anstalten dürfen nur ausgebildete und ge- 
prüfte Erziehungskräfte tätig sein. Die Anzahl der Zöglinge 
darf ein gewisses Maß nicht überschreiten. 

Wir vertreten den wissenschaftlich berechtigten Optimismus, daß 
durch die Durchführung dieses Programmes noch mehr wie bisher 
schwachbegabte Menschen auf das Leben und die selbständige Lebens- 
führung vorbereitet würden. 

Anmerkung: Vorliegende Abhandlung ist eine verkürzte Wiedergabe einer 
Arbeit, die der Verfasser auf Anregung seines Lehrers des Herrn Professors für 


experim. Psychologie Dr. Linaworsky bei der philos. Fakultät der Universität in 
Köln zur Erlangung der Doktorwürde einreichte. 


Heilpädagogische Bestrebungen. 


In den Tagen zwischen dem 17. und 20. September d. Js. (genaueres Datum 
wird bei der endgültigen Veröffentlichung des Programms noch bekanntgegeben) 
wird der 6. Deutsche Jugendgeriehts-Tag und die 3. Tagung über Psyeho- 
pathen-Färsorge in Heidelberg stattfinden: 

In Aussicht genommen sind folgende Themen: 

1. Jugendgerichts-Tag: 

Handhabung des Deutschen Jugendgerichtsgesetzes. 

Zeugenaussagen von Kindern und Jugendlichen. 

ll. Tagung über Psychopathen-Fürsorge. 

Die Verwahrlosung vom Standpunkt des Psychiaters. 

Die Unerziehbaren vom Standpunkt des Psychiaters. 

Die Verwahrlosung vom Standpunkt des Pädagogen. 
Erziehungsarheit an verwahrlosten männlichen Jugendlichen. 
Erziehungsarbeit an verwahrlusten weiblichen Jugendlichen. 
Die Bewahrung der Tinerziebbaren. 

Öffentliche Abendversammlung: Freitag, 19. September. 

Anfragen und Anmeldungen zur Tagung (ganze Tagung: 5 M., Tageskarte 2 M.) 
sind zu richten an Ruth von der Leyen, Berlin W. 15, Bayerische Straße 9. Nähere 
Angaben folgen im nächsten Heft dieser Zeitschrift. 


Deutsche Vereinigung Deutscher Verein 
für Jugendgerichte u. Jugendgerichtehilfen: zur Fürsorge f. jugendliche Psychopathen: 
Der Vorsitzende: Der Vorsitzende: 
gez. Dir. Dr. Hertz-Hamburg. Dr. Siegmund-Schultze-Berlin. 


Entwurf eines individualpsychologischen Fragebogens!) 


zum Verständnis und zur Behandlung schwer erziehbarer Kinder, verfaßt und er- 
läutert vom »Internationalen Verein für Individualpsychologie«. 

1. Seit wann bestehen Klagen? In welcher äußerlichen und seelischen Situation 

war das Kind, als die Fehischläge sichtbar wurden? Bedeutsam sind: Milieuände- 


1) (Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie Jg. 2, Nr. 2, S. 1—3, 
1923.) Den nachfolgenden Fragebogen des Institutes für Individualpsychologie 
drucken wir ab, da wir annehmen, daß unsere Leser sich dafür interessieren werden, 
obne damit prinzipiell zu der Frage »sollen überhaupt Fragebogen für die Anamnese 
psychopathischer Kinder und Jugendlicher gebraucht werden, oder leisten diese nicht 
etwa einer gewissen Schematisierung Vorschub?« Stellung zu nehmen. 

Die Redaktion. 


252 Heilpädagogische Bestrebungen. 


rungen, Schulbeginn, Schulwechsel, Lehrerwechsel, Geburt jüngerer Geschwister. 
Versagen in der Schule, neue Freundschaften usw. 


2. War es vorher schon irgendwie auffällig? Durch körperliche oder geistige 
Schwäche? Durch Feigheit? Nachlässigkeit? Zurückgezogenheit? Ungeschicklichkeit: 
Eifersucht? Unselbständigkeit beim Essen, Ankleiden, Waschen, Schlafengehen? 
Hatte es Angst vor dem Alleinsein? Vor der Dunkelheit? Ist es klar über seine 
Geschlechtsrolle? Primäre, sekundäre, tertiäre Geschlechtsmerkmale? Wie betrachtet 
es das andere Geschlecht? Wie weit ist seine sexuelle Aufklärung vorgeschiitten? 
Stiefkind? Illegitim? Kostkind? Wie waren seine Pflegeeltern? Besteht noch eiv 
Kontakt? Hat es rechtzeitig gehen und sprechen können? Fellerlos? Rechtzeitige 
Zahnentwicklung? Auffallende Schwierigkeiten beim Schreibenlernen? Rechnen? 
Zeichnen? Singen? Schwimmenlernen? !Hat es sich auffälligerweise an eine einzige 
Person angeschlossen? An Vater? Mutter? Großeltern? Kinderfrau? Zu achten ıst 
auf die Feststellung ciner feindlichen Einstellung zum Leben, auf Ursachen zur Er- 
weckung von Minderwertigkeitsgefühlen, auf Tendenzen zur Ausschaltung vun 
Schwierigkeiten und Personen und auf Züge von Eguismus und Empfindlichkeit. 


3. Hat es viel zu schaffen gemacht? Was und wen fürchtet es am meisten’ 
Hat es nachts aufgeschrien ? Das Bett genäßt? Ist es herrschsüchtig? Auch gegen 
Starke oder nur gegen Schwache? Hat es eınen auffälligen Hang gezeigt, im Bett 
eines der Eltern zu liegen? Plump? Ungeschickt? Rachitis? Intelligenz? Wurde es 
viel geneckt und ausgelacht” Zeigt es äußerliche Eitelkeiten bezüglich Haare, Kleider, 
Schuhe? Nasenbohren ? Nägelbeißen? Gierig beim Essen? 

Geht auf Klarsıellung, ob mit mehr oder weniger Mut nach dem Vorrang gestrebt 
wird. Ferner ob Trotz die Kultivierung seiner Triebhandlungen verbindert hat. 


4. Hat es leicht Kameradschaft geschlossen oder war es unverträglich und 
quälte Menschen und Tiere? Hat es Führerneigung? Oder schließt es sich ab: 
Sammler? Geiz? Geldgier? 

Betrifft seine Kontaktfähigkeit und den Grad seiner Entmutigung. 

5. Wie ist es in allen diesen Beziehungen jetzt? Wie benimmt es sich in der 
Schule? Geht er gerne hin? Kommt es zu spät? Ist es vor dem Schulgang auf- 
geregt, hastet es? Verliert es seine Bücher, Schultasche, Hefte? Aufregung vor 
Schulaufgaben und -prüfungen? Vergißt es seine Aufgaben zu machen oder weigert 
es sich? Vertrödelt es die Zeit? Ist es faul? Indolent? Mangel an Konzentration: 
Stört es im Unterricht? Wie steht es zu seinem Lehrer? Kritisch? Arrogant’ 
Gleichgültig? Sucht es die Hilfe anderer bei seinen Aufgaben oder wartet es immer 
auf deren Aufforderung? Zeigt es sich beim Turnen und Sport ehrgeizig? Hält es 
sich für partiell oder ganz unbegabt? Liest es auffallend viel? Welche Lektüre zieht 
es vor? 


Diese Fragen ergeben die Einsicht in die Vorbereitungen des Kindes für die 
Schule und in den Ausfall des Experiments der Schule bei dem Kinde. Ferner 
auch in seine Stellung zu Schwierigkeiten. 

6. Richtige Nachweise über die häuslichen Verhältnisse, über Krankheiten der 
Familie, über Alkoholismus, Verbrechensneigung, Neurosen, Debilität, Lues, Epilepsie. 
Über den standard of life. Todesfälle? In welchem Alter des Kindes? Ist das Kind 
verwaist? Wer dominiert in der Familie? Ist die Erziehung streng, nörgelnd, ver- 
zärtelnd? Werden die Kinder vor deın Leben geschreckt? Wie ist die Aufsicht? 


Man sieht das Kind in seiner Familienposition und kann ermessen, welche Ein- 
drücke dem Kinde vermittelt wurden. 


Heilpädagogische Bestrebungen. 253 


7. An welcher Stelle der Geschwisterreihe steht das Kind? Ältestes, zweites, 
jüngstes, einziges, einziger Knabe, einziges Mädchen? Rivalitäten? Häufiges Weinen? 
Boshaftes Lachen? Blinde Entwertungstendenzen gegen andere? 

Bedeutsam für die Charakterologie, erklärend in Hinsicht auf die Stellungnahme 
des Kindes zu andern. 

8. Was für Berufswahlgedanken hatte das Kind bis jetzt? Wie denkt es über die 
Ebe? Welchen Beruf üben seine Familienmitglieder aus? Wie ist die Ehe der Eltern? 

Ermöglicht Schlüsse auf Mut und Zuversicht des Kindes für die Zukunft, 

9. Lieblingsspiele? Lieblingsgeschichten? Lieblingsfiguren aus Geschichte und 
Dichtungen? Stört es gerne die Spiele der anderen? Abirren in Phantasien? 
Nüchternes Denken und Ablehnung von Phantasien? Tagträume? 

Ergibt Hinweise auf Vorbilder in der Hinrichtung auf eine Heldenrolle. 


10. Älteste Erinnerungen? Eindrucksvolle oder oft wiederkehrende Träume? 
(Vom Fliegen, Fallen, Gehemmtseiv, Zuspätkommen zum Eisenbahnzug, Wettlauf, 
Gefangensein. Angstträume.) Man findet dabei oft Neigung zur Isolierung, warnende 
Stimmen im Sinne übergroßer Vorsicht, Ehrgeizregungen und den Vorzug, der 
einzelnen Personen, dem Landleben usw. gegeben wird. 


11. In welcher Hinsicht ist das Kind entmutigt? Fühlt es sich zurückgesetzt? 
Reagiert es günstig auf Aufmerksamkeit und Lob? Abergläubische Vorstellungen ? 
Läuft es vor Schwierigkeiten davon? Fängt es verschiedene Dinge an, um sie bald 
stehen zu lassen? Ist es seiner Zukunft unsicher? Glaubt es an die nachteiligen 
Wirkungen einer Vererbung? Wurde es von seiner Umgebung systematisch ent- 
mutigt? Pessimistische Weltanschauung ? 

Ergibt wichtige Gesichtspunkte dafür, daß das Kind den Glauben an sich ver- 
loren hat und in einer fehlerhaften Richtung seinen Weg sucht. 


12. Weitere Unarten, wie Grimassenschneiden, sich dumm, kindisch, komisch 
gebärden? Wenig mutige Versuche, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? 


13. Hat es Sprachfehler? Ist es häßlich? Klumpfuß? X- oder O-Beine? 
Schlecht gewachsen? Abnorm dick? Abnorm groß? Abnorm klein? Hat es 
Augen-. Ohrenfehler? Ist es geistig zurückgeblieben? Linkshändig? Schnarcht es 
bei Nacht? Ist es auffallend schön ? 

Hier handelt es sich um Lebensschwierigkeiten, die das Kind meist überschätzt. 
Es kann dadurch dauernd in die Stimmungslage der Entmutigung kommen. Eine 
ähnliche fehlerhafte Entwicklung findet man öfters auch bei sehr schönen Kivdern. 
Sie geraten in die Suggestion, als ob sie alles geschenkt, ohne Anstrengung erhalten 
müßten und versäumen dabei die richtigen Vorbereitungen fürs Leben. 


14. Spricht es offen von seiner Unfähigkeit, von seiner »mangelnden Be- 
gabung« für die Schule? Für die Arbeit? Für das Leben? Selbstmordgedanken ? 
Ist ein zeitlicher Zusammenhang zwischen seinen Mißerfolgen und seinen Fehlern? 
(Verwahrlosung, Bandenbildung.) Überwertet es den äußeren Erfolg? Ist es servil? 
Frömmelnd? Revoltierend? 

Ausdrucksform weitgebender Entmutigung. Oft erst nach vergeblichen Ansätzen 
emporzukommen, die wegen der anhaftenden Unzweckmäßigkeit, aber auch mangels 
genügenden Verständnisses der Umgebung scheitern. Sodann Suchen einer Eısatz- 
befriedigung auf einem Nebenkriegsschauplatz. 

15. Positive Leistungen des Kindes. 


Wichtiger Fingerzeig, da möglicherweise Interesse, Neigung und Vorbereitungen 
des Kindes in eine andere Richtung als die bisher eingeschlagene weisen. 


954 Heilpädagogische Bestrebungen. 


Auf Grund dieser Fragen, die nicht punktweise, sondern gesprächsweise zu 
stellen sind, niemals schablonenmäßig, sondern gleichzeitig aufbauend, ergibt sich 
immer ein Bild der Persönlichkeit, aus der die Fehlschläge wohl nicht als berechtigt 
aber als begreiflich zu verstehen sind. Die aufgedeckten Irrtümer sind immer freund- 
lich. mit Geduld und ohne Drohung aufzuklären. 


Bericht über die Sitzung der »Gesellscehaft für Physiologie 
und Psychologie des abnormen Kindes. Wien. 


In seinem Vortrage „Über den Ursprung der Neurose* erläuterte Herr 
Dr. Alfred Adler an Hand zahlreicher Beispiele aus der Praxis die Tatsache, dab 
der Grund zu dem im späteren Leben dem Beobachter sich bietenden Gesamt- 
charakterbild schon in den ersten Lebensmonaten des Kindes durch die Eindrücke 
des Milieus gelegt wird. Alle Kinder bringen, soferne keine organischen Anomalien 
des Nervensystems vorhanden sind, die gleichen geistigen Anlagen ins Leben mit. 
Durch seine natürliche Hilflosigkeit ist das Kind seiner Umgebung sozusagen aus- 
geliefert, aus dieser Abhängigkeit von den Erwachsenen leitet es ein Gefühl de! 
eigenen Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit ab. Dieses erhält durch die fort- 
gesetzten Versuche, selbst Herr der jeweiligen Situation zu werden, fortwährend 
neue Nahrung. In dieser Zeit muß das Kind in seinen Bemühungen durch jede 
Art der Ermutigung ununterbrochen aufgerichtet werden, soll nicht das Gefübl der 
Minderwertigkeit die Oberhand bekommen. Mangel an Verständnis, Familienver- 
hältnisse, die materielle Lage bringen es häufig mit sich, daß diese Aufmunterung 
des Kindes unterbleibt und damit ist die Grundlage der spateren Neurose gegeben. 
Besteht dann außerdem noch irgend eine organische, wenn auch noch so gering- 
fügige, Abweichung von der Norm, so ist dieselbe um so sicherer fixiert. 


Die stark ausgeprägten Minderwertigkeitsgefühle des Kirdes bilden aber anderer- 
seits einen unausgesetzt wirkenden Ansporn, trotz allen Mißgeschickes dennoch auf 
irgend einem Gebiete zu triumphieren, sie erzeugen einen Ehrgeiz, der den Minder- 
wertigkeitsgefühlen direkt proportional ist, ja sogar darüber weit hinausgeht, vor 
keinem Hindernis zurückschreckt, sich auf alle mögliche Weise in Form von so- 
genannten guten und schlechten Eigenschaften äußert. Hochmut, Eitelkeit, Streit- 
sucht, Faulheit, Egoismus u. v. a. einerseits, Großmut, Bescheidenheit, Fleiß, Aus- 
dauer usw. anderseits bilden die Waffen in dem Kampfe, den das Kind zur 
Befriedigung seines Ehrgeizes gegen seine Umgebung führt. In extremen Fällen 
scheut das Kind auch vor der Anwendung solcber Kampfmittel nicht zurück, welche 
die vollständige seelische Verwahrlosung charakterisieren. Umgekehrt haben solche 
»Kompensationserscheinungen« zu den schönsten und wertvollsten Kulturleistungen 
angespornt. Beethoven wäre niemals der große Beethoven geworden, wenn er 
nicht seit frühester Kindheit an einem chronischen Öbrenleiden gelitten hätte. 


Solange nun im äußeren Leben des Kindes keine nennenswerte Veränderung 
eintritt, kommt es über die sich ihm entgegenstellenden kleinen Klippen ganz gut 
hinüber: verzärtelte Kinder, also besonders einzige oder von mehreren Geschwistern 
das jüngste, können sogar, wenn sie Glück haben und die ihnen gewohnte Treib- 
bausatmosphäre bestehen bleibt, ihr ganzes Leben ohne besonders schwere Kon- 
flikte abwickeln. Aber im Leben jedes Menschen gibt es drei wichtige Wende- 
punkte, welche dennoch beim neurotisch veranlagten Individuum die Neurose zum 
Ausbruch bringen, und wo gerade der verwöhnte Mensch seicht scheitert: der Ein- 


Heilpädagogische Bestrebungen. 255 


tritt in die Schule. der Eintritt in eine Beziehung zum anderen Geschlecht und der 
Eintritt in den Beruf. Wenn namentlich in der ersten Frage nicht durch fort- 
währende Ermutigung des neurotisch veranlagten Kindes halbwegs eine Kongruenz 
zwischen den ehrgeizigen Absichten und Träumen mit den erreichbaren Möglich- 
keiten hergestellt wird, so erfolgt gewöhnlich schon hier der erste Rückzug, das 
Kind flüchtet in den engen Rahmen der ihm vertrauten Familie, oder, wenn es hier 
nicht die geforderte Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit findet, in die Einsamkeit, es 
wird verschlossen, mürrisch, scheu, ängstlich, schüchtero, unseibständig, es äußert 
alle möglichen Krankheitssymptome, meist anderen abgeschaute, die es in den Stand 
setzen, der Schule soviel als möglich fern zu bleiben; durch diese Rückzugstaktık 
erzwingt es einerseits ein plus an Aufmerksamkeit von seiten seiner Familie, es 
gewinnt einen höchst plausiblen Entschuldigungsgrund für sein mangelbaftes Fort- 
kommen in der Schule. Unzählige ganz verschiedenartige kindliche Äußerungen 
sind so nur als Furcht vor einer eventuellen Niederlage, als Flucht auf einen selbst 
konstruierten Nebenkriegsschauplatz zu werten. So ist es auch zu erklären, daß 
Vorzugsschüler in ihrem späteren Leben meist nicht das halten, was sie in der 
Schulzeit versprochen haben. Für sie ist das Aufgehen in den Anforderungen der 
Schule eine Flucht vor den sonstigen Aufgaben des Lebens und Mittel zur Be- 
friedigung persönlicher Eitelkeit. 


Ganz analog dazu ist das Verhalten des Neurotikers beim Eingehen der ersten 
Liebesbeziehung. Der geringste körperliche Defekt, Furcht vor den Folgen eventuell 
ausgeübter Onanie, das Vorbild eines besonders herrischen Vaters, einer streit- 
süchtigen Mutter, unglückliches Eheleben der Eltern überhaupt, zeitigen im Moment 
der Entscheidung die schwersten und nachhaltigsten Folgen, die sich in den ver- 
schiedensten psychischen und sexuellen Abweichungen, wie Homosexualität, Perver- 
sitäten aller Art, Flucht vor dem anderen Geschlecht, Platzangst, Pyromanie usw. 
manifestieren können. 


Und schließlich ist der Eintritt in den selbständigen Beruf ein nicht minder 
kritischer Wendepunkt im Leben des Einzelindividuums als die beiden vorerwähnten. 
Furcht vor Enttäuschungen, vermeintliche Zurücksetzung durch Kollegen und Vor- 
gesetzte auf der einen Seite, maßloser Ehrgeiz auf der anderen zeitigen als Aus- 
fluß der von frühester Jugend an gesammelten Minderwertigkeitsgefühle auch hier 
die sonderbarsten Ergebnisse, die nicht selten die Existenz des Neurotikers auf das 
schwerste gefährden können. 

Zusammenfassend kann mən sagen, daß das Leben jedes Menschen sich ent- 
lang einer Leitlinie entwickelt, die vom Ehrgeiz, der das Gegengewicht, die Kompen- 
sation der kindlichen Minderwertigkeitsgefühle bildet, wie ein roter Faden mehr oder 
minder gerade durch das ganze Leben gezogen wird bis zu einem fiktiven Ziel, das 
je nach der Größe des Ehrgeizes in erreichbarer oder unerreichbarer Höhe in den 
frühesten Lebensabschnitten bereits fixiert erscheint. 

In der Debatte fragt Dozent Dr. Fröschels, warum keinerlei experimentelle 
Beweise dafür versucht wurden, daß durch Minderwertigkeitsgefühl die veurotischen 
Symptome auftreten können. An jemand, der z. B. eine ängstliche Hemmung hat, 
findet man physiologischerweise z. B. Pulsbeschleunigung, aber doch nicht Extra- 
systolen. In der modernen Stotterforschung habe man sich bemüht, jedes Symptom 
experimentell zu erzeugen. 

Dr. Allers sagt, Herr Fröschels verlange von der Pathophysiologie zu viel, 
denn auch die normale Physiologie könne z. B. nicht erklären, auf welche Weise 
jemand, der es beabsichtigt, die Hand erhebe. Fröschels erwidert, wenigstens 


256 Ausbildungsfragen. 


gewisse Zwischenstadien zwischen angenommenen Reizen und der Reizwirkung müssen 

aufgedeckt werden; dieser Forderung geborche jede Wissenschaft des Lebenden. 
Dr. Adler verweist in seinem Schlußworte auf die eindeutigen Befunde der 

Pathologie, die nicht erst weiter erklärt werden müssen, weil ihre Sprache genug klar sei. 


Ausbildungsfragen. 


An dem Seminar für Jugendwohlfahrt, Berlin W 56, Schinkelplatz 6 (Deutsche 
Hochschule für Politik) haben soeben 21 Schüler die Abschlußprüfung bestanden. 
Sie haben neben einer durchgreifenden theoretischen Schulung in allen die Jugend- 
wohlfahrt betreffenden Gebieten (rechtlicher, sozialpsychologischer, pädagogischer, 
medizinischer und organisatorischer Art) eine gründliche Einführung in die Praxıs 
der amtlichen Jugendwohlfahrtsarbeit erfahren. Eine Reibe der Schüler sind 
1 Jahr und länger in Berliner Bezirksämtern tätig gewesen und haben es sich an- 
gelegen sein lassen, in gelegentlicher mehrwöchiger, in einzelnen Fällen auch mehr- 
monatiger Mitarbeit, in Anstalten auch die geschlossene Fürsorge kennen zu lernen. 
Die Seminarleitung ist gerne bereit, über die spezifische Eignung aller dieser Kräfte 
Auskunft zu geben und spricht hiermit die Bitte aus, sich im Bedarfsfalle an sie 
wenden zu wollen. Besonders für die Arbeit in Berufsvormundschaft, Jugendfürsorge 
und Jugendpflege glaubt sie geeignete Kräfte empfehlen zu können. Übrigens haben 
sich die Schüler auch mit den Problemen und der Praxis der Familienfürsorge ver- 
traut gemacht. Der Seminarleiter Carl Mennicke. Berlin W 56, Schinkelplatz 6. 


Ausbildung in der Psychopathenfürsorge Hamburg. 


Das Jugendamt Hamburg veranstaltete im Mai dieses Jahres für seine Beamten 
und Angestellten einen Lehrgang über Psychopathenfürsorge.. Der Leiter der 
Jugendabteilung der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, Dr. Rautenberg, hatte sich 
bereit gefunden, diesen Kursus unentgeltlich abzuhalten. Ziemlich breit angelegt, 
soll der Lehrgang, der sich mit je 2 Wochenstunden über 3 Monate erstrecken 
wird, seinen Ausgangspunkt bei den häufigsten geistigen und seelischen Erkrankungen 
von Kindern und Jugendlichen nehmen. Auf dieser Basis sollen danu die psycho- 
pathischen Erscheinungsformen ausführlich behandelt werden. Aus dem reichen 
Krankenmaterial der Anstalt werden Vorstellungen erfolgen. 

Der Lehrgang ist ein erster Versuch; es sollen vor allem das Erzieher- und 
Lehrerpersonal aus den zahlreichen Anstalten des Jugendamtes sowie die Außen- 
dienstbeamten vertraut gemacht werden mit den wichtigsten Formen seelischer 
Anomalien bei Kindern und Jugendlichen, um ihnen dadurch in ihrer Erziehungs- 
arbeit die Möglichkeit zu geben, anomale Kinder frühzeitig zu erkennen und einer 
ärztlichen Untersuchung zuzuführen. Die eigentlich heilpädagogischen Probleme 
werden zunächst noch im Hintergrund stehen, jedoch besteht die Absicht, auch 
hierüber im Anschluß an diesen ersten Kurs eine Arbeitsgemeinschaft abzuhalten. 

Dr. Paulssen. 


Gesetzgebung. 257 


Gesetzgebung. 


Erlaß vom 31. März 1924 
betr. fachliche Berufsschulung für das Hauptfach Gesundheits- 
fürsorge bei der staatlichen Prüfung von Wohlfahrtspflegerinnen 
— III W 4681. 


Nachdem gemäß Erlaß vom 20. Februar 1923 — IM IV 518 —') die Vor- 
schriften über die staatliche Prüfung von Säuglings- und Kleinkinderpflegerinnen 
mit Wirkung vom 1. Oktober 1923 ab den Naclıweis einer erfolgreichen und ein- 
wandfreien ununterbrochenen zweijährigen Ausbildung an einer staatlichen oder 
staatlich anerkannten Säuglingspflegeschule verlangen, bestimme ich unter Abänderung 
des § 4 Ziffer 5a der Vorschriften über die staatliche Prüfung von Wohlfahrts- 
pflegerionen vom 22. Oktober 1920 und meines Erlasses vom 26. April 1923. 
— IU G 1477 —?). daß der einjährige Besuch einer staatlichen oder. staatlich an- 
erkannten Säuglingspflegeschule als ausreichende fachliche Berufsvorbildung für das 
Hauptfach Gesundheitsfürsorge anerkannt wird. Voraussetzung hierfür ist aber der 
Nachweis, daß die Bewerberin während dieses Jahres das durch Erlaß vom 31. März 1917 
festgesetzte Maß von praktischen und theoretischen Kenntnissen in der Säuglings- 
pflege erlangt hat. Die Lehrgänge können durch eine Prüfung abgeschlossen sein, 
die aber nicht den Charakter einer staatlichen Prüfung von Säuglıngs- und Klein- 
kinderpflegerinnen nach den Vorschriften vom 20. Februar 1923 tragen dart. 
In den den Wohlfahrtsschülerinnen auszustellenden Ausweisen ist die Eigenart des 
einjährigen Lehrgangs und der nachfolgenden Prüfung hinreichend kenntlich zu 
machen. 

Mein die krankenpflegerische Ausbildung der angehenden Wohlfahrtspflegerinnen 
regelnder Erlaß vom 14. Juni 1922 — III G 910 —?) bleibt durch diesen Erlaß 
unberührt. Hirtsiefer. 


An die Herren Regierungspräsidenten usw. 


Erlaß vom 31. März 1924, 
betr. Personalabbau in der Wohlfahrtspflege — III W 389 —. 


Bei der am 11. Januar d. Js. in meinem Ministerium stattgehabten Be- 
sprechung über die Ausbildung von männlichen Kräften in der Wohlfahrtspflege 
habe ich in der Eröffnungsansprache folgendes ausgeführt: 

Die Lage der gesamten Wohlfahrtspflege hat mich veranlaßt, heute eine 
Konferenz von Sachverständigen einzuberufen. Ich sage Ihnen etwas Wohl- 
bekanntes, wenn ich voller Besorgnis feststelle, daß die Wohlfahrt unseres Volkes 
niemals so bedrängt war wie jetzt. Immer neue Gruppen drohen der Verarmung 
anheimzufallen. Körperliche Verelendung, gesundheitliche Zersetzung und sitt- 
liche Gefährdung greifen um sich. Deshalb hatte unser Volk die persönliche 
Fürsorge und Einzelhilfe auch niemals so notwendig wie jetzt. Das Aufgaben- 
gebiet der privaten wie öffentlichen Fürsorge wird quantitativ und qualitativ 
wachsen und vertieft werden müssen. Neue Hilfsmaßnahmen, neue Methoden. 


1) VMBI. S. 150. 
3 VMBI. S. 263. 
» VMBI. S. 332. 


258 Verschiedenes. 


neue Menschen müssen gefunden werden, wenn wir diese gigantische Not be- 
wältigen wollen. Sie werden deshalb verstehen, daß das Wohlfahrtsministerium 
nicht nur ein sachliches Interesse, sondern auch eine warme Anteilnahme daran 
hat —, weil es sich eben um die Wohlfahrt des Menschen handelt —, wie die 
gesamte Organisation der Wohlfahrtspflege von dem vorgesehenen Abbaugesetze 
erfaßt wird. Vielleicht paßt das Wort Abbau für kein Gebiet so schlecht wie 
für die Wohlfahrt; vielleicht müssen wir von Umgestaltung und Umformung 
sprechen, um nicht Sinnloses und Unvernünftiges zu tun. Die Wohlfahrts- 
aufgaben müssen so erhalten bleiben, daß Volksgesundheit und Volkssittlichkeit 
gewährleistet werden. An dem letzten Reichtum, der uns bleibt, an der Kraft 
unseres Volkes dürfen wir keinen Raubbau mehr treiben. In diesem Zusammen- 
hange möchte ich auch hervorheben, daß die Wohlfahrtspfleger und -Pflegerinnen 
ein verhältnismäßig junger und neuer Stand sind und daß die meisten Wohlfahrts- 
pflegerinnen sicb in einem Angestelltenverhältnis befinden. Würde ein Abbau 
dieser Kräfte mechanisch erfolgen, so würde diese Maßnahme verbängnisvoll 
auf die Arbeiten und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege einwirken. 

Weiter ist im Verlaufe der Besprechung darauf hingewiesen worden, daß die 
preußische Personalabbauverordnung eine Bestimmung wie die im Artikel 15 RAV, 
nicht enthalte, daß Abbau Veıbilligung, aber nicht Aufhören der Erfüllung von 
Staatsaufgaben bedeute. 

Ich gebe Ihnen hiernach anheim, in geeigneter Weise dafür Sorge zu tragen, 
daß bei der großen Bedeutung der Wohlfahrtspflege die Berufskräfte auf diesem 
Gebiet nicht in übereilter und mechanischer Weise abgebaut werden, damit die Mög- 
lichkeit bestehen bleibt, die betreffenden Aufgaben durch fachlich geschulte Kräfte 
auszuüben. Einem Berichte darüber, in welcher Weise der Abbau in der Wohl- 
fahrtspflege erfolgt ist, sehe ich seinerzeit entgegen. 

Hirtsiefer. 

An sämtliche Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Polizeipräsidenter 

in Berlin-Schöneberg. 


Verschiedenes. 


Das Deutsche Archiv für Jugendwohlfahrt hat für den 17. Juni d. Js. eine 
Sitzung seines Verwaltungsrats anberaumt. An diese soll sich eine Konferenz 
mit dem Thema: »Die Organisation der Jugendämter auf Grundlage der Verordnung 
vom 14. Februar 1924« anschließen. Als Referate sind vorgesehen: 

Die Entwicklung der Jugendämter 

1. in Großstädten. Referent: Direktor Dr. Hertz-Hamburg, 
2. in Mittelstädten. Referent: Stadtrat Binder- Bielefeld. 
3. auf dem Lande. Referent: Rechnungsrat Müller-Schorndorf. 

Die Tagung findet in der Kinderheilstätte in Wilhelmshagen b. Erkner statt. 
Beginn der Konferenz 11 Uhr. Nichtmitglieder des Archivs sind zur Teilnahme 
gegen Entrichtung von 1 G.-M (Postscheckkonto Berlin Nr. 41835) zugelassen. 

Anmeldungen erbeten bis 10. Juni an das Deutsche Archiv für Jugendwobl- 
fahrt, Berlin NW. 40, Moltkestr. 7. 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


DIOnKA 00OM 
NER LIBRARY 
NIY. OF MICH. 





BEGRÜNDET VONJ TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN l|. B., TH. HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN, 
F. WEIGL-AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN BERLIN BERLIN 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 


NEUNUNDZWANZIGSTER BAND, HEFT 4 
(AUSGEGEBEN AM 21. JULI 1924) 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 


II Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Band, 4. Heft. 


Die Zeitschrift für Kinderforschung 


' erscheint in zwanglosen, einzeln berechneten Heften, die zu Bänden von etwa 50 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 






Manuskripte werden erbeten an: 
Herrn Professor Dr. M. Isserlin, München, Krankenhaus Schwabing 


oder 
Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, Bayerische Str. 9. 
Redaktionelle Anfragen sind zu richten 
für den Originalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9, 
für den Referatenteilan Dr.R. Hirschfeld, Berlin W 9, Linkstr. 23/24. 
Die Verfasser erhalten von jeder Arbeit 50 Sonderdrucke unentgeltlich, weitere 
gegen Berechnung. 
Mit Rücksicht auf die außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung Festellten Anzahl zu begnügen, und falls mehr 


Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom Verlage zu erfragen, 
um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 


29. Band, Inhaltsverzeichnis. 4. Heft. 

Originalienteil. Seite 

Isserlin, Max. Zum zweiten Kongreß für Heilpädagogik . . . :: 2 2.2.. 259 

Homburger, August. Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg . . . 261 

Radl, Hans. Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder . . .. 2.2.2... 275 
Machacek, Johann. Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 11- bis 

TRTRDRISOH Ruben 2 5 0 a ERDE ER 292 


Dirr, Hans Robert. Hilfsklassen an Schwerhörigen- und Sprachheilschulen . . 311 
Schwartz. Bericht über die in den Jahren 1922—1923 vorgenommene neurologisch- 
psychiatrische Untersuchung der in Erziehungsanstalten neu aufgenommenen 


Fürsorgezöglinge der Provinz Sachsen . . . . 2 2 2 2 2 2 22 2 2 0. 314 
Emmerig, Ernst. Vorschlag einer gemeinsamen religiösen Unterweisung Taub- 
stummer und Schwachsinniger im 18. Jahrhundert . . . 2. 2 22 2 22... 326 
BI DESSEORISCHE BAT Eh U EEE 3 2 ae ar ar a 333 
ANEVIEAUHSETEREIN: 0 re A a en 334 
EL LNTI AARET ne a ae Be Rh er 
EEINBEBE EEE BELLE RER AFFE NEE BF Er 337 
H. Kongreß für Heilpädagogik (Programm, Leitsätze, Mitgliederliste) . 341 
Referateteil. 

Normale Anatomie und Physiologie . 145 | Krankheiten des Kindesalters (einschl. 
Biologie, Constitution, Rasse, Ver- | allgemeine Pathologie und Therapie) 186 
BERGE u er 147 | Heilpädagogik u. Anomalen-Fürsorge 193 

EIERN. 5 u a e A 151 Schwachsinn, geistige und seelische 
Allgemeine und spezielle Psychologie. (Gefühls- und Willens-) Anomallen 793 
— Methodische . . . .... 151 | Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung . . 195 
Angewandte Psychologie „ . . . 167 AUSB 2.2.2.5. e 195 
Genetische und vergleichende Psy- Schulkinderfürsorge . . . 2... 199 
OOO A oe re A 173 Berufsberatung . . .... u. 208 

Psychopathologie und Psychiatrie . . 178 Jugendgericht u. Jugendgerichtshilfe, 
Geistige Defektzustände . _ . . . 178 Forensisches ee 206 
Psychopathie, Verwahrlosung „ „ . 182 | Tagesnotizen . . . 22 2 2 2.2. 208 


Zum zweiten Kongreß für Heilpädagogik. 
München, 29. Juli bis 1. August 1924. 


Der erste Kongreß für Heilpädagogik — mit welchem der Name 
des so früh verstorbenen H. Goepfert verknüpft bleiben wird — er- 
brachte einen eindrucksvollen Beweis für die Anziehungskraft des Ge- 
daukens, alle an der Heilpädagogik Interessierten zu einer gemeinsamen 
Tagung zu sammeln: er hinterließ — wie bei einem ersten Versuch 
nur natürlich — neben sicher gestellten Zielen auch manche Fragen 
und Zweifel. 

Indem der zweite Kongreß das begonnene Werk fortsetzt, wird 
er demonstrieren müssen, daß Schwierigkeiten in der Anlage der 
Tagung überwindbar sind, und daß der Grundgedanke, welche Persönlich- 
keiten recht verschiedener Berufsstellung zusammenführt, so starke 
einigende Kraft besitzt, daß ihr gegenüber Zweifel organisatorischer 
oder taktischer Art verstummen müssen. 

Daß der erste Kongreß mannigfache Interessen geweckt hat, ist 
wohl kaum bestritten worden; Bedenken konnten erhoben werden und 
wurden erhoben gegen den GrundrißB der Anlage, welcher zu allgemein 
gehalten sei. Wirklich produktive, vor allem organisatorische Arbeit 
köune nur in Fachgruppen geleistet werden. Allgemeine Tagungen 
in großem Rahmen kämen über wohlmeinende Anregungen nicht 
hinaus. 

Solche Gedanken sind wohl auch keinem derer fremd geblieben, 
welche sich um die Verwirklichung des Planes einer Gesellschaft für 
Heilpädagogik und des Kongresses für Heilpädagogik bemühten. Un- 
bestritten blieben für sie die Aufgaben der besonderen Organisationen 
und Tagungen für Schwachsinnigen-, Psychopathen-, Taubstummen-, 
Blinden-, Krüppel- usw. Fürsorge. Gleichwohl hielten sie es für nötig, 
eine unfassendere Organisation zu schaffen, in welcher die einzelnen 
Fachgruppen sich zusammenfinden können. 

In Wahrheit ist es der Gedanke der Heilpädagogik, um 
dessen Berechtigung es sich hier handelt. Gibt es eine Heilpädagogik, 
gibt es eine Heilpädagogik? Fordern nicht dem Wesen der Sache 


260 Zum zweiten Korgreß für Heilpädagogik. 


innewohnende Notwendigkeiten, daß alle diejenigen, welche sich der 
Wiederherstellung, Ertüchtigung, Erziehung Defekter (Abgearteter), 
Abwegiger widmen — trotz der Verschiedenheiten des in den einzelnen 
besonderen Organisationen behandelten Materials — sich auf einem 
einheitlichen Boden begegnen? Diejenigen, welche diese Frage be- 
jahen, sind der Anschauung, daß auch das Schicksal der Einzelgruppen 
von dem Bekenntnis zu einer gemeinsamen Sache nicht unberührt 
bleibe. 

Daß geistige Wertigkeit durch die Heraushebung allgemeinerer, 
höherer Gesichtspunkte gefordert werde, dürfte wenig Widerspruch be- 
gegnen. Gilt es aber auch nicht von der Arbeit für praktische Ziele, 
daß Einigkeit stark macht, wenn bei den einzelnen Gruppen wirklich 
Gemeinsamkeiten des Strebens vorhanden sind? 

Dem, der in das nun vorliegende Programm des zweiten Kon- 
gresses für Heilpädagogik hineinblickt, wird deutlich, wie sehr die 
Geschäftsleitung — deren mübselige Arbeit der kennt, welcher ihr 
ein wenig hat zuschauen dürfen — der Schwierigkeit, den entgegen- 
stehenden Aufgaben von Sonderung und Vereinigung Herr zu werden 
sich bemüht hat. Auch hier wird es gewiß so werden, daß die 
Wirklichkeit nicht alle Blütenträune zur Reifung bringen wird. Aber 
Förderung der geistigen Bewegung und der Tat soll der Tagung — das 
ist unser Wunsch — entspringen. Denn es ist eine große und viel- 
seitig bedeutungsvolle Sache, welcher durch sie gedient werden soll. 

Isserlin. 


Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg. 
Von 
Prof. Dr. August Homburger, Heidelberg. 


Die wachsende Ausdehnung des sozialen Aufgabenkreises des Arztes 
ist eine der auffälligsten Erscheinungen des sozialorganisatorischen 
Entwicklungsabschnittes, der vor etwa 2 Jahrzehnten mit der Be- 
kämpfung der Tuberkulose und der Gründung der Deutschen Gesell- 
schaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten eingesetzt hat. In 
beiden Fällen wurde eine Bewegung in Gang gebracht, die, um wirk- 
sam zu werden, einer großen Zahl freiwilliger Mitarbeiter aus den 
Reihen der Ärzte bedurfte. 

Volkshygienische und bevölkerungspolitische Motive, die Frage 
nach der Sterblichkeit an diesen seuchenartigen chronischen Infektions- 
krankheiten gegenüber den anderen Todesursachen, die Beziehungen 
von Bevölkerungszahl, Lebensalter und Kindersterblichkeit und die Zu- 
sımmenhänge aller dieser Tatsachen mit dem immer verwickelter 
werdenden Wirtschaftsleben hatten schon lange vorher das öffentliche 
interesse in Anspruch genommen und für ein organisiertes Vorgehen 
vorbereitet. Wenn man, ohne auf die Tätigkeit dieser Organisationen 
einzugehen, nur die von ihnen als öffentliche Angelegenheit und private 
Hilstätigkeit zugleich geforderte Arbeitsweise ins Auge faßt und das 
Fortwirken dieses Gedankens verfolgt, so sieht man, daß aus ver- 
wandten sozialpsychologischen und volksgesundheitlichben Gesichts- 
punkten heraus sich die verschiedensten Beratungseinrichtungen ent- 
wickelten. Ich nenne die Mutterschutzbewegung, die mit ihr aufs 
engste zusammenhängenden Rechtsschutzstellen für Frauen und Mäd- 
chen, die Mütter- und Säuglingsberatungsstellen. Sie entstanden 
sämtlich als 'private Einrichtungen neben und unabhängig von den 
öffentlichen Einrichtungen der sozialen Fürsorge, die zum Teil aus 
den Kranken-, Alters- und Invalidenversicherungsgesetzen, zum Teil 
aus der Armenfürsorge hervorgegangen sind. Sie suchten aber sehr 


bald, schon um der materiellen Hilfsquellen willen, Anschluß an die 
18* 


362 A. Homburger: 


Arbeit der städtischen und staatlichen Behörden und der Kranken- 
kassen zu gewinnen. Hierfür konnten sie geltend machen, da8 ihre 
vorbeugende Tätigkeit, falls sie erfolgreich ist, zu einer erheb- 
lichen Entlastung der zur Krankheitsbehandlung erforderlichen Mittel 
führen muß. 

Auf der anderen Seite entwickelten sich aber rein private und 
nur von Ärzten gegründete bezw. an öffentliche und private Kranken- 
anstalten angeschlossene Einrichtungen, die gleichfalls, mochten sie 
auch ursprünglich persönlichen Interessen ihre Entstehung verdanken, 
der Gesundheitsfürsorge zugute kommen und der gesundheitlichen 
Beratung wertvolle Dienste leisten, ich meine die Polikliniken für 
Leidende der verschiedensten Körperorgane. 

Hierzu trat von einer dritten Seite als letzte die Jugendfürsorge- 
bewegung vor allem als Fürsorge für die gefährdete und verwahrloste 
Jugend. Diese Bewegung mußte sich, da sie dem Anwachsen der 
kindlichen Kriminalität ihren Anstoß verdankte, von vornherein an 
die staatlichen und städtischen Behörden anlehnen oder diese, was 
häufig genug der Fall war, in einem vielen Widerständen begegnenden 
Werben für ihre Ziele zu gewinnen suchen. In dieser Bewegung 
fand, später als alle anderen Fachärzte, der Psychiater das eigenste 
Feld seiner sozialärztlichen Wirksamkeit. Diese Erkenntnis rang sich 
aber erst durch, als bei den Untersuchungen der jugendlichen Rechts- 
brecher und der Fürsorgezöglinge der Anteil geistiger Regelwidrig- 
keiten erkannt wurde. Gruhles Buch über die Ursachen der jugend- 
lichen Verwahrlosung und Kriminalität, welches nicht nur ein eigenes 
Material eingehendst darstellte, sondern auch den ganzen bis da in 
der Literatur niedergelegten Stoff nach allen Richtungen verarbeitete 
und aufhellte, wurde für die Frage nach der Rolle von Milieu und 
Anlage grundlegend. Es zeigte überzeugend, wie erst die Vereinigung 
der Methoden der modernen Psychiatrie mit denjenigen der übrigen 
einschlägigen Wissenschaften und ebenso die Vereinigung ihrer prak- 
tischen Ergebnisse der Jugendfürsorge die Grundlagen einer plan- 
mäßigen Wirksamkeit schaffen kann 

Aber nur allmählich wurde der Weg geebnet für eine beratende 
Tätigkeit des Psychiaters in heilerzieherischen Fragen auch bei 
solchen Kindern, die, ohne die Behörden zu beschäftigen, erzieherische 
Schwierigkeiten machten. Denn noch war die Zeit nicht reif zu der 
Einsicht für die Gefährdung der Allgemeinheit infolge falscher Er- 
ziehung und Behandlung bezw. Verkennung kindlicher und jugend- 
licher Psychopathen einerseits und für die Gefahren, denen die Jugend- 
lichen selbst in Zeiten der Erschütterung des Öffentlichen Wesens 


Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg. 263 


ausgesetzt sind, andrerseits. Erst als in den letzten Kriegsjahren unter 
den Kindern der Städte, deren Väter im Felde standen und deren 
Mütter auf Arbeit gehen mußten, der Mangel eines geregelten Fa- 
milienlebens, Not und Entbehrung, Hunger und Kälte, Aufregungen 
und nicht zuletzt die sehr ernstlichen Störungen des Schulbetriebes 
bedenkliche Folgen in der Führung und sittlichen Haltung zeitigten, 
erkannte man reichlich spät in der so stark zunehmenden Verwilderung 
den Vorläufer völliger Verwahrlosung. Es lockerte sich — wir haben 
es ja alle miterlebt, viele haben es schon wieder vergessen — längst 
vor Zusammenbruch und Staatsumwälzung infolge des Fehleus oder 
Versagens der erzieherischen Autoritäten in Öffentlichkeit, Schule, 
Kirche und Haus jegliche Zucht. Diese seelische Auflockerung führte 
bei vielen Kindern zu einem Zustande von Unruhe, Unberechenbarkeit, 
Affekterregbarkeit, Hemmungslosigkeit, zu Unbotmäßigkeit, Roheit und 
Gefühllosigkeit, vor strafbaren Handlungen ganz abgesehen, zu einem 
Verhalten also, welches vielfach die Frage nahelegen mußte, vb eine 
geistige Regelwidrigkeit im Spiele sei. Es kam eine Häufung krank- 
hafter Angstzustände, kindlicher Schlafstörungen und fortgesetzter 
Mißlaunigkeit hinzu. Erscheinungen, welche es auch sonst ganz ver- 
ständigen Müttern schwer machten, ihr Kind richtig zu behandeln, 
und sie oft in Ratlosigkeit und quälendes Hin- und Herschwanken 
zwischen Strenge, Nachsicht und gespielter Gleichgültigkeit versetzten. 
Von den verschiedensten Seiten wurden mir damals Kinder in die 
psychiatrische Poliklinik gebracht, die bisher ganz normal erschienen 
waren und sich unschwer hatten erziehen lassen, nun aber in un- 
verständlicher Weise logen und allerlei Erlebnisse erfanden, mit denen 
sie Aufsehen zu erregen versuchten, sich am Eigentum der Mutter 
mehr minder ernstlich vergriffen hatten, von kleinen Unredlichkeiten 
ganz zu geschweigen. Schulschwänzen wurde zu einer Massen- 
erscheinung; nicht nur Kinder gleichgültiger und tiefstehender Eltern 
waren daran beteiligt, sondern auch bisher in ihren Leistungen und 
ibrem Verhalten nicht beanstandete Schüler aus gesitteten Familien. 
Dazu kam eine nicht geringe Zahl solcher Kinder, die in der Schule 
durch nervöse Eigentümlichkeiten, durch Schläfrigkeit und Über- 
müdung, Unruhe, Schreckhaftigkeit, Gereiztheit, Stimmungswechsel 
und Ängstlichkeit auffielen. Schließlich stellten sich Bettnässer in 
größerer Zahl ein. Dies war im Winter 1916/17. 

Bei der Beschäftigung mit diesen Kindern zeigte sich immer 
deutlicher, daß die bisher geübte Art der poliklinischen Beratung 
mitten zwischen erwachsenen Psychisch-Nervösen und Geisteskranken 
den Anforderungen, welche diese Kinder an den Arzt stellen, namentlich 


264 A. Homburger: 


den erzieherischen nicht mehr gerecht wurde. Dieses Milieu war 
weder kindheitsgemäß noch erzieherisch geeignet; es fehlte auch an 
der nötigen Zeit, um die Beziehungen zu Eltern und Kind so zu 
gestalten, daß ein wirklicher Einfluß verbürgt war, so weit dies 
überbaupt möglich ist. Insbesondere legte auch die Abneigung der 
Eltern, mit ihren Kindern die psychiatrische Klinik aufzusuchen, um 
sie dort »für verrückt erklären« oder »als schwachsinnig abstempeln« 
zu lassen. den Gedanken nahe, die heilerzieherische Beratung von 
der psychiatrischen Klinik abzuzweigen. 

Dem verständnisvollen Entgegenkommen von Herrn Prof. Moro 
verdanke ich es, daß am 15. 4. 17 in den Räumen der Ambulanz 
der Kinderklinik die heilpädagogische Beratungsstelle eröffnet werden 
konnte. Gewählt wurde der unterrichtsfreie Mittwoch Nachmittag, 
weil Schüler wie Lehrer zu dieser Zeit, ohne mit der Schulpflicht 
in Schwierigkeiten zu geraten, die Sprechstunde aufsuchen können. 
Denn es wurde von vornherein der größte Wert darauf gelegt, 
zwischen Arzt und Schule eine enge Verbindung und eine 
dauernce Zusammenarbeit herzustellen. Diese Fühlung- 
nahme ist die Grundvoraussetzung jeder heilerzieherischen 
Tätigkeit des Arztes bei Kindern im schulpflichtigen und 
bei Jugendlichen im fortbildungsschulpflichtigen Alter, die 
ja zusammen die weitaus größte Mehrzahl der Fälle ausmachen. Sie 
gewährleistet eine gleichsinnige und gleichzeitige Behandlung und Be- 
einflussung des Kindes wie der Eltern von zwei Seiten her. In der 
Kriegszeit bedeutete dies wenigstens einen gewissen Ersatz des fehlenden 
väterlichen Elementes. Die Mütter merkten, daß man auf sie acht 
hatte und wußten, daß sie Arzt und Schule nicht gegeneinander aus- 
spielen konnten. Von erzieherisch richtungslosen, ihren Kindern 
gegenüber schwachen Eltern werden derartige Versuche ja mit Vor- 
liebe gemacht: der Arzt soll das Kind »gegen den Lehrer schützen«, 
der Lehrer soll, wenn die ärztliche Auffassung den Eltern nicht zusagt, 
sich auf ihre Seite stellen, »weil er das Kind doch besser kennt«; 
in beiden Fällen wollen uneinsichtige Eltern die letzte Stellungnahme 
sich und dem Kinde gegenüber der eigenen Meinung vorbehalten. 
Die Art, in der dies zu Hause mündlich, ansonsten schriftlich ge- 
schieht, ist erzieherisch geradezu verheerend. 

In der Praxis gestaltete sich das Vorgehen in der Beratungsstelle 
derart, daß die Eltern teils aus eigenem Antrieb, teils auf ärztlichen 
Rat, teils auf Veranlassung der Schule ihre Kinder brachten. Die 
Bearbeitung der Fälle teilt der Leiter mit seinen Mitarbeitern. Die 
Einvernahme der Eltern erstreckt. sich neben den selbstverständlichen 


Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg. 265 


ärztlichen Fragen besonders auf die Prüfung ihrer erzieherischen 
Fähigkeiten, ihrer allgemeinen Lebensanschauungen und ihrer Be- 
urteilung dieses Kindes und seiner Geschwister, die nicht 
Gegenstand der Beratung sind. Man muß sich die Zeit nehmen zu 
erfahren, wie eine Mutter mit dem Kinde spielt, wie sie es beschäftigt, 
wieviel oder wie wenig natürliche Lebendigkeit, Erfindungsgabe und 
Hingabefähigkeit sie besitzt; man muß herausbekommen, was an 
wirklichem Gehalt hinter ihren Redensarten steckt, ob sie beobachten, 
ob sie erklären, leiten und führen kann, ob sie frei oder gebunden, 
eng oder weit, zaghaft oder sicher, reich oder arm, bewegt oder gleich- 
gültig und leer ist, ob Pflichtgefühl oder ein lästiger Zwang sie leitet, 
ob sie einer einheitlichen Haltung fähig ist oder nicht, ob sie aus 
der Erfahrung zu lernen vermag. Damit hängt das Charakterologische, 
worauf ich hier nicht eingehen kann, aufs engste zusammen; ich 
erwähne nur den Einblick in den Ernst des erzieherischen Willens 
und die Aufrichtigkeit der Mitteilungen. Besonders wichtig ist in 
diesem Zusammenhang, etwas über das Verhältnis der Familie zu 
den Hausgenossen und zur Nachbarschaft zu hören. Ohne unmittelbar 
hiernach zu fragen, erfährt man sehr viel, wenn man sich erzählen 
läßt, wie das Kind von jenen Leuten beurteilt wird. Oft öffnen sich 
dann schon die Schleusen der Beredsamkeit, und es bietet sich ein 
ergiebiger Einblick in die Lebensart und Gesinnung der Leute. Un- 
willkürlich wiederholt sich ein Teil der Gespräche, die zu Hause 
ohne Zurückhaltung vor den Kindern und in ihrer Gegenwart geführt 
werden. 

Die Schilderung der Entwicklung des Kindes fand in der Er- 
hebung der Vorgeschichte schon ihren Platz. Sie muß ergänzt werden 
durch die Ergründung der Wandlungen, welche die innere 
Stellungnahme der Eltern zu dem Kinde und umgekehrt im 
Laufe der Zeit unter der Einwirkung seines Verhaltens und der 
Erkenntnis seiner Mängel durchmachte. Hier zeigt sich, ob Vater 
oder Mutter sich vom Kinde zurückzogen, ob sie sich innerlich von 
ihm abwandten, es hart und verständnislos behandelten, oder ob sie 
umgekehrt falsche Nachsicht walten lassen, aus eigener Schwäche 
auch seine Fehler zu entschuldigen geneigt, oder ob sie einer gewissen 
selbständigen Einsicht und eines richtigen Verhaltens fähig sind. 

Nicht selten stößt man schon bei der ersten Beratung auf Meinungs- 
verschiedenheiten, wenn nicht auf Zerwürfnisse zwischen Vater und 
Mutter und auf erzieherische und sonstige Einmischungen von Ver- 
wandten, insbesondere von Großmüttern, die dem Kinde »beistehen« 
und jede konsequente erzieherische Behandlung von vorneherein 


266 A. Homburger: 


ablehnen. Wie die Eltern über die Schule urteilen, läßt Schlüsse zu 
auf ihre Auffassungen von Pflicht und Gewissenhaftigkeit und die Be- 
wertung von Wissenserwerb und Arbeitszucht; am wichtigsten aber ist 
die Grundeinstellung, ob sie Achtung vor der Schule haben oder ihr 
nichtachtend und feindselig gegenüber stehen. 

Schon allein durch solch eingehende Erörterung pädagogischer 
Fragen, bevor das Kind selbst untersucht wird, gewinnt der Arzt den 
Eltern gegenüber, vorausgesetzt daß er sich schulisch und erzieherisch 
gut unterrichtet erweist, eine viel festere Grundlage, als wenn er sich 
auf das körperliche und psychiatrische Gebiet im engeren Sinne be- 
schränkt. Das Schwergewicht wird von vorneherein nach 
der erzieherischen Seite hin verlegt. Er kann dann auch in 
einer für die Eltern verständlichen Weise das Recht für sich in An- 
spruch nehmen, diese nach ihrer eigenen Kindheit zu fragen und sie 
hinsichtlich ihrer Charakteranlage und Entwicklung in einer Weise 
auszuforschen, die ihm verübelt würde, sähen die Eltern nicht ein, 
daß es, mag es peinlich sein oder nicht, auch darauf ankommt, wie 
in der Anlage des Kindes die seiner Vorfahren wieder zutage tritt. 
Die Haltung des Arztes als Erzieher muß dabei durchaus 
festgehalten werden. 

Man kommt mit der Fülle dieser Gesichtspunkte natürlich nicht 
auf einmal zu Wege. Man will dies auch gar nicht. Man sieht zuerst 
den einen, an einem anderen Tage den anderen Eiternteil, möglichst 
auch die Geschwister, schließlich Eltern und Lehrer zu gemeinsamer 
Rücksprache. So sieht man das Kind in kurzen Abständen 2—3 mal 
Kann es der Lehrer ermöglichen, bei der Untersuchung des Kindes 
anwesend zu sein und nach vorheriger Besprechung mit dem Arzt 
auch an der Beratung der Eltern teilzunehmen, so verleiht dieses 
offensichtliche Zusammenarbeiten unseren Bemühungen einen be- 
sonderen Nachdruck. Dieses Verfahren kommt namentlich auch dann 
in Betracht, wenn der Umschulung schwachbefähigter Kinder 
in die Hilfsklasse von seiten der Eltern Schwierigkeiten bereitet 
werden, oder wenn bei Hilfsschülern psychische Besonderheiten auf- 
treten wie Unruhe und Verstimmungen, die auf ihren krankhaften 
Charakter geprüft werden sollen. 

Um einer bestimmten Erscheinung, des Schulschwänzens, 
willen greife ich in diesem Zusammenhang noch einmal auf die 
Erfahrungen der Kriegszeit zurück, von denen wir ja ausgingen. Hier 
machten die Schwachsinnigen, die infolge der rücksichtslosen Ein- 
berufung der Hilfsschullehrer zum Heeresdienst in die Volksschule 
eingereiht und 5 Jahre lang zwecklos mitgeschleppt werden mußten. 


Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg. 267 


die größten Schwierigkeiten. Hätte die Hilfsschule noch eines Nach- 
weises ihrer Notwendigkeit bedurft, hier ist er unwiderleglich erbracht 
worden. Diese Kinder zum großen Teil selbst schwachbefähigter 
Eltern, die in der Schule nicht folgen konnten, den Unterricht be- 
hinderten, oft verkannt, erfolglos bestraft, getadelt und zudem ver- 
spottet wurden, stellten einen beträchtlichen Teil der Schulschwänzer. 
Auch die vollsinnigen Schulschwänzer waren zu einem nicht geringen 
Teil schulängstliche Kinder; von ihnen sind nicht wenige durch die 
Mütter vom. Schulbesuch und von den Schularbeiten planmäßig ab- 
gehalten und zu Hausarbeiten angehalten worden; andere litten unter 
der Überbürdung und Reizbarkeit der Lebrer, vielen fehlte die ge- 
wohnte häusliche Nachhilfe. War erst einmal eine Lücke entstanden, 
so fehlte oft weniger der gute Wille als der Mut. Schlecht vorbereitet, 
der Wissens- und Verständnislücken bewußt, schlechter Noten und 
Strafen gewiß, trauten sich die Kinder nicht mehr in die Schule. 
Nachhilfeunterricht hat, wo wir ihn durchführen konnten, dann schnell 
mit der Sicherheit auch die Schulfreudigkeit wiederhergestellt. Die 
charitativen Vereine haben uns wirksam dabei unterstützt. 

Da wir hier von der beratenden, nicht von der diagnostischen 
Seite unserer Tätigkeit sprechen, gehe ich hinsichtlich der Kinder 
selbst nur auf die Art ein, wie wir über sie nach Feststellung des 
Befundes mit den Eltern und Lehrern zu reden pflegen, wie sich 
also die Beratung selbst gestaltet. Im Mittelpunkt steht die Aufgabe, 
den Eltern die Eigenart ihres Kindes, seine Mängel und seine etwaigen 
Verfehlungen zu erklären. In erster Linie muß man vollauf ver- 
ständlich sein und sich den Verständnisgrenzen der Eltern anpassen. 
Diese müssen einsehen lernen, daß das, was man verstehen und er- 
klären kann, desbalb nicht entschuldbar ist, daß vielmehr aus der 
Erkenntnis der Zusammeuhänge sich für Eltern wie Kinder Pflichten 
ergeben. Diese sind im einzelnen herauszuarbeiten. Dann sind die 
Eltern vertraut zu machen mit den Möglichkeiten der weiteren Ent- 
wicklung, mit den Gefahren wie mit den günstigen Aussichten. Das 
Verhältnis zur Schule wird möglichst in Gegenwart des Lehrers er- 
örtert. Mit dem Kinde sprechen wir besonders, teils allein, teils im 
Beisein der Eltern. Die Herstellung eines persönlichen Vertrauens- 
verhältnisses zum Arzt erfordert sowohl Eindringlichkeit als geschickte 
Handhabung des Abstandes. Vermeidung der üblichen moralisierenden 
Art bei Bewahrung des erzieherischen Ernstes sichert dem Arzt seinen 
spezifischen Einfluß. Nun kommt ein besonders wichtiger Punkt: 
die Herausarbeitung der etwa vorhandenen besonderen Fähigkeiten. 
Die Eltern sollen lernen das Kind da anzupacken, wo es positive 


268 A. Homburger: 


Seiten, Leistungsmöglichkeiten aufzuweisen hat. Jede Art praktischer 
Begabung und sei sie noch so gering und beziehe sie sich auch nur 
auf einfache häusliche Hilfeleistungen, müssen die Eltern entwickeln 
lernen, erst recht natürlich ausgesprochene Handfertigkeit und sonstige 
körperliche Geschicklichkeit, namentlich solche, die sich zu gemein- 
samer Arbeit mit dem Vater oder der Mutter eignet. Sehen die 
Eitern ein, daß und wie sie auf diese Art ihr Kind an sich heran- 
ziehen können, so sind sie einen wichtigen Schritt weitergekommen; 
ein gut Teil Mißlaunigkeit kann so aus dem Wege geräumt werden. 
Dem Kind soll diese gemeinsame Arbeit und die Ausübung seiner 
Fertigkeiten nicht ein »Müssen«, sondern ein »Dürfen« bedeuten. Sie 
soll ihm auch Wegweiser zu seinem späteren Beruf werden. Es 
bleiben natürlich Eltern genug übrig, die sich in ihrer Enge über 
den Standpunkt des Tadelns und Strafens nicht zu erheben vermögen. 
In diesen Fällen ist die Versetzung des Kindes in die Familie ein- 
sichtiger Verwandten, also nicht in eine fremde Familie, gelsgentlich 
von recht gutem Erfolge begleitet. Es sind dies namentlich solche 
Kinder, die sich zu Hause infolge der erzieherischen Unfähigkeit der 
Eltern nicht entwickeln können und aus dem Gefühl der Beengung 
und falschen Bebandlung Schwierigkeiten machen, aber nicht abnorm 
sind. Es hält gewiß schwer, den Eltern diesen Zusammenhang be- 
greiflich zu machen; sie verschließen sich am wenigsten dem 
Hinweis, daß sie sich bei ihren Bemühungen um die Erziehung 
des Kindes so aufgerieben und ihre Mittel und Wege so völlig er- 
schöpft haben, daß es nun einmal eine andere Familie, zu der sie 
selbst Vertrauen haben, es mit dem Kinde versuchen soll. Hier ist 
es wiederum unsere Aufgabe, wenn irgend möglich, mit dieser Familie 
persönliche Rücksprache zu nehmen. Überhaupt steht und fällt 
der Erfolg aller heilpädagogischen Beratung mit dem 
persönlichen Eingreifen und mit der Übernahme auch der 
Verantwortung für ungewöhnliche Maßnahmen und Rat- 
schläge. l 

Was nun die weitere Entwicklung der Beratungsstelle angeht, 
so übte die Rückkehr der Kriegsteilnehmer aus dem Felde und der 
Gefangenschaft insofern einen Einfluß aus, als die Frauen ihre Kriegs- 
tätigkeit allmählich niederlegten und ins Haus zurückkehrten, so daß 
wenigstens äußerlich die Familienordnung wiederbergestellt wurde. 
Die Kriegswaisen, die von vorneherein eine bevorzugte Fürsorge er- 
fahren hatten, spielten in unserem Material bemerkenswerterweise 
keine hervorstechende Rolle. Wohl aber fanden nun häufiger die 
heimgekehrten Väter selbst Veranlassung, unseren Rat zu erbitten, 


Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg. 269 


weil sie besonders an den ohne Zucht herangewachsenen Knaben 
nicht nur Verdruß, Enttäuschung und Entfremdung erlebten, sondern 
auch eine Art der Widersetzlichkeit, Ruhelosigkeit und Umtriebigkeit, 
die ihnen nicht mehr normal erschien. Hier kam es sehr darauf an, 
auch dem seelisch-nervösen Zustande des Vaters ein Augenmerk zu- 
zuwenden, ihn selbst zuerst von seiner Feldüberempfindlichkeit, seiner 
Reizbarkeit, seinem Reizhunger, von Schlafstörungen und Neigung zu 
Affektausbrüchen zu befreien, kurz sein eigenes seelisches Gleich- 
gewicht wieder herzustellen. Auf diesem Umwege mußte er zuerst 
die zentrale Stellung im Familienleben zurückgewinnen, um so auch 
auf den Sohn seinen Einfluß geltend machen zu können. Knaben, 
bei denen die Pubertätsveränderung noch nicht ausgesprochen war, 
fanden in gegenseitiger Annäherung und Beruhigung nach einiger 
Zeit die richtige Stellung zum Vater, den sie als einen ihnen fremd 
gewordenen Mann zuerst wie einen Eindringling abgelehnt hatten, 
und durch dessen Gegenwart sie sich gestört fühlten. Dies waren 
meist leicht psychopathische Kinder, die im Kriege auch in ein ge- 
wisses Stellvertretergefühl zur Mutter sich hineingelebt hatten und 
sich nun in den Hintergrund gedrängt fühlten. Bei den Mädchen 
vollzog sich die Umstellung viel leichter, da sie gewöhnlich den Vater 
bald zu umwerben begannen. 

Ernste Schwierigkeiten bereiteten die Knaben in der Pubertät 
und die Jugendlichen im engeren Sinne. Wie sie sich gegen die 
Autoritäten des Staates, des Meisters, gegen Sitte und Ordnung auf- 
lehnten, so traten sie auch den Vätern gegenüber anmaßend und 
feindselig nicht nur, sondern brutal auf und waren natürlich durchaus 
abgeneigt, von uns einen Rat anzunehmen. Wir unterlassen auch hier 
keinen Versuch, der uns geeignet erscheint, eine Wiederannäherung 
von Vater und Sohn herbeizuführen und das autoritäre Verhältnis in 
ein freundschaftliches umzugestalten; wir bemühen uns um beider 
Vertrauen, um zum Vermittler zwischen ihnen werden zu können. 
Aber wir müssen gestehen, daß wir zwar bei einigen einfachen 
Pubertätsreaktionen zum Ziele kamen, aber bei den in antisozialen 
Formen aktiv gewordenen »Früchtchen« keine ermutigenden Erfolge ver- 
zeichnen können. Gewöhnlich sahen wir diese Fälle auch erst, wenn 
das Familienleben unterhöhlt und endgültig verdorben war, wenn die 
erzieherisch unfähigen Eltern den letzten Rest von Ansehen durch 
ihr eigenes achtungzerstörendes Verhalten eingebüßt hatten, und wenn 
das Beispiel des schon kriminell gewordenen Ältesten zu einer Gefahr 
für die jüngeren Geschwister geworden war. In solchen Fällen soll 
man nicht bedenklich sein, sondern fest zugreifen, und wenn eine 


270 A. Homburger: 


andere auswärtige Unterbringung keinen Erfolg mehr verspricht, selbst 
eventuell auch ohne Zustimmung der Eltern die ersten Schritte er- 
greifen, um den Jugendlichen in einer psychiatrisch geleiteten Fürsorge- 
erziehungsanstalt unterzubringen. Nachdem in Baden alle diese An- 
stalten der Oberaufsicht Prof. Gregors unterstellt sind, sind die Aus- 
sichten für eine einheitliche und sachgemäße Gestaltung der Ein- 
wirkung auch auf diese Fälle erheblich günstiger geworden. Wir 
müssen, wenn wir die Eltern nicht zu übezeugen vermögen, daß 
ernste Maßnahmen nötig sind, es ruhig über uns ergehen lassen, 
daß wir mit Vorwürfen überbäuft werden, oder daß man gar auf das 
ärztliche Berufsgeheimnis abhebt. Denn, wer sich als Arzt in einer 
öffentlichen Beratungsstelle mit heilerzieherischen Aufgaben befaßt, 
gehört meines Erachtens an und für sich zu dem Kreise derjenigen 
Personen, die befugt sind, das Jugendamt von Fällen drohender und 
erst recht eingetretener Verwahrlosung in Kenntnis zu setzen. 

In der Zeit der Staatsumwälzungskämpfe selbst war ein zu- 
wartendes Verhalten geboten, weil alle Behörden und Organe unsicher 
arbeiteten und weil ein offensichtliches Versagen der öffentlichen 
Stellen sich nur ungünstig auswirken konnte. Die Geneigtheit der 
Bevölkerung, sich der Beratungsstelle zu bedienen, nahm in diesen 
Jahren auch sichtlich ab. Es ist interessant, diesen Vorgang zu ver- 
folgen. Die Zahl der neuen Fälle sank von 43 in 1918 auf 41 (1919), 
32 (1920), 29 (1921). Die antiautoritäre Gesamtstimmung äußerte sich 
also auch in der Ablehnung erzieherischen Rates. Als dann das 1920 
gegründete städtische Jugendamt allmählich seinen Aufbau zum Ab- 
schluß gebracht hatte, und es ihm gelungen war, sich unter Zusammen- 
fassung aller früheren jugendfürsorgerisch tätig gewesenen freien Ver- 
eine auch bei der Bevölkerung und den politischen Parteien durch- 
zusetzen, erfuhr die heilpädagogische Beratung eine neue Steigerung 
auf 61 (1922) und 49 (1923). 

Wir kommen damit zu ihrer jetzigen Organisation. In meiner 
Eigenschaft als Leiter der psychiatrischen Poliklinik und der h.-p. 
Beratungsstelle zum facbärztlichen Mitglied des städtischen Jugendamts- 
ausschusses bestellt, konnte ich in der Zusammenarbeit mit dem Leiter 
des Jugendamts, Herrn Stadtrechtsrat Dr. Ammann, sowohl der 
psychiatrisch - diagnostischen wie der heilerzieherischen Seite der 
Jugendfürsorge die sachlich begründete Beachtung sichern. In den 
einschlägigen zuerst an es gelangenden Fällen beschließt nunmehr 
das Jugendamt die Untersuchung der Kinder in der h.-p. Beratungs- 
stelle. Es empfiehlt den Eltern, die Kinder selbst zu bringen, läßt 
sie im Behinderungsfalle durch die Schul- oder Fürsorgeschwester, 


Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg. 271 


im Weigerungsfalle durch einen Kontrollbeamten vorführen. Die 
Schul- und Fürsorgeschwestern sind uns durch ihre Kenntnis der 
häuslichen Verhältnisse und durch ihr verständnisvolles Eingehen auf 
Kinder und Eltern zu unentbehrlichen Mitarbeiterinnen geworden. 
Die Akteneinsicht geht der Untersuchung voraus. Der ärztlich- 
erzieherische Einfluß ist gesichert. Ganz von selbst hat sich auf 
diesem Wege die h.-p. Beratungsstelle auch zur Sichtungsstelle für 
die Fürsorgeerziehung entwickelt. Sie prüft die Voraussetzungen und 
die Eignung für Anstalts- und Familienerziehung, für die jugend- 
gerichtliche oder die als Erziehungsbeistand und Lehrlingsaufsicht 
wirkende sogenannte »fornlose« jugendamtliche Schutzaufsicht, zu der 
die Eltern freiwillig ihre Zustimmung erteilen. Der Jugendrichter 
überweist mit Strafaufschub auf Wohlverhalten verurteilte Jugendliche 
durch Gerichtsbeschluß der h.-p. Beratungsstelle zur Mitüberwachung. 
Der Stadtschularzt arbeitet in Fragen der Ein- und Umschulung in 
die Hilfsschule mit uns zusammen. Auffällige Schüler schickt er zur 
Untersuchung. | 

Die beiden letztgenannten Beziehungen sind praktisch ganz be- 
sonders zweckmäßig. Arzt und Richter verstärken gegenseitig ihren 
Einfluß auf Eltern und Kinder. Diese Zusammenarbeit macht ein- 
greifendere Maßnahmen in richtig gewählten Fällen überflüssig und 
sichert auf Jahre hinaus die fachärztliche Mitwirkung in der Er- 
ziehung. Die gemeinsame Beurteilung der Schwachbefähigten hat er- 
reicht, daß überflüssige Versuche, diese Kinder zuerst 1 oder 2 Jahre 
in der Volksschule mitzuschleppen, um dem Mißerfolg die Entscheidung 
zu überlassen, nach Möglichkeit unterbleiben. Wir schlagen je nach 
Lage des Falles der Volksschulbehörde die Zurückstellung um 1 bis 
2 Jahre und dann die unmittelbare Aufnahme in die Hilfsschule auf 
Grund der von uns selbst veranlaßten zwischenzeitlichen Nach- 
untersuchungen vor. Auch Verlängerungen des Schulbesuchs 
über das Pflichtalter von 14 Jahren und die Zahl von 8 Schuljahren 
hinaus hat die Schule schon zugestanden, wenn nach unserem und 
ihrem gemeinsamen Urteil von dieser Verlängerung für ein erst spät 
lernfähig gewordenes Kind eine wesentliche Förderung zu erwarten 
war. Diese Maßnahme hat sich aufs beste bewährt und einer Reihe 
»späterwachter« Imbeziller in bezug auf Wissenserwerb und Erziehung 
großen Nutzen gebracht, sie auch vor allem davor bewahrt, als völlig 
unbrauchbar überall im Wege zu sein und beiseite geschoben zu 
werden. Diese Erfahrungen haben mich veranlaßt, auf der letzten 
Tagung des Südwestdeutschen Hilfsschullehrerverbandes den Antıag 
zu stellen, es solle die Prüfung der Verlängerungsfrage in allen ein- 


272 A. Homburger: 


schlägigen Fällen vorgenommen und in die Hilfsschulordnung auf- 
genommen werden. Hier ist vielleicht auch ein Ausgangspunkt für 
die Angliederung von Hilfsschulfortbildungsklassen für solche Kinder 
gegeben, die einer spezielleren Ausbildung fähig, aber zur praktischen 
Berufsausübung noch zu schwächlich und zu unselbständig sind. 
Dieser Weg ist namentlich für Mittel- und Kleinstädte ohne großen 
Kostenaufwand gangbar. 

Um ihre Aufgabe, anders als eine Poliklinik es kann, im Sinne 
einer fortwirkenden Tätigkeit zu erfüllen, behält die h.-p. Beratungs- 
stelle einen großen Teil der Kinder dauernd unter Augen und ver- 
folgt ihren Entwicklungsgang in ständiger Fühlung mit den Eltern 
über Jahre hinaus. Andere Kinder sehen wir nur aus besonderer 
Veranlassung, die meist eine unliebsame ist, wieder; die übrigen be- 
stellen wir gelegentlich von uns aus ein, indem wir an die Eltern 
schreiben. Manche Eltern sind darüber erfreut, daß man sich ihrer 
Kinder erinnert, manche aber übergehen die Aufforderung mit Still- 
schweigen; persönliche Nachschau zeigt dann gewöhnlich, daß unser 
Interesse den Eltern aus guten Gründen ungelegen kam; das sind 
meist Fälle schwerer Milieuverwahrlosung. Um die Beziehungen auf- 
recht zu erhalten, empfiehlt es sich, in den Aufforderungen und Nach- 
fragen alles Bürokratische und Dienstliche zu vermeiden und in ihnen 
das ärztliche Interesse mit einer persönlichen Note zum Ausdruck zu 
bringen. 

Will die h.-p. Beratungsstelle sich auch über die Schulzeit hinaus 
ihren Einfluß sichern, so muß sie bei der Berufsberatung mit- 
wirken. Sie wird also vermerken müssen, wann in den einzelnen 
Fällen diese Frage zur Entscheidung kommt und muß schon im 
Beginn des letzten Schuljahres mit Lehrern und Eltern in Beziehung 
treten. Denn die Unterbringung von Imbezillen und Psychopathen, 
also von halben und schwierigen Arbeitskräften ist heute besonders 
schwer. Zur Entfernung solcher Schulentlassener aus der Stadt und 
zu ihrer Unterbringung auf dem Lande und im Kleinhandwerk nehmen 
wir die Hilfe des Jugendamtes auch in solchen Fällen in Anspruch, 
mit denen das Amt bisher nicht befaßt war; oft ist eine geeignete 
Unterbringung von der Gewährung einer Geldbeihilfe, besonders einer 
Unterstützung zur Beschaffung von Arbeitskleidung abhängig. Wir 
legen hierauf deshalb besonderen Wert, weil ohne eine frühzeitige 
und nachdrückliche Berufsfürserge die Imbezillen und Psychopathen 
in den Städten in die Gelegenheitsarbeit abgeschoben werden, bei der 
sie zwar sofort verdienen, sehr bald aber in schlechte Hände geraten 
und verkommen. Die Unterbringung muß so vorbereitet sein, daß 


Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg. 273 


sie in unmittelbarem Anschluß an die Schulentlassung sofort nach 
den Osterfeiertagen erfolgen kann, und der Vollzug muß behördlich 
kontrolliert werden. 

Auch in leichteren Fällen wird unsere e Tätigkeit oft nur dadurch 
wirksam, daß wir uns, wie schon erwähnt, der Mithilfe anderer Organe 
bedienen. Alle in Betracht kommenden Stellen mit Ausnabme des 
Schularztes sind aber nicht ärztlich eingestellt. Eine ärztliche Ein- 
stellung können wir weder beim Jugendamt noch beim Jugendgericht, 
bei der Schule oder bei charitativen Vereinen ohne weiteres voraus- 
setzen. Diesen Stellen gegenüber sind wir fachärztliche Berater, 
sind aber nicht die allein bestimmende Instanz. Auch unsere Gesichts- 
punkte sind nicht die allein maßgebenden, wenn sie auch vielfach 
den Ausschlag geben werden. Wenden wir uns also in unseren 
Berichten an die Stelle, welche uns das Kind zuschickte, oder sehen 
wir ‚uns veranlagt, an eine Behörde oder einen Verein zu berichten, 
so müssen wir den größten Wert darauf legen, dem Laien vollauf 
verständlich zu sein und unsere Darlegungen müssen den Fall er- 
schöpfen. Abstempelungen mit psychiatrischen Diagnosen sind völlig 
wertlos. Die Diagnose an sich ist in heilpädagogischer Hinsicht nicht 
das Wesentliche dessen, was wir mitzuteilen haben. Den Folgerungen, 
welche wir aus ihr und aus der individuellen Lage des Falles 
ziehen, Anerkennung und praktische Beachtung zu verschaffen, ist 
unsere Hauptaufgabe; darum stellen wir die Erörterung der heil- 
erzieherischen Gesichtspunkte in den Vordergrund. Diese Art der 
Behandlung der Fälle hat uns vor allem die bereitwillige und 
interessierte Mitarbeit der Lehrerschaft gesichert. 

Wenn es sich als zweckmäßig erweist, daß von dem Unter- 
suchungsergebnis und unseren Vorschlägen mehrere Stellen Kennt- 
nis erhalten, so versenden wir den Bericht an diese gleichzeitig 
und vermerken auf jedem Exemplar die anderen Stellen, denen er 
zugegangen ist. Dies ist das wirksamste Mittel gegen Rückfragen 
und Verschleppungen. Kommen wir, was in heilerzieherischen Fragen 
nicht selten ist, nicht mit einem Male zu einer bestimmten Ent- 
schließung, so bitten wir die Ämter, vorerst keine Maßnahmen zu 
ergreifen, die über eine Schutzaufsicht hinausgehen und das Ergebnis 
weiterer Beobachtung abzuwarten. An uns selbst liegt es dann, uns 
um den Fall zu kümmern; halten wir ein Verfahren auf, so 
haben wir auch dafür Sorge zu tragen, daß es rechtzeitig 
wieder in Lauf gesetzt wird. 

Die Vielseitigkeit der Beziehungen, in welche die Beratungsstelle 
hineingestellt ist, weist ihr das richtige Verhältnis zu der Gesamt- 


274 A. Homburger: Die heilpädagogische Beratungsstelle in Heidelberg. 


organisation der Jugendfürsorge an. Sie steht nicht außerhalb dieser 
Organisation, sondern ist eines ihrer zahlreichen Glieder. Sie ist als 
Fachinstanz fest eingefügt; hat aber keinerlei amtlichen Charakter. 
So hat sie zwar die Möglichkeit des Eingreifens in amtlich behandelte 
Fälle und doch gleichzeitig die Freiheit, sich um solche Kinder zu 
kümmern, die nicht Gegenstand behördlichen Interesses sind oder 
werden. Der Arzt der Beratungsstelle ist dann einfach Berater der 
Eltern auf Grund des ihm persönlich entgegengebrachten Vertrauens. 
Durch dieses freie Verhältnis zur Öffentlichkeit wird die h.-p- 
Beratungsstelle bewahrt vor der Gefahr bürokratischer Entartung, der 
amtliche Stellen so leicht verfallen. 

Eine h.-p. Beratungsstelle bedarf, das ist ihr großer Vorzug, gar 
keiner Einrichtungen und technischen Hilfsmittel. Sie kann in jedem 
Ambulanzraum jedes Krankenhauses abgehalten werden; am besten 
wählt man ein Kinderkrankenhaus Auch ein Raum in der Sohule 
‚genügt. Sache des Leiters wird es stets sein, sich Mitarbeiter heran- 
zuziehen, die das Interesse für das Gebiet mit ihm teilen. Ein heil- 
pädagogisch geschulter Nachwuchs ist ein wichtiges Erfordernis der 
sozialen Fürsorge. Es ist sehr erwünscht, daß außer Ärzten und 
Lehrern auch Persönlichkeiten, welche sich zur Laufbahn des Sozial- 
-beamten vorbereiten wollen, die Gelegenheit zu heilpädagogischer 
‚Ausbildung gegeben wird. 


(Aus dem orthopädischen Spital in Wien [Prof. Dr. H. Spitzy]). 


Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder. 


Von 
Erziehungsleiter Hans Radil, Wien. 


I; 


Das Mitleid, das der krüppelhafte Zustand eines Menschen her- 
vorruft, macht im allgemeinen geneigt, die dissozialen Charakterzüge 
zu vergessen. Trotzdem dürfte niemand, der mit bresthaften Personen, 
insbesondere Kindern zu tun hat, die schlechten Eigenschaften über- 
sehen haben. Auch die Literatur gibt dafür einige Anhaltspunkte 

So hat Hans Würtz, der Direktor des Oskar-Helene-Heimes in 
Berlin, an Hand von Lebensbeschreibungen Verkrüppelter aus alter 
und neuer Zeit festzustellen versucht, wie die Krüppelseele sich ent- 
wickelt, wenn sie nicht. durch planmäßige Erziehung günstig be- 
einflußt wird. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen macht sich 
auch die »Ausführungsanweisung zu dem preußischen (Gesetz, betr. 
öffentliche Krüppelfürsorge« zu eigen, wenn sie sagt ($ 4, Absatz 2): 

». . . Jede körperliche Abweichung vom Normalen wirft auf das Bewußtsein 
des Verunstalteten einen Schatten, trübt sein Selbstgefühl und bringt den Willen 
ins Stocken und Schwanken. Wenn der Kranke sein Mindervermögen mit dem 
Mehrkönnen der Gesunden häufig und lebhaft vergleicht, tritt nur zu leicht eine 
mehr oder minder starke Beeinträchtigung seines Wohlbefindens ein. Es entstehen 
dann leicht seelische Enutgleisungen und Schwächen, die das typische Krüppeltum 
begründen: verstärkte Selbstfühligkeit. Benachteiligungs- und Beeinträchtigungs- 
empfindungen, erhöhte Empfindlichkeit, Reizbarkeit, Neid, Mißtrauen, Starrheit und 
Härte der Selbstbehauptung sowie übersteigertes Ehrgefühl .. .« 

Ebenso ist es von Bedeutung, daß Würtz eine stark prozentuelle 
Vertretung von Krüppeln in deutschen Strafgefängnissen festgestellt 
hat. (»Das Schicksal der Entstellten.«e Zeitschrift für Krüppelfür- 
sorge. Bd. 16, Heft 1/2, 1923.) Zu ähnlichen Ergebnissen kommen 
Bischoff-Lazar, die eine große Anzahl Bresthafter und Ver- 
krüppelter unter den Insassen der Zwangsarbeitsanstalt in Korneuburg 
bei Wien nachweisen konnten. (Jahrbuch für Psychiatrie und Neuro- 
logie. 1914.) | 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 19 


276 H. Rad!: 


II. 


Am orthopädischen Spital wurden im Verlauf des letzten Winters 
Studien über die Dissozialität verkrüppelter Kinder unternommen, an 
denen sich der Leiter der heilpädagogischen Abteilung der Kinder- 
klinik in Wien, Dozent Dr. E. Lazar lebhaft beteiligte. Auf seine 
Anregung haben die Herren L. Hejna, O. Ludwig und ich das 
Material nach den an der heilpädagogischen Abteilung üblichen 
Methoden untersucht; wir veröffentlichen im folgenden die Er- 
gebnisse. 

Aus verschiedenen Arbeiten Lazars geht hervor, wie häufig die 
kindliche Dissozialität mit Schädigungen des Seelenlebens, die auf 
einem ganz anderen Gebiete liegen, zusammenhängen. Es war daher 
für unsere Fälle die Fragestellung gegeben, ob sich nicht auch hier 
ähnliche Mechanismen nachweisen lassen. 

Diese Aufgabe war sowohl aus der Analyse des Einzelfalles, wie 
auch aus der Zusammenfassung des gesamten Kindermateriales zu lösen. 


Als sehr zweckmäßig hat sich für die Verarbeitung der Einzel- 
fälle und auch für die Zusammenfassung die Tabelle Fankhausers 
in der Modifikation von Lazar (als solche: diese Zeitschrift, 28. Band, 
Heft 2, S. 169) als Registrierungsmittel und als »Spiegel« für die 
Beobachtung empfohlen (vgl. Tab. I, S. 277). Die freie Beobachtung 
ist dadurch in keiner Weise gehemmt worden, sie ist natürlich stets 
der Ausgangspunkt geblieben. Aber durch die Tabelle werden or- 
ganisch verwandte Eigenschaften zusammengefaßt und damit bietet sich 
ein rascherer Überblick, der gestattet, Zusammenhänge und Wechsel- 
beziehungen aufzudecken, die sonst schwer festzuhalten sind. 

Die Tabelle wurde folgendermaßen benützt: 


Die verschiedenen Eigenschaften, Handlungs- und Verbaltungs- 
weisen, Tugenden, Laster usw. werden einer beiläufigen Graduierung 
unterworfen. Dadurch werden leichter Relationen zwischen den ein- 
zelnen untersuchten Kindern und außerdem zwischen diesen und 
Normalschülern, für die Tabellen von denselben Beobachtern angelegt 
wurden, ermöglicht. Die Bewertung erfolgt in 5 Graden nach u, o, 
a, e, i; u bezeichnet den Mangel, i das stärkste Auftreten der Eigen- 
schaft, Handlungsweise usw. Zur Erleichterung der Übersicht wurden 
die Bewertungen in ein Schema (siehe Tabelle II, S. 278), an den dem 
Wert entsprechenden Punkten, und zwar das stärkere Auftreten einer 
guten oder das Fehlen einer schlechten Eigenschaft in roter, umgekehrt 
in blauer Farbe eingesetzt. Die a-Werte wurden als indifferent durch 
schwarze Farbe bezeichnet. (Für die hier veröffentlichte Tabelle mußte 


277 


Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder. 



































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Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder. 279 


zur Vermeidung des Farbendruckes eine andere Darstellung gewählt 
werden. Der roten Farbe entspricht @, der blauen e, schwarz wird 
durch ® bezeichnet.) Ferner wurde bei jedem Kind die genaue 
Anamnese erhoben, um die Ursachen der Verkrüppelung zu erfahren, 
weiter lag die ärztliche Beschreibung des Körperzustandes im all- 
gemeinen und der Verkrüppelung im besonderen vor. Außerdem wurde 
überall die Intelligenzprüfung nach Lazar-Tremel vorgenommen. 


III. 


Es wurden 30 Kinder, 15 Knaben und 15 Mädchen der Spital- 
schule im Alter von 10—14 Jahren und die gleiche Anzahl ent- 
sprechender Kinder einer Normalschule untersucht. Nach diesen Fest- 
stellungen stellt sich das untersuchte Material folgendermaßen dar: 


Fall 1. Helene M., 9 Jahre alt, 4. Volksschulkl. Diplegia spastica, angebl. seit 
der Geburt. Vater gefallen, Mutter gesund. Intellakt normal, (Schwere Geh- 
behinderung!) 

Stilles, ruhiges Kind mit etwas gedrückter Stimmung, die jedoch in den 
psychischen Sensationen (A 5) nicht sonderlich tief geht. Aus der Reihe der Minder- 
wertigkeitsgefühle und der entsprechenden Handlungsweisen ersehen wir eine starke 
Störung. Mit Ausnahme von Hypochondrie und Zweifel (a-Werte) finden wir durch- 
wegs e- oder i-Werte. Das gute Abschneiden in den übrigen Reihen zeigt, daß diese 
Stimmung noch keine tiefgehenderen Veränderungen des Charakterbildes hervor- 
gerufen hat. 

Ein ähnliches Bild zeigen: (Fälle 2—7). 

Leopoldine G., 13 Jahre, 4. V.-Sch.-Klasse. Ankylose des rechten Knie- 
gelenkes mit Kontraktur. Intell. normal. 

Stimmungsreibe gleich dem 1. Fall, C und D-Reiha nicht sehr ausgeprägt: 
a-Werte vorherrschend. | 

Anna H., 13 Jahre, 7. Klasse. Poliomyelitische Bein- und Schulterlähmung 
bdsts. Intell. normal. In der A-Reihe Neigung zur manischen Stimmung, Depres- 
sionen fehlen fast ganz. 

Anna K.. 10 Jahre, 1. V.-Sch.-Klasse. Coxitis sin.; geistig etwas zurückgeblieben, 

Leichte Neigung zur manischen Stimmung. 

Adam K., 13 Jahre, 7. Klasse, Intellekt normal. Rachitis.. In der C-Reihe 
sind a-Werte vorherrschend. 

Franz N., 14 Jahre. Fungus d. rechten Ellbogengelenkes. Intellektuell normal. 

Ausgesprochen manische Grundstimmung mit teilweisem Auftreten von Minder- 
wertigkeitsgefühlen. 

Elsa Soh., 14 Jahre, 8. Schuljahr. Poliomyelitische Beinlähmung. Intell. 
normal. Manische Grundstimmung, C D-Reihen viele a-Werte. 


Fall 8 Stephanie P., 13 Jahre, 5. Schuljahr. Poliomyelitische Armläbmung 
rechts, Schiottergelenk. im Alter von 3 Monaten erkrankt. 

Intelligenz: Leicht mechanisierbar, sehr guter Vorstellungsablauf bei schwächerem 
Assoziatiousvermö vn. Gedächtnisleistungen mittelmäßig, ebenso die Konzentrations- 
fähigkeit. 


280 H. Radi: 


Ziemlich gedrückte Stimmung. Die Reihe der Minderwertigkeitsgefühle zeigt 
wohl iu Hemmung, Wehleidigkeit, Überempfindlichkeit und Minderwertigkeitsgefühlen 
i-Werte, doch fehlen Bangigkeit, Furcht und Angst. Die entsprechenden Handlungs- 
weisen sind äbnlich zu bewerten. Die F und G-Reihen zeigen: gruße Aufgeregtheit, 
Gereiztheit, Feindseligkeit, Unzufriedenheit, Ärger, Mißvergnügen, sehr starkes Miß- 
fallen bei mangelndem Zutrauen. Die übrige Tabelle läßt das Mädchen als sonst 
gutmütig erscheinen, so daß die genannten Ansätze zur Dissozialıtät durch die guten 
Eigenschaften noch zum Teil aufgehoben werden. 

Ähnliche Fälle. (9—24). 

Anton C., 14 Jahre, 8. Schuljahr. Spondylitis. Intel normal. 

Manische Stimmung. F-Reihe: starke Aufgeregtheit, Unwille, Gereiztheit, 
Hemmungslosigkeit. 

Marie B., 13 Jahre, 5. Schuljahr. Beugekontraktur des rechten Kniegelenkes, 
Gonitis Tbo. Beide Eltern an Tbc. gestorben. Intell. unterwertig. Geringe Ab- 
weichungen in den Reihen F und G. 

Grete B., 14 Jahre, 7. Schuljahr. Coxa vara. Intell. normal. Manische 
Grundstimmung. 

Josef D., 12 Jahre, 5. Schuljahr. Fungus im rechten Kniegelenk. Intell. normal. 

Sehr gedrückte Stimmung, Minderwertigkeitsgefühle weniger auffällig. F und G- 
Reihe fast durchwegs e-Werte. 

Anna F., 13 Jahre, 5. Schuljahr. Little’sche Krankheit. Intellektuell etwas 
zurückgeblieben. Starkes Auftreten der Minderwertigkeitsgefühle. 

Anna F., 13 Jahre, 5. Schuljahr. Skoliose, Intell. norm. Stimmung mehr 
manisch. Starkes Hervortreten der Minderwertigkeitsgefühle. 

Marianne H., 10 Jahre, 4. Schuljahı. Fehlen beider Arme seit der Geburt. 
Intell. unterwertig. Manische Stimmung, Minderwertigkeitsgefühle sehr stark ausgeprägt. 

Ferdinand H., 14 Jahre, 8. Schuljahr. Fungus im linken Ellbogengelenk. 
Intell. normal. e-Werte in Aufgeregtheit, Unwille, Gereiztheit und Hemmungslosigkeit. 
| Alois J.. 10 Jahre, 1. Schuljahr, Rachitis. Intell., etwas unterwertig. Sehr 
starke Minderwertigkeitsgefühle. 

Karl K., 11 Jahre. 1. Schuljahr. Fungus im linken Kniegelenk. Intell. 
normal. Starke depressive Stimmung, Minderwertigkeitsgefühle sehr ausgeprägt. 

Friedrich L., 12 Jahre, 4. Schuljahr. Poliomyelitische Beinlähmung. Intell. 
normal. F Reihe: Aufgeregtheit, Unwille, Gereiztheit e, Hemmungslosigkeit i; G Reihe 
Unzufriedenheit, Ärger e, Zorn, Wut, Erbitterung i. 

Johann M., I2 Jahre, 5. Schuljahr. Poliomyelitis. Intell. etwas unterwertig. 
Stimmung labil. Minderwertigkeitsgefühle sehr ausgeprägt. 

Johann Sch., 13 Jahre, 6. Schuljahr. Amputation beider Unterschenkel nach 
Unfall. Intell. unterwertig. Manische Stimmung. 

Anna S., 10 Jahre, 4. Schuljahr. Little'sche Krankheit. Intell. unterwertig. 
Sehr große Minderwertigkeitsgefühle. 

Marie V., 13 Jahre, 1. Schuljahr. Caries multiplex. Intell. unterwertig. 
Sehr starke Minderwertigkeitsgefühle. F und G-Reihen zahlreiche i-Werte. 

Hermine W., 13 Jahre, 6. Schuljahr. Little'sche Krankheit. Intell. normal. 
Stimmung labil, sehr hervortretende Minderwertigkeitsgefühle. 

Fall 25. Johann M., 11 Jahre, 3. Schuljahr. Amputation des linken Ober- 
schenkels. Vater an Lungentuberkulose gestorben, Mutter und Geschwister gesund. 
Amputation erfolgte im Alter von 6 Jahren nach vorhergegangener Erkrankung, die 
nicht näher festgestellt werden kann. Intelligenz normal. 


Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder. 981 


Ausgelassener und mutwilliger Knabe mit depressiver Stimmung. In der Reihe 
der Minderwertigkeitsgefühle a-Werte vorherrschend. Die Reihe der entsprechenden 
Handlungsweisen ist schon schärfer ausgeprägt. (Fehlen von Geistesgegenwart, 
Entschlossenheit, Beharrlichkeit und Selbstbeherrschung. Sehr große Verlegen - 
heit, Unsicherheit und Zaghaftigkeit). Die gesteigerte erregte Stimmung, die stark 
hervortretende Gleichgültigkeit und der Mangel an Friedfertigkeit zeigen ihn als 
Dissozialen. Auffällig ist die große Reuefähigkeit und Freundschaftsfäbigkeit. Noch 
klarer wird das Charakterbild, wenn wir die Irritationsreihe ansehen. Keckheit, 
Frechheit, Widerspenstigkeit treten stark hervor, ebenso Zorn, Wut, Erbitterung, 
Trotz und Groll. Das Fehlen von Verehrung, Zutrauen, Entrüstung und Verachtung 
des Bösen wie von Mißvergnügen und Mißfallen, sowie der Mangel au Dankbarkeit 
und die auffällige Verschlossenheit ze’gen uns, daß der Knabe als Verwahrlosungs- 
fall zu werten ist. 

Fall 26. Rudolf L., 13 Jahre alt, 5. Schuljahr. Lähmung beider Beine und 
leichte Läbmung der Arme nach Poliomyelitis. Vater gestorben. (Selbstmord 
durch Erhängen.) Mutter nervös, Rückgratverkrümmung nacb Skoliose. 

Im Alter von 4 Jahren nach einer Erkrankung (angebl. Gehirnhautentzündung) 
Funktionsstöruog der linken Hand und Lähmung beider Beine. Facialisparese rechts. 
Athetose. | 

Intelligenz: Schwer mechanisierbar, mittleres Assoziationsvermögen, langsamer 
Vorstellungsablauf. Gedächtnisleistung lückenhaft unter dem Durchschnitt bei guter 
Konzentrationsfähigkeit. Bis zum 10. Lebensjahr ohne Schulbesuch, seit damals 
Zögling der Spitalsschule. Ä | Ä 

Stark gedrückte Stimmung. Großer Ernst, aber wenig Geduld und Gewissen- 
haftigkeit. Reihe der Minderwertigkeitsgefühle sehr nach dem Schlechten ausgeprägt, 
ebenso die der entsprechenden Handlungsweisen. Hypochondrie fehlt. Egoismus, 
Überhebung und Scheinsucht groß. Iu der gehobenen Stimmung zeigen sich nach 
dem Schlechten ein leicht erregbarer Widerspruch, der mangelnde Altruismus, 
mangelndes Zutrauen sowie ein schwach entwickelter Gerechtigkeitssinn. Nach dem 
Guten: Fehlen von Blasiertheit, Hochmut. geringe Gleichgültigkeit und Widerspenstig- 
keit, hohe Strebsamkeit, Befriedigung, Verehrung, Entrüstung, Freundschaftsfähigkeit 
und Barmherzigkeit. Die schlechten Eigenschaften der erregten Stimmung und 
Irritation. sowie das Auftreten von Arglist, Duckmäuserei, Heimtücke, Hinterlist, 
Falschheit, Schmeichelei, Neid, Geiz und Schadenfreude zeugen für einen hohen 
Grad von Dissozialität. Auffällig ist das Hervortreten von Reue, Scham und 
Gewissensbissen. 

Fall 27. Johann P, 10 Jahre, 3. Schuljahr. Poliomyelitische Beinläbmung,. 
Iotell. normal. 

Labile Stimmung mit leichter Neigung zum Manischen. Reihe C: 2 e, 3 i-Werte. 
Die den Minderwertigkeitsgefühlen entsprechenden Handlungsweisen fehlen auf- 
fälligerweise ganz. Reihen F, G, H: durchwegs o-u-Werte im Guten, e-i-Werte 
im Schlechten. Seine große Keckheit, Frechheit, Widerspenstigkeit, der große 
Widerspruch, der Mangel an Verehrung und Zutrauen charakterisieren ihn als. per- 
sönlich unangenehm. Das starke Hervortreten von Mutwille, Gereiztheit, Hemmungs- 
losigkeit, Feindseligkeit; von Wut, Erbitterung, Lügenhaftigkeit, Neid, Schadenfreude 
und Übelwollen, sowie das gänzliche Fehlen von Reue, Scham, Gewissensbissen und 
Freundschaftsfähigkeit erschweren seine Erziehung nicht unwesentlich, sodaß dieser 
Fall zu den schwerst-erziehbaren gehört. 


282 H. Radl: 


Ähnliche Fälle. (28.) Hermine B., 13 Jahre, 5. Schuljahr. Osteomyelitis. 
Intellektuell etwas unterwertig. Stimmung oberflächlich depressiv. Arge Dissozialität 
ohne Reue und Freundschaftsfähigkeit 

Fall 29. Josef W., 14 Jahre, 7. Schuljahr. Spondyiitis. Intell. unterwertg. 
Gleicht den vorangehenden Fällen, aber manische Stimmung. 

Fall 30. Friedrich K., 14 Jahre, 8. Schuljahr. Caries des linken Ellbogen- 
gelenkes. Intell. normal. 

Sehr ruhig obne Ausgelassenheit und Mutwille mit tiefgehender Depression. 
C-Reihe fast durchgehends i-Werte; nur Bangigkeit, Furcht und Angst a. Die große 
Aufgeregtheit, Gereiztheit, Hemmungslosigkeıt und der große Unwille, das Fehlen 
von Rohheit, Befriedigung und Friedfertigkeit, weiter das Fehlen von Zutrauen und 
das starke Vorhandensein von Mißvergnügen, Mißfallen, Unzufriedenheit, Ärger, Zora 
und Erbitterung zeigen, daß die lange Krankheit ihn psychopathenähnlich gemacht 
hat. Der Hang zur Einsamkeit, den uns der Mangel an Geselligkeit und Freund- 
schaftsfähigkeit zeigt, bestätigt diese Ausicht. 


IV. 


Zum Vergleich mit den Normalschülern wurden die Einzeltabellen 
der je 15 Kinder — Knaben und Mädchen der Spitalsschule und der 
Normalschule — in 4 Tabellen zusammengezogen. (Siehe S. 283—286.) 
Die dort unter den einzelnen Eigenschaften eingesetzten Zahlen be- 
sagen also, daß z.B. in Ausgelassenheit unter 15 Knaben der Spitals- 
schule 2 Knaben u-, 2 o-, 4 a-, 4 e- und 3 i-Werte zeigen gegen 
0 u-, 1 o-, 6 a-, 8 e- und 0 i-Werte der Knaben einer Normalschule. 

Die auffälligsten Abweichungen bei den verkrüppelten Kindern 
sind nach dieser Zusammenstellung: 


A. Manisch-depressive Stimmungsreihe. 
Auffälliger Mangel der manischen und starkes Überwiegen der 
depressiven Stimmung. (Siehe Heiterkeit, Selbstvertrauen, Nieder- 
geschlagenheit, Betrübnis.) Ausnahmen machen Mutwille und Pflicht- 
gefühl bei Knaben und die geringen Abweichungen in Ausgelassen- 
heit, Mutwille, Wehmut und Kummer bei Mädchen. 


B. Reihe der manisch-depressiven Handlungen. 

Den Ergebnissen in der Stimmungsreihe entsprechen Ernst und 
Gewissenhaftigkeit bei Knaben und Gewissenhaftigkeit bei Mädchen. 
Die Kopflosigkeit ist bei verkrüppelten Kindern größer. 

Zu Schlamperei und Leichtsinn wurde wegen der Beziehungen 
dieser Eigenschaften zur Verwahrlosung das Vergleichsmaterial er- 
weitert. Die Tabelle auf S. 287 zeigt die Ergebnisse dieser Unter- 
suchungen für je 100 Kinder aus A einem Bezirk mit sozial besser 
und B mit sozial schlechter gestellten Familien, unter C die ent- 
sprechenden Zahlen für die verkrüppelten Kinder des Spitals. 


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Spitalaschule, Knaben. 


Über die Dissozialität verkrüpg 











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282 H. Radl: 


Ähnliche Fälle. (28) Hermine B., 13 Jahre, 5. Schuljahr. Osteomyelitis. 
Intellektuell etwas unterwertig. Stimmung oberflächlich depressiv. Arge Dissozialität 
ohne Reue und Freundschaftsfähigkeit 

Fali 29. Josef W., 14 Jahre, 7. Schuljahr. Spondyiitis. Intell. unterwertig. 
Gleicht den vorangehenden Fällen, aber manische Stimmung. 

Fall 30. Friedrich K., 14 Jahre, 8. Schuljahr. Caries des linken Ellbogen- 
gelenkes. Intell. normal. 

Sehr ruhig ohne Ausgelassenheit und Mutwille mit tiefgehender Depression. 
C-Reihe fast durchgehends i-Werte; nur Bangigkeit, Furcht und Angst a. Die große 
Aufgeregtbeit, Gereiztheit, Hemmungslosigkeit und der große Unwille, das Fehlen 
von Rohheit, Befriedigung und Friedfertigkeit, weiter das Fehlen von Zutrauen und 
das starke Vorhandensein von Mißvergnügen, Mißfallen, Unzufriedenheit, Ärger, Zora 
und Erbitterung zeigen, daß die lange Krankheit ihn psychopatbenähnlich gemacht 
bat. Der Hang zur Einsamkeit, den uns der Mangel an Geselligkeit und Freund- 
schaftsfähigkeit zeigt, bestätigt diese Ansicht. 


IV. 


Zum Vergleich mit den Normalschülern wurden die Einzeltabellen 
der je 15 Kinder — Knaben und Mädchen der Spitalsschule und der 
Normalschule — in 4 Tabellen zusammengezogen. (Siehe S. 283—286.) 
Die dort unter den einzelnen Eigenschaften eingesetzten Zahlen be- 
sagen also, daß z. B. in Ausgelassenheit unter 15 Knaben der Spitals- 
schule 2 Knaben u-, 2 o-, 4 a-, 4 e- und 3 i-Werte zeigen gegen 
0 u-, 1 o-, 6 a-, 8 e- und 0 i-Werte der Knaben einer Normalschule. 

Die auffälligsten Abweichungen bei den verkrüppelten Kindern 
sind nach dieser Zusammenstellung: 


A. Manisch-depressive Stimmungsreihe. 
Auffälliger Mangel der manischen und starkes Überwiegen der 
depressiven Stimmung. (Siehe Heiterkeit, Selbstvertrauen, Nieder- 
geschlagenheit, Betrübnis) Ausnahmen machen Mutwille und Pflicht- 
gefühl bei Knaben und die geringen Abweichungen in Ausgelassen- 
beit, Mutwille, Wehmut und Kummer bei Mädchen. 


B. Reihe der manisch-depressiven Handlungen. 

Den Ergebnissen in der Stimmungsreihe entsprechen Ernst und 
Gewissenhaftigkeit bei Knaben und Gewissenbhaftigkeit bei Mädchen. 
Die Kopflosigkeit ist bei verkrüppelten Kindern größer. 

Zu Schlamperei und Leichtsinn wurde wegen der Beziehungen 
dieser Eigenschaften zur Verwahrlosung das Vergleichsmaterial er- 
weitert. Die Tabelle auf S. 287 zeigt die Ergebnisse dieser Unter- 
suchungen für je 100 Kinder aus A einem Bezirk mit sozial besser 
und B mit sozial schlechter gestellten Familien, unter C die ent- 
sprechenden Zahlen für die verkrüppelten Kinder des Spitals. 


Tabelle II. 


Über die Dissozialität verkrüpg 

















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Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder. 287 





Leichtsinn 


Knaben, 8—10 jährig. 
III. Klasse Volksschule . 
III. Klasse a, Volksschule . 
III. Klasse b, Volksschule . 
Spitalsschule . 


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Knaben, 10—14 jährig. 
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ı V. Klasse a, Volksschule 
; Spitalsschule . 


Mädchen, 8—10jährig. 
ı IIL Klasse Volksschule . . 
ı III. Klasse c, Volksschule . 
‚ Spitalsschule . 


Mädchen, 10—14jährig. 
\ V. Klasse, Volksschule 

3 V. Klasse c, Volksschule 

> Spitalsschule . 





Diese Untersuchungen lassen Schlamperei und Leichtsinn als von 
‚xogenen Einflüssen (Milieu) abhängig erscheinen. Das Überwiegen 
ler a-Werte bei den Spitalsschülern ist wohl darauf zurückzuführen, 
laß die notwendige Hausordnung in einem Heim ein stärkeres Hervor- 
reten von Schlamperei und Leichtsinn in der Regel verhütet. 

C. Reihe der Höher- und Minderwertigkeitsgefühle. 

Die Höherwertigkeitsgefühle treten stärker auf. (Stolz bei Knaben 
ınd Mädchen, Ehrgefühl bei Mädchen) Wesentlich ungünstiger 
tehen die verkrüppelten Kinder in der Reihe der Minderwertigkeits- 
zefühle. Diese überwiegen außerdem bei den Mädchen gegenüber 
len Knaben. (Hemmung, Überempfindlichkeit, Angst, Minderwertig- 
teitsgefühle.) 


D. Reihe der den Höher- und Minderwertigkeitsgefühlen 
entsprechenden Handlungsweisen. 


Die Auswirkungen der Gefühle der Minderwertigkeit zeigen sich‘ 
sehr auffällig in einem starken Überwiegen von Schüchternheit, Ver- 
legenheit, Unsicherheit, Zaghaftigkeit, Zweifel, Unentschlossenheit und 


288 H. Radl: 


Leichtgläubigkeit. Dagegen tritt die Selbstbeherrschung mehr nach 
dem Guten hervor. 


E. Höher- und Minderwertigkeitsgefühle, die sozial zur 
Geltung kommen. 


Auch diese sozialen Auswirkungen machen sich sehr stark geltend. 
Im Guten: Strebsamkeit, Ehrgeiz, Genügsamkeit und Altruismus bei 
Knaben; die Mädchen treten in Strebsamkeit etwas zurück, übertreffen 
aber die Knaben an Altruismus. Als schlechte Auswirkungen zeigen 
sich besonders: Überhebung, Eitelkeit, Scheinsucht und Affektation 
bei Knaben; die Mädchen zeigen sich hier etwas besser als die Knaben. 


F. Reihe der ruhigen und erregten Stimmung. 


Gieichgültigkeit ist bei den Knaben größer. Die erregte Stimmung 
überwiegt. Im Guten: Reue, Scham, Gewissensbisse. Im Schlechten: 
Aufgeregtheit, Unwille, Feindseligkeit und Gehässigkeit bei Knaben; 
Unwille und Gereiztheit bei Mädchen. 


G. Irritationsreihe mit Hebung und Herabsetzung der 
Persönlichkeit. 


Dem Überwiegen der Ausgelassenheit entspricht das starke Auf- 
treten von Keckheit, Frechheit, Widerspenstigkeit und Widerspruch. 
Dem entgegen stehen Eigenschaften, in denen die verkrüppelten Kinder 
die Normalschüler weit überragen: Verehrung, Zutrauen, Entrüstung 
und Verachtung des Bösen, in denen die Knaben noch von den 
Mädchen übertroffen werden. 

In G V und G VI schneiden die verkrüppelten Kinder etwas un- 
günstiger ab; auffällig ist das Zurücktreten des Zorns. 


H. Reihe der sozialen Eigenschaften mit Hebung und 
Herabsetzung der Persönlichkeit. 


Geselligkeit, Freundschaftsfähigkeit, Barmherzigkeit und Dank- 
barkeit sind besser entwickelt als bei Normalschülern. Die Reihe der 
dissozialen Eigenschaften (H VI) zeigt aber ein für die Verkrüppelten 
wesentlich ungünstigeres Ergebnis. Es stehen in dieser Gruppe bei 
Knaben 26 e- und 5 i-Werte den 2 e-Werten der Normalschüler 
gegenüber. Bei den Mädchen der Normalschule finden sich diese 
Wertungen nach dem Schlechten überhaupt nicht, gegen 9 e- und 
1 i-Wert für die Mädchen des Spitales. 


Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder. 289 


vV. 


Bei der Beurteilung der Charaktereigenschaften verkrüppelter 
Kinder ist zu bedenken, daß das Zentralnervensystem in sehr vielen 
Fällen eine direkte Schädigung erlitten hat (Encephalitis, Little’sche 
Krankheit, Kinderlähmung usw.); oder daß das Zentralnervensystem 
indirekt durch die Schmerzhaftigkeit des Leidens und der langen 
Nachbehandlung und die Angst vor Operationen in Mitleidenschaft 
gezogen wurde. Ferner ist oft die Einschränkung der Bewegungs- 
freiheit durch das Leiden mit einer Reihe psychischer Auswirkungen 
verbunden. Und schließlich müssen für verkrüppelte Kinder an das 
Milieu auch weit größere Anforderungen gestellt werden, da sich 
sonst Formen der Verwahrlosung einstellen. 

Aus den erstgenannten Gründen wird man das starke Über- 
wiegen der depressiven Stimmung verstehen, ebenso, daß hier die 
ist allgemein hervortretenden Minderwertigkeitsgefühle ihre Wurzeln 
haben, die im Sinne Adlers das ganze Seelenleben des Krüppels 
beeinflussen. 

Danach wäre auch die Schuld an der Häufigkeit der erregten 
Stimmung den letztgenannten Defekten beizulegen und man kann 
verstehen, daß es zu den vielen Formen der Irritation kommt, die 
störend auf das soziale Leben wirken. Es handelt sich aber hier 
zweifellos um eine Reihe sehr unangenehmer Eigenschaften (Keckheit, 
Frechheit, Widerspenstigkeit usw.), auf die man von vornherein nicht 
eingestellt ist. Sie entwickeln sich analog wie bei den neuropathischen 
Dissozialen und Kriminellen. 

In den untersuchten Fällen erweisen sich aber die meisten der 
dissozialen Krüppel deshalb einer heilpädagogischen Behandlung zu- 
gänglich, weil sie eine Reihe kompensierender Eigenschafien besitzen, 
die gerade wieder für sie charakteristisch sind: Die hochentwickelte 
Geselligkeit, Freundschaftsfähigkeit, Barmherzigkeit; Verehrung, Zu- 
trauen. Entrüstung, sowie die Leichtigkeit, mit der sich Reue und 
Scham entwickeln lassen. Hier findet der Erzieher die für ihn 
wichtigsten Handhaben. 

Wo die genannten Eigenschaften fehlen, kommt es allerdings zu 
ganz erheblichen Schwierigkeiten. Dies ist besonders dann der Fall, 
wenn es außer dem Auftreten der Eigenschaften, die zur häuslichen 
Dissozialität führen, noch zu tiefergreifenden Charakterschädigungen 
gekommen ist, die eine soziale Lebensführung unmöglich machen. 

Ein Überblick über die Einzelfälle läßt eine Reihe von Modi- 
fikationen erkennen, die sich schematisch folgendermaßen darstellen 
lassen: 


290 H. Radl: 


Unter 30 Kindern: 


1. Reihe CD . . . 22 .2..70 

2. „ CD+FG . . . . . 17 (Häusl. Dissozialität.) 

3. „  CDEG +H (FIV HII gut)1 ER . 

4 „ CDEG+H(FIV gut). 1 (Allg. Dissozialität m. Neigung 

5. „ CDFG+H(FIvV HII z. Kriminalität). 
schlecht) . . . .. 4 


Dabei ersehen wir aus der Zusammenstellung der Fälle. 
daß weder die Schädigung, die zur. Verkrüppelung geführt 
hat, noch aber der Sitz der Krüppelhaftigkeit für das Auf- 
treten der Dissozialität eine Rolle spielt. 

Die Untersuchungen haben an einem verhältnismäßig kleinen 
Material stattgefunden. Es zeigt sich aber in den Ergebnissen eine 
sn starke Zusammengehörigkeit der.Fälle, daß sich daraus wohl eine 
Gesetzmäßigkeit ableiten läßt. 

Da das Hauptgewicht in den Minderwertigkeitsgefühlen liegt und 
die Irritation und die anderen sozialen Fehler sich daraus zwanglos 
ableiten lassen, muß sich die erzieherische Einstellung vor allem 
gegen diese richten. Andererseits weisen sie aber gerade in ihren 
Beziehungen zu den übrigen kindlichen Fehlern auf die große Be- 
deutung der Minderwertigkeitsgefühle in der Psychopathologie des 
Kindesalters hin. 

Zusammengefaßt ergibt sich: 

1. Die Dissozialität spielt eine hervorragende Rolle im Leben des 
verkrüppelten Kindes. 

2. Sie ist ursächlich aus dem Grundleiden und den damit in 
Zusammenhang stehenden psychischen Veränderungen abzuleiten. 

3. Die Krüppelerziehung muß die Neigung zur Dissozialität im 
Auge behalten. Sie findet zu ihrer Bekämpfung in der modernen 
Heilpädagogik, speziell in der Berücksichtigung der Minderwertigkeits- 
gefühle eine bedeutende Stütze. , 


Literatur. 


Adler, A., Praxis und Theorie aer Individualpsychologie. München, Verlag J. 
F. Borgmann, 1920. 

Biesalsky, K., Leitfaden der Krüppelfürsorge. II. Aufl. 1920. Leipzig, Veng 
L. Voß, 

Biesalsky u. Würtz, Zeitschrift für Krüppelfürsorge. I.—XVII. Band. Leipzir. 
Verlag L. Voß. | 
Bischoff, E, u. Lazar, E, Psychiatrische Untersuchungen in der niederöster- 
reichischen Zwangsanstalt Korneuburg. Jahrbücher für Psychiatrie und Nev- 

rologie, Bd. 36. Wien, Verlag F, Deuticke, 1914. 


Über die Dissozialität verkrüppelter Kinder 291 


Dickhoff, E., Das Problem des Krüppels und die Richtlinien für die Erziehung 
des Krüppelkindes. Langensalza, Verlag Hermann Beyer & Söhne (Beyer & 
Mann) 1917. 

Fankhauser, Wesen und Bedeutung der Affektivität. Berlin, Verlag J. Springer, 
1919. 

Lazar, E., Über die endogenen und exogenen Wurzeln der Dissozialität Jugendlicher. 
Zeitschrift f. Kinderheilkunde, Bd. 8, Heft 6. Berlin, Verlag Springer, 1919. 

— — Die heilpädagogische Abteilung der Kinderklinik in Wien. Zeitschrift für 
Kinderforschung, Bd. 28, Heft 2. Berlin, Verlag J. Springer, 1923. 

Lazar u. Tremel, Die Ergebnisse der Intelligenzprüfungen bei Hilfsschulkindern. 
Zeitschrift f. Kinderheilkunde 1922, Heft 1/2. 

Schloßmann, Das preußische Gesetz, betreffend öffentliche Krüppelfürsorge, nebet 
Ausführungsbestimmungen und Erläuterungen. Berlin, Verlag C. Heymanns, 1920. 

Wurtz, H., Das Seelenleben des Krüppels. Leipzig, Verlag L. Voß, 1920. 

— — Sieghafte Lebenskämpfer. München, Seybold-Verlag, 1919. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 20 


npa nt ae o S — 


(Aus der heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik in Wien, Prof. Pirquet.) 


Psychologische Studie über Erfindungsversuche 
von 11—14jährigen Knaben. 


Von 
Johann Machaiek, Wien. 


Die vorliegenden Zeilen versuchen ganz kurz die Resultate einer 
Untersuchung über kindliche Erfinder und Erfindungen wiederzugeben. 
Unter 171 Kindern, die in dieser Hinsicht studiert wurden, konnten 
24 als typisch festgestellt werden. Die Beobachtungszeit betrug bei 
3 Kindern je 1 Jahr, bei 9 Kindern je 2 Jahre, bei 10 Kindern je 
3 Jahre, bei einem Kind 4 Jahre und bei einem Kind 5 Jahre. 


I. 


Das technische Material, das von diesen 24 Kindern stammt, zer- 
fällt in 3 ganz verschiedene Gruppen: 

1. Arbeiten von Kindern, die sich eng umgrenzen, rein praktischen 
Aufgaben zuwenden. Besonders gerne führen sie Verbesserungen von 
Apparaten aus. Sie sind sozusagen geistreiche Handwerker. Sie 
haben einen guten Blick für die Bedürfnisse, die sich beim Gebrauch 
irgend einer Vorrichtung oder eines Werkzeuges einstellen. Oft ist 
es nur ein Handgriff, eine einfache Umstellung eines Bestandteiles, 
nie handelt es sich um etwas durchwegs Neues, nie um einen Apparat 
oder ein Werkzeug, die aus neuen Gesichtspunkten heraus konstruiert 
würden, sondern immer um Kleinigkeiten und um Variationen. 

Zur deutlicheren Charakterisierung sei vorweggenommen, daß diese 
Kinder daheim Uhren, Gasherde, Schlösser, Beleuchtungsanlagen usw. 
nicht nur gut kennen, nicht nur Fehler und Gebrechen derselben 
herausfinden, sondern sogar auch oft reparieren. 

2. Konstruktionen, die auf physikalischen und technischen Über- 
legungen fundieren. Hier genügt nicht mehr, wie bei der ersten 
Gruppe, der »gesunde Menschenverstand« und die »Erfahrung des 


Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 11—14jähr. Knaben. 293 


Praktikerse Hier werden gewisse Prinzipien der Naturlehre realisiert. 
Wenn diese »Erfindungen« unverwertbar sind, liegt das an Fehlern, 
die durch die zu geringe naturwissenschaftliche Durchbildung, durch 
mangelhafte Erfahrung, durch kindlich-fehlerhafte Schlußfolgerungen 
bedingt sind. Zieht man die Altersstufe dieser Kinder in Betracht, 
muß man ihren Überlegungen immerhin ein ziemlich großes Maß an 
Klugheit und Scharfsinn, manchmal sogar eine gewisse Originaliät zu- 
erkennen. 

3. Arbeiten, in denen sich wenig realer Sinn zeig. Wenn die 
Kinder Modelle bauen, bleiben diese unvollendet. Auf praktische 
Durchführung lassen sich die »Erfinder« nicht ein. Ihre Pläne basieren 
auf unverstandenen oder halbverstandenen wissenschaftlichen Lehr- 
sätzen oder Theorien, lassen jede Erfahrung beiseite, weisen Mängel 
primitivster Kenntnisse auf, zeigen alogische, geradezu spielerische, 
lose Aneinanderreihung oft blendender Einzelheiten. 

Das Verbalten der Kinder, welche derärtige »Erfindungen« pro- 
duzieren, zeigt gewisse Ähnlichkeiten zu dem mancher Psychotiker. — 

Arbeitsweise: Fieberhafter Eifer, Abbruch der Arbeit noch vor 
der Vollendung, manchesmal kurze Enttäuschung. Diese Kinder sind 
keine bäuslichen Reparateure.e Wenn sie Reparaturen versuchen, 
stiften sie nur noch größeren Schaden an. 

Zur Illustration des Gesagten seien einige Arbeiten der 3 Gruppen 
geschildert. 


1. Gruppe. 


1. Ein im Physikunterricht. also zu Demonstrationszwecken, verwendetes Modell 
eines Springbrunnens besteht bekanntlich aus zwei kommunizierenden Gefäßen, die 
durch einen Schiauch verbunden sind. Die Höhe des Wasserstrahles ist natürlich 
von der Höhe des Wasserbehälters abhängig. Während eines Experimentes ergab 
sich die Notwendigkeit. die Höhe des Strahles variieren zu können, ohne daß der 
Wasserbehälter gehoben und gesenkt werden müßte. Also eine konkrete Aufgabe. 
Ihre Lösung erfolgte durch den Knaben H. L., 12 Jahre, nach kurzer Überlegung. 
Sie bestand darin, daß der Schlauch an eine Spritzflasche angeschlossen wurde. Ein 
entsprechend stärkeres oder schwächeres Blasen in das Ansatzrohr der Spritzflasche 
bewirkte die analoge Variation der Strahlhöhe. Die Aufgabe wurde nicht vom 
Lehrer gegeben, sondern das Kind hat sie sich selbst gestellt und gelöst. An der 
Spitze des Aktes steht ein eindeutiges konkretes Problem, oder wie man hier eigent- 
lich sagen müßte: eine Aufgabe. Ihre Lösung erfolgt ohne theoretische Über- 
legungen oder Begründungen, nur mit Hilfe praktischer Erfahrung. 


2. Ebenso ist es im folgenden Fall. Um Wasser oder irgend eine andere 
Flüssigkeit aus einem Gefäß in das andere zu entleeren, benützt man einen Schlauch 
als Heber. Dabei muß die Flüssigkeit durch Ansaugen ins Fließen kommen. Bei 
einer übelschmeckenden Flüssigkeit ergab sich die Aufgabe, den Schlauch ohne An- 
saugen zu verwenden. R. W., 13 Jahre, legt den ganzen Schlauch in das gefüllte 

20* 


294 J. Machaček : 


Gefäß, dann hält er ein Ende zu, hebt es heraus und führt es in das andere Gefäß 
ein. Nun öffnet er das Ende und die Flüssigkeit fließt. 

3. Aufgabe: Kleines Modell eines kippbaren Wagens herzustellen, das als Lehr- 
mittel verwendet werden soll und einen fahrenden Wagen zeigt, der an einer be- 
stimmten Stelle seiner Bahn seinen Inhalt entleert. Das »Problem« liegt hier darin, 
daß ein Schulmodell, als primitive Handarbeit einem möglichst einfachen, dabei 
sicheren Mechanismus gehorchen soll (Lösung A. S., 12 Jahre). 

4. Raimund Sch. will sich zu seinem Bogen spitze Pfeile herstellen. Als 
Pfeilspitze sollen Nägel oder Stecknadeln verwendet werden. Ihre solide Befestigung 
an ein sprödes Holzstäbchen bildet ein »Problem«. Lösung: Das Ende des Stäbchens 
wird längere Zeit in Leim getaucht, quillt dabei etwas auf. Nun kann die Nadel 
oder der Nagel hineingetrieben werden. Daraufhin Umwicklung mit Draht, dann 
eine dicke Leimschichte. dann wieder Draht, wieder Leim usw. 

5. Pr., 14 Jahre, hat daheim elektrischen Strom, der aber für seine Spielereien, 
die elektrisch betrieben werden können, zu stark ist. Er baut sich daher einen 
Widerstand. Die Herstellung desselben beschreibt er folgendermaßen: 

(Auszug.) 

»Wie ich mir einen billigen Lampenwiderstand gemacht habe. Eines Tages 
kam mir der Gedanke, einen Lampenwiderstand zu machen. Ich nahm ein Brett, 
welches 27 cm lang, 22 cm breit und 1,5 cm dick war. Nun mußte ich mir mehrere 
Sicherungen kaufen. Doch als ich sie mir gerade anschaffen wollte, fand ich welche 
in meinem Raritätenkasten. Es waren Lamellensicherungen, ... 2 alte Fassungen, 
2 Klemmschrauben und Draht, das heißt ein 3 m langes Kabel. — In die 2 Fassungen 
schrauben wir 2 Glühlampen ein. In M1 und M2 geht der Strom aus dem Kabel 
durch die Sicherung S, dann geht er durch a und in die Fassung F1 und zuletzt 
in die Fassung F2 zu der Klemmschrauve Kl. Der andere Pol geht durch die 
Sicherung S, dann durch b und Sch (Sch ist ein Schalter, welcher nicht notwendig 
ist) zu der anderen Klemmschraube Kl. Nun ... noch 2 Steckkontakte. Einen .. 
in die 2 Löcher M1, M2, den anderen in die Stromquelle ... Die beiden Steck- 
kontakte sind durch ein Kabel verbunden.« 

Dieser Aufsatz zeigt nicht nur die geradezu minutiöse Genauigkeit, mit der 
handwerklich wichtige Einzelheiten geschildert werden, nicht nur einen der manuellen 
Ausführung vollkommen parallelen Gedankengang, sondern vor allem wieder das 
Fehlen irgendwelcher theoretischer Erwägungen, Begründungen, Ge- 
danken. Alles ist Erfahrungssache und läuft völlig auf rein praktische 
Elemente hinaus. 

6. Die Drahtführung bei der elektrischen Klingel wurde auf rein empirischer 
Grundlage auf verschiedene Arten durchgeführt. 

7. Zwei l4jährige Knaben stellen alle nötigen Hılfsmittel her, um den in der 
Schule befindlichen Skioptikonapparat für Horizontalprojektion gebrauchen zu können. 
Der Bau solcher Apparate war den Kindern bekannt; — die Aufgabe bestand darin, 
die, entsprechenden Vorrichtungen der Individualität des Schulskioptikons genau an- 
zupässen. 


2. Gruppe. 


8. Rudolf S., 13 Jahre, »hat eine Idee«. Er will den Auftrieb einer Flüssig- 
keit, also eine »konstant wirkende Kraft« zur Drehung eines Rades verwenden. Der 
Ausgangspunkt ist also ein theoretischer. Ebenso bilden die folgenden Überlegungen 
eine lückenlose theoretische Fundierung, bis auf einen Trugschluß, der alles illusorisch 


Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 11—14jähr. Knaben. 295 


macht. Ein großer Kasten ist durch eine Scheidewand in 2 Fächer A und B geteilt. 
Im Fach A ist eine spezifisch schwere Flüssigkeit, im Fach B ein spezifisch mög- 
lichst leichtes Gas. Erstere hat starken Auftrieb, letzteres bedeutet einen sehr 
geringen Gewichtsverlust für alle darin befindlichen Körper (Archimedisches Prinzip). 
Ein Rad, das sehr leicht drehbar ist, hat ein geringes spezifisches Gewicht und reicht 
mit einem Segment in das Fach A, mit dem anderen in das Fach B. Es durch- 
bricht also die Scheidewand zwischen A und B, schließt aber so dicht. daß Flüssig- 
keit von A nach B, oder Gas aus B nach A auf keinen Fall hinüber kann. Der 
dichte Verschluß darf die leichte Drehbarkeit des Rades nicht stark hemmen. Der 
in der Flüssigkeit herrschende starke Auftrieb bewirkt eine Drehung des leichten 
Bades. Die in B aurch den geringen Auftrieb des leichten Gases nur wenig ver- 
ringerte Schwerkraft wirkt ebenfalls im Sinne der Drehung. Da die Bewegung 
eine Drehung, die Kräfte konstant sind, ist die ganze Vorrichtung ein Perpetuum 
mobile. Die Ausführung erfolgte durch Konstruktion der Risse und durch ein Holz- 
modell. Außerordentlich charakteristisch ist hier die geradezu schritt- 
weise theoretische Fundierung einer großzügigen Idee, nämlich die Aus- 
nützung des Auftriebes zur Drehung. 

9. Am Umfange eine Rades sind bewegliche Pendel befestigt, die sich bei 
Drehung desselben radial einstellen. Versetzt jemand das Rad in Drehung um seine 
Achse. so müßte es nach einiger Zeit wieder stillstehen. Aber schor bei der Ver- 
langsamung der Drehung werden die Pendel durch die Tangentialkraft weiter- 
geschleudert. Nun ist die Masse auf der einen Hälfte des Rades größer als auf der 
anderen Hälfte und das Rad dreht sich wieder schneller weiter. 

10. Ein Perpetuum mobile ist auch der vom 1lljährigen K. Z. konstruierte 
Luftmotor, bei dem strömende Luft und Schwungräder zusammenwirken. 

11 »Idee« : Reibungselektrizität (eine andere kennt der Knabe noch nicht) 
zum Betrieb eines Motors zu verwenden: Eine Stange wird durch eine Elektrisier- 
maschine ständig mit Elektrizität geladen. Ein leicht drehbares Rad besitzt auf 
seinem Umfang Metallspitzen. Die der Stange zunächst liegende Spitze wird in- 
fluenziert. Es erfolgt ihre Anziehung, Ausgleich der ungleichen Elektrizitäten und 
daraufhin eine Abstoßung. da ja die positive Restladung mit derjenigen der Kugel 
gleichnamig ist. Zugleich wurde auch schon die nächste Spitze influenziert usf. 

12. Sehr gut überlegt hat der 13jährige K. Z. bei der Konstruktion eines 
Explosionsmotors. Bei diesem wirken elektrische Zündvorrichtung, die Regulation 
des Zustromes explosibler Dämpfe, zwei Schwungräder usw. auf das präziseste 
zusammen. 


3. Gruppe. 


13. Problem: Ein Motorschlitten von unglaublicher Vielseitigkeit in bezug auf 
Verwendungsmöglichkeiten. — »Lösung« durch Alfred P., 13 Jahre. Eine fast 
', m? große Zeichnung mit vielen Skizzen von Einzelbestandteilen, versehen mit 
reichlicher Beschreibung, alles farbig. Ein Gemisch unverstandener Elemente aus 
Büchern, Skizzen, Vorträgen usw. — Wirkt im ersten Augenblick verbiüffend. 

14. Problem: Besonders empfindliche Antennen für drahtlose Telegraphie zu 
Demonstrationszwecken. Ein Modell aus Holz und Draht, wurde begonnen aber nie 


vollendet. 
15. Der 12jäbrige Adalbert H. kauft eine Menge Material, um einen betriebs- 


fähigen Aeroplan zu bauen. Er kommt aber nicht über den Ankauf des Materials 
linaus. 


296 J. Machatek: 


16. Der 14jährige Robert Sch. beschäftigt sich außerordentlich viel mit Elek- 
trizität und Chemie. Immer voll mit Plänen. Bei seinen Experimenten kommt 
es öfter zu gefährlichen Explosionen, er verletzt sich an den Händen und zer- 
trimmert Fensterscheiben. 

17. Arnold D., 14 Jahre, beginnt heimlich den Bau eines Radiotelephons. 
Wurde nie vollendet. 

18. Eine große Zahl begonnener Versuche in Metallchemie liegt von den 
2 Knaben R. H., 14 Jahre, und X. K., 14 Jahre vor. Doch haben sie nie einen 
Erfolg erzielt. 

Die Kindererfindungen zeigten uns (zunächst ohne Rücksicht auf 
die »Erfinder«) drei große Gruppen, die sich dem objektiven Beschauer 
sofort aufdrängen. Nr. 1—7 sind Arbeiten, die Verbesserungen von 
Apparaten, Lösungen konkreter Aufgaben, Variationen im Gebrauch von 
Vorrichtungen enthalten. Sie zeigen nichts wesentlich Neues, sondern 
immer nur geschickte Verwertung von Erfahrungen. Charakteristisch 
ist auch die sofortige praktische Durchführung durch das Kind. Es 
ist ein »origineller Handwerker« ohne weitumfassende, großzügige 
Ideen. Das Wort »originell«e soll die klugen Einfälle, das Wort 
»Handwerker« die manuelle Geschicklichkeit und vor allem die Be- 
schränkung auf das rein praktische Moment, das Fehlen theoretischer 
Erwägungen und umfassender Gedankengänge ausdrücken. Nr. 8—12? 
bietet Neukonstruktionen mit genauer theoretischer Grundlegung. Die 
Idee ist großzügig, ihre Realisierung nüchtern und verstandesmäßig. 
Diese »Erfindungen« stammen von Kindern, die als »Theoretisch- 
Großzügige« bezeichnet werden sollen. Nr. 13—18 sind lauter un- 
vollendete »Lösungen«. Sie sind weder praktisch durchführbar, noch 
theoretisch fundiert. Sie sind »Phantasien«, die hochfliegende Pläne 
und Wünsche befriedigen. Ihre Urheber seien als »PLantasten« 
bezeichnet. 

Die Arbeitsweise der kindlichen Erfinder, die sich eindeutig in 
ihren Schöpfungen spiegelt, gestattet also analog der Einteilung der 
»Erfindungen< auch eine Gruppierung der zugehörigen Kinder in 
3 Typen, die sich wie folgt verteilen: 


a) Originelle Handwerker . . . 11 Knaben 
b) Theoretisch Großzügige . . . 6 „ 
c) »Phantasten« . . ....07 5 


Unter 171 . . . . . . . 24 Knaben. 
(Dazu noch eine Bemerkung aus der Erfahrung des Verfassers. 
» Phantasten« halten ihre Erfindungen oft geheim und vertrauen sie 
nur selten an. Es ist also leicht möglich, daß ibre Zahl unter 171 
vielleicht mehr als 7 beträgt.) 
Fassen wir nochmals in folgender Tabelle zusammen: 





Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 11—14jähr. Knaben. 297 
b 
Typus der Projekte | Ergebnis Anmerkung 
a) Origineller Praxis Verbesserungen, 
Variationen, Bastler- Aufgabe 
Handwerker Erfahrung Neue Gebrauchs- || Reparaturen 
möglichkeiten mit gutem 
b) Theoretisch Theoretische |Geistreiche Neu- Erfolg » Reales 
Großzügiger Überlegung konstruktionen Problem« 
c) »Phantast« Wunsch- Unvollendetes, »Phan- 
phantasie Mißglücktes Unpraktisch } tastisches 
' Problem« 
II. 


Eine weitere Frage ist die, ob die Gruppierung, die ja nur von 
einem einzigen Gesichtspunkte aus erfolgte, nämlich der Arbeitsweise 
in technischer Richtung, nicht auch im Zusammenhang mit Körper- 
bau, Intelligenz, Charakter usw. stebt. Zu diesem Zwecke sei eine 
Beschreibung der hierbergehörigen Kinder gegeben. 


1. Gruppe. 


Zu den originellen Handwerkern gehört der 13jährige Ludwig P. Das 
Körperbautypische zeigt einen asthenischen Habitus im Sinne Kretschmers [ß). 
Besonders charakteristisch ist hier das Winkelprofil, vor allem bedingt durch die 
lange, etwas gebogene, spitze Nase und den zurücktretenden Unterkiefer. Die schmale 
lange Nase, schmale Glabella, die Eiform des mageren Gesichtes unterstreichen 
die Schmalheit desselben. Außer diesen typischen »asthenischen« Merkmalen finden 
sich übrigens noch folgende: Das Haar wächst an den Schläfen und besonders am 
Nacken herein, die Hand ist schwach behaart, fest, die Arme sind lang, die Schultern 
schmal, alles mager, blaßbraune Hautfarbe, die Venen scheinen durch. Weniger 
deutlich sind dio asthenischen Merkmale bei der Mutter vorhanden, (über die Not- 
wendigkeit, auch die Familienangehörigen zu berücksichtigen, siehe Kretschmer, 
Körperbau und Charakter), während der Vater und eine 121/, Jahre alte Schwester 
dem Verfasser unbekannt sind. Soweit Fertigkeiten in Betracht kommen 
(Zeichnen, Handfertigkeit, Basteln), arbeitet P. sicher und präzis, dabei geschmack- 
voll und rein. Sonst dagegen ist gerade das Gegenteil zu bemerken. — Schlechte 
Rechtschreibung, für gewöhnlich nervöse. zerfahrene Schrift, wenig geschmaokvolle 
Verzierungen. Das nervöse Gehaben täuscht allerdings oft flotte Arbeit vor. Rein, 
nur infolge der Sorgfalt der Erziehung. Repariert daheim Gaskocher, elektrische 
Leitung usw. mit großem Geschick. Sparsam. Selbstvertrauen. Fügsam. Eine lang- 
wierige Schilderung der Intelligenz erspart man mit Hilfe des Lazar-Tremelschen 
Intelligenzprofils [7], das in knappster Form ein ausgiebiges Bild gibt, wenn man 
es in der von den beiden Autoren angegebenen Weise liest [1, 7, 8]. 

S—e, Asch—e, Mass a—o, Def—a, MZ—o, MS—a—0o, O—o, Aufs.—a—o, Bo—a—o, 
Zp—e—i, Klo—a, Le—i. — Interessant ist auch das ohne weiteres verständliche 
Arbeitsprofil (nach Kehrreim) [2]: 

E—e, Am—i, Rp—e, Np—a, S-i, Ad—i, T—e. D-e, B.gr—i, Bm—i, B.f—i.— 


298 J. Machatek: 


Hans I., 13 Jahre, ebenfalls ein origineller Handwerker, ist keineswegs ein 
ausgeprägter Astheniker. Das Gesicht zeigt zwar die Eiform, borstige Augenbrauen, 
schmäleren Unterkiefer, gar nicht herausgearbeitetes Kinn u. ä. — Manches asthenisch- 
athletische Merkmal, wie etwa die an der Nasenwurzel verwachsenen Augenbrauen, 
der etwas höhere Schädel, als auch pyknische Einschläge, wie die Gesichtsfarbe, 
kürzere abgestumpfte Nase, schwach angedeutete Schläfenwinkel lassen ein deut- 
liches Bild nicht gut aufkommen. Doch war noch vor 2 Jahren der pyknische 
Einschlag wesentlich stärker (Pubertätsvariante). Der Vater zeigt fast kein pyknisches 
Merkmal, soweit man das äußerlich feststellen kann, eher ist das bei der Mutter 
der Fall. Der Vater ist fleißig, strebsam, ist sehr geschickt, repariert alles, ist 
sparsam und sozial. Die Mutter ist sehr nachgiebig, etwas verschlossen, 
ernst. Zwei Kindesschwestern (12 und 17 Jahre) meist eınst, aber dennoch heiterer 
als H. L., gute Schülerinnen. H. L. zeigt schwachen Willen, wenig Energie, etwas 
Ausdauer nur im Basteln. Er hat wenig Geschmack, ist oft schmutzig und war 
immer ein schwächerer Schüler. l 
I.-P.: S—a, Asch—o—u, Mass—a, Def—a, MZ—a—e, MS—a—e, O—a, Aufs—e. 

Bo—a—o, Zp—a Í[1. 3]. 
A.-P.: E—a, Am—e, Rp—a, Np--e, 8S—e, Ad—a, T—o, D—a, B.gr—e, B.m —e, 
B.f—e [2, 3). 

Weitere 4 Fälle weisen vorwiegend pyknischen Körperbau auf, 
darunter ein Fall mit Einschlag einer Fettwuchstype und ein sehr 
ausgeprägter Pykniker. Ferner befinden sich unter den Kindern 3 vor- 
wiegende Astheniker und 2 asthenische Mischtypen, endlich ein 
typischer Athletiker und der oben erwähnte Vertreter einer ver- 
waschenen Type. Es sei festgehalten, daß unter den 11 zur Verfügung 
stehenden Fällen Astheniker, Athletiker, Pykniker und auch 
ein Einschlag eines dysplastischen Typus (Fettwuchs) förmlich 
gleichmäßig verteilt sind, ferner nur 2 Fälle als fast rein bezeichnet 
wurden. Es finden sich auch als Extreme der vorwiegende Astheniker 
und Schizothyme Ludwig P. und der fast reine Pykniker Walter V. 
mit depressiven Schwankungen zyklothymen Charakters. 

Ein Studium der Intelligenzprofile ergab einen Verlauf der 
Kurven um die Mittellage und keine auffallenden Hochbegabungen. 
Auch in der Schule ragen diese Kinder nicht besonders über den 
Durchschnitt hervor, eher liegen sie darunter. Ziemlich konstant 
(immer zwischen a und o) liegt die Bourdonleistung, eine 
Art Knotenpunkt aller Profile von originellen Handwerkern [14]. 

Einen höheren Stand als die Intelligenzprofile weisen die Arbeits- 
profile auf. Wie die Profile zeigten, kann man aber höchstens in 
einem Fall von einer Hochleistung sprechen [13]. 

Eine Zusammenstellung der Arbeitsprofile zeigt, daß die einzelnen 
Leistungen der originellen Handwerker zwischen 59°/, und 
93%, der idealen Höchstleistungen liegen [4]. Dabei kommen 
Tempo der Arbeit und Neuproduktion am schlechtesten weg. Originelle 


Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 11—14jähr. Knaben. 299 


Handwerker sind eben oft bedächtige Menschen ohne den besonderen 
Gedankenschwung des talentierten Großzügigen. Dafür sind sie um so 
ausdauernder (Ad—82/,), verstehen sich auf » Bearbeitung grub« (82°/,) 
und folgen ihrer Arbeit mit der großen Aufmerksamkeit (93°/,), 
die ihnen für manuelle Arbeit eigen ist. Man vergleiche damit die 
Bourdonleistung, die bei allen a oder a—o ist [13—15]. 

Charakterologisch ergibt sich als besonders häufig: Partielle 
Unreinlichkeit (auf einem Gebiete), wenig Nettigkeit, Freude am 
Zeichnen, Malen, Modellieren oder Basteln, -- viel Selbstvertrauen. 
Sehr oft Pedanterie, Sparsamkeit, auch Eigensinn und Sammeltrieb. 
Viel vollgeräumte, unordentliche Laden, Raritätenkasten. Manche dieser 
Eigenschaften ist bei den Eltern in noch höherem Maße vorgefunden 
worden. | 

Aus den 11 vorliegenden Fällen ergibt sich also als gemeinsanı 


l. Erfindertype: Originelle Handwerker. 

2. Körperbautype: Astheniker, Athletiker, Pykniker, Dys- 
plastiker. Wenig reine Typen. — Zyklothyme und 
Schizothyme. 

3. Intelligenzkurve: Lage um die Mitte. — Bourdonknoten. 

4. Arbeitskurve: Über der Mittellinie, große Aufmerksam- 
keit, meist geringes Tempo. 

5. Charakterologisch: Partielle Unreinheit. Oft bedächtig. 


2. Gruppe. 


Unter den theoretisch Großzügigen sei als erster Alois S, 14 Jahre, er- 
wähnt. Athletischer Typus mit asthenischen Einschlägen. Breiter, hoher 
Schädel, Sattelkopf, steile Eiform, Profil sehr schwach gebogen, bräunlicher Teint 
und als spezielles athletisches Charakteristikum die dunkle Gesichtsrötung dahinter 
bei Affekt. Haare schwarz, etwas borstig, glänzend, schlicht. Nase kurz, gerade 
abgestumpft, schwach gestülpt- Oberlippe kurz, schmal, Kinn herausgearbeitet, Unter- 
kiefer andeutend vorstehend. Hals lang, Arme sang. Hände groß, lang, breit, (!) 
lange Finger. Übrigeus zeigt sich hier auch der von Kretschmer erwähnte 
Einschlag eines Riesenwuchstypus. Auch die Eltern zeigen athletische Merk- 
male. Vater ist fleißig, rein und erscheint intelligent, die Mutter selbstbewußt. 
Bei dem Knaben fällt auch ein ganz leichter Hochkopf auf, die Haare wachsen in 
Stirn und Schläfen herein, fast Pelzmützenhaare. Unermüdliche Arbeitskraft. Will 
immer etwas schaffen, schaffen. ... Will kein Beamter werden. Rekordarbeiter. 
Sucht oft Schwierigkeiten auf, um sie zu überwinden. Will Erfinder werden. Kon- 
struiert nur Apparate, die immer wieder oder gar ewig laufen. Etwas nervös, 
manchmal hastig, sehr leicht gekränkt, (Schizothymiker), verträgt Mißerfolge schwer. 
Intelligenzprofil: S—i, Asch—a, Mass—a, Def—a, MZ—e, MS—e—i, O—a—0, 

Aufs—i, Bourd—a—-o. Zp—e—i [1]. 
Arbeitsprofil: E—-i, Am—i, Rp—e, Np—e, S—i, Ad-ı, T—i, D—i, Bgr—e, 
Bm—i, Bf—e [2], 


300 J. Machaček: 


Ein ebenso charakteristischer theoretisch Großzügiger, aber körperbautypisch 
ein Pykniker, ist Karl Z. — Ausgesprochen pyknischer Rundkopf, gerades Profil. 
weich—breites, rundliches Gesicht, pastös, pyknische Fettverteilung. Nase breit 
doch nicht gequetscht (typisch pyknisch!), schwach eingezogen, stumpf, etwas 
gestülpt, rundes Kinn, breiter Unterkiefer, große Augen, schwacher Exophtalmas, 
Hand rund, schlaff. wenig Muskelrelief. Vater dem Verfasser unbekannt, ebenso 
2 Brüder (9 Jahre, 17 Jahre zur Zeit als der Knabe 13 Jahre), Mutter schwerhöng. 
sprechfreudig, sehr fromm, eher asthenisch, hysteroide Züge. Guter Zeichner, 
Formgebung und Phantasie gut. Ohne Ausdauer in Schularbeit. Bis zur Pubertät 
verträumt, in Gedanken versunken, zeichnet in leichten Absencen mechanisch 
Schwalben, Zugvögel, Seit der Pubertät etwas besser. Denkt über Gott, Religion 
und Wolt nach, streitet mit einem Mitschüler über die Gottheit Christi. Gebt 
an Abenden gerne durch einsame Straßen und Gassen und sinniert. An einen ver- 
wandten Techniker stark fixiert. Körperbau und Psyche überkreuzt, Latenz des 
zyklothymen Charakters und deutliche Manifestation schizothymen Charakters. Ebenso 
wie beim vorigen Fall ein förmlicher Zwang, immer Größeres schaffen zu müssen. 
Die Konstruktionen sind ein steigerndes Nacheinander. Ihr Inhalt sind fliegende 
oder ewig bewegte Apparaturen. Auch im Zeichnen ähnliche Motive (Vögel). 


1.-P.: S-i, Asch—a, Mass—e, Def—e, MZ2—a, MS—e—i, O—a, Aufs— e—i, Bo—0—3, 
Zp—i. 

A.-P.: E—i, TE Rp—e, Np—i, S-i, Ad—i, T—e, D—e—i, Bgr—e, Bm—e, 
Bf-e [1—3). 

Unter den 6 Großzügigen waren 4 fast reine Astheniker, Athletiker 
und Pykniker. Zweimal sind Einschläge von Riesenwuchs zu ver- 
zeichnen. Auf jeden Fall sei auf die durchschnittlich reinere 
Ausarbeitung der Körpertypen bei diesen 6 Fällen hingewiesen. 
Die Pykniker zeigen Überkreuzungen (siehe Kretschmer K. u. Ch. [6)), 
so daß bei allen Fällen der schizothyme Charakter vorherrscht. 
der bei 50°,, der Kinder ins Schizoide hinüberreicht. 


Die Intelligenzprofile liegen in der oberen Hälfte und 
gehen nur wenig unter den Mittelstrich herab. Auch hier 
wieder ein Fixierungspunkt im Bourdon, übrigens überraschend 
tief (a—o). Der Subtraktionstest, oder Zeichnen — Handfertigkeit sind 
Profilmaxima, bei anderen Profilen werden sie von Merkfähigkeit für 
Sätze oder Aufsatz erreicht. So stellen immer Subtr., Zchn. 
Hdf, MS., Aufs. hochwertige Tests dar. Ferner zeigen die In- 
telligenzprofile, daß eine gewisse psychische Aktivität gut ent- 
wickelt ist [14]. 

In der Schule sind diese Kinder die dankbarsten Objekte der Arbeits- 
pädagogik (siehe »Arbeitsprinzip und Anlage«) und weitumfassenden 
Ideen sehr zugänglich (Machacek-Mahler, Stoffliche und ideelle 
Konzentration) [9, 10]. Die Arbeitsprofile der Großzügigen liegen 
sehr hoch. Außer bei einem Grenzfalle zeigen sich nirgends Senkungen 
unter die Mittellage.e Eine Zusammenstellung der Profile ergibt 


Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 11—14jähr. Knaben. 301 


Schwankungen zwischen 58 und 92°/, [15], wobei wieder hervor- 
gehoben sei, daß die Einbeziehung eines Grenzfalles das Resultat 
wesentlich herabsetzt und zwar besonders in Rp. 58 °/, und Bgr. (58 °/,). 
Höchstpunkte finden wir im Tempo (88%,), Ausdauer, Neu- 
produktionen (88 °,,) und Einstellung (92 °/,). Das bezieht sich auf 
die dem Großzügigen entsprechende Spezialarbeit. Bei manueller 
Arbeit sinkt seine Einstellung auf 71°/, und seine Ausdauer auf 
‘5%, herab. 

Durchgehends ist allen diesen Kindern ein guter Geschmack 
auf irgend einem Gebiete eigen. Ferner eine auffallende 
Mischung von fruchtbarer Phantasie mit frübzeitigem logischen Denken. 
Ihre Witze sind »Verstandeswitze«. Neigung zum Ernst, Ehrgeiz und 
Empfindlichkeit sind allen gemeinsam. Außerordentlich interessant 
sind ihre Konstruktionen. In allen liegt etwas Zwanghaftes und 
Drängendes. 


Es ist, als ob diese Kinder durch ihre »Erfindungen« innere 
Widerstände überwinden. »Wenn mir des gelungen ist, kann ich 
noch mehr, dann noch mehr ...« Ein krampfhaftes »Immer-höher« 
und »Nie aufhören« sind die Grundzüge dieses Typus, dessen Re- 
präsentanten an der Grenze von schizothym und schizoid stehen. 

Aus den vorliegenden Fällen ergibt sich für die Großzügigen als 
gemeinsam: 


l. Erfindertype: Theoretisch Großzügige. 

2. Körperbautype: Ziemlich reine Ausbildung der Typen. 
— Vorwiegend schizothym bis schizoid. 

3. Intelligenzkurve: Höhere Kurven. Gute psychische 
Aktivität. Bourdonknoten tief (a—o). 

4. Arbeitsprofil: Sehr hoch, besonders Tempo und Neu- 
produktion. 

9. Charakterologisch: Guter Geschmack, Zwangscharakter- 
— Produktiv. 


3. Gruppe. 


Auch bei den »Phantasten« findet man eine überraschende Reinheit der 
Typen. — Alfred P., 14 Jahre, durch den pyknischen Fettansatz, Gesichtsfünfeck, 
breite, weiche Züge, schwach gebogene Profillinie, Rundkopf hinreichend charakterisiert, 
istdas einzige Kindeiner pyknischen Muttermit zyklothymem Charakter. 
Sie ist lebenslustig, zufrieden, plaudert gern, ist rein und nett. Etwas hysteroider 
Zug. Bei dem Knaben mischen sich Lebenslust und Sprechfreudigkeit mit schizo- 
thymen Zügen: Mißtrauen, Eifersucht, Empfindlichkeit. — Mutter und Sohn 
gemeinsam ist eine starke Sexualität. Vater lebt in H., unbekannt. Auf (rund der 
Schilderungen wahrscheinlich ein Schizothymiker. Der Knabe will überall vor- 


302 J. Machatek: 


kezogen werden, ist grenzenlos eifersüchtig auf Mutter, Lehrer, Kameraden, Freund- 

ınnen. Schürzenjäger. Willensschwach. Unstet. Wandertrieb. Nettes Äußere. 

Vasierende Phantasie. 

A. P.: E-—e, Am—a, Rp—a, Np—o, S-—e, Ad—a, T—a, D—e—a, Bgr—a, 
Bm—a, Bf—e. 

Im Gegensatz dazu zeigt Arnold D. Übereinstimmung von Körperbau und 
Charakter. Er ist asthenisch-schizothym. Ebenso ist die Mutter Asthenikerin. 
Er zeigt: Eifersucht, Empfindlichkeit, Unstetigkeit, Unverläßlichkeit. 

I. P.: 8—e, Asch—E, Mass—a—o, Def—a, MZ—o, MS-e, 0—o, Aufs-o 
Bourd—a, Zp—a—o. 

A. P.: E-i, Am—a, Rp—u, Np—u, S—o, Ad—o, T—e, D-o-u, Bgr-o, 
Bm—o, Bf—o. 

Auch Adalbert H., 14 J. und noch besser X. K. zeigen asthenischen Habitus, 
aber deutlich zyklothymen Charakter. Ihre Väter ebenso. Bei ersterem Knaben 
deutliche depressive Phasen abwechselnd mit übermäßiger Lustigkeit. 
Angstzustände. Nervöses Gehaben. Hat viel Freunde, jeden nur kurze Zeit. 
Starke Sexualkomponente Der Letztere ein hypomanischer Charakter 
(Kretschmer). 

I. P. des A. H.: S—i, Asch—i, Mass—a—o, Def—-o, MZ—a, MS—i, O—a—e, 
Aufs—a—e, Bo—o—a, Zp—i. 
A. P. des A. H.: E—i, Am—o, Rp—o, Np—o, S—a, Ad—o, T—i, D-a, Bgr-o. 
Bm—o, Bf—o—u. 
A. P. des X. K.: E—e. Am—o, Rp—o, Np—u, S—a, Ad—u. T—a, D—o 
Bgr—o, Bm—o, Bf—e. 

Ernst M.. 14. J., Astheniker mit leichtem Hochkopf. sehr schwach, blaß. Un- 
zuverlässig, unordentlich, schlau, immer bereit, anderen Menschen, besonders Er- 
wachsenen, ein Schnippchen zu schlagen. Epileptische Anfälle seit Geburt. Manch- 
mal überraschende Gedankengänge in der Schule. 

I. P.: S—i, Asch—i, Mass—a, Def—a, MZ—a. MS—i, O—e, Aufs—e, Bo—a-o, 


Zp—2. 
A. P.: E-—e, Am—a. Rp—u, Np—u, S—a, Ad—u, T—e, D—a, Bgr—a. 
Bm—a, Bf—o. 


Robert H., 14 J., ein Athletiker mit außerordentlich entwickelter Phantasie 
viel Sinn für Literatur, Schauspielernatur, deklamiert sehr gut. Kein Denker, 
»Blender«e.. Macht auf seine Lehrer in den ersten Wochen einen vorzüglichen 
Eindruck, gibt überraschende Antworten und sinkt hierauf zu einem der schlechtesten 
Schüler herab. Dabei sind die häuslichen Verhältnisse außerordentlich günstig. 

A. P.: E-i, Am—u, Rp—u, Np—u, S—a, Ad-—u, T—e, D—o-—u, Bgr-o, 
Bm—o, Bf—o. 

Robert Sch. 14 J., Pyknischer Habitus. Viel Phantasie. Krankbafter 
Lügner. Große Suggestibilität. Läßt sich z. B. in der Schule einreden, er 
habe seine Aufgabe vergessen, dann gibt er zu, daß er sie gar nicht geschrieben 
hat, erzählt, wieso er darauf vergessen habe. Konfabulation. Tatsächlich hatte er 
sie noch 6 Minuten vorher in der Hand und die Aufgabe ist vollkommen vorhanden. 
Sammler. Betrügt die anderen Kinder beim Tauschgeschäft. Hat eine Unzahl 
von Batterien, Motoren, alten Pistolen u. a.. aus denen er ständig die großartigsten 
Dinge herstellen will Nach Aussage seiner Mutter interessiert sich ein Arzt für 
ihn und stellt ihm Proberühren, Chemikalien und Apparate zur Verfügung. Er 


Psychologische Studie über Erfindungsversuche von Il—14jähr. Knaben. 303 


versteht es eben im ersten Augenblick zu blenden. Dissoziales Verhalten. 
Wechsel motorischer Unruhe mit Hinbrüten. 
A. P.: E—e, Am—a, Rp—u, Np—u, S—e, Ad—o, T—e, D—o, Egr—o, Bm—o, Bf—o. 

Ein Athletiker, zwei Astheniker und zwei Pykniker zeigen charakte- 
ristische Ausbildung ihres Typus, dagegen zwei Knaben stärkere Ein- 
schläge anderer Typen. Im großen und ganzen muß auch hier ge- 
sagt werden, daß die Ausbildung der Körpertypen ziemlich deut- 
lich ist. 

Im Intelligenzprofil fällt wieder die Lage des Bourdon um a auf [14]. 
Erzieher und Eltern schätzen diese Kinder meist zu hoch ein, da sie 
häufig durch Gedankenblitze überraschen. Sie sind Blender. Reine 
Gedankenarbeit erfolgt entweder langsam, zähe stockend 
oder hastig, fahrig, oft unter Produktion unglaublicher Ge- 
dankensprünge. 

Interessant ist, daß die Versuche der »Chemiker« unter ihnen 
lebhaft an die A. Strindbergs erinnern (vgl. z. B. A. Strindberg, 
Inferno). 

Die Arbeitsprofile liegen sehr tief. Öfter Tiefleistungen [13]. Die 
Zusammenstellung aller Phantastenprofile zeigt besonders die krasse 
Tiefleistung in Neuproduktion (7°/,) und Reproduktion (14°/,). 
Die Leistungen liegen zwischen 7°/, und 86°/,, bezw. zwischen 7°/, 
und 71°/,2). Das rasche Tempo (71°/,) weist immer einen hastigen, 
nervösen Charakter auf. Die größere Selbständigkeit (54°/,) ist neben 
der »Bearbeitung fein« (45°/,) verhältnismäßig gut. Die Bearbeitung 
der Materialien artet oft in geradezu spielerische Form aus und er- 
innert dann häufig an die feinen, ebenfalls spielerischen Konstruktionen 
mancher Paranoiker [15]. 

Alle diese Phantasten zeigen pathologische Züge. Schon oben 
wurde erwähnt, daß die Konstruktionen dieser Kinder lebhaft an die 
Arbeiten gewisser Geisteskranker erinnern. Aber auch das Gehaben 
dieser Knaben weist eine Reihe von Abnormitäten auf. Sie fühlen 
sich zurückgesetzt, vernachlässigt. Oft fabrizıeren sie Waffen zu ihrem 
Schutze (siehe Fall Robert Sch). Auf ihre zukünftigen Erfindungen 
setzen sie die größten Hoffnungen und halten manche ohnehin nur 
halbfertige Konstruktion geheim. 

Häufig zeigt sich die erhöhte Reizbarkeit, Jähzorn, ferner auffallende 
Affektlabilität. In drei Fällen wurde ausgesprochene Unverträglichkeit 
und3Mangel an sozialem Sinn beobachtet. Alle sind mehr oder weniger 
eigensinnig und empfindlich. Sie quälen ihre Erzieher und Eltern 


1) Das letztere dann, wenn man dem »Phantasten« manuelle Arbeit gibt. 


304 J. Machatek: 


auf mannigfache Weise, sind phantastische Lügner (2 Fälle), Wanderer, 
haben viel Angst, zeigen manchmal Wechsel von unglaublicher Un- 
ruhe und dumpfem Hinbrüten. Einige haben leichte Absenzen, einer 
hat epileptische Anfälle. | 

Das Gemeinsame dieser Gruppe ist: 


Erfindertype: »Phantast«. 

Körpertype: Oft reinere Ausprägung. 

3. Intelligenzkurve: Außer a—o Bourdon nichts Charakte- 
ristisches. »Blender«. 

4. Arbeitskurve: Tiefe Lage. Minimum in Np und Rp. 

5. Charakterologisch: Pathologische Züge. 


u 


III. 


Außer den Verschiedenheiten, die sich aus der Art der Kon- 
struktion ergaben, ist es also auch möglich, gewisse Unterschiede im 
Körperbau, in der Intelligenz, der Arbeitsart und im Charakter fest- 
zustellen. 

Es soll nun versucht werden, die Merkmale der 3 Typen unter- 
einander zu vergleichen. 

Bezüglich des Körperbaues ergibt sich aus dem Gesagten, daß 
die Körperbautypen der Erfinderknaben aller 3 Typen durch 
kein auffallendes Merkmal sich von denen anderer Kinder 
unterscheiden. Freilich gilt dies nur in bezug auf diese 171 Fälle 
und für die Kretschmersche Betrachtungsweise. Inwieweit eine 
größere Zahl von Kindern, oder die Berücksichtigung anderer körper- 
licher Eigeutümlichkeiten andere Resultate liefert, kann vorläufig noch 
nicht beurteilt werden. 

Intellektuell steht die Gruppe der Großzügigen am höchsten. 


Die gute psychische Aktivität ist bei ihnen durchwegs vorhanden. 
Minderwertig sind die Großzügigen nur in Orthographie und in Bourdon. 
Ein Vergleich ergibt eine gleichförmige Minderleistung aller 
3 Gruppen in Bourdon. Es ist übrigens interessant, die Auf- 
merksamkeit in den Arbeitskurven damit zu vergleichen. Der weite 
Spielraum zwischen 39°/, und 93°/,, der sich hier auf Grund jahre- 
langer Beobachtungen des arbeitenden Kindes einerseits ergibt und 
die prompte Testleistung a, a—o andrerseits [5]. [11, 12.] 

Vergleich der Arbeitsprofile. Von allen 3 Gruppen zeigen die 
Theoretisch-Großzügigen die beste Einstellung, Neuproduktionen, Selb- 
ständigkeit, Ausdauer, das schnellste Tempo und das beste Denken, 
Die originellen Handwerker sind den anderen Typen überlegen in 


Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 1l—14jähr. Knaben. 305 


Aufmerksamkeit, Reproduktion und allen drei Bearbeitungsmöglichkeiten. 
Dagegen finden wir keine Überlegenheit bei den »Phantasten«. Wieder 
zeigt dieser Vergleich den begabten, geschickten, mit einem Tropfen von 
Genialität versehenen Großzügigen, den braven, tüchtigen, etwas schwer- 
fälligen Handwerker und den unbrauchbaren, ungeschickten, verlorenen 
»Phantasten«. Der originelle Handwerker zeigt daher auch die schlechteste 
Leistung im Tempo (relativ, denn 59°/,) und unter gewissen Be- 
dingungen in der Einstellung. Keine Minderleistung zeigt der Groß- 
zügige, dafür aber der »Phantast« in Aufmerksamkeit, Reproduktion, 
\euproduktion, Selbständigkeit, Ausdauer, Denken und Bearbeitung 
aller Art und unter gewissen Uniständen auch in der Einstellung, 
d. b. überall, nur nicht im Tempo. Sowohl in Neuproduktion als 
auch im Denken, den Merkmalen eines höberen Standpunktes, ist das. 
Verhältnis der 3 Typen folgendes: Großzügige > Originelle Handwerker, 
> »Phantasten«. 

Sämtliche Profile liegen zwischen 8°/, und 93°/,, fallen durch 
kein spezifisches Merkmal aus den anderen 171 heraus. (Ein- 
schränkung wie oben.) 

Psychopathologische Züge zeigen die »Phantasten« im 
reichsten, die Großzügigen im kleineren Ausmaße. 

Charakterologisch ist ein Vergleich sehr schwierig. Immer- 
hin fallen dieschizothym bisschizoiden Großzügigen aus den 
3TIypen deutlich heraus. Ebenso die partielle Unreinlichkeit der 
originellen Handwerker und der partielle gute Geschmack der Groß- 
zügigen. 

Faßt man das Ergebnis des Vergleiches zusammen, so ergibt sich: 

l. Körperbautypus bei Großzügigen und Phantasten 
reiner. 

2. Gemeinsam der Bourdonknoten. Höchste Intelligenz 
bei den Großzügigen. 

3. Arbeitsprofile aller Art: Großzügige keine Minder- 
leistung. Phantasten keine Höchstleistung. — Denken 
und Neuproduktion: Großzügige > Originelle Hand- 
werker, > »Phantasten«. 

4. Psychopathologische Züge: »Phantasten«, > »Großzü- 
gige«-, > Originelle Handwerker. 

5. Charakterologisch: Schizoid-schizothyme Großzügige. 
— Partieller guter Geschmack der Großzügigen — 
Partielle Unreinlichkeit der originellen Handwerker. 


306 J. Machadek: 


IV. 


Es verlohnt sich einen Blick auf das weitere Lebensschicksal 
derartiger Erfinderknaben zu werfen. 

Von den hier geschilderten originellen Handwerkern sind 
fünf in eine Lehre gekommen, wo sie sich gut bewähren, einer 
ist in eine technische Lehranstalt eingetreten, wo es ihm recht 
schlecht geht. 


Von den QGroßzügigen sind drei Knaben in verschiedenen Be- 
rufen tätig, einer ist in einer technischen Lehranstalt, wo er 
sich gut bewährt. 

Von den »Phantasten« traten zwei Knaben in eine technische 
Lehranstalt ein. Einer von ihnen arbeitet sich dort außerordent- 
lich schwer und wird nicht mehr lange mitkommen können, während 
der andere die Anstalt bereits verlassen mußte. 

Diese Ergebnisse der Berufswahl sind nach der vorliegenden 
Studie unbedingt zu erwarten gewesen. Der Berufsberater wird also, 
wenn er derartige Kinder mit technischen Interessen beraten soll. 
nach folgendem Bestimmungsschlüssel vorgehen können: 


1. Baut seine Projekte auf Erfahrung und Praxis auf. 
Erzielt Verbesserungen, Variationen, neue Gebrauchs- 


möglichkeiten. 
2. Bastler. Für ein 
3. Körperbau: Nichts besonderes. Handwerk 
4. Intelligenz: Um die Mitte, Bourdonknoten. vorzüglich 
5. Arbeitsprofil: Über die Mitte, große Aufmerksamkeit, geeignet, 


geringeres Tempo. 

6. Charakterologisch: Oft bedächtig. Partielle Unreinheit. 

1. Projekte basieren auf theoretischer Überlegung. Schafft 
geistreiche Neukonstruktionen. 

2. Bastler. Tech- 

3. Körperbau: Meist deutliche Ausprägung einer Type. nische 

4. Intelligenz: Höhere Kurve, Bourdonknoten, gute psy-| Aus- 
chische Aktivität. bildung 

5. Arbeitsprofil: Sebr hoch, großes Tempo und Neu- 
produktion. 

‚6. Charakterologisch: Guter Geschmack (isoliert), Zwangs- 
charakter, Produktiv. — Schizothym bis schizoid. 


empfehlens- 
wert. 


Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 11—14jähr. Knaben. 307 


Keine 
1. Phantastische Pläne. Unvollendetes, Mißglücktes als f technische 
Ergebnis. Ausbildung! 
2. Unpraktisch. Geregelte, 
3. Körperbau: Oft deutlich ausgeprägte Type. gebundene 
4. Intelligenz: Blender. Bourdonknoten. Beschäfti- 
5. Arbeitsprofil: Tiefe Lage. Minimum in Neuproduktion | gung. 
und Reproduktion. Eventuell 
6. Charakterologisch: Phathologische Züge. Paranoid. Psycho- 
therapie. 


Anmerkungen. 


Aus technischen Gründen wurde die Veröffentlichung der zugehörigen Skizzen, 
Kurven und Photographien unterlassen und durch sorgfältigere Schilderung im Text 
ersetzt. 

1. Abkürzungen: S — Subtraktionstest, Asch — Aschaffenburg, Ma — Masse- 
lon, Def — Definition, MZ — Merkfähigkeit für Zahlen, MS — Merkfähigkeit für 
Silben, O — Orthographie, Aufs — Aufsatz, Bo — Bourdon, Zp — Zeichnen und 
Handfertigkeit, Klo — Klopfversuch, Le — Legeversuch. 

2. Abkürzungen: E — Einstellung, Am — Aufmerksamkeit, Rp — Reproduk- 
tion, Np — Neuproduktion, S — Selbständigkeit, Ad — Ausdauer, T — Tempo, D — 
Denken. Bgr — Bearbeitung grob, Bm — Bearbeitung mittel, Bf — Bearbeitung fein. 

3. I. P. — Intelligenzprofü, A. P. — Arbeitsprofil. 

4. Die Prozente ergeben sich, wenn man annimmt, daß eine i-Leistung sämt- 
licher beobachteter Kinder als 100°,, und eine u-Leistung sämtlicher beob- 
achteter Kinder gleich O °/, bezeichnet wird. Die angegebenen Prozente sind also 
immer die Gesamtleistung der zugehörigen Kinder und nie die Leistung eines 
Einzelnen. 

5. Sehr bemerkenswert sind in diesem Zusammenhange die Ergebnisse der 
Untersuchungen E. Lazars und F. Tremels an gut qualifizierten (!) Schuh- 
macher-, Schlosser-, Uhrmacher- und Friseurlehrlingen. Sie erhalten als Durch. 
schnittsbourdon: 

Schlosser (Feinarbeitt) . . . a—e Uhrmacher . . . . 2.2.04 
Schuhmacher (Feinarbeit) . . 0—a Friseure ?. . 2. 2..2.2.2.2.0 
Schuhmacher (Grobarbeit) . . 0—a Schlosser (Grobarbeit) . . . u 
Friseure g . » 2» 2 2.2.0 

Bei allen Handwerkern, deren Arbeitsstruktur Analoga zu jener der originellen 
Handwerker aufweist, findet sich der a—o Bourdon. Die beste Übereinstimmung 
zeigen die Uhrmacher, die den originellen Handwerkern am ehesten zu entsprechen 
scheinen. (Immer die gut qualifizierten Lehrlinge.) 

6. Kretschmer, Körperbau und Charakter. Berlin, Springer, 1922. 

7. Lazar-Tremel, Klinisch-pädagogische Auswertung der Ergebnisse von 
Prüfungen bei Hilfsschulkindern. Ztschr. f. Kinderheilkunde, Bd. XXXU, Heft 1/2, 
Berlin, Springer. 

8. Tremel, Testmaterial zur Intelligeuzprüfung. Ztschr. f. Heildädagogik u. 
soziale Fürsorge. Wien 1922. 

9. Machatek, Arbeitsprinzip und Anlage. Wien, Bürgerschulzeitung, 1924. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 21 





J. Machatek 


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Psychologische Studie über Erfindungsversuche von 11—14jähr. Knaben. 





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a 


310 J. Machadek: Psychologische Studie über Erfindungsversuche usw. 


10. Machalek-Mahler, Stoffliche und ideelle Konzentration. Wien, Päd- 
agogische Ztschr. »Quelle«, 1924. 

1l. Lazar-Tremel. Berufsberatuug für handwerksmäßige Gewerbe. Schuh- 
macher, Uhrmacher, Friseure. Wien, Ztschr. f. Familien- und Berufsfürsorge, 
Heft 8/9, 1922. 

12. Tremel, Berufsberatung für handwerksmäßige Gewerbe. Schlosser. Ebenda, 
1924, Heft 4. 

13. Siehe Tabelle auf S. 309. 

14. Siehe Tabelle auf S. 310. 

15. Arbeits profile in °% der Höchstleistung: 


Originelle Handw. Theor. Großzüg. »Phantast« 


lo "lo Jo 
Einstellung . . . . 2 2.2. 64 < 92 (71) > 86 (38) 
Aufmerksamkeit . . . . .. 93 > 79 (75) > 39 
Reproduktion . . . 2... 68 > 58 > 14 
Neuproduktion . . . . 2... 61 < 88 > 7 
Selbständigkeit . . . . ... 80 < 81 > 54 
Ausdauer . . . 2 2 2 22. 82 < (>) 88(75) > 18 
Tempo. . 2. 2 2 2 20. 59 < 88 > T 
Denken . . 2... 2 2 202. 68 < 83 > 38 
Bearbeitung grob . . . .. . 82 > 58 > 2 
Bearbeitung mittel. . . . . . T7 > 75 > 32 
Bearbeitung fein . . . . .. T4 > 69 > 45 


Hilfsklassen an Schwerhörigen- und Sprachheilschulen. 
Von 
Hans Robert Dirr, Karlsruhe, Taubstummenlehrer. 


Seitdem wohlorganisierte Schulsysteme größerer Städte dazu über- 
gegangen sind, die für schwerhörige und sprachgebrechliche Schüler 
bestehenden Ablese- und Sprachheilkurse abzuschaffen und dafür 
diese Kinder in Sprachheilklassen bezw. Sprachheilschulen behandeln 
und unterrichten zu lassen, bricht sich die Tatsache immer mehr und 
mehr Bahn, daß nur solche Einrichtungen imstande sind, bei schwer- 
hörigen und sprachgebrechlichen Schülern befriedigende Erfolge zu 
erzielen. 

Die in Deutschland bestehenden Sprachheilschulen richten ihr 
Hauptaugenmerk auf die mit Schwerhörigkeit und Sprachgebrechen 
behafteten normal begabten Schüler. Das Klassenziel der Sprach- 
heilklasse ist dasjenige einer Normalklasse, denn nach Behebung des 
bebrechens wird der Schüler aus der Sonderschule ausgeschult und 
seiner früheren Normalklasse zugewiesen. 

Einer Kategorie von Schülern aber hat man bisher noch wenig, 
ja beinahe noch gar keine Beachtung geschenkt. 

Es sind das diejenigen Kinder, die nicht nur erheblich sprach- 
gebrechlich, sondern auch geistig außerordentlich schwach begabt sind. 
Ich scheide hier zunächst solche Schüler aus, die infolge geistiger 
äbnormität funktionelle Sprachgebrechen aufweisen, und habe solche 
File im Auge, bei denen es auf den ersten Blick schwer zu 
sagen ist, ob ihr Sprachgebrechen primär, oder eine Folge vorliegen- 
den Schwachsinns ist. Ferner handelt es sich unm solche Schüler, 
deren geistige Minderwertigkeit wohl erkannt ist, die aber als sekundäre 
Erscheinung ein so schweres Sprachgebrechen aufweisen, daß sich der 
Hilfsschullehrer aus Mangel an Zeit unmöglich mit einem solchen 
Kind beschäftigen kann. Wer Gelegenheit hatte, Schüler, die zur Auf- 
nahme in eine Schwerhörigen- oder Sprachheilschule vorgeschlagen 
waren, zu prüfen, wird alljährlich die Beobachtung gemacht haben, 
daß unter denen, die in die erste Klasse einer solchen Schule auf- 


312 H. R. Dirr: 


genommen werden sollten, sich ein hoher Prozentsatz Schwachsinniger 
befindet. Hörstummbeit, totales Stammeln und psychische Taubheit 
sind in der Hauptsache die in solchen Fällen vorliegenden Sprach- 
gebrechen. Es wäre falsch, solche Kinder von der Aufnahme aus- 
zuschließen mit der Begründung, daß »sie nicht sprechen, weil sie 
nichts zu sagen habene. Nadoleczny hat schon längst die Unrichtig- 
keit dieser Behauptung bewiesen. Auch wer als Sprachheillehrer 
solche Fälle in Behandlung gehabt hat, wird mit Freude und Staunen 
die Beobachtung gemacht haben, daß bei geschickter Sprachtherapeuti- 
scher Behandlung immer ein Erfolg zu erzielen war. Allerdings ge- 
nügt hier die logopädische Vorbildung allein nicht; dem Sprachheil- 
lehrer muß bei Behandlung solcher Fälle auch die Erziehungsmethode 
und die Lehrweise des Hilfsschullehrers vertraut sein. Daraus geht 
schon hervor, daß es falsch wäre, sprachgebrechliche, schwachsinnige 
Schüler in die erste Normalklasse einer Schwerhörigen- oder Sprach- 
heilschule einzuschulen. Alle Gründe, die dagegen sprechen, liegen 
ohne weiteres auf der Hand. Der Lehrer einer ersten Klasse muß 
das Klassenziel mit den normal begabten Schülern erreichen, und die 
sprachgebrechlichen schwachsinnigen Schüler bleiben zurück und müssen 
repetieren.. Gewonnen haben sie vielleicht gar nichts. Sie werden 
schließlich doch der Hilfsschule zugewiesen und dort als lästiger 
Ballast mitgeführt. 

Eine einzige Lösung gibt es, die solchen Kindern Hilfe bringt. 

Es ist die Errichtung von Sprachheilklassen an der Hilfsschule, 
oder aber — und das erscheint mir aus gleich zu ersehenden Gründen 
das Bessere — die Führung von »Hilfs«- oder »B«-Klassen an Schwer- 
hörigen- und Sprachheilschulen. 

Es könnte der Fall eintreten, daß ein Schüler infolge seines Sprach- 
gebrechens anfänglich als schwachsinnig betrachtet und einer solchen 
Klasse zugewiesen wurde, trotzdem sich bald danach herausstellt, daß 
keine Geistesschwäche vorliegt. Es ist dann sofort Gelegenheit und 
Möglichkeit geboten, den Schüler in die Sprachheilklasse mit normalem 
Lehrziel umzuschulen. Ebenso umgekehrt. Die Hilfsklasse einer 
Sprachheilschule kann natürlich nicht nur das erste Schuljahr um- 
fassen, sondern muß sich unbedingt auch auf das zweite und dritte 
ausdehnen. Man hat schon sehr häufig die Erfahrung machen müssen, 
daß es wohl gelungen ist, einen schwachsinnigen Schüler die Laut- 
sprache zu lehren, daß er sie aber wieder verloren hat, wenn er zu 
früh aus der sprachtberapeutischen Behandlung entlassen wurde. 

Es muß deshalb der Haupt- und Leitsatz einer solchen Hilfs- 
klasse sein, daß kein Schüler in eine andere Schulgattung überwiesen 


Hilfsklassen an Schwerhörigen- und Sprachheilschulen. 313 


wird, wenn er nicht sprachlich so weit gefördert ist, daß er den 
sprachlichen Anforderungen der neuen Schule genügt. Es sei denn, 
er wird wegen völliger Bildungsunmöglichkeit einer Anstalt überwiesen. 

Die Schülerzahl einer solchen Hilfsklasse darf 15 nicht über- 
schreiten, da das Schülermaterial ungeheure Anforderungen an den 
Lehrer stellt, und jeder Schüler nur einzeln behandelt werden kann. 
Hat der Schüler ein, zwei oder drei Jahre eine solche Hilfsklasse be 
sucht, so wird es nicht mehr schwer zu entscheiden sein, in welcher 
Schulgattung er den Rest seiner Schulzeit zu absolvieren hat. Ist es 
gelungen, daß man dem Kinde zu einer verständlichen Lautsprache 
verholfen hat, und daß es seine Gedanken, Vorstellungen und Be- 
griffe sprachlich ausdrücken kann, so ist das Hauptziel der Hilfsklasse 
erreicht. Auch in dieser Klasse wird ebenso wie in den Sprachheil- 
klassen mit normal begabten Schülern jede Therapie gleichzeitig Be- 
handlung eines Stoffes, und jede Stoffbehandlung Therapie sein müssen. 
Im ersten Schuljahr wird man sich mit Anschauungsunterricht und 
Übungen im mechanischen und formellen Sprechen begnügen müssen. 
Zur Förderung manueller Fertigkeiten und Geschicklichkeit ist Fröbel- 
unterricht zu erteilen. Auf dem Weg des erzieherischen Spiels und 
Vergnügens wird mancher Laut und manches Wort gewonnen, das 
durch rein technische Übung nur unter Aufwand von viel Mühsal 
und Zeit erreicht worden wäre. 

Im 2. Schuljahr wird man versuchen, den Schüler mit dem Lesen, 
Schreiben und Rechnen vertraut zu machen. Hat man ihn dann so 
weit gefördert, daß die Gefabr des Verlustes der erlernten Sprache 
beseitigt ist, und weitere Bildungsmöglichkeiten vorhanden sind, so 
wird man ihn einer anderen Schulgattung zuweisen. In der Mehr- 
zahl aller Fälle wird nur die Hilfsschule in Betracht kommen. Erst 
wenn sich im Verlauf von 2 oder 3 Schuljabren herausgestellt hat, 
daß das Kind bildungsunfähig ist, wird man den Antrag auf Über- 
weisung in eine Anstalt stellen. 

Manches Kind, das früher als »bildungsunfähig« in eine Anstalt 
abgeschoben worden ist, weil es sich nicht sprachlich ausdrücken oder 
verständigen konnte. wird man fördern können, wenn es in eine Hilfs- 
klasse einer Sprachbeilschule eingeschult wird. 

Zur Führung einer solchen Klasse ist nur ein Lehrer erforder- 
lich, da er bei der geringen Schülerzahl sich mit jedem Kinde in- 
dividuell beschäftigen kann, obne die anderen zu benachteiligen. 

Drei Dinge aber muß er sein eigen nennen: eine gute Methode, 
viel Geduld und ein Übermaß an Freude! 


Bericht 
über die in den Jahren 1922—1923 vorgenommene 
neurologisch-psychiatrische Untersuchung der in 
Erziehungsanstalten neu aufgenommenen Fürsorge- 
zöglinge der Provinz Sachsen.!) 


Von 
Oberarzt Dr. Schwartz, Alt-Scherbitz. 


Im unmittelbaren Anschluß an die von mir in den Jahren 1920 
bis 1922 vorgenommenen neurologisch-psvchiatrischen Untersuchungen 
der in Erziehungsanstalten untergebrachten Fürsorgezöglinge der Pro- 
vinz Sachsen wurde mir der Auftrag zuteil, solche Untersuchungen 
an den in der Zwischenzeit neu aufgenommenen Zöglingen 
fortzusetzen. Es kamen sämtliche in den Erziehungsanstalten befind- 
lichen schulpflichtigen und schulentlassenen Neuaufnahmen beiderlei 
Geschlechts zur Untersuchung. 

Die Art der Untersuchung wich von der in der ersten Unter- 
suchungsreihe von mir angewendeten nicht wesentlich ab. Die letztere 
hatte sich durchaus bewährt. Sie stellte eine auf dem Schema von 
Binet und Simon fußende, aber erweiterte und veränderte Unter- 
suchungsart dar. Die Definitionsmethode wurde in vielen, nicht nur 
in fraglichen Fällen hinzugenommen. Bei der psychiatrischen Be- 
urteilung galt nicht etwa das Ergebnis der einmaligen Intelligenz- 
prüfung als ausschlaggebend, sondern es fanden die Angaben der 
Anstaltsleiter und die Ausführungen des zur Untersuchung stets mög- 
lichst vollständig hinzugezogenen Anstaltspersonals, der Lehrer und 


1) Den nachfolgenden Bericht über »die in den Jahren 1922—1923 vorgenommene 
neurologisch - psychiatrische Untersuchung der in Tirziehungsanstalten neu auf 
genommenen Fürsorgezöglinge der Provinz Sachsen« veröffentlichen wir in dieser 
Zeitschrift als ersten derartiger Berichte. Wir sind an die anderen F. E.-Behörden im 
Deutschen Reich mit der Bitte herangetreten, uns die psychiatrischen Untersuchungen 
an Fürsorgezöglingen für die »Zeitschrift für Kinderforschung« zu überlassen in der 
Hoffnung, daß ein Vergleich und eine Zusammenstellung dieser Untersuchungen von 
Bedeutung sein wird. Die Redaktion. 


Untersuchung der in Erziehungsanstalten neu aufgenommenen Fürsorgezöglinge. 315 


Erzieher gebührende Berücksichtigung. Einmal galt es, etwaige Be- 
fangenbeit, Ängstlichkeit der ungewohnten Situation gegenüber oder 
gar Widerstand und Trotz bei der Untersuchung auszuschalten, zum 
anderen mußte ich mich bei der bedeutungsvollen Frage der Prüfung 
der praktischen Intelligenz auf die Angaben des Erzieherpersonals ver- 
lassen. Für die Unterbringung in Stellungen nach Abschluß der 
Anstaltserziebung kommt in erster Linie das Ergebnis der Unter- 
suchung der praktischen Intelligenz in Betracht, erst in 
zweiter Linie der Stand des Schul- und Allgemeinwissens. 
Für einen in ländliche Dienststelle unterzubringenden Zögling ist ein 
gewisses Maß von Geschicklichkeit in praktischen Dingen wichtiger als 
schöne Handschrift oder geschichtliche und geographische Kenntnisse. 

Wiederum war ich bei der Bewertung psychopathischer Eigen- 
schaften neben den öfters leider unvollkommenen oder gänzlich ver- 
sagenden Aktenangaben vollständig von den Beobachtungen 
des Erzieberpersonals der Anstalten abhängig. Ich fand aber erfreu- 
licherweise sowohl bei den Leitern und Lehrern als auch bei dem 
gesamten Personal der Anstalten gerade der Frage nach seelischen 
Abweichungen gegenüber die liebenswürdigste Unterstützung und das 
regste Interesse. Da diese Persönlichkeiten während der ganzen 
Dauer der Untersuchungen zugegen waren — eine mitunter zeitraubende 
und anstrengende Tätigkeit —, so dürften die gefundenen Ergebnisse 
von der Wirklichkeit nicht irgendwie erheblich abweichen. Bei diesem 
Anlaß nahm ich stets die Gelegenheit wahr, psychologische und psych- 
iatrische Kenntnisse an praktischen Beispielen vorzuführen und zu be- 
sprechen, soweit solche für Erzieher von Interesse sein konnten. Der 
Drang zur Erkenntnis in solchen Dingen war bei den Erziehern offen- 
sichtlich ein sehr reger. Natürlich können Beobachtungen über regel- 
widriges oder auffälliges seelisches Verhalten, über Trieb und Willens- 
leben erst dann gemacht werden, wenn die Zöglinge einige Zeit sich 
im Anstaltsleben befinden. Selbstverständlich gehen sie erst nach 
Wochen oder Monaten nach ihrer Aufnahme in eine Anstalt mehr 
und mehr aus sich heraus, zeigen nach einigen Wochen der Selbst- 
beherrschung ihre von der Norm abweichende seelische Anlage, ihr 
krankes Trieb- und Willensleben. Weil zur Beurteilung der psycho- 
pathischen Anlage und Eigenschaften aus den eben entwickelten Tat- 
sachen eine mehr oder minder lange Beobachtungszeit erforderlich ist, 
darf der Aufenthalt in der Anstalt nicht zu kurz bemessen werden, 
Der andere Gegensatz, den Anstaltsaufenthalt zu lange zu bemessen, 
dürfte sich bei der Geldnot unserer Tage eigentlich von selbst er- 
übrigen. Hierzu kommt noch, daß der langdauernden Anstaltserziehung 


316 Schwartz: 


im Vergleich zur Erziehung in der Familie Schädigungen für die Er- 
ziehungsohjekte anhaften. Zu langwährender Anstaltsaufenthalt der 
Zöglinge bat nicht selten deren Unselbständigkeit in vielen Beziehungen 
zur Folge; sie werden gewissermaßen Anstaltskunstprodukte, Muster- 
knaben, die beim jähen Übergang in das Erwerbsleben versagen, wenn 
sie der Stütze der Anstalt plötzlich entbehren. Sie fallen den an sie 
auf einmal wieder herantretenden Verlockungen und Versuchungen 
zum Opfer, weil sie ihnen in der Anstalt seltener ausgesetzt waren, 
In guter Familienerziehung dagegen lernen sie den Ver- 
führungen, die häufig genug an sie herantreten, widerstehen und 
zweifelhaften Genüssen entsagen. In der Erziehungsanstalt sollen sich 
die Zöglinge zwar wohlfühlen, es soll ihnen in dieser eine Heimat 
bereitet, gewissermaßen Familiengefühl, Zusammengehörigkeitsgefühl 
geweckt und gepflegt werden, jedoch dürfen sie nicht derart verwöhnt 
werden, daß sie nach der Entlassung aus der Erziehungsanstalt alles 
daransetzen, um aus der unbequemeren Dienststelle wieder weg und 
in die schützende Anstalt zurückzukommen. 

In folgender Weise verteilen sich die 792 untersuchten Fürsorge- 
zöglinge auf die einzelnen Erziehungsanstalten: 











Tabelle I. 
Männ- | Weib- 
liche | liche 

Fürsorge- 
zöglinge 
1. Landeserziehungsanstalt Moritzburg bei Zeitz . . . ...2.....] 48 — 
2. Erziehungsanstalt Knabenheim zu Moritzburg bei Zeitz . . .I 20 — 
3. Erziehungsanstait Magdalenenasyl Zoar za Wolmirstedt . . .| — 48 
4. Erziebungsanstalt Karl Marienanstalt zu Ebeleben . . 4. E 3 
5. Landeserziehungsanstalt Gut Lüben bei Burg b. Migdebürg . .| 68 — 
6. Erziehungsanstalt Knabenrettungshaus zu Genthin . . . .. 5 — 
7. Landeserziehungsanstalt Nordhausen . . . -| 50 30 
8. Katholische Erziehungsanstalt zu Heiligenstadt- Eichsfeld u, 23 fi 
9. Erziehungsanstalt Knabenrettungshaus zu Wahlitz . . . . f 19 — 
10. Erziehungsanstalt Borghardtstift zu Stendal. . . . . . . .f 18 — 
11. Erziehungsanstalt Frauenheim Großsalze. . . < e- | — 17 
12. Erziehungsanstalt Michaelisstift zu Gefell (Vogtland) Pr BE — 9 
13. Erziehungsanstalt Eberhardinenhaus zu Ilsenburg a. Harz. . .| — 5 

14. Erziehungsanstalt Neinstedter Anstalten zu Neinstedt a. Harz 
a) Lindenhof . w . 2. 2222er | m 
b) Marienbof = 2.2. 2.8.8: 5 8 u. ee a: ee 


Übertrag: | 341 | 118 


Untersuchung der in Erziehungsanstalten neu aufgenommenen Fürsorgezöglinge. 317 








Männ-| Weib- 
liche | liche 
Fürsorge- 
zöglinge 
Übertrag: | 341 , 118 
15. Erziehungsanstalt Friederikenstift zu Ballenstedt a. Harz . . .| — 4 
16. Erziehungsanstalt zu Quedlinburg a. Harz . . . < f| 23 11 


- 17. Erziehungsanstalt Glöcknerstift zu Wittenberg (Bez. Halle) TE E — 
18. Erziebungsanstalt Lehrlingshausverein zu Wittenberg (Bez. u 16 — 


19. Knabenerziehungshaus zu Langensalza . . ) 5 — 
20. Erziehungsanstalt Wilhelmshof bei Rothenburg (Oberlausitz) . .| 26 — 
21. Erziehungsanstalt Eckartshaus zu Eckartsberga. . . . . | 40 — 
22. Erziehungsanstalt St. Johannisasyl zu Bernburg . . . . ..1 — 6 
23. Erziehungsanstalt zu Calbe a. S. . . u EEE a er 32 
24. Erziehungsanstalt Samariterherberge Horburg a ra ae E — 
25. Erziehungsanstalt Augusta-Viktoriastift zu Erfurt .. . . . — 10 
26. Erziehungsanstalt Borsdorfer Anstalten bei ce (Frauenheim) — 36 
27. Erziehungsanstalt Borsdorfer Anstalten bei Leipzig mn) — 24 
28. Erziehungsanstalt Kınderheim zu Merseburg . . . . | 42 33 


| 518 | 274 
Een Er 
zusammen: 792 
Insgesamt 792 Zöglinge waren also in 28 Erziehungsanstalten auf- 
genommen worden und zur Untersuchung gekommen. 


In folgenden Diagnosen wurden nach ärztlich-psychiatrischer Be- 
nennung die Endergebnisse der Untersuchungen zusammengestellt: 


Tabelle II. 


-e o LU m m u 














absolut 
samtzah) der 
Untersuchten 


% 
< 
© 
= 
5 
b 
= 
w 
~ 
È 
s% 





| 
Normal . . een 2.2. o 188 | 23,8 
Normal mit peröhopäthischen Zügen peb ee ee ee > LO 
Normal beschränkt. . . 2 2 2 m 2 ee ren en ef 158 | 20,0 
Pathologisch beschränkt . . . . . 2. 2 2 222222 ..] 91 | 115 
Debilität: u, 4. u van ae ee a ra ee re a, 5.4 
Imbezillität- a e ae ui: una da Ann a a ee N 7 3.4 
Psychopathie . . > 2 2 2 m nr. + 186 | 235 
Epilepsie . . . Een ne san rar ET NE 4 0,5 
Syphilitische Erialane rien Genkralugrsensyalenis u u 3 | 04 
Hysterie- n s o e a Ko a re e e a a D A A Be U 
Psychose 2 1 | 0,1 
Jugendirresein (aad Verdacht auf fogendisteeeinj..; 2 0.2 





318 Schwartz: 


Die gefundenen Ergebnisse weisen keine wesentlichen Ab- 
weichungen hinsichtlich ihrer prozentualen Beziehungen von den 
Resultaten der ersten Untersuchungsreihe auf. Es stellen diese eine 
Kontrolle der zweiten Zusammenstellung dar. Das Untersuchungs- 
material hat sich demnach in seiner Wertigkeit nicht wesentlich ge- 
ändert. Auch diesmal fügte ich die Fälle in die einzelnen Rubriken 
gemäß ihren Hauptinerkmalen ein. Die Rubrik »Normal mit psycho- 
pathischen Zügen« behielt ich bei; ich konnte mich nicht entschließen, 
diese Fälle, gleich manchen Autoren unter die Krankheitsbezeichnung 
»Psychopathie« aufzunehmen, weil ich unter Psychopathie bereits 
etwas ausgesprochen Krankhaftes verstehe. 

Es ergeben sich also als: 

Normal (Normal + Normal mit psycho- 


pathischen Zügen) . . . . . . 215 Zöglinge = 34,8 %/,, 

abnorm . . . Ä me. SO „ =6552, 

Die Prozentzahlen der ersten Untersuchungsreihe betrugen für: 
Normal : . u... 0% » 318% 
abnorm . . . ce 022 


10 Fürsorgezöglinge mabeni in Irrenanstalten überwiesen werden 
= 1,2°/,, hiervon 5 wegen Imbezillität, 1 wegen Debilität, 2 wegen 
Jugendirreseins, beziehendlich Verdachts auf Jugendirresein, 2 wegen 
Epilepsie mit Seelenstörung. 

10 schwerere Psychopathen, asoziale Psychopathen, = 1,2 °. 
wurden Sonderabteilungen zuerteilt. Für hilfschulbedürftig kamen 
36 Zöglinge =4,5°/, in Betracht. Ebenso 'wie es selbstverständlich 
und dringend nötig erscheint, geschlechtlich bescholtene weibliche 
Fürsorgezöglinge von unbescholtenen zu sondern, so dringend er- 
forderlich muß die Trennung von stärker schwachsinnigen schul- 
pflichtigen Zöglingen von solchen mit normaler Intelligenz bezeichnet 
werden. Der Gedanke, es sei dem stärker schwachsinnigen Schul- 
pflichtigen nur von Nutzen, wenn er von dem guten Einflusse der 
Intelligenten profitiere, ist unzutreffend.. Die Erfahrung der Hilfs- 
schule geht vielmehr dahin, daß dem Schwachsinnigen nur mit be- 
sonderen Mitteln, durch Heilerziehung, geholfen werden kann. Hierzu 
sind besondere erzieherische Kenntnisse des Personals, Anstellung von 
Lehrern mit Hilfsschulausbildung erforderlich. Durch gemeinsamen 
Unterricht Intelligenter mit Schwachsinnigen werden die ersteren nur 
geschädigt. Es muß demnach von vornherein bei der Verteilung der 
Zöglinge auf die einzelnen Erziehungsanstalten das Augenmerk darauf 
gerichtet werden, daß Schwachsinnige und Hilfsschüler Erziehungs- 
anstalten mit Hilfsschuleinrichtungen zugewiesen werden. Das Problem 


Untersuchung der in Erziehungsanstalten neu aufgenommenen Fürsorgezöglinge. 319 


der Verteilung bereitet gelegentlich der Behörde deshalb Schwierigkeiten, 
weil bei dringlichen Fällen der Unterbringung die Schulzeugnisse und 
entsprechende andere Unterlagen verspätet eingehen. Die Einführung 
des Reichsgesetzes über die Jugendwohlfahrt wird hierin hoffentlich 
durch geschickte Mitwirkung der Jugendämter Wandel schaffen. 

Auch in diesem Bericht möchte ich nochmals ausdrücklich darauf 
hinweisen, wie ich dies auch in einem Vortrag vor den Leitern der Er- 
ziehungsanstalten der Inneren Mission der Provinz Sachsen und Anhalt 
am 14. August 1923 in Nordhausen ausführte, daß das geistige Niveau 
der schulpflichtigen Fürsorgezöglinge bedeutend unter dem der normalen 
Volksschule steht. Daß das garnicht anders erwartet werden darf, leuchtet 
ohne weiteres ein, wenn man sich klarmacht, daß in den Schulen 
der Erziehungsanstalten zunächst einmal beinahe 60°/, Abnorme zu- 
sammenkommen, daß das Gros der Zöglinge mehr oder minder ver- 
wahrlost ist, aus den elendesten Verhältnissen stammt, zum größten 
Teile aus Schulschwänzern sich zusammensetzt, also aus den sogenannten 
sozial Schwachsinnigen, und daß der gleichmäßige Unterricht durch 
das Neuhinzukommen von Schülern jedem beliebigen Zeitpunkte 
innerhalb des Schuljahres erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt ist. 
Schließlich kommt noch hinzu, daß der Unterrichtin den kleineren 
Anstalten in drei- oder gar in einstufiger Schule gegeben werden 
muß. Diese Schäden sind zwar bedauerlich, aber sie wiegen nicht 
zu schwer. Es darf nämlich meines Erachtens in der Fürsorge- 
erziehung niemals über der Ausbildung der Intelligenz durch den 
Schulunterricht, ihr Hauptzweck aus dem Auge verloren werden: 
Hineingewöhnung in werktätige Arbeit, Erziehung des Trieb- und 
Willenslebens.. Hinter diesen Zielen tritt der Schulbetrieb mehr 
oder minder zurück. Nicht wichtig erscheint es, ob der Zögling 
nach der Entlassung aus der Anstalt ein vollkommener Rechner ge- 
worden ist, daß er sich mit allerlei Wissenskram vollgestopft hat, 
sondern ob er gelernt hat, seine Triebe zu beherrschen und seinen 
Willen zu meistern. 

Von 792 Zöglingen waren 123 = 15,4°/, unehelicher Geburt. Der 
hohe Prozentsatz an Unehelichen dürfte dadurch zustande kommen, 
daß sich begreiflicherweise die Pflegeeltern mit den ausgearteten 
Kindern nicht so lange Mühe geben als die leiblichen Eltern. Gelegent- 
lich wird es infolge der ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse 
bei zu geringem oder schnell entwertetem Pflegesatz nicht möglich 
sein, eine geeignete Pflegefamilie zu finden, so daß die Überweisung 
in die Fürsorge-Erziehung mehr aus äußeren, als aus im Kinde 
liegenden Ursachen erfolgt. 


320 Schwartz: 


Bei 41 Zöglingen = 5,2°/, wurde die spätere Einleitung des Ent- 
mündigungsverfahrens empfohlen. 
Dem Alter nach konnten folgende Unterschiede festgestellt werden: 


Tabelle II. 
1— 6 Jahre. . . . . 44 Zöglinge= 56 
‘—10 , yoa a ee 139 po = I0 
11—14 , ee all „= 342, 
15—18 „20202020. 265 vw = 3), 
1921: 3. ne Hl m = u 


39 


Zusammen 792 Zöglinge = 100 %, 


Das Alter der beginnenden Geschlechtsreife (11—14 Jahre 
= 342°, und 15—18 Jahre = 33,5 °/,; stellte bei weitem die größte 
Zahl der Neuaufnahmen. Selbstverständlich stimmte hierin die zweite 
Untersuchungsreihe mit der ersten überein. 


Über das Milieu ist zu sagen, daß bei 504 Fällen = 63,6°,, 
dieses als ungünstig, bei 288 Fällen — 36,4 °/, als günstig bezeichnet 
werden muß. Allerdings muß zugegeben werden, daß die Akten- 
angaben über die Umwelt, welche auf die Zöglinge bis zu ihrer 
Überweisung in Fürsorgeerziehung einwirkte, mitunter recht dürftige 
‚waren. Die ergänzenden Angaben der Erzieher erwiesen sich bei 
der Beurteilung dieser Frage daher als recht wertvoll. 

Als erblich belastet wurden von 792 Zöglingen 296 = 37,4? 
befunden, immerhin ein recht erheblicher Prozentsatz. Es lag vor: 
Geistesstörung, beziehentlich geistige Schwäche der Vorfahren bei 
110 Fällen = 13,9 °, Epilepsie in 2 Fällen = 0,25 °/,, Unzucht in 
159 Fällen = 20,1 °/,, Trunksucht in 76 Fällen = 9,6 °/,, Taubstummbheit 
in 5 Fällen = 0,6 °/,. 

Hinsichtlich der erblichen Belastung durch Trunksucht in ins- 
gesamt 76 Fälleu ist zu berichten, daß sich diese aufteilen: in 65 Fälle 
beim Vater, in 4 Fälle bei der Mutter, in 2 Fälle bei beiden Eltern, 
in 2 Fälle beim Vater und Großvater gleichzeitig. 

Soweit die Aktenangaben zutreffen, lag bei 245 Zöglingen = 30,9), 
Kriminalität von Eltern oder anderen Verwandten vor. 

Die Kriminalität der 7Zöglinge, welche in der Mehrzahl zugleich 
den Grund für die Überweisung in Fürsorgeerziehung darstellte, er- 
gibt sich aus folgender Zusammenstellung. Hierbei gilt zu berück- 
sichtigen, daß bei vielen Zöglingen selbstverständlich mehrere Delikte 
gleichzeitig vorlagen: 


Untersuchung der in Erziehungsanstalten neu aufgenommenen Fürsorgezöglinge. 321 


Körperverletzung . . . . . . in 5 Fällen, 
Brandstiftung . . . 2 22000 C oa 
Vagabondage. . . . » 2.10. 5, 
Diebstabl . . . 2. 2 2 20 44 „5, 
Betrug . u sgo aa a a e o DA o 
Unterschlagung . . . . 2.2.60 p, 
Unsittliche Handlungen . . . . „ 20 „, 
Unzucht . . . 2. .2.2.2220094.60 i, 
Betteln a a =. u: a0: 2 8 Bea rt DE. a 
Verwahrlosung . . . . 22.227 „ 


Als sehr lückenhaft erwiesen sich die Angaben der Akten über 
die Kindheit der Zöglinge. Eigene Angaben der letzteren ergänzten 
diese im wesentlichen Maße. 

Nichts bekannt war in 321 Fällen; es ergaben sich: Krämpfe 
ın 48 Fällen, Verabreichung von Alkohol in 1 Fall, Verletzungen in 
‘4 Fällen, Englische Krankheit in 107 Fällen, Infektionskrankheiten 
in 359 Fällen. 

Die Beurteilung des körperlichen Gesundheitszustandes zeigte, 
dad im allgemeinen die Zöglinge den Durchschnitt des Friedens- 
zustandes nicht aufwiesen. Die Wirkungen der äußerst ungünstigen 
wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland spiegelten sich in den 
Befunden bei den unterernährten jugendlichen Persönlichkeiten wider. 
Auch in einzelnen Erziehungsanstalten ließ die Ernährung zu wünschen 
übrig. In einem besonderen Bericht hatte ich an anderer Stelle darauf 
hingewiesen, daß Anstalten mit landwirtschaftlichem oder gärtnerischem 
Betriebe hinsichtlich der Ernährung ihrer Insassen wesentlich besser 
gestelt waren als solche in Städten und solche ohne derartige Ein- 
richtungen auf dem Lande. Besonders schwerwiegend war der Mangel 
an Fetten, weniger schwierig erschien die Beschaffung von eiweiß- 
haltigen Nahrungsmitteln, während die Kohlehydrate den weitaus 
überwiegenden Bestandteil der Nahrung ausmachten. Die Kohle- 
hydrate in Gestalt von Grieß, Mehl, Erbsen, Bohnen, Gräupchen, 
Haferflocken konnten fast nur in Form von Suppen oder Breien ge- 
geben werden, ein Nachteil, der eine Überschwemmung des Organismus 
nit Wasser zur Folge hatte. Rüben und Kartoffeln, die wenigen 
Nahrungsmittel in fester Form, konnten den Schaden nicht beheben, 
weil sie selbst unverhältnismäßig wasserreiche ‘Nahrungsmittel sind. 
äls Folge dieser unzweckmäßigen, übermäßig wasserreichen, fett- und 
eiweißarmen Ernährung ergaben sich bei den Zöglingen mancherlei 





') Verwahrlosung als Delikt? Anm. d. Red. 


3939 Schwartz: 


Fälle von Unterernährung, ungenügender Gewichtszunahme, Blutarmut, 
und eine Zunahme der Bettnässer. Über die Frage des Bett- 
nässens und der Behandlung dieses Leidens habe ich mich im August 
1923 in Nordhausen in einem besonderen Vortrage verbreitet und 
neben den üblichen notwendigen ärztlichen Behandlungsmethoden der 
Trockenheit, die in richtiger Weise verordnet werden muß, das Wort 
geredet. Gute Erfolge hiermit im Heilerziehungsheim Alt-Scherbitz, 
in der Samariterherberge Horburg und im Mädchenheim Calbe a. S. 
haben mich hierzu ermutigt. Die Ursache der Zunahme der Bett- 
nässer ist fast ausschließlich die durch die wirtschaftliche Ungunst 
der Gegenwart bedingte Suppenernährung. Der Körper erledigt sich 
des Überschusses an Wasser selbst während des Schlafes. 

Die folgende Tabelle 1V gibt über die krankhaften Abweichungen 
des körperlichen Befundes nähere Auskunft. 





Tabelle IV. 

Anzahl 
der o/o 

Fälle 
Entartungsanzeichen in größerer Anzahl . . . . .| 179 | 22,6 
Störungen des Gehörs. . . . 2... | 4 5,2 
Störungen des Sehvermögens . . . . 2.2.2... 55 6,9 
Störungen der Nasenatmung . . . » 2.2.2. f 55 6,9 
Herzkrankheiten . . . 2 2 2 2 rn ern. 8 1,0 
Lungenkrankheiten . . . . 5 0.6 


Artikulatorische Sprachstörungen einschließlich Stottern | 57 7,2 


Wirbelsäulenverkrümmung stärkeren Grades . 2 | 0,25 
Gelenkrheumatismus und Folgen . . 9 1,1 
Erbsyphilis EE ee E E E 9 1,1 
Erworbene Syphilis. . . . 2 2 2 22202020. 31 2,6 
Encephalitis, überstandene 4 0,5 
Schichtstar BE RR an ai 2 0.25 
Kolobom . 2 2 2 en ee 2 0,25 
Bettnässer . © 2. 2 2 2 22222... 181 | 22,9 


Über die Syphilis dürfte einiges zu sagen sein. Die Untersuchung 
ergab 9 Fälle (=1,1°/,) von Erbsyphilis und 21 Fälle (=2,6°/,) von 
erworbener Syphilis., Hierbei ist zu bemerken, daß unter Erbsyphilis 
der Einfachheit halber auch die in früber Kindheit erworbene Syphilis 
mitgefaßt worden ist. Wie ich in einem besonderen Bericht an anderer 
Stelle ausgeführt habe, dürften unter den 792 untersuchten Zöglingen 
weit mehr als 30 Fälle von Syphilis (=3,7°/,) vorhanden sein. Sie 








Untersuchung der in Erziehungsanstalten neu aufgenommenen Fürsorgezöglinge. 323 


entziehen sich deshalb der Erkennung bei Vornahme der Untersuchung, 
weil sie keinerlei äußerlich bemerkbare Anzeichen der Syphilis mehr 
bieten. Es empfiehlt sich daher bei sämtlichen geschlechtlich be- 
scholtenen Fürsorgezöglingen beiderlei Geschlechts, bei allen sonst auf 
Syphilis verdächtigen Zöglingen und bei solchen, deren Eltern als 
syphilitisch bekannt oder verdächtig sind, die Wassermannsche Blut- 
untersuchung vornehmen zu lassen. Durch rechtzeitige Erkennung 
und zielbewußte Behandlung der Syphilis können schwere Folgezustände 
derselben verhindert werden. 

Was die Verteilung der Zöglinge auf die einzelnen Anstalten und 
Sonderabteilungen anbelangt, so ist darüber zu berichten, daß seit 
meinem letzten Bericht in der Provinz Sachsen in den Neinstedter 
Anstalten Heilerziehungsabteilungen für schwachsinnige schulpflichtige 
und schulentlassene Zöglinge beiderlei Geschlechts eingerichtet worden 
sind. Es werden Idioten, Geisteskranke, Schwachsinnige und Epileptische 
mit Seelenstörung von den übrigen ausgesondert und den Landesheil- 
anstalten beziehentlich diesen eben erwähnten Heilerziehungsabteilungen 
in Neinstedt überwiesen. Der Zweck letzterer Abteilungen bestebt darin, 
die Schwachsinnigen durch Heilerziehung für das Leben zu ertüchtigen, 
so daß sie nach mehr oder minder langer Behandlungsdauer von dort 
in Dienststellen untergebracht werden können. Nicht so großer Wert 
wird bei der Erziehung in diesen Sonderabteilungen auf Ausbildung 
des Intellekts gelegt, sondern es wird energisch angestrebt, diesen 
schwachsinnigen Individuen binlängliche Kenntnisse im Haushalt und 
in der Wirtschaft, in der Landwirtschaft oder im gärtnerischen Be- 
triebe beizubringen. Erzieherische Einwirkung auf das Gemüts-, Trieb- 
und Willensleben wird nebenbei nicht verabsäumt. Die Schwach- 
sinnigen werden hier zu brauchbaren, mindestens aber zu nicht 
störenden Hausgenossen erzogen. Die von ihnen geleistete Arbeit 
ruft bei den Schwachsinnigen ein starkes Gefühl der Befriedigung, 
der Zufriedenheit hervor. Die Erfahrungen, die anderweit mit solchen 
Einrichtungen gemacht wurden, sind bisher sehr günstige. In letzter 
Zeit ist man, vor allem Gregor, immer mehr davon abgekommen, 
Leiehtschwachsinnige und Psychopathische von den Normalen zu 
trennen. In der Tat haben bisher alle Erziehungsanstalten unter 
solchen Bedingungen gearbeitet und gute Erfolge erzielt. Als immer 
richtiger stellt sich das Problem heraus, unter den Zöglingen die Un- 
erziehbaren aufzufinden und auszusondern. Es empfiehlt sich, diese 
Verwahrungshäusern oder Sonderabteilungen zum Zwecke der Ver- 
wahrung zuzuführen. Leider sind Verwahrungshäuser bisher kaum 
eingerichtet worden. Die Zahl der Unerziehbaren ist jedoch keines- 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 22 


324 Schwartz: 


wegs hoch. Ein Verwahrungshaus würde für mehrere Provinzen ge- 
nügen. Schwerere Psychopathen, vor allen Dingen asoziale 
Psychopathen müssen gleichfalls aus der Masse der übrigen Zög- 
linge abgesondert werden, weil sie für diese durch ihre Neigung zum 
Komplottieren und zum Hetzen, durch ihr schlechtes Beispiel eine 
große Gefahr, vor allem in größeren Anstalten, bilden. Für schul- 
pflichtige männliche und weibliche und für schulentlassene weibliche 
schwerer psychopathische und asoziale Fürsorgezöglinge stehen der 
Provinz Sachsen Sonderabteilungen teils in der eigenen, teils in anderen 
Provinzen zur Verfügung, dagegen besteht ein empfindlicher Mangel, 
asoziale und schwerer psychopathische männliche Zöglinge in geeigneter 
Weise unterzubringen. Die Zahl der erforderlichen Plätze dürfte sich 
nicht als allzu hoch erweisen. Ich glaube 20—30 Plätze würden ge- 
nügen. Eine solche Abteilung wäre am zweckmäßigsten im Anschluß 
an eine Erziehungsanstalt einzurichten, räumlich möglichst weit von 
den übrigen Gebäuden getrennt, in ländlicher Gegend mit rubiger 
Bevölkerung. Den Zöglingen müßte reichlich Gelegenheit zur Be- 
schäftigung mit gärtnerischen und ländlichen Arbeiten geboten sein.- 
An den Erzieher, dem eine äußerst schwierige Aufgabe durch die 
Leitung einer solchen Sonderabteilung übertragen würde, sind die 
größten Anforderungen zu stellen. Er muß über ein nicht unbeträcht- 
liches Maß von psychologischen und psychopathologischen Kenntnissen 
verfügen und sich für seine Aufgabe als besonders qualifiziert zeigen. 
Schließlich erscheint es wünschenswert, wenn ein psychiatrisch vor- 
gebildeter Arzt dem Erzieher jederzeit zur Verfügung stände. Alle 
diese Voraussetzungen würden sich erfüllen lassen, wenn der Marıen- 
hof der Neinstedter Anstalten für die Einrichtung einer solchen Ab- 
teilung in Aussicht genommen werden könnte. 

In einer Erziehungsanstalt, welche in einer anderen Provinz ge- 
legen ist, wurde der ernsthafte Versuch mit der Selbstverwaltung und 
Selbstbetätigung der Zöglinge begonnen. Aus grundsätzlichen Er- 
wägungen heraus muß von der Einführung der Selbstverwaltung ab- 
geraten werden. Da es sich bei Fürsorgezöglingen in der überwiegenden 
Mehrzabl der Fälle um unreife Individuen handelt, kann von eMer 
Selbstregierung in irgendeiner Form auf keinen Fall die Rede sein. 
Gerade die Fürsorgezöglinge bedürfen der ständigen Führung und 
Unterstützung, solange sie der Anstaltserziehung noch nicht entraten 
können. 

Das Reichsgesetz über die Jugendwohlfahrt, welches am 1.4. 1924 
in Kraft getreten ist, plant zur Verhütung körperlicher, geistiger oder 
sittlicher Verwahrlosung Minderjähriger die Einführung der Schutz- 


Untersuchung der in Erziehungsanstalten neu aufgenommenen Fürsorgezöglinge. 325 


aufsicht. In den leichteren Fällen von Verwahrlosung wird man hier- 
mit vielleicht zum Ziele gelangen, in den meisten schwerwiegenderen 
Fällen der Verwahrlosung dürfte die Entfernung aus dem ungünstigen 
Milieu in Anstaltserziehung seltener zu umgehen sein. Die Erfahrungen 
der nächsten Jahre werden lehren, ob man der Schutzaufsicht wird 
größeren Raum gewähren können. Eine wesentliche Ersparnis be- 
deutet sie unter allen Umständen, ein Vorteil, der in den Nöten 
unserer Zeit sehr wesentlich zu Buche schlägt. 

Zum Schlusse kommend, möchte ich noch einmal hervorheben, 
daß sich in den Erziehungsanstalten ein Material jugendlicher Menschen 
ansammelt, welches, wie die vorliegende Untersuchungsreihe wiederum 
ergeben hat, zu 65,2 °/, als abnorm bezeichnet werden muß. Wenn 
auch die Abnormität zum größten Teile verhältnismäßig geringfügig 
ist, so kann doch ihr Vorhandensein nicht weggeleugnet werden. Die 
Leiter der Erziebungsanstalten, die Lehrer und die übrigen Erzieher 
haben hierauf die gebührende Rücksicht zu nehmen und die Methode 
ihrer Erziehung auf das Krankhafte in den seelischen Äußerungen 
der ihnen anvertrauten Individuen einzustellen. Ich möchte nochmals 
nur ein krasses Beispiel, welches blitzartig diese Zusammenhänge be- 
leuchtet, anführen. Als einzige Spätfolge einer überstandenen schweren 
Gehirnkrankheit, der Encephalitis lethargica, kann bei jugendlichen 
Individuen die Neigung zur Lüge, zum Diebstahl und zur Brutalität 
zurückbleiben. Ohne Kenntnis der Vorgeschichte unterscheiden sich 
solche Fälle in keiner Weise von den Charakteranlagen des 
Durchschnitts der übrigen Fürsorgezöglinge. Dabei handelt es 
sich bei den eben genannten Fällen um ausgesprochen krankhafte Zustände. 

Als einen großen Fortschritt betrachte ich es, daß die Provinz 
Sachsen in letzter Zeit eine Beobachtungsanstalt eingerichtet hat, an 
welcher ein Kreisarzt den psychiatrischen Teil der Beobachtung übernimmt, 
welcher selbst eine siebenjährige Vorbildung als Psychiater genossen hat. 

Die zweite Untersuchungsreihe von 792 Fürsorgezöglingen und 
der Besuch von 28 Erziehungsanstalten hat in mir wiederum den 
Eindruck erweckt, daß auf dem Gebiet der Fürsorgeerziehung Be- 
deutendes geleistet und recht günstige Erfolge erreicht werden. 

Doch nicht allein Erzieher und Behörden, nicht bloß die Mit- 
wirkung der Psychiater müssen im Kampfe gegen die Verwahrlosung 
mobil gemacht werden, wenn noch größere Erfolge gezeitigt werden 
sollen, sondern die tatkräftige Mithilfe der Presse jeder Schattierung 
und der Schulen, vor allem auch der Volksschulen, ist ein dringendes 
Bedürfnis unserer Zeit. 


Vorschlag einer gemeinsamen religiösen Unterweisung 
Taubstummer und Schwachsinniger im 18. Jahrhundert. 


Von 


Ernst Emmerig, München. 
(Oberlehrer an der Landes - Taubstummen - Anstalt.) 


Die ersten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ins Leben 
gerufenen Taubstummeninstitute entfalteten zwar eine höchst segens- 
reiche Wirksamkeit, indem durch sie einzelne Gehörlose, die das Glück 
hatten, einer Anstaltserziehung zugeführt zu werden, zweckentsprechen- 
den Unterricht erhielten, die überwiegende Masse dieser Viersinnigen 
— sie zählen heute etwa 1°/, der gesamten Bevölkerung — traf 
jedoch mangels einer genügenden Zahl derartiger Bildungsstätten noch 
Jahrzehute hindurch das Los fast gänzlicher Vernachlässigung gleich 
jenen Kindern, denen ein grausames Geschick ihre Geistes- und 
Seelenkräfte in Fesseln schlug. Wie schon frühzeitig die christliche 
Charitas in gar manchen Fällen sich dieser von Natur so stiefmütter- 
lich bedachten Menschenkinder in liebevoller, tatkräftiger Weise an- 
nahm, wenngleich die überlieferten Berichte recht vereinzelt und 
dürftig sind, so ließ die wahre Philosophie, die werktätige Nächsten- 
liebe, jn einem weitblickenden, warmherzigen Manne den Gedanken 
reifen, womöglich allen von der Natur zurückgesetzten Mitmenschen, 
vornehmlich den Taubstummen und Schwachsinnigen, durch religiöse 
Belehrung ihr irdisches und ewiges Heil zu fördern. Es war der 
Franziskanerpater Romedius Knoll zu Hall in Tirol, 1727—1796, 
der durch Herausgabe eines nunmehr ziemlich seltenen Werkes der 
Fachgeschichte Veranlassung gegeben, sein Wirken in Würdigung zu 
ziehen. Da indes der Autor und sein Buch bisher nicht die ge- 
bührende Berücksichtigung gefunden, sei im folgenden versucht, auf 
ihre Bedeutung hinzuweisen. 

Das 1787 veröffentlichte, für die Gelehrtenwelt bestimmte 
lateinische Werk: Explicatio Catechismi catholici Surdorum Mutorum 
erweiterte der Verfasser zu der im Jahre 1788 bei Doll zu Augsburg 


Vorschlag einer gemeinsamen religiösen Unterweisung Taubstummer usw. 327 


in 8° (60 u. 272 S.) erschienenen deutschen Ausgabe mit dem Titel: 
Katholische Normalschule für die Taubstummen, die Kinder, 
und andere Einfältigen, zum gründlichen sowohl als leichten 
Unterricht in dem Christenthume, durch vierzig Kupfer- 
stiche: nebst einem dreyfachen Anhange, besonders der 
Anweisung zur praktischen Beicht. Allen Seelsorgern, 
und Hausvätern gewidmet von einem Priester. 

In erster Linie hat Knoll sein Buch für den Unterricht jener 
Taubstummen bestimmt, die bei ihrer verhältnismäßig großen Anzahl 
in den wenigen bestehenden Anstalten keine Aufnahme fanden. Er 
schloß sich damit in weitschauender Weise einer Bewegung an, die 
zu jener Zeit zögernd da und dort in Reformvorschlägen in Er- 
scheinung trat, einige Jahrzehnte später in der nachpestalozzianischen 
Periode aber durch behördlich angeordnete oder wenigstens begünstigte 
unterrichtliche Maßnahmen der Rückständigkeit in der Taubstummen- 
bildung tatkräftig zu begegnen trachtete. Ein Vorläufer der so- 
genannten Verallgemeinerung des Taubstummenunterrichts, 
als welcher Rom. Knoll ein Ehrenplatz in der Geschichte der Taub- 
stummenbildung gebührt, ist er durchaus kein Gegner der vor- 
handenen Institute, vielmehr nur der Meinung, daß bei der Kost- 
spieligkeit derartiger Einrichtungen durch diese allein eine durch- 
greifende Verbesserung der Notlage sich nicht erzielen lasse. Während 
in Anstalten nur Kinder untergebracht wurden — tatsächlich ward 
damals, allerdings in Ausnahmefällen, selbst das Jünglingsalter wesent- 
lich überschritten —, werden durch Knoll »alle angenommen, sollten 
sie auch das sechzigste, oder siebenzigste Jahr überstiegen haben: 
wenn sie nur noch einige gesunde Vernunft behalten«. Die ersten 
Taubstummeninstitute besaßen nach Lage der Verhältnisse mehr oder 
weniger den Charakter vornehmer Pensionate, Knoll »hingegen wird 
es zur Herzensfreude dienen, wenn alle und jede Taubstummen nicht 
nur eingeladen, sondern auch von allen Wegen und Strassen, von allen 
Orten und Winkeln der Thäler angehalten, und durch obrigkeitlichen 
Zwang in unserer Normalschule zu erscheinen befehliget werden: da- 
mit alle erlernen und wissen, was sie zu thun, und zu lassen haben, 
wenn sie anders eine ewige Seligkeit verhoffen wollene. (S. 206.) 
Die in den Instituten übliche Methode des Lesens und Schreibens 
hält der Verfasser der »Normalschule« zwar für Kinder begüterter 
Eltern als durchaus geeignet, für Abkömmlinge aus dem großen Haufen 
jedoch für überflüssig, mitunter sogar für schädlich. Wenn auf der 
Versammlung des Bundes deutscher Taubstummenlehrer zu Hildes- 
heim iin Jahre 1922 der Forderung der erwachsenen Taubstummen 


328 E. Emmerig: 


nach Errichtung von besonderen für die Gehörlosen eingerichteten 
Oberschulen und Hochschulabteilungen im allgemeinen zugestimmt 
wurde, so scheint uns der ehrwürdige Franziskanermönch einen mehr 
realen und nüchternen Blick für die Wirklichkeit und seine Zeitlage 
besessen zu haben gemäß seinen trefflichen Worten: 


»Welchen Nutzen, welche Freude kann der arme Tropf genießen, da er von 
der schon angewohnten Arbeit abgehalten, und zu höhern Künsten und Wissen- 
schaften angetrieben wird, zu welchen er selbst sich weder von Gott erschaffen, 
noch von der Natur berufen zu seyn erkennet? Und setzen wir, daß die Natur, 
als eine gute Mutter, dem Tauben mit einigen Gemüthsgaben das ersetzet, was sie 
ihm in den äußerlichen Sinnen versaget hat; setzen wir weiters, man wolle diesen 
stummen Block mit großer Mühe, und nicht geringen Kosten zu einem Merkur 
schnizeln, und in dem Tempel der Weisheit als einen Götzen vorstellen, oder zu 
höhern Aemtern und Würden befördern: welche Vortheile kann man sich vernünftig 
versprechen, oder welches allgemeine Murren hat man vielmehr zu besorgen; da 
so viele, welche die Natur mit allen Sinnen begabet, und mit einem aufgeweckten 
Geist versehen hat, in dem Staub der Verlassung verdorren; und so manche Künstler 
und Gelehrte in der weiten Welt herum irren, um Arbeit bitten, und Brod suchen? 
— Würde wohl die Nachwelt dieses Verfahren als eine allgemeine Nutzbarkeit an- 
sehen, oder nicht vielmehr als eine sehr wichtige Eitelkeit verlachen ?« (S. 209 £). 


Neben den Taubstummen ist, wie aus dem Titel des Werkes 
schon ersichtlich, dasselbe zugleich für »Einfältige« bestimmt, »welche 
an Unbehilflichkeit des Körpers, und Blödigkeit des Gemüths jenen 
nicht viel nachgeben, und den Lehrern fast zu gleicher Quaal dienen«. 
(Vorbericht.) 


Ich verstehe jene einfältigen, dummen, und läppischen Menschen, welche 
man nicht unbillig Halbnarren nennet. Die Anzahl derselben ist unstrittig größer, 
als der Taubstummen: denn wenn man auch in einem weiten Striche Landes von 
diesen keinen findet, so wird man doch fast in jedem Dorfe einen oder mehr 
Dummköpfe antreffen. Die Gefahr des Heils ist bey diesen Elenden so groß, daß 
fast alles, was wir vorher von den Taubstummen gesagt baben, auch von diesen 
mag verstanden werden. Sie hören zwar, und reden, doch so roh, und unartg, 
daß man lieber die Zeichen der ganz Stummen an ihnen sehen wollte. Ihr Äußer- 
liches ist schon so ungeschliffen und misgestaltet, daß man leicht auf die Blödigkeit 
des innern Menschen schliessen kann. Die Gedächtniß ist verrostei, der Verstand 
verfinstert, der ganze Mensch halb leblos, ohne Geist, ohne Leben. Sage man ihm 
zehnmal die nämliche Wahrheit vor, so wird er es eben so oft vergessen: und 
wenn er auch nach langem Balgen selbst von den ersten und wichtigsten Glaubens- 
fragen etwas zu behalten scheint, so versteht er duch auch das nicht, was er ant- 
wortet.«e (Vorrede § XXIX.) 


Noch weiter steckt der Menschenfreund die Grenzen seiner 
Schülerschar, indem er wohl alle Arten von Sprachkranken einbezieht: 


»Mehrere dörften ihre Stummheit der nachläßigen Erziehung ihrer Aeltern 
zuschreiben, welche mit ihrem Kinde lieber lallen, als sprechen wollten. War etwa 
das Kind zum Reden zu lästig, so war je die Mutter wohl zufrieden, wenn es nur 
mit Deuten was zu verlangen wußte; da sie doch gar oft mit der Ruthe die Zunge 


Vorschlag einer gemeinsamen religiösen Unterweisung Taubstummer usw. 329 


lösen könnte. Bey den Meisten entsteht solcher Mangel der Sinne, Zweifels ohne 
von ungesunden Wohnungen, Wasser, Luft, und gar zu rauhen Speisen. Derowegen 
findet man kein Land; in manchem Lande kaum ein Dorf, in welchem Alle gelößte 
Zungen, und nffne Obren haben.« ($ V.) 

Welche Art der Unterweisung, die allen erfaßbaren Taubstummen 
und Schwachsinnigen zuteil werden sollte, dachte sich nun Knoll? 
Wie er selbst (Vorrede § XXXVIII und »Schutzschrift«, S. 74) ge- 
steht, ist die Originalität seiner Organisation und Methode einem 
»Hochgelehrten Herrn, dem Hochwürdigen Herrn Reichsprälat Fürst 
— — —« zuzuschreiben, dessen Plan er »nur etwas erweitertes. Als 
Unterrichtsmittel dienen die zum Werk gehörigen (heute äußerst 
seltenen) 40 Kupferstiche, Darstellungen von Geschebnissen des Alten 
und Neuen Testamentes sowie des kirchlichen Lebens. Die Erklärung 
der Bilder geschieht in einfachster Weise, indem der Lehrer mit 
einem Stäbchen in der linken Hand auf das einzelne verweist, während 
er mit der Rechten durch Zeichen sich an die Taubstummen wendet. 


Ich lehre nicht nur mit Zeichen, sondern sage alles mit lauten und deutlichen 
Worten, als wenn ich wirklich eine Christenlehre hielte, und zwar aus mehreren 
Ursachen: denn auf solche Weise verbleibe ich mir selbst standhafter gegenwärtig: 
ich weis, was ich sage, und sehe, was ich zeigen soll: die Einfältigen beobachten 
nicht nur die Zeichen, sondern hören auch die Worte, welche sie verstehen; die 
Taubstummen berentgegen erlernen zwar alles durch die Zeichen, geben aber auch 
zugleich sehr acht auf die Bewegung der Lefzen, aus welcher sie, ich weis nicht 
was, abzunehmen pflegen.«< (§ XXXIII.) 

Als wesentliche Unterstützung im Unterricht dient eine Hilfskraft. 

»Doch ordentlicher wird alles von Statten gehen, wenn man einen Jüngling 
oder andern tauglichen Menschen vorher unterrichtet, und zu einem Unterlehrer 
bestellet. Dieser stehet zur Linken des Pults, wo er in Umschlagung der Bilder 
den Lehrer überheben kann: auf die Fragen giebt er laut Antwort, damit die Ein- 
fältigen eben dasselbe nachsprechen; er machet auch das Zeichen für die Stummen; 
damit sie es sehen, und nachahmen; nicht anders, als bey den Soldaten, welchen 
ein Flügelmann alle Kriegsübungen vormachet, damit alle zugleich ihm nachfolgen.« 
($ XXXIV.) 

Die Art der von Knoll verwendeten Gebärdenzeichen unterschied 
sich vorteilhaft von den zu Paris und Wien üblichen künstlichen, 
methodischen oder kombinierten Gebärden, indem er vornehmlich der 
in der Landschaft gebräuchlichen allgemein verständlichen Zeichen sich 
bediente, die im Bedarfsfall durch leicht faßliche natürliche Ausdrucks- 
bewegungen noch bereichert wurden. 

So rasch erlernbar im Gegensatz zur herrschenden Wiener Schule 
diese Methode für den Lehrer und so nutzbringend nach Knoll die 
Unterweisung für die Schüler sich gestaltete, weshalb er sie nament- 
lich auch für die Tätigkeit der Missionäre empfahl, so war sich der 
Verfasser auf Grund eigener Erfahrungen doch darüber klar, daß an 


330 E. Emmerig: 


einen ernstlichen Erfolg nur gedacht werden konnte, wenn der Unter- 
richt durch behördlichen Zwang zur Einführung gelange. Zu diesem 
Zweck soll die Obrigkeit an alle Pfarrherrn den Befehl erlassen, eine 
Zählung der in ihrem Sprengel vorhandenen Anomalen vorzu- 
nehmen. Nach Vorlage dieser Liste wird sich sodann ein zum Taub- 
stummenlehrer sich eignender Geistlicher in den einzelnen Orten ein- 
finden, um mit den betreffenden Eltern an einem bestimmten Tage 
Rücksprache zu pflegen. »Da nimmt er dann einen nach dem andern 
vor, fraget nach dem Namen, Alter, den Rigenschaften, der Auf- 
führung, und den Umständen des Lebrjüngers, zeichnet alles auf, und 
trägt es in ein Protokoll ein; suchet mit liebreichem Umgange die 
Herzen dieser Kleinen zu gewinnen, und ihr Zutrauen sich eigenthün- 
lich zu machen. «e ($ XXXVIII.) Zur festgesetzten Zeit beginnt er 
hierauf den Unterricht, wodurch in 12—14 Tagen die Schüler zu den 
Sakramenten zugelassen werden. Da bei der Unterweisung durch 
den die. Landschaft bereisenden Geistlichen zugleich der Pfarrherr 
sowie der Schulmeister anwesend sind, ist für Fortsetzung des Unter- 
richtes Sorge getragen, so »daß nach einer Zeit von etwa drey Jahren, 
der geistliche Herr Lehrer wiederum die Ptarreyen durchwandere, 
den Unterricht untersuche, die Lehrjünger prüfe, und alle jene Maaß- 
regeln ergreife, welche er zur Verbesserung, und Erbaltung dieser 
Normalschule dienlich zu seyn erachten wird.« 

Knolls Buch erlangte auch weiterhin eine gewisse, nicht ge- 
nügend erkannte Bedeutung in der Geschichte des Taubstummen- 
bildungswesens durch die Stellungnahme führender Institutsdirektoren 
der damaligen Zeit zu dem Werk des Verfassers. Der Leiter des 
Wiener Taubstummeninstituts, Friedrich Stork, hatte am 20. April 
1788 gelegentlich einer Reise zu seinem Meister Abbé de l'Epée in 
Paris nach einer Besprechung mit Knoll dessen Werk zu fördern ver- 
sprochen. Anscheinend in Paris umgestimmt, machte er nach seiner 
Rückkehr seinen Einfluß dahin geltend, daß die »Kath. Normalschule« 
als »der Würde des Gegenstandes nicht angemessen« unterdrückt und 
dem Verfasser der fernere Unterricht verboten wurde. Darob sah 
sich Knoll veranlaßt, »Eine Schutzschrift für die katholische 
Normalschule der Taubstummen wider die Einwendungen des 
Herrn Abb6 de l'Epée, Stifters der Taubstummenschule zu Paris, und 
des Hrn. Friedrich Stork, Direktors des k. k. Taubstummen- 
institutes zu Wiene (Augsburg bei Doll 1790, 8° 91 S.) herauszugeben. 
Er hielt darin gründlich Abrechnung mit seinen Widersachern und 
erlangte hierdurch die Zurücknahme jenes Verbotes. Auf sein Ersuchen 
hatte für die » Schutzschrift« Samuel Heinicke, der Direktor des 


Vorschiag einer gemeinsamen religiösen Unterweisung Taubstummer usw. 337 


Taubstummeninstituts zu Leipzig, woselbst die Schüler in der Laut- 
sprache unterwiesen wurden, ein Gutachten, »Beurtheilung der 
kath. Normalschule für Taubstumme usw.«, geschrieben 
(8. November 1789), worin er die alte Polemik gegenüber seinen 
Rivalen wieder aufgriff: »Herr Knoll hat die wahre Methode sicher 
erfunden, uud er thut auch wohl dran, da er die Methode zur Ton- 
sprache nicht versteht, daß er seine Taubstummen nicht dazu schreiben 
lehrt: denn das ist ganz vergeblich. und eine bloße Täuschung, auf 
die Windbeutel dicke tkun .. .« (S. 5). Mit dieser Episode und dem 
im nächsten Jahr erfolgten Ableben Heinickes endigte die literarische, 
so bedeutungsvolle Fehde zwischen den Gründern der »französischen 
und deutschen Methode« des Taubstummenunterrichtes. 


Auch aus den Reihen der Aufklärungspädagogen waren dem Ver- 
fasser der »Normalschule« Gegner erstanden, die haupstsächlich daran 
Anstoß nahmen, daß Knoll sich darauf beschränkte, religiöse Er- 
kenntnis zu erschließen, obgleich die bürgerliche Brauchbarmachung 
um so vordringlicher erscheine; insbesondere aber verwarfen sie die 
Methode, die Heilswahrheiten schon zu Beginn des Unterrichtes zu 
vermitteln, da als Grundlage zur Erfassung des Gottesbegriffes doch 
erst sinnliche Vorstellungen und Begriffe geweckt, sowie die Schwierig- 
keiten der Sprache überwunden werden müßten. So nimmt z. B. der 
Philantbrop Chr. H. Wolke in seinem für die Taubstummenbildung 
eigenartige Vorschläge enthaltenden Buch » Anweisung, wie Kinder und 
Stumme obne Zeitverlust und auf naturgemäße Weise zum Verstehen und 
Sprechen .... zu bringen sinde (Leipzig 1804) hierzu wie folgt Stellung: 


»Man muß erstaunen, wie ein Mensch, der Denkfähigkeit besitzt, der nur 
einigermaßen das Fassungsvermögen der menschlichen Seele kennt und Taubstumme 
lieb hat, eben diese so verkehrt behandeln und quälen kann mit ganz unbegreiflichen 
Diogen, die ihren Verstand, anstatt ibn aufklären. nur verwirren, die ihr Herz roh 
und kalt lassen und es mit ängstenden Vorstellungen erfüllen, und daß er eine 
solche Anweisung für andere hat schreiben und selbst ausüben können. Alle 
Wunderwerke. alle Geheimnisse, alle sieben Sakramente, alle Lehren des katholischen 
Lehrbegriffs, alle hieroglypischen Vorstellungen aus der Bibel der Juden, den Teufel, 
die brennende Hölle mit ihren schrecklichen, ewigen Qualen, das Fegefeuer usw. 
soll der unglückliche Taubstumme kennen, bezeichnen und glauben lernen, ohne daß 
er vorber durch sinnliche Begriffe von den Gegenständen der Natur und Kunst, von 
den Umständen und Verhältnissen des Lebens, von Gottes Dasein und Eigenschaften 
im Anschauen der Natur hat Kenntnis erhalten. Wie unzulänglich, um wahre Be- 
griffe mitzuteilen, die Merkmale dieses Mannes (dessen gutes Herz ich übrigens 
nicht in Zweifel ziehe) sind, mögen ein paar Beispiele belegen... . Mit solchen 
Vorstellungen. die man nur mit außerordentlicher Mühe einem vollsinnigen, viel- 
fassenden und vielglaubenden Katholiken begreiflich machen kann, sind 272 Seiten 
angafüllt — und — tür Taubstumme! Ein grausames Verfahren, ein abscheuliches 
Beispiel vom Unverstand! (S. 349 ff.) 


332 Emmerig: Vorschlag einer gemeinsamen religiösen Unterweisung usw. 


Wenngleich die Methode Knolls selbst in Berücksichtigung der 
‚damaligen Zeitverhältnisse für eine gründliche Bildung der Taubstummen 
sich als ungenügend erwies und auch in der Literatur kein Nachweis 
vorbanden ist, daß sein Reformvorschlag tatsächlich durchgeführt wurde, 
so darf darum doch die Bedeutung nicht unterschätzt werden, die 
ihm als Vertreter der Verallgemeinerung der Taubstummenbildung 
zweifelsohne gebührt. Auf ähnliche, obschon in der Art ihrer Aus- 
gestaltung wesentlich verschiedene Weise verschaffte dem gleichen 
Gedanken der allgemeinen Belehrung Gehörloser in den österreichischen 
Landen ein halbes Jahrhundert später erhöhte Geltung Franz Her- 
mann Czech in Wien, der wie Graser in Deutschland eine durch- 
greifende Bewegung zur allgemeinen Beschulung der Taubstummen 
auslöste.e Aber auch die Geschichte der Schwachsinnigenbildung wird 
Knolls heilpädagogischem Wirken Anerkennung zollen, hat er doch 
den Ärmsten der Armen an Geist in einer Zeit, da für diese Ver- 
nachlässigten noch keine Gönner und Förderer ihre Stimme erhoben, 
sich in warmherziger Fürsprache angenommen und theoretisch die 
gemeinsame Unterweisung von Viersinnigen und Schwachsinnigen in 
die Wege zu leiten versucht, wie solches 1816 sein Landsmann 
Gotthard Guggenmoos durch Gründung einer »Lehranstalt« zu 
Hallein bezw. Salzburg praktisch verwirklicht hatte. 


Heilpädagogische Bestrebungen. 


Die Arbeit und die Bestrebungen des deutschen Instituts für 
wissenschaftliche Pädagogik in Münster. | 


Das deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster will eine 
umfassende pädagogische Lehr- und Forschungsanstalt sein. Als Lehranstalt stellt 
es sich in den Dienst der Arbeitsgemeinschaften zur J,ehrerfortbildung: Ihren 
Mitgliedern soll es eine wissenschaftlich vertiefte Einführung in die Pädagogik geben. 
Als Forschungsanstalt aber will das Institut bei Lehrern und Lehrerinnen das 
Interesse für wissenschaftliche Pädagogik wacherhalten und beleben und unter An- 
leitung und Bereitstellung der erforderlichen Mittel zu selbständigen wissenschaft- 
lichen Forschungen Anregung und Gelegenheit geben. Gegenstand der Lehre und 
Forschung im Einzeloen sind: 

A. Die Philosophie mit all ihren Disziplinen nach Mußgabe ihrer Bedeutung 
für die Pädagogik. 

B. Die Pädagogik mit allen Zweigen, also historische, allgemeine (theoretische 
und praktische) Pädagogik, Individual-, Persönlichkeits-, Sozial-, Staats-, Moral-, 
Experimental-Pädagogik, Jugendkunde, Didaktik, Schulkunde, Schulhygiene, Schul- 
politik und Berufsberatung. 

Nachdem ich bereits früher in meinem Buche: Die Jugendverwahrlosung und 
ihre Bekämpfung (Aschendorff, Münster 1922) uud im Jahre 1923 durch einen Artikel: 
»Neue Wege der Heilpädagogik und Psychopathenfürsorge« in einer gıößeren Tages- 
zeitung die Notwendigkeit der Vertretung dieses Lehrgegenstandes an den Uni- 
versitäten bervorgehoben hatte, schien mir hier eine ganz besonders günstige Ge- 
legenbeit, das Verständnis für die Heilpädagogik auch in weite Kreise der Lehrer- 
schaft hineinzutragen. Auf meine Anregung wurde die Heilpadagogik als besonderer 
Lehrgegenstand in das deutsche Institut für Pädagogik aufgenommen. Um nun 
der gegebenen Anregung baldmöglichst eine lebendige Auswirkung zu geben, empfahl 
ich die Abhaltung eines Kursus für Heilpädagogik und Psychopathenfürsorge, der 
in den Pfingstferien in der Zeit vom 10—14. Juni 1924 im Clemenshospital in 
Münster gemeinsam vom Institut für Pädagogik und vom Caritasverband veranstaltet 
wurde. Der Kursus ist zunächst für höhere Lehrerinnen eingerichtet worden. Da 
aber 140 Anmeldungen eingingen, kann dieser Versuch als geglückt bezeichnet werden. !) 

Im Hinblick auf das von dem Rektor Quante gewählte Thema sei ohne direkten 
Zusammenhang mit dem Zweck dieses Berichtes der Hinweis gestattet, daß im An- 
schluß an einen von mir gehaltenen Vortrag über die psychischen und sozialen 
Gefahren des Pubertätsalters, insbesondere bei Psychopathen, auf der Tagung der 
westfälischen Hilfsschullehrer am 6. Juni 1924 in Münster beschlossen wurde, der 
Abgrenzung der heilpädagogischen Behandlung der Schwachsinnigen von derjenigen 
der Psychopathen und auch den Pubertätskrisen ganz besondere Aufmerksamkeit 
zu widmen. Prof. Dr. Többen- Münster. 


1) S. D. Zeitschr., 29. Bd., Heft 2, S. 159. 


334 Ausbildungsfragen. 


Psychologisch-pädagogisches Laboratorium zu Amsterdam. 


Das Laboratorium (Universität, O. Z. Voorburgwal 231) beschäftigt sich sowohl 
mit theoretischen Fragen wie mit den praktischen Bedürfnissen der Schulen und 
pädagogischen Vereinigungen. 

Die wissenschaftlich-pädagogische Arbeit bezieht sich auf Probleme 
der praktischen Pädagogik, Experimentalpädagogik, Didaktik, Kinderpsychologie, 
Jugendkunde, Individualpsychologie. 

Die praktische Arbeit umfaßt vor allem die psycholozisch-pädagogische 
Ausbildung von Lehrern und Lehramtskandidaten und die Ausführung von 
statistischen und experimentellen Untersuchungen an Schulen. Die Ausbildung 
der Lehrer soll durch Vorträge, seminaristische Übungen, systematische kinder- 
psychologische Beobachtungen. experimentell - psychologische Arbeiten, Testunter- 
suchungen erzielt werden. Ferner stellt sich dar Laboratorium die Aufgabe, die 
von Schulen gestellten Fragen zu beantworten, eingeführte und einzuführende 
didaktische Methoden und schulorganisatorische Pläne — soweit sie psychologischer 
Natur sind —, auf ihre Zweckmäßigkeit zu prüfen. Das Laboratorium übernimmt 
auch die wissenschaftliche Leitung von Gruppenuntersuchungen, wenn z. B. ganze 
Klassen auf Reifegrad, Intelligenzgrad. Leistungsfähigkeit usf. geprüft und ebenfalls, 
wenn einzelne Kinder systematisch beobachtet und beurteilt werden sollen. 

Die psychologische Arbeit bewegt sich auf dem ganzen Gebiet der Psychologie. 

Das Laboratorium steht in enger Beziehung zu dem pädagogischen Seminar 
der Universität (Direktor: Prof. Dr. Kohnstamm). 

Leiter des Laboratoriums ist Prof. Dr. Géza Révész. 

Aus dem Laboratorium sind folgende Arbeiten herausgekommen: 
G. Révész, Über audition colorée (Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 21). — Derselbe, 
Über spontane und systematische Selbstbeobachtung bei Kindern. (Ebenda Bd. 21.) 
— J. F. Hazewinkel u. G. Révész, Over de didactische waarde van de Projectie- 
lantaarn en de Bioskoop. (Paedagogische Studiën 1923.) — G. Révész, Expériences 
sur la mémoire topographique et sur la découverte d'un système chez des enfants 
et des singes inférieurs. (Archives de Psychol. Vol. 18.) — J. F. Hazewinkel, 
Neue Beiträge zur Frage der pädagogischen Bedeutung der Lichtbilder und des 
Films. — N. A. de Graaf en J. F. Hazewinkel, Over coinstructie aan het 
Lyceum. (Paedag. Studiën, 1924.) — G. Révész, Experiments on animal space 
perception. (Journ. of Psychologie 1924.) — Derselbe, Comparat.-psychol. investigations 
over sbstraction. (Journ. of Animal Behavior, 1924.) Prof. Revesz-Amsterdam. 


Ausbildungsfragen. 


Bestimmungen über den Unterricht in den Berliner Sonder- 


schulen, 
(Dienstblatt VIII der Stadt Berlin vom 9. Februar 1924.) 


Diese »Bestimmungen . ..« verdienen allgemeiner bekannt zu werden. Hier 
handelt es sich um die Organisation heilpädagogischer Notwendigkeiten. Berlin hat 
hier etwas Mustergültiges geschaffen, das starke Anregungen ausstrahlen muß. 

Unter »Sonderschulen« faßt man hier zusammen: Schulkindergärten, Vorklassen, 
Hilfsschulen, Sammelklassen, Schulen für Schwerhörige, Sehschwache und Sprach- 
kranke, sowie die Freiluftschule für Tuberkulose. Diese Sonderschulen sind öffent- 


Ausbildungsfragen. 335 


tiche Volksschulen und nehmen Gemeindeschulkinder auf, bei denen wegen geistiger 
und körperlicher Hemmnisse der lehrplanmäßige Unterricht der Normalschule er- 
folglos bleibt. Jeder Sonderschule wird ein besonderer Einschulungsbezirk zugewiesen. 
Den Kindern ist im Bedürfnisfalle Fahrgeld zu gewähren. — Die Stottererkurse, 
die Abschlußklassen und die B-Klassen sind Einrichtungen innerhalb der Normal- 
schulen und keine Sonderschulen im engeren Sinne. — Um den Charakter der Hilfs- 
schule als einer Schule für geistig schwache Kinder zu wahren, wird darauf geachtet, 
daß die Zahl der Hilfsschulkinder 2 °/, der Zahl sämtlicher Volksschulkinder eines 
Bezirkes nicht oder nicht wesentlich übersteigt. — Die vom Schularzt wegen körper- 
licher oder geistiger Schwäche als noch nicht schulreif erklärten Kinder können dem 
Schulkindergarten zugewiesen werden. — Gemeindeschulkinder, die bei regelmäßigem, 
jedoch erfolglosen einjährigen Schulbesuch in der untersten Klasse der Normalschule 
zurückbleiben müssen, können, falls eine individualisierende Unterrichtsweise die er- 
folgreiche Förderung zur Versetzungsreife verspricht, in die Vorklasse für den Unter- 
richt schwachbefähigter, aber sonst normaler Kinder aufgenommen werdeu. Was 
hier nach 2 Monaten als schwachsinnig erkaont wird, wird der Hilfsschule zugewiesen. 
— Die schwer schwachsinnigen Kinder der Hilfsschule, die das Ziel der Hilfsschul- 
anterstufe während ihrer Schulzeit nicht erreichen, werden entweder der städtischen 
Heil- und Erziehungsanstalt oder einer Sammelklasse überwiesen. Die Sammelklasse 
erhält durch einen angegliederten Hort den Charakter einer Tagesanstalt. — Die Schule 
für Sch"erhörige nimmt nur normal begabte Schwerhörige auf. Ebenso die Schule für 
Sehschwache. Die Schule für Sprachkranke nimmt anscheinend nur normal begabte 
sprachkranke (stotternde) Kinder auf. Schade, daß für andere Sprachkrankheiten keine 
besonderen Einrichtungen bestehen. Bei geistiger Störung, schwerer Epilepsie usw. findet 
Rutbindung vom Schulunterricht statt, oder sie werden in Anstalten untergebracht. 
Durch besondere Verfügung der Schuldeputation kann auch Einzelunterricht stattfinden. 

Die Sonderschulen werden grundsätzlich nicht als Zwergschulen, sondern als 
vollständige Sonderschulsysteme eingerichtet. Vereinzelte Klassen werden nur als 
Fılialklassen angesehen. Die Hilfsschule ist also eine selbständige öffentliche Schul- 
einrichtung. Diese hat auch die schwerhörigen, schwachsichtigen und sprachkranken 
Schwachsinnigen zu versorgen. Sie hat 6 aufsteigende Klassen. Die unteren Klassen 
werden oft doppelt geführt. Besondere Sprachheilkurse können innerhalb der Hilfs- 
schule eingeführt werden. Normalklassenbesetzung: Unterstufe 16, Mittelstufe 18, 
Oberstufe 20 Kinder. Wöchentliche Stundenzahl: Unterstufe 20, Mittelstufe 24, 
Oberstufe 30 Stunden. — Die Sammelklasse ist eine einklassige Schule und nur 
äußerlich der Hilfsschule unterstellt. Sie hat besondere Aufgaben. Sie umfaßt 
höchstens 16 Kinder. Stundenzahl: 20—24. 

Die Lehrkräfte der Sonderschulen haben sich der an und für sich allen Lehrern 
obliegenden Pflicht der Fürsorge für ihre Zöglinge neben dem Unterricht und der 
Erziehung ganz besonders zu widmen. Sie genießen die Ermäßigung von 2 Pflicht- 
stunden. Rektor kann nur werden, wer die Hilfschullehrerprüfung gemacht hat, 
wer mindestens 5 Jahre im Dienste der Sonderschule sich bewährt hat, sich um 
Weiterbildung in seinem Fache bemüht hat, ein Gebiet des Handfertigkeitsunterrichtes 
vollkommen beherrscht und die notwendiger persönlichen Eigenschaften besitzt. 

Egenberger-München. 


Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin veranstaltete vom 
12.—14. Juni eine ‚Pädagogische Pfingstwoche«, in der Fragen der Jugend- 
kunde behandelt werden. Einen äußeren Anlaß dazu hatte der Erlaß des Preuß. 
Kultusministers vom 21. I. 1924 geboten, indem die deutsche Lehrerschaft auf die 


336 Gesetzgebung. 


Bedeutung der Jugendkunde für alle Erziehungs- und Unterrichtsarbeit hingewiesen 
und aufgefordert wurde, sich mit diesem Gebiete vertraut zu machen. Die Ver- 
anstaltung des Zentralinstituts bezweckte daher, 1. einen Überblick über den Stand der 
Jugendforschung zu geben, 2. ihre Verwertung im praktischen Schulleben darzulegen 
und 3. zu zeigen, wie der Lehrer die Vertrautheit mit den wichtigsten Fragen der 
Jugendkunde bei seiner Fortbildung und Ausbildung erwerben kann. Die erst- 
genannte Aufgabe erfüllte in ausgezeichneter Weise der Vortrag von Prof. Dr. Aloys 
Fischer-München, der die geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Jugend- 
kunde schilderte und ihre bisherigen Ergebnisse in ihren Hauptzügen umriß. Das 
zweite Thema der Tagung wurde von Lehrer Bogen für die Volksschule, von 
Studienrat Schleusener für die höhere Schule behandelt, während Frau Oberin 
v. Tiling-Elberfeld in ihrem Vortrage »Die Lehrerin der höheren Schule und die 
Jugendkunde« mehr bloß ein — allerdings sehr ansprechendes — Bild der seelischen 
Verfassung der weiblichen Jugend entwarf. Dr. Lau sprach über die »Psyche des. 
Volkskindes (unter besonderer Berücksichtigung des Berufschulalters)«, indem er eine 
Reihe interessanter Ergebnisse seiner Untersuchungen nach der von ihm verwendeten 
Aufsatzmethode (mit drei Stichworten als Thema) mitteilte. Prof. Dr. W. Hoff- 
mann-Leipzig erörterte unter Hinweis auf einige Fälle seiner pädagogischen Berater- 
tätigkeit sehr üßerzeugend »die Bedeutung der Psychopathologie des Jugendalters 
für den Lehrer«, und in den abschließenden Vorträgen von Schulrat Hyller und 
Studienrat Ch aym wurde dargelegt, wie sich die jugendkundliche Ausbildung und 
Fortbildung des Lehrers der Volksschule bezw. der höheren Schule zu gestalten 
habe. — In Anbetracht des geringen Verständnisses, das die deutsche Lehrerschaft 
im ganzen genommen zweifellos noch für die »Fragen der Jugendkunde« hat, ist 
sehr zu wünschen, daß die Veranstaltung des Zentralinstituts zum Muster recht 
vieler ähnlicher Untersuchungen im ganzen Lande werden möchte. — Einem von 
seiten der Teilnehmer vielfach geäußerten Wunsche entsprechend sollen die Vor- 
träge in Buchform vom Zentralinstitut herausgegeben, im Verlage von Jul. Beltz- 
Langensalza veröffentlicht werden. Bobertag-Berlin. 


Gesetzgebung. 


Krüppeltürsorge. 


Erlaß vom 25. April 1924, betr. Befreiung von Anstaltsbehandlung der Krüppel 
— IlI E 363 —. 

Auf Grund des § 11 Absatz 2 des Gesetzes, betreffend die öffentliche Krüppel- 
fürsorge, vom 6. Mai 1920 (Gesetzsammlung S. 280) verlängere ich über den 
31. März 1924 hinaus bis zum 31. März 1925 die den nachstehend angeführten 
Landesfürsorgeverbänden bisher gewährten Befreiungen von der Verpflichtung zur 
Anstaltsunterbringung der Krüppel mit der Maßgabe, daß diejenigen Krüppel er- 
forderlichenfalls in Anstaltsbebandlung zu nehmen sind, die bis zum 31. März 1925 ihr 
6. Lebensjahr vollendet oder ihr 14. Lebensjahr nicht überschritten haben werden. Die- 
jenigen Krüppel, denen gegenüber nach den bisherigen Bestimmungen eine Behandlungs- 
pflicht bestand, sind weiterzubehandeln, auch wenn sie das 14. Lebensjahr inzwischen 
überschritten haben. Die Befreiung wird folgenden Landesfürsorgeverbänden erteilt: 

1. Ostpreußen, 
2. Grenzmark Posen, Westpreußen, 
3. Pommern, 


Tagungen. 337 


4. Schleswig-Holstein, 
5. Sachsen, 

6. Westfalen, 

7. Wiesbaden. 


Die genannten Landesfürsorgeverbände sind hierdurch weiterhin weder von: 
der Verpflichtung zur Tragung der Kosten der Anstaltspflege befreit, soweit Krüppel 
bereits in geeigneten Anstalten, und zwar öffentlichen oder privaten innerhalb oder 
außerhalb des Bezirks des Landesfürsorgeverbandes untergebracht sind, noch von 
ihrer gesetzlichen Pflicht, anstaltspflegebedürftige Krüppel in geeigneten Anstalten 
unterzubringen, entbunden, sofern solche Anstalten, seien es private oder öffentliche,. 
im Bezirk des Landesfürsorgeverbandes zur Verfügung stehen. 


I. V.: Soheidt. 
An die Herren Oberpräsidenten und den Herrn Regierungspräsidenten in Sigmaringen.. 


Tagungen. 


Bericht 
über die Arbeitstagung des Deutschen Verbandes für 
Schulkinderpflege. 


Am 5. Juni veranstaltete der Deutsche Verband für Schulkinderpflege eine- 
Tagung in Darmstadt mit dem Thema: »Die Gefährdung der Erziehung durch die- 
wirtschaftliche Not und Versuche zu ihrer Bekämpfung.« Die Verhandlungen. 
fanden in dem von der Regierung zur Verfügung gestellten Landtagssaal statt und 
erfreuten sich sehr guter Teilnahme aus West- und Süddeutschland. 

Im ersten Teil, der sich mit der Erziehung in Anstalten und öffentlichen Ein- 
richtungen befaßte, sprach Stadtarzt Dr. Wimmenauer aus Offenbach über: »Die- 
Ernährung der Schulkinder.«e Er wies auf die im Krieg erworbenen Erfahrungen 
hin, die jetzt andere Forderungen an die notwendige Zusammensetzung der Speisen. 
(weniger Eiweiß- und Fettgehalte als früher) stellen lassen auch andere Art der 
Messungen, bei denen man von dem allein maßgebenden »Index« abgekommen ist 
und sich mehr auf die individuelle Feststellung des Arztes stützt, andere Gestaltung 
der Speisungen werden verlangt. 

Interessant waren seine Angaben über den Ernährungszustand der Offenbacher 
Schulkinder. Er fand im Jahre 1921—1922. gut ernährt 6°/,, mittelmäßig 52°/,, 
schlecht 42°,,. Im Jahre 1921—1922 (nach Aufhebung der Blockade) betrugen die 
entsprechenden Zahlen 12, 69, 15. 1923-1924 (Folgen der Inflation) sanken sie 
zurück auf 10, 64, 26. Es ergab sich mithin zwar kein Rückgang auf den Tief- 
stand der Kriegs- und Blockadezeit, wohl aber wieder eine merkliche Verschlechte- 
rung seit 1922, deren Bekämpfung dringend notwendig ist. Um der allgemein noch 
unter dem Existenzminimum liegenden Lebenshaltung aufzuhelfen, sind erhebliche 
öffentliche und private Mittel erforderlich. Schon ietzt betragen die von Deutsch- 
land aufgebrachten Summen weit mehr als die von Amerika noch immer freund- 
lich gespendeten, müssen aber noch weiter steigen. Gemäß den veränderten Ver- 
bältnissen kann man jetzt nicht mehr völlig an den durch die Quäker aufgestellten 
Richtlinien festhalten. So darf für die Auswahl nicht mehr lediglich der körper- 
liche Zustand, sondern nur noch die wirtschaftliche Bedürftigkeit Ausschlag geben.. 


338 Tagungen. 


Die bloße Zusatzmahlzeit genügt nicht mehr, sondern Ausdehnung des Kakaofrüh- 
stücks auf Mittagsmahlzeiten ist dringend geboten. Diese letzte Forderung wurde 
in der Aussprache fast einstimmig unterstützt. Vielfach ist schon das Kakaofrüh- 
stück durch Cornedbeef, Hülsenfrüchte usw. erweitert worden. An sehr vielen 
Orten sind zahlreiche Mittagsspeisungen teilweise aus öffentlichen Mitteln, teilweise 
‚aus privaten Spenden, im Gange. Hierbei muß darauf geachtet werden, daß nicht 
das gleiche Kind Frühstück und Mittagbrot bekommt. Aus Textilgegenden kamen 
Berichte, daß dort schlechterer Ernährungszustand herrsche, als aus Offenbach be- 
richtet wird. Eine neue Form der Unterstützung, die nachbarschaftliche Hilfe von 
Kind zu Kind, von Schule zu Schule, die Mitarbeit der Jugend hat hier viel Gutes 
geleistet. Wie sehr die aus Deutschland gegehenen Mittel überwiegen, zeigte z. B. 
auch der Bericht aus Köln, nach welchen: die amerikanischen Mittel nur noch ein 
Viertel des Gesamtaufwands betragen. In dieser Stadt ist ein sehr erfolgreich 
arbeitender »Zweckverband« zwischen Krankenkassen und städt. Stellen als »Kölner 
Kinderhilfe« gegründet. In der Diskussion kam u.a. auch zur Sprache, daß der 
deutsche Alkoholkonsum nach statistischen Berechnungen etwa 4lmal soviel aus- 
machte, als die Kosten für die gesamten amerikanischen Speisungsmittel. 

In ibrem Referat: »Die Beschäftigungen der Schulkinder« führte Fräulein 
Geppert-Nüruberg aus, wie die Schwierigkeiten der jetzigen Lage, die Not der 
Anstalten, der Mangel an Beschäftigungsmitteln, der beengte Raum der Arbeit noch 
große Hemmungen auferlegen. Bei geschickter Verwendung alten Materials, prak- 
tischer Beschaffung geeigneter Werkzeuge, Heranziehung von Helfern könnten 
einzelne Schwierigkeiten eingedämmt werden. 

Fräulein Tremper-Mainz sprach über »Die Körperpflege des Kindes«, und 
berichtete, daß die Schulkinder in viel vernachlässigterem Zustand seien als die 
Kleinkinder. Die wirtschaftliche Not zahlreicher Familien verhindere immer noch 
‘eine ausreichende Reinlichkeitspflege. Deshalb seien Schulbäder rötiger denn je. 
Auch sollten die Tagesheime möglichst Badeeinrichtungen besitzen. Weitere Forde- 
rungen, die sich daran knüpfen, zielen auf ärztliche Aufsicht in Tagesheimen, über- 
haupt Mitarbeit von Schulärzten, Gesundheitsamt usw. 


fn der Aussprache über das Thema: »Erholungsfürsorge« (das Referat mußte 
wegen Verhinderung der Rednerin fortfallen) wurde, besonders von ärztlicher Seite, 
auf die Mängel der Familienunterbringung hingewiesen. Auch wurden die Nach- 
teile der zu weiten Fahrten für die Kinder betont und eine Aussendung in nahe 
dem Verbindungsorte liegende Heime gefordert. 

Der zweite Teil der Tagung befaßte sich mit der Gefährdung der Erziehung 
und der Abhilfe in der Familie. Pfarrer von Wicht aus Berlin legte die schweren 
geistigen und sittlichen Schädigungen der Jetztzeit ausdrucksvoll dar, die besonders 
durch politische Zersplitterung, durch Wohnungsnot, Alkoholismus drücken. Fräulein 
Droescher-Berlin wies in ihrem fein und tief durchdachten Referat über die Be- 
einflussung des Elternhauses die Wege, wie die Eltern für den Hortbetrieb Anteil- 
nahme und Verständnis gewinnen können. Elternabende allein, Feste usw. genügen 
nicht. Eine gewisse Mitarbeit am Hort selbst muß angeregt werden, Gedanken- 
austausch über Erziehungsfragen, freundschaftliche Hausbesuche, gemeinsame Be- 
sprechungen aus wichtigen Themen z. B. Berufswahl, können hierzu führen. 

Der nur kurz gefaßte Bericht zeigt die Fülle von Anregungen, die in den 
Referaten und in der Aussprache hervortreten und die dem veranstaltenden Ver- 
'band reichlichen Stoff zu neuer fruchtbarer Arbeit geben werden. 


Dr. Käthe Mende-Berlin. 


Tagungen. 339 


Gemeinsame Tagung der Deutschen Vereinigung für 
Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe, 6. Deutscher 
Jugendgerichtstag und des Deutschen Vereins zur Für- 
sorge für jugendliche Psychopathen, 3. Tagung über 
Psychopathenfürsorge. Heidelberg, 17.—-19. Sept. 1924. 


6. Deutscher Jugendgerichtstag. 
Tagesordnung: 


Mittwoch, 17. Sept., vorm. 9'/, Uhr: Die praktische Handhabung des Deutschen 
Jugendgerichtsgesetzes. 
Referenten: Oberamtsrichter Dr. Müller-Hamburg. Amtsgerichtsrat Krall-Karls- 
ruhe. Elsa v. Liszt-Berlin. Jugendpfarror Kappes- Karlsruhe. 
Aussprache: Für die Aussprache vorgemerkt: Amtsgerichtsrat Fran cke- Berlin, 
Prof. Dr. Müller-Hess- Bonn. 
Donnerstag, 18. Sept., vorm. 9 Uhr: Zeugenaussagen von Kindern und Jugendlichen. 
Referenten: Fräulein Lotte Meyer-Berlin. Landgerichtsdir. Schimmack- 
Berlin. Professor Dr. Wetzel-Hosidelberg. 
Aussprache: Für die Aussprache vorgemerkt: Frl. Bolze- Halle, Gräfin Dr. Salm- 
Salm-Hamburg, Lehrer Düring- Leipzig. 
Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. 1. Vorsitzender: 
Dr. Hertz-Hamburg. 


3. Tagung über Psychopathenfürsorge. 
Tagesordnung: 
Donnerstag, 18. Sept., nachm. 3 Uhr: Die Verwahrlosung vom Standpunkt des 
Psychiaters. 
Referent: Professor Schneider- Köln. 
Die Unerziehbaren vom Standpunkt des Psychiaters. 
Referent: Priv.- Doz. Dr. Hahn- Frankfurt. 
Freitag, 19. Sept., vorm. 9 Uhr: Die Verwahrlosung vom Standpunkt des Pädagogen. 
Referent: Prof. Dr. Nohl-Göttingen. 
Erziehungsarbeit an verwahrlosten männlichen Jugendlichen. 
Referent: Dr. Bondy-Göttingen. 
Erziehungsarbeit an verwahrlosten weiblichen Jugendlichen. 
Referent: Fräulein Dr. Paulssen- Hamburg. 
Aussprache. 


Abends 8 Uhr: Öffentliche Abendversammlung gemeinsam veranstaltet vom 
Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen und der Deutschen 
Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerirhtshilfen. 

Thema: Die Wohlfahrt der deutschen Jugend. Referenten: Dr. Siegmund- 

Schultze-Berlin. Fräulein Dr. Margarete Roller- Brünn. 
Zeitschrift für Kirderforschung. 29. Bd. 23 


340 Tagunzen. 


Anmeldungen für beide Tagungen erbeten an Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9. Teilnehmerkarten für die einzelne Tagung 3 Mark, für beide 
Tagungen zusammen 5 Mark. Einzahlungen an Bankhaus F. W. Krause & Co.. 
W. 8, Behrenstr. 2, Konto: Dtsch. Verein z. Fs. f. jgdl. Psychopathen oder Post- 
scheckkonto Berlin NW. 7, Nr. 493376, Konto: Dtsch. Varein f. Psychopatben- 
fürsorge (Rutb v. der Leyen). \Vohnungsbestellungen sind zu richten an das Ver- 
kehrsamt Heidelberg. Gemeinsamer Mittagstisch vorgesehen bei der Mensa academica. 
Am Dienstag, 16. Sept.: Geschlossene Mitgliederversammlung der Vereinigung für 
Jugendgerichto und Jugendgerichtshilfen nachm. 4 Uhr. Versammlungsort wird 
noch bekannt gegeben. Freitag, 19. Sept., nachm. 5 Uhr: Geschlossene Mitglieder- 
versammlung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, 
Versammlungsort wird noch bekanntgegeben. 


II. Kongreß für Heilpädagogik vom 29. Juli 
bis 1. August 1934 in München 
veranstaltet von der Gesellschaft für Heilpädagogik e. V., Arbeitsorganisation 
und Forschungsinstitution für Heilpädagogik — Kongreß für Heilpädagogik. 


Programm. 


Dieses Programm gilt für die Mitglieder der Gesellschaft für Heilpädagogik 
als Einladung. 
Zugleich seien die staatlichen und städtischen Behörden, Institute, Vereinigungen, 
Private, Tages- und Fachpresse in In- und Ausland zur Teilnahme 
am Kongresse eingeladen und herzlichst willkommen geheißen. 


Egenberger, Isserlin, Lesch. 


Tagungsplan. 
(Etwa notwendig werdende Änderungen bleiben vorbehalten.) 


1. Kongreßtag. 
Dienstag, den 29. Juli 1924, vormittags 8 Uhr 15 Min. 


Eröffnung des Kongresses. — Begrüßung durch Behörden. 


M. Isserlin-München: Fragen der heilpädagogischen Ausbildung. (30 Min.) 

A. Fuchs-Berlin: Äußere und innere Organisation des Sonderschulwesens. (40 Min.) 
L Kaup-München: Verbreitung körperlicher und geistiger Gebrechen im Volk und 
die daraus für Volkswirtschaft und Staat erwachsenden Lasten. (30 Min.) 

E. Kurz-München: Heilpädagogische Ausbildung der Theologen. (20 Min.) 

Hanselmann-Zürich: Das Heilpädagogische Seminar Zürich — organisatorische 
und sachliche Grundlagen. (20 Min.) 

M. Eltes-Ellenbach-Budapest: Heilpädagogik, heilpädagogische Gesellschaft und 
die dreijährige obligatorische Fachbildung in Ungarn. (20 Min.) 


Nachmittags 3 Uhr 15 Min. 
R. Marschas- Reichenbach: Die bisherige Entwicklung des deutschen Hilfsschul- 
und Schwachsinnigenfürsorgewesens in der tschechoslowakischen Republik. 
(20 Min.) 
Fr. Weigl- Amberg: Die Gliederung der Anstalten für Schwachsinnige. (25 Min.) 
D. Reinfelder-Berlin: Die Eigenart der Schwerbörigenschule. (45 Min.) 


2. Kongreßtag. 
Mittwoch, den 30. Juli 1924, vormittags 8 Uhr 15 Min. 
Th. Heller- Wien: Über motorische Rückständigkeit bei Kindern. (30 Min.) 
A. Fischor- München: Hemmungen unà Abartungen des sozialen Bewußtseins. 
(40 Min.) 
23* 


342 Il. Kongreß für Heilpädagogik in München. 


J. Lindworsky-Köln: Intelligenz und Intelligenzmängel. (45 Min.) 

W. Peters-Jena: Die psychologisch-pädagogische Untersuchung der Hilfsschüler. 
(45 Min.) 

G. Bacher -Königsberg: Die heterotrope Anlage beim Hilfsschüler und ihre Bildungs- 
möglichkeit. (20 Min.) 

K. Bartsch-Leipzig: Die Bedeutung der Störungen der psychischen Funktionen 
für den Psychopathen und seine Heilerziehung. (20 Min.) 

Gräfin Kuenburg-München: Über methodische Untersuchung angeborener und er- 
worbener psychischer Defekte im Hinblick auf den Hilfsschulbogen. (10 Min.) 

G. Waukmüller-Tübingen: Die Erfassung der Schülerpersönlichkeit. (20 Min.) 


Nachmittags 3 Uhr 15 Min. 

E. Reichenbach-München: Experimentelle Untersuchungen über Aussprachefehler 
bei Zischlauten und deren Behandlung. (Mit Lichtbildern; 20 Min.) 

K. Bühler-Wien: Grundgesetze der Sprachentwicklung im Kinde. (40 Min) 

L. Entres-München: Die neuzeitlichen Bestrebungen im ersten Sprechunterrichte 
des taubetummen Kindes unter Berücksichtigung der phonetischen und psycho- 
logischen Grundlagen für die Sprachgewinnung. (30 Min.) 

W. Querll-Leipzig: Das Werden der Sprache im taubstummen Kinde. (45 Min.) 

Silberluber- Wien: Neuere Erfahrungen über Taubstummenblinde. (15 Min.) 


3. Kongreßtag. 
Donnerstag, den 31. Juli 1924, vormittags 8 Uhr 15 Min. 

O. Bumke-München: Psychische Zustände nach epidemischer Gehirnentzündung. 
(10 Min.) | 

E. Ruedin-München: Über die Rolle der Vererbung in der Heilpädagogik. (30 Min.) 

W. Spielmeyer-München: Über die anatomischen Grundlagen familiärer Geistes- 
krankheiten. (30 Min.) 

Th. Gött-München: Die Entwicklung des Kindes und die Drüsen mit innerer 
Sekretion. (20 Min.) 

E. Lazar-Wien: Über die Beziehungen des endokrinen Systems, insbesondere der 
Hypophyse zur Idıotie. (30 Min.) 

P. Ranschburg-Budapest: Neuere Forschungen zur Psychopathologie des Rechnens, 
Lesens und Schreibens. (40 Min.) 

K. Malisch- Ratibor: Wie kommen die taubstummen Schüler zum geläufigen Lesen 
und richtigen Schreiben? Ein Beitrag zur Psychologie des Lesens und Schreibens. 
(30 Min.) 

A. Tamm -Stockholm: Congenitale Wortblindheit und verwandte Störungen. (20 Min.) 


Nachmittags 3 Uhr 15 Min. 
J. Vertes-Budapest: Zur Psychologie des nervösen Kindes. (15 Min.) 
R. Gürtler-Chemnitz: Intentionalität und Schwachsinn. (20 Min.) 
W. Stern- Hamburg: Psychologischo Gutachten in Sexualprozessen. (30 Min.) 
K. Kroiß-Würzburg: Die Bedeutung der Bewegungsempfindungen und Bewegungs- 
vorstellungen für die Entwicklung der Willenshandlungen des Kindes und ihrer 
Störungen. (40 Min.) 


6 Uhr: Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Heilpädagogik e. V. 


4. Kongreßtag. 
Freitag, den 1. August 1924, vormittags 8 Uhr 15 Min. 
A. Gregor-Flehingen: Die Psychopathen in der Fürsorgeerziehung. (30 Min.) 


II. Kongreß für Heilpädagogik in München. 343 


Lückerath-Euskirchen: Die Erziehung männlicher Psychopathen in den Anstalten. 
(40 Min.) 

R. Redepenning-Göttingen: Über schwer- und unerziehbare Fürsorgezöglinge. 
(40 Min.) 

E. Voigtländer-Machern b. Leipzig: Psychologie und Charakterologie weiblicher 
Fürsorgezöglinge. (30 Min.) 

Villinger-Tübingen: Psychopathie und Epilepsie im Kindesalter. (30 Min.) 

J. Moses- Mannheim: Störungen der elementaren sozialen Anpassungsfaktoren bei 
abnormen Kindern. (30 Min.) 

Ch. Bühler- Wien: Die soziale Entwicklung in Kindheit und Jugendalter. (30 Min.) 

A. Homburger-Heidelberg: Die seelische Differenziertheit als heilpädagogische 
Frage und Aufgabe. (20 Min.) 


Nachmittags 3 Uhr 15 Min. 
Kehrein- Wien: Heilpädagogische Erziebung jugendlicher Krimineller. (30 Min.) 
Würtz-Berlin-Dahlem: Die sozial-pädagogische Bedeutung des Krüppelfürsorge- 
gesetzes vom 6. Mai 1920. (30 Min.) 
H. Schnitzer-Stettin: Die seelisch Abnormen im Reichsjugendgerichtsgesetz und 
im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. (30 Min.) 
5,30 Uhr: Schluß der Tagung. 


Mitteilungen. 

Anmeldungen zur Teilnahme am II. Kongreß für Heilpädagogik München 1924 wollen 
unter gleichzeitiger Einzahlung der Teilnehmegebühr auf das Postscheckkonto 
München 25182 der »Gesellschaft für Heilpädagogık« betätigt werden. 

Staatliche und städtische Behörden, Institute sowie Vereinigungen 
des In- und Auslandes sind zur Entsendung von Vertretern 
freundlichst eingeladen. 

Die Teilnehmergebühr beträgt 5 Goldmark. 

Richtpreis fürs Ausland: Holland 3,3 fl., Norwegen 8,5 Kr., Dänemark 7 Kr., 
Schweden 4,5 Kr , Schweiz 6 Fr., England 3 sh., Amerika 1,25 Dollar, Italien 25 Lire. 
— Für Teilnehmer aus Deutschösterreich, Tschechoslowasei und Ungarn er- 
mäßigt sich die Gebühr auf 3 Goldmark. — Deutschösterreich 50000 Kr., 
Tschechoslowakei 25 Kr. Ungarn 65000 Kr. — Einzahlungen in Auslands- 
währung sind auf das Konto »Gesellschaft für Heilpädagogik« Dresdner Bank, 
Filiale München, erbeten. 

Ausländer benötigen zum Aufenthalt in Bayern im Reisepaß den Sichtyermerk des ein- 
schlägigen deutschen Konsulates. Weitere Formalitäten und Gebühren sind erlassen. 

Teilnehmerkarte: Nach Einlauf der Teilnebmergebühr wird die bestätigende Teil- 
nehmerkarte als Kongreßausweis von der Geschäftsstelle der Gesellschaft für 
Heilpädagogik zugesandt. 

Kongreßlokal: Psychiatrische und Nervenklinik, großer Hörsaal, Eingang Nußbaum- 
straße 7, Straßenbahnlinie 12 und 17: Haltestelle Beethovenplatz, 6, 16 und 26: 
Goetheplatz. 

Vorträge: Dienstag, 29. Juli bis einschließlich Freitag, 1. August 1924. Beginn: 
Vormittags pünktlich 8.15, nachmittags pünktlich 3.15 Uhr. 

Eröffnung des Kongresses und Begrüßung durch Behörden: Dienstag, 29. Juli, vor- 
mittags 815 Uhr. 

Begrüßung durch Vereine und Einzelpersonen findet nicht statt. 

Schluß der Tagung: Freitag, 1. August, nachmittags 5.30 Uhr. 


344 II. Kongreß für Heilpädagogik in München. 


Kongreßbüro ab Dienstag, 29. Juli, vormittags 8 Uhr, Psychiatrische und Nerven- 
klinik, Nußbaumstraße 7. 

Bekauntmachungen: Psychiatrische und Nervenklinik am Schwarzen Brett und im 
Hörsaal. 

Die Vortragenden werden mit Rücksicht auf den Gesamtverlauf der Tagung gebeten, 
sich auf eine möglichst knappe Darstellung zu beschränken. Nach Ablauf der 
Redezeit wolle der Vortrag auf Grund eines Autorreferates abgeschlossen werden. 

Auch die Diskussionen (je höchstens 5 Minuten) wollen möglichst knapp ge- 
halten werden. Diskussionsmeldungen wollen schriftlich mit kurzen Inbaltsbemer- 
kungen für den Kongreßbericht dem jeweiligen Vorsitzenden zugeleitet werden. Zur 
Diskussion sind bereits vorgemerkt: Carrie-Hamburg, Dirr-Karlsruhe, Egenberger- 
München, Habersack-München, Nadoleczny-München, Ruttmann-Altdorf. Schwendner- 
München, Schubeck-München. 

Die Diskussionen erfolgen im Anschluß an die einzelnen Referategruppen vor- 
mittags und nachmittags. 

Redezeiten: Dem jeweiligen Vorsitzenden liegt ein Dauerantrag des Geschäfts- 
führers vor, die Redezeiten strengstens einzuhalten. 

Kritische Bemerkungen zum Kongreß, insbesondere auch Vorschläge für die 
folgenden Kongresse sind sehr erwünscht und schriftlich an den Geschäftsführer 
der Gesellschaft für Heilpädagogik erbeten. 

Wohnungsvermittlung: Die Geschäftsstelle der Gesellschaft für Heilpädagogik 
vermittelt durch ihre Wohnungskommission den Teilnehmern auf verbindlichen An- 
trag für die Zeit des Kongresses einfachere — mittlere — bessere Unterkunft in 
Privat oder Gasthof zur Preislage von 1,50 M. an; wegen guter Masrenquartiere 
werden Verhandlungen gepflogen. Anträge an die Geschäftsstelle erbeten; die 
voraussichtliche Dauer der Zimmerbenützung wolle hierbei angegeben werden. Die 
Geschäftsstelle sendet Wohnungskarte zu. 

Antragsteller haftet dem Vermieter gegenüber für übernommene Verpflich- 
tungen. Abmeldungen, Tauschgesuche können höchstens bis 25. Juli Berück- 
sichtigung finden. 

Auskünfte und Wohnungsnachweis am Montag, 28. Juli im Emfangsbüro, an 
den Kongreßtagen im Kongreßbüro. 

Empfangsbüro: Montag, 28. Juli, Hauptbahnhof, Empfangsraum, Saal 27. 
Plakatträger führen. 

Erster Treffpunkt am Montag, 28. Juli, abends 7'’, Uhr, im Hotel »Drei Raben«, 
Schillerstraße 6. 

Treffpunkte an den Kongreßtagen täglich mittags und abends in Hotel 
»Schwarzer Adler«, Ecke Landwehr- und Schillerstraße. — Hotel »Drei Raben«, 
Schillerstraße 6. — Gasthaus »Helgoland«, Ecke Frauuhofer- und Reichenbachstraße. 
— Gasthaus »Zirngibl«, Gärtnerplatz. — Cafe »Kaiserhof«, Schützenstraße 12. 

Besonders billige Speisegelegenheiten sind außerdem im Kongreßbüro zu er- 
fragen. 

Bücherschau: Die Buchhandlung Müller und Steinicke, München, Lindwurm- 
straße 21, wird während der Tagung im Kongreßraume Bücher aus allen einschlägigen 
wissenschaftlichen Gebieten zum Verkaufe auflegen. 

Kongreßheft: Die Zeitschrift für Kinderforschung, das Organ der Gesellschaft 
für Heilpädagogik, beabsichtigt zum Kongreß ein eigenes Heft herauszugeben. Es 
wird unter anderem Arbeiten enthalten. die zwar zum Kongreß angemeldet waren, 
aber dort infolge Zeitmangel nicht mehr mündlich zum Vortrag gelangen können, 


II. Kongreß für Heilpädagogik in München, 345 


Außerdem bringt es Leitsätze vieler auf dem Kongreß zum Vortrag kommender 
Referate und ein Verzeichnis der Mitglieder der Gesellschaft für Heilpädagogik. — 
Dieses Kongreßheft liegt im Tagungsraum zum Kaufe auf. 

Der Bericht über den I. Kongreß für Heilpädagogik in München 1922, heraus- 
gegeben von Hans Göpfert }, ist bei Julius Springer, Berlin erschienen und kann 
bei der Geschäftsstelle der Gesellschaft für Heilpädagogik bestellt werden. 

Der Bericht über den lI. Kongreß für Heilpädagogik in München 1924 er- 
scheint noch im Laufe dieses Sommers gleichfalls im Verlag von Julius Springer, 
Berlin. 

Die 2. Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Heilpädagogik, e. V. findet 
satzungsgemäß am 31. Juli 1924 (am 3. Kongreßtag) um 6 Uhr anschließend an die 
Kongreßverhandlungen im großen Hörsaal der Psychiatrischen und Nervenklinik 
statt. Alle Mitglieder sind bierzu freundlichst eingeladen. 

An alle Nichtmitglieder ergeht hiermit Einladung zum Beitritt zur Gesellschaft 
für Heilpädagogik e. V. 

Die Gesellschaft bezweckt die Förderung des Gesamtgebietes der Heilpädagogik. 
Diesem Zweck dienen der alle 2 Jahre tagende Kongreß für Heilpädagogik, ferner 
auch Sammelforschungen nach gemeinsamen Gesichtspunkten, Veröffentlichungen im 
Auftrage der Gesellschaft und sonstige Maßnahmen. 

Der Kongreß besteht außerhalb jeder Standesvereinigung, will die Interessenten 
aus den verschiedenen Berufen zusammenführen und soll jeweils über den neusten 
Stand der wissenschaftlichen Forschung und der allgemeinen Fortschritte auf dem 
Gesamtgebiete der Heilpädagogik berichten. 

Die Mitgliedschaft wird erworben durch schriftliche Anmeldung beim Geschäfts- 
führer; der einmalige Beitrag von 5 Goldmark wolle gleichzeitig auf das Postscheck- 
konto München 25182 der »Gesellschaft für Heilpädagogik«, in Auslandswährungen 
auf das Konto »Gesellschaft für Heilpädagogik«, Dresdner Bank, Filiale München, 
eingezahlt werden. 

Alle Anfragen an Erwin Lesch, stellvertretenden Geschäftsführer der Gesell- 
schaft für Heilpädagogik, Geschäftsstelle München, Schule an der Klenzestraße. 


München, den 1. Juni 1924. 


Deı Geschäftsführer der Gesellschaft für Heilpädagogik 
| I. V.: Erwin Lesch. 


Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 
Isserlin: Fragen der beilpädagogischen Ausbildung. 


Gegenstand und Umfang der Heilpädagogik, ihre Stellung zu 
anderen Disziplinen (insbesondere Psychologie, Psychopathologie, 
weitern medizinischen Fächern, Pädagogik). Heilpädagogik als an- 
gewandte Psychopathologie, diese der wissenschaftliche Boden, auf dem 
Heilpädagogik erwächst. Abgrenzung gegen ärztliche Therapie. Die 
Frage der Umwertung der medizinischen Kenntnisse in die Pädagogik. 

Heilpädagogische Ausbildung und Universität. Die Wahl der 
Fakultäten. Medizinische Fakultät als Hüterin der wissenschaftlichen 
Grundlagen. Verlangt die Umwertung ins Pädagogische die Verteilung 
auf medizinische und philosophische Fakultät? Gefahren der Teilung. 
Loslösung der pädagogischen Pathologie von ihrem wissenschaftlichen 
Boden. Andere Lösungsmöglichkeiten. Zuordnung von Nichtmedizinern 
zur medizinischen Fakultät. Zwischengebilde (beilpädagogische Fakultät). 

Übersicht über die für heilpädagogische Ausbildung in Betracht 
kommenden Personen. Eindringliche Hochschulausbildung für die 
eigentlichen Heilpädagogen. Allgemeine Vorlesungen für einen weiteren 
Kreis. Hörsaalbildung und Praxis. Ausbildung des Unterpersonals. 


E. Kurz-München: Heilpädagogische Ausbildung der Theo- 
logen. 

Auf dem gesamten Arbeitsgebiet der heilpädagogischen Praxis 
bleibt die tätige Mitarbeit der Geistlichen nach wie vor äußerst 
wünschenswert. Ein bloßes Dilettantentum wird aber in aller Heil- 
pädagogik mehr und mehr unmöglich. Also ist eigene heilpäda- 
gogische Ausbildung auch der Geistlichen notwendig. Der Referent 
schildert, wie es bisher war und zeigt die Möglichkeiten der heil- 
pädagogischen Ausbildung der Theologen für jetzt und für die Zukunft. 
M. Eltes-Ellenbach-Budapest: Heilpädagogik, heilpäda- 

gugische Gesellschaft und die dreijährige obli- 

gatorische Fachbildung in Ungarn. 

Die Heilpädagogik als Theorie ist in Ungarn seit 1802, der 
Gründung der kgl. ungarischen Taubstummenanstalt in Vacz, bekannt. 


Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 347 


Im Jahre 1862 wurde die 1. Blindenanstalt in Preßburg ins 
Leben gerufen. 

Im Jahre 1875 hat man das 1. Institut für Schwachsinnige und 
Idioten eingerichtet. 

1898 hat man die 1. Hilfsschulklasse, 1900 die 1. selbständige 
Hilfsschule eingerichtet. Dieselbe besteht als Staatseinrichtung einzig 
auf dem Kontinent, alle übrigen sind nämlich Gemeinde-, Wohlfahrts- 
oder sonstige Einrichtungen. 

Im Jabre 1900 hat man mit der vereinigten Fachbildung an- 
gehender Heilpädagogen für Taubstummen-, Blinden- und Schwach- 
sinnigenanstalten begonnen. Die Bildung dauerte 2 Jahre, im 1. hatte 
sie eine mehr theoretische, im 2. eine mehr praktische Richtung. 
1922 wurde die Fachbildung auf 3 Jahre ausgedehnt und ihr Arbeits- 
plan dementsprechend erweitert. 

Das kgl. ungarische heilpädagogische psych. Laboratorium 
wurde 1902 als solches gegründet und seine Leitung Herrn Univ.- 
Prof. Paul Ranschburg anvertraut. 

Für die Einbeziehung der Gesellschaft sorgt die im Jahre 1922 
entstandene heilpädagogische Gesellschaft. Am 14./15. Oktober 1923 
veranstaltete sie den 1. heilpädagogischen Kongreß, um zu besprechen, 
was geschehen kann und soll, um die Zahl der unglücklichen, der 
Heilpädagogik bedürftigen Blinden, Taubstummen, Geistesschwachen, 
Nervösen, moralisch Schwachen usw. zu verringern. Auf dem Kon- 
greß hielten Ärzte, Juristen, Heilpädagogen und andere Menschen- 
freunde Vorträge. Seither werden Aufklärungsvorträge in Provinz- 
städten abgehalten bei reger Teilnahme der Bevölkerung. Auch die 
Abfassung gemeinverständlicher Broschüren wurde zu diesem Zwecke 
begonnen. 

Fr. Weigl-Amberg: Die Gliederung der Anstalten für 

Schwachsinnige. 

Die Anstalten für Schwachsinnige beherbergen vielfach die ver- 
schiedensten Formen und Grade der geistig mangelhaften Jugendlichen 
und Erwachsenen. Die Vielgestaltigkeit der anvertrauten Menschen- 
kinder erschwert die Pflege- und Bildungsarbeit außerordentlich. Es 
wäre deshalb zu wünschen, daß eine Umorganisierung der bestehenden 
Anstalten in der Weise eintritt, daß einige Anstalten z. B. nur bil- 
dungsfähige Schwachsinnige aufnehmen (Ersatz der Hilfsschulen für 
das flache Land), andere die Erziehungsfähigen mit schweren geistigen 
Mängeln, wieder andere die Pfleglinge. Auch einige geschlossene 
Anstalten für Psychopathen sind unbedingt nötig. Durch wohlüber- 
legte Organisation wird die opfervolle Liebe erst voli wirksam. 


348 Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 


D. Reinfelder-Berlin: Die Eigenart der Schwerhörigen- 
schule. 

Das besondere Gepräge der Schwerhörigenschule wird bestimmt 
durch die Eigenart der schwerhörigen Schüler. Diese Eigenart be- 
steht den normalhörigen Schülern gegenüber nur in Gradunterschieden, 
die durch die nachteiligen Folgen der Schwerhörigkeit bedingt sind 
und einen diese Folgen mildernden und möglichst unwirksam machenden 
zweckmäßig eingestellten Sonderunterricht verlangen; sie ist den ge- 
hörlosen Schülern gegenüber Wesensunterschied, der gebieterisch ver- 
langt, die zwischen Schwerhörigen und Taubstummen bestehende 
große Kluft zu beachten. 

Die Schwerhörigenschule ist daber im Gegensatz zur Viersinnigen- 
schule (Taubstummenschule) eine Schule für Fünfsinnige und eine 
Parallele zur Volksschule. 

Ihre Unterrichtsweise ist die Hörsehmethode mit Anwendung von 
Tast-, Seh- und Hörhilfen. 

Ihre Ausgleichstätigkeit erfolgt durch besonders gepflegten Hör- 
unterricht (akustische Übung) zur Ausnützung und Verwertung der 
Hörreste zwecks Übermittlung möglichst viel akustischen Empfindens, 
dann durch den Sprechunterricht und die Sprecherziehung, ferner 
durch den Absehunterricht, d. i. Schulung des Gesichtssinnes zum 
Auffassen und Verstehen der Mund- und Gesichtsbilder eines 
Sprechenden und zur Erkennung des Unterschiedes zwischen Mund- 
und Schriftbild der Sprache und endlich durch Benutzung einer um- 
fangreichen J,ehrmittelsammlung (Instrumente, Apparate usw.) zur Er- 
zeugung aller möglichen akustischen Reize und deren Empfindungen. 


Th. Heller-Wien: Über motorische Rückständigkeit bei 

Kindern. 

Der Vortragende weist darauf hin, daß mangelnde Geschicklichkeit 
bei vielen Kindern auch in der Breite des Normalen vorkomme. Bis- 
weilen erstreckt sich die Ungeschicklichkeit auf einzelne Gebiete 
(Zeichnen, Turnen, Sport), bisweilen auf alle motorischen Leistungen. 
In den mildesten Formen erscheint sie als mangelnde Bewegungs- 
freude, als Unlust an Beschäftigungen, die sich sonst bei Kindern 
großer Beliebtheit erfreuen, und wird dann oft irrtümlich als »Faul- 
heit< bezeichnet und bekämpft. Der Referent beschreibt einzelne 
Fälle, bei denen die motorische Rückständigkeit so hohe Grade er- 
reicht, daß sie als motorische Idiotie bezeichnet werden könnte. In 
solchen Fällen ist durch Übung sehr wenig auszurichten. Der Vor- 
tragende gibt den Rat, hier nicht unnütz Energie und Zeit zu ver- 


Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 349 


geuden, sondern durch die Forderungen nach Mehrleistungen auf 
anderen dem Kinde zugänglichen Gebieten das Kompensationsprinzip 
zur Durchführung zu bringen. 


G. Bacher-Königsberg: Die heterotrope Anlage beim Hilfs- 
schüler und ihre Bildungsmöglichkeit. 

Zweck aller menschlichen Tätigkeit ist die Erfüllung der 
Tendenzen des inneren Seins. Diese Tendenzen führen auch mit Not- 
wendigkeit zu einer Stellungnahme dem Mitmenschen gegenüber. Eine 
solche wird nun durch die Entwicklungshöhe der egotropen und der 
heterotropen Anlage beeinflußt. Diese bestimmt somit den Wert des 
Menschen als soziales Wesen. Hierbei kann es die verschiedensten 
Variationen zwischen egoistischem und altruistischem Handeln geben. 
Als Kraftquellen dieses Handelns dienen dabei die heterotropen und 
egotropen Komplexe, die sich aus sinnlichen, gedanklichen und ge- 
fühlsmäßigen Bewußtseinsinhalten gebildet haben. Durch das Priori- 
tätsverhältnis dieser Teilinhalte wird auch die Art der Äußerung be- 
dingt. — Der Hilfsschüler ist ein asoziales Wesen, weil bei ihm die 
Bildung der egotropen und heterotropen Komplexe keine normale ist 
und ihm so die normale Kraft und Richtung des Handelns fehlt. 


Aufgabe der H.-Sch. muß es nun sein, den Bildungsprozeß so zu 
beeinflussen, daß die Äußerungswirkung der Komplexe sich der nor- 
malen angleicht. Dies ist nur zu erreichen, wenn sie noch mehr als 
bisher Erziehungsschule wird, die das Erlebnis pflegt. Die geringe 
Entwicklungsmöglichkeit des gedanklichen Teilinhaltes sowie die 
spezifische Schwäche der psychischen Energie verlangen eine um so 
größere Intensität des Erregungsmomentes zum Zwecke einer wirk- 
samen Komplexbildung. Hierbei Höhe der Intensität einer vor- 
handenen Kraftentfaltung in Einklang zu bringen, ist das Erziehungs- 
problem. Dies zu lösen ist die heutige Form der Hilfsschule mit 
ihrer stundenweisen Einwirkungsmöglichkeit nicht in der Lage. Des- 
halb ist die Umformung der H.-Sch. in eine entsprechende Gemein- 
schaftsform zu fördern. 


G.Wankmüller-Tübingen: Die Erfassung der Schüler- 
persönlichkeit. 


Die Erziehung in weitestem Sinn und Maß hat es mit einer 
werdenden Persönlichkeit zu tun. 

Aussicht auf Erfolg haben alle Erziehungs- und Bildungsmal)- 
nahmen nur, wenn die Schülerpersönlichkeit in ihrer ganzen Eigen- 
art erfaßt wird und alle Erziehung auf letztere eingestellt ist. 


350 Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 


In nicht wenigen Fällen muß psychographisch verfahren werden. 
(Eigenschaften der psychischen Elemente und ihre korrelativen Be- 
ziehungen.) Um aber die Persönlichkeit zu begreifen, müssen wir 
anders, etwa nach Art der geisteswissenschaftlichen Psychologie 
verfahren. Denn erst in der Gesamtstruktur einer Erscheinung liegt 
der Schlüssel zum tiefsten Eindringen in das Wesen eines Menschen. 

Daher hat die Erziehung für ihre praktischen Zwecke nicht nur 
die rein elementarstrukturellen Erscheinungen zu untersuchen (An- 
schauungs-, Gedächtnis-, Vorstellungs-, Denk- usw.-typen). Sie muß 
vielmehr noch die sozialpsychischen Momente berücksichtigen, 
weil sich die gesamtstrukturelle Eigenart am deutlichsten offenbart 
in der Stellung des Individuums zur Umwelt, im Verhalten und 
Handeln des Ich zum Außen. Hier sind für den Erzieber die wert- 
vollsten Aufschlüsse zu gewinnen. Je größer infolgedessen die Fähig- 
keiten der Beobachtung und des sich Hineinversetzens sind, um so 
tiefere Einblicke in eine Gesamtstruktur sind möglich. (Schulmäßiges 
Mittel hierzu ist der Schülerbogen.) 


E. Reichenbach-München: Experimentelle Untersuchungen 
über Aussprachefehler bei Zischlauten und deren Be- 
handlung. (Mit Lichtbildern.) 

Durch ein von Grützner angegebenes Färbeverfahren lassen sich 
die von der Zunge berührten Flächen des harten Gaumens bei der 
Aussprache der Zischlaute genau bestimmen. Mit diesem Verfahren 
habe ich bei normalen Fällen neben individuellen Variationen Mund- 
artunterschiede gefunden. Bei Sprachfehlern fanden sich typische 
Abweichungen, die in der überwiegenden Mehrzahl (90°%,) abhängig 
waren von Verbildungen des Gaumens und Anomalien der Zahn- 
stellung. Die Behandlung dieser häßlichen Sprachfehler namentlich 
der S-Laute, erzielt ausgezeichnete Ergebnisse, wenn Sprachärzte und 
in zabnärztlicher Orthopädie ausgebildete Zahnärzte zusammenarbeiten. 
Es ist zweckmäßig, die Behandlung im frühen Kindesalter, womöglich 
nicht nach dem 15. Lebensjahr vorzunehmen, da bei Erwachsenen 
zahnärztliche Regulierungen nicht mehr aussichtsvoll sind. 


L. Entres- München: Die neuzeitlichen Bestrebungen im 
ersten Sprechunterrichte des taubstummen Kindes 
unter Berücksichtigung der phonetischen und psycho- 
logischen Grundlagen für die Sprachgewinnung. 
Geleitet von dem Gedanken, daß „Sprache“ Ausdruck inneren 

Seelenlebens ist, fußt die heutige Sprachbildungsmethode in der Taub- 

stummenschule auf den Forschungsergebnissen der Kinder- und Sprach- 


Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 351 


psychologie, indem sie das Erleben, die bewegte, zum Aus- 
druck drängende Innenwelt des Kindes zum Ausgangs- 
punkte für das erste Sprechbedürfnis, für die Sprachgewinnung wählt. 

In diesem berechtigten Verfahren einer möglichst natürlichen 
Sprachaneignung können rein phonetische Grundsätze, die den Arti- 
kulationsunterricht seither beherrscht haben, nicht mehr allein maß- 
gebend sein, wenngleich sie auch nicht vernäcblässigt werden dürfen. 
Die Gesamtheit der Bedingungen für den Aufbau der Sprache, sowie 
die Tatsache, daß der Besitz einer gebrauchsfähigen Lautsprache von 
vitalem Interesse für den Gehörlosen ist, fordern mit Notwendigkeit 
im ersten Sprachentwicklungsunterrichte: 

Innige Verbindung von Sprachverstehen und 
eigener reger Sprechtätigkeit unter sorgfältiger 
Beachtung der phonetischen Seite der Sprache. 


P. Ranschburg-Budapest: Neuere Forschungen zur Psycho- 
pathologie des Rechnens, Lesens und Schreibens. 
Dr. Paul Ranschburg, Universitätsprofessor, Psychiater, referiert 
über die im staatlichen psychologischen Laboratorium zu Budapest in 
den letzten 5 Jahren von seinen Assistenten Dr. Szondi, Dr. Kauf- 
mann und Dr. Schnell durchgeführten Untersuchungen über die 
Pathopsychologie der Störungen des Rechnens, Lesens 
und Schreibens im Schulkindesalter. An normalen und 
Hilfsschulzöglingen wurden diese Störungen mit experimentell-psycho- 
logischen und biologischen Methoden aufs peinlichste geprüft, ihre 
verschiedenen Formen, insbesondere ihre Beziehungen zur Syphilis 
und Tuberkulose, ferner zu den Erkrankungen der innersekretorischen 
Drüsen, zu der sogenannten eidetischen Anlage, zu den einzelnen 
Auffassungstypen und geistigen Fähigkeiten geprüft. Auf diese Weise 
wurden vielfach bisber unbekannte Tatsachen aufgedeckt und der 
erfolgreichen heilpädagogischen Behebung, wie auch einer eventuellen 
medizinischen Beeinflussung dieser häufig unbeeinflußbar erscheinen- 
den Störungen die Wege geebnet. 


K. Malisch-Ratibor: Wie kommen die taubstummen 
Schüler zum geläufigen Lesen und richtigen Schreiben? 
Ein Beitrag zur Psychologie des Lesens und Schreibens. 
Einen besonderen Schreiblese- und Rechtschreibunterricht gibt 
es in der Taubstummenschule nicht. Die Schüler eignen sich hier 
die fürs geläufige Lesen und Schreiben nötigen Assoziationen inner- 
halb des ersten Sprech- und Sprachunterrichtes an Sprech- und Schrift- 
ganzen an. Es ist bekannt, daß hier die Erfolge im Lesen, besonders 


359 Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 


im Rechtschreiben die der anderen Schulen übertreffen. Den kleinen 
Taubstummen bleiben viele zwecklose, oft sogar zweckwidrige Übungen 
mit den sogenannten Elementen erspart. Sie üben sich von vorn- 
herein die fürs fließende Lesen und Schreiben unerläßlichen Auto- 
matismen ein, da gibt es keine bewußte Syntbese. Leider wird durch 
die Taubheit die für die Stiftung der Assoziationen wichtige Gleich- 
zeitigkeit der Eindrücke von Schrift und Sprache oft unmöglich, weil 
die Aufnahme von Inhalt und Form der Sprache durchs Auge nicht 
zu gleicher Zeit erfolgen kann. Bei vollsinnigen Kindern ist die 
Gleichzeitigkeit vollkommen; die Erwerbung der wahren Lese- und 
Schreibassoziationen muß ihnen noch leichter fallen, als den Tauben. 
Sie stützt sich auf die Begabung. auf der die natürliche Sprach- 
erlernung in der Mutterschule beruht. Das Kleinkind verbindet auch 
viele Hundert verschiedene optische Eindrücke mit lautsprachlichen 
Bezeichnungen. An die Stelle der natürlichen Eindrücke treten beim 
Lesen und Schreiben nur die Kunstformen unserer Lautschrift.e. Auch 
die merkt sich der Schüler und erkennt sie nach mehrmaligem Vor- 
kommen ganz sicher wieder. Bei der unbewußten Differenzierungs- 
arbeit der Schriftbilder und der Wiederholung gleicher Schriftformen 
bilden sich Teilassoziationen zwischen Sprach- und Schriftteilen, die 
allmählich zum phonetischen Lesen und Schreiben auch fremder 
Schrift und Sprache führen. So kommen wir beim Lese- und Schreib- 
unterrichte an Sprachganzen ohne Analyse und Synthese, ohne tech- 
nische Lese- und Schreibübungen zum Lesen und Schreiben auch un- 
bekannter Stoffe. Ein Schreibleseunterricht an Sprachganzen, wie er 
tatsächlich in der Taubstummenschule schon betrieben wird, würde 
nicht nur bei vollsinnigen Kindern, sondern auch bei Schwachsinnigen 
gute Erfolge zeitigen, weil er hauptsächlich auf den Reflex gestützt 
ist und von den Schülern geringere Geistesarbeit verlangt, als das 
synthetische Verfahren. Durch die Praxis ist das bereits bestätigt. 


K. Kroiß-Würzburg: Die Bedeutung der Bewegungs- 
empfindungen und Bewegungsvorstellungen für die 
Entwicklung der Willenshandlungen des Kindes 
und ihrer Störungen. 


Durch Bewegungen des Körpers entstehen Bewegungsempfindungen 
und Bewegungsvorstellungen. Sie bestehen aus Haut-, Muskel-, Sehnen- 
und Gelenkempfindungen und spielen bei der Entwicklung von Willens- 
handlungen des Kindes (beim Spielen, Gebärden, Sprechen, Singen, 
Lesen, Schreiben, Zeichnen, Turnen, Arbeiten und Denken) eine 
wichtige Rolle. 





Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 353 


Sind diese Willensbandlungen gestört, so tritt die Wichtigkeit der 
Bewegungsempfindungen und Bewegungsvorstellungen deutlicher zu- 
tage. Der Erzieher muß daher bei der Behandlung dieser Störungen 
auf sie besonders achten und entsprechende Maßnahmen treffen. 


A. Gregor-Flehingen: Die Psychopatheninder Fürsorge- 
erziehung. 

Der Vortrag ist als Einführung in die Reihe der Vorträge dieses 
Tages gedacht, die sich vorwiegend mit der Fürsorgeerziehung be- 
fassen. Der Referent weist darauf hin, daß die Fürsorgeerziehung 
unter dem Zwang, dem Verbrechertum zu steuern, aufgenommen 
wurde. Sah man zunächst in diesen Jugendlichen lediglich ihr soziales 
Schicksal, so führte der Ausbau der medizinischen Wissenschaft, zu- 
mal der Psychiatrie, dahin, die seelische Konstitution und ihre sozio- 
logische und biologische Bedingtheit genauer zu beachten. Heute 
weiß man, daß die Mehrzahl der Fürsorgezöglinge psychisch nicht 
normal ist, aber erst allmählich wird aus dieser Einsicht die Folgerung 
gezogen, welche zu tieferen Wandlungen im System und in der 
Methode der Fürsorgeerziehung führen muß. Die Änderung des 
Namens Zwangserziehung in Fürsorgeerziehung bedeutete dazu den 
ersten Schritt. Aber allenthalben haften noch alte Vorurteile an. Die 
gegenwärtige Tagung soll Errungenschaften auf dem Gebiete der Für- 
sorgeerziehung weiteren Kreisen zuführen und Aufgaben und Methoden 
diskutieren. Unter diesem Gesichtspunkte gibt Vortragender einen 
Überblick über die nächsten Probleme, welche sich der wissenschaft- 
lichen Forschung auf diesem Gebiet und der praktischen Pädagogik 
eröffnen. 


E. Voigtländer-Machern b. Leipzig: Psychologie und 

Charakterologie weiblicher Fürsorgezöglinge. 

Die geringe kriminelle Veranlagung des weiblichen Geschlechtes 
zeigt sich sowohl in dem quantitativen Rückstand weiblicher Ver- 
wahrloster gegenüber den männlichen überhaupt, sowie in dem ge- 
ringeren Anteil von kigentumsvergehen überbaupt innerhalb der Ver- 
. wahrlosung selbst. Gemäß der weiblichen Eigenart zeigen weibliche 
kriminelle Handlungen vielfach eine andere Struktur der Motivierung 
als männliche. Einen größern Raum als die kriminelle nimmt die 
sexuelle Verwahrlosung ein. Für deren Eintritt sind vorwiegend 
Charaktermängel (Oberflächlichkeit, Gefühlsstumpfheit, Nachgiebig- 
keit usw.) verantwortlich zu machen; weniger ein Überwuchern des. 
Triebes. — Die Eigenart Verwahrloster wird an Hand einiger Bei- 
spiele veranschaulicht. 


354 Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 


Villinger-Tübingen: Psychopathie und Epilepsie im Kindes- 
alter: 

Zwischen Epilepsie und Psychopathie im Kindesalter bestehen 
mannigfache Beziehungen. Die Epilepsie erzeugt eine ganze Reihe 
verschiedenartiger Formen der Psychopathie, die man kennen muß, 
um vor pädagogischen Mißgriffen und Mißerfolgen geschützt zu sein. 
Dazu gehören nicht nur die aus der Epilepsie sich entwickelnden be- 
kannten Erscheinungen der Charakterveräuderung im Sinne der Reiz- 
barkeit und ethischen Verschlechterung, suwie die psychischen Äqui- 
valente, sondern auch psychopathische Züge bei völlig larvierter Epi- 
lepsie, migräneähnlichen Zuständen u. a m. Sehr wichtig ist auch 
die Kenntnis des konstitutionellen epileptoiden Charakters in der Nach- 
kommenschaft von Epileptikern. Zwischen Epilepsie und Hysterie 
bestehen verschiedene Beziehungen und Verbindungen. 


J Moses-Mannbeim: Störungen der elementaren sozialen 
Anpassungsfaktoren bei abnormen Kindern. 


Wenn der intellektuelle Oberbau der Sozialpsyche locker gefügt 
ist, liegen die fundamentalen Träger der sozialen Anpassung sichtbar 
zutage. Beim Kinde offenbaren sich so als elementare Faktoren der 
sozialen Einfügung Instinkte und Triebe, Nachahmung und Sug- 
gestibilität. Beim schwachsinnigen Kinde, wo intellektuelle Hemmungen 
fehlen, beim psychopathischen, wo die Urtriebe alle Schranken durch- 
brechen können, tritt die Bedeutung dieser sozialpsychischen Elementar- 
grundlagen noch schärfer in Erscheinung. Aber sie erleiden Ab- 
biegungen und Abwandlungen, Störungen nach der quantitativen wie 
nach der qualitativen Seite, Veränderungen der Dynamik und des 
Verhältnisses der einzelnen Aufbaufaktoren zueinander bedingen das 
abnorme soziale Verhalten. 


H. Schnitzer-Stettin: Die seelisch Abnormen im Reichs- 
jugendgerichtsgesetz und im Reichsjugendw.ohlfahrts- 
gesetz. 


Das Neue und Bedeutungsvolle im Reichsjugendgerichtsgesetz, 
die Durchführung des Erziekungsgedankens, kommt auch den seelisch 
Abnormen in hohem Maße zugute. Für ihre Beurteilung ist der $ 3, 
welcher die Frage der geistigen und sittlichen Reife behandelt, von 
entscheidender Wichtigkeit. Schon bei den Ermittlungen soll wo- 
möglich die körperliche und geistige Eigenart des jugendlichen Rechts- 
brechers erforscht und eine ärztliche Untersuchung veraulaßt werden. — 


Leitsätze zu den Referaten des Kongresses. 355 


Im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz werden bei dem Kapitel Für- 
sorgeerziehung die seelisch Abnormen dadurch berücksichtigt, daß 
ärztliche Untersuchung und Beobachtung in einer geeigneten Anstalt 
auf die Dauer von höchstens 6 Wochen vom Vormundschaftsgericht 
angeordnet werden kann. Auch soll bei der Ausführung der Fürsorge- 
erziehung die Unterbringung unter ärztlicher Mitwirkung erfolgen. 
Bei der Zusammensetzung der Jugendämter wird es erwünscht sein, 
wenn die Vereine für Jugendwohlfahrtspflege neben bewährten Päda- 
gogen auch Psychiater, die in der Beurteilung Jugendlicher be- 
sondere Erfahrung besitzen, als Mitglieder der Jugendämter in Vor- 
schlag bringen. i 


Zeitschrift für Kinderlorschung. 29. Bd. 24 


Gesellschaft für Heilpädagogik. 


Mitgliederverzeichnis. 


Abend, August, Taubstummenlehrer, Heidelberg, Pfarrgasse 10. 

Bacher, Dr. phil. Georg, Königsberg i. Pr., Mendelsohnstr. 3. 

Bartsch, Paul, Sprachheillehrer, Berlin NO 18, Friedenstr. 9. 

Bein, Direktor der Städt. Erziehungsanstalt, Beelitz (Mark). 

Benjamin, Dr. Erich, Univ.-Prof., Kindersanatorium Zell, Post Ebenhausen bei 

ünchen. 

t Benzinger, Joseph, Hauptlehrer a. d. Hilfsschule München. 

Bernhardt, Albert, Sprachheillehrer, Berlin O 112, Boxhagenerstr. 89. 

Birk, Dr. Walter, Univ.-Prof., Vorstand der Univ.-Kinderklinik Tübingen. 

Blumberg, Dr., Reval (Estland), Systernstr. 18. 

Böhm, Karl, Hauptiehrer a, d. Hilfsschule, München, Westermühlstr. 26. 

Böhm, Wilhelm, München, Parzivalpl. 2. 

Bordes, Paul, Lehrer a. d. Hilfsschule in Durlach, Karlsruhe i. B., Bachstr. 59. 

Borger, Fritz, Lehrer, Kulmbach, Gasgasse 4. 

Brendel, Friedmar, Lehrer, Leipzig-Dösen, Gorbitzerstr. 52. 

Brettschneider, Ernst, Konrektor, Berlin N 113, Rodenbergstr. 18. 

Brill, H., Professor, Wien IV, Schleifmübhlgasse 11. 

Bund, G., Hilfsschulrektor, Iserlohn, Weststr. 9. 

Burgard, August, Fürsorger am Versorgungskrankenhaus für Hirnverletzte, 
München, Gollierstr. 80. 

Coerper, Dr., Kreiskommunalarzt, Düsseldorf. Kühlwetterstr. 16. 

Cron, Dr. Ludwig, Jugendheim Heidelberg, Mönchhofstr. 25. 

Crüger. Martin, Hilfsschullehrer, Berlin-Lichtenrode. Kaiser- Wilhelmstr. 30. 

Deeg, Leo, Hauptlehrer a. d. Hilfsschule, Würzburg, Scheffelstr. 1. 

D ees, Direktor der Kreisblindenanstalt Würzburg. 

Demmel, Elisabeth, Lehrerin a. d. Hilfsschule. München, Max Weberpl. 3. 

Deppisch, Maria, Bezirksschulrätin, München, Loristr. 4. 

Dittrich, Luzie, Sprachheillehrerin, Berlin-Britz, Rudowerstr. 90. 

Dix, Willy, Lehrer, Weißenfels a. S., Friedenstr. 22. 

Dolles, Wilhelm, Leiter des Schülerheims Ebenhausen b. München. 

Dörr, Josef, Hilfsschullehrer. Schweinfurt-Oberndorf, Schulgasse 2. 

Düring, Dr. med. Ernst von, Univ.-Prof. (Lehrauftrag für Heilpädagogik), 
Frankfurt a. Main.-Seckbach, Rotenburgerstr. 4. 

Dunker, Edit, Lehrerin, München, Fraunhoferstr. 23. 

Dycke, Leopold, Oberlehrer a. d. Hilfsschule, München, Kirchenstr. 

Egenberger, Rupert, Hauptlehrer a. d. Hilfsschule, München, Nymphenburger- 
straße 190. 

Eliasberg, Dr. med. W., Facharzt für Nerven- und Sprachleiden, Großhesselohe 
bei München, Bahnhofstr. 23 (München, Briennerstr. 55). 

Emmerig, Ernst, Oberlehrer a. d. Taubstummenanstalt. München, Häberlstr. 10. 

Engelsperger, Dr. phil. A., Besitzer und Direktor des Erziehungs- und Erholungs- 
heimes Geiselgasteig bei München. | 

Engelsperger, Hermann, Oberlehrer a. d. Hilfsschule, München, Kirchenstr. 

Erfurth, Dr. Walter, Kinderarzt, Suhl (Thüringen). 

Erne, Jakob, Hauptlehrer, Stetten, Remstal, Württemberg, Heilanstalt. 

Ettmayr, Anton, Hauptlehrer an der Hörschule, München, Jörgstr. 50. 

Faber, Dr. Hugo, pr. Arzt, Kempfeld (Kreis Bernkastel). 


Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft für Heilpädagogik. 357 


Feichtner, Josef, Direktor der Caritasanstalt Bruck im Piezgau. 

Fenk, A., Konrektor, Erfurt, Poststr. 105. 

Feßmann, Heinz, Hauptlehrer a. d. Hilfsschule, Passau, Rindermarkt 8. 

Feuchtwanger. Dr. Erich. Arzt, München, Lerchenfeldstr. 11. 

Fink, Otto, Studienrat a. d. Hilfsfortbildungsschule, München, Annastr. 14. 

Fischer, Dr. Aloys, Univ.-Prof.. München, Ismaningerstr. 102. 

Fischer, Georg, Taubstummenlehrer, Regensburg, Reichstr. 3. 

Fischl, Dr. Julius, Dozent, Prag, Vinokvady Purkynovonam 19. 

Fischer, Hedwig, Oberlehrerin an der Hilfsschule, Bremen, Steffensweg 189. 

Frenzel, Franz, Rektor, Stolp i. Pommern, Bahnstr. 1. 

Fürstenheim, Dr., Stadtmedizinalrat, Frankfurt a. M., Holzhausenstr. 16. 

Fricke, Marie, Lehrerin, Hövel b. Hamm i. W.. Borkumerstr. 29. 

Führer, Marie, Studienlehrerin a. d. Hilfsfortbildungsschule, München, Paulstr. 9. 

Geheeb, Frau Dr. Anna, Nervenärztin, König im Odenwald. 

Gerbig, Max, Rektor, Berlin-Lichterfelde, Roonstr. 11. 

Gerhard, Otto, Lehrer a. d. Hörschule, München, Zieblandstr. 20. 

Geyer, Hildegard, Lehrerin, Augsburg D. 229. 

Ginolas, Hellmuth, Sprachheillehrer, Berlin-Niederschönhausen, Bismarckplatz 4. 

Girolstein, Erich, Lehrer a. d. Hilfsschule. Wetzlar, Wühlgraben 32. 

Görtz, Gertrud. cand. psych., Tübingen, Neckarhalde 2. Hospiz. 

Göpfert, Friedrich, Hauptlehrer. Schondra Ufr. 

tGöpfert, Hans, Lehrer am Versorgungskrankenhaus für Hirnverletzte, München. 

Gött, Dr. Theodor, Univ.-Prof., München, Schellingstr. 3. 

Göttler, Dr. Josef, Univ.-Prof., München, Adelbertstr. 94. 

Gregor, Prof. Dr. Adalbert, Erziehungsanstalt Flehingen i. B. 

Groß, A., Lehrer a. d. Hilfsschule, Erlangen. 

Großmann, Hilde. Mellentin (Kreis Soldin). 

Gruhle, Dr., Univ.-Prof., Heidelberg. Psychiatt. Klinik, Voßstr. 4, 

Gudden, Dr. Hans, Univ.-Prof., München, Widenmayerstr. 48. 

Gürtler, Reinhold, Oberlehrer, Chemnitz-Altendorf, Spichernstr. 74. 

Haag, Josef, Lehrer, Altomünster bei Dachau, Oberbayern. 

Habricht, Luise, München. 

Hanselmann, Dr., Priv.-Dozent für Heilpädagogik, Leiter des Heilpädagog. Seminars 
a. d. Universität, Zürich-Höngg. 

Hasselberg, Olga, Hilfsschullehrerin, Waldenberg i. Schlesien, Barbarastr. 10. 

Hecker, Hermann, Oberlehrer, Pforzbeim, Lindenstr. 73. 

Heller, Dr. Theodor. Anstaltsdirektor, Wien-Grinzing X1X, Langaokergasse 12. 

Henze, Stadtschulrat, Frankfurt a. M., Gartenstr. 2. 

Heuler, Direktor der Krüppelanstalt König Ludwigshaus, Würzburg. 

Heyse, Dr., Irrenanstaltsdirektor, Bernburg. 

Hinder, Rudolf, Inspektor der bürgerl. Armenpflege der Stadt Zürich, Selnau- 
straße 17. 

Hoch, W., Direktor der Kreistaubstummenanstalt, Augsburg. 

Hofmann, Wilhelm, Lehrer, Eybach b. Geislingen a. Steig (Wrttbg.). 

Hoffmann, Alfred, Oberlehrer und Leiter der Hilfsschule, Meißen. 

Hölzl, Konrad, Oberlehrer a. d. Hilfsschule. München, Kirchenstr. 

Hörner, F., Hauptlehrer a. d. Hilfsschule, Nürnberg, Lichtenhufstr. 2. 

AOPEN Ti nun, Direktor der Landestaubstummenanstalt, München, Goethe- 
straße 70. 

Homburger, Dr. med. August, Univ.-Prof., Heidelberg, Werderpl. 4. 

Hurnaus, Franz, Hauptlehrer, München, Schulstr. 5, I. 

Imhoff, Dr. Albert, Oberarzt, Haar i. Obb. 

Jäh, Walther, Inhaber der Firma Carl Marholds Verlagsbuchhandlung, Halle a. S., 
Mühlweg 26. 

Jochum, Otto, Lehrer a. d. Hilfsschule, Augsburg, Georgenstr. F. 47. 

John, Dr. med. Karl, Oberarzt am Sanatorium Dr. Kahlbaum, Görlitz i. Schlesien, 
Schillerstr. 14. 

Isemann, Dr. med. Kurt, Anstaltsleiter, Nordhausen a. Harz. Jugendsanatorium. 


24* 


358 Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft für Heilpädagogik. 


Isserlin. Dr. Max, Univ.-Prof., Chef der Hirnverletztenabteilung des Schwabinger 
Krankenhauses, München, Mariannenpl. 2. 

Kahlbaum, Dr., Sanitätsrat, Görlitz. 

Kalkhorst, Chefredakteur des Erie-Tagblattes, Erie (Pa.). 

Kahn, Dr. Eugen, Oberarzt, München, Psychiatrische Klinik. Nußbaumstraße. 

Kast, H., Rektor, Hüfingen. Knabenheim Mariahof (Baden). 

Kerschensteiner, Dr. Hermann, Univ.-Professor, Direktor des Schwabinger 
Krankenhauses, München, Kölnerpl. 1. 

Kessler, Hanns, Lehrer, Speyer, Allerheiligenstr. 17. 

Kestenholz, Heinrich, Präsident der Baseler Webstube, Basel, Sennheimerstr. 15. 

Kiefer, Dr. O., Inspektor der Heil- und Pflegeanstalt, Stettin i. Remstal (Wittbg.). 

Kirmsse, Max, Anstaltslehrer und Schriftsteller, Idstein i. T., Obergasse 16. 

Klar, Josef, Städtischer Lehrer der Hilfsschule, Breslau VII, Herderstr. 8. 

Klatt, Lotte, Lehrerin, München, Mariatheresiastr. 17. 

Klugert, Paul, Sprachheillehrer, Berlin N. 113, Bornholmerstr. 1. 

Knautke, Fritz, Direktor, Leipzig-Dösen, Post Leipzig-Probstheida. 

Knippen, Dr. med. Marie, München, Emil Riedelstr. 2. 

Kobl, Josef, Lehrer an der Hilfsschule, Kempten im Algäu, G. 28. 

Koch, Hildegard, Lehrerin an der Hilfsschule, Augsburg, Alexanderstr. 25. 

Koller, Jost, Lehrer am V. Wiener Waisenhaus, Klosterneuburg, Martinstr. 56. 

Koselowsky, Bruno, Mittelschullehrer, Danzig-Langfuhr, Kronprinzenweg 24. 

Kroiss, Karl, Direktor der Kreistaubstummenanstalt Würzburg, Sieboldstr. 25. 

Krudewig, Leopold, Hilfsschullehrer, Emmerich, Hindenburgwall 43. 

Krumsick, H.. Magistratsschulrat, Hannover, Stolzestr. 27. 

Kubierschky, Dr. med. Heinz, Erlangen, Pharmaz. Institut. 

Kubitz, Hermann, Chemnitz-Altdorf. 

Kullmann, Jakob, Hauptlehrer an der Hilfsschule, Frankenthal (Pfalz), Stern- 
gasse 18. 

Kuenburg, Dr. Gräfin von, Psychologin, München, Gieselastr. 26. 

Kuhn, Franz, Schulleiter, Posen, Wielkie Garbary 25 (Szola spezjalna). 

Laubender, Dr., Müuchen, Krankenhaus Schwabing. 

Ledermann, Anton Georg, Oberlehrer an der Hilfsschule, München, Wörthstr. 17. 

Lehr, Franz Xaver, Oberlehrer a.d. Hilfsschule, München, Corneliusstr. 8. 

Leibrecht, Emilie, Lehrerin a. d. Hilfsschule, Ludwigshafen, Gartenstr. 10. 

Leicht, Hans, Lehrer a. d. Hilfsschule, München, Hobenzollernstr. 33. 

Leinhos, Direktor, Jena, Sophienhöhe. 

Leppin, L., Kolberg (Pommern), Kaıserplatz 20. 

Lerner, Maria, Lehrerin a. d. Hilfsschule, Bamberg, Domstr. 9. 

Lesch, Erwin, Lehrer a. d. Hilfsschule, München, Zehentbauernstr. 20. 

Lesch, Philipp, Oberlehrer a. d. Hilfsschule, München, Kapuzinerstr. 33. 

Levin, Dr. Ernst, Nervenarzt, München, Tengstr. 27. 

Leyen, Ruth von der, Berlin W. 15, Bayerischestr. 9. 

Lindenau, Gustav, Sprachheillehrer, Berlin N 37, Prenzlauer Allee 21. 

Lindworsky, Dr. Johannes, Univ.-Prof., Köln, Albertusstr. 36. 

Löwenthal, Dr. S., Braunschweig, Löwenwall 23 am Windmühlenberg. 

Lüdecke, Dr. Bernhard, prakt. Volkswirt und Generalsekretär a. D., Frankfurt 
a. Main NO, Thünenstr. 19. 

Luible, Dr. A., Direktor der J. E. Wagnerschen Wohltätigkeitsanstalten, Dillingen a. D. 

Mainzer, Dr. Julius, Sanitätsrat, Nervenarzt und Stadtschuloberarzt, Nürnberg, 
Luitpoldstr. 17. 

Mann, Dr. Oskar, Lehrer, München, Ohlmüllerstr. 5. 

Mark, K., Leiter der Webstube des Landheimes Bergli, Zug (Schweiz). 

Mark, Mathilde, Basel, Mittlere Str. 80. 

Martin, Franz, Direktor, Nürnberg, Außere Bucherstr. 3. 

Marum, Dr. Olga, München, Arcisstr. 12. 

Maurer, Josef, Hilfsschulkatechet, München, Jahnstr. 24, 

Mehrlich, Meta, Taubstummenlehrerin, Würzburg, Sieboldstr. 25. 

Meyer, Emma, Schulleiterin a. d. Hilfsschule, Bremen, Steffensweg 189. 

Mohr, Karl, Lehrer a. d. Hilfsschule, Zweibrücken (Pfalz), Poststr. 19. 





Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft für Heilpädagogik. 359 


a Dr. Julius, Fürsorgearzt, Dozent a.d. Handelshochschule, Mannheim, 

einstr. 1. 

Müller, Conrad, Hilfsschullehrer, Magdeburg, Friedenstr. 45. 

Mützel, Luise, Leiterin des städt. Schulkinderheims, Nürnberg, Großweiden- 
mühlstr. 49. 

Nadoleczny, Dr. Max, Univ.-Prof., München, Akademiestr. 19. 

Nauz, Richard, Hauptlehrer a. d. Hilfsschule, Stuttgart-Ostheim, Abelsbergstr. 52. 

Neubauer, Alfred, Rektor der Sprachheilschule, Berlin N 113, Bornholmerstr. 80. 

Neubert, Thilde, Lehrerin, Fürth bei Nürnberg, Maistr. 2. 

Ochsenius, Dr., Kinderarzt, Chemnitz i. Sa. 

Oesterreicher, Dr. med., München, Frauenlobstr. 28. 

Offenberg, Dr. Maria, Direktorin der Wohlfabrtsschule, Aachen: Seilgraben 36. 

Panconcelli- Calcia, Dr. Univ.-Prof. am Phonet. Laboratorium, Hamburg 36, 
Jungiusstr. 7. 

Pappenheim, Dr. M., Privatdozent, Wien VIIT, Lederergasse 22. 

Peisker, Ernst, Sprachlehrer, Berlin N 65, Seestr. 115. 

Peter, Eugen, Oberlehrer a. d. Hilfsschule, München, Forstenriederstr. 3. 

Peters, Dr. W., Univ.-Prof. a.d. Psychologischen Anstalt der Universität Jena, 
Fürstengraben 6. 

Pfeiffer, Elisabeth, Lehrerin a. d. Hilfsschule, Ludwigshafen a. Rhein, 
Gartenstr. 9. 

Pleithner, Paula, Anstaltslehrerin, Heilanstalt Haar bei München. 

Pongratz, A., Lehrer a. d. Hilfsschule, München-Obermenzing, Keltenstr. 2. 

Proelss, Fr., Altenburg (Sachsen Anhalt), Moltkestr. 2. 

Pschorn, Karl, Hauptlehrer a. d. Hilfsschule, München, Kirchenstr. 

Puderbach, W., Taubstummenlehrer, Neuwied, Elisabethstr. 16. 

Querll, Walter, Taubstummenlehrer, Leipzig, Karl Sigismundstr. 2. 

Reich, Dr. F., Direktor der Taubstummenanstalt, Berlin- Weißensee, Parkstr. 22. 

Reichenbach, Dr. Erwin, Assistent a. d. Universitätszahnklinik München, 
Agnesstr. 20. 

Reinfelder, Dionys, Rektor, Berlin NW 21, Wiclefstr. 7. 

Reinke, Emil, Sprachheillehrer, Berlin-Friedrichshagen, Scharnweberstr. 36. 

Richter, Kurt, Besitzer und Leiter des Pädagogiums, Glauchau (Chemnitz). 

Riha, O., Konsultant der Berufsberatungszentrale, Prag XII, Vavrona 32. 

Rössl, Ern st, Direktor der Landestaubstummenanstalt, Graz (Östr.), Rosenberggürtel. 

Rötzer, Franz, Direktor der Kreistaubstummenanstalt, Regensburg, Landshuterstr.17. 

Ruttmann, W. J., Studienprofessor, Altdorf bei Nürnberg. 

Rupprecht, Elisabeth, Schulschwester, Nürnberg, Mittlere Pirkheimerstr. 23 

Ruschel, P. Nikolaus, Präfekt S. O. D., St. Wendel (Saar). 

Salffner, Georg, Studienprofessor, Nürnberg, Pillenreutherstr. 49. 

Schäfer, Heinrich, Direktor des Jugendamtes, München, Rathaus. 

Scheuer, Adam, Lehrer, Gießen, Rruchstr. 8 

Scheurer, A; Lehrer, Gießen, Ludwigstr. 37. 

Schiele, M., Taubstummenlehrerin, München. Äußere Wienerstr. 46, 

Schmer, Wilhelm, Direktor der Kreistanbstummenanstalt, Straubing. 

Schmid, Alfons. Lehrer, Regensburg, Holzländestr. 6. 

Schmidt, Dr. Albert, München, Schwabinger Krankenhaus, 

Schmitt, Otto, Direktor der Kreistaubstummenanstalt, Nürnberg, Peyerstr. 50. 

Schneider, Ernst, Hilfsschullehrer, Weißenfels, Judenstr. 6 

Schönfeld, Dr. Ludwig, Nervenarzt, Riga, Elisabethstr. 63. 

Schoof. Emil, Lehrer, Ludwigshafen a. Rh., Mosestr. 16. 

Schröder, Richard, Hilfsschullehrer, Berlin NO 78 Kniprodestr. 16. 

Schubeck, Alois, Hauptlehrer a. d. Hörschule, München, Frühlingstr. 23. 

Schüle, Georg, Hauptlehrer a. d. Hilfsschule, Ansbach, Welserstr. 1. 

Schulte-Pelkum, Hermann, Pfarrer, Direktor des Franz-Salshauses, Essen, 
Ruhr, Steelerstr. 263. 

Schultes, Elsa, Hauptlehrerin, Mitglied des Stadtrates, München, Nymphen- 
burgerstr. 201. 

Schüssler, Dr. A., Stadtmedizınalrat, Schweinfurt a. M., Wilhelmstr. 1. 


360 Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft für Heilpädagogik. 


Schultz-Bascho, Dr. med. Paula. Spezialärztin für Säuglings- und Kinderkrank- 
heiten, Bern, Moserstr. 2. 

Schultze, Maria Sigmund, Görlitz, Jugendamt. 

Schultze, Dr. Otto, Prof., Königsberg i. Pr., Lortzingstr. 6. 

Schustetter, J., Uttlau bei Griesbach a. d. Rott. 

Schwaab, Adelgunde, Hauptlehrerin, München, Sternstr. 2. 

Schwarz, Dr., Kurt. München, Hubertusstr. 11. 

Schwartz, Dr., Oberarzt, Landesheilanstalt Alt- Scherbitz bei Schkeuditz (Prov. 
Sachsen). 

Schwendner, J. M., Oberlehrer a. d. Hilfsschule, München, Klugstr. 122. 

Sedlmeier, Josef. Oberlehrer a. d. Hilfsschule, München, Schweigerstr. 6. 

Serg, Helene, Lehrerin, Singenrain bei Brückenau. 

Selt« r, Dr. med., Professor, Solingen. 

Staubesand, Max, Heilpädagoge, Berlin C. 19, Kölnischer Fischmarkt 3. 

Stockmayer, Oberlehrer an der Heilanstalt, Stetten in Remstal (Wttbg.). 

Stöttner, Mathilde, Lehrerin, Pankofen bei Plattling (Ndb.). 

Straub, Dr.. Schleswig, Stadtfeld 28. 

Streitberger, Max, Lehrer a. d. Hilfsschule, Ansbach, Maximilianstr. 31. 

Tesarz, Anton, Hilfsschullehrer, Brünn i. Mähren, Getreidemarkt 11. 

Thain, Oskar, Lehrer a. d. Hilfsschule, Schweinfurt, Kirchgasse 10. 

Többen, Dr. Professor, Nervenarzt, Münster i. Westf., Friedrichstr. 3. 

Tramer, Dr. med. M.. Zürich VIII, Südstr. 150. 

Tscharnke, Agnes, Sprachheillehrerin, Berlin O 34, Frankfurter Allee 23. 

Teutsch-Groth, Frau Maria Agnes, München, Kaulbachstr. 62. 

Uffenheimer, Dr. med. A., Univ.-Prof., München, Akademiestr. 11. 

Ungru, Auguste, Hilfsschullehrerin, Recklinghausen-Süd i. Westf. 

Valentiner, Dr. Th., Studienrat, Leiter des Instituts für Jugendkunde, Bremen, 
Hornergasse 12. 

Viergutz, Otto, Sprachheillehrer, Berlin-Pankow, Kreuzstr. 17. 

Villinger, Dr. med. Werner, Assistent a. d. Universitätsnervenklinik, Tübingen. 

Vogl, Hans, Oberlehrer, Erl in Tirol. 

Voigtländer, Dr. phil. Else, Leipzig-Dösen, Görlitzerstr. 5. 

Vonficht, Dr. Rudolf, Psychologe, München, Reitmorstr. 14. 

Wankmüller, Gotthold, Rektor der Hilfsschule, Tübingen, Herrenbergerstr. 70. 

Weber, Dr. J., Münster i. Westfalen, Achtermannstr. 7. 

Weigl, Franz. Stadtschulrat, Amberg (Obpf.). 

Weinmann, Dr. Kurt, Facharzt für Nerven- und Gemütsleiden, München, 
Leopoldstr. 5 I. 

Weiskopf, Hormann, Direktor des Heilerziehungsheimes Sonnenblick, Fürth- 
Zirndorf. 

Widmer, Dr. med. Robert, Luzern, Pilatusstr. 56. 

Wilke, Fritz, Lehrer, Neunkirchen a. Saar, Karlstr. 

Winkler, Oskar, Hilfsschullehrer, Waldenburg i. Schl., Hermannstr. 66. 

Wünsch, Karl, Lehrer, Augsburg, Mauerberg C. 118, 

Zang, Alfred, Hauptlehrer a. d. Hilfsschule, Nürnberg, Gibitzenhofstr. 25. 

Zurke, Thomas, Lehrer, Lischnitz i. Oberschlesien. 

Zweigenthal, Hermann, Wien I, Sterngasse 11. 


Aachen, Provinzialtaubstummenanstalt, An der Schanze ] (Direktor Schennetten). 

Altwalde bei Wehlau (Königsberg i. Pr.), Fürsorgeerziehungsanstalt. 

Andechs in Oberbayern, St. Nikolaus-Anstalt (Vorstand P. Odilo Schwarzmaier 
O. 8. B.). 

Berlin, Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, W 9, Linkstr. 22. 

Breslau, Hilfsschulverein, Herderstr. 13 (Hilfsschullehrer Artur Frömter). 

Dillingen a. Donau. Taubstummenanstalt. 

Dresden, Sächsisches Ministerium des Innern, Seestr. 18. 

Eisenach, Stadtdirektion, Hauptamt. 

Flehingen i. Baden, Erziehungsanstalt (Professor A. Gregor). 


Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft für Heilpädagogik. 361 


Hamburg, Oberschulbehörde, Dammthorstr. 25. 

Hannover, Deutscher Hilfsschulverband, Trammplatz (Senator Grote). 

Insterburg, Magistrat der Stadt (Gesundheitsamt). 

Karlsruhe, Badısches Ministerium der Justiz. 

Kaiserslautern, Stadtschulamt (Stadtschulrat Klein). 

Kiel, Provinzialverwaltung der Provinz Schleswig-Holstein. 

Leipzig, Deutsches Museum für Taubstummenbildung. 

Leipzig, Zweigverein L. vom Bunde für Taubstummeubildung, Oststr. 22. 

Lübeck, Jugendamt (Heilanstalt Streknitz). 

Mannheim, Institut für Pädagogik und Psychologie an der Handelshochschule. 

München, Akademische Gruppe für Jugendarbeit, Holbeinstr. 1. 

— Bayrischer Hilfsschulverband, Nymphenburgerstr. 190. 

— Jugendamt, Rathaus. 

— Landesblındenanstalt, Ludwigstr. 15 (Direktor Anton Schaidler). 

— Landeshauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene. 

— Landestaubstummenanstalt (Direktor Anton Hofbauer). 

— Staatsministerium des Innern. 

— Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Ministerialrat Lex). 

— Stadtrat. Stadtschulbehörde (Oberstadtschulrat Baier, Stadtschulrat Hirth). 

Prag, Pädagogisches Institut Komensky. , 

Reichenbach, Oberpfalz, Wohltätigkeits- und Pflegeanstalt der Barmherzigen 
Brüder (Vorstand Drexel). 

Reichenberg, Verband deutscher Hilfsschulen in der tschech. slovakischen Republik 
(Marschas), (Böbmen). 

Saalfeld a. Saale, Stadtverwaltung (Ortsschulvorstand). 

Saarbrücken, Städtische Hilfsschule. 

Solingen, Stadt. 

Straubing, Hilfsschule. 

Strecknitz b. Lübeck, Heilanstalt. 

Tübingen, Hilfsschule. 

Ursberg, St. Josephs-Kongregation, Anstalt für Schwachsinnige. 

Wittenberg, Magistrat der Stadt. 

Zwickau, Rat der Stadt. 


Druck von Hermann Reyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 





BEGRÜNDET VONJ.TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN !. B, TH. HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN, 
F. WEIGL-AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON u 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN BERLIN BERLIN 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 


NEUNUNDZWANZIGSTER BAND, HEFT 5 
(AUSGEGEBEN AM 13. SEPTEMBER 1924) 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 


II Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Band, 5. Heft. 


Die Zeitschrift für Kinderforschung 


erscheint in zwanglosen, einzeln berechneten Heften, die zu Bänden von etwa 50 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 





Manuskripte werden erbeten an: 


N Professor Dr. M. Isserlin, München, Krankenhaus Schwabing 
oder 
Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, Bayerische Str. 9. 
Redaktionelle Anfragen sind zu richten 
für den Originalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9, 
für den Referatenteilan Dr.R. Hirschfeld, Berlin W 9, Linkstr. 23/24. 


Die Verfasser erhalten von jeder Arbeit 50 Sonderdrucke unentgeltlich, weitere 
gegen Berechnung. 


Mit Rücksicht auf die außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung gestellten Anzahl zu begnügen, und falls mehr 
Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom Verlage zu erfragen, 
um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 


29. Band. - Inhaltsverzeichnis. 5. Heft. 

Originalienteil. Seite 
Isserlin, Max. Fragen der heilpädagogischen Ausbildung . . . . : 222 .. 363 
Leyen, Ruth v. der. Fünf Fälle von „Verwahrlosung” . .... 2 222.0. 376 
Gregor, A. Probleme und Aufgaben in der Fürsorgeerziehung : . ...... 404 
Brednow, W. Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern ...... 416 
Francke. Neue Bestimmungen auf dem Gebiete des Jugendstrafrechtes . . . . 443 
Raatz. Prinzipien in der Schwachsinnigenerziehung der Hilfsschule . . ... . 454 
T AARTE EDT atea A a a . 40 N ee E eat ea Er 460 
REITER BRIEF E E 460 
TEUER -ank ea A a ar e EEE RE A A 463 
LETALI STE A l 4 e r E E E E E E E ee E 465 
DBERSCRWDUIE spaar a ea a aaa e a a E A 466 
V ELPA A GADEA A nek P E E E E E E E E TE E 467 





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VERLAG VON JULIUS SPRINGER IN BERLIN w9 

















Soeben erschien: 


G. Jochmann’s Lehrbuch der Infektionskrankheiten 


Für Ärzte und Studierende. Zweite Auflage, unter Mitwirkung 
von Dr. B. Nocht, o. ö. Professor, Direktor des Instituts für Schiffs- und 
Tropenkrankheiten zu Hamburg, und Dr. E. Paschen, Professor, Ober- 
impfarzt, Direktor der Staatsimpfanstalt zu Hamburg, neu bearbeitet von 
.Dr. C. Hegler, a. o. Professor der Universität, stellvertr. Direktor des 
Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-St. Georg. 1088 Seiten mit 464 zum 
großen Teil farbigen Abbildungen. 54 Goldmark; gebunden 57 Goldmark 

12.90 Goldmark; gebunden 13.60 Dollar 











Fragen der heilpädagogischen Ausbildung.) 
Von 
Prof. Dr. Isserlin, München. 


Fragen der heilpädagogischen Ausbildung bedeuten den Mittel- 
punkt der Lebensmöglichkeiten und Lebensnotwendigkeiten 
der gesamten Heilerziehung. Diesem Umstande habe ich es 
wohl zu verdanken, daß ich die Aufforderung zu dem heutigen Re- 
ferat erhalten habe, nachdem bereits auf dem verflossenen ersten 
Kongreß in ausgezeichneter Weise über diesen Gegenstand verhandelt 
worden ist. 

Allein es sind inzwischen zwei Jahre vergangen. Notwendig- 
keiten sind hervorgetreten, die manche noch so berechtigte Wünsche 
einschränken müssen, andererseits hat es auch Ansätze zur Verwirk- 
lichung unserer Ziele gegeben, welche einige verwertbare Erfahrungen 
brachten. So ist es wohl erlaubt, den Gesamtkomplex von Problemen 
kurz zu entwickeln. ý 

Die erste Frage, die an uns herantritt, lautet: Worin sollen wir 
ausbilden? Die Antwort ist einfach: In der Heilpädagogik und 
zwar in einem einheitlichen Rahmen. Dies führt sogleich zu der 
Frage nach dem Umfang der Heilpädagogik. 

In meinem Referat auf dem ersten Kongreß?) habe ich betont, 
daß wir die Pädagogik der Sinnesdefekten (Taubstummen, Blin- 
den) nicht abseits stehen lassen dürfen. Heute möchte ich das gleiche 
für Fragen der heilpädagogischen Ausbildung hervorheben. Damit 
ist natürlich nicht gesagt, daß eine zu große Uniformierung in 
der Ausbildung der einzelnen Pädagogengruppen erwünscht oder gar 
geboten sei. Es bedarf ja keiner näheren Erörterung, daß die be- 
sondere Ausbildung eines Taubstummenlehrers eine andere sein muß, 
als die eines Hilfsschullehrers. Gleichwohl sind grundlegende Not- 
wendigkeiten für beide gemeinsam gegeben; und es bedeutet eine 
Kraft- und Zeitvergeudung, wenn z. B. Psychopathologie — für andere 
Fächer gilt Gleiches — einmal in einem Kurs für Taubstummen- 
lehrer, dann wieder für Hilfsschullehrer gesondert gelehrt werden 


1) Vortrag gehalten auf dem 2. Kongreß für Heilpädagogik — München. 
») Vgl. Bd. 28 der Zeitschrift, Heft 1, S. 4ff. 
Zeitschrift tür Kinderlorschung. 29. Bd. 25 


364 Isserlin: 


muß. Das schließt nicht aus, daß auch in diesem eben genannten 
Fache für eine besondere weitere Ausbildung für besondere Gruppen 
gesorgt werden kann. 

Mit dieser Vorsicht bezüglich der Gewährleistung praktischer 
Gestaltungsmöglichkeiten fassen wir den Umfang des Begriffes 
der Heilpädagogik weit und suchen in diesem Rahmen auch die 
Grundlage für die Erörterung von Fragen der Ausbilduug festzuhalten. 

Stellen wir uns auf diesen so umrissenen Boden. so tritt uns 
sogleich die Aufgabe entgegen, einige Aufmerksamkeit den Gebieten 
zu widmen, mit welchen die Heilpädagogik Nachbarschaft zu pflegen 
hat. Da Heilpädagogik es mit seelischen Individuen und seelischen 
Erscheinungen zu tun hat, bedarf es keiner weiteren Diskussion, daß 
die normale Psychologie, und zwar eine sehr grüudliche Unter- 
weisung in dieser, in den Plan der Ausbildung zur Heilpädagogik 
gehört. Sie ist in diesem so unentbehrlich, wie die Physiologie in 
dem der körperlichen Medizin. Allein die Psychologie gehört als 
Hauptfach in die Ausbildung jedes Lehrers. Wird für alle Kate- 
gorien solcher die Hochschulbildung gewählt, so ist auch die psycho- 
logische Ausbildung der Heilpädagogen ohne weiteres gesichert. Ist 
die allgemeine Hochschulbildung der Lehrer noch nicht durchgeführt, 
und kommen die Heilpädagogen als erste Kategorie von Volksbildnern 
an die Hochschule, so ist auch für diese die Forderung einer sehr 
gründlichen Durchbildung in der normalen Psychologie durchzusetzen. 

Allein also ausschlaggebend wir auch die Beziehungen der Heil- 
pädagogik zur Psychologie ansehen müssen: Es führt kein direkter 
Weg von der normalen Psychologie zur Heilpädagogik. Dieser Weg 
führt auch nicht direkt vom experimentalpsychologischen Laboratorium 
dorthin. Bei aller Hochschätzung der neueren empirischen Psychologie 
muß doch festgestellt werden: es kann hier doch nicht anders sein, als 
etwa in der körperlichen Medizin, in welcher Physiologie, Chemie usw. 
auch nicht direkten Zugang an das Krankenbett erhalten können. 

Es darf nicht verschwiegen werden, daß in einer vorschnellen 
Anwendung experimentalpsychologischer Methoden — vor allem 
unter dem Gewande der Psychotechnik — eine ernste Gefahr für 
die Entwicklung der Heilpädagogik gegeben ist. Nicht so selten habe 
ich den Eindruck gehabt, daß man hier ein sehr ernstes Streben be- 
gabter Pädagogen in falsche Bahnen gelenkt hat. Psychologische 
Testuntersuchungen und Profile können etwas sehr Nützliches sein, 
auch für die Pathologie. Allein, es darf bei solcher Einstellung nicht 
versäumt werden, durch die äußere Erscheinung auf das Wesen der 
Gegebenheiten zu schauen. Testprüfungsresultate und Profilbilder 


Fragen der heilpädagogischen Ausbildung. 365 


können gar zu leicht durch die Genugtuung, welche sie verschaffen, 
in Zahl, Maß und Bild darstellbare Ergebnisse in der Hand zu haben, 
das Bestreben hemmen, die diesem Bilde zugrunde liegenden und es 
bedingenden wesentlichen pathologischen Tatbestände und Mechanismen 
zu erfassen. Ein Profil bringt aber an sich noch keine Aufklärung, 
ob es sich um einen fortschreitenden, krankhaften Prozeß, um einen 
dauernden Defektzustand handelt, ja öfters kann ihm kaum ent- 
nommen werden, ob es sich um isolierte oder allgemeinere Ausfalls- 
erscheinungen handle. Häufig genug habe ich den Eindruck gehabt, 
daß gute Pädagogen alten Schlages mit bloßer Beobachtung und Ein- 
fühlung mehr von dem Wesen ihrer Schüler erfaßt haben, als durch 
den Glanz der Psychotechnik geblendete jüngere Lehrer trotz allen 
unleugbaren Strebens der letzteren. Gewiß sollen experimentelle und 
auch gegebenenfalls psychotechnische Methoden für die l:eilpädagogik 
nutzbar gemacht werden. Dies kann aber nur auf dem Boden 
geschehen, auf welchem die Mechanismen abnormen seelischen 
Geschehens erforscht und die Ergebnisse dieser Forschungen 
berücksichtigt werden können, das ist allein die Psychopathologie. 
Dabei wird vorausgesetzt, daß diese alle Fortschritte der Psychologie 
in sich aufnimmt und verwertet. 

Öfters ist im Zusammenhang hierhergehöriger Erörterungen mit 
dem Schlagwort gearbeitet worden: Heilpädagogik sei an- 
gewandte Psychologie. Das ist gewiß unbestreitbar, genau so 
unbestreitbar wie, daß Psychiatrie und gar Psychotherapie angewandte 
Psychologie seien. Und doch ist der Satz sehr bestreitbar, wenn er, 
wie in diesem. Falle beabsichtigt, ausdrücken soll, daß es sich um 
einfache Anwendungen normalpsychologischer Erkenntnisse zu heil- 
pädagogischen Zwecken handle. Jeder solche Versuch muß scheitern, 
wenn er nicht die Erforschung des abgearteten seelischen Geschehens 
zur Grundlage des Handelns wählt. Den Weg zurAnwendung 
kann von der Normalpsychologie in diesem Falle immer 
nur über die Psychopathologie führen. Und wirklich ein- 
wandfrei muß der Satz heißen: Heilpädagogikistangewandte 
Psychopathologie. Diese ist der wissens>haftliche 
Boden, auf welchem die Heilpädagogik erwächst. 

Es bedarf keiner weitläufigen Erörterungen, um darzutun, daß 
Berührungen zwischen Heilpädagogik und medi- 
zinischen Fragen nicht nur innerhalb der Grenzen 
der Psychiatrie statthaben. Anatomische und physiologische 
Erkenntnisse (besonders aus dem Bereich der Lehre vom Zen- 


tralnervensystem und den Sinnesorganen), Teile aus der Öhren-, 
25* 


366 lsserlin: 


Augen-, Stimm-, Sprach- und Kinderheilkunde, der Hygiene ragen in 
den Bereich der Heilpädagogik hinein. 

Andererseits sind die sehr engen Beziehungen zur 
normalen Pädagogik unbestreitbar und unbestritten. Daß die 
Heilpädagogik eine Erziehungsdisziplin ist, daß sie somit alles 
was die normale Erziehungslehre an pädagogischen und didaktischen 
Erkenntnissen und Grundsätzen erarbeitet hat, in sich aufnehmen 
muß, ist eine selbstverständliche Voraussetzung ihres Gedeihens. Und 
so hat der Satz, welcher in den hivrhergehörigen Münchener Be- 
strebungen eine Rolle gespielt hat, daß der Arzt die Umwertung 
der medizinischen Forschungsergebnisse in die Päd- 
agogik nicht vollziehen könne, seinen guten Sinn. Aber auch der 
Normalpädagoge kann diese Umwertuung nicht vollziehen, weil er das 
nicht besitzt, was umgewertet werden soll. Es ist eben so, daß der 
Heilpädagoge von der Psychologie und Normalpäd- 
agogik her durch die Medizin zur praktischen Be- 
tätigung geführt werden muß. Auch die heilpädagogische Praxis 
gehört, wiewohl sie von Nichtärzten ausgeübt wird, in den Bereich 
medizinischer Disziplinen. 

Wenige Worte nur brauche ich der Frage der Abgrenzung 
gegen eine der Heilpädagogik nahe verwandte, rein ärztliche Dis- 
ziplin, die Psychotherapie zu widmen, da ich dieses Problem 
bereits auf den ersten Kongreß ausführlicher behandeln durfte. Den 
Psychotherapeuten suchen Kranke auf, nicht damit er sie erziehe und 
unterrichte, sondern, damit er sie von krankhaften Symptomen be- 
freie. Und so sehr diese an ihn gerichtete Forderung den Arzt dazu 
führen muß, der Gesamtpersönlichkeit sein Interesse zu widmen, sie 
zu leiten, zu beeinflussen, und auch erzieherische Wirkungen auszu- 
üben, so ist doch seine Aufgabe von der eines Lehrers wohl zu 
unterscheiden. Die Art der Ummwertung aus der Theorie in die Praxis, 
wie sie einerseits der Psychotherapie, andererseits der Heilpädagogik 
eignet, ist zu sondern wohl möglich, wenn auch die Grenze nicht 
ganz scharf verläuft und ein Zwischengebiet übrig bleibt. Daß eine 
Persönlichkeit beide Gebiete (Psychiatrie und Heilpädagogik) völlig 
beherrscht, wird sich wohl gelegentlich, doch sicher nicht sehr- häufig, 
verwirklichen. 

Eine Orientierung über Gegenstand und Grenzen des Gebietes der 
Heilpädagogik war die Voraussetzung für die Stellungnahme zu den 
einzelnen, die Ausgestaltung der Heilpädagogik betreffenden Fragen. 
Sollen wir entscheiden, an welcher Institution die Ausbildung 
in der Heilpädagogik stattfinden soll, so richtet sich ein sehr ein- 


Fragen der heilpädagogischen Ausbildung. 367 


mütiger Wunsch der Pädagogen selbst auf die Universität. Wir 
werden ihm, besonders für die Heilerziehung, nur zustimmen können- 
Der Einwand, daß die praktische Ausbildung dadurch verkümmern 
werde, ist wohl ohne Berechtigung. Ich kann hier nur Sätze, die Egen- 
berger auf dem letzten Kongreß gesprochen hat, wiederholen: »Die 
heilpädagogische Praxis kann nur in heilpädagogischen Anstalten ge- 
seben und erlernt werden. Das, was eine Hochschule nicht hat, das 
kann man von ihr nicht fordern. Man muß von der Hochschule nur 
das nehmen, was sie geben kann, und das ist Wissenschaft. Das 
wollen wir von ihr, nicht mehr und nicht weniger. Die heilpädagogische 
Erziehung und Unterrichtspraxis kann bei der Ausbildung nicht das 
erste sein, sie kann erst einsetzen, wenn die Kenptnis des kranken 
Geisteszustandes gewonnen ist.«e Die Anerkenntnis dieser Formu- 
lierungen schließt gewiß nicht den Gedanken an die Möglichkeit aus, 
im Laufe der Entwicklung auch die Anstalten, in welchen die praktische 
Ausbildung erfolgen soll, in engere Beziehungen zur Hochschule zu 
bringen. Egenberger selbst hat solches angedeutet. 

Versuchen wir eine Orientierung über die Möglichkeit heil- 
pädagogischer Ausbildung an der Universität — unter Berücksichtigung 
der heute gegebeuen Tatbestände —, so tritt uns zunächst die Frage 
nach der Wahl der Fakultät oder der Fakultäten, in welchen 
die Ausbildung zu geschehen hat, entgegen. Sichergestellt ist uns, daß 
die philosophische Fakultät eine eingehende Unterweisung in 
der normalen Psychologie und der normalen Pädagogik 
zu übernehmen hat. Diese Unterweisung wird im allgemeinen ab- 
geschlossen sein müssen, bevor das eigentliche heilpädagogische Studium 
beginnt. Unbezweifelbar ist uns ferner: Daß die medizinische Fakultät 
die Hüterin der wissenschaftlichen Grundlagen der Heilpädagogik als 
einer Pädagogik am Abnormen ist. Andererseits kann nicht über- 
sehen werden, daß Einrichtungen, welche den Fragen der Umwertung 
ins Pädagogisch-Praktische, der besonderen Pflege der Probleme heil- 
pädagogischer und -didaktischer Behandlungsmethoden dienen, bisher 
in der medizinischen Fakultät nicht vorhanden sind. In der philo- 
sophischen Fakultät sind solche Einrichtungen und Persönlichkeiten 
freilich auch nicht vorhanden, doch besteht dort wenigstens der Lehr- 
stuhl für normale Pädagogik, welcher analoge Aufgaben, soweit sie 
Fragen der Erziehung Normaler betreffen, zu lösen hat. Es tritt so- 
mit an uns die Frage heran, ob wir eine Verteilung der Einrichtungen 
für die Ausbildung in der Heilpädagogik an der Universität auf zwei 
Fakultäten: die philosophische und die medizinische, verlangen 
müssen. 


368 [sserlin: 


Erfordert die mehrfach zitierte Berufung auf die Umwertung in 
das Praktische eine solche Verteilung? Wie bekannt, sind auf dem 
vorigen Kongreß sehr ernst zu nehmende Vorschläge, welche die letzt- 
genannte Entwicklung (Professur für Heilpädagogik in der philosophi- 
schen, Lehraufträge in der medizinischen Fakultät) verlangten, ver- 
treten worden. — Egenberger freilich hat betont, daß die philo- 
sophische Fakultät keine Beobachtungsstationen für das notwendige 
Anschauungsmaterial besitze, keine Patienten innerhalb der Vorlesungen 
vorführe, und schon diese Art der praktischen Anwendung ablehne. 
Eine Art heilpädagogische Kinderklinik, die notwendig sei, sei in der 
philosophischen Fakultät nicht zu erreichen. — Vertreter entgegen- 
stehender Pläne könnten dem vielleicht entgegenhalten, daß ent- 
sprechende Organisationen wohl auch von der philosophischen Fakul- 
tät aus denkbar seien. Der Inhaber des Lehrstuhls für Heil- 
pädagogik in der philosophischen Fakultät könnte Verbindungen 
zu Hilfsschulen und analogen Lehranstalten, vielleicht auch zu nicht 
ärztlich geleiteten Erziehungsanstalten verschiedener Art herstellen, 
und so ein gewisses Demonstrationsmaterial gewinnen. Würde dieser 
Weg zu einer erstrebenswerten Lösung führen? Es erscheint not- 
wendig, nachdrücklich auf die Möglichkeit einer Gefährdung der Heil- 
pädagogik, welche aus einer derartigen Sachlage entspringen könnte, 
hinzuweisen. Eine solche Organisation könnte Unerfreulichkeiten für 
die Medizin in sich schließen, da dieser wichtige Arbeits- und Forschungs- 
gebiete verloren gehen könnten. Für die Heilpädagogik könnte sie 
aber fast eine Schicksalsfrage bedeuten. Drohend erhebt sich hier 
die Gefahr der Loslösung einer eigenen pädagogischen Pathologie von 
dem wissenschaftlichen Boden der Medizin. 

In meinem Referat auf dem vorigen Kongreß versuchte ich, diese 
Gefahr bei der Erörterung der Anschauungen L. Strümpells an- 
zudeuten. Bei aller Anerkennung der Leistung seines Werkes mußte 
auf Mängel der Grundlegung bingewiesen werden. Es kann keine eigene 
pädagogische Pathologie gesondert von der Psychopathologie geben. Wird 
die Heilpädagogik von dem Boden entfernt, auf welchem Pathologie allein 
gepflegt wird und gedeiht, so ist sie entwurzelt und muß verdorren. 

Eine solche Gefahr muß schon in der Anlage des Planes der 
Ausbildung der Heilpädagogen unbedingt ausgeschaltet werden. Es 
können nur Lösungen in Betracht kommen, welche die Trennung der 
pädagogischen Pathologie von ihrem Mutterboden der allgemeinen 
Psychopathologie ausschließen. 

Überhaupt — eine Trennung zwischen Medizin und Pädagogik 
darf in der Heilpädagogik in Ausbildungsfragen ebensowenig möglich 


Fragen der heilpädagogischen Ausbildung. 369 


sein, wie in praktischen Fragen. Es handelt sich eben um eine von 
Medizin durchsetzte Pädagogik, aus welcher dieses Lebenselement 
nicht herausgelöst werden kann, ohne daß tödliche Wirkungen eintreten. 
Weiterhin — es handelt sich bei der Ausgestaltung der heilpädagogi- 
schen Ausbildung, wie bei der Organisation der Heilpädagogik über- 
haupt, doch um Menschen, welche lehren und wirken sollen. In der 
Schwäche der menschlichen Natur ist es aber begründet, daß nicht 
immer Einigkeit herrscht, sondern auch Differenzen — vielleicht so- 
gar persönlicher Art — entstehen können. Solche kommen unter 
Medizinern vor, wohl auch unter Pädagogen — warum nicht auch 
gelegentlich zwischen Medizinern und Pädagogen? Bei solchen Un- 
glücksfällen, an welche sehr gedacht werden muß, wird die Sache am 
wenigsten Schaden leiden, wenn die Gegner gezwungen sind, sich auf 
einem gemeinsamen Boden auseinanderzusetzen. (Gegensätzlichkeiten 
werden für die Sache am gefährlichsten werden, wenn die Gegner 
von ganz verschiedenen Lagern aus gegeneinander vorgehen. Ja, 
Gegensätzlichkeiten werden sich häufig nicht zu vollster Schärfe ent- 
wickeln, wenn die in Betracht kommenden Persönlichkeiten in einer 
gemeinsamen Organisation zusammengehalten sind. So scheint mir 
eine gedeihliche Entwicklung der Heilpädagogik durchaus davon ab- 
zuhängen, daß schon bei der Ausbildung ein einheitlicher Boden ge- 
funden oder geschaffen werde, auf welchem Ärzte und Pädagogen 
gemeinsam wirken. 

Das nächstliegende ist, die medizinische Fakultät als Stätte 
der Ausbildung für Heilpädagogik zu wählen. Ist doch der Unter- 
richt nicht nur in der Psychopathologie — wenn diese auch die Haupt- 
grundlage der Heilpädagogik bildet —, sondern in einer ganzen Zahl 
anderer medizinischer Fächer für den Heilpädagogen notwendig. Allein, 
Heilpädagogik kann, wie dargetan, nicht von Ärzten allein gelehrt 
werden, und so müßte man daran denken, Nicht-Ärzte irgendwie 
an die medizinische Fakultät zu attachieren. Mir scheinen 
hier unüberwindliche prinzipielle Schwierigkeiten nicht zu bestehen. 
Nicht nur der Hinweis auf die Zabnheilkunde, die Tierheilkunde zeigt 
uns hier Möglichkeiten. Es werden auch Lehrer, Lektoren usw. 
Fakultäten beigeordnet, ohne daß sie die Bedingungen für die venia 
legendi erfüllen. Für die Zukunft freilich wird an die Heranziehung 
eines alle Forderungen erfüllenden akademischen Nachwuchses von Heil- 
pädagogen gedacht werden müssen. Auch für diese könnte die medizi- 
nische Fakultät irgend eine Form der Angliederungsmöglichkeit finden. 
Es würde ihr ein Strom von Anregungen und Forschungsmöglich- 
keiten aus der engeren Verbindung mit der Heilpädagogik zufließen. 


370 Isserlin: 


Eine zweite Form der Lösung scheint die Bildung einer heil- 
pädagogischen Fakultät zu bieten. In sie müßten Mediziner, 
Pädagogen, Psychopathologen hineingenommen werden. Die Fakultät 
bliebe gleichwohl etwas klein. Weiterhin ist fraglich, ob die jetzige 
Finanzlage eine solche Bildung gestatten würde. Die Zeitlage wird 
wohl auch so schnell nicht die Einrichtung einer erziehungs- 
wissenschaftlichen Fakultät erlauben. In einer solchen wäre 
dann die Heilpädagogik mit Medizinern und Heilpädagogen als ein 
Teil der Organisation vertreten — eine an sich gut denkbare Lösung. 

Es könnte weiterhin daran gedacht werden, daß die philosoph- 
ische Fakultät auch Mediziner in irgend einer Form — sit venia 
verbo — schlucken würde. Allein es ist fraglich, ob der Appetit der 
Philosophie ein so großer ist. Es blieben jedenfalls organisatorische 
Probleme genug übrig. 

Du wir mit den Verhältnissen der gegenwärtigen Not rechnen 
müssen, und bei all den bisher erörterten Möglichkeiten Schwierig- 
keiten hervorgetreten sind, muß doch wieder der Gedanke der Ver- 
teilung der Lehrenden auf die philosophische und medizinische Fa- 
kultät aufgegriffen werden. Für den Pädagogen ist ja die Habilitation 
in der philosophischen Fakultät immerhin heute die nächste Möglich- 
keit, und so mögen gerade in pädagogischen Kreisen viele Sympathien 
für diese Lösung bestehen. Ihre Gefahren sind deutlich hervor- 
gehoben worden. Ihnen ließe sich in gewissem Umfange dadurch 
begegnen, daß eine Zwischenorganisation geschaffen wird, 
ein Kollegium von Mitgliedern der mediziniseben und 
philosophischen Fakultät mit bestimmter Satzung und be- 
stimmten Vollmachten — also ein Ersatz für eine heilpäda- 
gogische Fakultät. Ein solcher Ersatz ist sogar auf privatem 
Wege bereits versucht worden. In der Schweiz (Zürich) hat ein 
privater Verein — nach vorliegenden Berichten nicht ohne Glück — 
es unternommen, eine entsprechende Zwischenorganisation zu schaffen; 
wir werden ja Gelegenheit auf diesem Kongreß haben, Näheres hier- 
über zu hören. Immerhin werden private Gründungen dieser Art 
nur als ein Notbehelf angesehen werden dürfen. Der Staat wird sich 
auf die Dauer den hier gegebenen Pflichten nicht entziehen können- 
Angemerkt sei auch, daß der vor einiger Zeit in Bayern sehr dankens- 
werter Weise durch 2 Semester durchgeführte Kurs zur Ausbildung 
von Hilfsschullehrern einen ersten Versuch in der Richtung der hier 
zu lösenden Aufgaben bedeutet hat. 

Welches ist nun der Personenkreis, der für die Ausbildung 
in der Heilpädagogik in Betracht kommt; wer sollheilpädagogisch 


Fragen der heilpädagogischen Ausbildung. 371 


ausgebildet werden? Hierüber ist ja auch schon auf dem 
ersten Kongreß Wichtiges, unter Beibringung zahlenmäßiger Unter- 
lagen, gesagt worden. Für die heutigen: Überlegungen ist es not- 
wendig, eine Sonderung der Kategorien der auszubildenden Persönlich- 
keiten vorzunehmen, da diese Sonderung ja Voraussetzung der Organi- 
sation der Ausbildung sein muß. 

Die wichtigste Gruppe bilden diejenigen Persönlichkeiten, 
welche bei der Erziehung der Abnormen direkt tätig 
und unentbehrlich sind, also‘ Lehrer an Hilfsschulen, 
Schwachsinnigen-, Psychopathen Anstalten, aber auch 
an Taubstummen-‚Schwerhörigen-, Blinden- und Krüppel- 
anstalten bezw. Schulen. Ferner Ärzte welche an der Heil- 
pädagogik direkt beteiligt sind. In die zweite Linie 
rücken: Ärzte, welche in der Heilpädagogik nicht 
hauptberuflich beschäftigt sind, aber mit ihr amtlich in Berührung 
treten, Seelsorger (soweit sie nicht zugleich Erzieher sind), Richter, 
Fürsorger, Berufsvormünder, Sozialbeamte überhaupt, 
höhere Polizei- und Gefängnisbeamte u. a. m. Sehr 
wichtig ist, daß auch die Lehrer an Normalschulen (der Volks- 
wie der Mittelschulen) einiges Allgemeinere über Heilpädagogik, ihre 
wissenschaftlichen Grundlagen, wie auch über ihre Praxis erfahren. 
Mancherlei Unheil könnte dadurch vermieden werden. 

Endlich ist an die Ausbildung des Unterpersonals zu denken, 
des Unterpersonals sowohl, das direkt in beilpädagogischen Anstalten 
tätig ist (Schwestern, Pfleger, Werkmeister usw.) wie auch dessen, 
das in Anstalten wirkt, welche nur mehr gelegentlich mit jugendlichem 
pathologischen Material in Berührung kommen (Polizei, Gefängnisse, 
Jugendheime verschiedener Art usw). 

In welcher Weisesoll nun die Ausbildung dieser, zum Teil recht 
verschieden gearteten, Personenkreise vor sich gehen? In dem Bericht 
über den ersten Kongreß für Heilpädagogik ist ein Referat von 
Schneerson abgedruckt, das in recht deutlicher Weise vorführt, wie 
die heilpädagogische Fakultät der Universität Kiew das schwierige 
Problem zu lösen sucht. In diesem Entwurf, der bereits in die 
Praxis übergeführt wurde, ist zwar nicht für die Ausbildung aller 
hier genannten Gruppen, aber doch für die eines großen Teiles ge- 
sorgt worden — wenigstens ist darnach gestrebt worden, eine solche 
unterrichtliche Versorgung durchzuführen. Die heilpädagogische 
Fakultät suchte eine Organisation konzentrischer Kurse zu Schaffen, 
in der Weise, daß ein jeder Kursus, ohne den Zusammenhang als 
Teil des allgemeinen Systemes der Kurse zu verlieren, zugleich ein 


372 Isserlin: 


bestimmtes praktisches Resultat erzielt. Das Programm ist daber so 
zusammengestellt, daß der Student nach Absolvierung des ersten 
Jahreskurses die Ausbildung und den Titel eines »praktischen Er- 
ziehers«, des zweiten enes »Erziehers defektiver Kinder«, des dritten 
und letzten eines »Leiters und Instrukteurs spezieller Anstalten für 
defektive Kinder« besitzt. Der Student wird sofort in die Praxis 
eingeführt. Der Weg zu den theoretischen Grundlagen werde da- 
durch von selbst angebahnt. — Diese heilpädagogische Bildungs- 
organisation ist dadurch gekennzeichnet, daß der Gesamtkreis oder 
jedenfalls der bedeutungsvollste Teil der in der Heilpädagogik tätigen 
Personen iu dieser Hochschule ausgebildet werden kann, und daß 
das System der konzentrischen Kurse es ermöglicht, daß das Studium 
jeweils auf verschiedenen Stufen der Ausbildung, von welchen gleich- 
wohl jede praktische, durch Diplomerteilung anerkannte Verwend- 
barkeit bietet, beendet werden kann. 

Die Einrichtung mag sich in russischen Verhältnissen — zumal in 
der jetzigen Zeitlage — als notwendig erwiesen und auch praktisch 
gut bewährt haben; für Deutschland scheint sie nicht nachahmens- 
und empfehlenswert. 

Schon der starken Betonung der sofortigen Einführung in die 
Praxis möchte ich mich nicht anschließen. Die deutsche Medizin, 
welcher es an praktischen Erfolgen gewiß nicht gefehlt hat, hat den 
hohen Stand, auf welchem sie sich auch heute trotz aller Not befindet, 
nur erreichen können durch die eindringliche Pflege der wissen- 
schaftlichen Grundlagen. Auch der Heilpädagoge wird kein 
Spintisierer werden, wenn man ihm eine gründliche wissenschaftliche 
Vorbildung gibt. Praxis hat er auch jetzt schon besessen. Um 
Wissenschaft zu erhalten, drängt er an die Hochschule. Dieser Wunsch 
ist berechtigt und soll erfüllt werden. Die praktische Durchbildung, 
welche ja selbstverständlich zu erfolgen hat, steht dabei nicht in 
Frage. Auch ich möchte mich der Anschauung Egenbergers an- 
schließen, daß der eigentlichen heilpädagogischen Ausbildung die 
praktische Erziebungsarbeit an normalen Kindern vorausgehen sollte. 
Bei dem jetzt noch gegebenen Zustand wird aus dem Kreise der 
praktisch tätigen Pädagogen die Auswahl für die Ausbildung in der 
Heilpädagogik zu geschehen haben. Wird, wie geplant, wirklich ein- 
mal die Hochschulbildung der Volksschullehrer allgemein durchgeführt 
sein, so wird sich ein entsprechender Ausbildungsplan für die Heil- 
pädagogen leicht aufstellen lassen. 

Ich balte somit eindringliche Hochschulbildung für die 
Heilpädagogen für angebracht, und stelle mich damit vielleicht in 


Fragen der heilpädagogischen Ausbildung. 373 


Gegensatz zu manchem ärztlichen Fachgenossen, welcher eine all- 
gemeinere Orientierung — besonders in der Psychopathologie — für ge- 
nügend hält. Weiteres führe doch nur zu einer ärztlichen Halbbildung, 
die den Heilpädagogen vielleicht sogar zu einer Art ärztlichen Pfuscher- 
tums verleiten könnte. — Allein Halbbildung wollen wir eben aus- 
schließen; der Heilpädagoge soll eine gründliche psychopathologische 
Ausbildung erhalten. Unwissenheit andererseits hat noch niemanden da- 
von abgeschreckt, in Fächer, welche er nicht beherrscht, hineinzupfuschen. 
Im Gegenteil ist eine gediegene Ausbildung, welche die Grenzen des 
eigenen Könnens zum Bewußtsein bringt, immerhin die wirksamste 
Sicherung gegen das Überschreiten dieser Grenzen. Ein hohes Niveau 
der Ausbildung der Heilpädagogen ist aber auch die Voraussetzung 
der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Erzieher. 

Wie hätte, um ein Beispiel aus langjährigen eigenen Erfahrungen 
anzufübren, mit pädagogischen Mitarbeitern ein Einverständnis über 
die Frage der Behandlung einer Aphasie, das Problem: isolierte 
Schädigung oder allgemeine Ausfallserscheinungen und vieles andere 
mehr erzielt werden können, Probleme die von größter, praktischer . 
Tragweite sind, wenn nicht die Voraussetzungen der Verständigung 
in der Ausbildung der Pädagogen gegeben gewesen wären. So aber 
hoffe ich meinerseits einiges in dieser Wechselwirkung gelernt zu 
haben. — Ich rate den Medizinern in diesen Fragen nicht ängstlich 
zu sein. Sowohl die Medizin wie der ärztliche Stand werden keine 
Nachteile von einer gründlichen Ausbildung der Heilpädagogen er- 
fahren. Sitzen die Studenten beider Gattung erst als gleichberechtigt 
auf den gleichen Bänken, so wird sich eine enge Wechselwirkung 
ergeben. Nicht so selten werden dann solche, die als Mediziner be- 
gaunen, als Heilpädagogen enden und umgekehrt Heilpädagen in die 
Medizin abwandern, und hin und wieder werden auch die Diplome 
beider Kategorien erworben werden. 

Aus dem Angeführten ergibt sich, daß ich gemeinsame Vor- 
lesungen und Kurse für die Heilpädagogen und für die an 
der Heilpädagogik besonders interessierten Mediziner für 
angemessen halte. Auch das Hospitieren in den heilpädagogischen 
Anstalten wird für die hier gemeinte letztere Kategorie von größtem 
Nutzen sein. 

Für den früher umschriebenen größeren Kreis von in der 
Heilpädagogik zu orientierenden Akademikern sind allgemeine Vor- 
lesungen einzurichten. Hier kommtin der Tat nur eine allgemeinere 
Aufklärung in Betracht. Aber auch die Unterweisung dieses Kreises 


374 Isseriin: 


sollte nicht nur dem Arzt, sondern auch dem Pädagogen in Vor- 
lesungen und Kursen übertragen werden. 

Für das Unterpersonal kommt natürlich die Universität als 
solche als Ausbildungsstätte nicht in Frage. Volkshocbschulvorlesungen 
können einer allgemeinen Aufklärung dienen. Die eigentliche Aus- 
bildung des Unterpersonals hat in geeigneten medizinischen und 
heilpädagogischen Anstalten in Vorträgen und in praktischer 
Betätigung stattzufinden. Für die Aufstellung der Lehrpläne zur 
Unterweisung der an der Heilpädagogik allgemein interessierten Kreise 
(Pädagogen, Sozialpädagogen usw.) wird enge Fühlungnahme mit 
dem Vertreter der Pädagogik, insbesondere Sozialpädagogik an 
der Universität zu nehmen sein. Die Ausbildung in dieser letzteren 
Disziplin, welche in mehrere Fakultäten hineingreift, geht weit über 
den Rahmen der Heilpädagogik hinaus. Ihre Organisation hat durch- 
aus in den Händen der Vertreter der Pädagogik zu liegen. Zur 
Frage »Ausbillung der Sozialpädagogen durch die Universität« hat 
kürzlich Hermann Nohl in ausgezeichneter Weise Stellung ge- 
nommen, 

Überschauen wir die Möglichkeiten der Durchführung einer ge- 
rechten Forderungen entsprechenden Ausgestaltung der Ausbildung in 
der Heilpädagogik, so werden wir gut tun, der Not, in welcher wir 
uns befinden, Rechnung zu tragen. Den Münchener Plan der Ein- 
richtung eines Forschungsinstitutes für Heilpädagogik werden wir 
wohl zurückstellen müssen, und auch die Hoffnungen auf die Errichtung 
von Lehrstühlen und Lehrinstituten werden jedenfalls auf ein be- 
scheidenes Maß zu beschränken sein. Wir werden vor allem sehen 
müssen, Vorhandenes richtig zu organisieren und auszunutzen. Eines 
aber sollte gelingen: Der Heilpädagogik im Rahmen der Universität 
entsprechende Geltung zu verschaffen; und keineswegs dürfte die An- 
gelegenheit in einem Streit der Fakultäten scheitern. Nötigenfalls ist 
zu Zwischenbildungen zu greifen, wobei allerdings die gekennzeich- 
neten Gefahren nach Möglichkeit auszuschalten wären. 

Wir dürfen zusammenfassen: So grundlegende Bedeutung 
die normale Psychologie und normale Pädagogik für die 
Heilpädagogik besitzen, so ist doch der eigentliche wissen- 
schaftliche Boden, auf welchem diese erwächst, die Psycho- 
pathologie. Auch andere medizinische Fächer, welche für 
die Heilerziehung von Bedeutung sind, treten der Psycho- 
pathologie gegenüber in den Hintergrund. Die Umwertung 
der medizinischen Kenntnisse in die Praxis, die Methodik 
der erzieherischen Behandlung scheidet andrerseits die 


Fragen der heilpädagogischen Ausbildung. 375 


Heilpädagogik von ärztlichen Therapien, auch von der 
Psychotherapie. 

Die Ausbildung der Heilpädagogen gehört an die Uni- 
versität. Da die medizinische Fakultät die Hüterin der 
wissenschaftlichen Grundlagen der Heilpädagogik ist, liegt 
es nahe, daß sie die Ausbildung der für die Heilpädagogik 
in Betracht kommenden Persönlichkeiten übernimmt. Da 
aber diese Ausbildung nicht nur von Ärzten geleistet werden 
kann, wäre eine Form zu suchen, welche es ermöglicht, 
Nicht-Ärzte und von Nicht-Ärzten geleitete Institute zu 
den Lehraufgaben heranzuziehen. Die Möglichkeit, die Aus- 
bildung in der Heilpädagogik der philosophischen Fakultät 
zu übertragen und dieser dann medizinische Dozenten zu at- 
tachieren, ist wohl vorhanden, schließt aber auch Schwierig- 
keiten in sich. Bei der einfachen Verteilung auf die medi- 
zinische und die philosophische Fakultät besteht die Ge- 
fahr einer Loslösung der Heilpädagogik von der Medizin 
und die Entwicklung einer nicht genügend fundierten päd- 
agogischen Pathologie Im Falle einer Teilung ist un- 
bedingt für Zwischenorganisationen, im Notfalle privater Art, 
zu sorgen. Für die Gründung einer heilpädagogischen Fakul- 
tät fehlen vorerst wohl die materiellen Voraussetzungen, 
ebenso für die Gründung einer allgemeinen erziehungs- 
wissenschaftlichen Fakultät, welche die Heilpädagogik in 
sich schließen würde. Unter entsprechenden Sicherungen 
dürfte auch die »Zwischenorganisation« wohl als der 
nächstliegende Weg zur einer lösung der Fragen heil- 
pädagogischer Ausbildung erscheinen. 

Für die Heilpädagogen ist eindringliche Hochschul- 
bildung zu verlangen. Die notwendige Berücksichtigung 
der praktischen Ausbildung darf nicht zu einer Ver- 
kümmerung der wissenschaftlichen Vorbildung führen. 
Für den großen Kreis allgemeiner an der Heilpädagogik 
Interessierter, sind allgemeinere akademische Vor- 
lesungen einzuführen. Enge Beziehungen zu der Or- 
ganisation eines Unterrichts in der Sozialpädagogik 
sind herzustellen. Die Ausbildung des heilpädagogi- 
schen Unterpersonals wird im wesentlichen außerhalb 
der Universität zu leisten sein. 


= = = _— ——— — = 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung.«. 


Von 
Ruth v. der Leyen - Berlin. 


Die »verwahrlosten« Jugendlichen bilden in der Literatur gewisser- 
maßen eine Gruppe für sich, als wenn es sich hier um eine einheit- 
liche Kategorie von Menschen handelte, ebenso wie »>die kriminelle 
Jugend« häufig als etwas Einbeitliches, als ein Gesamtkomplex ge- 
schildert wird. Dadurch besteht die Gefahr, das äußere Verhalten 
eines Menschen der Gesellschaft gegenüber, die Wirkung eines Menschen 
auf die Gesellschaft als dessen Wesensart zu bezeichnen. Indem wir 
das augenblickliche Verhalten eines Menschen zum Ausgangspunkt 
seiner Beurteilung nehmen, legen wir diesem Verhalten ein zu großes 
Gewicht bei im Verhältnis zu seinem übrigen Leben, dem bisherigen 
wie dem künftigen. Die praktische Folge hiervon in der Jugend- 
wohlfahrtsarbeit ist, daß die Berichte über Kinder und Jugendliche, 
die als gefährdet oder verwahrlost gemeldet werden, immer wieder 
unter dem Gesichtspunkte der Verwahrlosung abgefaßt werden. Von 
den Symptomen dieser Gefährdung oder Verwahrlosung (Lügen, Fort- 
laufen, Stehlen, Herumtreiben) beherrscht, scheint es. daß das Vorleben 
eines Jugendlichen nur in bezug auf diese Symptome durchforscht 
wird. — Auch die Maßnahmen werden allgemein auf diese Symptome 
zugeschnitten: »Entfernung aus der Großstadt«e, »Unterbringung in 
ländlicher Dienststelle«, »Umgebungswechsel«, »Anstaltsunterbringung«, 
aber nicht auf die in dem Kinde, dem Jugendlichen vor uns stehende 
Gesamtpersönlichkeit. Es wird zu leicht vergessen, daß auch Gefährdung 
und Verwahrlosung eine Entwicklungsgeschichte haben, die sich nur 
aus dem Gesamtleben des Menschen, aus allen seinen Wesensäuße- 
rungen ergründen läßt. 

Die Entwicklung eines Menschen kann nicht dadurch gefördert 
werden, daß seine Förderer vorübergehende Regelwidrigkeiten einer 
Entwicklung zur Grundlage für alle weiteren Maßnahmen machen 
(vgl. Fall 4). Diese Einstellung, dieses sich Gegenüberstellen zu Ver- 
wabrlosung und Kriminalität, hängt wohl mit der Entwicklung der 
Jugendfürsorge zusammen. 


R. v. der Leyen: Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 377 


Die Fürsorgeerziehung in Preußen ist ursprünglich entstanden 
aus der Notwendigkeit, für Kinder, die Straftaten begangen hatten, 
und die strafrechtlich noch nicht verfolgt werden konnten, Ersatz- 
maßnahmen zu finden. Es schloß sich dann die Fürsorgeerziehung 
für die Kinder, die durch ihre Eltern schuldhaft gefährdet waren an, 
sowie die Unterbringung in Fürsorgeerziebung solcher Kinder, deren 
»völliges sittliches Verderben« zu befürchten war. Etwa gleichzeitig 
entwickelte sich das Jugendgerichtsverfahren. Die Ermittlungen zur 
Strafaussetzung fragten stets danach, ob »verbrecherische Neigungen« 
bei dem Jugendlichen vorlägen; man sprach von Zwangserziehung, 
von Besserungsanstalten. So gewöhnte man sich mit nirgends fest um- 
schriebenen Begriffen, wie »völliges sittliches Verderben«, »Verwahr- 
losungs, »verbrecherische Neigung«, »Zwangsmaßnahmen« ständig zu 
operieren, ja das prozessuale Verfahren verlangte, daß das bisherige 
Leben des Jugendlichen und die Gründe, die zur F.E. führen, unter 
solche Begriffe (wie »völliges sittliches Verderben«) subsummiert werden 
sollten. Durch diese enge Verschmelzung zwischen Jugendstrafrecht 
und Fürsorgeerziehung stellen sich die Richter und die Behörden zur 
Durchführung von Fürsorgemaßnahnien leicht auf den Standpunkt, auch 
in dem Verhalten des Gefährdeten und Verwahrlosten ein schuld- 
haftes Verhalten zu erkennen (vgl. Fall 1 und 3). 

Dieser Fragenkomplex soll durch die Schilderung der nach- 
folgenden 5 Fälle an praktischen Beispielen erläutert werden. Gleich- 
zeitig soll gezeigt werden, wie leicht ein Kind oder ein Jugendlicher in 
den Ruf »völligen sittlichen Verderbens« kommen kann, wie häufig er, 
ohne daß die Voraussetzungen irgendwie zutreffen, in diesem Ruf bleiben 
kann, und wie sehr die Maßnahmen immer wieder gemäß dieser 
einmal vorhandenen Abstempelung getroffen werden (Fall 2). Sie 
sollen zum zweiten zeigen, daß bei richtiger Ergründung der Ent- 
wicklung einer Verwahrlosung die äußeren Symptome dieser Ver- 
wahrlosung durch Maßnahmen, die dieser Erkenntnis Rechnung tragen, 
fortgeräumt werden können. Die Wesensart eines Menschen ist nicht 
zu ändern, sie kann aber auf vielerlei Bahnen gelenkt werden und 
braucht nicht zwangsmäßig in der einmal eingeschlagenen Bahn der 
»Verwahrlosung« fortzulaufen (vgl. Fall 5). 

Die nachfolgenden 5 Fälle sind geschildert auf Grund von eigenen 
Beobachtungen in einer Heilpädagogischen Beratungssteile, [Hp. B.] 
die sich über mehrere Jahre erstrecken. Andere Quellen werden stets 
angeführt. [J. A. = Jugendamt. B. V. = Berufsvormundschaft. F. E. 
== Fürsorgeerziebung.] 


3718 R. v. der Leyen: 


l. Fritz Gr. Geboren am 4. Januar 1910, 

Vater starb bald nach der Geburt des Jungen. Eine ältere Schwester, 1905 
geboren, ist außerhalb in Dienst. 

Mutter des Jungen verheiratet sich 1420 zum zweitenmal. 

Überwiesen an Hp.B. durch Poliklinik für Nervenkranke. 

25. Juni 1919. Poliklinische Untersuchung. 

Aus der gutachtlichen Äußerung des Arztes: 


Erziehungsschwierigkeiten: der Junge schwänzt dauerud die Schule, 
kann abends nicht nach Hause finden, treibt sich viel herum. Er lauft vormittags 
weg, traut sich dann nicht nach Hause, läuft aus Angst vor Prügeln wieder weg. 
Er ist sehr gewalttätig, bohrt Löcher ip die Wand, macht sein Spielzeug kaput, um 
zu sehen, was darin ist. Er schläft sehr unruhig, er treibt gern Schabernack, lügt, 
um sich herauszureden. Er ist sehr beeinflußbar, glaubt alles, was man ihm erzählt. 
Er ist im Essen sehr mäklig, würde sich am liebsten nur von Brot und Wasser 
nähren, nascht aber viel. Der Junge,selbst war bei der Untersuchung still, verschlossen, 
.abweisend, nicht zum Sprechen zu bringen. Eine Intelligenzprüfung war desbalb 
nicht möglich. Er lernt aber leicht und kommt trotz Schuleschwänzens in der 
Schule gut mit. 

Die darauf angestellten Hausbesuche durch die Hp.B. ergaben: 

Die Häuslichkeit ist sehr sauber, behaglich und ordentlich. Die Mutter war 
sehr viel (Monate hintereinander) krank, hat ihren Mann nach 2!/, jähriger Krankheit 
an Lungen Tbc. verloren, seitdem (1911) ist sie erwerbstätig, kann sich also wenig 
am Fritz kümmern. 

Bis vor kurzem half ihr Fritz wenig, wurde er zum Einholen geschickt, kam 
‘er nicht wieder. Erst seitdem die Mutter in letzter Zeit ein paarmal vor Schwäche 
umgefallen ist, hilft er etwas besser. Schelte oder Bitten haben vorher nichts ge- 
nützt. Im Bericht der Helferin der Hp. B. über den Hausbesuch heißt es dann 
weiter: 

»Die ersten Augenblicke stand der Junge frei in der Küche, bestätigte mir 
‚auf meine Frage, daß er 9 Jahre alt sei, dann auf einmal antwortete er nicht 
mehr, und als ich in seine Nähe kam, warf er sich mit einem entsetzlichen Geschrei 
herum in eine Ecke und blieb die ganze Zeit, dio ich noch dort war, so stehen. 
Die Mutter klagte, daß er es auch bei ihr oft so mache, daß er manchmal stunden- 
lang keine Antwort gebe, sie könne fragen, was sie wolle, sie wisse dann gar nichts 
mit ihm anzufangen.« 

26. Juli 1919. Unterbringung des Fritz ın F.E. auf Antrag des J. A., gemäß 
$1 Ziff. 3. 

»Gründe: Fritz Gr. hat wiederholt seine Mutter bestohlen und trotz eindring- 
lichster Ermahnungen immer wieder neue Diebereien gegen seine Mutter verübt. 
Die Mutter muß den Tag über dem Erwerb des Lebensunterr.alts nachgehen und 
kann daher den Jungen nicht genügend beaufsichtigen. Diese mangelnde Beauf- 
sichtigung war dem Jungen sehr willkommen, er besuchte nur noch die Schule, 
wie es ihm paßte, schwänzte sie sehr häufig und fertigte auch seine Schularbeiten 
nur sehr mangelhaft an bexw. überhaupt nicht. Alle Ermahnungen an den Neun- 
jährigen seitens seiner Multer und seıtens des Beistandes fruchteten nichts. Der 
Junge hört sich alles ruhig mit an. gelobt Besserung, dachte aber nicht daran, sein 
Gelöbnis zu halten. Wegen der mangelhaften Beaufsichtigung des Jungen hat 
dieser auch unerzogene Kinder zu seinem Umgang gewählt. Die Folgen dieses 
schlechten Umgangs zeigten sich in einem äußerst lümmelhaften Benehmen des 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 379 


Jungen. Mit seinen Mitschülern fängt er aus den nichtigsten Ursachen Streit an, 
schlägt sich mit ihnen herum und wirft mit Steinen nach ihnen. Auch hier haben 
weder Ermahnungen noch Strafen der Lehrer eine Besserung erzielen können.« 


Ende April 1920. Besuch des Jungen durch Hp. B. in einem kleinen Fürsorge- 
Erziehungsheim (25—30 Kinder). Leiter und Leiterin zeigen viel Verständnis für 
die Eigenart des Jungen, betonen vor allem, wie notwendig er habe, daß man sich 
mit ihm allein beschäftige, und wie nötig er eine energische, verständnisvolle und 
männliche Leituug brauche. 


Weihnachten 1920. Zweite Heirat der Mutter. Der Junge wird widerruflich 
aus der F.E. zu ihr nach Hause entlassen. Die Mutter kann ihre Erwerbsarbeit 
aufgeben. 


Juli 1921. Hausbesuch durch Hp. B. (nachdem Mutter und Hp. B. in ständigem 
Verkehr geblieben waren). Es wurde ein behagliches Familienleben angetroffen, 
die Wohnung schmuck, sauber und ordentlich, der Junge in vollem Genuß des 
Daheimseins. Dio Mutter gab an, er mache keine Schwierigkeiten, der Stiefvater 
stehe gut mit ihm, er gehorche gut. 

Bei mehreren weiteren Besuchen keine Klagen. 

März 1922. Hausbesuch durch Hp.B. 

Weihnachten hat Fritz wieder angefangen, Schwierigkeiten zu machen; er 
schwänzt wieder dauernd die Schule, ist nachlässig. teilnahmslos. Der Mutter gegen- 
über ist er frech, aber nicht dem Stiefvater gegenüber. Einmal ist er über Nacht 
weggeblieben. Kin äußerer Anlaß zu diesen plötzlich erneut einsetzenden Schwierig- 
keiten liegt nicht vor. »Während des Hausbesuches saß der Junge mit aufgestützter 
Hand am Fenster und las. Er ließ sich weiter nicht stören, man kann nicht gerade 
sagen, daß er verbockt war, eher genierte er sich.« 

April 1922 wird eine erneute psychiatrische Untersuchung veranlaßt. Mutter 
referiert in der Klinik : 

»Seit Weihnachten 1921 schwänzt er wieder die Schule, schreibt sich selbst 
Entschuldigungen, geht in der Zeit in den Wald nach Sadowa oder auf den Rummel. 
Zuweilen kommt er abends von selbst heim, meist muß ihn aber der Vater vom 
Rummel holen. Wenn er kommt, ist er, als sei nichts gewesen. — Beim Einholen 
hat er mehrmals Geld behalten, hat auch Sachen von zuhause verkauft, z. B. die 
Axt, und aus der Essigflasche hat er den Essig gegossen, dann die Flasche verkauft. 
Wenn ihn die Mutter ermahnt, ob er sich nicht schäme, meint er: »Was ist denn 
dabei zu schämen ?« Er leugnet hartnäckig, ist verstockt, schwindelt. Er soll auch 
ohne Ursache reizbar sein; so hat er neulich mit einem kleinen Jungen in dessen 
Wohnung gespielt, hat ihn plötzlich im schönsten Spiel verhauen, ist auf die Straße 
gelaufen, hat einem Jungen den Triesel fortgenommen, den Stock zerbrochen, ist 
wieder heraufgekommen, hat ruhig weiter gespielt. Er hat auch sonst allerlei Merk- 
würdiges. So läßt er seinen Stuhl in aen Ascheimer, läßt den Ascheimer dann 
stehen, oder wickelt den Kot in Papier und wirft ihn zum Fenster heraus. Ander- 
seits ist er sehr eklig, ißt nicht vom Geschirr der Eltern; wenn ihm etwas un- 
‚appetitlich vorkommt, läßt er es stehen, wird er dann zum Essen gezwungen, 
muß er brechen. 

Er ist empfindlich gegen schlechte Luft, z. B. im Schlafzimmer der Eltern, 
leidet an Kopfschmerzen, an Schwindel und Brechreiz, verträgt kein Schaukeln. 
Haareschneiden ist ihm fürchterlich, und er rückt dabei gern aus; er weint dann 
wie ein kleines Kind. 

Zeitschrift für Kindesforschung. 29. Bd. 26 


380 R. v. der Leyen: 


Früher war er anhänglich, nicht zärtlich, nur wenn die Mutter traurig war. 
Jetzt ist er meist eigensinnig und störrisch, zapplig, kann schlecht still sitzen, be- 
vorzugt wilde Spiele. Im Zimmer wechselt er viel die Beschäftigung, liest Bücher 
schnell durch, spricht viel, erzählt und fragt gern. — Er geht gern in Museen, 
malt alles nach, was er sieht. Früher war er gefällig, höflieh und beliebt, 


Es handelt sich um einen lebhaften, dabei empfindsamen und schüchternen 
Psychopathen. Die Schwierigkeiten bei der Erziehung des Jungen liegen vor allen 
Dingen in den großen Widersprüchen, die er in sich hat.« 

Im nächsten Vierteljahr kommen von allen Seiten Klagen über den Jungen. 
Er wird im Juli 1922 nicht gleich, wie von der Hp.B. beantragt und vom Arzt 
gewünscht, in ein Heilerziehungsheim gebracht, sondern zunächst in eine Verteilungs- 
station, kommt dann noch in eine andere Anstalt, macht dort so »außerordentliche 
Schwierigkeiten«, daß er dann in das Heilerziehungsheim kommt 1. Oktober 1922). 
Am 16. Oktober rückt er aus, wird am 23. durch den Stiefvater wieder hingebracht, 
rückt am 16. November wieder aus. Während der Wochen im Heilerziehungsheim 
schließt er sich einerseits an einen Erzieher gern an und gibt auch mehrfach an, 
sich wohl dort zu fühlen, läßt sich aber andererseits durch die anderen Jungen 
leicht beeinflussen und betont immer wieder, daß er sich einem Zwange nicht 
unterwerfen wolle. 

17. November 1922. Unterbringung in der Beobachtungsstation für psycho- 
pathische Kinder. 

— Vorher brachte ihn der Vater in die Sprechstunde der Hp. B., hier war er zu- 
nächst schweigsam, abweisend und taute erst auf, als er lebhaft und in der Erinnerung 
fast vergnügt und stolz berichtete, daß er mit einem Kameraden aus dem Heil- 
erziehungsheim zu Fuß ohne Geld zum nächsten größeren Ort (etwa 5 Stunden) 
gelaufen sei. Dort sowohl wie in Berlin bätten sie sich dann ohne Fahrkarten 
durch die Sperre gedrückt. Unmittelbar nach diesem ganz lebendigen Bericht, als 
er hört, daß er wieder zurück ins Heim soll, schluchzt er heftig auf: »Ick rück 
doch immer wieder aus, wo du mir auch hinbringst.«e — 

Aus dem Bericht der pädagogischen Leiterin der Beobachtungsstation: 

»Fritz kam ganz oppositionell her, »wenn Ihr glaubt, daß ich hier nicht raus 
komme, so irrt Ihr Euch«. Er sah in uns seine Feinde, in ihm war verhaltener 
Grimm gegen den neuen Zwang. Er verhielt sich ganz stil. Am 3. Tag seines 
Hierseins explodierte er: »jetzt werde ich bald verrückt, ich schlag alles kaputt«., 
Er war sehr verstimmt, setzte sich mit einem Buch in die Ecke und las (die einzige 
von ihm selbst gewählte Beschäftigung). Das zweitemal explodierte er, nachdem 
er einen elektrischen Schalter entzwei gemacht hatte und es nicht zugestehen wollte. 
Er wurde dann ganz plötzlich weich. fing sehr zu schluchzen an, verlor seine sonst 
so stolze Haltung und brach in Tränen aus ganz ohne Distanz: »laßt mich nach 
Hause, nicht wieder in ein Heim« und immer leidenschaftlicher »ich will in B. 
bleiben, zu Hause sein«. In den Heimen sei es zu langweilig. Er entbehrt die Viel- 
seitigkeit der Anregung, Museen, Verkehrsleben, Kino. — Danach blieb er zugäng- 
licher, bat ausdrücklich, daß er mal zur Probe nach Hause geschickt werde. 

Mit den anderen Kindern war er sehr verträglich, beteiligte sich an gemein- 
samen Spielen, freundete sich mit einem gleichaltrigen großen Jungen an und wurde 
nur in seinem jungenhaften Freiheitsbedürfnis im Stationsleben etwas schwierig; 
alles war zu eng. 

Er war leicht gereizt, konnte dann sehr jähzornig werden und schlug blindlings 
mit Paritoffeln und Blumentöpfen, ganz gleich auf wen, los. Er wirkte dann leicht 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 381 


brutal, ist es aber nicht, sondern ist weich und mitleidig; sieht er andere hilflos, 
springt er gern zu. 

Seine Stimmung wechselte sehr schnell: eben in höchster Wut konnte er durch 
ein neues Erlebnis (vielleicht ein ihm zusagendes Spiel) umgestimmt werden. Er 
war sehr empfindlich bei Schmerzen, verbockte leicht. Ging ihm im Spiel etwas 
quer, warf er es hin, »>es sei langweilige. 


Bei ihm ist mit Gewalt nichts zu erreichen, er folgt freiwillig, wenn ihm 
jemand imponiert; eine Autorität, die ihm aufgezwungen wird, erkennt er nicht an.« 
In dem Bericht heißt es wörtlich weiter: 

»Fritz möchte nach Hause, er will zeigen, was er kann. Ich finde, man 
soll ihm die Gelegenheit dazu geben bei seiner Opposition gegen Heime. Einmal 
macht man es jedem Heim schwer und ihn steigert man immer mehr in die Oppo- 
sition. Bei seinem leichten Stimmungswechsel, seiner leichten Beeinflußbarkeit wird 
es zu Hause kaum lange gehen. Trotzdem befürworte ich die von ihm erbetene Be- 
währungsfrist, um ihm damit die Entscheidung für sein nächstes Leben selbst zu 
geben. Geht es zu Hause nicht, kann er nicht anderen den Vorwurf machen, wenn 
er wieder in ein Heim kommt.« 

Fritz kommt für 2 Monate nach Hause zurück, kommt dort gleich wieder 
sehr stark unter den Einfluß von älteren Kameraden, mit denen er sich bald wieder 
herumtreibt und Diebstähle begeht. Als er dann (Anfang Februar) wieder ins Heim 
kommt, arbeitet er von vornherein an sich, so daß deutlich zu bemerken ist, daß 
der Appell an seine Einsicht und Selbständigkeit — über die sebr gefährlichen Wochen 
zu Hause hinaus — das Richtige war. 

Im Juni und Juli 1923 berichtet die J.eitung des Heilerziehungsheims, daß er 
sich gut einlebe, sich viel besser in die Allgemeinheit füge, weicher und zugäng- 
licher sei, »er arbeite mit einem Willen an sich« und entwickle sich erstaunlich. 

9. November 1923. Besuch durch Hp.B. im Heim: In dem Bericht heißt es 
wörtlich: 

»Ich freute mich besonders über Fritz. Er wirkte in seiner Zurückhaltung 
und Feinheit auf den ganzen Ton im Heim. Mir gegenüber ist er noch sehr scheu, 
geniert sich augenscheinlich, daß ich ihn in den schlechten Zeiten seines Trotzes 
gesehen habe, er wird erst am nächsten Tage zutraulicher.« 

Februar 1924. Aus einem Bericht des Heimleiters über den Jungen: 

.. Er gab sich sichtlich auch sehr große Mühe, sich auf unser Leben einzustellen, 
wenn er auch insbesondere den Frauen gegenüber noch oft aus der Rolle fiel und 
heute noch fällt. Um so auffälliger trat ein geradezu ritterliches Wesen an ihm 
zutage, sobald er einem von uns freiwillig eine Gefälligkeit erweisen konnte. Zu 
Arbeiten drängte er sich nicht, wurde allmählich aber ziemlich zuverlässig. Bei 
Tadel brauste er auf gegen groß und klein, oder er erwiderte mit einer patzigen 
oder schnodderigen Antwort, so daß man oft Mühe hat, ihn davon zu überzeugen, 
daß man nicht im Scherz sondern in völligem Ernst zu ihm spricht Am meisten 
hängt er hier an Herrn N., zu dem er manchmal geradezu zudringlich zärtlich ist, 
aber auch ihm gegenüber weiß er die Grenzen nicht zu wahren. Auf seine Kame- 
raden übt er einen großen Einfluß aus. Er nörgelt gern und fällt über die Fehler 
anderer gern her, aber über die gleiche Behandlung ist er tötlich beleidigt. Er 
hat viel Sinn für Humor und zieht gern alles ins Lächerliche. Fritz ist ein starker 
Esser und hat noch immer eine große Vorliebe für Brot. In seiner Kleidung ist 
er etwas sauberer geworden, was ihm ebenso wie körperliche Reinlichkeit äußerst 
schlecht beizubringen war. Ein großer Feind vom Haarschneiden ließ er sich 

26* 


382 R. v. der Leyen: 


schließlich unter Protest, unter Tränen von Herrn N. dazu bewegen, und kam bald 
darüber hinweg, ja er zwang sich sogar zu einigen faulen Witzen. 

An den Eltern hängt Fritz sehr, lädt sie in jedem Briefe ein, rühmt die häus- 
lichen Zustände immer als das Beste und Schönste und ist jedesmal selig vor Freude 
über den Besuch der Eltern, doch schließt fast jeder dieser Besuche mit einer Ver- 
stimmung, sei es, daß Fritz auch hier sein Mundwerk nicht zügeln kann, sei es, 
daß er sich leicht verletzt fühlt, sei es, daß er sich von diesen Besuchen immer 
etwas ganz Schönes verspricht und dann sich irgendwie enttäuscht glaubt. 

Fritz zeigt manchmal eine merkwürdige Schüchternheit, mag am Vortrags- 
nachmittag nicht aufsagen, mag an der Schießbude nicht schießen. In der Schule 
ist er ein guter Schüler mit einer ganz ausgezeichneten Handschrift, zu der sein 
fürchterlicher Jargon nicht passen will. Fritz denkt über vieles nach, stellt sich 
gern in einen Gegensatz (Religion, Politik). — 


Die Schwierigkeiten des Jungen entstehen, wie aus den ärztlichen 
Gutachten und den Erfahrungen in der offenen und der Heimfürsorge 
gezeigt wird, durch das Durcheinander von Unternebmungslust und 
Empfindsamkeit. Dazu kommt ein übertriebenes Ehrgefühl, ein starker 
Freiheitsdrang, eine abnorme Beeinflußbarkeit, eine abnorm gesteigerte 
Affekterregbarkeit. 


Durch Nichtbeachtung dieser Anumalien oder durch Zwangs- 
maßnahmen wird Fritz in immer gröbere Schwierigkeiten hinein- 
getrieben; dabei ist der Junge einsichtig und verträgt auch scharfe 
Maßnahmen, wenn man sie mit ıhm bespricht. Er arbeitet an sich, 
wenn es gelingt ihn vor Einflüssen, die ihn zu stark gefährden, zu 
schützen. 


2. Elfriede L. Geboren am 23. März 1908, illegitim. 
19. Januar 1922 Überweisung an Ap. B. durch J. A. 


Aus den Akten des J.A.: 


Elfriede steht unter Berufsvormundschaft. 1918 starb die Mutter, 
die mit dem Erzeuger zusammen lebte. (Heirat war nicht möglich; die 
Ehefrau des Erzeugers wollte sich von ihm nicht scheiden lassen.) Die Akten 
des Berufsvormunds betonen bis 1919, daß der Vater am Kinde hänge, sein Bestes 
wolle; das Kind sei sehr gut unter der Pflege beider Eltern gediehen, es hänge 
sehr an der Mutter. 

21. September 1919. Aus dem Bericht des Berufsvormunds: 


»Elfriede ist bisher von der Mutter jeder Wunsch erfüllte 1919 nahm 
sich der Vater eine Wirtschafterin, Frau V., mit der er im Konkubinat lebt. 
»Diese ist nicht so freigebig in der Erfüllung von Elfriedes Wünschen. Elfriede 
verschafft sich das Geld für Näschereien auf unlautere Weise. kommt so 
zum Lügen und Stehlen in Schule und Haus.e Daraufhin bittet der Vater 
um Unterbringung in einer Besserungsanstalt, »da ihm daran liege, daß Elfriede, 
welche geistig sehr geweckt sei, ein ordentlicher Mensch werde.« F.E. sei 
einstweilen nicht nötig. »Wir wollen es vielmehr mit Elfriede in einer ge- 
eigneten Pflegestelle versuchen.« 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 383 


Dezember 1919. Bericht d. J. A. (B. V.): 

»Der Mündelvater ist Gastwirt. Er ist etwas brummig, scheint streng 
zu Elfriede zu sein, ist ihr aber doch wohl von Herzen gut. Die Wirt- 
schafterin sieht etwas schlampig und weder arbeitsfreudig noch sauber aus. 
Sie scheint sich nicht gern zu überanstrengen. Der Fußboden des Gastzimmers 
lag voller Papierschnitzel und schien beim Aufscheuern lange übergangen zu 
sein. Abends um '/,6 war noch kein Bett gemacht, noch kein Zimmer auf- 
geräumt. Elfriede sieht rosig, brav und artig aus. Letzteres beides soll eine 
optische Täuschung sein, Elfriede sei nicht fleißig, habe keine rechte Aus- 
dauer, sei manchmal recht vorlaut und ungezogen. Ihr Osterzeugnis ist nicht 
durchweg genügend, auch ist das Betragen nicht einwandfrei.« 


26. August 1920. Antrag auf Unterbringung Elfriedes in F. E. durch die Schule 
mit folgender Begründung: 

»Eifriede hat ihrem Vator Geld und Zigaretten gestohlen, der Schaden 
soll sich ungefähr auf 1100 M belaufen. In der Schule hatte Elfriede ein 
gutes Betragen mit Ausnahme eines Falles. Trotzdem ist eine schädliche 
Beeinflussung ihrer Mitschülerinnen durch sie zu befürchten. Ich be- 
antrage daher, daß Elfriede L. der F.E. übergeben wird.« 

gez. J. W., Lehrerin. 

»Diesem Gesagten schließe ich mich an im Interesse der Mitschülerinnen, 
die durch Elfriede L. geschädigt werden.« Der Rektor. 

22. September 1920. Antrag des Berufsvormundes auf Unterbringung Elfriedes 
in F.E. Dem Berufsvormund seien Klagen über Elfriede L. schon seit längerer 
Zeit zu Obren gekommen, Elfriede habe im November 1919 (also kurz nach- 
dem der Vater die Wirtschafterin zu sich genommen hatte'), einer Mitschülerin 
ein Portemonnaie mit Inhalt veruntreut und das Geld für Näschereien ver- 
wandt. »Ich habe damals davon abgesehen, aus Anlaß dieses Falles F. E. zu be- 
antragen, weil von dem Vater des Kindes und seiner Wirtschafterin ver- 
sprochen wurde, das Kind gut im Auge zu behalten, und ich mir von der 
Frau V. besonders einen guten Einfluß auf das Kind versprach 
(vgl. hierzu Bericht vom Dezember 1919!). Ich habe dann lange keine 
Klagen mehr gehört. Elfriede hat jedoch, wie mir Frau V. jetzt berichtet, 
trotz aller Ermahnungen und Bestrafungen ihre Unehrlichkeit (Dieb- 
stähle von Geld und Zigaretten) fortgesetzt. Elfriede selbst ist verstockt. 
Auf Vorhaltuugen und Fragen antwortet sie nicht, sondern weint nur, doch 
hat man nicht den Eindruck, daß dieses aus Reue geschieht.« 

24. September 1920. Ermittlungen durch das J. A. (B. V.): 

»Elfriede ändert sich nicht, trotzdem der Vater alles Mögliche versucht 
hat. Sie hat wiederholt aus der Kasse 100 M genommen, das Geld verteilt 
oder sich Naschwerk dafür gekauft.« Der Vater gibt ferner an, daß Elfriede 
auch schon männliche Bekanntschaften mache und befürchtet, daß dieses noch 
schlechte Folgen haben könnte. 


4. November 1920. Äußerung des J. A. (Abteilung F.E.) zu dem Antrage des 
B. V. auf Unterbringung in F.E.: 

»Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß F. E. verfrüht be- 

antragt ist. Die häuslichen Verhältnisse scheinen nicht dazu angetan, ein 

Kind auf dem rechten Pfad zu erhalten. Ob der Vater durch die F.E. die 


1) Anm. d. V. 





384 R. v. der Leyen: 


Kosten für Elfriede zu sparen wünscht? Das Zeugnis der Lehrerin ist wirk- 
lich nicht sehr belastend für die Führung in der Schule. Ich bitte um ge- 
naueste eingehende Prüfung sämtlicher Angaben und Verhältnisse. « 


30. November 1920. Ermittlung des J. A. (B. V.): 


Der Vater gibt erneut an, das Kind sei in sexueller Hinsicht verdorben. 
Sie treibe sich mit halbwüchsigen Jungen herum und soll mit einzelnen in 
dunkle Baubuden oder Schuppen verschwunden sein und sich längere Zeit 
dort aufgehalten haben. Nach Angabe des Hausverwalters, der Wirtschafterin 
und des Mündelvaters sind »Elfriedes Straftaten so zahlıeich, so dreist und 
raffiniert ausgeführt, daß es dem Mündelvater nicht zu verdenken ist, wenn 
seine Liebe und Nachsicht plötzlich (! die Straftaten dehnen sich gemäß Be- 
richt vom Dezember 1919 über ein Jabr aus!), in eiven wahren Haß um- 
geschlagen ist, und er den Antrag auf F. E. gestellt hat.« 

In dem gleichen Bericht heißt es: 


»Geradezu unbegreiflich ist es, daß der Mündelvater wohl einen un- 
bestimmten Verdacht gehabt haben will, daß ein stiller Teilhaber bei seiner 
Kasse sein müsse, daß er aber erst durch Nachbarn darauf aufmerksam ge- 
macht wurde, was für bedeutende Summen ihm Elfriede nach und nach fort- 
genommen habe. Ich machte dem Mündelvater kein Hehl aus meiner Ent- 
rüstung über den gänzlichen Mangel an Ordnung, Buchführung und Aufsicht, 
die es Elfriede möglich gemacht, ja sie geradezu dazu verführt haben, die 
Diebstähle zu begehen. Die Hauptschuld trifft den Mündelvater und seine 
Wirtschafterin, was beide auch zugeben und ich bin der Meinung, daß noch 
ein letzter Versuch gemacht werden müßte, bevor dem Antrage auf F.E. 
stattgegeben wird. 


Ich habe Elfriede sehr ernst und eindringlich ermahnt, daß sie zwar vor- 
läufig noch einmal vor F. E. bewahrt bleibe, daß sie aber die letzte Gelegen- 
heit ergreifen müsse, sich zu ändern und wieder ein ehrliches auständiges 
Kind zu werden. Elfriede sah blaß und trotzig aus, leugnete aber nichts. 
Ich fand Unterstützung für meine Überzeugung bei Elfriedes Klassenlehrerin, 
Fräulein W., und dem Rektor der Schule« (vgl. Äußerung dieser beiden Per- 
sönlichkeiten vom 26. August 1920+). »Elfriede führt sich in der Schule so 
gut, ist so begabt und fleißig, daß ein solches Kind in F.E. zu geben, als 
sehr bedenklich erscheine.« Die Lehrerin empfiehlt Unterbringung in einer 
bereits vorhandenen Pflegestelle (bei der Mutter einer Mitschülerin von Elfriede, 
Frau H., die sich für das Kind seit längerer Zeit interessiert), der Vater selbst 
wünscht schleunige Entfernung Elfriedes aus seiner Häuslichkeit, »wobei der 
liebevolle Vater mir noch besonders einprägte, es wäre ihm egal, ob Elfriede 
auf die Straße gesetzt, auf der Polizei abgegeben oder ins Waisenhaus ge- 
bracht würde«. 


Auf Grund einer Rückäußerung des J. A. Abteilung Fürsorgeerziehung 
bemerkt der Berufsvormund ausdrücklich, daß der Antrag auf F.E. von ihm 
hauptsächlich auf Grund des persönlichen Eıindrucks. den er bei der Vorstellung 
des Mädchens von dessen »Besserbarkeit« erlangt habe, gestellt worden sei 
Er erklärt sich indessen mit der Unterbringung in der genannten Pflegestelle 
einverstanden. 


1) Anm. d. YV. 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 385 


3. Januar 1921. Ermittlung des J. A. Abteilung B. V.: 

Danach ist Elfriede, (trotz des Berichts vom 30. November 1920) bis 
zum 2. Januar 1921 bei dem Vater belassen worden, bis sie durch ihn »un- 
gewaschen, mit unsauberer Wäsche und ungekämmt« zu der in Aussicht ge- 
nommenen Pflegemutter, zu der Frau H., gebracht wurde. 

18. Januar 1921. Ermittlung des J. A. Abteilung B. V. bei Frau H.: 

»H.s haben ein Töchterchen gleichaltrig mit Elfriede, wohlerzogen, 
schüchtern, freundlich. Elfriede ist mit ihr befreundet. Frau H. hat sich 
Eifriedes schon seit Jahren warmherzig angenommen, weil ihr das vernach- 
lässigte und schlecht beaufsichtigtoe Kind leid tat. Frau H. beaufsichtigt Elfriede 
scharf, zeigt aber kein Mißtrauen, läßt Elfriede z. B. oft die Einkäufe machen 
und in selbstverständlicher Ordnung jeden Pfennig abrechnen, hat auch bisher 
nicht bemerkt, daß Elfriede genascht hätte oder das Geringste zu entwenden 
versuchte, E. hilft willig in der Wirtschaft mit, füblt sich anscheinend sehr 
wohl in der neuen Umgebung.« 

9. März 1921. Schulermittlung des J. A. Abteilung B. V.: 

Auskunft der Lehrerin lautet günstig. Die Lehrerin steht mit Frau H. 
in dauernder Fühlung. »Elfriedes Betragen sei in Schule und Haus bis jetzt 
musterhaft und sie hat sich in den bis jetzt mehr als 2 Monaten bei Frau H. 
nicht das Geringste zu Schulden kommen lassen. Sie sieht rosig, sauber und 
ordentlich aus und versichert mir, daß sie es bei der Pflegemutter sehr gut 
bätte.« 

1. Juni 1921. Bericht des J. A. Abteilung B. V.: 

Elfriede ist seit dem 1. April von Frau H. fort; der Vater hat weder ihre 
Sachen herausgegeben noch Pflegegeld bezahlt, so war es Frau H. nicht länger 
mehr möglich, Elfriede unentgeltlich zu behalten und sie auszustatten. Elfriede 
hat sich bis zuletzt gut geführt. Seit dem 1. April ist sie in Landstelle unter- 
gebracht zum Gänsehüten bei freier Station. Soll sich gut führen. 

Bis zum November 1921 hat sie die Landstellen zweimal gewechselt. Aus 
ihrem Brief an den Vater geht hervor, daß sie den Schulunterricht sekr entbehrt, 
ihr das Gänsehüten sehr langweilig ist. Sie bittet den Vater, nach Hause kommen; 
zu können und droht ihm (in richtiger Erkenntnis, daß der Vater nur beim 
Geldpunkt zu fassen ist), daß ihm aus ihren Schulversäumnissen hohe ®eld- 
strafen erwachsen könnten. Daraufhin läßt der Vater sie nach Hause kommen, 
sie wohnt zunächst bei der früheren Pflegemutter. Da der Vater wiederum 
nicht zahlt, kommt sie tagsüber zum Vater und schläft bei der Tochter von 
dessen Wirtschafterin, Frau St. 

In der Ermittlung des J. A. Abteilung B. V. heißt es: 

»Elfiiede soll so bald wie möglich in F. E. Elfriede ist auf keine Weise 
zu beeinflussen und von ihren verbrecherischen Neigungen abzubringen, sie 
setzt allen meinen Fragen und Zureden ein hartnäckiges Schweigen entgegen, 
schämt sich ihres Verhaltens nicht, (sie soil sich nachts auf dem Lande 
wiederholt mit juugen Burschen bis morgens auf Tanzböden herumgetrieben 
haben),«< Die Ermittlerin rät Frau St., Elfriede auf Geschlechtskrankheit 
untersuchen zu lassen. 

20. Januar 1922. Vorstellung Elfriedes durch Frau St. (Tochter der Wirt- 
schafterin des Vaters) auf Veranlassung des J. A. (B. V.) in der Hp. B. Frau St. 
klagt sehr über Elfriede, sie habe das Mädcheu schlagen müssen, weil Elfriede ihrer 
Puppe ein Bein abgedreht habe. Darauf sei Elfriede sofort sehr eigensinnig und 


386 R. v. der Leyen: 


bockig geworden. Sie klagt weiter über Unwilligkeit beim Helfen im Hause, sie 
fühle sich stets in ihrem Ehrgefühl gekränkt, reagiere sofort sehr stark auf körper- 
liche Strafe. 

Über Elfriedes Wesen gibt Frau St. au: sie sei meist fidel, gegen ihre Um- 
gebung schmeichelhaft aber leicht übelnehmerisch, sie mache gern etwas mit, z. B. 
war nenlich im Restaurant des Vaters ein Bockbierfest, wo sie viel mit ihrem Vetter 
getanzt bat und auch noch am nächsten Tage erzählt hat, wie schön es gewesen 
sei, und wie gern sia tanze (dies wurde ihr von Frau St. übel ausgelegt). Wenn 
es mit dem Vater Streit gegeben habe, und er sie schlage, sei Elfriede nachts sehr 
aufgeregt und phantasiere dauernd davon, setze sich manchmal ganz hoch im Bett 
und spreche, 


Elfriede selbst ist ein großes schlankes Mädchen mit blonden, etwas gelockten 
Haaren und frischem offenen Gesicht. Sie macht einen kindlichen Eindruck. In 
der Schule besucht sie die Oberklasse, gibt selbst an, »das Lernen macht ihr keine 
Schwierigkeiten«. Sie liest gern Bücher: von Naturforschern, Entdeckergeschichten, 
Reisebeschreibungen und auch Romane. Sie meint, daß sie gern arbeiten wolle, 
aber dann auch gut behandelt werden wolle. Sie erzäblt mit Freuden davon, daß, 
als ihre richtige Mutter noch lebte, sie sich die Kinder im Haus zusammengeholt 
hätte, um mit ihnen Kreis zu spielen, (Elfriede war damals 8—10 Jahre) die Kinder, 
meist 4—bjährig, hätten ihr stets gut gehorcht. Sie beschäftigt sich gern mit 
Kindern. In der Schule habe sie das Aufpasseramt und werde auch mit den Mit- 
schülerinnen dabei fertig. 

In Aussicht genommene Maßnahmen: Unterbringung in einem Heim im Heimats- 
ort bis zur Schulentlassung und Einsegnung (April des gleichen Jahres). Während 
dieser Zeit Beteiligung an den Spielnachmittagen der Hp. B. 

Bericht aus dem Spielnachmittag vom 4. März 1922. 

Die Helferin hat einen guten Eindruck von Elfriede, sie sei immer freundlich, 
kindlich, meistens offen, müsse aber auch als Kind genommen werden. Sie sei froh, 
daß sie selbst spielen dürfe. Sie geht recht geschickt mit den Kleineren um, ordnet 
sich ganz ein beim Spiel, zeigt bei allem einen guten Geschmack; so hat sie der 
Helferin berichtet (ohne dabei eine Tendenz zu zeigen), daß sie mit einer Freundin 
öfters in Museen gewesen sei und erzählte dabei ausführlich von den Bildern, die 
sie dort gesehen babe. »Sie ist sehr empfindlich und aufnabmefähig guten wie 
schlechten Einflüssen gegenüber. Dazu ist sie klug. Sie hat den besten Willen, 
läßt aber bald nach, gibt sich dann wieder einen Ruck. Sie braucht dringend einen 
sehr bestimmten Einfluß.« 

Ende März 1922 wird Elfriede aus dem Kinderheim entlassen, weil der Vater 
und dessen Wirtschafterin der Heimleiterin gegenüber behaupten, Elfriede sei ge- 
schlechtskrank (vgl. Angaben der Ermittlerin, S. 385). Eine sofortige Untersuchung 
E.s in der Frauenklinik ergab, daß der Hymen intakt und Elfriede weder Lues noch 
Gonorrhoe habe. Der Ausfluß rühre von Blutarmut her, man finde ihn häufig vor 
Eintritt der ersten Menstruation. Darauf Aufnahme am 21. März 1922 in der Beob- 
achtungsstation für psychopathische Kinder. 

Aus der Krankengeschichte des leitenden Arztes der Beobachtungsstation: 

»Das Kind selbst macht folgende Angaben: die Mutter sei seit 1918 tot, der 
Vater lebe mit einer »Dame« zusammen, mit der er zusammen schliefe. Sie selbst 
schlafe auf dem Korridor neben dem Kloset, daß von den Gästen des Restaurants, 
das der Vater betreibe, benutzt wird. Sie habe im Restaurant manchmal bis 1 Uhr 
nachts helfen müssen. Von den ihr zur Last gelegten Verfehlungen gibt sie zu, 





Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 387 


einmal 200 M, einmal 50 M weggenommen und vernascht zu haben. Sie habe auch 
öfter Zigaretten genommen und an ihre Freunde (gleichaltrige Jungen) verteilt, auch 
habe sie öfters Schmubgroschen bis zu 3 M gemacht. Von den Pflegestellen auf 
dem Lande gibt sie an, daß es dort sehr langweilig gewesen sei, sie habe nur Gänse 
hüten müssen. Aus der ersten Stelle sei sie weggelaufen, weil ein paar neu- 
hinzugekomınene Gänse in das alte Gehöft zurückgelaufen seien, und die Schwester 
der Gutsbesitzerin sie deswegen geschlagen habe. Sie sei gleich zu einer Bekannten 
gegangen, es sei nicht wahr, daß sie sich rumgetrieben habe. Diese Bekannte habe 
ihr eine neue Stelle verschafft, dort habe sie sich mit der Gutssekretärin, einem 
19jährigen Mädchen, angefreundet. Es sei richtig, daß sie mit dieser ein paarmal 
auf den Tanzboden gegangen sei, sie habe sich aber nicht die ganze Nacht rum- 
getrieben. Es sei nicht wahr, daß sie heimlich aus dem Fenster gestiegen sei. Als 
die Sekretärin entlassen wurde, habe es ihr auch nicht mehr gefallen, sie sei des- 
halb weggegangen und habe wieder die Bekannte aufgesucht. Als sie diese nicht 
antraf, kehrte sie in ihre Stelle zurück, kam dann aber bald nach Hause, Sie be- 
streitet aufs Entschiedenste, jemals geschlechtlichen Verkehr gehabt zu haben, wie 
man ihr nachsage. Sie erscheint in geschlechtlichen Dingen dem Milieu, dem sie 
entstammt, entsprechend aufgeklärt, spricht ruhig und sachlich, aber nicht ohne 
Schamgefühl darüber. Sie macht iu allen ihren Angaben einen offenen und glaub- 
haften Eindrnck. Sie war hier vollkommen ruhig, unauffällig, etwas still und zurück- 
haltend, aber stets freundlich, nett und besorgt mit den anderen Kindern, denen 
gegenüber sie sich ihrem Alter entsprechend, wie eine große Schwester benahm.!) 
Sie half gern und ohne dazu aufgefordert zu werden im Haushalt, wo sie umsichtig 
erschien. Auf Vorhaltungen reagierte sie sofort, verarbeitete sie und machte sie 
sich zunutze. Sie zeigt in der Wahl ihrer Lektüre, im Abschreiben von Gedichten 
die leichte Sentimentalität des beginnenden Pubertätsalters, träumt in unbeschäftigten 
Zeiten vor sich hin. gez. Dr. T. 


Hausbesuch durch die pädagogische Leiterin der Beobachtungsstation: 


»Im Schankraum steht die Wirtschafterin, Elfriede will ihr um den Hals fallen 
sie wehrt Elfriede wie eine Aussätzige ab, »nein ich will mich nicht von dir an- 
stecken lassen«. Aus einer Sofaecke erhebt sich bri dieser Szene Elfriedes Vater 
ohne Begrüßung und meint, »sie hat doch aber die Krätze«. Elfriede beachtet den 
Vater nicht und geht mit dem Hunde heraus. Vater und Wirtschafterin, besonders 
diese, schimpften auf Elfriede 10s, sie sei durch und durch verdorben, gehöre in 
eine F. E.-Anstalt. 


16. März 1922. Ermittlerin vom J. A. Abteilung B. V. in der Hp. B.: 

Sie bält das Mädchen für geschlechtskrank, hat aber keine Unterlageu für 
diese Behauptung. Sie hält F.E. für erforderlich, »da schon alles mit dem Mädchen 
versucht sei«. 

18. März 1922 beantragt die Hp. B. beim J. A. die Aussetzung des F. E.-Ver- 
fahrens, schlägt Unterbringung in Bürolehre vor mit dem Anerbieten der Übernahme 
einer Schutzaufsicht. 

31. März 1922. Elfriede wird aus der Station entlassen in eine Lehrstelle zum 
Erlernen von Schreibmaschine und Stenographie bei einer Bekannten der Hp. B., 
bei der sie wohnen kann, und die eine gleichaltrige Tochter hat. 


!) Die päd. l.eiterin der Station schreibt dazu >»sie ist gern noch ein Kind mit 
Kleineren, benutzt jede freie Minute zu Ball- und Gesellschaftsspielen«. 


388 R. v. der Leyen: 


14 Tage nach der Unterbringung in ihrer Lehrstelle wird Elfriede in Aus- 
führung eines vom J. A. Abteilung B. V. erwirkten Beschlusses auf Unterbringung 
zur F. E. aus der Lehrstelle früh morgens abgeholt und in F. E. gebracht. Ein 
Versuch, sie auch als F. E.-Zögling zur Fortsetzung der begonnenen Lehre wieder 
unterzubringen, scheiterte. 

4. August 1922. Bericht aus der F. E.-Anstalt: 

»Das Mädchen macht so erhebliche Schwierigketten, daß ihre möglichst um- 
gehende Überführung in eine andere Anstalt erforderlich ist.« 

September 1922. Halbjahrsbericht: 

»Führung und sittliche Entwicklung: freches und impertinentes Wesen, kann 
manchmal aber recht freundlich sein. Sie ist in der Arbeit recht unzuverlässig, an 
sich selbst recht unsauber und unordentlich.« 

Daraufhin Unterbringung E.s in Z. 

16. Oktober 1922. 

Besuch der pädagogischen Leiterin der Beobachtungsstation in Z.: 

Sie berichtet, daß das Mädchen gern dort sei, daß Haus- und Gartenarbeit 
ihr Freude mache, und daß die Schwestern es gut verständen, mit E. umzugehen. 
Die Oberin äußerte sich durchaus zufrieden über Elfriedes Führung, man hätte ihr 
trotz der kurzen Zeit ihres Dortseins eine Vertrauensstelle beim Superintendenten 
verschafft. 

Aus Z. ist Elfriede nach den F.E.-Akten aus Heimweh zum Vater entlaufen, 
der es dem Vormund mitteilte und die Rückführung in die Anstalt erwartete. Sie 
kam nicht dorthin zurück, weil sie geschlechtskrank sein sollte! Deswegen kam sie 
in ein größeres »Fürsorgeheim«, von dort lautete ein Bericht an die Hp. B. vom 
4. Juni 1924: »El£riede L. ist ein schlechtes Mädchen, sie ist heimlich, hat ein ver- 
stocktes Wesen und versucht durch Augendienerei die Schwestern zu täuschen. 
Auch ist sie unzuverlässig und unsauber. Das Mädchen will sich nicht an Ordnung 
gewöhnen, in seiner Kleidung ist es nachlässig und liederlich. Die Arbeitsleistungen 
entsprechen der sittlichen Führung.« 


Die ausführliche Wiedergabe des Aktenmateriales geschah aus 
folgenden Gründen: 

Elfriede machte so lange, die Mutter lebte, keine Schwierigkeiten. 
Die Schwierigkeiten setzen ein unter dem Einfluß des Vaters und 
der Wirtschafterin (vgl. S. 382) der unordentlichen, unsauberen Wirt- 
schaftsfübrung, dem Unbehagen zu Hause, dem Mangel an körper- 
licher Pflege. 1!/, Jahre lang wird erwartet, daß E. sich auf Grund 
von Ermahnungen durch Vater, Wirtschafterin, J. A. bessern würde. 
Die Einleitung des F. E.-Verfabrens wird durch die Schule beantragt 
auf Grund eines Falles (Diebstahl eines Portemonnaies). 

Die Lehrerin gibt an: eine schädliche Beeinflussung der Mit- 
schülerinnen sei zu befürchten. Der Rektor sagt schon »Die Mit- 
schülerinnen werden geschädigt«. Man verspricht sich einen Ein- 
fluß von den Ermahnungen der gleichen Wirtschafterin, die durch 
ihre Einstellung zu E. und durch ihre Wirtschaftsführung (vgl. S. 384) 
Veranlassung zu Elfriedes Schwierigkeiten gegeben hat. 


Fünf Fäle von »Verwahrlosung«. 389 


Als E. in den nicht geeigneten Landstellen (sie wurde dort unter- 
gebracht, weil der Vater kein Pflegegeld zahlte) nicht einschlug, heißt 
es: E. ist auf keine Weise zu beeinflussen, und von ihren ver. 
brecherischen Neigungen abzubringen und schließlich wird 
trotz gegenteiliger Beweise die Behauptung der Geschlechtskrankheit 
aufgestellt und aufrecht erhalten. 

Diese nicht begründeten Werturteile legen den Grund zu einer 
dauernden Verurteilung des Mädchens auf Grund falscher Voraus- 
setzungen (vgl. die Berichte aus den F. E.-Anstalten, S. 388). 

In ordentlichen Verhältnissen, bei ausreichender Anregung und 
regelmäßigem Schulbesuch macht sie (der Aufenthalt E.s bei ihrer 
Mutter, bei Frau H. und in der Beobachtungsstation, sowie in der 
Bürolehre beweisen dies) keine Schwierigkeiten. Maßnahmen, die ihre 
Milieuempfindlichkeit nicht berücksichtigen, rufen stets ein schlechtes 
Verhalten des Mädchens hervor. Trotzdem diese Erfahrung sich wieder- 
holt, legt man Elfriede dieses schlechte Verhalten jedesmal von neuem 
vorwurfsvoll als Schuld zur Last. 


3. Karl K. Geboren am 28. Juli 1904. 

Überwiesen an die Hp. B. durch die Polizei, 

31. Mai 1920. Vorstellung des Jungen durch die Mutter in der Hp. B. 

Vater ist 1911 gestorben. Mutter seit 1912 wieder verheiratet. Sie hat eine 
Epilepsie. 

Sie berichtet, daß Karl 1915 Krämpfe gehabt habe und seitdem fortlaufe. Er 
ertrank 1915 fast beim Baden, der ältere — gesunde — Bruder versuchte ihn zu 
retten und ertrank dabei selbst. Es sei im Laufe der Jahre sehr viel schlimmer 
mit ihm geworden. Mit 13 Jahren kam er wegen des Fortlaufens in F.E. in der 
Nähe einer großen westdeutschen Stadt. wo die Familie früher wobnte, wurde nach 
2 Jahren auf Antrag der Mutter widerruflich entlassen in der Hoffnung, er sei ge- 
heilt. Sonst mache er keine Schwierigkeiten. 

»Karl selbst saß während der Besprechung mit der Mutter ruhig dabei mit be- 
drücktem Ausdruck. Als er in den letzten Tagen durch die Polizei aufgegriffen und 
in Schutzhaft genommen wurde, bat er die Mutter, ihn doch dort zu lassen, damit 
er nicht wieder fortlaufen könne. Auf die Frage, ob es denn in Trier und an den 
Orten, wo er sonst hingelaufen sei, schön gewesen wäre, meinte er fast verletzt 
‚aber schön ist es dann doch nicht‘.« 

1. Juni Untersuchung in der Nervenpoliklinik. 


Aus der gutachtlichen Äußerung des Arztes an die Hp. B.: 

»Der Junge war schon als Kind unruhig. Er neigt seit seinem 11. Lebensjahre 
zum Fortlaufen, klagt vorher über Kopfschmerzen und Flimmern vor den Augen, 
läßt sich von der Mutter auf weite Besorgungen schicken. Wenn das Flimmern und 
die Kopfschmerzen am schlimmsten werden, laufe er weg. Es besteht dann an- 
scheinend eine gewisse Bewußtseinstrübung; er erzählt, daß er dabei alle Leute auf der 
Straße umrenne. Das letzte Mal löste er sich ein Billet nach Stralsund, ließ sich 
von dort nach Rügen übersetzen. — Wenn der Zustand abklingt, möchte er wohl 
wieder nach Hause, gibt auch immer auf Karten Nachricht wo er ist, hat aber zu 


390 R. v. der Leyen: 


Anfang »keine rechte Traute« heimzukommen. Das letze Mal scheint es so gewesen 
zu sein, daß er gerade auf dem Heimweg war, als der Anfall von neuem kam, er 
ist dann zu Fuß nach Berlin gelaufen, bat in Herbergen geschlafen. Er war das 
letzte Mal 4 Wochen fort. Ähnlich scheint es jedesmal zu verlaufen. Er läuft 
jedesmal sehr weit, war schon in Kowno, Trier und Warschau. Vordem er fort- 
läuft, nimmt er meist planlos irgend welche Sachen mit, z. B. rohe Erbsen, ein 
anderes Mal Wäsche, manchmal auch Geld, er stiehlt sonst nie. Einmal hat er ein 
richtiges kleines Bündelchen zurecht gemacht, hat Tabak vom Vater mitgenommen, 
obgleich er garnicht raucht, hat das Bündelchen liegen lassen und ist fortgelaufen. 

Er hilft in der Wirtschaft viel, ist sehr willig dabei, läßt sich für gewöhnlich 
alles gefallen, er läßt sich ruhig einsperren, knöpft sich noch jetzt selbst die Hosen 
auf, wenn er Schläge bekommen soll. 

Zusammenfassung: »Die Art des Fortlaufens macht es wahrscheinlich, daß es 
sich um ein Fortlaufen in Verstimmungen bezw. Bewußtseinstrübungen handelt, wie 
sie bei Epileptikern oder epileptoiden Psychopathen auftreten.« 

Das spätere Auftreten epileptischer Krampfanfälle hat gezeigt, daß es sich um 
eine echte Epilepsie handelte. 

Maßnahmen: medikamentöse Behandlung. Unterbringung in einer Anstalt für 
Epileptiker. 

Aus den F.E.akten des Amtsgerichts in Westpreußen zeht 
folgendes hervor: 

»29. Juli 1917: Beschluß aus $5 F. E. G. Gründe: Karl K. ist trotz seiner 
Jugend völlig verwahrlost. Seit Ostern ragabondiert er in ganz Deutschland um- 
her und lebt von Diebstählen. Auf seinen Bummelfahrten ist er bis Trier ge- 
kommen. Neuerdings hat er einer Tante 240 M. gestohlen und das Weite gesucht. 
Der Junge ist nur durch harte Schutznittel auf den rechten Weg zurückzubringen, 
es ist auch Gefahr im Verzuge, da er jede Stunde Freiheit nur zur Begehung 
weiterer Straftaten benukkt.« 


Kurz darauf ergeht der endgültige Beschluß. 
2. August 1917 Anstaltsunterbringung. 


10. August 1917: Aus einem Briefe der Eltern an die Anstalt: 

»Erlauben uns Höflichst der Anstalt anzufragen. Wie es unsern Sohn 
Karl K. geht, der dort am 4. August eingeliefert ist. Wier machen der An- 
stalt höflichst aufmerksam. das unser Sohn Karl K. nicht nur ungezogen und 
ein verdorbener Junge ist. Sondern aber auch geisteskrank ist. Und bitten 
um besondere Beobachtung, und Aerztlicher Behandlung. ... . . ‚ am 28. Sep- 
tember ist Er das erste mal fortgelaufen. hierauf ist er jeden Monat fort- 
gelaufen. Wir haben ihn immer wider geholt, Wir sind auch schon beim 
Arzt gewesen, der batt mere Flaschen Medezin gegeben für Närven da ging 
es auch mere Monate. Karl hat einen sehr unregen schlaf steht des Nachts 
sehr fıel auf wenn Neues nicht eintritt, auch wird Er im Tage so Unruhig 
er freut sich denn so über was und alles was er denn macht so schnell und 
so forsch, alls wenn Ihn etwas jagt. Und hierauf ist Er denn immer ver- 
schwunden. sonst ist aber gehorsam und fleißig. ... . - « 

Antwort der Anstalt 13. August 1917. 

«Ihrem Sohn Karl geht es hier gut, abgesehen von einem mißlungenen 
Entweichungsversuch führt er sich hier hausordnungsmäßig, er soll wegen 
der beschriebenen Krankheit vom Arzt untersucht werden (Ergebnis der ärzt- 
lichen Untersuchung war in den Akten nicht enthalten). 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 391 


Mehrmaligen Ritten der Eltern um versuchsweise Entlassung nach 
Hause und Unterbringung in Lehre werden nicht stattgegeben, stets mit der 
Begründung, daß der Zweck der F.E. noch nicht erreicht sei, oder daß Karl 
sich erst, nachdem er aus der Anstalt eigenmächtig entwichen sei, zufrieden- 
stellend führen müsse, 

18. September 1918 wird Karl wegen schweren Diebstahls zu 3 Wochen Ge- 
fängnis verurteilt. Strafaussetzung wird bewilligt. 

November 1918 wird er versuchsweise auf eine ländliche Arbeitsstelle ge- 
schickt, läuft fort, bekommt einen Anfall, wird aufgegriffen und wegen Dieb- 
stahls in Untersuchungshaft genommen (Ausgang dieses Verfahrens nicht be- 
kannt). 

März 1919 wird er erneut in eine Arbeitsstelle untergebracht, läuft fort 
(näheres in den Akten nicht enthalten). 

Mai 1919 Unterbringung in Schneiderlehre, läuft weg, der Meister bittet, daß 
er wieder zu ihm zurückgebracht werden möge, da er sich so gut bei ihm 
geführt habe. 

Oktober 1919 widerruflich entlassen. 


2. Juli 1920 Unterbringung des Jungen in einer Provinzial-Erziehungsanstalt 
für Epileptische durch Hp. B. als F.E.-Zögling. Der Junge fühlt sich dort sehr 
wohl, weil Rücksicht auf seinen krankhaften Zustand genommen wiid, trotzdem 
er darunter leidet, daß er F. E.-Zögling ist. 

25. August 1920. Besuch des Jungen durch Hp.B. Er ist gern in der An- 
stalt, lernt die Schneiderei. Hatte 4 echte epileptische Krampfanfälle. 

4. März 1921 Hausbesuch bei den Eltern durch Hp. B. 

Die Mutter berichtet, Karl sei am 12. September 1920 aus der Anstalt fort- 
gelaufen, am 8. November hat er aus Bielefeld geschrieben, er wolle nicht in die 
Anstalt zurück, er schäme sich so, weil er Fürsorgezögling sei.') 

ı) Hierzu sei ein späterer Brief des Jungen wörtlich mitgeteilt: Liebe Eltern. 
Ich muß Euch doch wohl paar Zeilen schreiben, wie es mich geht, es geht mir 
ganz gut bloß ich mach mir so viele Gedanken über Euch. Ich habe keine Ruhe 
Tag noch weder Nacht ich nem mich so viel zu Kopf, das ich mich vor Kummer 
und Gram das Leben nehmen wollte aber dabei verhindert wurde, und streng be- 
obachtet wurde. Liebe Eltern es dürft es mihr nicht für übel nehmen, wie ihr 
wißt ja das ich Euch sehr so viel Kummer und sorgen bereitet habe das ich Euch 
bald in die Erde reingebracht habe, und ihr habt mihr alles wieder verzeit nicht 
war? Und noch eins da ich doch schon seit den l13ten Lebensjahre in die Anstalt 
bin und noch nich wieder auf freien Fuße gekommen bin. Wenn ich die ganze 
Jugend zeit in der Anstalt soll verleben dann werde ich direkt wahnsinnig und 
komme auf keine andern Gedanken. Denn Ausrücken “as will ich nicht mehr, 
denn das hat ja kaum Zweck, nicht war denn sonst in die Welt geht man ja ent- 
lich zu Grunde. da habe ich ja von mihr selbst erfahren. 

Liebe Eltern! Ich möchte Euch doch höflich bitten das ihr noch einmal ver- 
suchen würdet mich aus der Anstalt rauszuholen, denn es ist doch nicht schön, 
wenn man die ganze Jugend in der Anstalt verleben soll. Also da ich doch über 
zwei Jahre in D. in der Austalt war, da war ja überhaupt das wißt ihr ja und das 
andere soll ich jetzt hür verbüßen. Ach großer Gott erbarme dich über mich. 
Liebe Eltern! komt doch Mittwoch den 8. Juli bestimt besuchen ihr wißt doch es 
sind vier Wochen wieder rum nicht war? bringt mihr doch auch was zu Rauchen. 


392 R. v. der Leyen: 


Kurz nach seiner Ankunft in Bielefeld, Mitte September 1920 habe er einen 
Krampfanfall auf der Straße bekommen, babe 4 Wochen dann im Krankenhaus ge- 
legen. Seitdem habe er in Bielefeld gearbeitet. Mitte November 1920, kommt Karl 
zu Fuß nach Hause zurück, hat sich auch unterwegs stets Gelegenheitsarbeit 
gesucht. Ende November 1920 erneutes Fortlaufen des Jungen er ist bis zum 
14. April 1921 fort, wird aufgegriffen und in die Provinzial-Erziehungsanstalt für 
Epileptische zurückgeführt. 

Am 19. August 1921 wird er aus äußeren Gründen in eine städtische Anstalt 
für Epileptische als F. E.-Zögling überführt, fühlt sich sehr unglücklich unter den 
schwerkranken Leuten, leidet unter der Beschäftigungslosigkeit, unter dem häufigen 
Anblick der schweren Anfälle von Mitpatienten. Der Arzt selbst hielt seine Unter- 
bringung dort nicht für das Richtige. 

15. September 1921 Termin vor dem Jugendgericht wegen Einbruchsdiebstahl, 
begangen im November 1920 an einem Untermieter der Mutter. Urteil: Freispruch 
aus $ 51 St. G. B. 

5. Oktober 1921. Auf Antrag der Hp. B. beim J.A. [versuchsweise Entlassung 
zu den Eltern und Unterbringung in Lehre, »da eine erzieherische Einwirkung auf 
das Fortlaufen Ks., weil krankhaft, nicbt in Frage komme, und er unter der An- 
staltsunterbringung so leide«.] 

Bei einem Hausbesuch am 9. April 1922 durch Hp. B. erzählt die Mutter, daß er 
bereits im November 1921 nach eınem Anfall unter Mitnahme von Anzügen nach 
Bielefeld gelaufen sei, dort habe er die Anzüge, um leben zu können, verkauft und hat 
dann mehrere Monate in Bielefeld gearbeitet. In Bielefeld wurde er, nachdem er auf 
der Straße einen Anfall bekommen hatte, nach Bethel gebracht, blieb dort aber nur 
l Tag. In Bielefeld wurde er auf Veranlassung des J. A. vom Heimatsort auf- 
gegriffen und durch die Polizei dem Heimatsort wieder zugeführt. (Februar 1922.) 
Gleichzeitig schreibt das J. A. an die Eltern, daß die versuchsweise Entlassung des 
Jungen zurückgenommen werden müsse, »da sich der Zögling des Vertrauens nicht 
würdig gezeigt habe«. 

13. Januar 1923. Hausbesuch durch Hp. B. Die Mutter erzählt, Karl sei im 
April 1922 nach C. gefahren unter Mitnahme von 8000 M, bekam einen Anfall, 
wurde dort in eine Anstalt gebracht, wo er mehrere Monate war. Im September 
1922 kehrt er dann nach Hause zurück, wohnte in einer Herberge, aß zu Hause. 
Einmal kam er (Bericht der Mutter an Helferin) nicht zu Tisch, gab auf Befragen 
an, er wisse selber nicht wie das käme. Er sei abends ganz zeitig ins Bett ge- 
gangen, plötzlich morgens um 4 hätte ihm jemand »Halt« zugerufen, und als er sich 
umguckte war er ganz alleın im G.. wald. 

Die Mutter erzahlte der Helferin, Karl habe furchtbare Angst gehabt, wieder 
in eine Anstalt zu kommen. Besonders habe ihn der Ausdrnck »Zöglinge immer 
sehr gekränkt, er sei kein Zögling, denn er habe doch nichts verbrochen. Für die 
Krankheit könne er doch nichts, er würde ja, wenn es an ihm läge, gern ein guter 
Mensch werden ... Er ist dann zum Termin wegen Diebstahls von 8000 M ge- 
laden worden. Er ist freigesprochen worden und sollte in eme Erziehungsanstalt 


mıt, denn mihr rauchert so sehr, bringt mihr auch etwas etwas Schreibpapier und 
was zu Essen mitt. 

Jetzt werde ich schließen in der Hofnung, das ihr alle noch gesund seit. Das 
andere alles mündlich bis auf den Mittwoch den 8. Juli. Ich erwarte Euch für be- 
stimmt. Nun seid alle herzlich gegrüßt und geküßt von Euren Sohn Karl. 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 393 


kommen. Karl wurde gesagt, er käme nur in ein Waisenhaus. Bei der Abholung 
am 2. Dezember 1922 ging er ganz gutwillig mit. Die Mutter bekam dann gleich 
einen sehr unglücklichen Brief von ihm, or sei doch in eine F. E.-Anstalt gekommen 
und sei hingebracht worden wie ein Verbrecher, an jeder Seite einen Beamten. 

Karl habe sich dann dort ganz wohl gefühlt. Er wurde Weihnachten urlaubs- 
weise nach Hause entlassen, lief von zu Hause weg, kam nach kurzer Zeit von 
selbst zurück. Bis April 1924 war er zu Hause, lief weg, wurde von der Polizei 
aufgegriffen und erneut der F.E.-Anstalt zugeführt. 


Trotzdem Gerichte und F.E.-Behörden von immer neuer Seite 
auf das krankhafte Verhalten Karls und auf die Unmöglichkeit der 
Beeinflussung des Jungen durch irgend welche erzieherischen Maß- 
nahmen hingewiesen werden, der Jugendliche sich auch außerhalb: 
seiner Dämmerzustände gut führt und fleißig arbeitet (auch auf seinen. 
Wanderfahrten), wird sein Verhalten stets, wie das aus den Beschlüssen 
und Maßnahmen und der immer erneuten Unterbringung in F. E.-An- 
stalten ersichtlich ist, als schuldhaft hingestellt und gewertet. 


4. Elisabeth C. Geboren am 24. Februur 1912, illegitim. 

Ȇberwiesen vom Schularzt an die Hp. B mit folgendem Vermerk: 

»Bei Elisabeth C. zeigt sich ein Mangel an höheren Gefühlen, Hypersexualität,. 
Gefräßigkeit, Einschmutzen, perverse Instinkte. Notwendig scheint vor allem An- 
regung zum Spiel, Schaffung von Interessen im Zusammenleben mit anderen Kindern.. 

28. Februar 1922, 

Elisabeth kommt mit der Mutter in die Hp. B. Die Mutter gibt folgendes aus 
der Vorgeschichte an: Elisabeth ist illegitim geboren. Sie war zunächst bei der 
Mutter, kam dann ins Waisenhaus. Von dort wurde sie in Pflege gegeben, wo sie: 
von 1913—1920 war. Pflegemutter und Kind hingen sehr aneinander. Die Pflege- 
mutter möchte auch jetzt das Kind wieder zu sich nehmen. Klagen kamen nur in 
Bezug auf Einnässen und Einschmutzen. 1919 heiratete die Mutter (nicht den Er- 
zeuger des Kindes) und verschwieg ihrem Manne zunächst die Existenz des Kindes; 
erst 1920 durfte Elisabeth zur Mutter und zum Stiefvater kommen. Sie war nur 
kurze Zeit dort, habe damals sehr viel eingeschmutzt. gelogen, genascht und sehr 
viel Schläge dafür bekommen; sie kam dann zurück zur Pflegemutter. Seit Weih-- 
nachten 1921 ist sie wieder bei der Mutter. 

Jetzt klagt die Mutter darüber: Elisabeth gehorche ihr nicht, sei sehr empfindlich, 
wenn man sie schlage, verbocke sofort, sei mäklig im Essen, sehr empfindlich an 
der Haut (Elisabeth hat am Hals einen roten Streifen vom kratzenden Kleid). Am 
Oberkörper hat sie ein paar blaue Flecke, die darauf hindeuten, daß man wohl nicht 
allzu sanft mit ihr verfährt. Sie macht einen körperlich zarten, schwächlichen 
Eindruck, ist während der Erzählung‘der Mutter sehr still und verschüchtert (viel- 
leicht verbockt?), Die Mutter drängt darauf, das Kind los zu werden, ohne indessen 
etwas zahlen zu wollen. Aufnahme auf der Beobachtungsstation für psychopathische 
Kinder wird in Aussicht genommen. 

4. März 3922. Hausbesuch durch Hp. B. 

Herr C. macht einen bescheiden, ruhigen und verständigen Eindruck. Beide 
Eltern sind in großer Aufregung, haben gestern Strafantrag gestellt gegen den 
Schwager der Pflegemutter Elisabeths, der sich eines Sittlichkeitsverbrechens an 
Elisabeth schuldig gemacht haben soll. Elisabeth hat jetzt plötzlich ihren Eltern. 


394 R. v. der Leyen: 


‘erzählt, daß er sich viermal an ihr vergangen habe. Sie habe den Vorgang bis in 
alle physiologischen Einzelheiten erzählt, so daß angenommen werden müsse. daß sie 
‚die Sache nicht erfunden babe. Die Sache liege über 1 Jahr zurück. Sie habe es 
vorher nicht erzählt, weil ihr der Mann gesagt habe, daß sie nichts sagen solle, 
‚auch wohl weil sie sich schämte. Elisabeth sei seit diesem Ereignis sexuell völlig 
übersteigert. Mutter und Stiefvater geben an: Schamgefühl habe sie jetzt überhaupt 
nicht mehr, sie erzähle allen Leuten davon, wolle es auch einem 13jährigen Jungen 
erzählen, habe auf der Polizei frank und frei ausgesagt bis ius einzelne. Es sei so 
:schön gewesen, der Onkel solle es wieder mit ihr machen. Jetzt stehe sie oft 
:bettelnd vor ihrem Stiefvater, er solle es mit ihr tun, wenn er nicht wolle, ginge 
'sie eben zum Onkel. Sowie Elisabeth auf der Straße sei, stelle sie sich mit auf- 
‘fordernden Bewegungen, einen Stock zwischen den Beinen, vor fremde Männer hin. 
Danach gefragt antworte sie, der Mann soll es mit mir tun. Elisabeth onaniere 
‚außerordentlich stark, auch am Tage, sowie sie unbeobachtet sei, bleibe endlos auf 
der Toilette, habe in alle ihre Hosen Löcher gerissen. Ihre Perversität äußere 
‚sich auch in bezug aufs Schlagen, sie wolle geschlagen werden, rufe es hervor 
durch Unarten und zwar lieber vom Vater als von der Mutter, weil er es besser 
‘könne, und weil er so schöne Muskeln habe. Das Schlagen tue ihr so wohl und 
davon gehe auch das Kribbeln fort. Elisabeth reize ihre Eltern absichtlich, freue 
sich, wenn es ihr gelinge, schmeiße das Essen in die Stube, esse unmäßig viel, 
wenn es ihr schmecke, dann wieder gar nicht. Schmutze absichtlich ein; wenn die 
Mutter ihr dann die kotige Hose vor die Nase halte, sage sie, »>das riecht doch 
schöne. Wenn sie wütend sei, so balle sie die Fäuste, zische zwischen den 
‚Zähnen.!) 

25. März 1922. Bericht des Vormunds, der von Elisabeth, die er seit Weih- 
nachten kennt, einen guten Eindruck hat. Sie fertige ihre Hausarbeiten gut und 
-sauber an, spiele gern mit anderen Kirdern (nach Berichten von Hausbewohnern und 
Hausverwalter an den Vormund), sei immer artig und folgsam. Er glaube, daß die 
Mutter das Kind gern los sein möchte. 

31. März bis 31. Mai 1922. 

Elisabeth ist auf der Beobachtungsstation. Aus dem Bericht der pädagogischen 
Leiterin: Elisabeth ist anfänglich verschüchtert, freudlos, äußerlich unsauber, 
schmuddlig, am Körper ganz vernachlässigt und verwahrlost, ausnehmend ‚stark ver- 
laust, hat ein Läuseekzem am ganzen Körper. 

Sie verrichtete auf der Station zunächst still, geschickt, gesehen und 
freudig die Arbeiten, die sie von früher (offenbar aus der Pflegestelle) kannte 
Schularbeiten, Handarbeiten, häusliche Arbeiten). Erst danach zeigte sie Interesse 
-am Spielen; sie wird dabei lebhaft und phantasievoll, ist Erwachsenen und Kindern, 
Mädchen wie Jungen gegenüber unaufdringlich, unbefangen, ganz ohne Koketterie, 
zeigt sich psychisch und körperlich sehr empfindsam, ist leicht verträglich. In ihrer 


1) Gegen den betreffenden Täter schwebte ein Ermittlungsverfabren wegen Sitt- 
lichkeitsverbrechens gemäß § 176, 3, St. G. B. das wegen mangelnder Beweise ein- 
gestellt wurde. Nach dem Untersuchungsbefund in der Frauenklinik »kann ein 
regelrechter Geschlechtsverkehr nicht in Frage kommen. Die Möglichkeit onanistischer 
oder beischlafsähnlicher Handlungen bleibt bestehen«. Nach dem auf Anfrage der 
Staatsanwaltschaft erstatteten Gutachten des leitenden Arztes der Beobachtungs- 
station »wurden keine Momente gefunden, die die Glaubwürdigkeit der Angaben des 
Kiudes anders beurteilen ließen als sonst den Wert kindlicher Zeugenaussagen«. 


— 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 395 


Arbeit während der ganzen Zeit unermüdlich und zuverlässig. Sie erholte sich zu- 
sehends körperlich, veränderte sich im Ausdruck auffällig. 

Anfang Mai 1922 heißt es wörtlich: 

»sie ist ein natürliches, liebreizendes und empfindsames Mädchen, tanzt mit 
natürlicher Anmut Volkstänze, ohne sich dessen bewußt zu sein.« 

Sie schlief gut und ruhig, onanierte die ersten Nächte regelmäßig, näßte auch 
in den ersten Wochen das Bett; mit Flüssigkeitsbeschränkung, dreimaligem Auf- 
nehmen mit Wachmachen dabei, gelingt es, das Einnässen ganz fortzubringen. 

Gutachten des leitenden Arztes der Beobachtungsstation: Über Vorgeschichte 
und Verhalten auf der Station vgl. S. 393 u. 394. 

»Elisabeth erzählte ohne Aufforderung, und ohne daß es weiterer Ermunterungen 
dazu bedurfte, völlig hemmungslos den Hergang der sexuellen Erlebnisse mit allen 
Einzelheiten. Sie erzählt auch, daß sie auf der Straße fremde Männer angesprochen 
und sie gebeten hätte, es mit ihr zu machen wie der Onkel. Ferner gibt sie an, 
sie lasse sich gern vom Vater schlagen, weil er so schöne Muskeln habe.?) 

Alle diese Angaben werden ruhig und in sachlichem Tone gemacht, sie ist 
dabei trotz ihrer Hemmungslosigkeit ım ganzen durchaus bedrückt und weinerlich 
und bleibt dabei, daß alles wahr sei. Körperlich ist sie gesund, aber schwächlich 
gebaut. Hier erwies sie sich von vornherein als leicht einfüglich und zeigte nach 
kurzer Zeit ein heiteres und freundliches Wesen. Auf ihre sexuellen Erlebnisse 
kam sie in keiner Weise mehr zurück, onanierte nur wenig und ließ das Bettnässen 
unter dem Einfluß suggestiver Behandlung nach kurzer Zeit. Intellektuell ist sie 
ihrem Alter entsprechend entwickelt. Die Hausermittlung der Hp. B. hat ergeben, 
daß die häuslichen Verhältnisse sehr ungünstig sind, es besteht demnach die 
dringende Gefahr der Verwahrlonsung des Kindes, da die Erinnerung an die ge- 
schiechtlichen Vorkommnisse sicher nur zurückgedrängt ist und in der entsprechen- 
den Umgebung sofort wieder aufleben würde. Es ist daher notwendig, das Kind 
für längere Zeit aus ihrer früheren Umgebung zu entfernen und durch geeignete 
pädagogische Maßnahmen in ihr die nötigen Hemmungen zu entwickeln.« 

Elisabeth wurde in einem Heim unter normalen Kindern bei einem sehr ver- 
ständnisvollen Leiter untergebracht, sie entwickelt sich gut, es kommen bis 1924 
keinerlei Klagen über sie. 


Der Fall wurde dargestellt, ohne daß ich dazu Stellung nehmen 
möchte, ob die sexuellen Erlebnisse Tatsache gewesen sind oder nicht. 

Das empfindsame Kind kam mit allen Zeichen äußerer Verwahr- 
losung in erheblichem Maße gefährdet und sexuell augenscheinlich 
überreizt auf die Station. Es gelang durch heilpädagogische Maß- 
nahmen: Anleitung zu Beschäftigungen, die ihr Freude machten, An- 
halten zu Sauberkeit, Ruhe, Regelmäßigkeit, die sexuelle Überreizt- 
heit des Kindes »zurückzudämmen«, (vgl. Gutachten des die Station 
leitenden Psychiaters). Das sexuelle Erlebnis wird vei der künftigen 
Erziehung des Kindes nicht als Grundlage genommen oder in den 


1) Die pädagogische Leiterin der Beobachtungsstation schreibt in ihrem Bericht 
wörtlich: »Elisabeth ist gern hier, sie sagt ganz spontan beim Gutenachtsagen ‚hier 
ist es schön‘ (warum?) ‚hier sind alle so gut, zu Hause bekomme ich immer Haue‘ 
(das hast du doch gern?), ‚früher ja, weil es das Herz reizte, jetzt nicht mehr‘.« 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 27 


396 R. v. der Leyen: 


Vordergrund der Betrachtungsweise gerückt, sondern es wird bei 
ihrer weiteren Erziehung nur ibre psychische und physische ge- 
steigerte Empfindsamkeit berücksichtigt. 


5. Gertrud N. Geboren am 13. April 1906, illegitim. Mutter verheiratet, 
aber nicht mit Erzeuger des Kindes. 


Mai 1922 Überweisung durch J. A. an Hp. B. 
Aus den Akten des J.A. 


Gertrud ist beim J. A. seit März 1921 bekannt. Es war Anklage gegen 
sie wegen Diebstahla von 2 Paar Stiefeln, Bett- und Leibwäsche erhoben 
(Urteil 2 Wochen Gefängnis, Strafaufschub). 

14. 6. 1921: Ermittlungsbericht des J. A.: 


Gertrud und ihre ältere Schwester sind illegitim geboren. Der Mann 
der Mutter läßt sie ihre uneheliche Geburt entgelten. Die Eltern leben in 
Unfrieden. Häuslichkeit sauber, Mutter außerhäuslich beschäftigt. 

Gertrud ist in der Schule aus der 1. Klasse entlassen (März 1920): 
Fächer gut und sehr gut, Betragen gab zu Tadel keinen Anlaß. Dagegen 
Bericht der Schule zum Termin (Juli 1921 [!!]): Gertrud macht unaufrichtigen 
Eindruck, soll raffiniert beim Stehlen vorgegangen sein. 

5. Dezember 1921: Bericht des J. A. 

Gertrud arbeitet regelmäßig, Mutter nimmt es ernst mit der Erziehung. 

10. Dezember 1921: Ermittlung des J. A. 

Gertrud arbeitet seit 14 Tagen (!) nicht mehr. Es war nicht fest- 
zustellen, wo sie während der arbeitslosen Zeit sich aufgehalten hatte. Von 
Mutter in Schutzhaft gebracht, wurde von dort einem Mädchen-Schutzhaus 
überwiesen. J. A. erfährt, daß Mutter früher wegen Mißhandlung des Mädchens 
angezeigt war. Eine Nachprüfung damals ergab erhebliche Prügelspuren 
bei G. Die Mutter gab übermäßige Züchtigungen zu. 

15. Januar 1922: Gertrud wird von der Mutter wieder aufgenommen. 

4. Februar 1922: Gertrud hat der Mutter Schmucksachen genommen, gesteht ein: 
Die Angst vor der Mutter, die sie blutig geschlagen habe, mache sie sinnlos, 
sie sei deswegen eine Nacht von Hause weggeblieben. Die Mutter wünscht 
F.E. Maßnahmen des J. A.: Unterbringung in Schlafstelle. 

Aufang März 1922: Gertrud wird in einer Dienststelle untergebracht (sie soll in 
der Schlafstelle Schuhe und Strümpfe genommen haben). 

Ende März 1922 wird Gertrud aus der Stelle entlassen, »war zuerst willig, dann 
patzig, trug angeblich Strümpfe der Frau«e. (Angaben des J. A.) 

Mai 1922: Unterbringung in Schutzhaft durch Mutter, Gertrud soll ihr Kleidungs- 
stücke in beträchtlichem Wert gestohlen haben. Bei der Vernehmung gibt 
die Mutter an: Gertrud selbst habe sich nach ihrer Entlassung aus der Dienst- 
stelle eine Schlafstelle gesucht, habe vom 6. April bis 6. Mai gearbeitet und 
habe sich in der Schlafstelle als »Schneiderin« und »Tochter eines Rechts- 
anwalts« ausgegeben. 


25. Mai 1922: Erster Besuch Gertruds in der Hp.B. auf Veranlassung des 
J.A. Aus dem Protokoll: Gertrud gibt an, öfter »Anfälle« gehabt zu haben. »Es 
sei ihr vorher immer so schwer zu Mute gewesen, als würde sie weinen.« Sie sei 
viel mißgestimmt. Habe sich aus der Schlafstelle zur Mutter gesehnt, mit der sie 


Fünf Fälle von » Verwahrlosung«. 397 


(trotz illegitimer Geburt) von klein auf immer zusammen gelebt habe. Gertrud 
macht einen matten, energielosen Eindruck, so als ob sie keine Freude mehr habe, 
als lasse sie sich nur vorwärts schieben. 

Sie hat ein anmutiges Gesicht, wirkt sonst schwerfällig, sieht ordentlich und 
sauber aus; die sehr gepflegten Haare fallen auf. 

Gertrud macht einen verschlossenen, feinen, über ihr Alter reifen Eindruck. 

26. Mai 1922: Überweisungsschreiben des J. A. an Poliklinik für Nervenkranke: 
mit der Bitte um Äußerung. ob Gertrud für ihre Straftaten verantwortlich gemacht 
werden könne.« »Gertrud vergreift sich fortgesetzt an fremdem Eigentum, wenn der 
Diebstahl herauskommt, zeigt sie ein verstocktes Wesen, macht lügenhafte Angaben 
erfindet oft die merkwürdigsten Geschichten. Die Diebstähle werden raffiniert aus- 
geführt. Kommt man ihr freundlich entgegen, ist sie willig, zuvorkommend, tut 
jeden Gefallen, verspricht, sich zu bessern. Dieser Zustand hält aber nicht lange 
an. Sie veıträgt nicht den geringsten Tadel, ist sehr leicht gekränkt und verfällt 
dann wieder in ihren Fehler: Lügenhaftigkeit und Unehrlichkeit. Die Mutter macht 
Gertrud überall schlecht, schildert sie als vollständig verlogen, durchtrieben, ver- 
kommen. Ihre Angaben sind mit Vorsicht aufzunehmen.« 

Aus der poliklinischen Untersuchung (bei der keine Angehörigen anwesend waren). 

»Es handelt sich um ein empfindsames, psychisch zartes Mädchen, mit starker 
Affekterregbarkeit, auf die die Häuslichkeit mit ihrem Unfrieden, sowie der Mangel 
an Erziehung ungünstig eingewirkt haben«. Hinzu kommt ihre Verschlossenheit, die 
wohl auch durch die Verständnislosıgkeit, mit der man ihr bisher entgegenkam, ge- 
steigert worden ist, und die sie auf Grund ibrer Empfindsamkeit besonders stark 
empfunden hat. Bei den dreimaligen geschilderten »Krämpfen« handelt es sich 
wohl um psychogene Anfälle, die jedesmal durch einen Affekt ausgeiöst wurden, 
Entfernung von zu Hause, Unterbringung in einer nicht wertenden, liebevollen Um- 
gebung, in einem Berufe, der Gertrud Freude macht, eine zeitweilige Behütung vor 
dem Kampfe des Lebens ist erforderlich. 

10. Juni 1922: Unterbringung in einem auswärtigen Heilerziehungsheim durch 
Hp. B. als Hilfe im Haus. 

14. Juni 1922: Bericht aus dem Heim: 

Gertrud scheint sich hier schnell einzuleben. 

22. Juli 1922: Brief Gertruds an Hp. B. Sie gibt ihrer Freude über die schöne 
Gegend lebhaften, wiederholten Ausdruck, hofft sich gut einzuleben. Zur Begründung 
ihrer früheren Verfehlungen schreibt sie: »hätte mir Mutti nur meine Sachen ge- 
geben, aber so hat sie mir heraus in die Fremde gejagt, ohne daß ich etwas hatte« 
und der Schluß des Briefes heißt: »also ich brauche doch so nötig meine Wäsche. 
Nun bin ich in ein feines Haus gekommen, und ich habe nichts vernünftiges an- 
zuziehen. Würden Sie mal persönlich zu Mutti gehen und um meine Sachen bitten ? 
Ich bin schon mit Widerwillen hierher gefahren deswegen.« 

29. August 1922: Aus einem Brief der Heimleiterin: 

Hier hat das Mädchen schon sehr oft gestohlen, hat Namen aus Wäsche ge- 
trennt usw. 

4. September 1922. Aus einem Bericht der Heimleiterin: 

Gertruds Sachen sollen noch bei der Mutter sein (sehr vielfache Nach- 
forschungen danach vom J.A. und Hp.B. waren ergebnislos geblieben). Das 
Mädchen hat kaum einen Fetzen anzuziehen, sie sagt, daß die Mutter alle ihre 


guten Sachen nicht herausgebe. 
27* 


398 R. v. der Leyen: 


7. September 1922. Aus einem Brief der Heimleiterin: 

Gertrud ist furchtbar schwierig, aber vielleicht kriege ich sie doch noch, sie 
hat uns schon elend bestohlen. 

1. Oktober 1922: Besuch bei Gertrud im Heim durch Hp.B. 

»Gertrud klagte nicht, hat sich mit den Kindern angefreundet, war bedrückt, 
weinte wegen ihrer Sachen.« 

6. Oktober 1922. Ermittlungsbericht durch Hp. B. bei der Mutter: »ich habe 
Gertruds Brief (der die Herausgabe ihrer Sachen betraf) der Mutter abgegeben, 
leider machte er durchaus nicht den von uns erhofften Eindruck. Frau N. bestreitet, 
noch irgend welche Bachen ihrer Tochter im Hause zu haben, im Gegenteil sie 
meint, daß Gertrud noch von ihr Sachen mitgenommen hat. Das beim Vormund- 
schaftsgericht von G. vorgezeigte Verzeichnis der Sachen ist nicht wahrheitsgemäß, 
so hat Gertrud z. B. nie einen eigenen Koffer besessen, er gehört dem Stiefvater. 
Eigene Wäsche soll sie nicht haben, Strümpfe nur von der Mutter getragen haben. 
Frau N. spricht in sehr erregtem Tone, als sie von Gertrud erzählt. Geld und ein 
goldenes Armband fehlen ihr ebenfalls, »nie würde ich sie wieder im Hause auf- 
nehmen, sie soll sehen, wie sie durchkommt.« Seit Gertrud fort ist, soll auch das 
Verhältnis zu ihrem Manne besser geworden sein. 


4. Dezember 1922: Brief der Heimleiterin: 


. Gertrud versprach hoch und heilig, sich zu bessern, stiehlt aber mit einer 
Dreistigkeit weiter, die jeder Beschreibung spottet. Wenngleich ich ihr immer 
wieder Sachen zum Tragen gebe, nimmt sie wieder und wieder Sachen der Kinder 
und trägt sie nicht nur, sondern verdirbt sie vollständig. Zuerst schneidet sie den 
Namen heraus, daß große Löcher entstehen, dann trägt sie sie, bis sie zu Fetzen 
zerfallen und schließlich verbrennt sie die Reste. Ich muß sie also zum 15. Dezember 
von uns fortschicken. Sie täten gut, sich nicht allzu sehr weiter um sie zu be- 
mühen. Ich betrachte den Fall als ganz hoffnungslos, das Mädchen endet im Ge- 
fängnis oder auf der Straße. Sie lügt mit einer solchen Unverschämtheit, daß ich 
selten Ähnliches gesehen habe. Ein Zeichen ihrer Dreistigkeit ist auch das: sie ist 
eine gräßliche Bettnässerin, sie ist zu faul, aufzustehen und will nicht aus dem Bett, 
wenn die anderen sie wecken. Neulich hat sie ein gutes Wollcape von großem Wert 
vollständig verdorben, sie hat es unter sich gehabt und mehrere Nächte hindurch 
vollständig naß gemacht, und es auch vollständig zerfetzt. So nahm sie zu solchem 
Zweck schon wiederholt Mäntel der Kinder und gestern unsere wollenen Bügeldecken. 

15. Dezember 1922: Rückkehr nach dem Heimatsort. 

16. Dezember 1922: Hp. B. veranlaßt Unterbringung in der psychiatrischen 
Klinik zur Beobachtung, >um festzustellen, woran das starke Einnässen und das 
dauernde Stehlen des Mädchens liegee.. Inzwischen war auf Grund der früheren 
Vorkommnisse ein Beschluß auf vorläufige Unterbringung (zur F. E.) ergangen. 
Die Hp.B. stellte an das J. A. den Antrag, Sormaq in Ausführung dieses Beschlusses 
in der psychiatrischen Klinik zu belassen. 

18. Februar 1923. Zusammenfassendes Ergebnis der Beobachtung in der 
psychiatrischen Klinik: 

»Die Beobachtung hat ergeben, daß es sich um ein schwer psychopathisches 
Mädchen handelt mit ausgeprägten pathologischen Stimmungsschwankungen nach der 
depressiven Seite. Daneben besteht bei Gertrud eine gesteigerte psychische und 
plıysische Empfindlichkeit und eine Neigung zu phantastıschen Lügen.« 

Nach Auffassung des Arztes war das asoziale Verhalten Gertruds auf ihre 
psychopathische Konstitution, vor allem auf ihr depressives Wesen zurückzuführen. 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 399 


Der Arzt wünschte bei Gertruds Entlassung nicht ihre Unterbringung in eine F. E.- 
Anstalt (da es kleine F. E.-Anstalten für schwer psychopathische Mädohen nicht gibt), 
sondern will den Versuch mit Gertruds Unterbringung in einer Lehrstelle machen. 
Im Einverständnis und auf besonderen Wunsch des Arztes wird Gertrud durch die 
Hp. B. in einem Hospiz am gleichen Ort zum wohnen untergebracht und ihr eine 
Bürostelle vermittelt (zum 1. 4. 23), damit die Hp. B. in dauernder Fühlung mit ihr 
bleiben und eingreifen könne, falls eine Verschlechterung ihres Zustandes eintreten 
sollte. Beim J. A. wurde der Antrag auf Bestellung einer heilpädagogisch geschulten 
»Fürsorgerin« gestellt, dem entsprochen wurde. Vor Entlassung aus der Klinik 
wird Gertrud auf Veranlassung der Hp. B. durch das J. A. eine Ausstattung mit 
Stiefeln, Kleidern und Wäsche verschafft; es fällt auf, wie sauber Gertrud die 
Sachen für sich passend macht und einzeichnet. 


13. April 1923. Bericht der Fürsorgerin: 


»Anläßlich Gertruds Geburtstagsfeier, an der ihre Büroleiterin teilnahm, sprachen 
wir über Gertruds gutes Einleben in ihrer Arbeit. Gertrud war glücklich über das 
Lob, umarmte die Bürovorsteherin, was bei ihrer Zurückhaltung besonders auf- 
fällig war, war überhaupt ganz hemmungslos, machte sich z. B., während sie mit 
der Bürovorsteherin sprach, das Strumpfband an.« 

Spätere Erkundigungen in der Lehrstelle ergaben: »man habe noch nie ein so 
williges und fleißiges Lehrmädchen gehabt; sie mache unaufgefordert alles, was sie 
sehe, das zu machen sei.« Gertrud hat Gänge zu erledigen, Besorgungen zu machen, 
hat mit Geld umzugehen, ist pünktlich und durchaus zuverlässig und ehrlich. 

»16. April 1923 erschien Gertrud abends um ?/,7 Uhr in der Hp. B., nieder- 
geschlagen, was sich auch in ihrer Haltung ausdrückt. Rie spricht stockend, dabei 
immer unruhig und häufig mit der Hand an der Stuhllehne hin- und herfahrend. Sie 
getraue sich nicht ins Heim zurück, weil ihre Mutter heute früh dort bei Frau Oberin 
war. Sie habe doch solche Angst. wie Frau Oberin zu ihr sein werde, nach alle 
dem, was ihre Mutter über sie erzählt habe.« Nach telephonischer Rücksprache des 
Hp. B. mit dem Heim heißt es weiter: »wie ich wieder herauskomme, sitzt Gertiud 
weinend und schiuzend da.« 

26. April 1923. Sie kommt zur Hp. B. wegen Abschluß des Lehrvertrages. 
Sie erzählt, sie sei nicht sehr gern im Heim, »sie möchte sich mit jemandem unter- 
halten können, und es sich behaglich machen, Bilder aufhängen z. B., aber das ist 
da verboten. Sie habe auch ihre Sachen noch alle im Karton unverschlossen«. Ihr 
überlebhaftes, ungehemmtes Wesen fällt auf. 

30. April 1923. Telephonischer Anruf Gertruds bei der Fürsorgerin in deren 
Abwesenheit. Sie weint und schluchzt »es sei etwas so schreckliches passierte, 
mehr war nicht zu verstehen. Anfrage im Heim ergibt, daß Gertrud bei der Mutter 
angeläutet hat. Diese habe sie beschimpft, daß »Gertrud wie eine Wahnsinnige in 
der Wohnung herumgetobt sei, sich die Haare ausgerissen habe und zum Fenster 
hinausspringen gewollt habe«. Sie wurde sofort in einem Wagen in die psychia- 
trische Klinik gebracht. 

Es folgt nun ein fünfmonatlicher Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik; 
während dessen wird eine sehr enge Verbindung zwischen der Hp. B. und Gertrud 
geknüpft. In dieser Krankheitszeit sind ihre beiden Hauptgedanken: ihre Wäsche 
und ibr Verhältnis zur Mutter. Gerade deswegen ist es so schwer, die oben erwähnte 
persönliche Verbindung mit Gertrud zu knüpfen. »Gertrud betont immer wieder, 
daß wir trotz aller Sorge um sie doch fremde Menschen seien.« Sie ist während 
der ganzen Zeit sehr depressiver Stimmung, liegt Tage und Nächte lang weinend 


400 R. v. der Leyen: 


im Bett, ist gar nicht zum Aufstehen zu bewegen. Sie spricht immerfort von ihrer 
»Schuld«, empfindet die Einstellung eines früheren Strafverfahrens als »ungerecht«, 
wähnte, sie müsse ins Gefängnis, müsse schwarze Wäsche tragen, weıl sie weiße 
nicht verdiene. Diagnose bei der Entlassung: Schizophrenie (?). 

1. September 1923. Unterbringung in Dienststelle bei befreundeter Familie, 
wo sie im Familienkreise aufgenommen wird. Gertrud ist dort eifrig, freundlich, 
ruhig, zuverlässig und sauber, sieht der Dame an den Augen ab, was sie für sie 
tun kann. Sie fühlt sich wohl durch die Verantwortlichkeit ihrer Stellung. Be- 
sonders glücklich ist sie über das eigene kleine Kämmerchen, das sie sich liebevoll 
ausschmückt und eigen hält, wie sie auch an sich selbst stets eigen, gepflegt und 
sauber ist. — In diesem Zusammenhang muß bemerkt werden, daß Gertrud seit dem 
16. Dezember 1922 (1. Einlieferung in die psychiatrische Klinik) nie mehr ein- 
genäßt hat. 

28. September 1923. Nach Zusteliung des endgültigen Beschlusses zur Fürsorge- 
erzıehung an Gertrud tritt ein erneuter Erregungszustand auf, der abermalige Ein- 
lieferung in die psychiatrische Klinik erforderlich macht. 

25. März 1924. 

Entlassung aus der psychiatrischen Klinik. Diagnose: Psychopathische Kon- 
stitution mit ausgesprochenen hysterischen Reaktionen, 

Während dieser Monate in der psychiatrischen Klinik zeigte sich Gertrud oft 
tagelang ganz egozentrisch, hatte keine Einstellung zu ihren Mitpatienten (während 
dann wieder ihr Verständnis und ihre Hilfsbereitschaft für diese auffiel), war dann 
patzig zu den Pflegerinnen, ablehnend zum Arzt und zur Fürsorgerin, so daß ein 
Zusammenleben in einer normalen Gemeinschaft zeitweise unmöglich schien. 

26. März 1924. 

Unterbringung im heilpädagogischen Erholungsheim der Hp.B. als Hilfe im 
Hause. Dies sollte ein Versuch sein, Gertrud einmal für längere Zeit außerhalb der 
Klinik unterzubringen. Seitdem ist sie dort. 


1. August 1924. Bericht der Heimleiterin: 


»G. ist seit dem 26. März 1924 in unserem Heim. Sie fand sich zuerst nur 
schwer unter den Kindern zurecht, sie sind ihr zu laut und zu lustig. Sie findet 
alle ‚frech‘; allmählich beneidet sie sie aber fast um ihre Lustigkeit und tut gern 
mit, aber nie laut, nur durch Ausschmücken der Räume mit Blumen, Auflegen von 
Decken. Sie empfindet stark alles Schöne und ist ausgesprochen dankbar dafür, 
geht, soweit sie sich nicht fürchtet, allein spazieren. Gegen die Kinder ist sie leicht 
gereizt, so daß man sie anfänglich von ihnen fern halten muß. Bei der Hausarbeit 
dagegen ist sie sehr tüchtig, scheuert das ganze Haus, teilt sich die Arbeit selbständig 
ein, sieht wo etwas zu tun ist und tut die Arbeiten, die sie einmal übernommen 
hat, stillschweigend und ordentlich weiter. So hat sie jetzt für die ganze Wäsche 
der Kinder zu sorgen, nimmt selbständig das Verzeichnis der Wäsche der neu- 
ankommenden Kinder auf, zäblt alles für die Waschfrau aus, nimmt die saubere 
Wäsche wieder in Empfang, bessert sie aus und legt sie in die Schränke. Seit sie 
diese Arbeit übernommen hat, fehlt noch kein Stück. Sie sorgt persönlich für die 
Heimleiterin mıt großem Takt und feinem Einfühlungsvermögen. Mit den Kindern 
geht sie allmählich besser um, besonders für die Kleinen sorgt sie sehr nett. Auf 
den Spaziergängen singt sie ihnen kleine Lieder vor, bringt ihnen Verschen bei. 
Besonders pflegt sie die Erinnerung an zu Hause, läßt sich von den Kindern 
Briefchen an die Mutter diktieren, schreibt auch selbst Beruhigungen für die Mutter 
darunter, z. B. ihrom Kinde ginge es gut. man habe es so lieb, aber es vergesse 


Fünf Fälle von »Verwahrlosung«. 401 


doch die Mutter nicht und freue sich auf zu Hause. Gertrud selbst leidet unter 
der Entfremdung zwischen der Mutter und sich sehr, sie schreibt regelmäßig nach 
Hause, ohne je eine Antwort zu bekommen. 

Ihre Depressionen kommen noch häufig, sie kämpft aber sehr dagegen an, 
läßt sich tagsüber selten etwas anmerken, liegt aber nachts oft stundenlang weinend 
im Bett. Sie schreibt kürzlich darüber an die Hp.B. ‚Es macht mich oft so 
kribbelig und verstimmt, neulich abends war wieder alles in mir wie aufgezogen. 
Aber ich hahe so mit Energie gekämpft dagegen. Du kannst es glauben. Obwohl 
wieder tausenderlei Gedanken über mich kamen. Nun ist es aber wieder gut und 
darum fühle ich heute nach dem schön gewesenen Tage, daß ich nichts habe an 
mich herantreten lassen. Es war aber doch anstrengend die Überwindung.‘« 


Mit der Schilderung von Gertruds Entwicklung soll keineswegs 
behauptet werden, daß die Schwierigkeiten, das asoziale Verhalten, 
das fortgesetzte Stehlen und Lügen ein für alle Mal beseitigt 
worden seien. 

Es liegt in der besonderen Art der psychischen Anomalien G.s 
begründet, daß man das fortgesetzte Stehlen von Wäschestücken dadurch 
zum Abschluß bringen konnte, daß man ihr eigene, ihr gehörige und 
passende Sachen verschaffte. Der Gedanke an die Wäsche war eben 
überwertig bei ihr und brachte sie zu den Diebstählen. Als man das 
erkannte konnte ihr geholfen werden. 

Schon von allgemeinerer Bedeutung ist das Bettnässen, das durch 
Psychotherapie (Ruhe, Beseitigung der Reizmöglichkeiten) sowie durch 
die Schaffung eines für das Mädchen behaglichen Zustandes nicht 
mehr auftrat. 

Gertrud wird immer ein Mädchen bleiben, das auf jeden Reiz 
abnorm reagiert, aber die Reaktionsart ist beeinflußbar. — 


Aus der Darstellung dieser 5 Fälle ist zu ersehen, daß ich nicht 
der Meinung bin, daß durch eine andersartige Einstellung zu den ge- 
schilderten Kindern, durch Maßnahmen, die sich der Persönlichkeit 
des Kindes einfügen, deren Wesensart geändert würde. Die Probleme 
von Gefährdung und Verwahrlosung sind zu mannigfach, als daß sie 
so leicht lösbar wären. Ich wollte nur zeigen, daß die Symptome 
von Verwahrlosung (Lügen, Stehlen, Fortlaufen, Herumtreiben) durch 
die oben genannte Art der Behandlung beseitigt werden können. — 


Einen großen Fortschritt für die Einleitung und Durchführung 
von Fürsorgemaßnahmen kann die richtige Handhabung der Be- 
stimmnungen aus §§ 65, 4 und 70,2 RJWG. und $ 31 Abs. 1 JGG. 
bedeuten. Diese Bestimmungen geben psychiatrische Untersuchung-, 
Beobachtung- und Beratung in allen notwendig erscheinenden Fällen 


402 R. v. der Leyen: 


anheim. Ein Fall wie Karl K. würde nach der Anwendung dieser 
Bestimmungen eine sachgemäßere Behandlung erfahren. 

Freilich muß mit der psychiatrischen Begutachtung auch eine 
gewisse Schulung des Richters Hand in Hand gehen !): wenn Erziehungs- 
schwierigkeiten wie bei Fritz Gr. vorliegen, können diese nicht nur, 
wie in dem vorliegenden Beschluß (vgl. S. 378) mit schlechtem Um- 
gang und Aufsichtslosigkeit erklärt werden. Ein geschulter Richter 
wird nicht »ein lümmelhaftes Benehmen« rügen, wenn ihm selbst auf- 
fällt, daß F. »aus den nichtigsten Ursachen Streit anfängt und mit 
Steinen wirft. Er wird vielmehr auf Grund der ihm dargebrachten 
Ermittlungen und Schilderungen, eventuell aueh aus eigener An- 
schauung das Auffällige einer Schilderung bemerken und ihr nach- 
gehen. Es wird nicht mehr vorkommen, daß plötzlich einsetzende 
grobe Schwierigkeiten, Unstimmigkeiten im Wesen eines Kindes, mit 
dem Urteil » Verwahrlosung« abgestempelt und damit auf dieses einheit- 
liche Niveau gebracht werden. 

Der Richter muß in diesem Erkennen, durch die mit ihm arbeitenden 
Fürsorgeorgane (im weitesten Sinne) unterstützt werden. Das was 
beim Lesen der Fälle auffällt ist, daß nicht Beobachtungen an Kindern 
und Jugendlichen geschildert werden, sondern daß das Verhalten der 
Kinder zum Berichterstatter und das Werturteil des Berichterstatters 
über deren Taten dem Richter subjektiv dargebracht werden. Dazu 
ist die Berichterstattung schon beeinflußt von den Berichten Anderer 
(Eltern, Lehrer, Hausbewohner), über etwa stattgehabte Verfehlungen. 
Es fehlt also die unpersönliche, sachliche, von keiner Sympathie oder 
Antipathie gegen das Kind gefärbte objektive Wiedergabe des tatsäch- 
lichen Verhaltens ganz unabhängig und unbeeinflußt von früheren 
Vorgängen, von dem, was den Anlaß dazu gab, daß man sich um das 
Kind kümmerte. 


Hierzu muß der Fürsorger in der Beobachtung geschult werden 
und muß lernen, die gemachten Beobachtungen zu notieren, ohne 
subjektive Schlußfolgerungen. Also wiederum eine Frage der Aus- 
bildung.?2) Dabei möchte ich betonen, daß keine umfassenden 
theoretischen Kenntnisse in Psychologie und Pädagogik verlangt 
werden, sondern nur die Fähigkeit der objektiven Beobachtungen 
des Verhaltens eines Kindes in gewohnter oder besonderer Situation. 
Je reichhaltigere Beobachtungen, je lebhaftere Darstellung des Ge- 
sehenen, um so leichter ist es, das Bild von dem eigentlichen 


1) Vgl. Jahrg. 29, Heft I, S. 14. 
2) Vgl. Jahrg. 29, Heft I, S. 17ff. 








Fünf Fälle von »Verwahriosung«. 403 


Wesen des Kindes wiederzugeben. Dadurch, daß es uns so schwer 
wird, von den alten Begriffen der Verwahrlosung und Rettung 
— der Gefährdung und Besserung loszukommen, haben wir uns 
selbst in unseren Hilfsmöglichkeiten die Hände gebunden. Je 
mehr wir uns von dieser starren Betrachtungsweise frei machen, um 
so stärker wird uns zum Bewußtsein kommen, wie vielgestaltig Wesen 
und Charakter der Jugendlichen sind, daß uns eine unendlich reiche 
Skala von Möglichkeiten der Erziehung und Beeinflussung zur Ver- 
fügung steht. 

Durch diese andersartige Gegenüberstellung zu den Erscheinungen 
von Kriminalität und Verwahrlosung und die sich durch diese ver- 
änderte Betrachtungsweise ergebende auch veränderte Behandlungsart 
kann etwas erreicht werden, was meines Erachtens von grundlegender 
Bedeutung ist: Ungeeignete Erziehung und ungünstige Umwelt legen 
den Kindern Hindernisse in den Weg, zu deren Überwindung sie ein 
großes Maß von Kräften brauchen. Sie bedürfen aber dieser Kräfte 
in vollem Umfange, um der Schwierigkeiten Herr zu werden, die 
ihnen durch ihre Anlage erwachsen. Die Erfahrung lehrt, daß es den 
Jugendlichen gelingt, die Symptome der Verwahrlosung zu überwinden, 
wenn sie all ihre Kräfte dazu verwenden, um gegen die in ihnen 
liegenden Schwierigkeiten anzukämpfen. 


Probleme und Aufgaben in der Fürsorgeerziehung.!) 


Von 
Adalbert Gregor, Fiehingen. 


Die Erziehung Verwahrloster wurde leichten Herzens begonnen. 
Man ging von der Idee aus, daß Erziehungsmangel oder eine zu 
nachsichtige Erziehung Schuld an diesem Zustande tragen und war 
überzeugt, daß, was bei Tausenden von Kindern erreicht wird, auch 
im einzelnen Fall zu erzielen sei. Hier komme es nur darauf an, 
den Fehlern in entsprechender Weise zu begegnen und Erfolge dürften 
nicht ausbleiben, wenn man zur rechten Zeit und am rechten Punkt 
einsetzt, die Lebensweise regelt und Untugenden beseitigt. Der 
Jugendliche würde ja auf alle Fälle noch gut fahren, da er doch auf 
diese Weise dem gänzlichen moralischen Verfali entgeht und bei der 
Wahl zwischen Erziehungsanstalt und Gefängnis die Vorteile doch 
zweifellos bei ersterer liegen. Dieses Vorgehen kann man mit einem 
technischen Ausdruck als symptomatisch bezeichnen; es wird dabei 
ein Merkmal der Persönlichkeit, ein moralischer Fehler herausgegriffen 
und nicht immer auf die zweckmäßigste Weise zu beseitigen gesucht. 
Dem Triebe, auszureißen, begegnet man durch mechanisches Festhalten, 
der Unlust zur Arbeit durch Arbeitszwang, asoziale Neigungen sollen 
durch Strafe verleidet werden. 

Ein derartiges System, das mit dem Namen Zwangserziehung am 
besten charakterisiert ist, muß an dem Materiale scheitern, auf welches 
es angewendet wird. Wenn es uns heute schon im allgemeinen be- 
denklich erscheint, weil es der Psychologie der Jugendlichen keine 
Rechnung trägt, so stellt es sich da als geradezu unmöglich heraus, 
wo die zu beseitigenden Mängel, nicht die Folge einer schlechten Er- 
ziehung oder einer bewußten Auflehnung gegen Sitte und Gesetz 
bilden, sondern aus einer abnormen Veranlagung fließen. Die eigent- 
liche Erkenntnis, daß auf dem bezeichneten Wege das Ziel nicht zu 





1) Nach einem am II. Heilpädagogischen Kongreß in München über Psycho- 
pathen in der Fürsorgeerziehung gehaltenen Vortrag. 





A. Gregor: Probleme und Aufgaben in der Fürsorgeerziehung. 405 


erreichen sei, wurde namentlich durch Erfahrungen vermittelt, welche 
bei Psychopathen gemacht wurden. An diesem Materiale wurde 
es klar, daß 


1. die bestgemeinte Erziehung mit primitiven Mitteln versagen 
kann; 

2. der Erziehung überhaupt enge Grenzen gesetzt sind; 

3. Erfolge nur erreichbar sind, wenn individuell vorgegangen 
wird und 

4. wenn die ursprüngliche Einstellung, die sich von Schuld und 
Sühne ableitet, aufgegeben wird und wenn 

5. die althergebrachte Erziehung nicht auf sich beruhen bleibt, 
sondern Erfahrungen aus anderen Wissenschaften herangezogen werden. 


I. 


Man hat verschiedentlich Scheu vor den Diagnosen der Psychiater 
gezeigt, namentlich wird es verargt, daß sie zu viele Zöglinge als 
abnorm bezeichnen. Wir stehen hier also vor einem qualitativen 
und quantitativen Problem. 

Wer immer mit Verwahrlosten zu tun hat, wird zur Einsicht 
kommen, daß es unter ihnen pathologische Naturen gibt. Ich finde 
es im Umgang mit Erziehern an psychiatrisch nicht beratenen An- 
stalten und Behörden immer geradezu erlösend, wenn auffällige Er- 
scheinungen auf eine seelische Anomalie zurückgeführt werden. 
Übeltaten, Erziehungsschwierigkeiten, Vertrauensbrüche, Rückfälle ver- 
lieren damit den Charakter des Tückischen und Boshaften. Eine be- 
sonnene Überlegung und eine humane Auffassung setzt ein, der 
Widerstand wird tiefer gewertet und es verliert sich der peinliche 
und entmutigende Eindruck, daß man lediglich mit Eigenwillen ringe. 
Auf diese Weise wird auch der Erziehung ein außerordentlich schwer 
wiegender Fehler benommen, Gereiztheit, Unwille, Resignation. Die 
psychiatrische Diagnose beschränkt sich ja nicht auf die Nennung 
eines Krankheitsnamens, sondern meist gelingt es, mit ihr auch die 
Ableitung der auffälligen Zeichen zu geben, vielfach auch den Zu- 
sammenhang mit der Aszendenz zu erweisen. 

Auf diese Weise wird es klar, daß man es nicht mit zufälligen 
Erscheinungen und böswilligen Einfällen, sondern mit begründeten 
Abweichungen zu tun hat. 

Wie erwähnt, stehen wir jetzt vor der Frage, um welche Ano- 
malien es sich bei Verwahrlosten handelt und in welcher Häufigkeit 
sie vorkommen ? 


406 A. Gregor: 


Zunächst ist aber eine Grenzberichtigung vorzunehmen. Der 
Erzieher darf nicht weiter gehen, als Besonderheiten und auffällige 
Zeichen bei seinem Zögling zu registrieren. Sache des Arztes ist es, 
ihre krankhafte Natur zu beurteilen und eventuell eine Diagnose 
zu stellen. 

Es ist vielfach gebräuchlich, für pathologische Erscheinungen, 
soweit sie nicht Ausfluß einer Geisteskrankheit im engeren Sinne 
oder eines tieferen intellektuellen Defektes sind, die Bezeichnung 
Psychopathie zu wählen. Auf diese Weise ist sie zu einem Sammel- 
namen geworden. Bei dem heutigen Stande der Wissenschaft wird 
es bei dieser Lage zunächst auch bleiben müssen, empfehlenswert ist 
jedenfalls, geistige Defekte auch leichteren Grades (Debilität) von der 
Psychopathie zu trennen. Es verbleiben in ihr dann seelische Äuße- 
rungen, die infolge ihrer Verwandtschaft mit Symptomen geistiger 
Erkrankung oder infolge ihrer eigenartigen Struktur sich als patho- 
logische Abweichungen darstellen und vor die Annahme einer patho- 
logischen Konstitution ihres Trägers führen. 

Es ist ohne weiteres zu erkennen, daß sich leicht Differenzen in 
der quantitativen Beurteilung pathologischer, speziell psychopathischer 
Fürsorgezöglinge ergeben können. Neben subjektiver Auffassung sind 
hier insbesondere zwei äußerliche Momente anzuführen; zunächst die 
Anstalt, in welcher das Material studiert wird, da ja bekanntlich ver- 
schiedenen Anstalten verschieden geartete Zöglinge zugewiesen werden; 
ferner die Art der Beobachtung. Täglicher Umgang läßt auch bei 
Individuen abnorme Merkmale finden, die bei einmaliger Untersuchung 
oder gelegentlicher Beobachtung der Aufmerksamkeit entgehen. 

Die Interessen der Fürsorgeerziehung führen in diesem Zusammen- 
hange vor zwei Fragen: 

l. Ob und in welchem Maße Psychopathie für die Verwahr- 
losung verantwortlich zu machen ist. 

2. Ob bestimmte Verfehlungen für Psychopathie charakteristisch 
sind. 

Zur ersten Frage möchten wir bemerken: es ist ebenso sicher, 
daß die Mehrzahl der Verwahrlosten pathologische Individuen sind, 
wie daß auch psychisch normale Individuen verwahrlosen können. 
Allerdings zeigt die Anstaltserfahrung, daß im letzteren Falle, also 
bei normalen Zöglingen, eine planmäßige Erziehung bestimmter 
auf einen glatten Erfolg rechnen kann. Tatsächlich stellen sich die 
resistenten Fälle meist als pathologische dar, so daß man Unerzieh- 
barkeit zwar nicht mit psychischer Anomalie indentifizieren, aber doch 
als einen Hinweis auf diese ansehen kann. Die Beziehungen von 


Probleme und Aufgaben in der Fürsorgeerziehung. 407 


Psychopatbie zur Verwahrlosung sind einfach durch die Tatsache ge- 
geben, daß die Psychopathie eine Reihe von sozialen Gruppen, Ver- 
schrobene, Lügner und Schwindler, Gesellschaftsfeinde. Fanatiker, 
Haltlose, Gemüt- und Willenlose umfaßt und nach einem einfachen 
logischen Schlusse für das Ganze dieselben Beziehungen gelten müssen, 
die für Teile des Ganzen nachzuweisen sind. 

Die Frage, ob aus der Tat eines Individuums seine pathologische 
Konstitution zu erkennen ist, muß bei dieser strikten Stellung ver- 
neint werden;. können wir doch auch den meisten Straftaten Er- 
wachsener es nicht ansehen, ob ibr Täter geisteskrank und un- 
zurechnungsfähig war. Allerdings geben die Umstände, unter welchen 
eine Handlung unternommen wurde, vielfach Anhaltspunkte zur Be- 
urteilung der psychischen Verfassung des Täters, und ausreichende Er- 
fahrung erweckt nach der Beurteilung der Tat meist bald die richtige 
Vermutung über den Geisteszustand des Täters. Geradezu typisch 
für Psychopathie sind gewisse, namentlich sexuelle Triebhandlungen 
von Kindern und Jugendlichen, ferner homosexuelle Akte, die nicht 
durch äußere Verhältnisse bedingt sind, endlich tendenziöse Lügen. 
Wir kommen damit sofort auf die Art unseres diagnostischen Denkens 
überhaupt, nach dem Zeichen, die der Seele des Jugendlichen fremd 
sind, als abnorm gewertet werden. 


II. 


Mit der Feststellung der psychopathischen Konstitution haben 
wir nur gewisse formale Züge, Triebe und Kräfte in der Natur des 
Jugendlichen bloßgelegt, welche für seine Handlungs- und Verhaltungs- 
weise von Bedeutung sind; über die materielle Seite der psychischen 
Struktur, über die persönlichen Eigenschaften, welche Ausgangspunkte 
der erzieherischen Beeinflussung sind, ist damit noch wenig gesagt. 
Wir werden so auf das Charakterproblem geführt, welches in un- 
serem Falle darin besteht, die wesentlichen Merkmale der Persönlich- 
keit zu erfassen. Mit der Betonung des Wesentlichen ist die nötige 
Einschränkung hervorgehoben. Es besteht ja stets die Gefahr, mit 
charakterologischen Beschreibungen ins Uferlose zu geraten. Wir 
müssen daher das hier als wesentlich Gemeinte auch noch spezi- 
fizieren. Es ist hier darunter das im Hinblick auf den Zweck un- 
seres Strebens Wesentliche zu verstehen, der darin besteht, das Indi- 
viduum zu einem sozial brauchbaren zu machen. Es wäre ja auch 
tatsächlich undenkbar, im Rahmen der Fürsorgeerziehung das Charakter- 
problem erschöpfen, also Vollpsychogramme anlegen zu wollen. Wir 
beschränken uns vielmehr darauf, jene Merkmale zu fixieren, welche 


408 A. Gregor: ` 


einerseits das praktische Handeln des Zöglings bestimmen, andererseits 
Angriffspunkte für erzieherische Maßnahmen eröffnen und einen brauch- 
baren Index für die Wirkung und die Erfolge der Erziehungsarbeit 
ergeben. 

Eine wesentliche Förderung des Charakterproblems scheint darin 
gelegen zu sein, die Aufgaben abzugrenzen und jene Merkmale be- 
sonders herauszuarbeiten, welche in der speziellen Lebenslage nament- 
lich zum Ausdruck kommen. Auf diese Weise würde an verschiedenen 
Stellen gearbeitet und die Charakteranalyse ausgebaut werden können. 
In der Fürsorgeerziehung kommt es zunächst wesentlich auf Dis- 
positionen zum sozialen, bezw. antisozialen Verhalten an; sie hat ein 
besonderes Interesse an der Feststellung von Trieben und Neigungen, 
die gegen die soziale Ordnung gerichtet sind, wie Lügen, Stehlen, 
Brandlegen usw. Wir wollen ferner den Grad der Erziehbarkeit be- 
urteilen, indem wir die Frage aufwerfen, ob das Individuum lenksam 
ist, andernfalls auf welche seelischen Qualitäten die Widerspenstigkeit 
zurückgeht. Mit den erwähnten Eigenschaften berührt sich die Be- 
einflußbarkeit; mit ihrer Wertung hängt die Frage zusammen, nach 
welcher Richtung und von welchen Personen jemand beeinflußbar 
ist. Im Verhalten zur Umgebung, so zu Familienangehörigen und 
Kameraden, kommen Züge zum Ausdruck, welche für das Gemein- 
schaftsleben grundlegend sind, weshalb auch nach dieser Richtung 
sorgfältig zu prüfen ist. 

Ein wichtiges Mittel, einen Zögling für die Gesellschaft brauch- 
bar zu machen, ist die Arbeit und damit die Erziehung zum Beruf, 
Eine Bewertung des Individuums in dieser Hinsicht setzt Kenntnis 
seiner praktischen und intellektuellen Fähigkeiten voraus. Daneben ist 
eine Reihe formaler Eigenschaften von Bedeutung, auf welche die von 
Kraepelin vorgenommene Zerlegung der Arbeitskurve geführt hat, 
wie Ermüdung, Gewöhnung, Anpassung, Arbeitstempo usw. Bekannt- 
lich ist die ursprüngliche Kraepelinsche Methode von Poppelreuther 
durch Anwendung seiner Arbeitsschauuhr ausgebaut worden. Ich 
halte in der Fürsorgeerziehung eine allgemeine Durchführung dieser 
Methoden für entbehrlich. Unentbehrlich ist aber, daß derjenige, 
der Arbeitsleistungen zu beurteilen hat und Berufsberatung üben will, 
auf diese Qualitäten der Leistung eingestellt ist. 


TII. 
Die psychologische Strukturanalyse des Individuums, sowie die 
Bewertung der Aussichten auf Erziehungserfolg kann durch Berück- 
sichtigung hereditärer Momente wesentlich gefördert werden. Kennt- 





Probleme und Aufgaben in der Fürsorgeerziehung. 40% 


nis der Charaktereigenschaften von Vorfahren und sonstigen An- 
gehörigen kann entschieden dazu beitragen, die grundlegenden Charakter- 
züge eines Individuums zu erfassen Die neuere, zumal in München 
und Tübingen betriebene Familienforschung hat auch auf die Be- 
deutung der Charakteranalyse geführt. Ihr kam es wesentlich auf die- 
Feststellung bestimmter Merkmalsgruppierungen an, die zur Erkenntnis- 
der schizothymen oder cyklothymen Veranlagung führen. Uns ist 
es jedoch um eine noch elementarere Analyse des Charakters zu tun. 
Wir werden einen bestimmten Zug, den uns ein Zögling bietet, ganz 
anders einschätzen und die sich aus ihm ergebenden Erziehungs- 
aufgaben anders einzustellen haben, wenn wir diesen Zug durch die 
Aszendenz determiniert finden, als wenn wir in ihm ein bloß indivi- 
duelles Merkmal erkennen. Man denke etwa an eigenwilliges Ver- 
halten. Es ist bei Kindern und Jugendlichen ebensowohl durch eine 
momentane Disposition, etwa Ermüdung, wie durch zufällige Verkettung 
äußerer oder innerer Umstände zu erklären. Zu einem besonderen 
Erziehungsproblem kann es aber werden, wenn wir etwa festgestellt 
haben, daß Vater und Großvater starrsinnig oder gar paranoid waren. 

In jüngster Zeit bat Schlemmer!) die Beziehungen von Ver- 
erbung und Erziehung erörtert. Er hat richtig erkannt, daß die Tatsachen 
der Vererbung die Anerkennung einer absoluten Souveränität des Er- 
ziehers unmöglich machen. Die Einsicht in die tiefere Begründung 
des Charakters muß mindestens auf unserem Gebiet, wo es sich viel- 
fach um sehr ausgeprägte Charakterzüge z. T. auch anomaler Natur 
handelt, zu einer berechtigten Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit 
der gewöhnlichen Erziehungsmittel, etwa Ermahnung und Strafe führen. 
Man kann natürlich auf ihre Anwendung nicht verzichten, ohne zu 
einem erzieherischen Nihilismus zu kommen. Aber ebensowenig darf 
darin das Um und Auf der Erziehertätigkeit gesehen werden. Er- 
mahnung und Strafe müssen schon um der allgemeinen Gerechtigkeit 
willen und in Rücksicht auf die jugendliche Auffassung von Hand- 
lungen in Übung bleiben. Aber die eigentliche Kunst des Er- 
ziehers besteht doch darin, die Konstellation von Charakter- 
eigenschaften, die im Einzelnen nicht wesentlich zu ändern 
sind, derart zu gestalten, daß der Erziehungszweck erreicht 
wird. Die neuere Willensforschung hat ja ergeben, daß wir es bei 
der Willensbehandlung meist mit einer Weichenstellung zu tun haben. 
Die Aufgabe des Erziehers muß also in erster Linie darin bestehen, 





ı) H. Schlemmer, Vererbung und Erziehung. Zeitschr. f. pädagogische 
Psychologie und experimentelle Pädagogik. 25. Jahrg. 3/4, 1924, S. 75. 


410 A. Gregor: 


die inneren Triebkräfte jenen Werten dienstbar zu machen, welche 
in der Seele des Zöglings gefunden oder ihr durch die Erziehung 
vermittelt wurden. Die eigentlichen Grenzen sind der Erziehung erst 
durch die Unfähigkeit gesetzt, im Individuum Werte entstehen zu 
lassen. Dieser Fall ist bei gewissen Formen von Psychopathie durch 
gemütliche Anästhesie gegeben. Viel häufiger haben wir es aber 
auf dem Gebiet der Psychopathie mit Schwankungen der gemütlichen 
Erregbarkeit zu tun, welche förmlich phasenweise verlaufen und Be- 
dingung dafür sind, daß erkannte und aufgenommene Werte zu Zeiten 
an Klarheit und Glanz und damit an Wirksamkeit verlieren und so 
temporär zu leeren und schalen Vorstellungen werden. Hier muß 
durch die Erziehung auf dem Wege der Gewöhnung an ein gleich- 
mäßiges, moralisch positives Handeln dafür gesorgt werden, daß der 
Zögling auch über derartige kritische Momente hinwegkommt. 


IV. 


Wir haben bereits die wichtige Frage der Unerziehbarkeit 
gestreift, die zu ausführlichen prinzipiellen Erörterungen führen könnte. 
In Hinblick auf die Fürsorgeerziehung gestaltet sie sich für uns aber 
dahin: welche Aufgaben erwachsen aus der Tatsache, daß eine ge- 
wisse Anzahl von Jugendlichen nicht derart moralisch gefestigt werden 
kann, um 1. nicht wieder zu entgleisen und zu verwahrlosen, 2. ihre 
antisozialen Neigungen aufzugeben? 

Zur ersten Gruppe sind gewisse Formen der Haltlosigkeit, zur 
zweiten die geborenen Verbrecher zu zählen. 

Es ist zu betonen, daß die Frage nach der Ausscheidung Un- 
'erziehbarer nicht dadurch entstanden ist, daß die bezeichneten Ele- 
mente im Anstaltsleben in besonderer Weise störend wurden. In 
einer gutgeleiteten Anstalt entfallen Schwierigkeiten nach beiden be- 
zeichneten Richtungen. Es gibt keine derart haltlosen Jugendlichen, 
daß sie sich in einer gutgeleiteten Erziehungsanstalt fortgesetzt schlecht 
führen würden. Der Geist, der eine derartige Anstalt durchflutet, die 
zahlreichen moralischen Stützen, die allenthaiben geboten werden, ver- 
hindern ein prinzipiell unmoralisches oder asoziales Verhalten. Aber 
die Erziehungsanstalten bilden keinen Selbstzweck, sie haben ihre 
Zöglinge für das freie Leben zu erzieben und zu ertüchtigen und 
dürfen sich nicht damit begnügen, daß ein Zögling in ihren Mauern 
korrekte Lebensführung zeigt, sie müssen vielmehr den Kontakt mit 
der Außenwelt innehalten und den Jugendlichen in seinem Verhältnis 
‚zu ihr erproben. 





Probleme und Aufgaben in der Fürsorgeerziehung. 411 


Zu den Unerziehbaren ist namentlich eine Gruppe von Mädchen 
zu zählen, die ohne weiteres der sexuellen Verwahrlosung verfällt, 
sobald sie aus dem Schutze der Anstalt entfernt wird. Es handelt 
sich dabei weder um besonders erotische noch triebhaft veranlagte 
Naturen, meist vielmehr um eine Passivität, die keinen inneren Halt 
aufbringt, um Versuchungen zu widerstehen. Auf männlicher Seite 
entsprechen diesen Mädchen Jungen von gutmütig- leichtgläubiger 
Charakterveranlagung, die keine bestimmten Interessen und keinen 
festen Arbeitswillen besitzen und sich von ihrer Umgebung leicht be- 
einflussen und verleiten lassen. Seltener findet man unter Fürsorge- 
zöglingen aktive Naturen mit ausgesprochener Kriminalität bei brutaler 
Charakteranlage. Fakultativ unerziehbar sind habituelle Ausreißer, die 
viel zu kurz in Anstalten bleiben, um positive Erziehungsarbeit zu 
ermöglichen. 

Fälle der genannten Art und die sie mit den geläufigen Typen 
verbindenden Übergangsfälle machen zwei Institutionen nötig: 

1. Anstalten für Schwererziehbare, 
2. Verwahrungsanstalten. 

Die Frage wird dadurch besonders kompliziert, daß an diesem 
Punkte sich eine Reihe sozialer Aufgaben gestaut hat; auch da- 
durch wird es uns merklich, daß der Krieg unsere kulturelle Ent- 
wicklung gestört hat und in seinen Nachwirkungen noch weiter 
hemmend wirkt. 

Die Forderung nach Verwahrungsanstalten muß darum mit be- 
sonderem Nachdruck vertreten werden, um den Volkskörper vor 
Schädigungen zu bewahren, die ihm durch körperlich, psychisch oder 
moralisch defekte Individuen drohen, wobei es sich sowohl um un- 
mittelbare als mittelbare Schädigungen im Sinne der Degeneration 
handelt. 

Meinen Standpunkt in der Frage zur Verwahrung, insbesondere 
im Hinblick auf Jugendliche, möchte ich wie folgt präzisieren: 

Zu verwahren sind Personen, die infolge ihrer seelischen 
Konstitution verwahrlosen oder eine soziale Gefahr bilden. 

Jugendliche dieser Qualität werden naturgemäß zuerst nach Er- 
ziehungsanstalten gelangen. Stellen sich deren Mittel als wirkungslos 
dar, dann kommt Verwahrung in Betracht, und zwar als vorüber- 
gehende oder bleibende Maßnahme. 

Es erscheint geraten, Jugendliche als Fürsorgezöglinge zu 
verwahren, weil man bei ihnen stets mit überraschenden Wand- 
lungen zu rechnen hat und der Wechsel von Anstalt und Verwahrung nach 
beiden Richtungen vorteilbaft ist. Die Ausscheidung aus der Fürsorge- 

' Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 28 


412 A. Gregor: 


erziehung als Voraussetzung zur Verwahrung würde als Korrelat Er- 
schöpfung der letzten Möglichkeiten und damit eine unnötige oder 
zu lange Belastung der Anstalt mit schädigenden Elementen zur 
Folge haben. 

Das Urteil, ob ein Jugendlicher aus der Fürsorgeerziehung aus- 
scheiden oder nach der Erziehungsanstalt zurückkehren soll, ist erst 
in der Verwahrungsstelle zu treffen. Die der Verwahrung von 
Jugendlichen dienenden Abteilungen sind mit Erziehungs- 
einrichtungen, Werkstätten usw. zu versehen, also den Er- 
ziehungsanstalten anzugleichen. 

Längere Verwahrung bedingt Entmündigung: $ 6 BGB reicht 
zur Entmündigung jener Individuen aus, die zu verwahrlosen drohen, 
weil sie offensichtlich ihre Angelegenheiten nicht. zu besorgen ver- 
mögen. Für jene Personen, welche die Gemeinschaft gefährden, wäre 
ein Zusatz zum § 6 BGB in diesem Sinne erforderlich. 

Um den Erziehungsanstalten reibungsloses Arbeiten zu ermöglichen, 
ist neben Ausscheidung der zu verwahrenden Individuen die Ein- 
richtung von Abteilungen für Schwererziehbare erforderlich. Diese 
sind am besten größeren Erziehungsanstalten anzugliedern, da kleinere, 
selbständige Anstalten nicht leicht mit den nötigen Erziehungsmitteln 
ausgestattet werden können. Natürlich könnte auch an die Gründung 
von großen Anstalten für Schwererziehbare gedacht werden, in welchen 
Zöglinge eines oder mehrerer Länder gesammelt würden, doch erscheint 
eine solche Häufung derartiger Elemente bedenklich. 


vV. 


Die Erziehung‘ von Psychopathen hat es zur Evidenz gebracht, 
daß Fürsorgeerziehung überhaupt individualisieren müsse. Wer mit 
Gefühl und Verständnis an diese Aufgabe herantritt, wird die Über- 
zeugung gewinnen, daß jeder Zögling ein eigenes psycho- 
logisches Problem bietet und eigene Erziehungsaufgaben 
stellt. Erinnert sei nur an die komplizierte Entwicklung der Ver- 
wahrlosung, bei der meist äußere und innere Ursachen ineinander 
spielen, ferner, daß im seelischen Gefüge des Verwahrlosten primäre 
Charakterzüge mit sekundären sich mengen, d. h. mit solchen, die erst 
aus der Rückwirkung der im Gang befindlichen Verwahrlosung ent- 
standen sind. 

Wir müssen gestehen, daß wir noch sehr weit von einer um- 
fassenden Kenntnis der seelischen Eigenart des Jugendlichen entfernt 
sind, trotz des glänzenden Vorstoßes, den in jüngster Zeit Charlotte 


Probleme und Aufgaben in der Fürsorgeerziehung. 413 


Bühler!), namentlich aber Spranger?) in dieses Gebiet unternommen 
haben. In jedem Falle kommt es darauf an, festzustellen, was noch 
innerhalb der normalen Breite jugendlichen Seelenlebens gelegen ist 
und was diese überschreitet. Es ist bekannt, daß die Pubertätszeit an 
sich ungewöhnliche Erscheinungen hervorruft; eine strenge Scheidung 
des Normalen vom Pathologischen steht hier noch aus. Fragen dieser 
Art hat hier der Fachmann zu entscheiden. Wer immer aber mit 
der Erziehung Jugendlicher zu tun hat, muß dazu im gegebenen Falle 
in irgend einer Weise Stellung nehmen. Dabei wird der Laie ohne 
besonderes Studium aus seinem natürlichen Gefühl heraus schwerlich 
immer das Richtige treffen und darum kann man unmöglich die eigent- 
liche Erziehungsarbeit Personen überlassen, die in ihrem Handwerk 
zwar tüchtig sind, im übrigen aber nur über eine bescheidene Bildung 
verfügen. Tatsächlich hardelt es sich in der Fürsorgeerziehung um 
zweierlei, um Arbeit und um Erziehung. 

Der Zögling soll einen bestimmten Beruf erlernen, der Meister 
bat ihn auch in die Moral dieses Berufes einzuführen, aber es muß 
auch positive Erziehungsarbeit geleistet werden, die sich 
auf die Kenntnis der psychologischen Struktur des Zöglings 
aufbaut und dazu bedarf es eigens ausgebildeter und ge- 
schulter Erzieher. 

Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, 
hat die Dringlichkeit dieser Aufgabe erkannt und sich mit ihr eigens 
befaßt. Es bildet aber eine noch offene Frage, wo und in welcher 
Weise die Kenntnisse erworben werden sollen, deren eine sich mit 
der Erziehung von Psychopathen befassende Persönlichkeit bedarf. Die 
vop mir in Flebingen eingeführte Ausbildung interessierter Personen 
hat mir gezeigt, daß ein qualifizierter Erzieher überakademische 
Bildung verfügen muß, denn Wissen, psychologisches Verständnis, 
Weite des geistigen Horizonts, Sicherheit in der Entscheidung von 
Lebensfragen, auf überlegener Bildung beruhende Autorität sind in 
der Erziehung von Psychopathen maßgebende Faktoren. Neue Formen 
der Lehrerbildung, wie sie in den thüringischen Staaten aufgestellt 
oder im Göttinger pädagogischen Seminar vertreten werden, kommen 
unseren Forderungen entgegen. 

Es handelt sich aber nicht nur darum, Anstalten mit tüchtigen 
Erziehern zu versehen, sondern um die Bekämpfung der Verwahr- 
losung und die Fürsorge für Psychopathen, Probleme, welche die 


— 


'ı, Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen. Jena 1923. 
2) Spranger, Psychologie des Jugendalters. Leipzig 1924. 





28* 


414 A. Gregor: 


Gesellschaft als Ganzes angehen. Eine besondere Aufgabe ist hier 
aber für jene Stände gegeben, welche durch ihren Beruf soziale Arbeit 
leisten sollen, Lehrer, Geistliche, Juristen, Ärzte. Wir müssen ge- 
stehen, daß heute in diesen Kreisen noch erschreckend geringes Ver- 
ständnis für Fragen der Verwahrlosung und Psychopathenfürsorge zu 
finden ist und darum ist es nötig, daß, wie schon Ziehen!) im 
Jahre 1918 betonte, auch die Universitäten Nachdruck auf diese Seite 
legen. Juristen müssen rechtzeitig in die Aufgaben sozialer Fürsorge 
eingeführt werden, um in ihrem künftigen Beruf als Amts- und 
Jugendrichter nicht nur genügendes Verständnis zu besitzen; sie 
sollten aber auch in der Referendarzeit durch praktische Tätigkeit in 
Erziehungsanstalten diesem Aufgabenkreis näher treten und die Natur 
verwahrloster Jugendlicher aus eigener Anschauung kennen lernen. 

Ärzte befassen sich heute in weitem Umfange mit sozialen Auf- 
gaben, bleiben aber doch meist im Kreise der forensischen Tätigkeit 
und Unfallgesetzgebung stecken und die Psychopathie bildet nicht 
nur für den jungen Mediziner eine terra incognita, sondern bleibt es 
auch für den praktischen Arzt. Der in Baden gemachte Versuch, 
Bezirksärzte mit Fragen der Verwahrlosung vertraut zu machen, ist 
sicher nachahmenswert. 

Wie sich unser Thema in das Studium der Theologie einzufügen 
hat, vermag ich nicht zu beurteilen. In Leipzig wurde seitens des 
evangelischen Vertreters der praktischen Theologie nachdrücklich der 
Besuch einschlägiger Vorlesungen an der medizinischen Fakultät 
empfohlen. Ohne weiteres leuchtet es ein, daß Ordens- und Welt- 
geistliche über ausreichendes Verständnis für soziale Aufgaben ver- 
fügen sollen und in dem Fragenkomplex der Verwahrlosung und ihrer 
Verhütung mehr als theoretisches Wissen besitzen müßten. Für 
Geistliche, welche an Erziehungsanstalten tätig sind, wurde auf dem 
II. heilpädagogischen Kongreß durch Pater Kurz die Forderung 
aufgestellt, daß Neigung und Vorbildung hier die Wahl bestimmen 
müssen. Tatsächlich werden heute noch infolge der Unkenntnis von 
Ärzten, Geistlichen, Lehrern in Fragen der Verwahrlosung und Für- 
sorgeerziehung die Behörden vielfach irre geführt. Am sichersten 
wären hier grobe Irrtümer zu vermeiden, wenn die mit der 
Fürsorgeerziehung sich befassenden Behörden ausreichend 
über fachmännisch gebildete Beamte verfügen würden. 





1) Th. Ziehen, Vorlesungen über psychopathische Konstitution an den Uni- 
versitäten. Die Jugendfürsorge. Berlin 1918. 


Probleme und Aufgaben in der Jugenderziehung. 415 


VI. 


Wir stehen nun vor der Aufgabe, auf einzelne Gebiete im be- 
sonderen einzugehen und die angeregten Themen in ihrer Gestaltung 
in der Fürsorgeerziebung von Knaben und Mädchen durchzuführen. 
Das Gebiet der schulentlassenen Jungen wurde auf dem Kongreß von 
Lückerath eingehend behandelt. Meine eigenen Ansichten darüber 
und über die Fürsorgeerziehung von schulentlassenen Mädchen und 
Kindern babe ich in meinem kürzlich erschienenen Leitfaden der 
Fürsorgeerziehung!) niedergelegt. Hier sind nur bezüglich der beiden 
letzterwäbnten Gruppen zwei Bemerkungen am Platze: bei schul- 
pflichtigen Kindern erscheinen insbesondere die Lehrer berufen, an 
der Psychopathenfürsorge mitzuwirken. Es ist undenkbar, daß einem 
gewissenhaften Lehrer ein Fall von Psychopathie oder beginnender 
Verwahrlosung entgeht, wenn er in seiner Ausbildung in diesen 
Fragenkomplex eingeführt wurde und persönliches Interesse an seinen 
Schülern nimmt. Die Beziehungen zwischen Schule und Jugendamt 
sind derart zu regeln, daß hier ein inniges Zusammenarbeiten im 
Interesse der psychischen und moralischen Entwicklung der Jugend- 
lichen erfolgt. In den Anstalten für jugendliche Fürsorgezöglinge ge- 
nügt es nicht, diese Kinder zu pflegen und ihnen Schulunterricht zu 
geben, es ist vielmehr an ihnen eine ganz positive und systematische 
Erziehungsarbeit zu leisten; deren Vorbedingung bildet aber die Auf- 
lösung in kleinere Gruppen unter erzieherischen und konstitutionellen 
Gesichtspunkten. 

In der Erziehung schulentlassener Mädchen fehlt es noch allent- 
halben an Kenntnis der Psychologie des heranreifenden Mädchens. 
In jüngster Zeit hat man sich wohl bemüht, in ihr Seelenleben ein- 
zudringen. So oft man aber das Leben eines verwahrlosten Mädchens 
studiert, findet man überall Unverstand, Irrtümer, Mißgriffe in der 
Erziehung. Man könnte einen großen Teil der heute verwahrlosten 
Mädchen retten, wenn man ihnen rechtzeitig moralische Stützen böte 
und die vom Elternhaus vermittelte, falsche Moral korrigieren könnte. 
Es müßten beizeiten Werte in die meist so arme Mädchenseele ge- 
pflanzt, und die Haltung, welche das ins Leben tretende Mädchen 
der Außenwelt gegenüber zu beobachten hat, zu klarem Bewußtsein 
gebracht werden. In den Erziehungsanstalten sollten die Fürsorge- 
mädchen nicht nur arbeiten lernen, sondern für einen ihren Fähig- 
keiten und Neigungen entsprechenden Beruf herangebildet werden. 
Auch hier ist positive Erziehungsarbeit zu leisten, die auf die Ver- 
mittlung fester Wertkomplexe ausgeht. 


1) Berlin, Karger, 1924. 








Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 
Von 
Dr. med. W. Brednow-Berlin. 


Die ungeheure Lebhaftigkeit des kindlichen Phantasielebens, wie 
sie sich in so vielen Ausdrucksformen und ganz besonders im Spiel 
zeigt, ist von jedem Menschen oft genug beobachtet worden und hat 
in überaus plastischer Weise gerade in der schönen Literatur so häufig 
ihre Darstellung gefunden, daß es sich erübrigt, darauf einzugehen. 
In wesentlich gesteigertem Maße finden sich diese Ausdrucksformen 
beim psychopathischen Kinde, das über eine sehr lebhafte Phantasie 
verfügt. Hier drängt alles geradezu aus der Wirklichkeit heraus mit 
einer starken Aktivität, es wird tatsächlich Wort auf Wort, Erfindung 
auf Erfindung getürmt, bis ein ganzes schwankendes und verschwommenes 
Gebäude dasteht, zur Freude des kleinen Erfinders, den die Frage, 
ob das, was er erzählt oder aussagt, wahr ist, nicht im geringsten 
interessiert. Da sind besonders die Erfindungen, in denen die eigene 
Persönlichkeit erhöht wird und erstrahlen soll in allem Märchenglanze, 
und in denen das betreffende Kind so lebt, daß die Wirklichkeit gar 
nicht existiert. Welche gefahrvolle Bedeutung die Aussagen solcher 
Kinder unter Umständen haben können, liegt auf der Hand. Die 
wirklichen Erinnerungsbilder erhalten — besonders leicht natürlich, 
wenn sie nicht mehr scharf sind — Veränderungen, die oft phanta- 
stischster und sensationellster Art sind. Dabei braucht die Intelligenz 
in keiner Weise schlecht zu sein; die Urteilskraft ist gewöhnlich 
durchaus nicht minderwertig, sie ist es aber meist dann, wenn die 
eigene Persönlichkeit Gegenstand der Kritik werden sollte. (Bon- 
hoeffers Labilität des Persönlichkeitsbew ußtseins.) 

Delbrück, der diesen Krankheitsbegriff der Pseudologia phan- 
tastica in die Psychiatrie eingeführt hat, faßt dieses Symptom gleich- 
sam als eine »Hypertrophie der Phantasie gegenüber den übrigen 
Gehirnfunktionen« auf. Eine solche »schlechte Äquilibrierung« findet 
sich bei den verschiedensten geistigen Störungen, also neben mannig- 


W. Brednow: Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 417 


fachen anderen Ausfallserscheinungen; es gibt aber auch Fälle, bei 
denen anderweitige psychische Störungen so in den Hintergrund treten, 
daß die Pseudologia phantastica als ein selbständiges Krankheitsbild 
dasteht. Auf die zahlreichen kasuistischen Veröffentlichungen ein- 
zugehen, ist hier nicht der Ort. Verschiedentlich ist darauf hin- 
gewiesen worden, daß die pseudologischen Äußerungen dieser meist 
stark egozentrischen Persönlichkeiten ihren Anstoß aus mannigfachen 
Motiven erhalten, oft ist es die Eitelkeit, oft die Freude an der Sensa- 
tion u. a, und immer wieder wird betont, daß die Grenze zwischen 
Lüge und Irrtum nicht mehr scharf zu ziehen ist, daß viele Erlebnisse 
sicher ohne jede betrügerische Absicht eine z. T. recht erhebliche 
Veränderung erfahren. Ähnliche Zustandsbilder beim Kinde sind in 
der schönen Literatur besonders eindrucksvoll in Goethes »Dichtung 
und Wahrheit«, Kellers »Grünem Heinrich« und in vielen anderen 
Werken geschildert. 

Mit Hinblick auf die lebhaften Äußerungen reger kindlicher 
Phantasietätigkeit wurde die Aufgabe gestellt, nach dem Beispiele 
zahlreicher Autoren, die der Reproduktionspsychologie durch Versuche 
an normalen Erwachsenen und Kindern wesentliche Ergänzungen ge- 
geben haben, einmal in ähnlicher Weise Versuche an Kindern an- 
zustellen, die eine rege Phantasietätigkeit im Sinne der Pseudologia 
phantastica zeigen, um festzustellen, ob bei der angegebenen Versuchs- 
ordnung auffällige Abweichungen in der Reproduktion geliefert werden 
oder nicht, und in welcher Weise diese zu deuten sind. Der 1. Teil 
der Arbeit wird sich auf die Reproduktion eines vorgezeigten Bildes 
beziehen, der 2. auf Reproduktion von Geschichten. 

An normalpsychologischen Kindern hat ganz besonders erschöpfend 
W. Stern Reproduktionsversuche angestellt, und zwar in besonders 
eingehender Weise in seiner Schrift »Die Aussage als geistige Leistung 
und als Verbörsprodukt«; diese Versuche sind für die folgende Arbeit 
von grundlegender Bedeutung, so daß in möglichster Kürze darauf ein- 
gegangen werden soll. Stern stellte seine Versuche an Schulkindern 
und Jugendlichen im Alter von 7—18 Jahren an, und zwar handelte es 
sich um Bildversuche, denen das Bild »Die Bauernstube« zugrunde 
gelegt wurde. Die Kinder durften das Bild eine Minute betrachten 
und wurden dann zu einem spontanen Bericht aufgefordert, an den sich ein 
Verbör an Hand einer Protokolliste, die immer dieselben Fragen enthielt, 
anschloß. Eine Anzahl dieser Fragen war in Suggestivform gehalten; 
Fragen nach Farben rubriziert Stern besonders. Es wurden dann 
Umfang des Berichtes, des Verhörs und der Gesamtaussage bestimmt, 
ebenso wurde das Wissen der einzelnen Abschnitte (Summen der richtigen 


418 W. Bredaow: 


Aussagen) berechnet. Aus dem Verhältnis der objektiv richtigen An- 
gaben zu sämtlichen positiven Angaben wurde die Güte der einzelnen 
Versuchsteile bestimmt. Wichtig war feraer die Feststellung der 
Spontaneität des Wissens, also das Verhältnis des spontan geäußerten 
Wissens zu dem Gesamtwissen, und der Spontaneität des Interesses, 
die angibt, in welcher Weise den einzelnen Elementen des Bildes 
(Kategorien) Interesse entgegengebracht wird. 

Die. folgenden Versuche wurden an 8 Kindern im Alter von 
7—13,8 Jahren angestellt, die in ibrem psychischen Verhalten neben 
anderen psychopathischen Äußerungen als auffallendstes Merkmal 
pseudologische Züge trugen. 

Es wurden nun, um möglichst vergleichbare Ergebnisse zu er- 
halten, die Bildprüfungen genau nach Sterns Arbeitsmethode aus- 
geführt. Im Laufe der Untersuchung schien es lohnenswert, neben 
der primären Aussage noch eine sekundäre resp. tertiäre Prüfung an- 
zuschließen, obgleich von Stern keine in derselben Weise erzielten 
Ergebnisse sekundärer oder tertiärer Aussagen veröffentlicht sind. 
Die sekundäre Prüfung wurde am 3. Tage nach der ersten vorgenommen, 
und zwar wie die erste, natürlich ohne nochmaliges Vorzeigen des 
Bildes, die dritte Aussage fand 10 Tage nach der ersten statt. An 
sie schloß sich eine Selbstkorrektur, die das Kind jedesmal an Hand 
des Bildes vorzunehmen hatte. 

Ehe an die Wertung der Ergebnisse gegangen wird, seien noch 
einige Worte gestattet über das, was von diesen Prüfungen von vorn- 
herein zu erwarten steht. Es ist klar, daß bei der geringen Zahl der 
Versuchspersonen sichere Schlüsse allgemeiner Natur nieht zu ziehen 
sind, um so weniger, als es sich um ein in affektiver und intellektueller 
Beziehung doch immerhin recht differentes Material handelt; es wird 
also mehr eine individualpsychologische Wertung im Vordergrund 
stehen müssen. Ferner darf bei der Betrachtung der Leistungen nicht 
außer acht gelassen werden, daß die Bildversuche eine sehr trockene 
und starre Methode sind, und daß sie eine recht geringe » Lebensnähe« 
besitzen. Dieser Punkt gerade ist aber nicht zu unterschätzen bei 
einem Material von pseudologischen Kindern, denen durch die schul- 
mäßige und strenge Form (man denke nur an die gebundene Form 
des Verhörs) eigentlich jeder Anreiz zum eigenwilligen Hinzufügen 
genommen ist. Hinzu kommt, daß das ausgewählte Bild ebenfalls 
kaum geeignet ist, in irgend einer Weise der Phantasie als Anreiz 
zu dienen; es ist viel zu nüchtern und alltäglich, als daß es — noch 
dazu unter den sonstigen äußeren Verhältnissen der Versuchsanordnung 
— affektiv ansprechen könnte. Es sind also durchaus optimale Leistungen, 





Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 419 


die hier geliefert sind, entstanden unter Verhältnissen, wie das Leben 
selbst sie niemals bietet. | 

Es folgen nun die Ergebnisse der Bilderversuche; die in Klammern 
hinzugefügten Zahlen sind die der betreffenden Altersklasse am nächsten 
stehenden Werte Sterns. 


Fall I. Emma F., 13,8 Jahre alt. 


I. Aussage II. HI. 
a) Gesamtaussage: 
Umfang der Aussage . . . . 80 (84,3) 83 80 
Gesamtwisen . : . . 22..6B2 (69,2) 63 60 
Güte der Gesamtaussage . . . 77,5%, (82°/,) 75,9%], 75% 
b) Bericht: 
Umfang . . . 2 2 22.2.0. IB (29,8) 27 27 
Spontanes Wissen . .... I8 (29,2) 24 24 
Güte des Berichts . . . . . 10%, (98%) 88,8°/, 81,5°%, 
Spontaneität des Wissens . . . 32°, (42°) 3%, 0% 


Es folgt nun das Kategorienbild des Berichts, dem zum Vergleich 
ein der Altersstufe entsprechendes aus Sterns Arbeit beigefügt ist. 
Mit den links angeführten Zahlen ist die absolute Elementenzahl 
wiedergegeben, mit der die einzelnen Kategorien im Bericht vertreten 
sind. Die Zahlen rechts geben die prozentuale Verteilung an. Jede 
Säule stellt eine Kategorie dar. Die auf dem Diagramm von Stern 
schraffierten Teile bedeuten Falschangaben, die in dem Bericht dieser 
Vp. fehlen. 


Kategorienbild der Oberklasse bei Stern. 








ol 


Kategorienbild des Berichts. p Tal Pr = > _.40° 
UTOBESN oa aS RST i0 
ES -A - 1-587523535 
2 ZB EI LE S| g = 5 
ao Ss 2358 35 |5| s £8 
5 5 `~ zcBE’EpB 10 - goe 
-E | > 
ag’ 9 — A - 30 „ 
= = 2. 
© 
F T a 
Be 6- Ag - 20 „ 
5 — E o a Bon 23 o 
E E E 
z = -25 „ Fa u | | 
3 _! = 18,9 ” 3 = | = 10 „ 
2 l -n > 105 2 | 
ie | 


420 W. Brednow: 


Die Spontaneität des Interesses für die 11 Hauptstücke beträgt 
54,50% gegenüber einem Werte von 92/, in der Oberklasse bei Stern. 


I. Aussage lI. II. 
c) Verhör: 

o lo a en 
Verhörswissen . 62,85 (66,5) 66 65,45 
Verhörstreue . 709 (73) 69,6 67,9 
Suggestirfragen . . r= 545 (0) 90,9 90,9 

9 (15,5) 0 0 

— 36,5 (14,5) 9,1 9,1 

Suggestivtreue = 86 (82) 100 100 
Farbenfragen . r= 4285 (48,5) 42,85 53,33 
= 50 (40) 50 46,77 

u= 7,15 (11?,) 7,15 0 
Farbentreue . . . = 46,15 (55) 46,15 53,33 


d) Selbstkorrektur: 

12 Verbesserungen, davon 5 Farbenverbesserungen. 

Betrachtet man die Ergebnisse der Gesamtaussage in Hinblick 
auf die in Klammern hinzugefügten Vergleichswerte Sterns, so ist 
man sicher nicht berechtigt, etwas Auffallendes feststellen zu können, 
denn Schwankungen von 10°/, müssen durchaus als zulässig be- 
trachtet werden. 

Im Bericht fällt eine etwas geringe Spontaneität des Wissens 
auf, die aber auch den erwähnten Spielraum kaum überschreitet. Da- 
gegen zeigt ein Vergleich der beiden Kategoriendiagramme erhebliche 
Abweichungen. Während das Verhältnis der Sachen zu den Hand- 
lungen bei Stern in einem Prozentverhältnis von über 40°/, zu über 
15°/, steht, finden sich bei Emma F. die Sachen mit nur 12°/,. die 
Handlungen mit über 30°/, vertreten. Das Verhältnis ist also bei 
Stern in der Oberklasse wie 8:3, im vorliegenden Falle wie 3,6:9, 
d. h. es stellen sich völlig reziproke Werte heraus; die Kategorie der 
Handlungen wird offenbar bevorzugt gegenüber den sachlichen Kate- 
gorien. Stern kommt auf Grund seiner Untersuchungen an den ver- 
schiedenen Altersstufen zu einem wertvollen Ergebnis bezüglich der 
Entwicklung der einzelnen Kategorien beim Kinde. Während das 
junge Kind (7 Jahre) spontan im wesentlichen Personen und Sachen 
in unverknüpfter Aufeinanderfolge bringt ohne Berücksichtigung der 
Tätigkeiten und Eigenschaften (»Substanzstadiume«), findet sich nach 
einigen Jahren ein deutliches Anwachsen der »persönlichen Tätig- 
keiten« (»Aktionsstadium«). Menschen und Dinge werden nicht mehr 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 421 


in rein aufzählender Weise angeführt, sondern die Tätigkeiten der 
Personen treten als eine neue Kategorie hinzu. Bei dieser Gelegen- 
heit führt Stern »den (merkwürdigen Bericht eines Mädchens der 
Mittelklasse an, dessen gänzlich hemmungslose Phantasie alsbald aus 
dem Rahmen des Bildes heraustrat und an die dargestellte Phase eine 
ganze fortlaufende Handlung knüpfte«. Dieser Bericht hat eine auf- 
fallende Ähnlichkeit mit dem vorliegenden. Auch hier das Bestreben 
der dynamischen Darstellung; keine verknüpfte Aufzählung der dar- 
gestellten Phasen, sondern die Schilderung einer sukzessiven Hand- 
lung: »Ich sehe auf dem Bild eine Bauernstube Der Bauer und 
sein Sohn saßen am Tisch und aßen. Die Bäuerin fragt wahrschein- 
lich nach weiterem Begehren des Mannes. Neben ihr liegt in der 
Wiege ein kleines Kind, welches schläft. Der Hund, welcher auch 
in der Stube ist, wartet getreulich, bis ihm ein Bissen vom Herrn 
zufällt. Das Kreuz an der Wand zeigt, daß es eine christliche 
Familie sein muß. Draußen ist Sommer.« Die dem Alter der Ober- 
klasse entsprechende Darstellungsform im Sinne des »Relations- oder 
Qualitätsstadiums«, in dem die Personen und Dinge in ihrem Verhältnis 
zueinander mit gründlicker Erwähnung der Merkmale angeführt sind, 
liegt nicht vor, dagegen zeigt der Bericht ein deutliches Vorliegen 
des Aktionsstadiums. Bei den übrigen Leistungen und dem Gesamt- 
bilde des Kindes ist die Ausdrucksform sicher nicht als geistige 
Zurückgebliebenheit zu werten, sie ist vielmehr die dem lebhaften und 
phantasiereichen Temperament anı meisten adäquate. Das Mädchen 
gibt eben keine sachliche, trockene Aufzählung, sondern hat immer 
das Bestreben, in die dargestellte Phase Leben und Dynamik zu 
bringen: »Die Bäuerin fragt wahrscheinlich ...«, »Der Hund wartet 
getreulich, bis ...e usw. In demselben Sinne ist die auffallend ge- 
ringe Prozentzahl der Spontaneität des Interesses für die 11 Haupt- 
stücke zu werten. Auch hier prägt sich die geringe Neigung aus, 
Personen und Sachen aus dem vorhandenen Gedächtnisschatz einfach 
anzuführen und aufzuzählen. Es sind eben die Handlungen, die Be- 
wegungen, — das Leben, das viel mehr Impulse zur Wiedergabe liefert. 
Daß andererseits die Hauptstücke im Gedächtnisbestand durchaus vor- 
banden sind, zeigen die Ergebnisse des Verhörs, das allgemein gute 
Werte aufweist. 

Suggestiv- und Farbenantworten sind freilich nicht so ganz über- 
einstimmend mit den Standardwerten; die Zahl der richtigen Suggestiv- 
antworten ist nicht unbedeutend geringer, aber doch nicht zugunsten 
der falschen, sondern der unbestimmten Antworten, so daß die Treue 
in beiden Kategorien durchaus genügend ist. 


422 W. Brednow: 


Zu den sekundären und tertiären Aussagen liegen genau ent- 
sprechende Versuche von Stern zum Vergleich nicht vor. M. Lobsien 
hat in einer Arbeit »Über das Gedächtnis für bildlich dargestellte Dinge 
in der Abhängigkeit von der Zwischenzeit« bei völlig anderer Ver- 
suchsordnung ein konstantes langsames Ansteigen der Zahl der Repro- 
duktionselemente vom 1. bis 3. Versuchstage regelmäßig nachgewiesen. 
Diese Beobachtung wird auch durch die hier angegebenen Werte am 
3. und 10. Versuchstage im allgemeinen durchaus bestätigt; eine Aus- 
nahme bilden die Werte für die Treue des Berichtes, die von 100°, 
nach 3 Tagen auf 88°/, und nach weiteren 7 Tagen auf 81°% ab- 
gesunken sind. Daß es im vorliegenden Falle gerade nur der spon- 
tane freie Bericht ist, der diese auffällige Verschlechterung zeigt, ist 
auch ein Beweis für die starken Eigentendenzen des Kindes, die ge- 
rade in diesem Teile des Versuches sich am ungehindertsten auswirken 
können; im primären Bericht wirken die frischen Erinnerungsbilder noch 
hemmend, nach wenigen Tagen aber ist der Einfluß erheblich geringer. 

Die Selbstkorrektur zeigt, daß sowohl die Fehler in den Farben- 
angaben als auch die übrigen falschen Antworten zu etwa 75°/, ver- 
bessert werden. 


Fall IlL. Erna S., 11,2 Jahre alt. 


I. Aussage II. IIl. 
a) Gesamtaussage: 
Umfang der Aussage . . . . 78 (69) 82 79 
Gesamtwissen . . . . . . . 48 (43,8) 54 52 
Güte der Gesamtaussage . . . 61,4 °/ (63 °/,) 65,8 °,, 66 °/, 
b) Bericht: 
Umfang des Berichts . . . . 183 (14,7) 21 19 
spontanes Wissen . . ... IB (13,6) 19 17 
Güte des Berichts . . . . . 100 °/, (92,5 °/) 90,6%, 89,6 °/, 
Spontaneität des Wissens . . 27,3 °/, (31,0 °/,) 35,3 °/, 32,8 °/, 


Das Kategorienbild zeigt keinerlei Abweichendes von dem Durch- 
schnittsbild. 

Die Spontaneität des Interesses für die 11 Hauptstücke beträgt 
71°/, gegenüber 72,8°/, bei Stern. 


l. Aussage II. III. 

c) Verhör: 
o T 0 0 a 0 
Verhörswissen. . . . . 532 (50) 57,75 58,4 
Verhörstreue . . . . . 539 (55) 57,75 58,4 
Suggestivfragen . . r= 635 (48) 60 17 
f= 365 (46) 40 23 


u= 0 (6) 0 0 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 423 


I. Aussage I. II. 

°l fo a °/o 

Suggestivtreue . . . . 63,5 (51) 60 17 
Farbenfragen . . . r= 216 (34,5) 38,5 28,6 
= 7122 (52) 61,6 64,3 
u= 72 (13,5) 0 7,1 
Farbentreue . . . . . 221 (40) 38,5 30,8 


d) Selbstkorrektur: 
20 Verbesserungen, davon 8 Farbenverbesserungen. 


Es finden sich ausgszeichnete Werte in Gesamtaussage und Be- 
richt, ganz besonders auch hinsichtlich der Güte. Die leicht abfallenden 
Prozentzablen der Treue im sekundären und tertiären Bericht sind 
nicht so erheblich, daß sie zu einem begründeten Schluß berechtigen 
könnten. Die Ergebnisse in dem Verhalten Suggestivfragen gegenüber 
sind sehr gut, ebenfalls durch gute Treuwerte dokumentiert. Das 
einzig Auffallende bieten die Antworten auf Farbenfragen und die 
Güte der Farbenaussagen. Um 20°/, ist die Zahl der falschen Farben- 
aussagen größer als bei Stern, um fast 20°, ist die Farbentreue 
schlechter. An späterer Stelle wird auf diese Verhältnisse zusammen- 
hängend eingegangen werden. — Das Kategorienbild weist keine Ab- 
weichungen auf. — 

Die Form der Darstellung des Berichtes entspricht dem Alter 
des Mädchens, zeigt deutliche Ausprägung des Aktionsstadiums, aber 
ohne das Bestreben, wie es im vorigen Fall vorhanden war, ein dy- 
namisches Prinzip zu bevorzugen. — Sekundäre und tertiäre Aussage- 
werte zeigen auch hier im allgemeinen ein entsprechendes Ansteigen 
wie im vorigen Falle. 

In der Selbstkorrektnr werden ungefähr 75 °/, der Fehler, auch 
der falschen Farbenangaben berichtigt. 


Fall III. Carl T., 12,3 Jahre alt. 


I. Aussage I. ILI. 
a) Gesamtaussage : 
Umfang der Aussage . . . . 62 (84) 74 T9 
Gesamtwissen . . . . . . . 42 (65,8) 52 54 
Güte der Gesamtaussage. . . . 68%, (78%) 69.29, 68,5°/, 
b) Bericht: 
Umfang des Berichts. . . . . 16 (27,2) 28 25 
Spontanes Wissen . . . . . . 16 (25,8) 26 24 
Spontaneität des Wissens . . . 38%,  (39°⁄%) 50%, 44,5°/, 


Güte des Berichts. . . . . . 100%, (95% 93,6%, 960/9 


424 W. Brednow: 


Kategorienhild der Mittelklasse bei Stern. 





























orge yN 
Kategor:enbild des Berichts: ll - 4 2 = E 7 3 > -40° 
10: 2 ee OR, w-als 2288 > 
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3- | 3- —_ = - 10 ” 
H UT 
1 | N rose, a Ze 6,25 ER) 1 = Satin TIF o 
CRANES Mosha i Ay 





Die Spontaneität des Interesses für die 11 Hauptstücke beträgt 
91°/, gegenüber 83,5°/, bei Stern. 


l. Aussage II. II. 
c) Verhör: 

"/o Yo 2o °/a 

Verhörswisen. . . . . 54 (63,5) 50,18 53,7 
Verhörstreue . . . . . 56,68 (70) 55,5 55,5 
Suggestivfragen . . r= 41,65 (60) 70 81,8 
f= 8,37 (23) 10 18,18 

u= 49,98 (17) 20 0 

Suggestivtreue . . . . 85 (732) 87,5 81,8 
Farbenfragen . . . r= 25 (47) 9,1 15,4 
t= 50 (41) 81,9 84,6 

üs 23 (12) 9,1 0 

Farbentreue . . . . . 33,3 (53,5) 19,98 15,4 


d) Selbstkorrektur: 


11 Verbesserungen, davon 3 Farbenverbesserungen. 

Umfang der Aussage und besonders das Gesamtwissen sind etwas 
dürftig, auch die Güte der Gesamtaussage bleibt hinter dem ent- 
sprechenden Durchschnitt weit zurück. In gleicher Weise sind die 
Zahlen für die Summen der Angaben im Bericht und für das spon- 
tane Wissen etwas niedrig. Die Spontaneität des Wissens steht auf 
der geforderten Höhe, die Treue des Berichtes dagegen ist denkbar 
günstig. Im Kategorienbild fällt das starke Überwiegen der sachlichen 
Kategorien auf, wie es weit mehr den Leistungen der Unterklasse als 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 425. 


der Mittelklasse entspricht. So ist auch die Form des spontanen Be- 
richts keineswegs mehr dem Alter eines 12 jährigen Knaben entsprechend ;. 
sie ist im wesentlichen eine unverbundene Aufzählung von Sachen 
und Personen, wie sie für das Substanzstadium der Siebenjährigen bei 
Stern charakteristisch ist. Die Spontaneität des Interesses für die 11 
Hauptstücke ist gut. — Im Verhör findet sich ebenfalls konstant ein 
Zurückbleiben der Leistungen. Auch Suggestivfragen setzt der Knabe 
weniger Widerstand entgegen als seine Altersgenossen. Besonders. 
schlecht sind die Farbenleistungen. Nur jede 4. Frage wird richtig 
beantwortet, während fast jede 2. richtig sein sollte. Die Farbentreue 
ist daher um 20°/, schlechter, als gefordert wird. Auffallend ist 
ferner, daß, während fast alle anderen Leistungen im sekundären und 
und tertiären Versuch eine aufsteigende Linie darstellen im Sinne 
einer besseren Leistung, oder sich wenigstens auf ungefähr derselben 
Höhe halten, in diesem Falle im sekundären Versuch ein rapides Ab- 
sinken der Werte erfolgt. Wohl steigt die Linie der richtigen Farben- 
angaben im tertiären Versuch wieder etwas an, die Treuwerte aber 
sinken ständig weiter, von 35°/, auf 20°/⁄, auf 15%, — In der 
Selbstkorrektur werden etwa 50°/, der Fehler berichtigt. 


Fall IV. Gertraud S., 12,3 Jahre alt. 


I. Aussage MD. II. 

a) Gesamtaussage: 
Umfang der Aussage . . . . 86 (69,2) 88 91 
Gesamtwissen . . 2 2 . . . Ô (43.6) 58 61 
Güte der Gesamtaussagen . . . 65,1%% 163°/,) 65,997, 67%, 

b) Bericht: | 
Umfang des Berichtes . . . . 25 (14,7) 52 65 
Spontanes Wissen. . . . . . 22 (13,6) 39 48 
Güte des Berichts. . . . . . 38%,  1(82,5°/,) 75°/, 73,8°%, 
Spontaneität des Wissens . . . 39,2%, (31°/,) 67% 78,6%, 


Das Kategorienbild bietet nichts Auffallendes. Die Spontaneität 
des Interesses für die 11 Hauptstücke beträgt 72,8°/, gegenüber- 
719%, bei Stern. 


c) Verhör. 


I. Aussage II Il 

%/o % ?/o % 

Verhörswisen. . . . . 55,7 (50) 58,3 50 
Verhörstreue . . . . . 577 (55) 58,3 50 
Suggestivfragen: . . r= 100 (48) 100 100 
f= 0 (46) 0 0 


u= 0 (6) 0 0: 


426 W. Brednow: 


1. Aussage II. II. 
%/o o 90 %/o 
Suggestivtreue . . . . 100 (51) 100 100 
Farbenfragen . . . r= 285 (834,5) 294 (25) 52,38 (0) 
f= 21,5 (52) 70,6 (75) 47,6 (100) 
u= 0 (13,5) 0 0 
Farbentreue . . . . . 28,5 (40) 29,4 (25) 52,38 (0) 


d) Selbstkorrektur: 


18 Verbesserungen, davon 10 Farbenverbesserungen. 

In der Gesamtaussage liegen ausgezeichnete Werte vor, zum Teil 
erheblich besser, als sie gefordert werden, und auch im zweiten und 
dritten Versuch wird das Anwachsen der Leistungen deutlich. Ähn- 
lich steht es im Bericht; alles übertrifft die normalen Prozentzahlen; 
nur die Güte des Berichtes ist unbedeutend geringer, und auftallender- 
weise stellen nun auch hier bei der etwas schlechteren Leistung die 
Werte im IL und III. Versuch eine leicht absteigende Linie dar. 

Interessanter ist die Form des Berichtes. Schon bei der ersten 
Wertung stellten sich einige Schwierigkeiten heraus, diese oder jene 
Angabe als richtig oder falsch zu rechnen. Im ersten Bericht heißt 
es u.a.: »Die Frau auf dem Bilde setzt das Mittagessen auf den Tisch, 
damit der Mann essen kann, denn der Mann ist eben vom Ackerbau 
nach Hause gegangen, und die Frau hat den kleinen Knaben solange 
zum Mittagsstündchen in die Wiege gelegt. Der Junge fäugt schon 
an zu essen... Auf dem Tisch steht ein Krug mit Bier für den 
Mann.. In der Spreewälder-Wohnung sieht es sehr einfach aus. 
Dicht am Tisch lag eine Wickelpuppe, die gehörte ganz gewiß dem 
kleinen Knaben, der in der Wiege lag.«e Ähnliche Angaben finden 
sich im zweiten und dritten Bericht: »Der Bierkrug war für den 
Spreewaldermann bestimmt, denn die Spreewälder trinken gern zum 
Essen ein Gläschen Bier Neben dem im übrigen vorzüglichen 
Wissen macht sie diese immer wieder eingestreuten Bemerkungen, 
die sehr wohl in den Rahmen der dargestellten Situation passen, für 
die aber auf dem Bilde jeder Anhaltspunkt fehlt. Es ist ein Be- 
streben da, nett zu erzählen, offensichtlich, weil es ihr Spaß macht; 
nirgends werden jemals zwei Substantiva ohne Verbum oder Adjek- 
tivum nebeneinander gesetzt, sondern immer wird eingeflochten und 
ausgeschmückt, so daß aus der trockenen Wiedergabe eine unterhalt- 
same kleine Milieuschilderung wird. Dabei wird sehr genau beachtet, 
wie die Werte zeigen. Auch Gegenstände, die auf dem Bilde nicht 
oder kaum deutbar sind, bemerkt sie als einzige von den Versuchs- 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 427 


personen und verknüpft sofori irgend eine beliebige Vorstellung mit 
ihnen; schon auf einen minimalen Reiz sind sofort Assoziationen 
zur Stelle. 

Das Kategorienbild stimmt im wesentlichen mit dem Vergleichs- 
bild überein. 

Im Verhör überwiegen ebenfalls gute Durchschnittszahlen. Ganz 
hervorragend verhält sie sich Suggestivfragen gegenüber, die in allen 
drei Versuchen sämtlich richtig beantwortet werden. 

Die Farbenangaben nehmen eine gewisse Sonderstellung ein. Im 
primären Versuch zeigt das Kategorienbild keine diesbezüglichen An- 
gaben, d. h. der Bericht enthält keine spontanen Farbenangaben. Die 
Verhörswerte sind kaum unter dem Durchschnitt. Im II. Versuch 
treten drei richtige und sechs falsche Farbenangaben spontan hinzu, 
im Verhör allein sind 25°/, richtig, 75°/, falsch. Im III. Versuch 
sind 12 richtige und 9 falsche spontane Farbenangaben, denen im 
Verhör nur 1 falsche gegenübersteht. Da Kategorienbilder von IL 
und IlI. Versuchen Sterns nicht vorliegen, und ein Vergleich daher 
unmöglich ist, so würden bei bloßer Berücksichtigung der im Verhör 
gelieferten Angaben die zahlreichen spontanen Farbenangaben un- 
berücksichtigt bleiben. Um diesem Mangel abzuhelfen, wurden daher 
in diesem besonderen Falle im II. und III. Versuch die spontanen 
Farbenleistungen mit hinzugerechnet; in Klammern hinzugefügt sind 
die allein aus dem Verhör berechneten Werte. Die Farbenleistungen 
sind also nicht schlechter geworden, sondern fast sämtliche Farben- 
angaben werden schließlich spontan gemacht und haben so dazu bei- 
getragen, die Spontaneität des Wissens auf 78°/, zu erhöhen, d.h. ge- 
nau das Doppelte des primären Wertes. 

Die Selbstkorrektur, die wie stets in erster Linie auf die Fehl- 
leistungen des tertiären Versuches Bezug nimmt, ist sehr gründlich 
und gewissenhaft. 


Fall V. Sabine M., 7 Jahre alt. 


I. Aussage ll. . II. 

a) Gesamtaussage: 
Umfang der Aussage . . . . 73 (80,7) 63 74 
Gesamtwissen . . . . . . . 49 (52.8) 34 38 
Gute der Gesamtaussage . . . 67,1%, (680) 54,4 °/, 51,3 0/, 

b) Bericht: 
Umfang des Berichts . . . . 15 (12,6) 23 40,5 
Spontanes Wissen . . . . . 14 (11,8) 17 24 
Güte des Berichts . . . . . 93,38 %/, 194 °/,) 73,95 °/, 60 °% 
Spontaneität des Wissens . . . 28,56° , (27 °.) 50 °, 63,15 ° „ 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 29 


498 W. Brednow: 


Das Kategorienbild bietet nichts Auffallendes. Die Spontaneität 
des Interesses für die 11 Hauptstücke beträgt 63,7 °/, gegenüber 73°/, 


I. Aussage II. IlI. 
c) Verhör: 
o 9o io o 
Verhörswissen. . . . . 60,5 (58,5) 42,5 41,17 
Verhörstreue . . . . . 605 (62) 61,9 51,17 
Suggestivfragen . . r= 30 (50) 33,3 60 
= 70 (48) 66,6 40 
u= 0 (2) 0 0 
Suggestivtreue. . . . . 30 (51) 33,3 60 
Farbenfragen . . . r= 12,8 (32,5) 19,98 21,05. 
f= 272 (53,5) 80,02 19,95 
u= 0 (14) 0 0 
Farbentreue . . . . . 728 (38) 19,98 21,05 


d) Selbstkorrektur: 
17 Verbesserungen, davon 4 Farbenverbesserungen. 


Im Bericht und in der Gesamtaussage finden sich normale Werte. 
Nur die Güte des Berichts wird schon nach drei Tagen erheblich 
schlechter und sinkt im tertiären Versuch noch mehr. Eine besondere 
Steigerung erfährt die Spontaneität des Wissens. 


Die Form des Berichtes deutet im wesentlichen das dem Alter 
entsprechende Substanzstadium an. 


Im Verhör fallen die Suggestivleistungen auf. Die Treue ist um 
20°/, niedriger als normal, steigt im Il. Verhör kaum an und erreicht. 
erst in der III. Aussage einen etwas besseren Wert, als er in der I. 
verlangt wird. — Noch auffälliger sind die Farbenergebnisse. Während 
in der ersten Aussage ganz überraschend hervorragende Werte ge- 
liefert werden, sinken die Zahlen schon im II. Versuch um mehr als 
50°0/ und halten sich auch im III. auf diesem sehr schlechten Niveau. 
Verhörswissen und -treue sind im I. Versuch recht gut, weisen im 
II. und III. aber ständig sinkende Werte auf. — Die Selbstkorrektur 
liefert wieder ca. 75°/, Verbesserungen aller Art. 


Fall VI. Paula W., 13,8 Jahre alt. 


I. Aussage JI. III. 

a) Gesamtaussage: 
Umfang der Aussage . . . . 88 (84,3) 85 82 
Gesamtwissen . . . see w DD (69.2) 59 52 


Güte der Gesamtaussage . . . 67,65 °/, (82 °/,) 3,9% 66,96 °/, 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 429 


I. Aussage II. II. 
b) Bericht: 
Umfang des Berichts . . . . 18 (29,8) 25 15 
Spontanes Wissen . .... 17 (29,2) 24 13 
Güte des Berichts . . . . . 952%, (89%) 96 %, 87,1%, 
Spantaneität des Wissens . . . 30,9%, (42°/,) 40,8 °/, 25,1 °/, 


Das Kategorienbild bietet nichts Besonderes. Die Spontaneität 
des Interesses für die 11 Hauptstücke beträgt 72,8°/, gegenüber 92°/, 
bei Stern. 


I. Aussage II. `- IU. 
c) Verhör: 

lo Io /o % 
Verbörswisen. . . . . 542 (66,5) 58,45 57,71 
Verhörstrue . . . . . 59,66 (73) 61,43 58,5 
Suggestivfragen . . r= 54,6 (70) 77,8 54,5 
== 364 (15,5) 22,5 45,46 

= 9 (145) 0 0 

Suggestivtreue . . . . 60 (82) 77,5 54,5 
Farbenfragen . . . r= 6,6 (48,5) 38,5 31,35 
= 73,26 (40) 46,2 68,97 

= 19,14 (11,23) 15,4 0 
Farbentreue . . . . . 83 (55) 45,5 31,35 


d) Selbstkorrektur: 
18 Verbesserungen, davon 9 Farbenverbesserungen. 


In Gesamtaussage und Bericht finden sich etwas dürftige, aber 
doch normale Leistungen. Wesentlich schlechter sind die des Ver- 
hörs. Verhörswissen und -treue sind höchstens an der unteren Grenze 
des Normalen. Den Suggestivfragen erliegt das Kind sehr leicht, mit 
einer primären Treue von 60 °/, statt 82°/,. Ganz auffallend schlecht 
sind die Farbenleistungen. Nur 6,6 °/, der Farbenfragen werden richtig 
beantwortet (statt 48,2°/,), so daß ein Farbentreuwert von 8,3°/, statt 
55%, resultiert. Im II. und III. Versuch steigen die Werte an, er- 
reichen aber nie den Durchschnittswert von Stern. — Ganz allgemein 
fällt auf, daß im II. Versuch wohl überall bessere Leistungen zutage 
treten, daß aber im III. schon die Werte meist unter das Niveau der 
I. Aussage sinken. — Die Selbstkorrektur liefert Verbesserungen zu 
etwa 70°%/,. 


29* 


430 


W. Brednow: 


Fall VII. Gertrud R., 10,4 Jahre alt. 


a) Gesamtaussage: 
Umfang der er 
Gesamtwissen . . 

Güte der Gesamtaussage 

b) Bericht: 

Umfang des Berichts 
Spontanes Wissen 

Güte des Berichts ps fe 
Spontaneität des Wissens . 


Kategorienbild des Berichts: 


E 5 
© 
5 


pd 
=) 
lee 
yag | 
u9u0s8Id 
soyorumgy 
epguyıo 
uejųez 


's1oq 'p uedunjpueg 


I. Aussage 

91 (69) 

68 (43,6) 
68°, (63 °/,) 
22 (14,7) 
22 (13,6) 

100 °,, (92,5 °/,) 
32,34%, (31 /,) 
- 77,18%, 


II. 


88 
62 
70,68 °% 


34 

33 

97,35 °% 
3,46 „ 


NI. 


97 
67 
69 °; 


40 
38 
95%, 
DT m 


Kategorienbild d. Mittelklasse bei Stern: 


EFEpED 
B © a B F g 
5 3 = 8 p 
sES$ 
R F7 o 
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6 2 
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- 18.10 „ 4 | 7 
3 zu 
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4,5 39 1 f A or I 
las inii ii Li 


uəjqez 


Die Spontaneität des Interesses für die 11 Hauptstücke beträgt 
81,9°/, gegenüber 71°/, bei Stern. 


c) Verhör: 


Verhörswissen 
Verhörstreue . 
Suggestivfragen. . r= 


En 
| 


I. Aussage 

"ho lo 
65,78 (50) 
66,7 (50) 
66,8 (48) 
33,2 (46) 


0 (6 


III. 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 431 


I. Aussage 1I. IlI. 
% % o % 
Suggestivtreue . . . . 66,8 (51) 60 41,45 
Farbenfragen . . r= 26,68 (34,5) 25 22.2 
= 66,7 (52) 75 T8 
u= 6,62 (13,5) 0 0 
Farbentreue . . . . . 29,8 (40) 25 22.2 


d) Selbstkorrektur: 
21 Verbesserungen, davon 9 Farbenverbesserungen. 


Die Werte von Gesamtaussage und Bericht sind durchaus gut. 
Sehr abweichend ist das Kategorienbild.e Über ®/, der gesamten 
Berichtangaben fallen in die Kategorie der Sachen. Außer der Er- 
wähnung der Personen wird nur noch eine Raumangabe gemacht. Bei 
Stern hat die Mädchenmittelklasse nur 40°/, Sachen im Bericht und 
dementsprechend mehr Angaben, die in die übrigen Kategorien fallen. 
Im vorliegenden Falle zeigt wohl ein Blick auf die beiden Diagramme 
den erheblichen Unterschied recht deutlich. Das Bild gleicht durch- 
aus dem von Stern für die Unterklasse gefundenen Normalbild, bei 
dem die Sachen mit 70°/, vertreten sind. Auch die ganze Form der 
Darstellung entspricht dem vollkommen: >»... ein Bett, eine Wiege 
mit Betten drin und ein kleiner Junge. Und ein Schirm steht da 
und ein Tisch und Stühle... Und ein Mann ist da, eine Frau 
und ein Junge. Und ein Fenster mit Gardinen und eine Jalousie, 
und ein Blumentopf und eine Uhr... .« Dieses reine Substanz- 
stadium — akzidentelle Angaben fehlen fast völlig — bei einem 
10jährigen Mädchen ist unbedingt bezüglich der geistigen Entwick- 
lung ungünstig zu beurteilen, besonders, da nach Sterns Erfahrungen 
bei Mädchen dieser Altersklasse lebhaftes Interesse für das Tun der 
Personen die Aussage beherrscht. — Die Verhörsleistungen stehen 
im allgemeinen an der oberen Grenze der Norm. Wieder fallen die 
Farbenangaben etwas aus dem Rahmen des Ganzen. Die richtigen 
Farbenangaben sind etwas dürftig, bei den sonst vorzüglichen Werten 
immerhin auffallend, denn eine Treue von 29,8°/, gegenüber 40°/, 
ist inmitten der übrigen Leistungen als zu niedrig anzuschlagen. 
Dementsprechend sinken im II. und III. Bericht diese Werte um 
einige Grade. 

Die Antworten auf Suggestivfragen sind im ersten Verhör aus- 
gezeichnet, zeigen aber bei den folgenden Aussagen ein leichtes Ab- 
sinken. 

Die Selbstkorrektur liefert reichlich Verbesserungen aller Art. 


432 W. Bredoow: 


Fall VIO. Fritz B., 7,8 Jahre alt. 


I. Aussage II. III. 
a) Gesamtaussage : 
Umfang der Aussage . . . . . 80 (80,7) 83 88 
Gesamtwissen . . . . . .. 47 (52,8) 44 43 
Güte der Gesamtaussage . . . . 58% (68 °/,) 53,25%, 49°, 
b) Bericht: 
Umfang des Berichts . . . . . 21 (15,2) 21 32 
Spontanes Wissen . . . . . . 20 (14,3) 18 20 
Güte des Berichts . . . . . . 96%, (94 °/,) 86,4%, 626°, 
Spontaneität des Wissens . . . 42,6% (40,9% 40,9 „ 46,8 „ 


Das Kategorienbild entspricht dem Normalbild. Die Spontaneität 
des Interesses für die 11 Hauptstücke beträgt 63,7 °/ gegenüber 65 °/,. 


I. Aussage Il. Il. 
c) Verhör: 
9 o %/o lo 
Verhörswissen . . . . 45 (58,5) 41,6 40,48 
Verhörstreue . . . . 45,9 (62) 42,12 41,4 
Suggestivfragen . . r= 20 (50) 10 14 
{= 80 (48) 90 86 
u= 0 (2) 0 0 
Suggestivtreue . . . . 20 (51) 10 14 
Farbenfragen . . r= 9 (32,5) 7,7 10 
== $l (53,5) 84,7 80 
u= 10 (14) 7,6 10 
Farbentreue . . . . 10 (38) 8,3 11 


d) Selbstkorrektur: 

7 Verbesserungen, davon 2 Farbenverbesserungen. 

Der Umfang der Gesamtaussage ist ausreichend. Wissen und 
Treue halten sich auf tiefnormaler Höhe und sind, wie bisher bei 
schwachen Leistungen, charakterisiert durch ein langsames Abfallen 
der Kurve im II. und III. Versuch. Im Bericht liegen hinsichtlich 
des Umfangs und spontanen Wissens sehr gute Werte vor, und auch 
die Treue des Berichtes ist gut, fällt aber in den folgenden Aussagen 
ziemlich steil ab. Sehr bedeutend ist die Spontaneität des Wissens 
mit 42°/, statt 27 °/, und langsamem Anstieg an den folgenden Tagen. 
Kategorienbild und Spontaneität des Interesses bieten nichts Auf- 
fallendes. Die Form des Berichts deutet auf ein reines Substanz- 
stadium, Personen und Sachen werden unverknüpft aufgezählt, zum 
Teil recht wirr durcheinander. 

Die Verhörsleistungen sind schlechter. Verhörswissen und -treue 
sind um 13°/, resp. 17°/, geringer als normal. Suggestiv- und Farben- 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 433 


fragen nehmen auch hier eine Sonderstellung ein. Statt jeder 2. wird 
jede 5. Suggestivfrage richtig beantwortet, so daß eine Treue von 
20°/, resultiert statt der geforderten 51°/,. — Die Farbenleistungen 
sind wesentlich schlechter, die Farbentreue beträgt 10°/, statt 38°/,. 

Die Kritik der eigenen Leistung ist offensichtlich mangelhaft; 
kaum ein Drittel der Fehler wird verbessert. Falsche Zusätze werden 
überhaupt nicht korrigiert, voh den Farbenangaben nur 2 berichtigt. 


Die Bedeutung der verschiedenen Abweichungen der Leistung 
bei den einzelnen Kindern soll im folgenden immer im engsten Zu- 
sammenhang mit den Reproduktionsergebnissen der Geschichten er- 
folgen, um so jedesmal ein abgerundetes Bild von den einzelnen Indi- 
viduen und der besonderen Art ihrer Leistungen zu erhalten. 


Während bei den Bildversuchen nach Sterns Methode im wesent- 
lichen Auffassung, Gedächtnis und Merkfähigkeit geprüft werden, 
kommen bei einer Reproduktion von Geschichten noch andere geistige 
Leistungen zur Entfaltung, so besonders die Differenzierung der 
einzelnen Elemente und ihre Kombination zu neuen Komplexen, zur 
Bildung der Leit- oder Dominantvorstellungen, wie Ziehen es 
bezeichnet. An normalpsychologischen Kindern sind derartige 
methodische Versuche nicht in derselben Weise angestellt worden, 
wie sie Stern mit seinen Bildprüfungen gemacht hat. Dagegen liegen 
ausgedehnte Prüfungen vor, die Köppen und Kutzinski an Geistes- 
kranken vorgenommen haben. In ähnlicher Weise hat auch Frau 
Dr. Stelzner vorwiegend an jugendlichen Psychopathen Prüfungen 
angestellt. 

Von vornherein ist klar, daß bei der Wiedergabe einer kleinen 
Geschichte die Persönlichkeit des Erzählers sich in viel vollkommenerer 
Weise äußern kann als im Bildversuch; denn das, was bei diesen den 
geringeren Teil einnimmt, der spontane Bericht, der eben ganz 
nach eigenen Gesetzen geformt wird, ist ja die Wiedererzählung der 
Geschichte. Hier wird mit dem eigenen Gedächtnisschatz frei ge- 
schaltet, da die ganze gebundene Frageform des Verhörs fortfällt. 
Außerdem ist die ganze Aufgabe für ein Kind viel interessanter und 
lebendiger. Die unbegrenzte Ausgestaltungsmöglichkeit läßt natürlich 
andererseits eine schematische Wertung, wie sie bei den Bildversuchen 
immerhin möglich ist, nicht zu. Jeder einzelne Bestand der Aus- 
sage muß für sich gewertet werden, jedesmal in enger Beziehung zu 
den übrigen Leistungen und zu der Gesamtleistung der Persönlichkeit. 


434 W, Brednow: 


Diese Versuche wurden so angestellt, daß den Kindern eine be- 
stimmte Geschichte erzählt wurde, die sie sofort wiederzugeben hatten. 
Es waren drei Erzählungen für die Prüfung ausgewählt, das Stern- 
talermärchen von Grimm, die sogenannte »Haifischgeschichte«, die 
beide von Ziehen für Intelligenzprüfungen oft herangezogen werden, 
und eine »Brandgeschichte«, die Frau Dr. Stelzner ihren Versuchen 
verschiedentlich zugrunde gelegt hat? War das Sterntalermärchen 
bekannt, so kamen nur die beiden anderen Geschichten in Frage. Ein 
Eingreifen in den Ablauf der Erzählung wurde streng vermieden. 
Nach 4 Tagen wurde eine erneute Wiedergabe der Geschichten ge- 
fordert, bei einigen Kindern auch noch ein drittes Mal. 


Fall I. Emma F. 


Das Sterntalermärchen war bekannt. Die Brandgeschichte wurde ausgezeichnet 
getreu wiedergegeben, ganz ebenso die Haifischgeschichte. Bei den Bildversuchen 
war einzig und allein die Form der Darstellung auffallend gewesen, die das sicht- 
liche Bemtihen zeigte, das Bild im Sinne einer kleinen Geschichte wiederzugeben, 
nicht aber trocken aufzuzählen, was alles zu sehen war. Daher ist es nicht wunder- 
bar, wenn bei der Reproduktion kleiner Erzählungen mit fast sensationeller Hand- 
lung das Kind auch keine Schwierigkeiten hat, das Gehörte getreu wiederzugeben. 
— Nach 4 Tagen wurden beide Geschichten mit fast denselben Worten erzählt. 


Fall M. Erna S. 


Es wurden Sterntalermärchen und Brandgeschichte erzählt. Es fanden sich 
keine falschen Elemente in der Wiedergabe. Alles ist gut differenziert und zu dem 
geforderten Ganzen wieder zusammengefügt, aber doch in äußerst eintöniger und 
sehr dürftiger Weise. So heißt es: »Das Mädchen war fromm und gut und hatte 
auf Gott Vertrauen, und da ging sie in den Wald. Da begegnete ihr ein armer 
Mann und sagte: »Gib mir was essen.« Und da gab sie ihm ihr Stückchen Brote 
usw. Ganz ähnlich ist die Brandgeschichte reproduziert. — Bei den Bildversuchcn 
standen eigentlich nur die Farbenergebnisse deutlich außerhalb der Durchschnitts- 
werte, etwa 20°/, schlechter als diese. Farbenblindheit ist dadurch auszuschließen, 
daß in der Selbstkorrektur fast alle Farbenfehler spontan berichtigt werden. Es 
bandelt sich also um ein schlechtes Gedächtnis der Farbenempfindungen ohue Störung 
der Wahrnehmung. Zwar haben Ziehen und andere verschiedentlich darauf hin- 
gewiesen, daß ein schlechtes Farbengedächtnis oft als charakteristisches Symptom 
für jugendlichen Schwachsinn gefunden wird, genaue Untersuchungen an normalen 
Individuen haben aber doch stets gezeigt, daß die Farbenleistungen der verschiedenen 
Menschen so mannigfache Unterschiede aufweisen, daß es schlechthin unmöglich ist, 
eine Norm aufzustellen, oder wenigstens aus den Farbenleistungen Schlüsse auf Jie 
Gesamtintelligenz zu ziehen. Eigene Beobachtung kann die Unzuverlässigkeit der 
Farbenleistungen jeden Tag bestätigen. Wichtiger ist in diesem Falle. zu wissen, 
daß das Kind sowohl in seinen Schulleistungen als auch bei den Anforderungen des 
täglichen Lebens erheblich unter, dem Durchschnitt stand, so daß darin auch die 
dürftige Schilderung ihre Erklärung findet. 





Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 435 


Fall II. Carl T. 


In Haifischgeschichte und Brandgeschichte wurde das Wesentliche vollkommen 
erfaßt, und auch in entsprechender Weise ohne Auslassungen oder fehlerhafte Zu- 
sätze wiedergegeben. — Die Bildversuche hatten im allgemeinen etwas dürftige 
Werte ergeben, besonders auch hinsichtlich der Farbentreue. Die Art der Ge- 
schichtenwiedergabe war erheblich lebhafter als der spontane Bericht, der unter 
dem Niveau der Altersklasse stand, wie das sehr charakteristische Kategorienbild: 
gezeigt hatte. 


Fall IV. Gertrud S. 


Die Haifischgeschichte wird folgendermaßen wiedergegeben: »Ein Pfarrer gebar 
einen Sohn. Als dieser größer wurde, zog er auf ein Schiff. Und als er mit einem 
Hamburger Schiff von der Reise zurück kam, warf ihn der Sturm über Bord. Er 
wurde von dem den Dampfer umkreisenden Haifisch verschlungen und mit nach. 
dem Abgrund gezogen. Der Haifisch hinterließ einen Blutstreifen. — Die Schiffs- 
mannschaft wunderte sich, daß es so schnell gehen konnte. Der junge Mann konnte- 
sich nicht retten, weil der Haifisch ihn schon verschlungen hatte. Er mußte sich 
also ruhig von dem Haifisch verschlingen lassen.<c Nach 4 Tagen schildert sie den 
Vorgang mit ganz ähnlichen Worten und setzt noch hinzu: »Die Eltern waren sehr 
traurig über den Verlust ihres Sohnes.« — Die Brandgeschichte wird ziemlich 
genau erzählt und schließt mit den Worten: »Wir bedauern das unvorsichtige Kind.« 
Bei der zweiten Reproduktion erfährt die Geschichte schon eine Änderung. 
Während es im Text heißt, daß das Mädchen ins Krankenhaus gebracht wird, und 
dort stirbt, erzählt sie: »Das Mädchen wurde durch die Flammen sofort getötet. Die 
Leiche wurdo nach dem Schauhause gebracht. Als die Eltern nach Haus kamen, 
waren sie sehr traurig, denn sie fanden ihr Kind nicht vor.« — Ehe zur Bewertung 
dieser Leistungen geschritten wird, sei an die Ergebnisse der Bildversuche erinnert. 
Es fanden sich hier allgemein sehr gute Zahlen, die meist weit über dem Durch- 
schnitt standen. Dagegen lag im Bericht offensichtlich das Bestrebeu zutage, aus 
dem Geschehenen eine . nette Geschichte zu machen, zu erzählen, was sehr wohl 
hineinpaßte in den Rahmen der dargestellten Situation, was aber nach dem Bilde 
allein keineswegs mit Sicherheit behauptet werden konnte. Vergleicht man die Ge- 
schichten, so ist auf den ersten Blick eine große Übereinstimmung da. In der 
Haifischgeschichte wurden im ersten Satz Namen und Orte erwähnt, die das Kind 
nicht behalten hat und auch gar nicht behalten soll, denn sie sind ja gänzlich un- 
wesentlich für den Leitgedanken und den Zusammenhang der Handlung. Diese 
Lücke aber scheint das Mädchen bemerkt zu haben, und sie ergänzt die vergessenen 
Namen dadurch, daß sie fast im Märchentone beginnt: »Ein Pfarrer gebar einen 
Sohn. Als dieser größer wurde, zog er auf ein Schiff«e usw. Aus den nichts- 
sagenden Namen soll gleichsam der Ansatz zu einem Stückchen Lebensgeschichte 
werden. Es folgt die sehr richtige Wiedergabe der Handlung. Dann kommt eine 
Pause. Sie erinnert sich, daß von der »entsetzten Schiffsmannschaft« die Rede 
war und fährt fort mit den höchst komischen Sätzen: »Die Schiffsmannschaft 
wunderte sich, daß es so schnell gehen konnte. Der junge Mann konnte sich nicht 
retten, weil ihn der Haifisch schon verschlungen hatte. Er mußte sich also ruhig 
verschlingen lassen.« Es ist, als ob irgend etwas sie dauernd aufforderte, immer 
mehr zu erzählen, und da in ihrem Gedächtnis kein Material mehr vorhanden ist, 
wiederholt sie sich und macht immer wieder neue Ansätze. In demselben Sinne 
ist auch der Zusatz bei der lI. Reproduktion aufzufassen: »Die Eltern waren sehr 


436 W. Brednow: 


traurig über den Verlust ihres Sohnes.« — In der Brandgeschichte setzt sie aus 
‚demselben Bedürfnis heraus zum Schluß hinzu: »Wir bedauern das unvorsichtige 
Kind.e Von größerer Bedeutung scheint die Wiederholung der Geschichte zu sein. 
Der Leitgedanke ist durchaus richtig wiedergegeben. Aber in den Einzelheiten 
stimmt doch schon einiges nicht. Statt schwerverletzt in das Krankenhaus eingeliefert 
zu werden, stirbt das Mädchen sofort, und die Leiche wird ins Schauhaus gebracht. 
In den wenigen Tagen ist das Erinnerungsbild verblaßt, ohne daß jedoch dadurch 
irgend eine Stockung im Ablauf der Erzählung bedingt worden wäre. Um so 
sensationeller wird das betreffende Stück jetzt gestaltet, aber streng nach dem Sinne 
des Ganzen eingefügt. Ebenso die kleine Variation am Schluß: »Als die Eltern 
nach Haus kamen, waren sie sehr traurig, denn sie fanden ihr Kind nicht vor.« — 
In allen Äußerungen also findet sich das Bestreben, zu phantasieren, aber stets in 
der vorgeschriebenen Tonart des Ganzen. Nicht das erscheint als Hauptaufgabe, 
recht genau das Geschehene oder Gehörte wiederzugeben, sondern nach eigenem 
Bedürfnis in ungefähr demselben Sinne zu erzählen. 


Fall V. Sabine M. 

Die Haifischgeschichte lautet: »Auf einem Osterndampfer da war ein Mann 
drauf, der fuhr durch das Meer; er hatte ein Fischnetz gehabt, da waren Fische 
drin. In das Meer war ein Knabe gefallen, da kam zufällig ein großer Fisch, der 
hatte ihn verschlungen.< Die Leitvorstellung ist hier sicherlich nicht in vollem 
Umfange aufgefaßt worden. Dadurch, daß von einem Vater und seinem Sohne die 
Rede war, ist vermutlich der Fehler entstanden, daß ein Mann und ein Knabe auf 
dem Schiff fubren, und daß der Knabe umkam. Völlig frei ist die Erwähnung der 
Fischnetze. Auch bei der Wiederholung heißt es: »Es waren auch Fischnetze da, 
die hingen aus dem Schiff heraus,« also eine neue Variation. Im übrigen finden 
sich wesentlich dieselben Fehler. — Die Brandgeschichte wird das erstemal getreu 
erzählt, nach 4 Tagen aber ist die Ursache des Brandes schon eine andere: »Auf 
dem Tisch stand eine Lampe, und da kam das Fräulein so nahe ran an den Zylinder 
von der Lampe und da hat sie sich verbrannt.« Ein ungefähres Bild des Vorganges 
war wohl noch vorhanden, aber es war nicht mehr so zuverlässig, daß eine eigene 
Erfindung zurückgewiesen werden konnte. — Bei den Bildversuchen waren die 
Suggestiv- und Farbenleistungen schlechter als der Durchschnitt, im übrigen aber 
fanden sich gute Werte. Die geringe Treue gegenüber Supgestivfragen spricht für 
eine nur oberflächliche Verankerung der Eindrücke und eine große Beeinflußbarkeit. 
Und für eine solche leichte Auffassungs- resp. Gedächtnisstörung sprechen auch 
die Ergebnisse der Reproduktion der Geschichten. Eigene Ergänzungen fanden sich 
an nur unbedeutender Stelle. 


Fall VI. Paula W. 

Die Baifischgeschichte wird folgendermaßen wiedergegeben: »Im Ozean war 
ein Sohn des Pfarrers. Er wollte hinausfahren, da ist er von einem großen Fisch 
überfallen worden. (Pause) Da kam ein Mann, und der wollte ihn retten, aber 
er traute sich nicht. Dann kam ein Schiff, und von das Schiff wurde er gerettet.« 
Ein Teil des Leitgedankens wird rıchtig erfaßt und wiedergegeben, aber die Haupt- 
sache, was aus dem Manne geworden ist, wird nicht gleich erzählt, ist also nicht 
als das Wesentliche der Geschichte herausdifferenziert worden. Diesen Mangel scheint 
auch das Mädchen empfunden zu haben, denn nach einer Pause, während deren 
absichtlich nicht durch irgendwelche Fragen eingegriffen wurde, fährt sie fort und 
erfindet frei einen Schluß. Unbestinmt scheinen die Worte: »Vor den Augen der 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 437 


entsetzten Schiffsmannschaft« noch einen Eindruck der allgemeinen Situation hinter- 
lassen zu haben, denn daß eine Rettung trotz des Bestrebens der Mannschaft nicht 
möglich war, scheint der Anstoß zu folgendem zu sein: »Da kam ein Mann, der 
wollte ihn retten, aber er traute sich nicht.«e In dem frei erfundenen Ausgang gipfelt 
dann die schlechte Leistung: »Dann kam ein Schiff und von das Schiff wurde er 
gerettet.« Was für Gründe vorlagen, den ungünstigen Ausgang in einen glück- 
lichen umzuwandeln, ob vielleicht in Erinnerung an Märchen, in denen das Unglück 
doch noch zum Guten gekehrt wird, läßt sich natürlich nicht mit Sicherheit sagen. 
Jedenfalls ist die Erinnerung an das Erzählte sehr mangelhaft — eine Störung der 
Aufmerksamkeit ist nach den Bilderleistungen und dem ganzen Verhalten während 
des Vortragens der Geschichte durchaus abzulehnen —, andererseits aber ist eine 
‚gewisse Aktivität vorhanden, die die Lücke schnell und in ihrer Art ganz sinngemäß 
ausfüllt. Nach 4 Tagen ist die Wiedergabe annähernd dieselbe, jedesmal wird der 
junge Mann unter denselben Verhältnissen gerettet. — Auch in diesem Falle war die 
Brandgeschichte verständlicher: »Ein Fräulein wollte zur Geburtstagsfeier gehen. Als 
sie sich anziehen wollte, sah sie ein spitzes Gasrohr auf dem Kochherd, das brannte. 
Bie wurde von den Flammen angeschlagen und rannte« usw. Es folgt die richtige 
Wiedergabe des weiteren Verlaufes.. Auch hier lag eine Gedächtnislücke vor und 
zwar darüber, wie der Brand zustande gekommen war. Sofort aber gewinnt mit 
dem Bewußtsein, daß etwas fealt, eine Tendenz die Oberhand, die Ursache zu er- 
finden. Sie läßt die Lücke nicht frei, sondern erfindet etwas ibr mehr oder weniger 
Wabrscheinliches. Der Leitgedanke freilich, die Dominantvorstellung, ist hier völlig 
richtig herausgefunden und ausgedrückt. [ín beiden Reproduktionen finden sich also 
deutliche Hinweise für Gedächtnisstörungen, die durch eigene Erfindungen aus- 
geglichen werden; es sind hier eben nicht bloße Hinzufügungen, die den Sinn des 
Ganzen wenig verändern, sondern Angaben, die von der Wahrheit doch recht weit 
entfernt sind. — Auch in diesem Falle deuteten die mangelhaften Werte der 
Suggestivleistungen auf eine gewisse Dürftigkeit und Schwäche der erhaltenen Ein- 
drücke, vor allem aber bot das Kind in seinen mannigfachen Äußerungen des täg- 
lichen Lebens reichlich Hinweise auf einen Intelligenzdefekt. 


Fall VII. Gertrud R. 


Im Bildversuche waren durchweg mittlere Werte vorhanden — mit Ausnahme 
hinsichtlich der Farbenleistungen, auf deren Ausfall allein kein Urteil zu gründen 
ist, wie an früherer Stelle ausgeführt wurde. Äußerst dürftig und primitiv war die 
Form der Darstellung. Entsprechend wurden die Geschichten wiedergegeben. »Es 
war einmal ein Pfarrer und der hatte einen Sohn, und der Sohn war Offizier, und 
da war der Sohn auf dem Dampfer. Und da kam eine Welle, und da war er ius 
Wasser gefallen vons Boot. Und da kam ein Fisch und zog ihn mit runter nach 
dem Grund. Und da war noch eine Blutschlange, und die beiden aßen ihn auf.« 
Bis auf den Schlußsatz ist die Leistung gut, wenn man von der sehr eintönigen 
Art der Darstellung und Satzverbindung »und da war«, »und da kame, absieht, die 
sich im übrigen völlig mit der des Berichtes deckt. Es heißt in der Geschichte: 
seinen dunklen Blutstreifen hinter sich lassend«, ued es scheint, als sei diese bei- 
läufige Bemerkung dem Mädchen zu unklar und fremd gewesen, als sähe sie aber 
doch das Bild des roten Blutstreifens fast noch vor sich, ohne sich bestimmt seiner 
Bedeutung zu erinnern. Sie gibt ihm nun eben eine Bedeutung und macht aus 
dem nachfolgenden Blutstreifen eine »Blutschlange« und schafft damit gleich eine 
neue, fast sensationelle Szene, wie die »Blutschlange« und der Haifisch den Menschen 
auffressen. — Nach 4 Tagen heißt es: »Es war einmal ein Pastor, und der hatte 


438 W. Brednow:; 


einen Sohn, und der Sohn war einmal auf einem Schiff drauf. Und eine Welle 
hat ihn ins Wasser geworfen. Und da kam ein Blutfisch und nahm ihn mit runter 
zum Grund. Und dann kamen eine Reihe Fische, und die aßen ihn auf. Und das 
Schiff ging auch unter, weil die großen Wellen so auf das Schiff raufgeschlagen 
sind, und dabei ist es untergegangen.«e Die Geschichte wirkt jetzt gleichsam wie 
ein Komparativ der ersten Fassung, »eine Reihe Fische kamen« usw., »und das 
Schiff ging auch unter« usw. Fast alle Einzelheiten sind erheblich aufgebauscht. 

Die Brandgeschichte wurde am ersten Tage in fast allen Teilen recht gut 
wiedergegeben, nach 4 Tagen aber wesentlich mehr entstellt als die Haifisch- 
geschichte. Das Kind erinnert sich nicht mehr der Tatsache, daß das Mädchen 
schweren Brandverletzungen erlegen ist, sondern wandelt selbst diesen Teil der Leit- 
vorstellung um: »Das Mädchen war nachher krank vor Schreck (!) und kam ins 
Krankenhaus usw. Nach wenigen Tagen schon ist der Eindruck so verwischt, daß 
diese Haupttatsache gefälscht wird. Auffallend und vielleicht ganz charakteristisch 
ist, daß im sekundären und tertiären Bildversuch die Werte keineswegs eine ent- 
sprechende Verschlechterung erfahren, daß also die lebhafte Darstellung eines Vor- 
ganges, der das kindliche Affektleben stärker anspricht, einer Verfälschung in viel 
höherem Maße ausgesetzt wird. 


Fall VIII, Fritz B. 

Bei der Bilderprüfung waren eine hohe Spontaneität des Wissens (40°/, 
statt 27°/,) und recht schwache Leistungen im Verhör aufgefallen. Dazu kam hier 
zum ersten Male eine höchst mangelhafte Kritik der eigenen Leistung. — Da das 
Sterntalermärchen nicht bekannt war, wurde es in diesem Falle zusammen mit der 
Haifischgeschichte zugrunde gelegt. »Ein Mädchen hatte keine Eltern, keinen Vater 
und keine Mutter und hatte bluß die Kleider und ein Stückchen Brot in die Hand. 
Derweil kam ein Mädchen, das hatte nichts anzuziehen. Das Mädel gab dem Kind 
die Kleider und bisweilen fielen Sterne vom Himmel, und wie sie sie aufhob, waren: 
es lauter kleine Talers. Und da ging sie tief in den Wald rein. Bisweilen wird 
es ganz duster, dann ging sie weiter in den Wald. Dann kam ein Mann, der 
bettelte um ein Stückchen Brot. Und dann ging sie zu dem lieben Gott auf 
das Feld und da sagte sie: »Mich ist so hungrig, gib mir was zu essen, lieber 
Gott!«e — Der Anfang der Geschichte weicht in keiner Weise von dem Vorbild ab. 
Dann aber, wo die Differenzierung der in verschiedener Weise abgestuften Handlung 
einsetzt, tritt eine Verwirrung eiu. Die Begegnung mit dem Mädchen ist noch 
richtig aufgefaßt und wiedergegeben. Von dem Mann, der um Brot bettelt, wird 
zwar noch berichtet, aber erstens an falscher Stelle, und zweitens wird nicht gesagt, 
daß er das Brot geschenkt bekommt. Diese Auslassung als Nichtwissen zu buchen, 
ist man wohl nicht ohne weiteres berechtigt, denn mit den dann folgenden Sätzen 
scheint doch gemeint zu sein, daß das Kind das Brot verschenkt hat. Die große 
Verwirrung, die nun aber zusammenkombiniert ist, beruht sicher auf einer Ver- 
quickung der Person des Bettlers mit dem lieben Gott. Während im Märchen 
gesagt ist, daß das Kind im Vertrauen auf Gott hinaus aufs Feld geht und daß eir 
Bettler um Brot bettelt, kombiniert der Knabe wieder falsch und iäßt das Mädchen 
die Worte des Bettlers zum lieben Gott sprechen. Diese Beobachtung deckt sich 
genau mit denen Köppens und Kutzinskis, die in ihrer Arbeit verschiedentlich 
darauf hingewiesen, daß in erster Linic die »differenzierende Aktivität« leidet, während 
die kombinatorische Tätigkeit noch ganz rege ist, Hier ist diese aber ganz besonders 
rege, und das zeigt die Wiedergabe nach 4 Tagen: »Ein Mädel hatte keine Eltern. 
Da ging sie tief in den Wald rein. Da kam ein armes Mädel, das hatte nix anzuziehen. 








Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 439 


Und da ging sie tief in den Wald rein. Und auf einmal kamen goldene Sterne vom 
Himmel und das waren lauter Taler. Und da ging sie immer tiefer und immer 
tiefer in den Wald, und da kam sie an ein Häuschen, da wohnte der liebe Gott, 
Und da hat das Mädchen gesagt: »Bitte, lieber Gott, geben Sie mir doch ein Stückchen 
Brot, ich bin so hungrig.< Und da war sie müde, und da hat sie gesagt: »Bitte, 
bitte, lassen Sie mir doch in Ihr schönes Bettchen, lieber Gott!«e — Auch hier ist 
der Anfang der Erzählung, die einfache Schilderung der Situation ganz gut aus- 
gedrückt, aber mit dem Komplizierterwerden der einzelnen Elemente und der größeren 
Schwierigkeit der Differenzierung beginnt auch die Abweichung. Und zwar ist hier 
von Anklängen an die Vorlage eigentlich nichts zu finden; es wird aus eigener 
Phantasietätigkeit eine Handiung geschaffen. Das schwache Erinnerungsbild — ein 
gutes. frommes Mädchen im Walde — genügt, um ohne Bedenken ein eigenes 
Geschichtchen zu formen. Am 10. Tage ist auch diese Grundstimmung geschwunden, 
und nun geht die Phantasie des Knaben sogar aus dem Rahmen der Märchenwelt 
heraus mitten hinein in die krasse Realität: ».... und da ging sie immer weiter 
und wie sie an ein Geschäft kam, da hat sie sich was zum Anziehen gekauft!« — 
Die Haifischgeschichte, die offenbar weniger Gefallen fand, enthält eine sehr dürftige 
Wiedergabe: »Junger Manu, ein fisch, ein Ölfısch. Eine Welle hat den jungen 
Mann verschlungen. Da kam ein Ölfisch, der hat den jungen Mann mit runter 
gezogen. Hinter ihm kam Blut. Rettungsschiff, Rettungsboote.« Der Leitgedanke 
ist sicher richtig erfaßt und ausgedrückt, wenn auch recht primitiv und uninteressiert. 
In der Erinnerung daran, daß eine Rettung unmöglich war, erschienen in der 
Reproduktion die Worte: »Rettungsschiff, Rettungsboote.« Nach 4 Tagen sieht die 
Erzählung anders aus: »Es war einmal ein junger Mann, der ist ins Wasser gefallen. 
Da kam ein dicker Frosch und der erschnappt ihn und zieht ihn mit runter. Und 
da kam ein Rettungsboot, und der Schiffer taucht unter, wo der junge Mann hin- 
gefallen ist. Da kamen hinter ihm lauter Blutwellen; der hat ihn nämlich in die 
Backe gekniffen, und da ist aus dem Mund Blut herausgekommen.« Der Leitgedanke 
ist auch hier im wesentlichen richtig. Aber an die Stelle des etwas rätselhaften 
Ölfisches« ist »ein aıcker Frosch« getreten, der dem Knaben viel bekannter ist; 
daher wird auch die ganze Situation lebhafter. Aus der Andeutung »Rettungsschiff, 
Rettungsboote« ist eine kleine Szene geworden, von der im Text nichts erwähnt ist, 
die im Gegenteil als unmöglich bezeichnet wird. Auch daß hinter dem Mann im 
Wasser Blut sichtbar war, ist noch im Gedächtnis. Aber entsprechend der viel 
lebhafteren und persönlicheren Darstellung wird auch dies näher erläutert durch den 
sehr drastischen Schlußsatz. — Bei der dritten Wiedergabe wird auch der Leit- 
gedanke, die Haupthandlung, wesentlich verändert: »Es war ein junger Mann, der 
ist ins Wasser gefallen, und da kam ein Blutfisch, der zog den Mann mit runter, 
und da hinter ihm kamen Blutwellen. Und da kam ein Rettuugsschiff, und der 
Maon von dem Rettungsschiff ging runter und wollte den jungen Mann suchen. Da 
haben sie den jungen Mann nicht gefunden und da fuhr das Rettungsschiff weiter, 
and dann haben sie den jungen Mann auch noch nicht gefunden. Und dann tauchte 
der Mann nochmal unter, und dann haben sie den jungen Mann gefunden.« Mehr 
als die Hälfte dieser letzten Wiedergabe entstammt offenbar der Erinnerung an die 
Andeutung: »Rettungsschiff, Rettungsboote« aus der ersten Reproduktion. Der Ge- 
danke an einen Rettungsversuch haftet wohl noch im Gedächtnis, und nun erzählt 
der Junge eben, wie der Verunglückte gesucht wird. Und so, wie er in der Ge- 
schichte nach ihm suchen läßt, so sucht er selbst nach dem Endausgang und sucht, 
bis er endlich zu einem Ruhepunkt und Schluß kommt, und das Suchen eben damit 


440 W. Brednow: 


endet, daß der junge Mann gefunden wird. Die Zielvorstellung ist auf diese Weise 
vollkommen verfehlt, und man hat dabei den Eindruck, daß das Bestreben, irgend- 
etwas zu erzählen und sich dem Strome des Erzählens ganz zu überlassen, viel 
größer ist als die Bemühung. intensiv an das vorgetragene Vorbild mit seinem Aus- 
gang zu denken. — 

Bei keinem der Kinder sind derartigestarke Abweichungen mitimmer 
neuen Variationen bei wiederholter Reproduktion zutage getreten; die 
Bedingungen dafür müssen in diesem Falle für eine Verfälschung be- 
sonders günstig gewesen sein. Nehmen wir noch einmal die Bild- 
versuche zu Hilfe, so liegt in der erhöhten Spontaneität des Wissens 
eine große Aktivität ausgedrückt, die weit über das Durchschnittsniveau 
hinausragt. Dazu kommt die geringe Resistenz gegenüber Suggestiv- 
fragen als Zeichen eines recht oberflächlich eingeprägten Wissens. 
Faßt man diese beiden Faktoren zusammen, und berücksichtigt man 
die erheblichen Anzeichen für eine Debilität, die in dem ganzen 
Wesen des Knaben und seinen Leistungen überhaupt ausgesprochen 
liegen, so erscheinen die Reproduktionen der Erzählungen mit Not- 
wendigkeit aus dem Gesamtbilde der geistigen Persönlichkeit entstanden. 

Überblickt man noch einmal die Leistungen der verschiedenen 
Kinder in ihrer Gesamtheit und versucht man, sie miteinander zu ver- 
gleichen, vielleicht in der Absicht, irgend etwas ihnen allen gemein- 
sames zu entdecken, so erscheint dies vorerst nicht möglich, da in 
jedem Falle die Verhältnisse eigentlich anders liegen, und ein allen 
Gemeinsames nicht zu finden ist. Um eine gewisse Ordnung und 
Übersicht in diese Dinge zu bringen, erscheint es daher notwendig, 
einige Gruppen zu bilden, die doch gegeneinander in gewisser Weise deut- 
lich abgegrenzt sind. Fall II. und III. müssen ohne Frage ausgesondert 
werden, da bei ihnen nichts wesentlich Auffallendes zu beobachten ist. 
Es bestätigte nur die Form der Darstellung in gewisser Weise Anzeichen 
leichter Intelligenzdefekte, die die Kinder im täglichen Leben boten. 

Eine Ähnlichkeit der Leistungen zeigte sich bei Emma F. (I) und 
Gertrud S. (IV). Bei der ersteren war das Bestreben überaus deutlich, 
den aufgenommenen Inhalt im spontanen Bericht möglichst zu beleben, 
ohne daß aber Veränderungen des Inhaltes vorgenommen oder falsche 
Zusätze gemacht wurden. Einen Schritt weiter aber geht Gertrud S. 
(IV). Sie begnügt sich nicht damit, den Inhalt durch Hervorheben 
der Kategorien der Handlungen zu beleben, sondern sie fügt reichlich 
phrasenhafte Elemente ein, um so durch die Menge nebensächlichen 
Beiwerks ein farbiges Bild zu schaffen. Wirklich grobe Fehler sind 
im spontanen Bericht der Bildwiedergabe in diesen Zusätzen nicht 
eigentlich enthalten, dagegen lagen in der sekundären Reproduktion 
der Geschichten schon Fehler vor, die neben den phrasenhaften Aus- 


Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 441 


schmückungen in weniger bedeutenden Elementen zutage traten und 
die sichtlich dem geringen Widerstande gegenüber eigenen sozu- 
sagen additionellen Tendenzen entstammten. Anhaltspunkte für einen. 
Intelligenzdefekt lagen weder in diesem noch im vorigen Falle vor. 

Die übrigen 4 Fälle schwanken zwischen den eben gekennzeich- 
neten Polen, die durch die erste und zweite Gruppe dargestellt sind. 
Bei Sabine M. (V) fand sich eine Störung der Auffassung resp. des. 
Gedächtnisses verbunden mit kleinen Erfindungen zum Teil spiele- 
rischer Art, ohne daß Zielvorstellungen verfehlt waren. Bei Gertrud 
R. (VII), die in den Leistungen des täglichen Lebens deutliche In- 
telligenzdefekte zeigte, fand sich die Bestätigung sowohl in den Bild 
wie in den Geschichtenversuchen. Außerdem traten hier verschiedent- 
lich kleine Erfindungen auf, die bei den einzelnen Reproduktionen 
variierten, daneben aber auch gelegentlich Fehler in den Zielvor- 
stellungen. — Noch einen Grad stärker sind die Ausfallserscheinungen 
bei Paula W. (VI), die auch bei der Geschichtenreproduktion ver- 
schiedentlich die’ Zielvorstellung verfehlt und die Defekte leicht und 
gern durch Erfindungen ganz sinngemäßer Art zu ergänzen sucht. — 
Bei Fritz B. (VIII) finden sich starke Anzeichen einer Intelligenz- 
schwäche schon in den Bildversuchen. In den Geschichten treten 
neben gänzlicher Unbeachtung des Leitgedankens die phantastischen. 
Erfindungen und Variationen hinzu. 

Das eine geht aus dieser kurzen Zusammenstellung hervor, daß 
in den Fällen, in denen mit den angewandten Mitteln und nach dem 
sonstigen Eindruck der Persönlichkeit keine erheblichen Intelligenzdefekte 
nachzuweisen sind, die Veränderungen bei den RKeproduktionen sich 
nicht in wesentlichen Entstellungen äußern, daß die Erinnerungs- 
täuschungen sehr gering sind. Es erfährt eigentlich höchstens die 
Intensität der Gebilde eine Änderung, und zwar in den betreffenden. 
beiden Fällen in dem Sinne, daß dem zu reproduzierenden Material der 
Stempel der eigenen Persönlichkeit in recht eindrucksvoller Weise auf- 
geprägt wird, besonders durch sinngemäße Hinzufügungen, die sich im 
Rahmen des Ganzen halten. Im ersten Falle (I) ist dies nicht so aus- 
gesprochen wie im zweiten (IV), wo sich bei diesen Bestrebungen und 
dem infolgedessen größeren Umfange gewisser Reproduktionen eine 
leichte Verwaschenheit findet, die eigentlich den Rindruck läppischen 
Wesens macht. — In der größeren Gruppe der Kinder mit mehr oder 
weniger ausgeprägten Zeichen von Intelligenzdefekten finden sich die 
Erinnerungstäuschungen in umso ausgedehnterer Weise und an umso- 
bedeutenderer Stelle, je größer die Defekte sind. (Im letzten Falle 
der Gruppe [Fritz B.], bei dem die Intelligenzstörungen offenbar den. 


442 W. Brednow: Reproduktionsversuche an pseudologischen Kindern. 


höchsten Grad erreichen, nehmen diese phantastischen Variationen des 
Themas geradezu groteske Formen an.) — 

Es ist nach dieser Zusammenfassung also wichtig, zur Beant- 
wortung der Frage, ob die Reproduktionsfähigkeit pseudologischer 
Kinder Auffälligkeiten aufweist, zu scheiden zwischen Kindern, bei 
denen Hinweise auf Intelligenzstörungen irgendwelcher Art fehlen, und 
solchen, die in mehr oder minder großem Umifange gewisse Defekte 
zeigen. Im ersteren Falle kann das Material eine Wandlung im Sinne 
einer Intensitätsänderung — sei es positiver oder negativer Art — 
erfahren, im anderen Falle finden sich bei entsprechend lebhafter 
Phantasietätigkeit mehr oder minder reichlich Erinnerungstäuschungen, 
also Umwandlung des Materials qualitativer Art. Es kommt in jedem 
Falle darauf an, zu prüfen, ob wie Delbrück es ausgedrückt hat, »die 
Phantasie in ihrem Verhältnis zu den übrigen Gehirnfunktionen (d. h. 
Intelligenzleistungen) schlecht äquilibriert iste. Dabei ist erstens 
möglich, daß bei durchaus normaler Intelligenz die Phantasie sehr 
lebhaft ist. In diesem Falle wird man keine groben Erinnerungs- 
täuschungen zu erwarten haben, sondern die bezeichneten Intensitäts- 
oder Quantitätsänderungen. Zweitens ist der Fall möglich, daß bei 
lebhafter Phantasie die Intelligenzleistungen mehr oder minder schwach 
sind, und dann kann man damit rechnen, unter Umständen ganz 
grobe und phantastische Täuschungen im reproduzierten Material zu 
finden, also erhebliche Qualitätsänderungen. Daß zwischen diesen ex- 
tremen Fällen die fließendsten Übergänge möglich sind, ist selbstrer- 
ständlich und kommt ja auch in den verschiedenen Reproduktionen 
der bearbeiteten 8 Fälle zum Ausdruck. 

Auf das Verhältnis von Verstandestätigkeit und Phantasie hat 
E. Lucka besonders in einem Vortrage hingedeutet, in dem er auf die 
hemmende Wirkung des Verstandes gegenüber den Leistungen der 
Phantasie und die ständige Wechselwirkung dieser beiden Funktionen 
bei jedem geistigen Gestaltungsprozeß aufmerksam macht. Seine 
Worte sind so klar und eindrucksvoll, daß ich mit ihnen diese Aus- 
führungen schließen möchte: 

»Jede Tätigkeit, die wirklich Neues schafft, geht in der Phantasie 
vor sich; sie ist die spezifisch schöpferische Funktion des Menschen, 
und als solche dem analysierenden, unproduktiven Verstand entgegen- 
‚gesetzt. Der Verstand begleitet jeden konstruktiven Schritt überlegend, 
schätzend, ordnend. An sich ist er steril, erst zusammen mit der 
Phantasie schafft er etwas Neues. Phantasie allein kann entarten, 
ins Wesenlose zerflattern, Verstand allein ist ohnmächtig, er ist der 
‚Kritiker, der sich ewig nach der eigenen Schöpfung selınt.« 


Neue Bestimmungen auf dem Gebiete des Jugend- 
strafrechts. 


Von 
Amtsgerichtsrat Francke-Berlin. 


Die vielberufene Justizverordnung vom 4. Januar 1924 RGBI I, 
S. 15 verdient auch vom Standpunkt des Jugendstrafrechts eine ein- 
gehende Betrachtung. Der Reichstag hatte durch das » Ermächtigungs- 
gesetz«e vom 8. Dezember 1923 RGB! I, S. 1179 die Reichsregierung 
ermächtigt, »die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die 
Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet.« 
Auf Grund dieses Gesetzes hat die Reichsregierung die genannte Ver- 
ordnung erlassen, die eine Revolution auf dem Gebiete der Gerichts- 
verfassung und der Strafrechtspflege bedeutet. Die Verordnung ent- 
bält nicht nur im V. Abschnitt (§§ 44—46) »Notmaßnahmen« mit 
Geltung für die Zeit vom 15. Januar bis 31. März 1924 zur Abwendung 
des drohenden Stillstandes der Rechtspflege, nämlich: Ausschaltung der 
Laienbeisitzer (Schöffen und Geschworenen), Ruhenlassen der Privat- 
klagen und Beschränkung der Berufung: sie enthält außerdem im 
II. Abschnitt (§§ 6—19) eine auf die Dauer berechnete völlige Um- 
wälzung der Gerichtsverfassung in Strafsachen: Ausschaltung der 
Strafkammern als Gerichte erster Instanz und Übertragung ihrer Zu- 
ständigkeit auf die Amtsgerichte, weitgehende Ersetzung der Schöffen- 
gerichte durch den Einzelrichter, Einführung von Landgerichtsschöffen 
in der Berufungsinstanz, völlige Umgestaltung der Schwurgerichte, 
Beschränkung der Zuständigkeit des Reichsgerichts in der Revisions- 
iostanz. Ein Ill. Abschnitt (§§ 20—39) bringt sodann zahlreiche 
neue Vorschriften für das Strafverfahren. Auf Grund des $ 43 der 
Verordnung hat der Reichsjustizminister im RGBI I, S. 299 die Texte 
des GVG und der StPO in der vom 1. April 1924 ab geltenden 
Fassung bekanntgemacht. Man hat die Gesetzmäßigkeit der Ver- 
ordnung angezweifelt und in dem Erlaß so grundstürzender Vor- 
schriften auf dem Verordnungswege einen gegen Treu und Glauben 

Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 30 


444 Francke: 


verstoßenden Mißbrauch der Ermächtigung gesehen. Auf diese Ein 
wendungen soll hier nicht eingegangen werden, da die Verordnung 
tatsächlich in unerschütterter Geltung steht. Hier soll nur ihre Be- 
deutung für das Jugendstrafrecht kurz gewürdigt werden. 

1. Die Verordnung erwähnt das Jugendgericht ausdrücklich nur 
an einer Stelle, nämlich im $ 44, der in dem Abschnitt über die Not- 
maßnahmen steht. $ 44 Abs. 4 verordnet, daß die Vorschrift über 
die Ausschaltung der Schöffen für die Zeit vom 15. Januar bis 
31. März 1924 keine Anwendung findet auf Jugendgerichte, für welche 
besondere Jugendschöffen bestimmt worden sind ($ 20 JGG). Die 
Jugendgerichte in den größeren Städten haben hiernach auch in der 
schöffenlosen Zeit ihre Jugendschöffen behalten. Bei den kleineren 
Amtsgerichten dagegen, bei welchen das Jugendgericht weniger als 
10 Sitzungen jährlich abhält und bei welchen nach Anordnung der 
obersten Landesbehörde von der Wahl besonderer Jugendschöffen ab- 
zusehen war, sind die Jugendlichen in der Zeit vom 15. Januar bis 
31. März 1924 durch den Einzelrichter abgeurteilt worden. 

2. Im übrigen schweigt die Verordnung über das Jugendgericht. 
Aus diesem Schweigen haben sich zahlreiche Zweifelsfragen ergeben, 
die zum Teil noch der Klärung harren. Die praktisch bedeutsamste 
Frage war, ob der Jugendrichter vom 1. April 1924 ab nach Maß- 
gabe der Verordnung als Einzelrichter zu urteilen haben würde. Nach 
$$ 7— 9 der Verordnung entscheidet bei Übertretungen stets, bei Ver- 
gehen und Verbrechen unter bestimmten Voraussetzungen der Amts- 
richter allein. $ 17 Abs. 1 Satz 2 JGG bestimmt dagegen: Jugend- 
gerichte sind die Schöffengerichte. Ist diese Vorschrift des JGG 
durch die Verordnung abgeändert worden? Zur Verneinung dieser 
Frage genügt nicht die Berufung auf das alte Rechtssprichwort, daß 
eine neuere allgemeine Vorschrift eine ältere Sondervorschrift nicht 
aufhebt. Denn dieser Satz enthält nur einen Auslegungsgrundsatz, 
und es ist stets zu ermitteln, ob die neuere allgemeine Vorschrift 
auch ältere Sondervorschriften aufheben will; wir haben bereits ge- 
sehen, daß § 44 der Verordnung durch eine allgemeine Vorschrift 
vorübergehend auch in die Zusammensetzung der Jugendgerichte ein- 
gegriffen und die Fortdauer der Jugendschöffen bei den größeren 
Jugendgerichten erst durch eine Ausnahmevorschrift sichergestellt hat. 
Auch gibt es andere Sondervorschriften des Strafrechts, die durch die 
neuen allgemeinen Vorschriften der $$ 7—9 der Verordnung zweifellos 
abgeändert worden sind. Das Verfahren bei amtsrichterlichen Straf- 
befehlen und das Verfahren nach voraufgegangener polizeilicher Straf- 
verfügung sind »besondere Arten des Verfahrens« (6. Buch der StPO), 


Neue Bestimmungen auf dem "Gebiete des Jugendstrafrechts. 445 


die dem Jugendverfahren wohl vergleichbar sind. Die bisherige 
StPO bestimmte in §§ 451, 456, daß bei rechtzeitigem Einspruch 
gegen einen Strafbefehl und bei rechtzeitigem Antrag auf gerichtliche 
Entscheidung gegen eine polizeiliche Strafverfügung zur Haupt- 
verhandlung əvor dem Schöffengericht« geschritten wird. An die 
Stelle des Schöffengerichts ist jetzt nach Maßgabe der §§ 7—8 der 
Verordnung der Einzelrichter getreten; für den Fall des Strafbefehls 
ergibt es sich aus $ 37 Abs. 2 der Verordnung, für den Fall der 
polizeilichen Strafverfügung kann dagegen der Wille der Verordnung, 
durch die allgemeine Vorschrift des $ 8 auch die Sondervorschrift 
des § 456 der bisherigen StPO abzuändern, nur aus dem Gesamt- 
zusammenhang der Verordnung entnommen werden. Der Reichs- 
justizminister hat denn auch angenommen, daß durch die Vorschrift 
des § 8 eine Änderung des $ 456 StPO bedingt ist ($ 43 Abs. 2 
der Verordnung), und bei der Neufassung der StPO. den an die 
Stelle des $ #56 getretenen S. 416 entsprechend geändert. Die in 
$ 43 der Verordnung dem Reichsjustizminister eingeräumte Befugnis 
zur Neufassung der abgeänderten Gesetze erstreckt sich nun aller- 
dings nur auf GVG und StPO, nicht auf das JGG. Aber auch 
dieser Umstand reicht nicht aus, um die Anwendung der §§ 8—10 
der Verordnung auf das Jugendgericht zu verneinen. Durch die ein- 
heitliche Festsetzung des Böchstbetrages der angedrohten Geldstrafe 
bei Übertretungen auf 150 M. in Art. XIV Abs. 3 der Verordnung 
über Vermögensstrafen und Bußen vom 6. Februar 1924 RGBI I 
S. 44 sind zahlreiche Strafvorschriften geändert worden, ohne daß ihr 
Text neugefaßt worden wäre. So bleibt denn zur Entscheidung der 
Frage auch hier nur ein Zurückgehen auf den Gesamtzusammenhang 
der Verordnung übrig, und hier läßt sich nun allerdings die Vor- 
schrift des $ 44 Abs. 4 der Verordnung für die ungeschmälerle Bei- 
behaltung der Schöffen in Jugendsachen verwerten: es kann nicht als 
der Wille der Verordnung angesehen werden, für die Zeit nach dem 
1. April 1924 die Jugendlichen ungünstiger zu stellen, als sie während 
der Zeit der »Notmaßnahmen« gestanden haben, und wenn schon für 
diese Zeit wenigstens bei den größeren Jugendgerichten die bisherige 
Besetzung des Gerichtes aufrecht erhalten worden ist, so ist schwerlich 
anzunehmen, daß nach dem Willen der Verordnung nach dem 
1. April 1924 in der großen Masse der Sachen nun doch der Jugend- 
richter an die Stelle des Jugendschöffengerichtes treten soll. Vom 
juristischen Standpunkt ist es daher durchaus zu begrüßen, daß sich 
die Jugendgerichte am 1. April 1924, soweit bekannt geworden ist, 
durchweg für die Zuziehung der Schöffen entschieden haben. Kriminal- 
30” 


446 F rancke: 


politisch kann dagegen die Lösung nicht voll befriedigen. An sich 
ist es ein großer Vorzug, daß dem Jugendgericht die laienrichterliche 
Mitwirkung erhalten bleibt. Aber das Jugendstrafrecht muß auch als 
Teil der allgemeinen Strafrechtspflege beurteilt werden. Da erscheint 
es als ein auf die Dauer schwer erträgliches Mißverhältnis, daß zu 
jeder noch so unwichtigen Aburteilung eines Jugendlichen Schöffen 
zugezogen werden müssen, während die im großen und ganzen doch 
so viel einschneidenderen und verantwortungsvolleren Aburteilungen 
Erwachsener in erster Instanz der Kontrolle durch die Laienrichter 
entbehren. Das Laienrichtertum bedeutet im modernen Staat in erster 
Linie ein Gegengewicht gegen die Machtbefugnisse des Berufsrichter- 
tums, das bei der Wahrung des Rechts Gefahr läuft, die Fühlung mit 
dem Volksempfinden zu verlieren. Beim Jugendgericht ist diese 
Gefahr am wenigsten vorhanden. Die Jugend des Angeklagten und 
die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe. wirkt einer Überspannung des 
Strafgedankens entgegen. Man hat daher nicht ganz mit Unrecht 
gesagt, wenn schon die Not der Zeit einen Abbau der Schöffen er- 
fordere, so wären sie beim Jugendgericht am ersten entbehrlich ge- 
wesen. 

3. Die Ersetzung der Schöffengerichte durch den Einzelrichter 
im Verfahren gegen Erwachsene zeitigt nun merkwürdige Rück- 
wirkungen auf das Jugendverfahren. Die Länder hatten von der in 
$ 20 Abs. 2 JGG gegebenen Ermächtigung weitgehenden Gebrauch 
gemacht, für Jugendgerichte mit weniger als 10 Sitzungen im Jahre 
die Wahl besonderer Jugendschöffen auszuschließen. Dies war ins- 
besondere für Preußen durch die Allg. Verf. vom 20. Juni 1923 
JMBI S. 450 geschehen. Hier wirkten also die Erwachsenenschöffen 
auch beim Jugendgericht mit. Nach der Verordnung vom 4. Januar 
1924 wird nun die große Masse der Erwachsenensachen durch den 
Einzelrichter erledigt, und für die übrigbleibenden Schöffensachen 
werden die kleinen Amtsgerichte gemäß $ 58 GVG nach Bedarf zu 
größeren Bezirken zusammengelegt. Die Jugendsachen werden hiernach 
bei den kleineren Amtsgerichten vielfach die einzigen Schöffensachen 
sein. Preußen hat daher durch Allg. Verf. des Justizministers vom 
28. April 1924 JMBI S. 206 die Anordnung über das Absehen von der 
Wahl besonderer Jugendschöffen bei kleineren Amtsgerichten zurück- 
genommen und bestimmt, daß in Zukunft bei allen Jugendgerichten 
besondere Jugendschöffen zu wählen sind. So hat die Verordnung vom 
4. Januar 1924 das Verdienst, — wenigstens in Preußen — mittelbar 
darauf hingewirkt zu haben, daß jedes Jugendgericht seine Jugend- 
schöffen erhält. Die Jugendgerichte, die weniger als 10 Sitzungen im 


Neue Bestimmungen auf dem Gebiete des Jugendstrafrechts. 447 


Jahre abhalten, behalten aber auch unter der neuen Regelung ein 
Sonderrecht: Die Allg. Verf. vom 28. April 1924 bestimmt, daß an 
diesen Orten die Wahl nach Möglichkeit auf solche Persönlichkeiten zu 
richten ist, die am Gerichtssitz selbst oder in dessen näherer Umgebung 
wohnen. Eine andere Regelung hat, wie Hartung im »Recht« 1924 
S. 194 mitteilt, Württemberg getroffen. Hier sind die Jugendgerichte 
gemäß § 58 GVG bei den Amtsgerichten, bei denen in Zukunft noch 
Schöffengerichte bestehen werden, vereinigt. Preußen hat diesen 
Weg vermieden, da hierdurch die bedeutungsvolle Verbindung zwischen 
Jugend- und Vormundschaftsrichter gestört werden würde Die den 
Oberlandesgerichtspräsidenten in der Allg. Verf. vom 20. Juni 1923 
übertragene Ermächtigung, für den Bezirk mehrerer Amtsgerichte 
einem von ihnen die Entscheidung der Jugendsachen ganz oder zum 
Teil zuzuweisen, ist durch die Allg. Verf. vom 28. April 1924 auf 
solche Jugendsachen beschränkt worden, die zur Zuständigkeit des 
großen Jugendgerichts gehören. 

4. Nach $ 10 der Verordnung vom 4. Januar 1924 ($ 29 GVG 
neuer Fassung) kann das Schöffengericht auf Antrag der Staatsanwalt- 
schaft durch Zuziehung eines zweiten Amtsrichters verstärkt werden. 
Es ist zweifelhaft, ob diese Vorschrift auch für das Jugendschöffen- 
gericht gilt. Hartung kommt im »Recht«e 1924 S. 195 mit guten 
Gründen zu einer Bejahung der Frage. Er macht darauf aufmerksam, 
daß durch die Verordnung vom 4. Januar 1924 die Zuständigkeit 
des Schwurgerichts und damit zugleich auch die Zuständigkeit des 
großen Jugendgerichts (JGG § 17 Abs. 1 Satz 3) wesentlich ein- 
geschränkt worden ist und daß es angebracht erscheinen kann, bei 
Verbrechen, die auf Grund dieser Zuständigkeitsverschiebung künftig 
vor das kleine Jugendgericht kommen, dieses Gericht durch Zuziehung 
eines zweiten Amtsrichters zu verstärken. Einen entgegengesetzten 
Standpunkt hat nach Hartung das sächsische Justizministerium in der 
Verordnung vom 25. März 1924 JMBI S. 39 eingenommen. Eine 
baldige Klärung der Streitfrage durch höchstrichterliche Entscheidung 
ist zu erwarten. 

5. Nach dem oben bereits erwähnten $ 416 StPO neuer Fassung 
wird in Verfahren nach voraufgegangener polizeilicher Strafverfügung 
bei rechtzeitiger Einbringung des Antrags auf gerichtliche Ent- 
scheidung zur Hauptverhandlung »vor dem Amtsrichter« geschritten. 
Hat in diesem Verfahren auch der Jugendrichter als Einzelrichter 
zu entscheiden? Die Praxis der Berliner Jugendgerichte geht dahin, 
daß auch bier der Satz des $ 17 JGG »Jugendgerichte sind die 
Schöffengerichte« vorgeht. 


448 Francke: 


6. Wesentlich umgestaltet ist der Rechtsmittelzug. Die Berufung 
geht vom Jugendgericht an die Strafkammer beim Landgericht. Als 
Jugendstrafkammer (JGG $ 13 Abs. 3) fungiert die große Strafkammer, 
die mit 3 Berufsrichtern und 2 Schöffen besetzt ist. Die Schöffen 
sind hier die gewöhnlichen Landgerichtsschöffen; besundere Jugend- 
schöffen sind für die Jugendstrafkammer nicht vorgesehen. Eine 
unverhoffte Ehre hat die Verordnung vom 4. Januar 1924 den Jugend- 
sachen dadurch erwiesen, daß für gewisse Fälle der Instanzenzug vom 
Jugendgericht bis an das Reichsgericht geht. Über die Revision 
gegen die Urteile der großen Strafkammer entscheidet das Reichs- 
gericht, wenn in erster Instanz das große Jugendgericht oder das 
durch Zuziehung des zweiten Amtsrichters verstärkte kleine Jugend- 
gericht entschieden hat, sonst das Öberlandesgericht. Es ist auch 
eine Sprungrevision vom Jugendgericht unmittelbar an das Revisions- 
gericht an Stelle der Berufung zulässig. 

7. Von den neuen Verfahrensvorschriften ist die Änderung des 
bisherigen $ 232 StPO über die kommissarische Vernehmung des An- 
geklagten von großer praktischer Bedeutung. Nach dem bisherigen Recht 
war die auswärtige Vernehmung ohne Rücksicht auf die Art der Straf- 
tat zulässig, wenn höchstens eine Freiheitstrafe von 6 Wochen zu er- 
warten war. Nach dem neuen § 233 StPO beschränkt sich die Zu- 
lässigkeit der auswärtigen Vernehmung auf das Verfahren vor dem 
Amtsrichter und dem Schöffengericht bei Übertretungen, Vergehen 
und Rückfallverbrechen, wobei es auf die Höhe der zu erwartenden 
Strafe nicht mehr ankommt. Der Jugendliche, der wegen schweren 
Diebstahls ($ 243 StG.B) angeklagt ist, muß daher auch dann persön- 
lich erscheinen, wenn er nur eine Strafe von 2 Wochen Gefängnis 
zu erwarten hat, und vor dem Berufungsgericht muß selbst der Schul- 
schwänzer unter allen Umständen persönlich anwesend sein. Es ist 
schwer verständlich, daß die Reichsregierung diese kostspieligen 
Neuerungen »im Hinblick auf die Not von Reich und Volk für er- 
forderlich und dringend erachtet« hat. Trifft die Anklage einen 
Fürsorgezögling, so sind die Fürsorgeerziehungsbehörden die Leid- 
tragenden, da ihnen die Gestellung des Jugendlichen zum Haupt- 
verbandlungstermin obliegt. Handelt es sich dagegen um einen freien 
Jugendlichen, der etwa in einer entfernten Provinz während der 
Sommermonate Landarbeit verrichtet, so führt die neue Vorschrift 
geradezu zu einem Stillstand der Rechtspflege, da das Jugendgericht 
in einem solchen Falle nichts weiter tun kann als die Rückkehr des 
Jugendlichen an seinen Wohnort abzuwarten. 








Neue Bestimmungen auf dem Gebiete des Jugendstrafrechts. 449 


8. Die gerichtliche Voruntersuchung ist nach dem neuen $ 178 
StPO jetzt auch in Amtsgerichtssachen, also auch in Jugendsachen 
zulässig. 


II. 


Die bereits erwähnte preußische Allg. Verf. vom 28. April 1924 
JMB) S. 206 hat nun auch noch zu einigen anderen Fragen Stellung 
genommen, die bei der Anwendung des JGG aufgetaucht sind. 

1. Nach dem Gesetz zur Vereinfachung der Urliste vom 11. Juli 
1923 PGBl I S. 647 (jetzt GVG § 36 Abs. 3) kann die Landes- 
justizverwaltung für eine Gemeinde anordnen, daß in die Urliste nur 
ein Teil der schöffenfähigen Personen aufgenommen wird; die Be- 
schränkung kann nach den Anfangsbuchstaben der Namen oder der 
Straßen oder nach beiden Gesichtspunkten erfolgen. Ob eine solche 
beschränkte Urliste stets in hinreichender Zahl Personen enthält, 
welche die besondere Eignung zum Amte eines Jugendschöffen be- 
sitzen, kann fraglich erscheinen. Der Justizminister vertritt nun die 
Auffassung, daß in einem solchen Falle das Jugendamt auch andere 
(nicht in die beschränkte Urliste aufgenommene) schöffenfähige Personen 
zu Jugendschöffen vorschlagen kann. Er begründet diesen Standpunkt 
damit, daß § 20 JGG gemäß $ 18 Abs. 1 JGG den Vorschriften des 
GVG vorgehe. 

Da die Jugendschöffen auf Vorschlag des Jugendamtes vom Aus- 
schuß beim Amtsgericht gewählt werden, muß die Vorschlagsliste des 
Jugendamtes mehr Personen enthalten, als vom Jugendgericht gebraucht 
werden. Die Jugendämter haben darüber geklagt, daß das Gericht 
vielfach eine übermäßig große Zahl von Vorschlägen verlange. Der 
Justizminister vertritt die Auffassung, daß es für das praktische Be- 
dürfnis in der Regel genügen werde, wenn der Vorschlag des Jugend- 
amtes die dreifache Zabl der zu wählenden Jugendschöffen umfasse. 

2. Wohl die am meisten bekämpfte Bestimmung des JGG ist die 
Vorschrift, daß durch das Strafurteil auch die Fürsorgeerziehung an- 
geordnet werden kann. Besonders haben sich die Fürsorgeerziebungs- 
behörden gegen das Ergebnis gewehrt, daß ihnen die Zöglinge durch 
das Strafurteil zugewiesen werden, ohne daß ihnen ein Rechtsmittel 
gegen die Entscheidung zusteht. Ein Beschluß der Zivilkammer des 
Landgerichts Limburg vom 27. Nov. 1923, der im Zentralbl. für 
Vormundschaftswesen XV Nr. 10 S. 195 abgedruckt ist, hat den 
Fürsorgeerziehungsbehörden Recht gegeben und das Jugendgericht 
angewiesen, das auf Fürsorgeerziehung lautende Strafurteil dem 
Landeshauptmann zuzustellen, um damit die Rechtsmittelfrist für den 


450 Francke: 


Landeshauptmann in Lauf zu setzen. Die Entscheidung ist rechtlich 
völlig unhaltbar. Der preußische Minister für Volkswohlfahrt bat 
bereits in der Ausführungsanweisung vom 29. März 1924 zum RJWG 
gegen diese Auffassung Stellung genommen. Hier heißt es unter VI 11: 
»Eine Zustellung des Urteils an das Jugendamt und die Fürsorge- 
erziehungsbehörde findet nicht statt. Der Fürsorgeerziehungsbehörde 
stehen Rechtsmittel nicht zu.« Nunmehr hat auch der preußische 
Justizminister sich zu der Frage geäußert. In der Allg. Verf. vom 
28. April 1924 wird die Staatsanwaltschaft angewiesen, in allen zweifel- 
haften Fällen dem zur Ausführung der Fürsorgeerziehung verpflichteten 
Kommunalverband nach Möglichkeit Gelegenheit zu geben, zur Frage 
der Einlegung oder Durchführung von Rechtsmitteln Stellung zu 
nehmen. Damit sind die berechtigten Wünsche der Fürsorgeerziehungs- 
behörden nach Einflußnahme auf das gerichtliche Verfahren auf den 
richtigen Weg gewiesen. 

Da es vorgekommen ist, daß die Jugendgerichte entgegen dem 
Verbot des $ 5 Abs. 2 JGG durch Strafurteil die Fürsorgeerziehung 
angeordnet haben, ohne daß die Zuständigkeit dafür auch außerhalb 
des Strafverfahrens begründet war, hat der Justizminister Veranlassung 
genommen, die Jugendgerichte auf ihre Verpflichtung zur sorgfältigen 
Prüfung ihrer Zuständigkeit hinzuweisen. Er hebt auch hervor, daß 
das Gericht in der Urteilsbegründung die für die Annahme der Zu- 
ständigkeit maßgebenden Punkte kurz darzulegen haben werde. 


III. 


Auch auf dem Gebiete des Jugendstrafvollzuges ist über einige 
Neuerungen zu berichten. 

1. Die Grundlage des Strafvollzuges bilden gegenwärtig die von 
den Landesregierungen vereinbarten Grundsätze für den Vollzug von 
Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923 RGBI II, S. 263, über die Walter 
Hoffmann in dieser Zeitschrift Bd. 28 Heft 3/4 S. 368 berichtet 
hat. Zur Ausführung dieser Grundsätze hat Preußen die »Dienst- 
und Vollzugs-Ordnung für die Gefangenanstalten der Justizverwaltung 
in Preußen« vom 1. August 1923 (DVO) erlassen. Das umfangreiche, 
in 187 Paragraphen eingeteilte Werk enthält in $S$ 143—147 Sonder- 
vorschriften über die »Behandlung Jugendlicher und im Lebensalter 
ihnen nahestehender Gefangener«e. Sie schließen sich im allgemeinen 
eng an die entsprechenden Vorschriften der Grundsätze vom 7. Juni 
1923 ($§ 196—212) an. Neu hinzugekommen ist jedoch die wichtige 
Bestimmung des § 143 Abs. 3 über den »Fürsorger«, dem in erster 
Linie die Fürsorge für die Gefangenen nach der Entlassung obliegt. 


Neue Bestimmungen auf dem Gebiete des Jugendstrafrechts. 45} 


Daß in jedem Jugendgefängnis und jeder Jugendabteilung einer Straf- 
anstalt ein solcher Fürsorger vorhanden sein soll, ist als ein wichtiger 
Fortschritt zu begrüßen. Das geschichtliche Vorbild dieses Fürsorgers 
ist der Fürsorgeinspektor des Jugendgefängnisses in Wittlich, dessen 
Tätigkeit Leo Schneider in seiner Frankfurter Dissertation »Der 
progressive Strafvollzug und seine Durchführung im Wittlicher Jugend- 
gefängnis« Essen 1922 S. 61 ff. geschildert hat. Zu den wesent- 
lichen Aufgaben des Wittlicher Fürsorgebeamten gehört es, durch 
jährliche Reisen die frühere Umgehung der Gefangenen kennen zu 
lernen und einen Kreis von Vertrauensleuten heranzuziehen, welche 
die Unterbringung der Strafentlassenen vermitteln, wenn diese nicht 
in die früheren Verhältnisse zurück können. Auch ist es wichtig, 
daß der Strafentlassene jederzeit beim Fürsorgebeamten Rat und Hilfe 
finden kann. Der Fürsorger kann seiner Aufgabe auf die Dauer nur 
gerecht werden, wenn er hauptamtlich angestellt ist. Die DVO hat 
aber in der gegenwärtigen Zeit der Not davon abgesehen, dies zwingend 
vorzuschreiben;; sie läßt die Möglichkeit offen, daß ein Anstaltsbeamter 
zum Fürsorger bestellt wird, sofern ein hauptamtlich angestellter 
Fürsorger nicht vorhanden ist. | 

Die Sondervorschrift über das Amt des Fürsorgers für jugendliche 
Strafgefangene findet eine breitere Grundlage in den allgemeinen 
Vorschriften der DVO über das Fürsorgewesen. Aus dem überaus 
erfreulichen § 139 der DVO seien nur folgende Sätze hervorgehoben: 
»Alle Anstaltsbeamten, insbesondere der Vorsteher, die Geistlichen 
und Lehrer, sollen sich der Fürsorge widmen. Sie haben sich mit 
den Wohlfahrtsämtern, mit Arbeiterkolonien, Asylen und ähnlichen 
Wohlfahrtseinrichtungen, mit Kirchenbehörden, Arbeitgebern, Arbeit- 
geber- und Arbeitnehmerverbänden usw., bei Minderjährigen auch mit 
dem Jugendamt ins Einvernehmen zu setzen. In der Beamten- 
besprechung ist auf die Förderung der Fürsorge besonderer Wert zu 
legen, namentlich ist auch über das Ergebnis der Fürsorgemaßnahmen 
für einzelne Gefangene zu berichten. Pflicht der Anstaltsbeamten 
und der Aufsichtsbehörden ist es, in weiten Kreisen der Bevölkerung 
die Anteilnahme an der Gefangenfürsorge zu wecken und zu erhalten, 
Wünschenswert ist für jede größere Anstalt ein Fürsorgeverein.«< In 
Ausführung der hier gegebenen Anregung ist in Berlin am 15. April 1924 
ein Fürsorgeverein Plötzensee gegründet worden. 

2. Zu den interessantesten und gerade für den Jugendstrafvollzug 
viel versprechenden Bestimmungen der Grundsätze vom 7. Juni 1923 
gehört die Einführung des Progressivsystems. $ 130 der Grundsätze 
gibt folgende mustergültige Beschreibung dieses Systems: »Bei längeren 


452 Francke: 


Strafen ist der Vollzug in Stufen anzustreben. Er soll die sittliche 
Hebung dadurch fördern, daß dem Gefangenen Ziele gesetzt werden, 
die es ihm lohnend erscheinen lassen, seinen Willen anzuspannen oder 
zu beherrschen. Der Vollzug in Stufen soll auf der Grundlage auf- 
gebaut sein, daß der Strafvollzug je nach dem Fortschreiten der 
inneren Wandlung des Gefangenen seiner Strenge entkleidet und 
durch Vergünstigungen, die nach Art und Grad allmählich gesteigert 
werden, gemildert und schließlich so weit erleichtert wird, daß er 
den Übergang in die Freiheit vorbereitet« $ 53 der DVO hat diese 
Gedanken weiter ausgebaut. Darnach kann bei Zuchthausstrafen nach 
Ablauf von 9 Monaten und bei Gefängnisstrafen nach Ablauf von 
3 Monaten bei Fleiß und guter Führung eine allmähliche Milderung 
des regelmäßigen Strafzwanges eintreten. (Den sogenannten Über- 
zeugungsverbrecnern sind die für die Strafart zulässigen Vergünstigungen 
ohne weiteres zu gewähren.) Einige besonders in Betracht kommende Ver- 
günstigungen sind in der DVO ausdrücklich hervorgehoben, ohne daß da- 
mit andere Vergünstigungen ausgeschlossen sein sollen, sofern sie mit 
der Ordnung und Sicherheit der Anstalt vereinbar sind. Auf der im 
§ 53 DVO gegebenen Grundlage ist in der Jugendabteilung der Straf- 
anstalt Plötzensee vom 1. März 1924 ab der Strafvollzug in Stufen 
eingeführt. Die Gefangenen sind in 3 Gruppen eingeteilt; die Ange- 
hörigen der höheren Gruppen sind durch farbige Streifen am linken 
Unterarm kenntlich. Die Gefangenen treten zunächst alle in Gruppe III 
ein und können in Zeitabständen von mindestens 3 Monaten in 
höhere Gruppen aufrücken. Mehrmalig Bestrafte haben in den Gruppen 
längere Zeit, bis zu 8 Monaten zu verbleiben. Die für die höheren 
Gruppen zugelassenen Vergünstigungen sind in Anlehnung an $ 53 
DVO festgesetzt. Der Gruppe II winken folgende Vergünstigungen: 
1. Zusatznahrungsmittel (DVO § 99); 2. Ausschmückung der Zelle 
durch Blumen und Bilder (DVO S 53 Abs. 1c); 3. Wandkalender 
(DVO $ 53 Abs. 1c); 4. Teilnabme an Vorträgen, Konzerten usw; 
5. Schreiben und Zeichnen in der Freizeit (DVO § 53 Abs. 1d); 6. ein 
zweites Lesebuch aus der Anstaltsbücherei. Darüber hinaus gehen die 
Vergünstigungen der Gruppe I: 1. Verwendung zu Vertrauensposten 
als Flurarbeiter, Heizer usw; 2. Teilnahme an Diskussionsstunden, 
Stenographiekursen und gewerblichem Unterricht; 3. Schnitzen und 
Modellieren in der Freizeit; 4. Bearbeitung und Pflege eines Stückes 
Gartenland; 5. Erlaubnis zur Beleuchtung der Zelie eine Stunde über 
den Einschluß hinaus (DVO $53 Abs. le); 6. Arbeit in Gemein- 
schaftshaft, soweit die räumlichen Verhältnisse es gestatten; 7. Be- 
freiung von der Verpflichtung, nach Vollendung des täglichen Arbeits- 


Neue Bestimmungen auf dem Gebiete des Jugendstrafrechts. 453 


maßes während der Arbeitszeit die Arbeit fortzusetzen (DVO $ 53 
Abs. 1g); 8. Raucherlaubnis für die Gefangenen über 18 Jahre (DVO 
§ 53 Abs. 1b); 9. eigene Auswahl der Bücher an Hand des Katalogs 
der Anstaltsbücherei; Benutzung eigener Bücher; Unterhaltungs- und 
Geduldspiele in der Freizeit; 10. Ernennung zum Obmann in der 
Schule, zum Kirchendiener, zum Büchereigehilfen; 11. in besonderen 
Fällen teilweise oder völlige Selbstbeschäftigung (DVO § 53 Abs. 1h). 
Zum Vergleich mit diesen Bestimmungen können die Vorschläge von 
Herrmann und Bondy vom 19. Juni 1922 zur Einführung des pro- 
gressiven Strafvollzuges in Hahnöfersand herangezogen werden, die 
Herrmann in seinem Buche »Das Hamburgische Jugendgefängnis 
Hahnöfersand«, Hamburg 1923, S. 119 ff. veröffentlicht hat. Die hier 
vorgeschlagene Abstufung des Besuchsempfangs (Untergruppe: kein 
Besuch; Mittelgruppe: Besuch monatlich; Obergruppe: Besuch alle 
3 Wochen) und der Briefschreiberlaubnis (Untergruppe: alle 6 Wochen; 
Mittelgruppe: alle 4 Wochen; Obergruppe: alle 2 Wochen) ist in 
dieser Form jetzt nicht mehr zulässig, da nach SS 209, 210 der Grund- 
sätze vom 7. Juni 1923 die Jugendlichen in der Regel alle 4 Wochen 
einen Besuch empfangen und alle 2 Wochen einen Brief absenden 
dürfen. 


Prinzipien in der Schwachsinnigenerziehung 
der Hilfsschule. 


Von 
Rektor W. Raatz-Charlottenburg. 


Die Hilfsschule hat die Aufgabe, schwachsinnige Kinder zu nütz- 
lichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu erziehen, sie. also 
erwerbs- und »gesellschaftsfähige zu machen, Unterricht und Er- 
ziehung haben dabei Prinzipien zu verfolgen, welche der Wesens- 
eigenart der Schwachsinnigen Rechnung tragen. Nicht-Sachkundige 
sind leicht geneigt, eine besondere Hilfsschulmethodik zu verneinen. 
Ein guter Teil der Hilfsschulprinzipien trifft allerdings auch für 
Normalschulen zu, sie haben aber für die Hilfsschule eine wesentlich 
andere, nämlich eine heilpädagogische Bedeutung, indem alle Maß- 
nahmen auf Besserung krankhafter Zustände abzustimmen sind. 

Der Schwachsinn ist im wesentlichen eine geistige Schwäche, 
verursacht durch Entwickelungshemmungen auf hirnphysiologischer 
Grundlage. Er äußert sich nicht nur in krankhaft herabgesetzter 
Intelligenz, sondern auch in Störungen des Gefühls- und Willenslebens. 
Prof. Dr. Ziehen definiert kurz: »Der Schwachsinn ist eine Defekt- 
psychose.« Demzufolge ist nicht nur auf das Vorstellungs-, sondern 
auch auf das Gefühls- und Willensleben heilpädagogisch einzuwirken. 

Normale Menschen siud nach Maßgabe des »Wissens von ihren 
Wahrnehmungen«e mehr oder weniger von der Umwelt unabhängig, 
Schwachsinnige bleiben anschauliche oder konkrete Denker. Ihre 
Bildungsstoffe können darum grundsätzlich nur Umwelt- oder Heimat- 
stoffe sein. Unter Heimat ist aber nicht allein der geographische 
Ort zu verstehen, sondern alles, was im weiteren Vaterlande von 
außen und innen an das Kind herantritt, was ihm sinnlich oder durch 
innere Anschauung durch das vielfache Geistes- und Naturleben zum 
Bewußtsein kommt. Damit ist das Heimatsprinzip zum obersten 
Grundsatz erhoben. Es schließt Stoffe und Vorgänge außerhalb der 
engeren Heimat nicht aus, sobald Umweltstoffe zu ihrer Erfassung 


W. Raatz: Prinzipien in der Schwachsinnigenerziehung der Hilfsschule. 455 


wirksame Apperzeptionsstützen bieten. Die positive Seite dieses Prinzips 
besteht darin, die Bildungselemente der Heimat, soweit sie für Schwach- 
sinnige erfaßbar sind, zu verarbeiten. Die negative Seite besteht 
darin, zu verhüten, daß Eindrücke und Erlebnisse in der Heimat das 
‚religiös-sittliche Empfinden und Leben beeinträchtigen und schädigen. 

Bei jedem Kinde ist der geistige Besitz ein Reflex seiner natür- 
lichen Umwelt; sein Inhalt wird durch die sinnliche Umgebung, das 
Maß oder der Umfang des geistigen Besitzes aber durch die Organisation 
der Erkenntnis des Individuums bestimmt. »Schwachsinnige sind 
psychisch anders organisiert als die Normalen. Durch die mangel- 
hafte Entwickelung der apperzeptiven Fähigkeiten, die einseitige Aus- 
bildung einzelner Teilgedächtnisse, die Beschränkung des Gefühls- 
lebens vornehmlich auf das Gebiet der Sinnlichkeit werden psychische 
Zustände bedingt, die nicht bloß keinen unmittelbaren Vergleich mit 
dem Seelenleben normaler Kinder zulassen, sondern auch die ver- 
schiedenen Typen, unter welchen der Schwachsinn im Kindesalter 
auftritt, scharf voneinander unterscheiden.« (Prof. Dr. Heller). »Schwach- 
sinnige zeigen 

1. Ausfälle von Kräften und Anlagen, die im Geistes- und Seelen- 
leben der Normalen dominieren, nämlich Ausfall des logischen Denkens, 
der höheren ethischen Gefühle und des zielstrebigen, sittlichen Wollens; 

2. einen Bestand von Geistes- und Seelenkräften, der sich im 
wesentlichen beschränkt auf das rein konkrete Denken, auf das sinn- 
liche Gefühl und triebhafte Tun; 

3. vielfach einseitig besser oder stark entwickelte Kräfte (Ge- 
dächtnisse), die infolge pathologischer Hirnstruktur gar nicht oder 
nur wenig ausgewertet werden können; 

4. oft krankhafte Vorstellungs-, Gefühls- und Willensrichtungen« 
(cf. »Heilpädagogik auf arbeitsunterrichtlicher Grundlage von W. Raatz, 
S. 1—51. Halle, Verlag Marhold). Diese andere, eigenartige psychische 
Organisation der Schwachsinnigen hat ihre Grundursache im anomalen 
Empfindungsleben. Es werden beobachtet neben psychogenen und Gleich- 
gewichtsstörungen Herabsetzung der kinästhetischen Empfindungen, der 
Tast-, Zeit-, Raum- und Farbenempfindungen, mangelhaftes optisches, 
akustisches und taktiles Fixieren. Beispiele darf ich mir an dieser 
Stelle ersparen. Jeder Ausfall an Empfindungen bedeutet eine Ver- 
ringerung der Elemente des Bewußtseins, und diese Unvollkommenheit 
behindert die weiteren Akte psychischen Geschehens oder drängt sie 
in eine falsche Richtung. Daraus folgt, daß mit dem Heimatsprinzip 
das Prinzip der Sinnesübung Hand in Hand gehen muß. Unter 
diesem Prinzip verstehen wir isolierte Unterscheidungs- und Merk- 


456 W. Raatz: 


fähigkeitsübungen über elementare Wahrnehmungen zwecks Fest- 
stellung der Richtigkeit der Empfindungen und des Empfindungs- 
gedächtnisses sowie der mannigfachen Hemmungsgrade. Es sind also 
grundsätzlich im Unterricht Gehörs-, Gesichts-, Geruchs-, Geschmacks-, 
Gefühls- und Tastübungen zu betreiben. Ibr höchstes Ziel ist die Er- 
ziehung der Kinder zu freien oder spontanen Sinnesbetätigungen, wo- 
durch gerade die Schwachsinnigen auf eine höhere Stufe des Menschen- 
tums gebracht werden können. Dieses Ziel setzt Interesse für Er. 
scheinungen der Umwelt und die Fähigkeit zu ihrer aufmerksamen 
Betrachtung voraus, also zwei Seelenkräfte, die bei Schwachsinnigen 
nicht ohne weiteres in ausreichendem Maße vorhanden sind. Ihre 
Sinne, ihre sensiblen Bahnen bedürfen einer kräftigen Erregung. 
Dieser Forderung trägt das Prinzip der grobsinnlichen Veran- 
schaulichung Rechnung. Die materielle Veranschaulichung verlangt 
Veranschaulichungsmittel, einfach und künstlerisch in der Komposition, 
interessant im Inhalt, zum verweilenden Betrachten zwingend schon 
durch scharfe Formen- und Farbengebung. Obenan stehen wirkliche 
Dinge der Umwelt, an letzter Stelle Bilder. »Wenn man den Kindern 
Bilder bietet, so seien sie mit dem dargestellten Stoff durch den voran- 
gegangenen Unterricht bereits vertraut« (Springer). »Durch bloße 
Bildbetrachtung kuriert man nicht vom Schwachsinn, sondern erzieht 
zum Schwachsinn« (Trüper). 

Anschauungsunterricht in höchster Potenz ist der Werk- und 
Arbeitsunterricht. Hilfsschulen sind immer Arbeitsschulen gewesen, 
und sie würden ihre heilpädagogischen Aufgaben nicht zu lösen ver- 
mögen, wenn in ihnen das arbeitsunterrichtliche Prinzip nicht 
mit aller Konsequenz durchgeführt werden würde. Die für die Heil- 
pädagogik wesentlichen Momente des Arbeitsunterrichts sind bewußtes 
Erleben (Eindruck), denkendes Erarbeiten und Gestalten (Ausdruck) 
und gefüblsmäßiges Erfassen (inneres Erleben). Diese heilpädagogischen 
Momente treffen für jede Art der Veranschaulichung zu. Unter den 
Veranschaulichungsmitteln, so fübrte ich aus, stehen die wirklichen 
Dinge obenan, im arbeitsunterrichtlichen Sinne: 

1. wirkliche Dinge in ihrer natürlichen Umwelt als unterrichtlicher 
Mittelpunkt auf heimatlichen Wanderungen. Es würden folgen 
Veranschaulichungsmittel in folgender Ordnung: 

2. lebendige Pflanzen und Tiere in den Schulräumen als Objekte 

kindlicher Beobachtung und Pflege; 

Präparate als Ausbeute und Ergebnisse der Wanderungen; 

4. Sammlungen sogenannter »wertloser Dinge«, dem Bedürfnisse 
jeder Klasse angepaßt; 


= 


Prinzipien in der Schwachsinnigenerziehung der Hilfsschule. 457 


5. im Arbeitsunterrichte mit den Kindern hergestellte einfache 
Lehrmittel, denen eigenes Miterschaffen und Miterleben ohne 
weiteres das kindliche Interesse sichert; 

6. Fröbelgaben und Spiele; 

7. Der Sandkasten und der pädagogische Kaufladen; 

8. gute kinematographische und Stereoskopbilder, die trefflich ge- 
eignet sind, die natürliche Neugier der Kinder unterrichtlich 
und erziehlich auszunutzen; 

9. Geste und Minenspiel des Lehrers, seine drastische und kon- 
krete Ausdrucksweise sowie Modulation der Stimme (ideelle 
Veranschaulichung), die für das Verständnis und Nacherleben 
von höchster Bedeutung sind; 

10. gute Bilder zur Belebung, Ergänzung und Illustration, wenn 
das Bildverständnis gesichert ist. — 

Bei normalen Kindern ist der schaffende Arbeitswille ohne weiteres 
vorauszusetzen, schwachsinnige müssen durch unterrichtliches Spiel 
erst zum Arbeitsernst erzogen werden, und das immer und überall! 
Das unterrichtliche Spiel ist darum als Prinzip in 
der Hilfsschularbeit anzusprechen. Das Spiel entspringt 
einer überschüssigen Lebenskraft, die nicht nur nach der Schablone 
arbeitet, sondern schafft, umgestaltet, erfindet. Von einem Überschuß. 
an normaler Lebenskraft kann bei Schwachsinnigen nicht gesprochen 
werden. Wo man ein zur Entladung drängendes Übermaß bemerkt, 
handelt es sich um triebhafte Kräfte. Schwachsinnige gehören zu den 
Menschen, die niemals wollen, sondern immer bloß »möchten«. Dieses 
»Möchten« stempelt ihr kleines besseres Wollen zu einem triebartigen 
Streben. Da bei ihnen das sinnliche Gefühl vorherrschend ist, ist ihr 
Triebhandeln verständlich, und triebnützender Unterricht 
muß darum als Prinzip in der Hilfsschularbeit gelten. 
Besonders der Bewegungs-, Nachahmungs-, Tätigkeits-, Erwerbs- und 
Geselligkeitstrieb sind unterrichtlich und erziehlich auszuwerten. 

Mit dem triebhaften Tun geht ein plan- und gedankenloses Arbeiten 
Hand in Hand. Es fehlen das gesunde Urteil üher den Wert oder 
Unwert einer Arbeit, die Logik zum Erfassen von Zusammenhängen, 
jede Konsequenz im Wollen und die den Willen belebenden höheren 
Gefühle. Die prinzipielle Erziehung zum denkenden 
Schaffen wird besonders unterstützt und gefördert durch Indienst- 
stellung des persönlichen Interesses an einer Sache, 
durch Totalauffassung und durch »die Methode der Wahl« (Heller). 
Indem der schwache Wille der Kinder durch freie Wahl irgend einer 
darzustellenden Sache, der Art der Ausführung, der Ausgestaltung 


. 458 W. Raatz: 


von Schulfeiern und Wanderungen usw. angeregt wird, trägt die Hilfs- 
schule auch der besonders in der Neuzeit immer dringlicher ver- 
tretenen Forderung der Selbstausbildung Rechnung. Was Schwach- 
sinnige aber ohne Anleitung tun, gelingt ihnen entweder gar nicht, 
oder es bleibt ein Konglomerat von mebr Falschem als Richtigem, oder 
es stellt sich als ein zusammenhangloses Stückwerk dar. Körperliche 
und geistige Mängel stellen sich hemmend in den Weg. Für die 
Heilpädagogik ist darum nur folgender Gang möglich: vom Vortun 
zum Nachtun. vom Nachtun zum Selbsttun, vom Selbsttun zur be- 
scheidenen Selbständigkeit. Auf diesen Etappen bleibt gegenüber der 
Normalschulpädagogik der Unterschied bestehen, daß der Lehrer alles 
»Selbsttun« vorsichtig und vom Kinde unbemerkt zu gängeln hat. 
Sowohl bei den manuellen als auch bei den rein psychischen Leistungen 
ist also das Prinzip der objektiven Unterstützung zu 
beobachten. 

Gefühl und Gemüt müssen nach Möglichkeit bei jeder Arbeit 
durch Freude und Humor belebt werden. »Sie kommen nicht von 
außen her; im Herzen ruht die wunderbare Quelle, aus der wir 
Lebenskraft und Wonne schöpfen« (Auffenberg). Und darum ist ge- 
rade bei unsern bedrückten Hilfsschulkindern »die Freude immer eine 
sehr ernste Sache«e. Freude und Humor im Unterricht 
und in der Erziehung kann nicht genugsam als Hilfs- 
schulprinzip betont werden. Des Lebens Not und Freude- 
losigkeit sind ungebetene, ständige Begleiter der schwachsinnigen Sorgen- 
kinder, sie bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit mit einem Kapital- 
sümnichen reiner Lebensfreude auszustatten erscheint darum als eine 
heilige Aufgabe der Hilfsschule. 

Ein in der Schwachsinnigenerziehung und -bildung besonders 
‚charakteristisches Prinzip ist das der Bewegungstherapie. Be- 
wegungstherapie in medizinischem Sinne ist die Ausbildung der noch 
‚vorhandenen Funktionsfähigkeit gelähmter Muskelgruppen. In heil- 
pädagogischem Sinne bedeutet sie die Hebung der Psychombotilität 
Schwachsinniger, das ist die Einwirkung des Geistes auf Bewegungen 
und Vervollkommnung der motorischen Anlagen zur Förderung der 
Intelligenz. Schon dem Laien ist das allgemeine motorische Ungeschick 
der Schwachsinnigen augenfällig. »Dem Bewegungsunterricht in 
weitestem Sinne, zu welchem vor allem gymnastische Übungen und 
Bewegungsspiele gehören, ist (nach Ziehen) darum eine hohe Be- 
-deutung beizumessen. Beim minderwertigen Gehirn sind die Nerven- 
und Assoziationsbahnen sowie die Zentren mangelhaft entwickelt, durch 
Krankheit geschädigt oder verloren gegangen. Was tot ist, bleibt tot; 


Prinzipien in der Schwachsinnigenerziehung der Hilfsschule. 459 


aber was sich noch in einem entwicklungsfähigen Zustande befindet, 
kann durch Übung in seinen Funktionen vervollkommnet werden, 
indem durch starke äußere Reize Muskelgruppen angeregt, durch Aus- 
lösung von Willensimpulsen Muskelgruppen innerviert, durch isolierte 
Ausbildung von Muskeln und Gelenken dieselben in koordinierte Be- 
wegungen eingeordnet werden. Diesem Zwecke dienen hervorragend 
rhythmische Bewegungen, die den Willen und das Gehirn Schwach- 
sinniger gewissermaßen suggestiv beeinflussen, so das rhythmische 
Turnen, Hobeln, Sägen, Feilen, Hämmern und das Begleiten von 
Sprechbewegungen mit ÜGliederbewegungen. Knauer sagt: »Das 
schwachsinnige Kind braucht kräftigere Stimulationen, damit es auf- 
merken und seinen motorischen Verstand rege«, und: »Bewegungs- 
therapie ist das Fundament der gesamten Schwachsinnigenerziehung, 
bei tiefstehenden Idioten ‘die Erziehung.« 

Diese Prinzipien habe ich in meinem eingangs genannten Werke 
auf die Praxis angewandt. Ihre Durchführung gibt der Hilfsschul- 
pädagogik das Gepräge einer spezifischen Heilpädagogik. Entweder 
sie ist Heilpädagogik, oder sie hat das Recht verwirkt, eine natur- 
gemäße Hilfsschulpädagogik zu sein. 

Die Hilfsschule kann keine Wissensschule, sie muß in erster 
Linie eine Erziehungsschule sein. Schwachsinnigenbildung ist immer 
Schwachsinnigenerziehung. Die dargelegten Prinzipien müssen darum 
sinngemäße Anwendung auch auf die Maßnahmen finden, welche man 
speziell als erziehliche zu bezeichnen pflegt: Auf heimatlicher Scholle 
sind die Kinder zur aufmerksamen Beobachtung der Umwelt- 
erscheinungen, zur freudigen Mitarbeit für die Heimat und zur 
willigen Einordnung in die Arbeitsgemeinschaften zu erziehen, welche 
ihnen einen Platz, ihren Leistungen entsprechend, zuweisen. Auf 
diesem Wege, im Sinne der behandelten Grundsätze ist die wirtschaft- 
liche, sittliche und intellektuelle Rettung der Schwachsinnigen möglich. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29. Bd. 3l 


Ausbildungsfragen. 


Psychologischer Lehrgang für Lehrer und Lehrerinnen. 


Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität plant, während 
des Sommersemesters 1925 (1. Mai bis 1. August) einen Lehrgang über Jugendkunde 
und pädagogische Psychologie abzubalten, der für solche Lehrar und Lehrerinnen 
bestimmt ist, die an ihrem Heimatsorte schulpsycho'ogische Aufgaben durchzuführen 
haben. Der Lehrgang findet nur dann statt, wenn 20—25 Teilnehmer gesichert 
sind. Da es erfahrungsgemäß längere Zeit in Anspruch nimmt, die Beurlaubungen 
der betreffenden Lehrer und Lehrerinnen in die Wege zu leiten, bittet das ver- 
anstaltende Institut diejenigen Lehrer und Lehrerinnen, die an dem Kursus teilzu- 
nehmen wünschen, sowie diejenigen städtischen und Schulbehörden, welche Lehrer 
und Lehrerinnen für den Kursus zu beurlauben beabsichtigen, schon jetzt mit dem 
Psychologischen Laboratorium, Hamburg 1, Domstr. 9, in Verbindung treten zu 
wollen, damit möglichst bald die definitive Ankündigung erfolgen kann. 

Psycholo;isches Laboratorium Hamburg 1, Domstr. 8/9. 


Kursus über Jugendfürsorge und tefängniswesen 
vom 24-27. Oktober 1924 


in Hildburghausen. Die Erörterungen werden eingeleitet durch folgende Referate: 
Dr. W. Flitner: Die geistigen Strömungen in der neuen Erziehung. Professor 
Grünhut: Der Erziehungsgedanke im Strafrecht. Dr. K. Bercely: Inwiefern 
liegen in der Jugendbewegung Kräfte für die Wiedergewinnung der verwahrlosten 
Jugend. Reg.-Rat. Krebs: (Leiter am Zuchthaus Untermaßfeld): Die Erziehung zur 
Arbeit. Dr. Marie Kröhne: Berufsberatung bei gefährdeten Jugendlichen. Ferner 
werden Fragen des Jugendamts, des Jugendgerichts und der Jugendgerichtshilfe mit 
besonderer Berücksichtigung der durch den gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung 
aufgeworfenen Probleme behandelt werden. Preis (einschl. Unterkunft und Ver- 
pflegung) etwa 12—15 M. Weitere Auskunft durch die Geschäftsstelle der V. H. 
Thüringen, Jena, Carl Zeißpl. 3. Anmeldnngen bis zum 10. Oktober 1924. 
(Junge Gemeinde 1924, Blatt 30.) 





Gesetzgebung. 


Arztliche Untersuchung uud Beobachtung eines Jugendlichen 
nach 8 65 Abs. 4 R.J.W.6.!) 


x.— Nach $ 63, Z. 1 und 2 R.J.W.G. kann Fürsorgeerziehung nur an- 
geordnet werden, wenn sie zur Verhütung oder Beseitigung der Verwahrlosung er- 
forderlich ist. Das setzt eine Erziehbarkeit des Jugendlichen voraus, die in zweifel- 


a) Aus »Nachrichtendienste des Deutschen Vereins für öffentl. und priv. Für- 
sorge (N. D. 50. Juni 24). 


Gesetzgebung. 461 


haften Fällen von Gerichtswegen nachzoprüfen ist. Eine gesetzliche Handhabe hier- 
für gibt 865 Abs. 4 R.J. W.G., wonach das Vormundschaftsgericht während eines 
Fürsorgeerziehungsverfahrens und ohne Rücksicht auf die endgültige Entscheidung 
»die ärztliche Untersuchung des Minderjährigen anordnen und auf die Dauer von 
höchstens 6 Wochen ihn in einer für Aufnahme von jugendlichen Prychopathen 
geeigneten Anstalt oder in einer Öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt zur Beobachtung 
unterbringen lassen« kann. Durch diese Bestimmung ist es nunmehr möglich, auch 
gegen den Willen der Eltern (oder des gesetzlichen Vertreters) und des Minder- 
jährigen eine ärztliche Untersuchung und Beobachtung durchzuführen. Die Kosten- 
tragung in diesen Fällen, die im Gesetz nicht geregelt ist, hat in der Praxis zu 
Zweifeln Anlaß gegeben. Da diese Unterbringung im Gesetz klar von der vor- 
läufigen Fürsorgeerziehung nach § 67 R.J. W.G. geschieden ist, können die Kosten 
nicht als Fürsorgeerziehungskosten angesehen werden, sondern fallen dem Justiz- 
fiskus zur Last. 


Die Beobachtung eines Jugendlichen nach $ 65 Abs. 4 ist nicht nur von Be- 
deutung als Grundlage der vormundschaftsgerichtlichen Entscheidung. Ebenso wichtig 
ist es für die Fürsorgeerziehungsbehörde, daß sie in den schwierigen Fällen, wo die 
Erziehungsfähigkeit des Jugendlichen in Frage stand und bejaht wurde, ein ärzt- 
liches oder pädagogisches Gutachten über den Zögling erhält, das, nicht nur auf 
kurzer Untersuchung beruhend, weiterer Behandlung zugrunde gelegt werden kann 
und Erziehungsfehler vermeiden hilft. Stets wird daran festzuhalten sein, daß, so- 
lange noch eine Möglichkeit erzieherischer Beeinflussung und Förderung des Jugend- 
lichen vorhanden ist, vom erzieherischen Standpunkt seine Einweisung in Fürsorge- 
erziehung zu fordern ist; finanzielle Rücksichten auf die starke Belastung, die der 
Fürsorgeerziehungsbehörde aus diesen schwierigsten Fällen erwachsen, müssen dem- 
gegenüber zurücktreten. Dieser Erziehungsgedanke wird auch vom Kammergericht 
Berlin vertreten, das durch Urteil vom 21. 5. 24 — 1a X. 414/24 — einer Be- 
schwerde des Jugendamts Frankfurt a. M. betr. die Aufhebung eines Fürsorge- 
erziehungsurteils wegen Unerziehbarkeit des Fürsorgeerziehungszöglings stattgıbt. 
Aus der Begründung heben wir das folgende heraus: 


»Ebenso wie das Preußische Fürsorgeerziehungsgesetz geht auch das R.J. W.G- 
davon aus, daß geistige Erkrankung der Unterbringung in Fürsorgeerziehung nicht 
entgegensteht. Das ergibt sich aus $ 70 Abs. 2 des Gesetzes. Darin ist bestimmt, 
daß zur Fürsorgeerziehung zu bringende Minderjährige, welche an geistigen Regel- 
widrigkeiten leiden, wie Psychopathie, Epilepsie, schwerer Erziehbarkeit usw. in 
Sonderanstalten oder Sonderabteilungen unterzubringen sind. Unter Berücksichtigung 
dieser Vorschriften hätte das Landgericht eingehende Ermittelungen darüber ver- 
anstalten müssen, ob die geistige Erkrankung der Minderjährigen einen solchen Grad 
erreicht hatte, daß sie jede erzieherische Einwirkung ausgeschlossen erscheinen 
ließ. Das Gutachten des Direktors der Landesheil- und Erziehungsanstalt H. vom 
5. März 1924, auf welche das Landgericht seine Entscheidung ausschließlich stützt, 
vermochte diese nicht zu tragen. Mit Recht weist der Beschwerdeführer darauf 
hin, daß diese kurze gutachtliche Äußerung nicht frei von Widersprüchen ist. Denn 
einerseits erachtet der Gutachter bei dem Mädchen eine schwere psychische Störung 
für vorliegend. welche durch keine erzieherische Maßnahme wesentlich beeinflußt 
werden könne. Andererseits muß er zugeben, daß einzelne Begleiterscheinungen 
des angeborenen Schwachsinns durch die Anstaltspflege, welcher die Minderjährige 
unterworfen gewesen sei, in der Zwischenzeit bereits zurückgetreten seien. Schließ- 
lich erörtert er die Möglichkeit einer solchen Besserung, daß die Entlassung aus der 

31* 


462 Gesetzgebung. 


Anstalt versucht werden könnte. Das Gutachten konnte auch aus dem Grunde für 
sich allein keine ausreichende Grundlage für die Auffassung des Landgerichts ab- 
geben, weil sich der Direktor der psychiatrischen und Nervenklinik der Universität 
Frankfurt a. M. noch am 31. Juli 1923 gegensätzlich dahin gutachtlich geäußert 
hatte. Wenn auch diese Äußerung einige Zeit zurückliegt, so reichen doch die vom 
Landgericht angestellten Ermittelungen nicht für die Annahme aus, daß sich der 
Geisteszustand der Minderjährigen in der Zwischenzeit so verschlechtert haben sollte, 
daß die Feststellung des Landgerichts gerechtfertigt erschiene.« 


Ausführungsverordnung des Justizministers. vom 28. April 1924 
zum Jugendgerichtsgesetz — I 3567 — Ausführungsverordnung 
vom 20. Juni 19231) —. 


II. Anordnung der Fürsorgeerziehung durch das Jugendgericht. 
1. Nach § 5 Absatz 2 Satz 3 JGG soll das Gericht die Fürsorgeerziehung nur 
dann selbst anordnen, wenn in erster Instanz die Zuständigkeit dafür auch außerhalb 
des Strafverfahrens begründet ist. Aus diesem Grunde und im Hinblick auf die 
Frage, welcher Kommunalverband zur Ausführung der Fürsorgeerziehung gesetzlich 
verpflichtet ist, wird das Gericht vor Anordnung der Fürsorgeerziehung seine Zu- 
ständigkeit sorgfältig zu prüfen und in der Urteilsbegründung die für die Annahme 
der Zuständigkeit maßgebenden Gesichtspunkte kurz darzulegen haben. | 

Die Staatsanwaltschaft hat bei Stellung ihrer Anträge zur Frage der Fürsorge- 
erziehung auch ihrerseits diese Umstände zu berücksichtigen (vgl. auch die für das 
Fürsorgeerziehungsverfahren ergangene RV vom 10. August 1910 — I 1996 —). 

2. In Jugendsachen ist bereits bei der ersten verantwortlichen Vernehmung 
des Beschuldigten, spätestens aber bis zur Bauptverhandlung, das religiöse Bekennt- 
nis des Minderjährigen festzustellen und aktenkundig zu machen. (Für die polizei- 
lichen Ermittlungen vgl. die V. d. M. d. J. vom 10. Januar 1922 — MBI i. V. 
S. 94 —.) 

4. Ist durch Urteil des Jugendgerichts die Fürsorgeerziehung angeordnet worden, 
so hat die Staatsanwaltschaft in allen zweifelhaften Fällen dem zur Ausführung der 
Fürsorgeerzienung verpflichteten Kommunalverband nach Möglichkeit Gelegenheit zu 
geben, zur Frage der Einlegung oder Durchführung von Rechtsmitteln Stellung zu 

nehmen. 


III. Mitteilungsp£licht der Staatsanwaltschaft. 


Die AV vom 29. April 1907 (JMBi 8. 359 ff.\ über Mitteilungen in Strafsachen 
in der Fassung der AV vom 17. Mai 1921 (S. 312) und der Nr. I, 3 der AV vom 
20. Juni 1923 (S. 450) wird wie folgt geändert: 

1. Ziffer 20 erbält folgende Fassung: 

»Erscheinen Personen, die das 20. Lebensjabr noch nicht vollendet haben, als 
der Verwahrlosung verfallen oder von der nahen Gefahr einer solchen bedroht, so 
ist dem zur Stellung des Antrags auf Einleitung der Fürsorgeerziehung zuständigen 
Jugendamte, bei Gefahr im Verzug auch dem Vormundschaftsgerichte, Mitteilung zu 
machen « 

2. Ziffer 20a erhält folgenden Absatz 3: 

»Hat das Jugendgericht auf Fürsorgeerziehung eitant so, ist dem zur Aus- 
fuhrung der Fürsorgeerziehung verpflichteten Kommunalverband eine Abschrift des 


n) JMBI S. 450. 


Tagungen. 463 


Urteils mit Gründen unverzüglich. nach Rechtskraft zu übersenden. Außerdem sind 
ihm die Strafakten, sobald sie entbehrlich sind, zur ‚Kenntnisnahme vorzulegen.« 





Vorstehende auszugsweise Ausfübrungsverordnung bringe ich hiermit zur all- 
gemeinen Kenntnis. 


Volkswohlfahrt, 5. Jg., Nr. 12. 


I. V.: Scheidt. 
II F 1304/24. 


Oldenburgische Bekanntmachung des Staatsministeriums, betr. 
Änderung der Vorschriften tiber die staatliche Prüfung von 
Säuglingspflegerinnen. 

Vom 16. April 1924 (Gesetzbl. S. 141). (Auszug.) 


Die Bekanntmachung des Staatsministeriums vom 20. August 1919') betr. die 
Vorschriften über die staatliche Prüfung von Säuglingspflegerinnen, wird insofern 
abgeändert, als auch die Kleinkinderpflegerinnen in die Vorschriften mit einbezogen 
werden uud die Zuständigkeit für Eingaben und Anträge vom Ministerium des Innern 
auf das Ministerium der sozialen Fürsorge übergegangen ist. Ferner dürfen die 
Prüflinge bereits nach Vollendung des 20. Lebensjahres (bisher des 21.) zur Prüfung 
zugelassen weıden; als Ausbildungszeit — bisher je ?/, Jahr Krankenpflegeunterricht 
und Säuglingsunterricht — wird ununterbrochene, erfolgreiche zweijährige Teilnahme 
an dem in einer staatlichen oder staatlich anerkannten Säuglingspflegeschule statt- 
findenden Unterricht festgesetzt. Für Hebammen und Krankenpflegepersonen sind 
gewisse Erleichterungen geschaffen; der Plan für die in der mündlichen Prüfung 
zu behandelnden Gegenstände ist erweitert worden. Die gleichen Vorschriften gelten 
auch für den Landesteil Birkenfeld. 


mn nn 


Tagungen. 


Tagung des Verbands der Hilfsschulen Deutschlands am 
3. und 4. August 1924 zu Hannover. 


Der X. Verbandstag, der erste wieder seit 1913, verhältnismäßig gut besucht, 
rund 500 Teilnehmer. Allerdings ist die Zahl der behördlichen Vertreter und der 
Teilnehmer aus dem Auslande kleiner als früher. Der Verband hat im Vorjahre 
sein erstes Vierteljahrhundert vollendet, er feiert nachträglich die Führer, die seit 
der Gründung im Vorstande arbeiten, und denen zum Teil die Erfolge der Ver- 
bandstätigkeit zu danken sind; es sind ihrer noch 6: Stadtschulrat a. D. Dr. Wehr- 
hahn, Hannover, wird zum Ehrenvorsitzenden, Schulinspektor a. D. Kielhorn, 
Braunschweig. zum Ehrenvorstandsmitglied ernannt; die andern werden weiterhin 
mit den wichtigen Arbeitsämtern im Vorstande betraut: Senator Stadtschulrat Grote, 
Hannover (1. Vorsitzender‘; Stadtschulrat Henze, Frankfurt a. M. (Schriftleiter); 
Anstaltsdirektor Wintermann, Huchting b. Bremen (Kassenführer); Schuldirektor 
Basedow, Hannover (1..Schriftführer). 


1) Veröff. 1919, S. 589. 





464 Tagungen. 


Eine Vertreterversammlung regelt Geschäftliches. Die Vorversammlung ver- 
handelt über zwei Aufgaben, die den Verband seit langem beschäftigen: Ausbildung 
der Hilfsschullehrer und Personalbogen. Hauptlehrer Egenberger, München, be- 
richtet über die erste Frage; er hat bereits 1922 auf einer Vertreterversammlung 
in Göttingen eingehende Forderungen aufgestellt. Auf seine Auregungen hat die 
Bayrische Regierung an der Universität München Ausbildungslehrgänge eingerichtet, 
auf die er verweist. Er wiederholt seine früheren Vorschläge: Die heilpädagogische 
Lehrerausbildung setzt die wissenschaftlich-pädagogische und pädagog:sch-praktische 
sowie eine mehrjährige Unterrichtsarbeit voraus. Die wissenschaftliche Ausbildung 
ist für alle Heilpädagogen gemeinsam; sie erfolgt an der Hochschule, die dafür 
eine besondere Einrichtung zu schaffen hat; sie umfaßt im wesentlichen Heilpäda- 
gogik, Psychopathologie und Psychiatrie. Die praktische Ausbildung erfolgt in engster 
Verbindung mit der Hochschule an den in Botracht kommenden Unterrichtsanstalten, 
sie ist für die verschiedenen Zweige der Heilpädagogik zum Teil gemeinsam, zum 
Teil getrennt. Gemeinsam sind die klinischen Vorführungen und Übungen an kranken 
Kindern, sowie die Durchführung von Schüleruntersuchungen und die Besuche an 
Anstalten; getrenut erfolgt die methodisch-praktische Sonderausbildung der einzelnen 
Gruppen (Hilfsschule, Taubstummen-, Blindenanstalten, Fürsorge u. a.). — Seine 
Forderungen werden lebhaft unterstützt und vón der Versammlung angenommen. — 
Rektor Martini, Berlin, spricht über den Personalbogen. Ein vom Verband 
empfohlener Bogen ist vom Preuß. Unterriohts-Ministerium 1910 eingeführt worden, 
hat sich aber nicht allgemein durchsetzen können, so hat z. B. Berlin mit behörd- 
licher Genehmigung seinen eigenen Bogen. In einer Leitsatzreihe stellt der Redner 
die allgemeinen Richtlinien auf, die für einen einheitlichen Personalbogen zu gelten 
haben; ein Ausschuß soll nach diesen Grundsätzen einen Bogen entwerfen, der 
dann allen Landesregierungen als Verbandsbogen vorzulegen ist; der Berliner Bogen 
wird als geeignete Grundlage bezeichnet. Die Aussprache erbringt den Beweis, daß 
im Ziel alle einig sind, im einzelnen aber doch starke Verschiedenheiten gegen- 
einander stehen. Die Leitsätze werden gebilligt. Der Vorstand hat in einer nach- 
folgenden Besprechung den Verband Westfalen mit dem Entwurf des neuen Bogens 
beauftragt. 

Die Hauptversammlung wurde durch Gesangsvorträge des Hannoverschen 
Lehrergesangvereins eingeleitet. Der Vorsitzende Dr. Wehrhahn bot in seiner 
Eröffuungsansprache einen kurzen Rückblick auf die Entwicklung des Vereins. Es 
folgte die übliche Reihe von Begrüßungen. Rektor Lesemann, Hannover, hielt 
den Festvortrag »Wo wir stehen«, formvollendet, schwungvoll, gedankenreich, philo- 
sophisch-pädagogisch. — Dr. Hische, der Direktor des Psycholog. Instituts zu 
Hannover, sprach über Methoden und Ergebnisse der experimentellen Psychologie 
in ihrer Auswirkung auf Untersuchung und Behandlung des Hilfsschulkindes. Er 
ist Volksschullehrer gewesen und versteht es, seelenkundliche Forschungen für die 
Unterrichtsarbeit nutzbar zu machen. Sobald der Vortrag gedruckt vorliegt, wird 
es zweckmäßig sein, auf ihn näher einzugehen. — An letzter Stelle behandelte 
Hilfsschullehrerin Weinand, Essen, die Lesebuchfrage. Da das Lesebuch in der 
Hilfsschule ein wesentliches Hilfsmittel für den Unterricht ist, muß es sowohl der 
Eigenart des Hilfsschulkindes wie dem gesanıten Erziehungsziel Rechnung tragen. 
In ausführlichen Leitsätzen legt die Vortragende die Einzelheiten dar. — An die 
Vorträge schließt sich keine Aussprache. Die Leitsätze über das Hilfsschuilesebuch 
werden den Unterverbänden zur Erörterung überwiesen. 


Verschiedenes. 465 


Die Hilfsschulen Hannovers hatten eine Ausstellung veransaltet, die auch 
eine Zahl von Lehr- und Lernmitteln, von Lehrern allein oder unter Mithilfe von 
Schülern im Unterricht gefertigt, bot. 

Zahlreiche Teilnehmer folgten einer Einladung zum Besuch des Psycholog. 
Instituts, bei der Dr. Hische auf Einzelheiten in seinem Vortrag nochmals ein- 
gehen konnte. Das Institut dient nicht nur der wissenschaftlichen Forschung, sondern 
hilft bei der Auslese der Hochbegabten und der Schwachsinnigen unter der Volks- 
schuljugend und unterstützt das Berufsamt durch Eignungsprüfungen bei der Berufs- 
wahl. Es ist sehr gut ausgestattet. Dreßler. 


Verschiedenes. 


»Beiträge zar Kindererholungsfürsorge-, herausgegeben im Auftrage der 
Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege von Prof. 
Rott und D. Stahl, sind zurzeit im Erscheinen. Von Fachleuten werden die 
medizinischen, pädagogischen und organisatorischen Fragen der Kindererholungs- 
fürsorge in knapper, übersichtlicher Weise in einzelnen Aufsätzen behandelt. Preis 
voraussichtlich etwa 2,50 M bis 3 M. Vorbestellungen sind zu richten an die Ge- 
schäftsstelle der genannten Reichsgemeinschaft, zurzeit Charlottenburg 5, Mollwitz- 
Frankstraße. 


Resolution des Reichsverbandes der 
Katholischen Anstalten Deutschlands für Abnorme vom 7. 8. 24. 


Der »Reichsverband der kath. Anstalten Deutschlands für Ab- 
norme«, Sitz Freiburg i. Br., begrüßt das »Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt« vom 
N. 7. 1922 und die »Reichsverordnung über die Fürsorgepflichte vom 13. 2. 1924 
als einen Fortschritt auch auf seinem Arbeitsfeldee Er bedauert aber zugleich die 
Einschränkung, welche die »Verordnung über das Inkrafttreten des Reichsgesetzes 
für Jugendwohlfahrt«e vom 14. 2. 1924 der geschlossenen Abnormenfürsorge gə- 
bracht hat. 

Im einzelnen unterbreitet er folgende Forderungen: 


1. Die Abnormenfürsorge ist der Art nach von der Fürsorgeerziehung und an- 
deren verwandten Gebieten der Fürsorge verschieden und hat ein dem Um- - 
fange nach ausgedehnteres Arbeitsfeld zu bestellen. Ihre Bedeutung ist im 
Wachsen begriffen. Sie soll darum bei kommenden gesetzgeberischen Maß- 
nahmen in irgend einer Form eine besondere Behandlung finden. 

2. Die Vertreter der Abnormenfürsorge werden, wo möglich und angängig, in 
die Jugendämter und Fürsorgeausschüsse berufen. Bei den Landes- 
jugendämtern werden »Sonderausschüsse für Heilerziehung« gebildet. 

3. Der 8 70, Abs. II, Satz 5, Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, tritt wieder in 
Geltung, wobei gegebenenfalls neben dem Arzt oder Psychiater der Heil- 
erzieher gehört wird. 

4. Es wird die Möglichkeit geschaffen, die Schutzaufsicht bei Abnormen eventuell 
über die Volljährigkeit hinauszuführen. Ein »Verwahrungsgesetz« ist 
gerade vom Standpunkt der Abnormenfürsorge aus dringend zu wünschen. 
Der Reichsverband ersucht der Frage der Verwahrung größere Aufmerksam- 
keit zuzuwenden und durch einen entsprechenden Ausbau der landesrecht- 


466 Verschiedenes. — Berichtigung. 


lichen Vorschriften eine geeiguete Entwicklung dieser zweifellos schwierigen 
Frage anzubahnen. 

5. Der »Reichsverband der kath. Anstalten Deutschlands für Abnorme«, Sitz 
Freiburg i. Br., unterstützt die Bemühungen um die Regelung des Hilfsschul- 
wesens (Hilfschulgesetz, Hilfsfortbildungsschule usw.) und erwartet hiervon 
Förderung der eigenen Anstaltsschulen. 

6. Als Stätten für die Erwerbsbefähigung abnormer Minderjähriger im Sinne 
des § 49, Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, sowie als Arbeits- und Ver- 
sorgungsheime rechnen die Anstalten für Abnormenfürsorge auf Entgegen- 
kommen und Hilfe seitens der Jugendämter und Fürsorgeverbände. Der $ 1d) 
der Fürsorgepflichtverordnung betreffend Schwererwerbsbeschränkte 
wird für die Abnormen beansprucht, wo angängig. (Vgl. das Gesetz über 
die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 12. Januar 1923 R. G. Bi. I, 57.) 


Berichtigung. 


Auf Seite 187 in der Überschrift der Arbeit Eliasberg muß es statt Beo b- - 
achtungsvorgänge heißen Beachtungs vorgänge. | : 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensauza. 


Zr i a a 


Autorenverzeichnis. 





Bartsch, K arl, Die Hilfsschule — die heil- 
pädagogische Unterrichtsanstalt. S. 138. 

Brednow, W., Reproduktionsversuche 
an pseudologischen Kindern. S 416. 

Bühler, Charlotte, Die Kinderlüge. 
8. 113. 

Dirr, Hans Robert, Hilfsklassen an 
Schwerhörigen- und Sprachheilschulen. 
8. 311. 

Eliasberg, W., Wie entstehen und ver- 
laufen aufgabefreie »natürliche« Be- 
obachtungsvorgänge? S. 187. 

Emmerig. Ernst, Vorschlag einer ge- 
meinsamen religiösen Unterweisung 
Taubstummer und Schwachsinniger im 
18. Jahrhundert. S. 326. 

Francke, Herbert, Die Ausbildung der 
Jugendrichter. S. 14. 

—, Neue Bestimmungen auf dem Gebiete 
des Jugendstrafrechts. S. 443. 

Fürstenheim, Über den Zusammenhang 
der geisteswissenschaftlichen und der 
naturwissenschaftlichen Jugendsichtung. 
S. 117. 

Gregor, Adalbert, Ausbildungsfragen 
im Bereiche der Anstaltsfürsorge- 
erziehung. S. 24. 

—, Probleme und Aufgaben in der Für- 
sorgeerziehung. 8. 404. 

Herrmann, Walter, Die pädagogische 
Ausbildung von Strafvollzugsbeamten 
an Jugendgefängnissen, 8. 30. 

Hesselbarth, Zum 100 jährigen Bestehen 
der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf. 
8. 131. 

Homburger, August, Die heilpäda- 
gogische Beratungsstelle in Heidelberg. 
5S. 261. 

Isserlin, Max, Zum zweiten Kongreß für 
Heilpädagogik. 8. 259. 

— Fragen der heilpädagogischen Aus- 
bildung. 8. 363. 


Kramer, Franz, Eingliederung des 


Unterrichts über die Psychopathologie 
des Kindes- und Jugendalters in das 
akademische Studium. 8. 12. 

Kroh, O., Die eidetische Anlage bei 
Jugendlichen. S. 63. 

Leyen, Ruth v. der, Die Eingliederung 
der Psychopathenfürsorge in die Ause 
bildung d.Jugendwohlfahrtspflegerinnen. 
S. 17. 

—, Fünt Fälle von »Verwahrlosung«. 8. 376. 

Lyon,Erna. Heilpädagogisches Erholungs- 
heim. 8.75. 

Machadek, Johann. Psychologische 
Studie über Erfindungsversuche von 
11—14jährigen Knaben. S. 292. 

Nohl, Hermann, Die Ausbildung der 
Sozialpädagogen durch die Universität. 
8. 5. 


Raatz, W., Prinzipien in der Schwach- 
sinnigenerziehung der Hilfsschule. 
S. 454. 

Radl, Hans, Über die Dissozialität ver- 
krüppeiter Kinder. 8. 275. 

Schwartz, Bericht über die in den 
Jahren 1922—1923 vorgenommene 
neurologisch - psychiatrische Unter- 
suchung der in Erziehungsanstalten neu 
aufgenommenen Fürsorgezöglinge der 
Provinz Sachsen. S. 314. 

Siegmund-Schultze, F., Ausbildungs- 
fragen der Jugendwohlfahrt mit be- 
sonderer Berücksichtigung der Psycho- 
pathenfürsorge S. 1. 

Theissen, A., Eine Mehrleistung auf 
dem Gebiete des Gedächtnisses bei 
einem Schwachsinnigen. S. 198. 

Thumm, M., Zwei Jahre poliklinische 
Beratungsstelle beim Jugendamt Leipzig. 
S. 99. 

Tugendreich, G., Über Säuglingsturnen. 
S. 151. 

Zade, Martin.Blindenwesen und Blinden- 
fürsorge im Kindesalter. S. 163. 


ZEITSCHRIFT FÜR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDETVONJTRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN I.B, TH. HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN, 
F. WEIGL-AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN BERLIN BERLIN 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 
REFERATE 
29. BAND 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 


Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig 


Inhaltsverzeichnis. 


Normale Anatomie und Physiologie. 1. 145. 
Biologie, Konstitution, Rasse, Vererbung. 4. 81. 147. 
Psychologie. 
Allgemeine und spezielle Psychologie. — Methodisches. 10. 91. 151. 
Angewandte Psychologie. 19. 100. 167. 
Genetische und vergleichende Psychologie. 22. 101. 173. 
Psychopathologie und Psychiatrie. 
Allgemeines. 25. 
Geistige Defektzustände. 26. 103. 178. 
Psychopathie, Verwahrlosung. 30. 105. 182. 
Psychosen. 33. 110. | 
Krankheiten des Kindesalters (einschl. allgemeine Pathologie). 34. 110. _ 
186. 
Normale Pädagogik. 41. 117. 
Heilpädagogik und Anomalen-Fürsorge. 
Allgemeines. 46. 
Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien. 50. 122. 193. 
Sinnendefekte, Sprachstörungen. 53. 124. 
Krüppel. 55. 
Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung. 
Allgemeines. 56. 127. 195. 
Säuglings- und Kleinkinderfürsorge. 65. 131. 
Schulkinderfürsorge. 66. 134. 199. 
Berufsberatung. 70. 136. 202. 
Vormundschaftswesen. 206. 
Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches. 71. 137. 207. 
Fürsorgeerziehung. 73. 138. 
Gefängniswesen. 74. 
Gesetzgebung. 74. 
Erzieher, Fürsorger, Ausbildungsfragen. 77. 140. 
Allgemeines. 79. 141. 
Autorenregister. 209. 


Sachregister. 215. 





Referatenteil der Zeitschrift für Kinderforschung. 


29. Bd., H. 1 S. 1—80 





Normale Anatomie und Physiologie: 


Naito, Inosaburo: Zur Myelinisation des Kleinhirns. Arb. a. d. neurol. Inst. a. d. 
Wiener Univ. Bd. 24, H. 2/3, S. 253—281. 1923. 

Der Verf. geht an einem größeren Material (Kleinhirn von Kindern bis zu 6 Wochen) 
der Frage nach, wie sich die Markbildung im menschlichen Cerebellum in bezug auf 
die einzelnen Teile verhält, unter besonderer Berücksichtigung der Neuordnung des 
Cerebellums im Sinne von Bolk, Bradley, Elliot Smith. Der Verf. unterscheidet 
3 Stadien der Markbildung: Primäres Stadium: Die Myelinisation des Kleinhirns 
beginnt zentral im Gebiet der tiefen Commissuren und des Dachkerns und greift über 
auf die zentralen Partien des Wurms; vom Lobus lateralis sind nur Flocke und Neben- 
flocke in gleicher Weise beteiligt. Intermediäres Stadium: Myelinisation der Lobi 
laterales: Von den zentralen Teilen des Wurms geht die Myelinisation nach der Peripherie 
lateralwärts derart fort, daß in den vorderen Partien der ganze Lobus anterior (im Sinne 
von Bolk),in den hinteren der Lobus posterior (Lobus gracilis, Lobus biventer, Amyg- 
dala) markhaltig wird. Die lateralen Abschnitte des Markstrahls werden früher mark- 
haltig als die zentralen. Im Lobus anterior ist die Ummarkung in Lingula und Lobus 
centralis den caudalen Abschnitten gegenüber voraus. Wesentlich in diese Phase gehört 
die Ummarkung des Nucleus dentatus. Terminales Stadium: Ummarkung der zwischen 
Lobus anterior und posterior gelegenen Abschnitte des Lobus lateralis, zuletzt der 
Lobuli semilunares. Die Myelinisation verhielt sich bei den Kindern gleicher Alters- 
stufen nicht ganz gleichmäßig. Die Ummarkung hängt, wie die Untersuchungsergeb- 
nisse zeigen, nicht mit irgendwelcher Funktion zusammen, sondern mit der Markreifung 
der ins Kleinhirn einstrahlenden Fasern: Je früher diese Fasern reifen, desto früher 
finden sich auch im Cerebellum markhaltige Systeme. Das Gebiet der spätreifenden 
Brückensysteme wird demnach zuletzt im Kleinhirn markhaltig. Der größte Teil der 
bereits bei der Geburt markhaltigen Brückenfasern, die im Stratum profundum pontis 
liegen, muß demnach wohl an den Wurm herantreten; die zentralen, im intermediären 
Stadium, wie oben erwähnt, noch nicht markhaltigen Partien des Markstrahls im Lobus 
lateralis enthalten wahrscheinlich auch Brückenfasern. Verf. kann sich weder der 
Annahme von Bolk noch der von R. Löwy anschließen, die eine Verschiedenheit 
der Entwicklung in einzelnen Partien gefunden haben. Das Gesetz der Entwicklung 
läßt sich vielmehr in den Satz zusammenfassen: Die phylogenetischen Systeme werden 
auch ontogenetisch früher markreif, demzufolge muß die Myelinisation des Kleinhirns 
je nach der Markreifung der zugehörigen Systeme verschiedene Phasen aufweisen. 

Schob (Dresden)., 

Guillery jr., H.: Entwieklungsgesehiehtliehe Untersuchungen als Beitrag zur Frage 
der Eneephalitis interstitialis neonatorum (Virchow). (Pathol. Inst., Univ. Köln.) 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 84, S. 205—256. 1923. 

Das Material für diese Untersuchungen besteht aus den Gehirnen von 20 mensch- 
lichen Föten, 31 Kindern bis zum 2. Lebensjahre, 7 Erwachsenen, 12 Kaninchen, 5 
Meerschweinchenföten und jungen Mäusen. Das in 4proz. Formol fixierte Material 
wurde in Paraffin und Gelatine eingebettet. Die Fettfärbungen, Bielschowskys Im- 
prägnationsverfahren, Spielmeyers Markscheidenfärbung und die Hämatoxylin- 
Eosinfärbung kommen in Anwendung. Verf. trennt von der Hisschen Matrix eine 
äußere Schicht als die Schicht der Embryonalzellen ab, schildert die Veränderungen 
der Zwischenschicht besonders im Hinblick auf die Fasereinwanderung. Ende des 
2., Anfang des 3. Monats differenzieren sich Rinde, Mark und Höhlengrau. Die Vas- 
kulierung geschieht von den Capillarnetzen der Matrix aus und geht dann in die Zwischen- 
schicht über. Bei der Rindenentwicklung bildet der Stat. verrucosus simplex eine 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 1 


— 2 — 


Entwicklungsstufe, die gekennzeichnet ist durch das Auftreten kleiner corticalen Pro- 
liferationszentren (corticale, sekundäre Matrix). Im 6. Monat aber sieht man schon 
gute Schichtung und Strahlung im Rindenbau. Im 3. extrauterinen Monat erst ist die 
Rinde ausgereift, und ihre Zellen sind als Pyramidenzellen ausgebildet. Das zentrale 
Grau (z. B. Caudatus) ist früher, spätestens im 8. Fötalmonat ausgebildet. Weiter 
wird von der Schicht der Embryonalzellen und Zwischenschicht das Markweiß gebildet. 
Hier wachsen dann die Nervenfasern ein. Es bleiben aber auch kleine Keimzellen- 
haufen liegen, vor allem um die Gefäße. Vom Ependym, das ja von den Säulenzellen 
der Matrix herzuleiten ist, dringen kleine Schläuche gegen das Mark vor. Sie können 
oft richtige Ependymzellen wie im Höhlengrau bilden. Die Bemarkung der Nerven- 
fasern beginnt im 6. Fötalmonat. Kleine im Spielmeyerpräparat grauschwarz erschei- 
nende, oder gröbere, und schließlich feinste im Haufen liegende Körnchen sieht man in 
der Nähe von Capillaren und im Plasma auftreten — Markscheiden aber treten nur 
spärlich und inselförmig auf. In den ersten 6 Lebensmonaten findet dann die haupt- 
sächlichste Markreifung statt, mit dem 8. Monat erreicht sie ihr Ende. Bei diesen Vor- 
gängen wird das feintropfige perinucleäre Fett (Wohlwill) in den Gliazellen schon 
vom 6. Fötalmonat an gesehen. Es nimmt zu, besonders nach der Geburt. Im 3. Le- 
bensmonat wird das Fett großtropfiger, es liegt nahe an den Achsenzylindern, die noch 
nicht wesentlich bemarkt sind. Nach dem 7. Monat ist es nicht mehr nachzuweisen. 
Außerdem sieht man während der Myelogenese in den Gefäßen nach Spielmeyer 
schwarzgefärbte Erytrocyten und schwärzliche Granulierung von Adventitialzellen. 
Der Fettgehalt in den Gefäßwänden nimmt dagegen zu, je weniger Fett in der Glia vor- 
handen ist. Auf Grund dieser Befunde kommt Verf. zu dem Schluß, daß das in der Glia 
während der Myelogenese vorkommende Fett physiologische Bedeutung für den Auf- 
bau der Markscheiden hat. Er bekämpft damit aufs entschiedenste die Schwartz- 
sche Auffassung, nach der das Fett ein Zeichen von Abbauvorgängen infolge Geburts- 
traumas sein soll. Eine Scheidung zwischen klein- und großtropfigem Fett im Wohl- 
willschen Sinn wird ebenfalls abgelehnt. Große Bedeutung legt er den schwarz gefärb- 
ten Erythrocyten und Gefäßwandzellen bei und sieht in ihnen einen Hinweis darauf, daß 
die Aufbaustoffe der Markscheiden auf dem Blutwege ins Gehirn getragen werden. Die 
Anwendung der erhobenen Befunde auf die sogenannten „Encephalitis congenita Vir- 
cho ws‘ bringt den Verf. zu der Annahme, daß Virchow im allgemeinen die normalen 
Myelogenesebilder und neben vereinzelten degenerativen Körnchenzellen einige patho- 
logische Markreifungsprozesse gesehen hat. Jastrowitz, Flechsig, Boll und Eich- 
horst haben die letzteren übersehen. Grundsätzlich wird Wohlwillin der Auffassung 
der fetthaltigen Gliazellen als Aufbauelementen zugestimmt. „Die Form, in der die 
Glia während der normalen Myelogenese mit Fett beladen wird, ist die 
gleiche wie bei vielen pathologischen Prozessen im späteren Leben.“ 
Morphologisch also ist hierbei ein Unterschied zwischen Aufbau und Abbau nicht fest- 
stellbar. Eine Encephalitis congenita in Virchows Sinne wird abgelehnt. Das was ge- 
legentlich an degenerativen und proliferativen Erscheinungen auftritt, ist durch physio- 
logische und geringfügige pathologische Vorgänge bei der Gehirnentwickelung genügend 
erklärt, ist aber nicht entzündlich, also auch kein Ausdruck einer Encephalitis. Aus 
allen diesen Gründen muß der Begriff der Encephalitis congenita Virchows aufge- 
geben werden. Creutzfeldt (Kiel). 

Feldman, W. M.: The physiological peeuliarities of ehildhood. (Die physiologischen 
Eigentümlichkeiten der Kindheit.) Child Bd. 13, Nr. 12, S. 353—357. 1923. 

Die bekannten physiologischen Unterschiede zwischen dem Organismus des Er- 
wachsenen und dem des Kindes werden kurz besprochen. Die Tatsache, daß die relative 
Oberfläche des Neugeborenen und in abnehmendem Maße des Kindes um das Mehr- 
fache größer ist als die des Erwachsenen, und ihre Bedeutung für den Wärmehaushalt 
wird gebührend hervorgehoben, das Energiebedürfnis für den Anwuchs mit 13% des 
gesamten Calorienbedürfnisses wohl zu hoch angegeben, und endlich die Eigenart des 


EEE. BEER 


kindlichen Verdauungsapparates und seiner Funktionen dargestellt, ohne neue Ergeb- 
nisse. Der Kreislauf des Kindes ist in stärkerem Maße beansprucht als der des Er- 
wachsenen: Das Herz des Kindes pumpt in der Zeiteinheit pro Gewichtseinheit fünfmal 
soviel Blut in die Arterien als das des Erwachsenen; die linke Herzkammer ist beim 
Kind nicht muskelstärker als die rechte. Villinger (Tübingen) 

Aron, Hans: Über den Sehlaf im Kindesalter. Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 26, 
H. 3, S. 209—216. 1923. 

Verf. bespricht die Einwirkungen des Schlafes auf den Stoff- und Kraftumsatz, 
die wohl auch für dessen Einfluß auf das Nervensystem von grundlegender Bedeutung 
sind. Im Schlafe sinkt der Energiebedarf des Organismus und findet ein viel geringerer 
Stoffverbrauch statt, als im wachen Zustande. Selbst beim Säuglinge, dem noch die 
lokomotorischen Muskelbewegungen fehlen, ist der Unterschied schon deutlich; in 
der Pubertät besteht ein 5mal so hoher Stoffverbrauch im Wachen als im Schlafen. 
Dementsprechend stellt sich bei Kindern in Zeiten gesteigerten Stoffverbrauches und 
-Bedarfes als physiologische Reaktion ein erhöhtes Schlafbedürfnis ein, dem man nach- 
geben soll. Die Ermüdung des Gehirns wirkt nicht im gleichen Maße schlafbringend, 
wie die körperliche Ermüdung, und erzeugt im Gegenteile angestrengte geistige Tätig- 
keit oft unruhigen Schlaf. Dieser ist auch häufig die Ursache unzureichender Gewichts- 
zunahme bei sonst ausreichend genährten Schulkindern, und ist bei diesen nicht ver- 
mehrte Nahrungszufuhr und Arsenbehandlung, sondern die caloriensparende Wirkung 
des verlängerten Schlafes das richtige Heilmittel. Zur Verlängerung der kindlichen 
Schlafdauer ist notwendig die Herabsetzung der Arbeitszeit auf das richtige Maß, 
bei Kindern unter 15 Jahren auf 7 Stunden, sowie die Einhaltung einer etwa ein- 
stündigen Schlafperiode noch vor dem Mittagessen, die auch den Nachtschlaf günstig 
beeinflußt. Schlechtes oder verspätetes abendliches Einschlafen, das oft in einer zu 
starken geistigen Beschäftigung begründet ist, verlangt, besonders bei den leicht erreg- 
baren neuropathischen Kindern eine geistige Ruhigstellung in den Abendstunden 
und körperliche Ermüdung durch Bewegung, Frottieren und Bäder. Zingerle (Graz). 


Krasnogorski, N.: Der Sehlaf und die Hemmung. (Univ.-Kinderklin., Woronesch.) 
Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 25, H. 1/6, S. 372—386. 1923. 

Aus Beobachtungen an Kindern und Hunden und aus Anschauungen der Pawloffschen 
Schule heraus stellt Krasnogorski eine komplizierte Theorie auf, daß der Schlaf durch die 
hemmende Wirkung gewisser Reflexe herbeigeführt werde. Gruhle (Heidelberg). 

Vipond, A. E.: The blood-pressure in boys and girls before and at puberty, and in 
ehildren who suffer from various diseases. (Der Blutdruck von Knaben und Mädchen 
vor und während der Pubertät und bei Kindern im Verlauf verschiedener Krank- 
heiten.) Americ. med. Bd. 29, Nr. 6, S. 382—389. 1923. 

Bei Mädchen im Alter von 11!/,—14 Jahren steigt der Blutdruck ständig bis zur Pubertät, 
gleichzeitig stellt sich eine Vergrößerung des Herzens ein. Nach Eintritt der Pubertät sinkt 
der Blutdruck wieder auf ungefähr 116. Bei Knaben bleiben derartige Veränderungen aus, 

Campbell (Dresden). 

Lantuejoul, P., et E. Hartmann: Note sur le réflexe eutan&-plantaire, chez le 
jeune enfant, notamment au moment de la naissanee. (Bemerkungen über den Plantal- 
reflex beim jungen Kinde, insbesondere im Augenblicke der Geburt.) Rev. neurol. 
Jg. 30, Nr. 4, 8. 387—398. 1923. 

Die Verff. haben Untersuchungen angestellt über den Babinskischen Reflex 
in der frühen Kindheit, und zwar prüften sie eine größere Zahl von Kindern bereits in 
den ersten Minuten nach der Geburt. Sie fanden das Verhalten des Fußsohlenreflexes 
verschieden, je nachdem das Kind bereits spontane Bewegungen besitzt oder nicht. 
Besitzt das Kind noch keine spontanen Bewegungen (Prüfung an vorgefallenen Ex- 
tremitäten, an durch Kaiserschnitt geborenen Kindern, die sich noch nicht bewegen 
o. ä., 29 Fälle), so besteht der Fußsohlenreflex in der Regel in einer isolierten Beugung 
der großen Zehe, meist verbunden mit einem Fluchtreflex des ganzen Beines. Bei 
Kindern, welche bereits spontane Bewegungen zeigen (31 Fälle im Alter bis zu 16 Tagen), 

1* 


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ist die Dorsalreflektion der großen Zehe die Regel, nur in wenigen Fällen findet sich 
Plantarflexion. Es besteht also unmittelbar nach der Geburt ein Stadium, in welchem 
der Reflex plantar ist; dieses dauert jedoch nur wenige Minuten und geht dann in die 
in der frühen Kindheit übliche Dorsalreflexion über. Kramer. 


Biologie, Constitution, Rasse, Vererbung : 


© Engel, St., und Ella Runge: Die körperliehe und geistige Entwieklung des 
Kindes im 1. und 2. Lebensjahre. Für Mütter und Pflegerinnen in Wort und Bild kurz 
dargestellt. München: J. F. Bergmann 1923. 7 8. 5 Tf. G.-M. —.20. 

In 3 sehr instruktiven Tafeln wird die körperliche Entwicklung des Kindes im 
1. und 2. Lebensjahre aufgezeigt und werden Übungen dargestellt, die für diese frühe 
Altersstufe geeignet sind unter Vermeidung aller Übertreibungen, von denen manche 
Schriften über Säuglingsgymnastik nicht frei sind. Der Text ist sehr knapp und eigent- 
lich nur eine Erläuterung der Tafeln. Das Heft ist für volkstümliche Belehrung sehr 
geeignet. Tugendreich (Berlin). 

© Hodann, Max: Eltern- und Kleinkinder - Hygiene. (Eugenik.) Anregungen für 
Erzieher. (Entschiedene Sehulreform. Hrsg. v. Paul Oestreieh. H. 6.) Leipzig: Ernst 
Oldenburg 1923. 38 S. G.Z. 0,60. 

Das Büchlein dient der Verbreitung rassenhygienischer Gedanken und gibt in 
gedrängter Kürze das Allerwichtigste von den Grundlagen der Erblichkeitslehre, der 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, der Sexualerziehung, der Bekämpfung der 
Keimgifte, schließlich allgemeine individualhygienische Ratschläge für Eltern und 
Kinder. Besonders erfreulich ist, daß der Verf. betont, daß die Feststellung des indivi- 
dualhygienisch Erreichbaren allen Maßnahmen der Erziehung und der Körperpflege 
vorausgehen müsse. Die ängstliche Vermeidung des Wortes ‚Rasse‘, „Rassenhygiene‘“ 
(auch der nicht gut gewählte Titel des Buches) hängt wohl mit der falschen Auffassung 
des Verf. zusammen: der alte systematische Rassenbegriff der Anthropologie wird von 
ihm zwar als unbiologisch gekennzeichnet, jedoch fehlt jede Andeutung über den bio- 
logisch zureichenden Rassenbegriff neuerer Forschung. Die als beste gemeinverständ- 
liche Einführung in die Erblichkeitslehre angeführte Arbeit von Poll dürfte ihrer 
schweren Zugänglichkeit (im „Grenzboten‘‘) wegen weniger wirksam empfohlen werden 
können als das bei Lehmann in München erschienene vortreffliche Büchlein von 
H. W. Siemens: „Grundzüge der Rassenhygiene, zugleich Einführung in die Ver- 
erbungslehre‘‘. (2. Auflage.) Walter Scheidt (München). 

Elster, A.: Wie behüten wir die Familie vor dem Einfluß des Alkoholismus? 
Zeitschr. f. Sexualwiss. Bd. 10, H. 1, S. 23—24. 1923. 

Bemerkungen zu einem Aufsatz von Dr. Agnes Blum in der Zeitschrift „Das 
kommende Geschlecht“ (II. Bd., 2. H., 1922). Nach Schilderung der allgemeinen 
Schädigungen des Alkoholmißbrauchs erörtert Blum auf Grund der Untersuchungen 
von Bertholet, Weichselbaum, Kostitsch u. a. vornehmlich die Beeinträchtigung 
des männlichen Samens, der Veränderungen des Samenkerns, des Trägers der Erb- 
anlagen durch den Alkohol; andererseits die Übertragung des im mütterlichen Organis- 
mus kreisenden Alkohols vom Mutterkuchen bzw. Frucht wasser auf die sich entwickelnde 
Frucht. — Wie für die Kindheit soll auch für die Pubertätszeit der Alkoholgenuß ver- 
boten sein, weil die Reizbarkeit in letzterer nicht noch künstlich vermehrt werden darf. 

Flade (Dresden)., 

Kleinsehmidt, H.: Zur Lehre vom Habitus asthenieus im Kindesalter, (Unir.- 
Kinderklin., Hamburg.) Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 25, H. 1/6, 8. 324—337. 1923. 

Vielfach tritt die Neigung zutage, alle möglichen Habitusanomalien und Diathesen 
unter dem Namen ‚‚Asthenie‘ zu vereinen. Demgegenüber hält es der Verf. für dringend 
wünschenswert, zu einer scharfen Differenzierung zu gelangen, und er strebt solche 
hinsichtlich des Stillerschen Habitus asthenicus durch genaue Festlegung der Thorax- 
form an. Maßzahlen für den proportionalen Brustumfang und die proportionale Brust- 


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korblänge sollen diesem Zwecke dienen. Es stellt sich dabei heraus, daß die Flach- 
brüstigen durchaus nicht immer asthenisch sind; auch Engbrüstigkeit findet man 
vielfach nicht mit Asthenie, sondern als vorübergehende Erscheinung mit präcipitiertem 
Längenwachstum (Proteroplasie nach Ref.) verknüpft, das von der Asthenie zu trennen 
ist. Die Stillerschen Bedingungen (enger, langer, seichter, schlechtgewölbter Thorax) 
sind gar nicht so häufig gleichzeitig erfüllt. Aus der Größe des epigastrischen Winkels 
läßt sich ebensowenig wie aus dem Costalstigma auf asthenischen Brustkorb schließen. 
Dieser kann durch Weichteilschwund vorgetäuscht, durch Fülle verdeckt werden, 
sofern man nicht das Röntgenbild zur Entscheidung heranzieht. Engbrüstigkeit und 
Lymphatismus schließen sich in gewissem Grade aus, doch ist dies vorwiegend ein 
Altersausschluß (,Scheindystrophie‘ nach Ref.). Hinsichtlich der Beziehungen zwischen 
. Eng-, Lang-Brüstigkeit und Lungentuberkulose, für die auch Kleinschmidts Ziffern 
sprechen, gelangt dieser ebensowohl zur Ablehnung der Lehre, daß erstere die Folge 
der letzteren sei (Römer-Hayek), wie auch zur Ablehnung der umgekehrten An- 
nahme von Freund-Hart-Bacmeister; vielmehr ist beim Astheniker eine kör- 
perliche Minderwertigkeit anzunehmen, die sich einerseits in allgemeiner Resistenz- 
schwäche gegenüber Tuberkulose, andererseits in dem vermeinten Habitus ausprägt. 
Pjaundler (München). °° 

Pfuhl, Wilhelm: Die Beziehungen zwischen Rassen- und Konstitutionsforsehung. 
(Anat. Inst., Greijswald.) Zeitschr. f. d. ges. Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutions- 
lehre Bd. 9, H. 2, S. 172—196. 1923. 

Pfuhl unterscheidet Idiokonstitution, Parakonstitution und Mixokonstitution; 
die Idiokonstitution wird wieder geteilt in-Rassenkonstitution und Sippenkonstitution. 
Bei der Darlegung der Idiokonstitution der vier Grundrassen zeigt sich (abgesehen 
von manchen aus unzuverlässigen Quellen nachgeschriebenen Irrtümern) deutlich der 
Mangel einer klaren Auffassung des Rassenbegriffes: wenn ‚‚die wichtigsten Rassen- 
merkmale solche konstitutioneller Art sind‘, so ist doch wohl nicht mehr viel Unter- 
schied zwischen Rasse und Idiokonstitution zu sehen, und der Rassenforscher würde 
in der Bat Konstitutionsforschung treiben, wenn nicht — wie auch Pf. anfangs aus- 
drücklich sagt — Konstitution = Rasse + Nebenänderungen wäre. Dieser durch 
die Arbeit durchgehenden Verwirrung wegen kann man sich auch nicht recht etwas 
unter ‚„‚konstitutionellen Rassenverschiedenheiten‘‘ vorstellen, welche ‚alle auf rassen- 
mäßig verschiedene Einstellung des hormonalen Gleichgewichts‘ beruhen sollen usw. — 
Der psychologisch-psychiatrische Abschnitt folgt wesentlich dem Kretsch merschen 
Werk. — Vor dem von Pf. vorgeschlagenen Verfahren, bei jedem Individuum erst 
eine Rassendiagnose zu stellen, möchte Ref. jeden rassenkundlich nicht bewanderten 
Arzt warnen. Scheidt (München). 

Balfour, Andrew: Problems of acelimatisation. (Probleme der Akklimatisation.) 
Lancet Bd. 205, Nr. 5. S. 243—247. 1923. l 

Das tropische Klima beeinflußt die aus kälteren Gegenden einwandernden Weißen 
in starkem Grade. Es kommt zu verfrühter Pubertät, Störungen der Menstruation, 
verminderter Fruchtbarkeit der Frauen, rascher neurasthenischer Erschöpfung nach 
sexuellen Exzessen, beschleunigtem Körperwachstum. Besonders bedeutungsvoll 
und der Kolonisation hinderlich sind die Schädigungen des Nervensystems. Einer 
anfänglichen Erregung folgt meist eine Depression mit Gedächtnisabnahme, Schlaf- 
losigkeit, Steigerung der Sehnenreflexe, Überempfindlichkeit gegen Sinneseindrücke, 
und als Folge des Verlustes der psychischen Hemmungen Ausbruch der Leidenschaften 
nach geringfügigen Ursachen. Die bisherigen experimentellen Untersuchungen haben 
noch nicht sicher klar gestellt, welche Rolle der Stoffwechsel bei der Wärmeregulation 
in den Tropen spielt, ob eine verminderte Wärmeproduktion stattfindet oder ob es zu 
einer vermehrten Wärmeabgabe kommt. Wahrscheinlich wird durch letztere die Körper- 
temperatur reguliert, wobei die Vergrößerung der Körperoberfläche eine Rolle spielt. 
Auch über die Veränderungen des Blutes, der Drüsen mit innerer Sekretion und der 


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Hautfunktionen unter dem Einflusse der tropischen Wärme und der Lichtwirkung 
ist nichts sicheres bekannt. Bekannt ist die Häufigkeit von Haut- und Schleimhaut- 
erkrankungen (Xeroderma, Erythemen, Conjunctivitis). Die Blutuntersuchungen 
bei Tierexperimenten ergaben eine die Eindickung des Blutes begleitende Vermehrung 
der roten Blutkörperchen und eine Verminderung der weißen Zellen. Bei Neueinge- 
wanderten ist oft Nierenreizung und Harnverhaltung zu beobachten. Die Anpassung 
an das Klima verlangt eine genaue Regelung der gesamten Lebensverhältnisse durch eine 
richtige Wohnungs-, Nahrungs-, geistige und körperliche Hygiene und können durch 
eine solche auch die Eingewanderten eine große Widerstandsfähigkeit gegen die Ein- 
flüsse der Hitze erlangen. Zingerle (Graz). 


MeCready, E. Bosworth: Developmental hypoplasia (constitutional inferiority) in 
ehildren with especial reference to endocrine dysfunetion. (Über Entwicklungshypo- 
plasie [konstitutionelle Minderwertigkeit] bei Kindern, mit besonderer Berücksich- 


tigung endokriner Dysfunktion.) Arch. of pediatr. Bd. 40, Nr. 5, S. 287—305. 1923. 
bersichtliche Darstellung der Erscheinungen konstitutioneller Minderwertigkeit auf 
somatischem und psychischem Gebiet, besonders im Kindesalter, mit Berücksichtigung der 
Ergebnisse der Endokrinologie und besonderer Hervorhebung der präventiven und kurativen 
Behandlungsmaßnahmen. R. Thiele (Berlin)., 


Peiper, Albrecht: Über den Turmschädel. (Univ.-Kinderklin., Berlin.) Monatsschr. 
f. Kinderheilk. Bd. 25, H. 1/6, 8. 509—516. 1923. 

In zweifelhaften Fällen ist für die Diagnose Turmschädel das Röntgenbild ent- 
scheidend, der Nachweis ausgeprägter impressiones digitatae ist charakteristisch. Auch 
wenn kein Hirndruck besteht, kann der S&hnerv erkranken; die Opticusaffektion ist 
also ziemlich unabhängig von den erkennbaren Druckverhältnissen. Die prämature 
Verknöcherung verringert das Schädelwachstum, hebt es aber nicht auf. An dem MiB- 
verhältnis zwischen Schädelvolumen und Gehirnvolumen ist vielleicht auch das über- 
mäßig gesteigerte Wachstum des Gehirns schuld. Krampfanfälle in Form der kleinen 
Anfälle hat auch Verf. beobachtet. — Verf. bezweifelt, daß Rachitis in der Ätiologie 
eine Rolle spielt, wie Meltzer und Krauss annehmen. Die Tatsache, daß mit Turm- 
schädel öfters andere Mißbildungen verknüpft sind, und der Nachweis familiären Vor- 
kommens sprechen mehr dafür, daß es sich um ein erbliches Leiden handelt. Während 
Lenz dominanten Erbgang annimmt, kommt Verf. allerdings zur Annahme eines 
recessiven Erbgangs. Für zweifelhaft hält der Verf., ob der Erbgang — wie behauptet — 
geschlechtsgebunden ist. Schob (Dresden). 


Bean, R. Bennett, and Carl Caskey Speidel: A note on the head form of four hundred 
and thirty-five American soldiers, with special reference to flattening in the ocecipital 
region. (Mitteilung über die Kopfform von 435 amerikanischen Soldaten, mit be- 
sonderer Berücksichtigung der Abflachung des Hinterhaupts.) (Dep. of anat., univ. of 


Virginia med. school, Charlottesville.) Anat. record Bd. 25, Nr. 6, S. 301—311. 1923. 
Unter den Gemessenen fanden sich 38 mit abgeflachtem Hinterhaupt, deren Maßzahlen 
eine ähnliche Kopfform ausdrückten, wie man sie (nach Ansicht der Verf.) bei Kindern findet, 
welche in den ersten Lebensjahren eine besondere Lage beim Schlafen einzunehmen pflegten. 
Die Ergebnisse werden dementsprechend gedeutet. Die Frage, ob nicht etwa die Kopfform 
ihrerseits Ursache der angegebenen Liegegewohnheiten ist, wird in der (anthropologisch und 
statistisch sehr anfechtberen) Arbeit nicht aufgeworfen. Walter Scheidt (München). 


Heupel, P.: Syndaktylie. (Univ.- Frauenklin., Gießen.) Monatsschr. f. Geburtsh. 
u. Gynäkol. Bd. 63, H. 2/3, S. 111—118. 1923. 

Verf. schildert einen nachweisbar hereditären Fall von Syndaktylie eines Neugeborenen, 
bei dessen Vorfahren bis in die 4. Generation zurück mehrfach die gleichen teratogenen Stö- 
rungen, hier und da mit noch anderen Mißbildungen kombiniert, gefunden wurden. Die Syn- 
daktylie ist (nach anderen Untersuchungen) vielfach als ein dominantes Merkmal angesprochen 
worden. Auch in diesem Stammbaum findet sich eine direkte Vererbung über 3 Generationen. 
Doch sind die Eltern des Probanden selbst frei von der Anomalie. Erst der Muttersvatervater 
ist mit derselben Mißbildung behaftet; eine Tatsache, die gegen einfache, reine Dominanz 
spricht. H. Hoffmann (Tübingen). 


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Nobel, Edmund: Anthropometrisehe Untersuchungen an Jugendlichen in Wien. 

(Univ.-Kinderklin., Wien.) Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 36, H. 1, S. 13—16. 1923. 

Messungen der Körpergröße und Wägungen an 7200 bzw. 6467 cœ" und 2 Lehrlingen aus 

den Jahren 1920 bzw. 1923. Die Zahlen sollen beweisen, „daß seit dem Jahre 1920 in der körper- 

lichen Entwicklung der Wiener Jugendlichen ein erfreulicher Fortschritt zu verzeichnen ist‘. 
Walter Scheidt (München). 


Caille, Augustus: Left-handedness as an educational problem. (Linkshändigkeit 
als Erziehungsproblem.) Ann. of clin. med. Bd. 1, Nr. 2, S. 111—116. 1922. 

4%, der Bevölkerung sind Linkshänder, von schwachsinnigen Kindern sogar 18%. 
Versuche haben ergeben, daß sich die normale Rechtshändigkeit im Alter von 7—8 Mo- 

naten geltend macht. Als Ursache der Links- und Rechtshändigkeit sind die ver- 
schiedensten Umstände des Körperbaus, der Erblichkeit und der Volkssitten angeführt 
worden, es wird aber keine Theorie als befriedigend angesehen. Sicher beruht die Links- 
händigkeit auf erblicher Anlage. Es werden milde und ausgesprochene Fälle unter- 
schieden, letztere oft mit Spiegelschrift, motorischen Tics, Muskelunruhe und Sprach- 
fehlern verbunden. Diese Nebenerscheinungen, ja sogar Denkstörungen, können die 
Folge eines Zwanges zum Gebrauche der rechten Hand sein. Leichte Grade der Links- 
händigkeit können durch Erziehung unschwer beseitigt werden, bei höheren Graden 
soll man den Gebrauch der rechten Hand fördern, aber ohne Zwang und ohne Unter- 
drückung der angeborenen Neigung. Unter Umständen können ärztliche Maßnahmen 
zweckmäßig sein. Müller (Dösen)., 

Dublin, Louis I.: The mortality of early infaney. (Die Mortalität des frühen 
Kindesalters.) Americ. journ. of hyg. Bd. 8, Nr. 3, S. 211—223. 1923. 

In den letzten 20 Jahren sank die Mortalität der Kinder bis zum Alter von 1 Jahr 
von ca. 20 auf 10, selbst 8 und weniger v. H. der lebend Geborenen. Eine Analyse 
ergab einen Rückgang der Sterblichkeit hauptsächlich nach Ernährungsstörungen 
und Atmungsaffektionen, dank der gesteigerten Kinderfürsorge. Unbeeinflußt blieb 
bisher leider die Mortalität infolge Entwicklungsstörungen, die ım 1. Lebensmonat 
den Tod verursachen. In den U. S. A. starben im Jahre von 2620000 Neugeborenen 
7,6% im ersten Jahre (199 200), im ersten Monat 109 000, und zwar an Mißbildungen, 
Frühgeburt, angeborener Lebensschwäche, Syphilis und Geburtstraumen. Hierzu 
kommen aber noch 100.000 Fälle von intrauterinem Absterben und Totgeburten. 
Die Höhe der Totgeburten blieb überall gleich hoch, soweit darüber statistische Zahlen 
vorliegen. Statistisch ergibt sich ein großer Unterschied in der Kindermortalität 
(1. Lebensjahr) der Städte Nordamerikas, geringer sind die Schwankungen der Mor- 
talität des 1. Lebensmonates. In den späteren Monaten können soziale, ökonomische, 
hygienische, Fürsorgefaktoren ihren Einfluß üben. Einen Versuch, Fürsorge auch dem 
ungeborenen Kind, also der schwangeren Mutter, zuteil werden zu lassen, unternahm 
die Maternity Center Association in New York, in der Form von Hausbesuchen, Harn- 
analysen, Vermittlung von Unterkünften vor und während der Entbindung. Der Erfolg 
war ausgezeichnet und drückte sich in einem Sinken der Frühgeburtstodesfälle von 14, 
T auf 4,8%, der Geburtsfälle aus. Auch die angeborenen Mißbildungen sanken an Zahl, 
nicht aber Syphilis, Lebensschwäche, Geburtstraumen; die in ihrer Häuslichkeit be- 
lassenen Mütter, die von Schwestern und Ärzten befürsorgt waren, waren besser daran 

als die in Spitälern und Heimen untergebrachten, wo Infektionen drohten. Neurath. 

Dresel, E. G., und Fr. Fries: Die Gebürtigkeit und Sterblichkeit der Kinder in 
Heidelberg in den verschiedenen sozialen Sehiehten. (Hyg. Inst., Univ. Heidelberg.) 

Öff. Gesundheitspfl. Jg. 7, H. 9, S. 289—300. 1923. 

Bestätigung der schon wiederholt festgestellten Tatsache, daß die Geburtenzahl 
desto größer ist, je schlechter die soziale Lage, daß aber auch die Kindersterblichkeit 
ein gleichsinniges Verhalten aufweist. Richtig heben die Verff. hervor, daß nicht die 
große Geburtenzahl der Proletariats an sich Ursache der großen Kindersterblichkeit 
sei, sondern falsche Ernährung, mangelhafte Pflege, oft infolge außenhäuslicher Er- 
werbsarbeit der Mutter. G. Tugendreich (Berlin). 


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Jacobitz, E.: Die Sterblichkeit in Oberschlesien in den Jahren 1909—1918. (Preuß. 
Hyg. Inst., Beuthen.) Öff. Gesundheitspfl. Jg. 7, H. 9, S. 300—314. 1923. 

Der Geburtenüberschuß in Oberschlesien, der 1909—1913 groß war, verringert 
sich von 1915 ab in zunehmendem Maße. Die Sterblichkeit war schon vor dem Kriege 
sehr hoch, in den 10 Jahren 1909—1918 war sie die höchste im Preußischen Staate. 
Vornehmlich hat das Kleinkindesalter in Oberschlesien hohe Sterbeziffern aufzuweisen. 

= G. Tugendreich (Berlin). 

Mino, P.: Sulle malattie ereditarie e sulla loro etiologia. (Über die erblichen Krank- 
heiten und ihre Ätiologie.) (Istit. di clin. med. gen., univ., Torino.) Arch. di antropol. 


crim. psichiatr. e med. Bd. 42, H. 6, S. 548—565 u. Bd. 43, H. 1, S. 1—37. 1923. 
An der Hand einer reichhaltigen Literatur, unter der die deutsche besonders vertreten 
ist, erörtert Verf. die hereditären Krankheiten. Die Unterscheidung in exogene (aus 
Ursachen, die der Umgebung entstammen — Trauma, Infektion u. a.) und endogene (kon- 
stitutionelle oder hereditäre) Krankheiten ist nur aus praktischen Gründen zulässig; in Wirk- 
lichkeit ist jede vitale Funktion ein Komplex von Reaktionen und existiert ein endogener 
Krankheitsprozeß im strengsten Sinne nicht; trotzdem ist die Abtrennung einer Gruppe von 
Krankheiten, bei denen die Besonderheiten der durch Vererbung einsetzender Konstitution 
das Charakteristicum bilden, ohne daß besondere der Umgebung entstammende Reize erkenn- 
bar sind, üblich und gerechtfertigt. Klinisch als erbliche Krankheiten anzusehende Krank- 
heiten sollen folgende Charakteristica haben: 1. es darf kein ätiologischer Einfluß patho- 
logischer, der Umgebung entstammender Agentien oder besonderer Reize, die verschieden von 
denen sind, die jedes Lebewesen treffen, erkennbar sein; 2. es muß möglich sein, bei strenger 
Methodik die Art der Übertragung zu erkennen, die im Einklang steht mit den Beobachtungen 
über die verschiedenen Arten des Mechanismus der Übertragung erblicher Eigenschaften. 
Dabei ist das Vorkommen ähnlicher Krankheiten in der Familie, die Blutsverwandtschaft der 
Eltern u. a. nur bei positivem Ausfall von Bedeutung. Was die Ätiologie der hereditären 
Krankheiten betrifft, so ist daran festzuhalten, daß erworbene Eigenschaften nicht ver- 
erbt werden, wiewohl dies in Laienkreisen geglaubt wird. Traumen haben gleichfalls keine 
Bedeutung für die Vererbung. Eine besondere Beachtung beanspruchen Alkohol und Lues 
in der Frage der Heredität. Vom Alkohol gilt es als sicher, daß er als Ursache von Modi- 
fikationen (Blastovariation) anzusehen ist. Die übliche Meinung von dem Alkohol als 
Erzeuger der Degeneration der Nachkommenschaft bedarf insofern einer Einschränkung, als 
auch daran zu denken ist, daß die Erzeuger in ihrer Erbmasse latente erbliche Dispositionen 
mit sich trugen, die dann bei der Nachkommenschaft manifest wurden. Für die Lues ist es 
bisher noch nicht erwiesen, so sehr auch das klinische Bild mit anderen hereditären Krankheiten 
vergleichbar ist, daß bei der Nachkommenschaft eine sichere Wirkung ausgeübt wird, die zu 
neuen Krankheiten bei den Deszendenten führt. Für die Tuberkulose und die chronischen 
Vergiftungen fehlt jeder Nachweis, um sie den hereditären Krankheiten zuzurechnen. 
die Wirkung der Röntgen- und Radiumstrahlen auf etwaige Umbildung des Keimplasmas 
fehlt es vorläufig noch an ausreichenden Beobachtungen; theoretisch ist aber daran zu denken. 
Die Blutsverwandtschaft der Eltern ist nicht an sich ein Faktor schädlicher Folgen für 
die Nachkommen; sie kann aber verhängnisvoll werden, wenn die Eltern von den Vorfahren her 
in ihrer Erbmasse besondere Dispositionen mit sich führen. Das Fazit der Untersuchungen 
lautet, daß die Ursache der erblichen Krankheiten ihrem Wesen nach noch unbekannt ist. 
Solbrig (Breslau)., 

Welde: Sehularzt und Vererbungslehre. Münch. med. Wochenschr. Jg. 70, Nr. 27, 
8. 883—885. 1923. 

Zwecks Erstrebung einer weitsichtigen und besseren Kinderfürsorge im Sinne 
rechtzeitiger Vorsorge, hebt Verf. für jeden Schul- und Fürsorgearzt, Berater von 
Eltern, jungen Müttern, Schwangeren, Ehestandsbewerbern, für Berufsberater und 
Erzieher die Notwendigkeit hervor, sich baldmöglichst und eingehend mit der Lehre 
von der Vererbung, der Familienforschung und der Rassenhygiene zu befassen, weil 
durch dieses Studium erst die Unterlage für die ganze Fürsorgetätigkeit gegeben würde. 
Durch Vertiefung seines Wissens auf diesen Gebieten könne man leichter die erforder- 
lichen Begegnungspunkte mit allen Kreisen der Laienwelt finden, indem diese dann 
von vornherein dem beratenden Arzte größeres Verständnis, Interesse und Zutrauen 
entgegenbrächten. Insbesondere jedoch seien für den Schularzt hinreichende Kennt- 
nisse auf dem Gebiet der Vererbungslehre und ihre zweckdienliche Verwertung heute 
eine Tagesforderung. Denn es komme bei der Untersuchung von Schulkindern, bei 


der Beurteilung ihres Gesundheitszustandes, ihrer Konstitution und ihrer Organe 





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nicht nur auf die Feststellung an, was ihnen alles fehle, sondern bei diesen noch in der 
Entwicklung begriffenen, jugendlichen Persönlichkeiten müsse vornehmlich auch 
das Positive an Gesundheit (= Anpassungsfähigkeit), Kraft und Leistungsfähigkeit 
in Betracht gezogen werden, da es eine erwiesene Tatsache sei, daß ein Kind mit Skoliose, 
Herzfehler u. a. oft im ganzen viel leistungsfähiger sei, als ein anderes ohne jeden Organ- 
fehler. Darum sei das zu beurteilende Kind nicht als isoliertes Einzelindividuum 
zu betrachten, sondern ‚‚als Glied einer nach oben (Ahnen) und seitlich (Geschwister) 
verlaufenden Kette von Gliedern“. Um dies zu ermöglichen, schlägt Verf. folgendes 
Verfahren vor, daß er an einer Mädchenschule erprobte: 1. Bei Anwesenheit von An- 
gehörigen während der Untersuchung empfiehlt er diese kurz mitzubetrachten und eine 
Familienvorgeschichte durch Fragen nach der Tüchtigkeit der Eltern (Kinderzahl, 
‚Stillfähigkeit, Berufserfolge u. a.) und Großeltern (Alter) zu erheben. 2. Die Eltern sollen 
das Kind in der Richtung: allgemeiner Körperbau, Kopfform, Gesichtsform, Augen- 
und Haarfarbe oder sonstige Merkmale betrachten. 3. Es ist festzustellen, wem in der 
Familie das Kind körperlich und geistig am meisten ähnelt; bei einer schnellen und be- 
stimmten Antwort auf diese Frage erkundige man sich nach den Leistungen des betref- 
fenden Vorfahrs. Hierbei muß natürlich auf gewisse Merkmalskomplexe geachtet 
werden und nicht auf die Übereinstimmung einzelner Merkmale (z. B. Haarfarbe, 
Augenfarbe, Schädelform, Nasenferm oder dgl.). So dürfte höchstwahrscheinlich ein 
Kind, das mit seinen Ahnen außer vielen Charaktereigenschaften auch dieselbe Form 
und Farbe der Haare und Augen, dieselbe Kopfform, Andeutung desselben Wuchses 
hat, auch sonst in seinen späteren Leistungen diesem Vorfahren nachschlagen. Verf., 
dem es in seinen Darlegungen besonders darauf ankommt, durch die Veröffentlichung 
seiner Auffassung und Idee über die Art und Verwertung der schulärztlichen Unter- 
suchung anregend zu wirken, stellt es den Anthropologen, Vererbungs- und Rasse- 
gelehrten anheim, praktische Gegenvorschläge zu bringen. Erwähnt sei noch, daß 
beim Neudruck der Leipziger Gesundheitsscheine das Schema für Körpermaß und 
Gewicht erweitert wurde um folgende Rubrik: ‚i) Augen- und Haarfarbe bei Kind, 
Vater, Mutter und besondere Erbanlagen in der Familie“. Verf. regt an, heute ebenso, 
wie es 1872 auf Veranlassung der anthropologischen Gesellschaft geschah, an allen 
höheren Unterrichtsanstalten und Volksschulen Deutschlands Erhebungen über die 
Farbe der Haut, der Haare und der Augen der Schulkinder anstellen zu lassen. Wedel 
schließt sich dieser Anregung im Gegensatz zu den verneinenden Urteilen der meisten 
neueren Fachleute an. Die Fehlerquellen seien heute dieselben wie damals, und der 
Einwand wegen Schwierigkeit der Technik sei schon von Virchow entkräftet. Um zu 
erfahren, was an wichtigen Erbanlagen in unserer heutigen Schuljugend stecke, seien 
die mit Stoffwechsel, Konstitution, Anlagen u. a. im innigen Zusammenhang stehenden 
äußeren Merkmale der Augen, Haar- und Hautfarbe keine ganz unwichtigen Faktoren, 
indem doch da wohl weitere Übereinstimmungen wahrscheinlich seien, wo ein deut- 
licher Parallelismus der Beschaffenheit dreier verschiedener Körpergewebe bestehe. 
Die Anregungen des Verf. sind zweifellos geeignet, die Erforschung der kindlichen 
Erbanlagen zu fördern. Es fragt sich nur, ob die gewünschten Erhebungen mit der 
genügenden Zuverlässigkeit praktisch durchführbar sind. Többen (Münster). 

Lange, Johannes: Der Fall Bertha Hempel. Eine klinisch - genealogische Studie. 
(Dtsch. Forschungsanst. f. Psychiatrie, München.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych- 
iatrie Bd. 85, H. 1/3, S. 170—273. 1923. 

Lange beschreibt gründlich und einleuchtend den Fall eines Wahnes, den er selbst 
als eine psychopathische Paranoia auffaßt, ohne doch einen abgelaufenen schizophrenen 
Prozeß ganz ausschließen zu wollen. Er geht dabei sehr fein den einzelnen Symptomen 
nach, die er auf bestimmte Charaktereigentümlichkeiten bezieht. Und er verfolgt 
diese und andere Wesenszüge bei allen Verwandten der Kranken, deren er nur irgendwie 
habhaft werden konnte. Man erhält so einen psychologischen Überblick von großem 
Reiz über eine ganze verzweigte und in mancherlei Hinsicht bedeutende Familie. Dabei 


— m — 


geht L. auch soweit möglich auf den Körperbau ein und setzt sich mit Kretschmer- 
schen und verwandten Theorien klug und besonnen auseinander. Die große und mühe- 
volle Langesche Studie ist ein Musterbeispiel für gute und gründliche Charakter- und 
Familienforschung und wird deshalb auch hier in der Kinderforschung denen empfohlen, 
die nicht gerade pathologische, sondern mehr normalpsychologische Interessen haben. 


Gruhle (Heidelberg). 


Psychologie: 
Allgemeine und spezielle Psychologie. — Methodisches : 

© Stern, Erieh: Jugendpsyehologie. (Jedermanns Bücherei. Natur aller Länder. 
Religion und Kultur aller Völker. Wissen und Technik aller Zeiten. Abt.: Erziehungs- 
wesen. Hrsg. v. August Messer.) Breslau: Ferdinand Hirt 1923. 98 S. G. Z. 2,50. 

Das Buch macht den Versuch, neben die bisherige jugendpsychologische Forschung 
„eine anders geartete Betrachtungsweise zu stellen, welche jene zu ergänzen berufen 
erscheint‘‘, die das Seelenleben nicht in eine Reihe von Elementen auflöst, aus denen 
dann die verwickelteren Erscheinungen desselben zusammengesetzt werden, sondern 
die von den Zusammenhängen ausgeht, von psychischen ‚Gestalten‘‘ oder „Strukturen“, 
um dann aus diesen Ganzen das Einzelne zu verstehen. Das ist der Weg, den Dilthey 
gewiesen hat und den Spranger in seinen „Lebensformen“ einerseits, der Kreis um 
Wertheimer und Köhler andererseits gegangen ist. Sterns Buch ist denn auch 
im wesentlichen mit den Mitteln Sprangers und Koffkas gearbeitet. Der Titel 
„Jugendpsychologie‘‘ ist mißverständlich. Was das Büchlein allein gibt, ist die Ent- 
wicklung der seelischen Struktur in den drei Stufen der frühen Kindheit, der späteren 
Kindheit und des Jugendlichen. Diese drei ‚Lebensformen‘ werden in ihrem rein 
geistigen Zusammenhang beschrieben, wie sie in dem idealen Fall einer behüteten 
Jugend sich entfalten, um dann in diesen Typen die Mittel des Verstehens auch für die 
deformierten Lebensformen zu haben. Zum Schluß untersucht St. den Einfluß der 
allgemeinen Struktur der Zeit und der Struktur der sozialen Umgebung auf die Seelen- 
struktur. Neue Blicke in die Kinderseele darf der Leser nicht eigentlich erwarten. Er 
wird auch für die Entwicklung der Lebensformen der Jugend mit dem hier gegebenen 
Schema kaum auskommen, dazu brauchte es einen realistischeren Blick und eine 
wesentlich tiefer eindringende Untersuchung des Details der typischen Verknüpfungen, 
als eine Psychologie am Schreibtisch zu geben vermag. Nohl (Göttingen). 


Ahlenstiel, Heinz: Über die Stellung der Psychologie im Stammbaum der Wissen- 
schaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Monatsschr, f. Psychiatrie u. Neurol. 
Beih. 23, S. 1—56. 1923. 

Der Autor sucht zu zeigen, „daß die bisher übliche, im Anschluß an die Erkennt- 
nistheorie erfolgte grundlegende Formulierung des Begriffes ‚‚psychisch‘‘ nicht zu halten 
ist, daß sie einen Widerspruch zu der Art und Weise des Begriffsgebrauchs bedeutet, 
durch den die Wissenschaft — nicht nur etwa die Naturwissenschaft allein — groß ge- 
worden ist, daß die tatsächliche Dimension der fraglichen Begriffe außerhalb erkennt- 
nistheoretischer Spekulation betrachtet eine völlig andere und den sonstigen natur- 
wissenschaftlichen Begriffen durchaus vergleichbare ist und daß eine erkenntnistheore- 
tische Grundlegung der Psychologie völlig inhaltlos ist. Die Psychologie wird nach 
dieser Auffassung zur Naturwissenschaft, zu einer Wissenschaft, die sich nicht nur 
einzelner naturwissenschaftlichen Methoden bedient, sondern die in Forschungsziel und 
Methodik ein organisches Glied jenes großen Körpers bildet, dessen Hauptteil die unter 
dem Namen Naturwissenschaft zusammengefaßten Wissenschaften ausmachen.“ Er 
definiert zunächst den Begriff der Wissenschaft überhaupt — vom naturwissenschaft- 
lichen Standpunkte aus gesehen — nach Wilhelm Ostwald als eine Aufgabe mit 
dem Ziele der „Voraussicht künftiger Ereignisse zum Zwecke praktischer Prophe- 
zeihung‘“ und legt der Einteilung der Wissenschaften nach Comte -Ostwald ein 
„Stufenschema“ zugrunde, auf deren unterster Stufe die „Arbeitswissenschaften“ — 


ar. I a 


darunter versteht er alle Wissenschaften des Unbelebten wie Astronomie, Physik, Chemie 
— deren zweiter die biologischen (allgemeine Biologie, Botanik, Zoologie, Physiologie 
usw.), deren letzter die Geisteswissenschaften oder soziologischen Wissenschaften 
stehen sollen (Geschichte, Rechts-, und Staatswissenschaft usw.). Dies Stufenschema 
soll bedeuten, daß die zur nächsthöheren Stufe gehörigen Wissenschaften auf denen der 
tieferen Stufen basieren, während die letzteren von den höheren unabhängig seien. 
Die Psychologie stehe nun auf der Grenze zwischen Stufe 2 und 3 und habe zwei starke 
Wurzeln, die eine in der Physiologie, die andere in der Soziologie. An den psychologischen 
Begriffen: Psyche, Bewußtsein, Empfindung, Ich sucht der Autor zu beweisen, daß die 
entsprechenden Größen soziologische Dimensionen haben und bekämpft aufs ent- 
schiedendste die auf der Erkenntnistheorie beruhende Auffassung, daß die Psychologie 
.die „innere Seite‘‘ dessen sei, was „von außen gesehen“ als Hirngeschehen bezeichnet 
werde. Die prinzipielle Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften sei zu ver- 
werfen, im Gegenteil: man müsse den Anschluß der Geisteswissenschaften, „besser Ge- 
sellschaftswissenschaften‘‘, „an den naturwissenschaftlichen Unterbau, die Lebens- 
wissenschaften‘, verlangen. Für die Beschäftigung mit den ersteren sei Kenntnis der 
letzteren erforderlich. Von der Durchsetzung dieser Forderung seien wir noch weit 
entfernt, wohl seien wir aber auf dem Wege dazu hinsichtlich einer der ‚„Unterstufen 
der Gesellschaftswissenschaften‘‘, der Psychologie. Die Philosophie will der Autor aus 
dem von ihm gezeichneten „Stammbaum der Wissenschaften‘ ausgemerzt wissen, 
ihre einstigen realen Inhalte seien heute längst an die Einzelwissenschaften abgegeben, 
die einzige Aufgabe, die ihr heute vielleicht noch übrig bleibe, sei die untergeordnete 
der enzyklopädischen Zusammenfassung der Inhalte der Einzelwissenschaften, mehr 
nicht. Dem Kampf gegen die philosophische Betrachtungsweise der Psychologie ist 
ein erheblicher Teil der Schrift des Autors gewidmet, und er bezeichnet es selbst als 
ein Ziel seiner Ausführungen, den Respekt vor der Philosophie ein wenig zu erschüttern. 
A. Isserlin (München). 


Calkins, Mary Whiton: MeDougall’s treatment of experienee. (Die Verarbeitung 
der psychischen Erfahrung bei Mc Dougall.) Brit. journ. of psychol. Bd. 13, H. 4, 


8. 337—343. 1923. 

Die Schrift der Verfasserin ist eine produktive Kritik an der Erklärungsweise bestimmter 
psychischer Erscheinungen in den Lehren Mc Dougalls, dessen Hauptwerk „An introduction 
to Social Psychology“ auch in Deutschland bekannt geworden ist. Ein wesentlicher Grund- 
satz Mc Dougalls ist die These, daß jede psychische Erfahrung die Erfahrung eines Ich von 
einem Gegenstande ist. Mo Dougalls stellt sich damit in Gegensatz zu einer landläufigen Vor- 
stellungspsychologie, in der Wahrnehmungen, Vorstellungen uew. behandelt werden wie phyrische 
Dinge ohne Hinblick auf das erlebende Subjekt. Die Verfasserin weist nun nach, daB Mc Dou- 
gall in seinen Schriften diesem Grundsatz nicht immer treu bleibt. So wenn er gewisse psy- 
chische Erfahrungen herausstellt, z. B. die Verachtung als Verbindung von Angst und Wider- 
willen oder die Ehrfurcht als Verbindung von Bewunderung und Furcht (mit negativem Selbst- 
gefühl) darstellt. Diese Auffassungen sind nun nach Ansicht der Verfasserin keineswegs sprach- 
liche Konzessionen an eine traditionelle Ausdrucksweise, sondern Einflußreste einer vor- 
stellungspsychologischen Betrachtungsweise. Dabei ist Mc Dougall ein offenkundiger An- 
hänger einer systematischen, nicht vorstellungsgebundenen Psychologie mit seiner Unter- 
scheidung zwischen ‚persönlichem‘ und „unpersönlichem‘‘ Gegenstand, zwischen ‚‚positivem‘ 
und „‚negativem Selbstgefühl‘, zwischen ‚„‚sympathetischen“ und „nichteympathetischen“ Erfah- 

rungen und zwischen „Selbstaktivität‘‘ und ‚Rezeptivität“. So kommt es nun, daß bei 
Mo Dougall Begriffe zusammengeworfen werden, deren Unterscheidung aus theoretischen 
Gründen dringend zu fordern ist. Er trennt die Erlebnisse des Gefühls und des Willens nicht 
hinreichend, erkennt dem Willen als besonderer Erlebnisklasse überhaupt zu wenig Bedeutung 
zu, ebenso wie er die „egozentrischen“ (ich-gerichteten) und „allozentrischen‘“ (gegenstands- 
gerichteten) Erlebnisse nicht genügend auseinänderhält. Sieht er nun in den Gefühlen spezi- 
Äsche Korrelate bestimmter körperlicher Reaktionen, so ist er geneigt, sozialpsychische Phä- 
nomene mit gemeinsamer körperlicher Äußerung, auch wenn sie heterogene Momente ent- 
halten, in eine Gruppe zusammenzuschließen, beispielsweise das Gefühl des Stolzes (ent- 
sprechend der körperlichen Äußerung der Schaustellung) mit dem Phänomen der Selbstbehaup- 
tung und der Herrschsucht und andererseits das Gefühl der Scham (entsprechend der körper- 
lichen Reaktion des Schleichens) mit den Phänomenen der Unterwerfung und der Willfährig- 
keit, trotzdem die letzteren Phänomene ganz andersartig, nämlich Willenserscheinungen 


= P a 


sind. Selbstbehauptung ist nicht Stolz, Unterwerfung ist nicht Scham, auch wenn sie manch- 
mal verbunden sind und die gleichen körperlichen Äußerungen haben können. Unter einem 
anderen Gesichtspunkte sind Stolz (und ebenso Eitelkeit, Selbstliebe, Selbstbehauptung) und 
Scham (Suggeribilität, Unterwerfung usw.) nicht nur verschiedene Seiten des Verhältnisses 
vom Ich zum anderen, da Stolz nach Ansicht der Verf. eine rein „egozentrische‘“ Erfahrung, 
Scham ein gleichzeitig ‚‚egozentrisches‘‘ und ‚allozentrisches‘‘ Erlebnis ist. In der Schluß- 
anmerkung wird angefügt, daß Mc Dougall in seinen neuen „Outlines of Psychology‘ die 
Inkonsequenzen gegen seine eingangs erwähnten Grundanschauungen fast vollkommen aus- 
gemerzt hat. Die genaue Aufschließung sozialpsychischer Phänomene, an der sich ja auch 
deutsche Autoren mit Erfolg beteiligen (vgl. M. Scheler, K. Schneider, W. Hellpachu.a.), 
ist nicht nur für die Soziologie, sondern auch für die Pädagogik und Psychopathologie von 
großer Bedeutung. Freilich ist auch nach den Erörterungen von Miß Calkins auf diesem 
Gebiete noch sehr viel zu tun. E. Feuchtwanger (München). 


Wagner, Julius: Das Problem der psychischen Strukturen. Zeitschr. f. pädag, 
Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, Nr. 7/8, S. 193—208. 1923. 


In der Psychologie der Gegenwart, insbesondere soweit sie für die Pädagogik 
von Bedeutung ist, stehen sich zwei entgegengesetzte Forschungsrichtungen gegenüber. 
Die ältere Richtung, die das psychische Ganze der Persönlichkeit aus den Elementen 
aufgebaut denkt und die neuere Forschungsart, die auf das seelische Ganze selbst aus- 
geht und dieses im Sinne der Struktur faßt. Die Psychologie der Elemente 
schaut (nach den Ausführungen des Verf., von unten in das Wechselspiel der Funk- 
tionen, sie sieht in dem psychischen Ganzen ein Aggregat von Elementen, sie geht 
additiv vor, atomisiert in ihren Analysen und zerstört so die Ganzheit, neigt dazu, im 
Psychischen einen Mechanismus zu sehen. In ihren Methoden glaubt sie durch Maß 
und Zahl das Seelische quantifizieren und den gefundenen Gesetzen so Sicherheit und 
Gültigkeit geben zu können. Sie faßt das Kollektive nur über den Weg des Einzel- 
individuums, sie ist norm- und wertfrei. — Im Gegensatz dazu erfaßt die Psychologie 
der Strukturen das Problem des Psychischen von oben her, sie geht von der 
Gesamtpersönlichkeit aus, sieht im psychischen Sein und Geschehen das Zusammen- 
gefaßtsein der Konstituenten in der Totalität, betrachtet in der Gegenwart die Ver- 
gangenheit als mitwirkend, findet auch in der kollektiven Gesamtseele eine über- 
individuelle Realität und gewinnt so die Möglichkeit zur Anwendung des Sinn-, Wert- 
und Normbegriffes in der psychologischen Betrachtung. So sind die Elementarpsycho- 
logie alsnaturwissenschaftlich orientierte und die Strukturpsychologie als geistes- 
wissenschaftlich eingestellte Psychologie einander entgegengesetzt. Der Verf. 
bekennt sich in seinen Schriften zur Strukturpsychologie etwa in dem Sinne, wie sie 
in Ed. Sprangers „Lebensformen“ fundiert ist. Auch andere Autoren mit dieser 
Grundtendenz werden angeführt (Kerschensteiner, Grünewald, W. Stern). 
Nach dem dominierenden Merkmal werden „Persönlichkeitstypen‘“, „Wert- 
typen“ usw. aufgestellt. Als das Wesentliche für die Betrachtung der Struktur- 
psychologie siebt W. den Zusammenhang der Funktionen, das Verschränkt- 
sein (Th. Litt) der Leistungsdispositionen. Er unterscheidet Total- oder 
Gesamtstrukturen höherer Ordnung, die das Problem der Persönlichkeit 
umgreifen, Gesamtstrukturen niederer Ordnung, wozu er u.a. die Tempera- 
mente zählt, und Elementarstrukturen, die sich mit den Typenbegriffen der diffe- 
rentiellen Psychologie (Vorstellungs-, Gedächtnis-, Willens-, Anschauungs-, Denktypen) 
decken. Hat somit die naturwissenschaftlich-experimentelle Psychologie ihren Gel- 
tungsbereich im wesentlichen in der Psychophysik und physiologischen Psychologie 
umgrenzt, so wird sich alles psychologische Denken, das die Persönlichkeit und die 
Gesellschaft zum Gegenstand hat, etwa in der Pädagogik, in der Geschichte usw., sich 
an die Strukturpsychologie halten müssen. Den Begriff der „schöpferischen Synthese“ 
der Elemente im Sinne Wundts hält W. in der Strukturpsychologie nicht für an- 
wendbar, weil in der Elementarpsychologie die Analyse generalisieren soll, weil sie 
nach dem ‚Gesetz‘ sucht und den ganzen Gegenstand rational zu erfassen strebt, 
während in der geisteswissenschaftlichen Psychologie einirrationaler Zug zur Charak- 





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terisierung gehört, dem nicht mit gesetzmäßiger Verallgemeinerung, nicht mit Variation 
der Bedingungen, nur mitIntuition nahezukommen ist. — Vom Standpunkte der Heil- 
pädagogik und Psychopathologie, welch letztere in der Gegenwart gewiß nicht nur 
„naturwissenschaftlich‘“ arbeitet, läßt sich zu diesen Ausführungen manches sagen. 
Wo es sich z. B. um Herauslösung von psychischen Defekten und ihre heilpädagogische 
Überwindung handelt, genügt die Aufstellung von „Typen“ in keiner Weise. Aus der 
Struktur muß bis ins Element hinein Analyse gemacht werden, um freilich mit neuem 
Verstande die struktuelle Synthese vollziehen zu können. Muß doch auch der natur- 
wissenschaftlich arbeitende Biolog mit dem ‚‚Irrationalen‘‘ rechnen, treibt doch auch 
der bildende Künstler ‚Anatomie‘. Es gibt nicht viele, es gibt nur eine Psychologie 
(F. Krueger). Aber diese muß eben dann von unten und von oben schauen, muß 
„naturwissenschaftlich“ und „geisteswissenschaftlich‘‘ arbeiten, braucht das Experi- 
ment und die Intuition, muß also die Methoden der Elementar- und Struktur- 
psychologie in sich vereinigen, im Sinne einer genetisch-synthetischen 
Psychologie.) E. Feuchtwanger (München). 

Freiling, H.: Über die räumlichen Wahrnehmungen der Jugendlichen in der eide- 
tischen Entwieklungsphase. 1. Teil. Über den scheinbaren Ort. (Psychol. Inst., Univ. 
Marburg.) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 2. Abt. Zeitschr. f. Sinnes- 
physiol. Bd. 55, H. 1/2, S. 69—85. 1923. 

Freiling, H.: Über die räumliehen Wahrnehmungen der Jugendlichen in der eide- 
tischen Entwicklungsphase. 2. Teil. Über die scheinbare Größe. (Psychol. Inst., 
Unw. Marburg.) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., Abt. II: Zeitschr. f. 
Sinnesphysiol. Bd. 55, H. 1/2, 8. 886—125. 1923. 

Freiling, H.: Über die räumlichen Wahrnehmungen der Jugendlichen in der eide- 
tischen Entwieklungsphase. 3. Teil. Über die scheinbare Gestalt. ( Psychol. Inst., 
Uniw. Marburg.) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., Abt. II: Zeitschr. f. 
Sinnesphysiol. Bd. 55, H. 1/2, S. 126—132. 1923. 

Die Marburger Psychologenschule unter Führung von E. R. Jaensch wendet sich 
in den letzten Jahren fast ausschließlich dem Studium der psychischen Erscheinungswei- 
sen der sog. „Eidetiker‘ zu. Eidetiker sind Individuen meist jugendlichen Alters, die 
die Fähigkeit haben, nach Betrachten einer optischen Vorlage von dieser ein „An- 
schauungsbild‘“ (AB) zu entwerfen, d. h. die Vorlage nach ihrer Wegnahme in allen 
ihren optischen Eigenschaften eine Zeitlang vor sich zu sehen (nicht nur vorzustellen). 
Die A B (wohl identisch oder verwandt mit den ‚„‚Erinnerungsnachbildern“ Fech ners) 
stehen ihrer Gesetzlichkeit nach zwischen den echten Nachbildern und den Vorstellungs- 
bildern in einer Entwicklungsreihe. Die eidetische Eigenschaft (die die Jaenschsche 
Schule in Zusammenhang mit dem Schilddrüsen- und Kalkstoffwechsel bringt) stellt auch 
bei entsprechender Anlage eine Entwicklungsphase dar, die in der Regel im Erwachsenen- 
alter überwunden wird. Während sich frühere Arbeiten der Marburger Schule mit dem 
Studium der Anschauungsbilder als Äußerungen des ‚„Sinnengedächtnisses‘ der 
Jugendlichen beschäftigt haben, macht es sich Fr. zur Aufgabe, die echten Wahr- 
nehmungen der Eidetiker eingehenden Untersuchungen zu unterwerfen. Er findet 
in einer Reihe von Experimenten, daß die realen Sehdinge der Eidetiker, insbesondere 
unter dem Einfluß von Aufmerksamkeitswanderungen charakteristische, vom ‚‚Nor- 
malen‘ abweichende Verhaltungsweisen zeigen können. So können Lokalisations- 
änderungen im Raume rein optisch-eidetisch vorgenommen werden mit vor einem 
Hintergrund befindlichen Objekten (Fäden, Eisenstäben usw.), wenn (ohne Kollektivauf- 
fassung!) der Blick auf eines der Objekte gerichtet wird und dann auf den Hintergrund 
wandert. Dann kann sich das vorher fixierte reale Wahrnehmungsobjekt nach hinten 
verschieben. In gleicher Weise kann bei entsprechender Aufmerksamskeiteinstellung 
des eidetischen Jugendlichen etwa die Farbe eines wahrgenommenen Fadens (z. B. 
Rot) auf einen angenäherten (blauen) Faden in der Wahrnehmung übertragen werden. 
Auch Übertragungen von Zitterbewegung angenährter Objekte auf ruhende, Verlagerung 


=, Ji z 


von Objekten in der gleichen Ebene (vorzeitige Überdeckungen usw.) werden bei eide- 
tischen Jugendlichen gesehen. Der unstarre, plastische Charakter der Sehdinge von 
Eidetischen zeigte sich weiterhin bei Untersuchung der Beeinflussung von Objekt- 
größen durch das Sinnengedächtnis. Bekanntlich vergrößert sich beim „Normalen“‘ 
das auf einen Hintergrund entworfene Nachbild mit der Tiefenentfernung des Hinter- 
grundes, während das projizierte Vorstellungsbild dabei seine Größe behält, das Wahr- 
nehmungsbild sich verkleinert; das Anschauungsbild der Eidetischen vergrößert sich 
mit Tiefenentfernung der Projektionsebene in einem großen Teil der Fälle. Fr. be- 
obachtete nun an eidetischen Individuen, daß auch ein wahrgenommenes Objekt, 
z. B. Farbenquadrat bei Tiefenentfernung des tragenden Schirmes sich vergrößerte, was 
er mit dem Zirkel nachmessen konnte. Vergrößerung und Schrumpfung von Gestaltum- 
fängen wurde auch bei gedrehten und wieder festgehaltenen Spiralscheiben gesehen. 
Die bekannten Hillebrandschen Schienenstrang- und Alleeversuche, bei denen die 
Versuchsperson von einer gewissen Entfernung aus Fäden oder Fadenreihen in Paral- 
lelität zu versetzen hat, fielen bei Eidetikern, wenn sie die Aufmerksamkeit den ent- 
fernten Faden- oder Reihenende zuwandten, so aus, daß in der Wahrnehmung z. B. 
geschweifte oder hyperbelästige Bilder erschienen. — Die Phänomene ließen sich nicht 
nur im Laboratoriumsversuch, sondern auch bei unauffälliger Beobachtung der Kinder 
und Jugendlichen im Alltagsleben nachweisen (z. B. Größerwerden sich entfernender 
Menschen, Gegenstände usw.). — Veränderungen der Gestalt von Wahrnehmungs- 
gegenständen erzielte Fr., wenn er Eidetikern z.B. Quadrate auf nach innen geschweiften 
Schirmen, mit dem Auftrag Schirmrand und Objekt zu beachten, darbot. Das Quadrat 
erhielt dann in vielen Fällen selbst geschweifte Konturen. In gleicher Weise 
wurden Quadrate oder geradlinige Figuren auf runden Schirmen mit abgerundeten Ecken 
gesehen. — Zur Erklärung dieser wichtigen Erscheinungen wird die Ansicht E. R. 
Jaenschs angeführt, daß sich bei der Wahrnehmung des Eidetikers zugleich ein A B 
einstellt, von dem ein „Verschmelzungs‘produkt mit der echten Wahrnehmung den 
Charakter des Sehdings ausmacht. Je nachdem der Eidetiker sich in der Entwicklung 
schon der Phase des Erwachsenen angenähert hat, kommt der beim Erwachsenen 
sich einstellende Einfluß der Vorstellung (Erfahrung) herein. So kann es kommen, 
daß das eidetische Phänomen sich noch im lebensfremden Versuch zeigt, dagegen nicht 
mehr in der Alltagswahrnehmung. E. Feuchtwanger (München). 

Piaget, Jean: La pensée symbolique et la pensée de Penfant. (Das symbolische 
Denken und das Denken des Kindes.) (Inst. J.-J. Rousseau, Genève.) Arch. de 
psychol. Bd. 18, Nr. 72, 8. 273—304. 1923. 

Verf. macht es sich zur Aufgabe, zu untersuchen, ob zwischen dem Denken des 
Kindes und dem symbolischen Denken im Sinne von Freud Analogien vorhanden sind. 
Das symbolische Denken hat drei Merkmale: 1. Fehlen des logischen Zusammenhanges; 
2. Vorherrschen der Vorstellung über den Begriff; 3. Nichtbewußtwerden der Zusammen- 
hänge, durch die die aufeinanderfolgenden Vorstellungen untereinander verbunden 
sind. Das symbolische Denken steht nicht in strengem Gegensatz zum logischen 
Denken, sondern ist nur eine primitivere Form. Das kindliche Denken steht in der Mitte 
zwischen beiden. Die Analogien zum symbolischen Denken erstrecken sich einmal 
auf den Inhalt, so finden sich z. B. im Traum des Erwachsenen und im Denken der 
Kinder dieselben Bilder vom Geburtsvorgang, zum anderen auf die Struktur bzw. den 
funktionellen Ablauf des kindlichen Denkprozesses. Wie beim Erwachsenen im Traum 
bzw. im Wachtraum der Ablauf des Denkens chaotisch, ‚nicht dirigiert‘‘ ist, so auch 
beim Kind. Wie der Träumende sich des Zusammenhanges, der zwischen den aufein- 
anderfolgenden Bildern besteht, nicht bewußt wird, so auch dasKind: bei diesem besteht 
oft eine gewisse Amnesie für seine Denkoperationen; Kinder im Alter bis zu 7—8 Jahren 
können ihren eigenen Denkvorgang nicht introspektiv verfolgen; Kinder sind nicht 
imstande, eine logische Definition zu geben. Das symbolische Denken, namentlich im 
Traum, ist autistisch, ganz individuell, anderen nicht mitteilbar (incommunicable), 


ey. Jo Sr 


ohne Zusammenhang mit dem sozialen Leben; eine Parallele hierzu sieht Verf. in dem 
Egozentrismus der Kinder; ihr ganzes Reden ist gewissermaßen ein egozentrisches 
Fürsichalleinreden. — Wie der Erwachsene im Traum die Grenzen des „Ich“ und 
„Nichtich“ durcheinanderwirft, so auch das Kind, in dessen Denken sich oft auch Er- 
scheinungen von Narcissismus finden. Wie das symbolische Denken, so verläuft auch 
das kindliche Denken vielfach unter Gebrauch von Bildern; auch Erscheinungen von 
„Verdichtung“ und „Verschiebung“ sind beim Kind oft nachweisbar. Wenn man 
fragt, ob das kindliche Denken sich schon in Abstraktion und Generalisation oder nur 
in Verdichtung und Verschiebung bewegt, so sieht man, daß es mitten zwischen beiden 
steht. In engem Zusammenhang mit der Verdichtung und Verschiebung im Traum steht 
die Überdeterminierung und in engem Zusammenhang mit dieser das Hinweggleiten 
über Widersprüche: ähnlich ist das im Denken des Kindes, das sich fortgesetzt in 
Widersprüchen bewegt, ohne im geringsten daran Anstoß zu nehmen. Wie im Traum 
sich Bild einfach an Bild reiht, scheinbar ohne jedweden inneren Zusammenhang, 
so reiht auch das kindliche Denken — wie man das besonders auch an Zeichnungen 
sehen kann — ganz heterogene Dinge ohne inneren Zusammenhang einfach aneinander; 
wie im Traum oft Einzelelemente an Stelle eines Ganzen gesetzt werden, so sieht man 
auch beim Kind vielfach die Unfähigkeit, das Einzelelement vom Ganzen abzutrennen. 
Die Analogien zwischen symbolischem und kindlichem Denken sind im wesentlichen 
durch zwei Faktoren bedingt, durch die in gleicher Weise das symbolische Denken 
wie das Denken des Kindes charakterisiert sind: der eine Faktor ist mehr funktioneller 
Natur, d.i. der, daß beiden Arten des Denkens der Charakter des Spiels innewohnt 
(Befriedigung des Lustprinzips im Gegensatz zur Befriedigung des Realitätsprinzips) ; der 
andere Faktor ist mehr struktureller Natur; d. i., um mit Janet zu reden, die schwache 
Spannung oder die Beschränktheit des Aufmerksamkeitsfeldes, die beiden gemeinsam 
ist. Die ganze Logik des Kindes wird durch Gesetze der Sparsamkeit beherrscht, 
durch die das ganze Denken auf das maximalste vereinfacht wird. Schob (Dresden). 

Spielrein, Sabine: Quelques analogies entre la pensée de l’enfant, eelle de l’apha- 
sique et la pensée subeonseiente. (Über Analogien des kindlichen Denkens mit dem bei 
Sprachstörungen und bei unterbewußten Vorgängen.) Arch. de psychol. Bd. 18, Nr. 72, 
S. 305—322. 1923. 

Verf. hat „Monologe‘‘ eines 2jährigen Kindes wörtlich nachgeschrieben und auch 
über die begleitenden Gesten genaue Aufzeichnungen gemacht. Sie teilt ein instruktives 
Beispiel nebst eingehender Analyse mit. Es zeigte sich auch hier, daß der Denkvorgang 
langsam und ideenarm, daß aber ein assoziativer Zusammenhang leicht nachweisbar 
ist. Neben anderen bekannten Merkmalen der kindlichen Sprechweise dieses Stadiums 
tritt hier das sog. „Haftenbleiben‘ deutlich zutage; einmal Geäußertes wird immer wie- 
der vorgebracht und mit den neu auftretenden Gedanken verknüpft (phénomène du 
croisement‘‘). Die letztere Erscheinung wird in ähnlicher Weise in der Traumpsycho- 
logie und bei aphasischen Störungen beobachtet. Auch bei diesen sind ähnlich wie beim 
Kinde affektive Momente von überragender Bedeutung K. Berliner (Breslau). 


Wheeler, Olive A.: An analysis of literary appreeiation. (Analyse des literarischen 
Wertens.) (Dep. of psychol., univ., Manchester.) Brit. journ. of psychol. Bd. 18, Pt. 3, 


S. 229—242. 1923. 

Folgende Momente sind beteiligt am Aufbau des literarischen Genusses. 1. Das Auf- 
tauchen von Vorstellungsbildern verschiedener Sinnesgebiete. 2. Ihre Kontinuität (la durés 
im Sinne von Bergson). 3. Die Kontinuität der Gedanken und der Stimmung. 4. der Rhyth- 
mus, 5. (beim Anhören) der Klang der Worte und der Stimme des Lesenden und suggestive 
Wirkungen, die der Vorlesende auf die Hörer ausübt. Endlich 6. lebhaft gegenwärtige Er- 
fahrungen, die sich mit dem Inhalt des Gedichtes decken. Diese Sätze ergeben sich nach der 
Behauptung der Verfasserin aus 3 recht dürftigen (Ref.!) Versuchsreihen. Studierende sollten 
in der 1. Versuchsreihe die frei auftauchenden Vorstellungsbilder notieren, in der 2. mit be- 
sonderer Intensität anschauliche Vorstellungen erzeugen. In der 3. Versuchsreihe war die In- 
struktion wie bei 1., nur sollten die Versuchspersonen selbst lesen. Die zahlreichen Fehler- 
quellen und Schwierigkeiten der introspektiven Methode sind in der Versucheanordnung keines- 


— l6 — 


wegs berücksichtigt. Die Ergehnisse sind wohl größtenteils hineininterpretierte Lesefrüchte. 
Für die praktische Anwendung: Berücksichtigung des natürlichen Rhythmus der Aufmerk- 
samkeit bei der Darbietung poetischer Stoffe. Eliasberg (München). 

Fiseher, Aloys: Zur Theorie der emotionalen Bildung — am Beispiel: Diehtung 
in der Sehulerziehung. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, Nr. 7/8, 
S. 219—238. 1923. 

Die intellektuelle Bildung ist durch Jahrhunderte hauptsächliches Ziel 
der Schulen, des Unterrichts und der Unterrichtsmethodik. Reform der Lehrpläne, 
Zusammenhang des Unterrichtsstoffes und der Unterrichtshilfsmittel mit den Fort- 
schritten der Wissenschaft dienen ihr. Intellektuelle Bildungsarbeit ist mit größerer 
Sicherheit in systematischen Grundsätzen festzulegen, ist leichter zu ergänzen und zu 
erneuern. Die emotionale Bild ung hingegen fußt bisher nur auf unsicheren Theorien, 
und nur wenige stehen in vollständiger Geschlossenheit vor uns. Im Vordergrund steht 
auch bei letzteren die äußerliche soziale Eingliederung, während die innere Bildung des 
Gemüts-, Willens- und Wertlebens zurücksteht. Viele erklären, es sei unmöglich emo- 
tionale Bildungsarbeit zu systematisieren und ‚Irrationales‘ zu lehren. Aber Ziel aller 
Bildung ist es, den heranwachsenden Menschen ‚‚leben‘“ zu lehren, und so gehört auch 
die emotionale Bildung zum Zentralpunkt der Erziehungsarbeit. — Die sorgfältig aus- 
gewählte Dichtung ist Hilfsmittel zur Ausbildung der Willens- und Gemütsfaktoren. 
Angebahnt durch den Volksgesang und das Kirchenlied, wird die Dichtung in den 
Auseinandersetzungen des Philantropismus und Neuhumanismus gefördert und be- 
sonderen Zwecken nutzbar gemacht. Die Romantik gibt neue Anregung; Herder 
bleibt nicht ohne Einfluß; Volksmärchen, Volkslieder und vaterländische Lieder 
treten mehr und mehr in den Vordergrund. Die Methodik der Auswahl und die Methode 
der Behandlung des Stoffes macht den gleichen Wandel durch, wie die Anschauungen 
der Zeit. — Jeder Mensch und jedes Lebensalter hat eine ihm eigene Art des Erlebens; 
Hauptziel der emotionalen Bildung ist es, die Vertiefung und Bereicherung der eigenen 
Erlebnisfähigkeit, die Vollendung der Persönlichkeit nach Reichtum, Fülle, Breite 
und Tiefe zu erreichen. Diesen Zielen hat die Auswahl des Stoffes zu dienen; der Stufen- 
gang der jugendlichen Interessen ist zu berücksichtigen; die Methodik der Darbietung 
und Verarbeitung durch geeignete Lehrerpersönlichkeiten ist vor Einseitigkeiten zu 
schützen. — Der Standpunkt des Verf. ist, kurzgefaßt, folgender: Die Einheit der 
Persönlichkeit leite und orientiere die Maßnahmen zur emotionalen Bildung. Auch für 
die Kindheit und Jugend, so zweckmäßig für didaktische Arbeit die Ausarbeitung 
einzelner Kräfte und Lebensgebiete sein möge, gelte es, alle Bildungskräfte der 
Persönlichkeit selbst nach ihren immanenten Gesetzlichkeiten zu fördern. Kunst und 
Dichtung, religiöse, philosophische und künstlerische Bildungsarbeit seien mit der 
intellektuellen und physischen Erziehung in Einklang zu bringen. Höhenziel der emo- 
tionalen Bildung ist der Einheitspunkt der Persönlichkeit. Persönliche Vorbildung 
und Interessenrichtung werden Einfluß auf den Erfolg der emotionalen Bildungsarbeit: 
haben. Eine unvorbereitete erste Darbietung der Dichtung ist, wegen der Mangel- 
haftigkeit erster Apperzeption, stets einseitig und korrekturbedürftig. Zur lebendigen 
Aneignung des Gebotenen und zur Sinnesfassung und Sinnwirkung einer Dichtung 
wird zuerst der lebendige Vortrag des Lehrers, in zweiter Linie erst Zergliederung und 
wiederholtes Lesen erfolgen müssen. Eine allgemeine Schaffung der Erlebnisgrundlagen 
ist für die „Einstimmung“ zu fordern. Versuche an Erwachsenen zeigen wie der Stufen- 
gang des Lesens zu erfolgen hat, um einen Zuwachs an Gefühlswertung, um Erleich- 
terung im Sinnverständnis zu erreichen. — Als Hilfsmittel zur Schulung des kritischen 
Denkens verfolgte die ältere Methodik die Praxis des Vergleichs von Dichtungen nach 
Inhalt, Aufbau und Gedankengang. Aber auch neuere Untersuchungen ergaben als 
wichtiges Ergebnis, daß durch das Verfahren des Vergleichs zweier Dichtungen, ein 
bedeutender Zuwachs an Kraft und Tiefe der Auffassung gewonnen wurde, der durch 
isolierte Lektüre nicht erzielt worden wäre. Der wesentliche Nutzen ist nicht Erfassung 





za J a 


der Einzelheiten, sondern Erfassung der im Gedicht sich äußernden Gesamtheit durch 
Gemütsanregung, Vertiefung und Bereicherung des Fühlens zur Vereinheitlichung der 
werdenden Persönlichkeit. Wörtliche Einprägung, Memorieren sei nicht in die erste 
Linie gestellt, und nur dann ein Hilfsmittel, wenn neue Anregungskräfte daraus ent- 
stehen. Diese Hinweise mögen auch der freien Volksbildungsarbeit, soweit diese auf 
literarische Volkserziehung abzielt, nutzbar gemacht werden. von Kuenburg (München). 

Nony, Camille: The biologieal and soeial signifieanee of the expression of the 
emotions. (Die biologische und soziale Bedeutung der körperlichen Begleiterschei- 
nungen der Gemütsbewegungen.) (Psychol. dep., Sorbonne, Paris.) Brit. journ. of 
psychol., gen. sect. Bd. 13, Pt. 1, 8. 76—91. 1922. 

Die körperlichen Begleiterscheinungen der Gemütsbewegungen sind nach Art und 
Zahl verschieden, entsprechend Art und Intensität der Gemütsbewegung und der 
Individualität des Betroffenen. Es sind entweder Erregungs- oder Lähmungserschei- 
nungen (respiratorische, vasomotorische, sekretorische, motorische). Auch die mimi- 
schen Ausdrucksbewegungen gehören dazu. Eine Reihe von Forschern (Darwin, 
Spencer, Wundt, Mantegazza, Bechterew) sehen in diesen Vorgängen etwas 
Zweckmäßiges. Dumas erklärt sie mechanisch als Reaktionen auf Reize. Diese An- 
sicht teilt der Verf. Die körperlichen Begleiterscheinungen der Affekte sind in der 
Regel nicht zweckmäßig, sondern häufig indifferent, meist aber mehr oder weniger 
schädlich. Nur die mit dem Erhaltungstrieb in Verbindung stehenden Affekte Angst, 
Zorn, Liebe, Hunger führten bis zu einem gewissen Grade zu zweckmäßigen Reaktionen, 
aber nur insoweit es sich um spezifische Reaktionen handelt, z. B. Flucht und defensive 
Haltung bei Angst. Führt aber Angst oder Zorn zu Lähmung, so ist das keine zweck- 
mäßige Reaktion, sondern sogar schädlich. Ebenso zwecklos oder schädlich sind die 
respiratorischen, vasomotorischen, sekretorischen Begleiterscheinungen dieser Affekte. 
Alle diese Reaktionen beruhen auf einer Diffusion der Erregung, sie stören die nütz- 
lichen Reaktionen und bringen die Funktionen des Organismus in Unordnung. Über- 
haupt ist jeder Affekt schon der Ausdruck einer Störung. Ein zweckmäßiges Ver- 
halten ist viel leichter möglich ohne Affekt. Es ist deshalb von vornherein verfehlt 
in den körperlichen Begleiterscheinungen der Affekte etwas Zweckmäßiges zu suchen, 
weil die Gemütsbewegung an sich schon eine Störung ist. In sozialer Hinsicht kommt 
den Affektäußerungen dadurch eine Bedeutung zu, daß man aus ihnen Schlüsse auf 
den zugrunde liegenden Affekt ziehen kann. Sie werden dadurch zu einer für andere 
verständlichen Sprache und geben die Möglichkeit auf andere einzuwirken. Daraus 
entsteht das Streben, diese Art der Sprache auch willkürlich zu beherrschen. Man 
ahmt die Affektäußerungen nach, um den Eindruck zu erwecken, als habe man den 
oder jenen Affekt. Am leichtesten gelingt dies, soweit willkürliche Muskeln dazu nötig 
sind, aber auf dem Umweg über Vorstellungen gelingt es auch solche Veränderungen 
hervorzurufen, die dem Willen nicht direkt gehorchen. Jedes Volk bildet sich auf diese 
Weise seine Gebärdensprache. Der affektive Inhalt geht dabei immer mehr verloren, 
die Äußerungen werden zu Symbolen, die nicht mehr unwillkürlich durch Affekte, 
sondern willkürlich mit einer bestimmten Absicht hervorgerufen werden. 

Campbell (Dresden). 

Stern, Erieh: Allgemeines und Kritisches zur Methode der Intelligenzprüfung. 
Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 12, H. 2, S. 289—297. 1923. 

Verf. will vor unbedachter Verwendung der Binet -Simon Tests warnen. Sie 
entsprechen nicht den in der Definition der Intelligenz von William Stern enthal- 
tenen Kriterien: die Binet-Simon-Prüfung stellt noch zu viel auf Erfahrungswissen 
ab, läßt die Gefühls- und Willensbeschaffenheit unberücksichtigt und sie fördert vor 
allem nur Leistungen zutage, die noch keinen sicheren Schluß auf die Disposition 
erlauben. Geschlechtsunterschiede, Verteilung der Intelligenzen und Abhängigkeit 
von sozialen Faktoren werden ebenfalls im Anschluß an W. Stern kurz besprochen. 

Hahn (Frankfurt a.M.). 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 2 


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Krasnogorsky, N. I.: Du processus de econeentration dans l'écorce des grands 
hémisphères. (Der Prozeß der Konzentration in der Großhirnrinde.) Rev. de méd. 
Jg. 40, Nr. 5, S. 294—310. 1923. 

Die Entwicklung von Bedingungsreflexen bei nach Pawlow operierten Hunden 
macht drei Phasen durch: in der ersten Phase (phase indifférente) verhält sich das Tier 
dem Reiz gegenüber ganz indifferent, in der zweiten (phase pr&reflective ou d’inhibition 
générale) erfolgt eine allgemeine Hemmung; der Hund ist wie erstarrt; die dritte (phase 
reflective) mit Speichelfluß schließt sich unmittelbar an. In der zweiten Phase ist der 
Reiz nicht mehr indifferent; die positive Wirkung besteht darin, daß die Wege für den 
Reflex gebahnt werden. Die gesamte Rindentätigkeit ist in dieser Phase auf den 
Aktionspunkt des neuen Reizes gerichtet, um den sich gewissermaßen ein Konzen- 
trationsfeld bildet. — Beim Studium der Bedingungsreflexe am Kleinkind wird der 
beim Hund verwendete Speichelfluß durch Mundöffnung ersetzt. Zuerst wird bei Ein- 
wirken des Reizes der Mund geöffnet, Zuckerkügelchen werden hinein geschoben; 
nach genügender Wiederholung öffnet das Kind den Mund spontan. — Besonders 
studiert wurde die bedingte Hemmung (inhibition conditionelle), die darin besteht, 
daß ein neu hinzutretender Reiz einen bereits gebildeten Bedingungsreflex zu hemmen 
vermag. Es wurde ein auditiver Bedingungsreflex (Metronom) und eine taktile Hem- 
mung (Hautberührung) formiert. Um die bedingte Hemmung an eine bestimmte 
Körperstelle zu binden (linkes Knie), wurde bei Reizung anderer Hautstellen ebenfalls 
Zuckerküchlein verabreicht; danach vermochte nur noch Reizung des gewählten Punktes 
den Metronomreflex zu hemmen. Wurde nunmehr der Hemmungspunkt längere Zeit 
in verstärktem Maße gereizt, so strahlte die Hemmung auch auf benachbarte Punkte 
aus; d. h. auch Reizung dieser Punkte vermochte jetzt den Bedingungsreflex zu hem- 
men; je weiter der Punkt entfernt war, um so geringer war die Ausstrahlung. Nach 
wochenlanger Versuchswiederholung blieb diese Ausstrahlung aus. — Unter Nach- 
wirkungsreflexen (réflexes tracés) versteht der Verf. Bedingungsreflexe, die nicht in 
unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Reiz, sondern erst einige Zeit 
danach gebildet werden. Die Küchelchen wurden zu diesem Zweck dem Kind nicht 
während des Reizes selbst, sondern erst einige Zeit hintennach gegeben. Der Zeitraum 
zwischen Reiz und Verabreichung der Zuckerküchlein nennt Verf. Nachwirkungs- 
intervall (période tracée, von trace die Spur). Es wurden nun zwei Nachwirkungs- 
reflexe, ein auditiver und ein taktiler, gebildet mit verschieden langem Intervall. Ver- 
suchte man beide Reflexe in einer Sitzung auszulösen, so störte ein Reflex den Ablauf 
des anderen. Bei längerer Fortsetzung der Versuche schwand der störende Einfluß 
wieder; für die Wiederherstellung des normalen Ablaufs ist es also wichtig, daß sich 
die Gehirntätigkeit von neuem auf den Bedingungsreflex konzentriert. Je größer die 
Konzentrationsfähigkeit des Gehirns ist, um so vollkommener ist seine Funktion. 
Bei verschiedenen Krankheiten ist die Konzentrationsfähigkeit stark geschädigt; 
so war bei Paralyse die Bildung von Bedingungsreflexen außerordentlich schwierig; 
bei Myxidiotie die Bildung von Bedingunsreflexen bei direktem Reiz sehr verlangsamt, 
die von Nachwirkungsreflexen überhaupt unmöglich. Schob (Dresden)., 

Jones, Ernest: Einige Probleme des jugendlichen Alters. Imago Bd. 9, H. 2, 
S. 145—168. 1923. 

Nach den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschung ist das Sexualleben des 
Kindes während der ersten 4—5 Lebensjahre in physischer und psychischer Beziehung 
sehr reichhaltig; es durchläuft fünf mehr oder weniger deutlich abtrennbare Phasen: 
die des diffusen Autoerotismus, die der sog. prägenitalen Organisationen (für die die 
Analerotik mit allen ihren Abkömmlingen bezeichnend ist); die dritte Phase ist 
charakterisiert durch die Herstellung der Vorherrschaft der eigentlichen Genitalzone und 
durch die Ausbildung des Narzißmus. Homosexualität stellt die vierte Phase dar, und die 
heterosexuelle Objektwahl beschließt als letzter Abschnitt diese Frühsexualentwicklung. 
von der Verf. — ohne weitere Beweise — annimmt, daß sie fester Besitz der Wissenschaft 


seien. Nach Analogie des biogenetischen Grundgesetzes findet er nun einen genau par- 
allelen Verlauf in der zweiten, endgültigen, Geschlechtsentwicklung der Pubertät. Die 
Pubertät ist nichts anderes als eine Rekapitulation des infantilen Sexualentwicklungs- 
ganges, allerdings unter etwas veränderten Bedingungen. Aber auch hinsichtlich der 
wichtigsten Merkmale des ‚„Erwachsenwerdens“ gleichen sich die erste Kindheitsperiode 
(Alter bis zum 5. Lebensjahr) und die Pubertät. Der Erwerb von Hemmungen, ,d. h. 
die Fähigkeit, ein größeres Maß von psychischer Unlust zu ertragen“, liegt vorwiegend 
in diesen beiden Entwicklungsabschnitten, was mit der großen Intensität des Affektlebens 
in diesen Perioden zusammenhängt. Wahrscheinlich eine Äußerung des Hemmungs- 
vorgangs ist die Verdrängung. Auch sie steht in den bezeichneten beiden Lebenszeiten 
in stärkster Aktivität. Ebenso entwickeln sich die stärkere Betonung der altruistischen 
Regungen und die fortschreitende Ersetzung des Phantasielebens durch Anpassung 
an die Wirklichkeit hier am deutlichsten. Die Erziehung kann die ‚„zielgehemmte 
Libido“ inzestuöser Herkunft (die Liebe zu den Eltern; Ref.) wohl in ihren Dienst stellen, 
nicht aber die auto- und die heteroerotischen Bindungen. Auf den Entwicklungsprozeß 
der Heranwachsenden wirken fördernd die biologisch notwendige Entfaltung der 
Persönlichkeit und der elterliche Ehrgeiz, der auf Identifizierung der Eltern mit dem 
Kind beruht; hemmende Faktoren dagegen sind „Regression“, „Fixierung“ und 
solchen Mechanismen gleichgerichtete Einflüsse von seiten der Eltern, bei denen teils 
Rivalitätsgefühle, teils die Schwierigkeit des Verzichts auf die Lustquelle, die das Kind 
bis dahin bedeutete, der Selbständigwerdung des Kindes entgegenarbeiten. — Ob man 
diese, in manchen Punkten plausibel erscheinende Theorie annimmt oder ablehnt, 
wird von der Grundeinstellung zur Freudschen Lehre überhaupt abhängen. Vellinger. 

Brustmann, Martin: Sexualität und Leibesübungen. Zeitschr. f. Sexualwiss. 
Bd. 10, H. 1, S. 16—20. 1923. 

Bei dem Spiel steht die Befriedigung einer Lustempfindung durch die Betätigung im Vor- 
dergrund, beim Sport liegt der Hauptakzent auf dem Wettkampf. Die Hartnäckigkeit mit der 
hier trotz aller Mühen und Strapazen immer wieder auch in aussichtslosem Kampfe die Kraft- 
probe versucht wird, zeigt die Wirksamkeit heftiger Instinktepannungen und geht auf den 
Begattungstrieb zurück. Die erkämpften Siegerzeichen sind Symbole des eigentlichen Sexual- 
zieles. Die Brunstkämpfe der Tiere können als Vergleichsobjekte dienen. Eingehendes Beweis- 
material für seine Anschauungen bringt Verf. nicht. Reiss (Tübingen). 


Angewandte Psychologie: 


© Fröbes, Joseph: Lehrbueh der experimentellen Psychologie. Bd. 1. 2. u. 8. 
umgearb. Aufl. Freiburg i. Br.: Herder & Co. 1923. XXVIII, 6308. u. 1 Tf. G.Z. 31,60. 

Die zunehmende Bedeutung, welche die moderne Psychologie für den Pädagogen ` 
gewinnt, macht gerade an dieser Stelle einen Hinweis auf das vorliegende Werk not- 
wendig. Mehr noch als für den Pädagogen, der es mit normalen Kindern zu tun hat, 
ist für den Heilpädagogen eine eingehende Kenntnis der Tatsachen der empirischen 
Psychologie erforderlich, weil er allein von hier aus das Pathologische richtig verstehen 
— und dementsprechend eingreifen — kann. Zu den bisher vorhandenen Lehrbüchern 
der Psychologie tritt das von Froebes, das nunmehr in zweiter, völlig umgearbeiteter 
Auflage vorliegt, als eine wesentliche Bereicherung hinzu; es gibt wohl zur Zeit die 
vollkommenste Darstellung der experimentell-psychologischen Forschung, ihrer 
Methoden und ihrer Ergebnisse. Als Lehr- und Handbuch, als Nachschlagewerk steht 
es zur Zeit unzweifelhaft an erster Stelle. Es muß hervorgehoben werden,” daß das 
Werk durchaus die neuesten, auch von einem ganz anderen Standpunkt als dem des 
Verf. aus gesehenen Probleme der Psychologie berücksichtigt. Erich Stern. 

Zawjalolf, E. N.: Zur Frage über experimentell-psyehologische Untersuehungen 
defekter Kinder. (Psychoneurol. Staatsinst., Moskau.) Zeitschr. f. Psychol., Neurol. 
u. Psychiatrie Bd. 2, S. 17—23. 1923. (Russisch.) 

Verf. untersuchte 80 jugendliche Debile im Alter von 9—14 Jahren nach der 
Methode des einheitlichen Prozesses von Netschajeff und der Profilmethode von 


2# 


= D — 


Rossolimo. Zwischen den Gesamtresultaten der Untersuchungen nach den beiden 
Methoden ergab sich eine unbedeutende positive Korrelation (0,25). Die Gruppe der 
Debilen zeigte nach der Methode von Rossolimo eine besondere Aufmerksamkeits- 
schwäche, und nach der Methode von Netschajeff eine geringe Objektivität der 
Wahrnehmungen, sowie auch eine geringe Exaktheit im Wiederholen zusammenge- 
setzter Sätze. Debile, die nach Rossolimo ein herabgesetztes Gedächtnis aufwiesen, 
gaben nach Netschajeffs Methode auch höchst schwache Leistungen im Beschreiben 
eben wahrgenommener Objekte. Debile, die nach Rossolimo besonders herabgesetzte 
Entwicklung höherer psychischer Prozesse zeigten, trugen nach Netschajeffs Methode 
einen durchaus niedrigen Entwicklungsgrad aller mit dem Alter in positiver Korrelation 
stehender Prozesse. Eine Ausnahme bildete die Beschreibung nach dem Gedächtnis 
eben wahrgenommener Objekte. M. Kroll (Moskau)., 

Franken, August: Psychologisehe Nebenergebnisse einer taechistoskopisehen Unter- 
suehung von Zahlbildern. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, Nr. 7/8, 
8. 209—214. 1923. 

In vorliegender Arbeit werden Nebenprodukte einer psychologischen Unter- 
suchung unter besonderen Gesichtspunkten verwertet. Der Hauptuntersuchung 
standen unterrichtsmethodische Fragen zugrunde. Hier werden Probleme der allge- 
meinen und differentiellen Psychologie berührt. Es handelt sich um tachistoskopische 
Zahlbildversuche: Additionsaufgaben im Zahlenkreis des ersten Zehners an einem 
Zahlkörperapparat. In 6 Tabellen werden die Ergebnisse niedergelegt und zwar: die 
hemmenden und fördernden Momente in der Auffassung durch Fehlerprozente ge- 
kennzeichnet, die Hemmungserscheinungen an den Summanden, die Übungskurven 
und endlich die Korrelationen innerhalb der Einzelleistungen einer Versuchsperson, 
der Versuchspersonen untereinander und der Geschlechter. Zum Schluß stellt sich 
Verf. die Frage nach der mathematischen Errechenbarkeit bestimmter Reaktions- 
möglichkeiten und findet die Parallelität zwischen Inter- und Intravariation als eine 
mathematische Notwendigkeit auch für die Beziehungen und für die Tatsachen des 
Bewußtseins. v. Kuenburg (München). 

Moede, W.: Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psyehologie. (I. Tag. 
f. angew. Psychol., Ges. f. exp. Psychol., Berlin, Sitzg. Oktober 1922.) Prakt. Psychol. 
Jg. 4, H. 5, S. 129—164. 1923. 

Verf. erörtert auf Grund umfassender Erfahrung eine Frage, mit der sich die 
pädagogische Psychologie zur Zeit viel beschäftigt: die Frage nach der Verwendbar- 
keit psychologischer Beobachtungsbogen im Dienste der Schülerauslese und Berufs- 
‘beratung. Die Betrachtung der Fehlerquellen des Fragebogenverfahrens und der Ver- 
gleich seiner Ergebnisse mit denjenigen des experimentellen Verfahrens der Feststel- 
lung schul- und berufswichtiger Eigenschaften führen Verf. dazu, dem erstgenannten 
Verfahren den ihm von vielen zuerkannten wissenschaftlichen Wert zu bestreiten. 
Der Artikel bringt mancherlei Neues. Den Pädagogen werden besonders die „Erfah- 
rungen mit dem Beobachtungsbogen bei der Begabtenauslese Groß-Berlin“ interessieren. 
Zum Schluß stellt Verf. Forderungen auf „zur Begründung einer wissenschaftlichen 
MethodederEigenschaftsfeststellungdurch Beobachtung von Schul- und Berufsleistungen 
und Befragung Berufstätiger“‘. Er empfiehlt die Ausarbeitung und Verwendung von 
Probearbeiten in der Werkstatt, von Probelektionen in der Schule, die einen Mittelweg 
darstellen, „der auf der Grenze zwischen Beobachtung und Experiment liegt, und gerade 
dieses Grenzgebiet auszubauen, dürfte recht fruchtbar sein“. Bobertag (Berlin). 

@ Schulte, Rob. Werner: Die Rolle des Beobachtungsbogens bei der Auslese der Be- 
gabten. (Zur Zusammenarbeit von Psychologie und Schule.) Mit einer Beilage: „Psycho- 
logischer Personalbogen“. (Friedrich Manns pädagog. Magazin. H. 926.) Langensalza: 
Hermann Beyer & Söhne 1923. 23 S. G.Z. 1,50. 

In der vielseitigen Mannschen Sammlung läßt der Verf. ein Heftchen erscheinen, 
in dem er zunächst die Notwendigkeit psychologischer Methoden und insbesondere 


— ?2] — 


systematischen psychologischen Denkens in der Pädagogik darlegt und dem Lehrer 
und Erzieher ein Schema zur Feststellung von möglichst vielen Seiten der Begabung 
von Kindern und Jugendlichen auf intellektuellem, gemütlichem und willentlichem 
Gebiete an die Hand gibt in Form eines psychologischen Personalbogens. Daß die 
Ausfüllung der einzelnen Punkte des Bogens zum großen Teil noch von der subjek- 
tiven Auffassung und dem Einfühlungsvermögen des jeweils Ausfüllenden abhängen 
wird, liegt nicht an der Abfassung des Bogens, sondern an dem heutigen Stande psycho- 
logischer Einsicht überhaupt. Doch ist der Personalbogen sicher ein brauchbares 
Mittel, die einzelnen psychischen Faktoren des Kindes und Jugendlichen an einem be- 
stimmten Zeitpunkt festzulegen, um einen Einblick in die Begabung für Schule und 
Beruf und in die psychische Entwicklung zu geben. E. Feuchtwanger (München). 

© Clemenz, Bruno: Beobachtung und Berüeksiehtigung der Eigenart der Schüler 
(Freie Bahn dem Tüchtigen.) 3. verb. u. erw. Aufl. (Friedrieh Manns pädag. Magazin. 
H. 307.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1923. 52 8. G.Z. 1,70. 

Eine ganz geschickte sehr populäre Zusammenstellung der Ansichten der Pädago- 
gen über das Wesen der Individualität, ihre Beobachtung und ihre Berücksichtigung in 
der Schule. Nohl (Berlin). 

© Pfister, Oskar: Was bietet die Psyehanalyse dem Erzieher! 2. verb. Aufl. 
Leipzig: Julius Klinkhardt 1923. 158 S. G.Z. 3,60. 

1917 war die 1. Auflage erschienen. Der seither stattgefundenen Entwicklung 
der Psychanalyse wird Rechnung getragen. Indes ist Verf. nicht einseitig auf die 
Psychanalyse eingeschworen; insbesondere betont er immer wieder die Notwendigkeit 
der Erfassung des Ganzen der Persönlichkeit, wozu ihm allerdings die analytische 
Methode der geeignetste Weg dünkt. Er weist die Notwendigkeit nach, daß der Er- 
zieher sich mit psychanalytischen Gesichtspunkten und Methoden vertraut mache 
(„Pädanalyse‘‘), daß ohne Analyse die Pädagogik in vielen Fällen versage und wertlos 
sei; zeigt dann in einer klaren und maßvollen Darstellung das Wesen psychanalytischer 
Anschauungen auf und gibt zum Schlusse Anweisungen, wie diese der Erziehung nutzbar 
zu machen seien. Wohltuend wirkt die starke Betonung ethischer Gesichtspunkte. 
Seine Forderung, gar manches „Objekt“ der Erziehung dem psychotherapeutischen 
Verfahren zu unterwerfen, ist sicherlich ebenso berechtigt wie die nach Vertiefung 
psychologischer und charakterologischer Einsicht der Erzieher. Ob man gerade in der 
Psychanalyse, selbst mit den von Verf. selbst gegebenen Beschränkungen, den einzigen 
Weg sehen will, ist Sache wissenschaftlicher Überzeugung. Übrigens versucht Verf. auch 
gegnerischen Meinungen gerecht zu werden, wenn auch seine Widerlegung der Ein- 
wendungen gegen Theorie und Methode recht an der Oberfläche bleibt. Rudolf Allers. 

Bowie, S.: An applieation of ameriean army intelligence tests. (Eine Anwendung 
der amerikanischen Heeresintelligenztests.) Brit. journ. of psychol., Bd. 13, H. 4, 
S. 389—397. 1923. 

Die Untersuchung wurde in Newcastle-on-Tyne an 70 Knaben der Kgl. Mittel- 
schule durchgeführt, um festzustellen, inwieweit die Ergebnisse der Testprüfung mit 
denen der offiziellen Schulprüfungen übereinstimmen. Die Ergebnisse sind in Rücksicht 
auf die beschränkte Untersuchungszahl nur mit Einschränkung verwertbar. Sie haben 
aber gezeigt, daß zwischen beiden Prüfungen Übereinstimmungen bestehen und daß 
die Testuntersuchungen eine nützliche und zum Teile ergänzende Unterstützung der 
Schulprüfungen bilden können. Es ist auch für den Schulunterricht von Bedeutung, 
daß sie einen gewissen Grad von Intelligenz messen lassen. Die Testprüfung gestattet 
besonders die ausgesprochen geistig Begabten von ausgesprochen Unbegabten zu 
unterscheiden, wogegen sie ziemlich bei den Mittelgruppen versagt. Unter den ver- 
wendeten Tests sind die auf Arithmetik und allgemeines Wissen bezüglichen für die 
Schule weniger geeignet als für das Nachschulalter; ebenso ist zuviel Gewicht auf die 
englischen Sprachtests gelegt, wodurch hervorstechende andere Begabungen, z. B. in 
Mathematik ın Gefahr stehen, nicht zur Geltung zu kommen. Zingerle (Graz). 


— 22 — 
Genetische und vergleichende Psychologie : 


© Dannenberg, A.: Das Kind in seinen ersten Lebensjahren. (Lehrmeister-Büeherei. 
Nr. 480.) Leipzig: Hachmeister & Thal 1923. 28 S. G.Z. 0,25. 

Vor dem Büchlein wird eindringlich gewarnt. Verf. gehört zu der verbreiteten Spezies 
von Müttern, die sich — irrtümlich — als Sachverständige für Ernährung, Pflege, Erziehung 
fühlen, wenn sie 2 Kinder großgezogen haben. Zudem wird „zufällig“ eine Pudermarke warm 
empfohlen, deren Hersteller dem Schriftchen eine Reklameanzeige beifügt. G. Tugendreich. 

Skerrett, Helen Squier: The educability of a two-year-old. (Die Erziehbarkeit eines 
Zweijährigen.) Psychol. clin. Bd. 14, Nr. 7, 8. 221—224. 1922. 

Die Verf. bringt einige kleine Beobachtungen über den Umfang der Auffassung und Merk- 
fähigkeit bei einem 2jährigen Knaben und deren Wachstum. Gruhle (Heidelberg). 

Hug- Hellmuth, Hermine: Die Bedeutung der Familie für das Schicksal des Ein- 
zelnen. Zeitschr. f Sexualwiss. Bd. 9, H. 12, S. 321—334. 1923. 

Verf. stellt die große Bedeutung des Familienkreises für die Entwicklung des Kindes 
an einer Fülle von schematischen Beispielen anschaulich dar. Besonders ist in diesem 
Aufsatz die libidinöse Entwicklung derjenigen Kinder berücksichtigt, die in früher 
Jugend Mangel an Liebe erfuhren, und auf die soziale und sexuelle Einstellung von 
unerwünschten Spätlingen, Stiefkindern, Waisen, Findlingen, Kindern aus disharmoni- 
schen Ehen usw. hingewiesen. Es wird nachdrücklich betont, daß das Erleben in frühen 
Kinderjahren Charakter und Schicksal des Einzelnen entscheidend und dauernd 
beeinflußt. Maz Grünthal (Charlottenburg)., 

Stern, Erieh: Das Verhalten des Kindes in der Gruppe. Beobachtungen im Kinder- 
garten. Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 22, H. 3/4, S. 271—286. 1923. 

Verf. teilt seine Beobachtungen über das soziale Verhalten des Kindes auf Grund 
eigener Beobachtungen in einem Kindergarten mit. Auf der niedersten Stufe besteht 
nur ein Gesellungstrieb, das planlose Sich-Gesellen zu anderen. Auf keinen Fall besteht 
hier das Bewußtsein der Abgeschlossenheit einer Gruppe. Die Gruppe verändert sich 
dauernd. Später wird der Anschluß gesucht, um mitzuspielen, um dabei zu sein. Aus- 
schluß aus der Gruppe aus irgendwelchen Gründen — meist zur Strafe — wird sehr 
unangenehm empfunden, das Kind sucht den Zusammenhang mit der Gruppe wieder 
herzustellen. Bei größeren Kindern ist ausgesprochenes Zusammengehörigkeitsgefühl 
vorhanden, so daß es schwer ist, neu in die Gruppe einzutreten. Das Dazwischentreten 
Erwachsener bedeutet eine Veränderung des Gruppenerlebnisses. Dem Erwachsenen 
gegenüber ist das Kind im Anfang meist zugänglich; dann übt es eine grundlose Zurück- 
Antang, die dann endlich wieder einer mehr auswählenden Zugänglichkeit weicht. 

Erich Stern (Gießen). 

Leaming, Rebecea E.: A study of a small group of Irish- American children. (Unter- 
suchungen an einer kleinen Gruppe irisch-amerikanischer Kinder.) Psychol. clin. 
Bd. 15, Nr. 1/2, S. 18—40. 1923. 

In der Nähe einer der großen amerikanischen Städte lebt eine von ihrer Umgebung 
vollständig abgeschlossene irisch-amerikanische Bevölkerung. Diese steht auf einem 
sehr niedrigen intellektuellen und kulturellen Niveau, ist überaus streitsüchtig, schmutzig 
verwahrlost, besonders die Frauen, die zur Arbeit überhaupt kaum zu bringen sind. 
Irgendwelche höheren Interessen, irgendwelches Höherstreben ist kaum vorhanden. 
Verf. untersucht nun 110 beliebig herausgegriffene Kinder dieser Gruppe psychologisch 
eingehender und kommt dabei zu höchst interessanten Ergebnissen. Das irisch-ameri- 
kanische Kind erweist sich als gut orientiert in sozialer Hinsicht; es steht auf der Stufe 
seiner sozialen Umgebung, hat keinerlei Minderwertigkeitsvorstellungen. Das Kind 
weiß, wasin seiner Gruppe vorgeht und fühlt sich als notwendigen Bestandteil derselben. 
Freundschaft und Feindschaft kommen leicht in ihm auf. Es weiß sich gut zu unter- 
halten, ist vor allem überaus schlagfertig und erscheint als aufgeweckt und lebendig. 
Dem liegen aber kaum psychische Momente zugrunde, vielmehr erscheint diese Leb- 
haftigkeit durch die gesteigerte Motorik vorgetäuscht. Auffallend ist die Schlagfertig- 
keit des Kindes, die mit dem Entwicklungsgrad seiner Intelligenz in keinerlei Zusammen- 


ir D 


hang steht. Verf. fragt sich, ob es sich hier nicht um den Gebrauch angelernter Phrasen 
handelt. Auf psychologische Tests reagiert das Kind ungemein schlecht — besonders 
auf Aufgaben, die an das abstrakte Denkvermögen irgendwelche Ansprüche stellen. 
Das soziale Verhalten des Kindes ist ungenügend; es zeigt einen Trieb, alles Verbotene 
zu tun, kümmert sich weder um Gesetz oder Ordnung, noch um irgendwelche Autorität. 
Soziale Gefühle, Dankbarkeit kennt es nicht. Hingegen halten die Kinder der Gruppe 
untereinander sehr zusammen. Der Gesundheitszustand ist kein sehr guter. Verf. 
meint, daß die Feindschaft, welche diese Gruppe gegen alles Fremde zeigt, der Grund 
dafür sei, daß sie sich so lange erhalten habe. Erich Stern (Gießen). 

© Leemann, Lydia: Die sittliehe Entwicklung des Sehulkindes. Eine psyehologiseh- 
pädagogische Untersuchung an Hand von Schülerarbeiten. (Friedrich Manns pädag. 
Magazin. H. 937. Beitr. z. Pädag. u. Psychol. Hrsg. v. G. F. Lipps. H.6.) Langensalza: 
Hermann Beyer & Söhne 1923. 124 S. G.Z. 4. 

Die experimentell-psychologische Untersuchung von L. Leemann über die sitt- 
liche Entwicklung des Schulkindes erscheint uns vor allem ihrem Verfahren nach 
prinzipiell vorbildlich und begrüßenswert. Experimentelle Untersuchungen oder Er- 
hebungen über Ideale der Kinder, Beliebtheit von Unterrichtsfächern u. dgl. m. wurden 
anfangs und leider auch noch heute häufig in rein statistischer Weise gehandhabt. 
Zahl und Art der Angaben wurden zusammengestellt, das war das Ergebnis, das diese 
Arbeiten psychologisch und pädagogisch gleich unergiebig ließ und vielfach zu Zweifeln 
am Wert solcher Erhebungen Anlaß gab. In der Arbeit von L. L. dagegen wird der 
Versuch gemacht, die zahlenmäßigen Ergebnisse zu dem gesamten Entwicklungsstand 
des jeweiligen Alters in Beziehung zu setzen und Art und Zahl der Angaben im Zu- 
sammenhang der Gesamtentwicklung zu besprechen. Aufgabestellung und Unter- 
suchung sind folgende: Ein sehr kindgemäßes Bild, Skizze von A. Hendschel (ein 
lockerer Bub wirft Schneeballen auf einen Konditorjungen, der einen kunstvollen 
Tortenbau trägt), wird in vergrößerter Nachzeichnung 705 Schülern und Schülerinnen 
der 1. bis 9. Volksschulklasse von einer Stadt- und zwei Landschulen vorgelegt mit 8 gut 
gewählten, schriftlich zu beantwortenden Fragen. Eine Anzahl wichtiger Ergebnisse 
zur Beurteilung der sittlichen Entwicklung des Kindes kann man teils direkt, teils 
indirekt der ausführlichen Mitteilung und Besprechung der Antworten entnehmen. 
Ich greife die wichtigsten heraus: Bezeichnend ist zunächst, daß das Kind dem Zwang 
der dargestellten äußeren Situation erliegt. „Das bloße Vorhandensein von Schnee- 
bällen genügt also den kleinen Schülern nicht nur als Begründung für die Ausführung 
des Wurfes, sondern auch dafür, daß der Wurf erlaubt ist‘“ (58). Dieses Ergebnis 
ist von weittragender Bedeutung, ich kann es aus anderen Versuchen durchaus be- 
stätigen. Wir legten einigen Klassen von Wiener Kindern die Frage vor: „Gibt es 
Fälle, in denen man lügen darf?“ Die größere Anzahl der jüngeren Kinder beschrieben 
eine Situation, in der sie sich irgendwie strafbar machten und folgerte dann unbedenk- 
lich: „Da mußte ich dann lügen.“ Die größeren Kinder sehen den einzelnen Fall all- 
gemeiner und in weiterem Zusammenhang mit seinen Folgen. Selten noch wird der 
scheinbare Zwang des Augenblicks zur Suggestion, vielmehr ergeben sich Hemmungen 
aus dazwischentretenden Überlegungen. Gerechtigkeitsgefühl im 11. und 12., Verant- 
wortlichkeitsgefühl im 13. und 14. Lebensjahr zeigen sich maßgebend. Interessant 
und näherer Analyse wert ist die Art der Einfühlung der Kinder in das Bild. Ihrem 
Grad und Charakter nach ist sie so rege und echt, als werde dem Kind das Bild alsbald 
zur Wirklichkeit (ein Beleg für die gute Wahl des Bildes, das rein theoretische Ant- 
worten nahezu ausschloß). Bei den kleinen Kindern nun erstreckt sich die Einfühlung 
lediglich auf eine Person, für oder gegen die Partei ergriffen wird. Die Älteren sind 
imstande, sich in beide Personen zu versetzen und einerseits das Lustige, andererseits 
das Traurige der Situation zu erfassen. Auch dies Ergebnis wird eine unserer Wiener 
Arbeiten in anderem Zusammenhang bestätigen. Gemeinsame Ergebnisse solcher Art 
werden uns helfen, die noch ziemlich unklaren Entwicklungsperioden und -abschnitte 


— 24 — 


im Leben des Schulkindes bald deutlicher zu sehen. Einige Mängel der L.schen Arbeit 
müssen noch kurz berührt werden. Sie betreffen vor allem die zahlenmäßige Ver- 
arbeitung, deren Zustandekommen dem Leser undurchsichtig ist. An manchen Stellen 
vermißt man sie ganz, z. B. bei der wichtigen Rubrik ‚„unsittliche Äußerungen‘, 
Schadenfreude, Herzlosigkeit, Leichtsinn usw. Sehr wünschenswert wären auch Alters- 
angaben bei den einzelnen Äußerungen gewesen, ferner einige Bemerkungen über das 
soziale Milieu der Stadtkinder (Beruf des Vaters); sodann wäre mir zweckmäßiger 
erschienen, daß die Verf. die Aufgaben in den entsprechenden Klassen selbst gestellt 
und das Inhaltliche des Bildes kurz besprochen hätte, da bei dem ohnehin kleinen 
Material die Fehlerquellen, die sich aus beiden Punkten ergaben, doch immerhin ins 
Gewicht fallen (vgl. S.12 und 14). Bedauerlich ist ferner, daß infolge des kleinen 
Materials die Entwicklung der Knaben und Mädchen nicht geschieden werden konnte, 
obwohl sie zweifellos viele Verschiedenheiten aufweist. Aber diese Mängel sind sekundär 
gegenüber den Vorzügen der Methode und der Durchführung der Arbeit, die sie zu 
einer wertvollen Gabe auf einem noch wenig beackerten Gebiet machen. 
Charlotte Bühler (Wien). 

© Klatt, Fritz: Die schöpferische Pause. (Zeitwende. Schriften zum Aufbau neuer 
Erziehung.) Jena: Eugen Diederichs 1923. 107 S. G.Z. 3.—. 

- Die Gesamtentwicklung des Kindes vollzieht sich nicht in einer gleichmäßig 
und stetig ansteigenden Linie. Wie es im natürlichen Tagesablauf einen Anstieg, einen 
Höhepunkt, Stunden der Stille, Erholung und Sammlung gibt, so ist auch beim Er- 
ziehen und Bilden zu berücksichtigen, daß es Zeitabschnitte gibt, in denen scheinbar 
bei äußerlicher Betrachtung ein Stillstand vorliegt. Diese Pausen des Stillstandes sind 
aber oft der Ausgang für überraschende weitere Fortschritte. Der Erzieher hat diese 
Pausen zu berücksichtigen und zu hüten, wenn er nicht dem Zögling schädliche Ge- 
walt antun’ will. Diese bedeutsame und bekannte Beobachtung, die auch im vegeta- 
tiven Leben ihre Parallelen hat, bildet einen für unsere Zeitschrift wichtigen Kern 
der Arbeit Klatts. Einer wissenschaftlichen Kritik halten jedoch weder seine Aus- 
gangspunkte noch seine Ausführungen stand. Das Buch läßt in dem Verfasser eine 
starke und selbständige Persönlichkeit erkennen, welche weniger auf nüchterne und 
sachliche Abwertung seiner Beobachtungen als vielmehr auf ihre dichterische, ich 
möchte sagen mythologische Ausspinnung eingestellt ist.  Redepenning (Göttingen). 

Bernfeld, Siegfried: Über eine typische Form der männlichen Pubertät. Imago 
Bd. 9, H. 2, 8. 168—188. 1923. 

Die Pubertät ist eine spezifisch - menschliche Erscheinung, die in kausalen Be- 
ziehungen zu den kulturellen und sozialen Verhältnissen steht. Ihre Vielgestaltigkeit 
in materialer und formaler Hinsicht hat ihre Bearbeitung bisher immer erschwert und 
hintangehalten. Erst durgh die Freudsche Auffassung der Pubertät als der Zeit der 
„Unterordnung aller sonstigen Ursprünge der Sexualerregung unter das Primat der 
Genitalzonen‘‘ und des „Prozesses der Objektfindung“ wird das Problem psychologisch 

erfaßt und der Erforschung zugänglicher. Die Dauer der Pubertät ist nach unten hin 
ziemlich scharf begrenzt, nach oben aber bleibt sie theoretisch unbegrenzt. Denn 
manche Menschen erreichen das Ziel der Objektfindung in ihrem ganzen Leben nicht. 
Zerlegt man die Pubertätsvorgänge in physiologische und psychologische, so sind die 
physiologischen hinsichtlich ihres Einsetzens relativ konstant. Dagegen ist der psycho- 
logische Teil, die Anpassung des Sexualbedürfnisses an die neue Situation, recht variabel; 
seine zeitliche Schwankungsbreite ist größer als sie sonst bei regelmäßig verlaufenden 
Entwicklungsvorgängen zu sein pflegt. Somit ist die unregelmäßige Dauer und die 
gelegentliche außerordentliche Dauer der Pubertät psychisch bedingt. Die verlängerten 
Pubertätsformen sind nun keineswegs gleich, sie umschließen einen großen Reichtum 
gesondert zu beschreibender Typen. Die Jugend im kulturellen Sinn, also etwa die Jugend 
einer Kunstbewegung oder die Jugend, die sich in den verschiedenen Jugendbünden der 
letzten Jahrzehnte lärmenden Ausdruck geschaffen hat, und ähnliche Erscheinungen 


— 25 — 


gehören hierher. Diese Jugend ist von direkter aktiver kultureller, bald fördernder, 
bald schädlicher Wirkung, meist in revolutionärem Sinne. Das Alter der verlängerten 
Pubertät schafft die Hinwendung zu bestimmten Inhalten und Formen des Kultur- 
lebens. Der Typus, dessen Pubertät sich sozial in dieser Weise äußert, zeigt bestimmte 
Merkmale: idealistisches Interesse für die ‚geistigen Werte“, während die beiden 
Grundtendenzen, Erwerb und Weib, zurücktreten. Ferner ist das Verhältnis zu jenen 
Interessensphären ein produktives: der Mensch in der verlängerten Pubertät will selbst 
schöpferisch sich auf den Gebieten betätigen, auf denen seine Pubertätsinteressen liegen. 
Charakteristisch ist auch die Selbstüberschätzung oder doch die Herabsetzung der 
anderen, meist der älteren Generation, vielfach aber auch der gleichaltrigen, zugunsten 
eines besonderen Verehrungsobjekts. Dazu kommt noch das Bestreben, die Freundes- 
liebe ideologisch zu fundieren und auf einen ganzen Kreis gleichgerichteter Freunde 
auszudehnen. Diese Form der verlängerten (,gestreckten“) Pubertät nennt Verf. die 
genialische. Die gemeinsame Basis ihrer Merkmale ist zu suchen in der Rückverwand- 
lung von erheblichen Mengen der Objektlibido in Ichlibido, in dem Vorhandensein 
-° eines vom Real-Ich scharf getrennten, es streng beurteilenden Ideal-Ichs und in dem 
vom Ideal-Ich ausgehenden Zwang zu Idealbildungen, dem die introvertierte Libido 
weitgehend nachgibt. Sie tritt ein unter folgenden Bedingungen: wenn das Ende der 
frühinfantilen Sexualität eine dauernde narzißtische Wunde hinterläßt, wenn während 
der Latenzperiode die inzestuöse Fixierung andauert, und wenn in dieser Latenzperiode 
die Ideal-Ichbildung schon beginnt bzw. schon erhebliche Grade erreicht. Villinger. 


Psychopathologie und Psychiatrie : 
Allgemeines: 

@ Strohmayer, Wilhelm: Die Psyehopathologie des Kindesalters. Vorlesungen für 
Mediziner und Pädagogen. 2. neubearb. Aufl. München: J. F. Bergmann 1923. 359 S. 
G.-M. 6,50. | 

Die 2. Auflage dieses ausgezeichneten Buches beweist, daß das Interesse und das 
Verständnis für die Psychopathologie des Kindesalters in erfreulichem Wachsen be- 
griffen ist. Das Buch ist in Vorlesungsform gehalten und gibt in gedrängter Fülle 
alles Wesentliche über dieses immer wichtiger werdende Gebiet der praktischen und 
sozialen Psychiatrie. Auf den Grundanschauungen Ziehens aufbauend hat Verf. 
sich den neueren Strömungen in der Psychiatrie keineswegs verschlossen und mit 
bewundernswertem Fleiß eine umfassende Darstellung des Stoffes gegeben, die selbst 
dem Fachmann mannigfache Anregungen bietet. Sehr zu begrüßen ist das ausge- 
dehnte Literaturverzeichnis, das zu selbständigem Weiterforschen Gelegenheit gibt. 
Die große Schwierigkeit, die darin liegt, für zwei verschiedene Berufsstände, noch dazu 
mit unähnlicher Vorbildung, befriedigend zu schreiben und den beiderseitigen Inter- 
essen gerecht zu werden, hat Verf. im allgemeinen gut überwunden, wenn man auch 
annehmen muß, daß der Mediziner alles in allem mehr auf seine Rechnung kommt 
als der Pädagoge, schon um der zahlreichen Fachausdrücke willen, die für den Päd- 
agogen Hindernisse bilden können. Das Buch ist jedenfalls in hervorragender Weise 
geeignet, die vielfach noch sehr im Argen liegende Ausbildung der Mediziner, Päd- 
agogen und aller Gebildeten, die in der Jugendfürsorge mitarbeiten, zu fördern und 
allen Interessierten ein zuverlässiger Begleiter und Berater zu sein. Villinger. 

Me Caulley, Selinda: A study of 1000 cases of children who do not conform to school 
routine. (Untersuchung von 1000 Kindern, die den Anforderungen der Schule nicht 
genügen.) (Dep. of spec. educat., public schools, Philadelphia.) Psychol. clin. Bd. 15, 
Nr. 1/2, S. 9—17. 1923. 

- Hinsichtlich von Größe und Gewicht besteht kein erheblicher Unterschied zwischen 
normalen und schwer erziehbaren, normalen und zurückgebliebenen und zurückgeblie- 
benen und schwer erziehbaren Kindern. Hingegen sind normale Kinder besser in der 
Lage, ihre Bewegungen zu beherrschen; das zeigt sich schon beim Weitsprung, wo die 


— 26 — 


normalen Kinder erheblich überlegen sind; die Fähigkeit zur Ausführung koordinierter 
Bewegungen ist eine bessere. Motorische Geschicklichkeit und intellektuelle Begabung 
sind bei den Kindern, die den schulischen Anforderungen nicht genügen, in gleicher Weise 
schlechter entfaltet. Der solchen Kindern zu gebende Unterricht schließe sich möglichst 
eng an die Erfahrungen des täglichen Lebens an. Erich Stern (Gießen). 
Geistige Defektzustände : 

Kuenburg, M. Gräfin von: Über das Erfassen einfacher Beziehungen an ansehau- 
lichem Material bei Hirngeschädigten, insbesondere bei Aphasisehen. Ein Beitrag zum 
Abstraktionsproblem. (Versorgungskrankenh. f. Hirnverleizte, München.) Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 85, H. 1/3, S. 120—163. 1923. 

Verf. hat es sich zur Aufgabe gemacht, festzustellen, inwieweit zwischen Normalen 
und Hirnverletzten Unterschiede im Vollziehen einfacher Denkfunktionen und in der 
Ausführung elementarer Denkleistungen vorhanden sind; insbesondere soll durch 
Untersuchung jugendlicher aphasischer Hirnverletzter festgestellt werden, inwieweit 
die bekannte Theorie von Pierre Marie richtig ist, nach der die aphasischen Störungen 
aus einem „Defizit an Intelligenz“ herzuleiten sind. Um dies zu erreichen, mußte eine 
Methode angewandt werden, bei welcher sowohl der Denkprozeß sich ohne sprachliche 
Beihilfe vollziehen kann, als auch von einer sprachlichen Formulierung der Ergebnisse 
der Untersuchungen abgesehen werden darf, ferner auch die sprachliche Übertragung 
der Aufgabe auf ein Minimum beschränkt ist. Zu diesem Zweck unterwarf sie die 
Patienten Abstraktionsversuchen: Aussuchen gleicher Figuren (produktive Leistung), 
Wiederkennen der als gleich erkannten Figuren an einem Streifen und Lokalisieren 
derselben an einem Schema (reproduktive Leistung). Es zeigte sich, daß Schwerkriegs- 
beschädigte mit mehr oder weniger ausgeprägter motorischer oder sensorischer Aphasie 
die produktive Leistung mit aller Sicherheit und Unmittelbarkeit besitzen können; 
Soweit die reproduktive Leistung gestört war, waren mitwirkende oder sekundäre 
Ursachen verantwortlich zu machen: Mangel an sprachlichen Hilfen für den Prozeß 
der Einprägung und des Behaltens, geistige Ermüdung, Merkstörung, insbesondere 
für figürliche Gegebenheiten und für Lageverhältnisse, Mangel an optischen Hilfen, 
ferner affektive Störungen. Die von schwer optisch gestörten Patienten gewonnenen 
Resultate lehrten, daß durch den optischen Defekt eine Verzögerung und Erschwerung 
ım Denkprozeß für anschauliche Inhalte eintreten, nicht aber ein totaler Ausfall, wenn 
das Denken selbst nicht gestört ist. Bei Gegenüberstellung aphasischer Patienten und 
schwachsinniger bzw. dementer Kranker ergab sich, daß die ersteren Resultate gleich 
gesunden Menschen aufweisen, während sich bei letzteren ein Ausfall in der Erfassung 
elementarer Beziehungen unter gestellten Bedingungen zeigte. Denkschwäche oder 
Intelligenzschwäche ist bei den Menschen anzunehmen, bei denen es sich um einen 
positiven Ausfall im Erfassen einfacher Beziehungen handelt; bei solchen Kranken da- 
gegen, wie bei den Aphasischen oder bei Taubstummen oder Hilfsschulkindern, die durch 
andere geschädigte physische oder psychische Funktionen behindert sind, ihre intellek- 
tuelle Kraft voll auswirken zu lassen, liegt eine Intelligenzstörung nicht vor. Schob. 

© Szondi, L.: Schwachsinn und innere Sekretion. (Abhandl. a. d. Grenzgeb. d. inn. 
Sekretion. Hrsg. v. L. Szondi. H. 1.) Budapest: Rudolf Novak & Comp. 1923. 62 S. G.Z. 2. 
-Die Untersuchungen wurden an 33 ambulanten, debilen Blutdrüsenkranken des 
staatlichen heilpädagogischen Laboratoriums, 80 schwachsinnigen Schülern mit ge- 
sunden Blutdrüsen der staatlichen Hilfsschule und 100 Kranken der Nerven-Poliklinik 
mit normaler psychischer Entwicklung, aber schweren innersekretorischen Symptomen 
angestellt. Häufigkeit und Form endokriner Störungen bei Schwachsinnigen, die 
charakteristischen somatischen Zeichen blutdrüsenkranker (,pathokriner“) Debiler, 
deren psychische Merkmale, die Frage nach dem Bestehen bestimmter psychosomati- 
scher Konstitutionstypen, nach der Existenz spezifischer Unterschiede zwischen patho- 
krinen und normokrinen Schwachsinnigen und solcher zwischen der Blutdrüsenformel 
Normaler und Schwachsinniger waren Gegenstand der Prüfung. Bei Minderwüchsigen 





— 27 — 


sind entweder alle bei der Knorpelbildung mitwirkende Drüsen in Hypofunktion, oder 
es besteht neben Hypofunktion der Schilddrüse und Hypophyse ein Hypergenitalis- 
mus, seltener Thymuspersistenz. Bei Hochwuchs findet man Hyperfunktion von Thy- 
reoidea, Hypophyse, Thymus zugleich mit Hypogenitalismus; Bedingung ist zumindest 
normale Funktion der Thyreoidea. Hypogenitalismus allein führt noch nicht zum Hoch- 
wuchs, es muß Hyperfunktion einer der genannten 3 Drüsen hinzutreten. Das Längen- 
wachstum hängt indes auch von phylogenetisch-primordialen und neurotrophischen 
Einflüssen ab. Bei der Verknöcherung der Epiphysenfugen fällt der Thyreoidea, 
Thymus und den Keimdrüsen eine wichtige Rolle zu; ihre Hyperfunktion führt zu 
frühzeitiger Verknöcherung, Kleinwuchs. Auch hier ist die Intaktheit der Thyreoidea 
Vorbedingung; Hypophysenhyperfunktion allein reicht nicht aus. Bei Wachstums- 
störung vor der Pubertät oder bei Hypogenitalismus ist daher wenig Thyreoides- (evtl. 
mit etwas Thymus-) und viel Hypophysenextrakt zu geben. Bei Kleinwuchs mit Hyper- 
genitalismus oder Pubertas praecox ist reichlich Hypophyse, wenig Thymus und Glan- 
dula pinealis angezeigt. Einseitige Thyreoidea- oder Thymustherapie ist zu vermeiden. 
Die Thymus wirkt erregend auf den Parasympathicus. Hyperthyreoidie zusammen 
mit Hyperthymismus erzeugt Vagotonus oder vegetatives Gleichgewicht. Man kann 
einen endokrin asthenischen und einen endokrin dysthenischen Typus unterscheiden. 
Bei ersterem fehlen Hyperfunktionen; es besteht Hyposomie, verlangsamte Ver- 
knöcherung, kleinerer Schädelumfang, Hypogenitalismus oder Verzögerung der Pubertät 
meist Adipositas, im Falle von Schwachsinn kein besonders großer Defekt, über- 
wiegend heiterer und überempfindlicher Charakter. Der zweite Typus ist gekennzeichnet 
durch ein Nebeneinander von Hyper- und Hypofunktion; er tritt auf 1. als hyposomi- 
scher Typus mit vorzeitiger Verknöcherung, zuweilen Hyperossifikation der Röhren- 
knochen, großem Schädelumfang, Hypergenitalismus bzw. Pubertas praecox, meist 
Fettsucht, Vagotonie, schwererem Defekt bei Schwachsinn, Apathie, oft schizothymem 
Charakter; ihm entspricht: Asthenie von Thyreoidea, Hypophyse und Adrenalsystem, 
Hyperfunktion der Geschlechtsdrüse. 2. Als Hochwuchs mit normaler oder gesteigerter 
Knorpel- und Knochenbildung, großem Schädel, Hypogenitalismus, oft Fettsucht, 
Sympathikotonie oder bei persistierender Thymus Vagotonie, schweren Intelligenz- 
defekten, Apathie mit auffallend häufigen schizothymen Zügen; ihm entspricht: Asthenie 
der Keimdrüsen, Hyperfunktion in Thyreoidea, Hypophyse, Thymus, Adrenalsystem. 
Auffallend depressives Temperament wird bei pathokrinen Debilen fast nie gefunden. 
30% aller Debilen zeigen endokrine Symptome; sie sind allgemein-intellektuell minder- 
wertiger als jene ohne solche, die sie indes in der Lesefähigkeit übertreffen. Der aus- 
gesprochen gut visuelle Typus bei den Schwachsinnigen scheint daher mit endokrinen 
Störungen in Verbindung zu stehen. Die gleiche endokrine Erkrankung kann sowohl 
bei defektem als bei gutem Intellekt vorkommen; ein kausaler Zusammenhang zwischen 
endokriner Störung und Debilität ist noch nicht aufstellbar. Diese scheint nur eine 
Bedingung, nicht die Ursache des Schwachsinnes zu sein. Rudolf Allers (Wien). 

Raecke: Psychopathien und Defektprozesse. Arch. f. Psychiatrie u. Nerven- 
krankh. Bd. 68, H. 3/5, 8. 303—320. 1923. 

Die scharfe Unterscheidung zwischen Psychopathien und Defektpsychosen be- 
gegnet heute noch mannigfachen Hindernissen. Will man sich vor unangenehmen 
Täuschungen schützen, darf man der scheinbaren Abhängigkeit eines psychischen 
Ausnahmezustandes von einer äußeren Situation oder einem Affekterlebnis nicht 
ohne weiteres eine ausschlaggebende Bedeutung beimessen. Immer ist die zweite 
Möglichkeit zu erwägen, daß das reaktive Zustandsbild nur eine als Exacerbation auf- 
zufassende Episode im Verlaufe einer schon länger schleichend entwickelten Defekt- 
psychose darstellt. Nicht jede sog. Psychopathie ist sicher angeboren, noch weniger 
ererbt. Erkrankungen der Kindheit und des Fötallebens sind als mögliche Ursachen 
in Betracht zu ziehen. Wir kennen noch keine einwandfreien Beziehungen zwischen 
den einzelnen Psychopathentypen und den einzelnen Formen der Psychosen. Darum 


ist es verkehrt, wenn so verschwommene und weitreichende Begriffe wie Schizothymie 
und Schizoid aufgestellt werden, um zu einer brauchbaren Einteilung der Psycho- 
pathien zu gelangen. Da ist die wenigstens nichts präjudizierende vorläufige Ein- 
teilung rein nach dem Symptomenbilde in Erregbare, Haltlose usw. immer noch besser 
gewesen. Es ist sehr wohl denkbar, daß sehr viel häufiger als bisher geahnt, schein- 
bare Psychopathien sich in Residuärzustände früherer Defektprozesse verwandeln. 
Kehrer (Breslau)., 

Stern, F.: Über die Defektheilungen und ehronischen Erkrankungen bei epide- 
mischer Eneephalitis. (Univ.- Nervenklin., Göttingen.) Med. Klinik Jg. 19, Nr. 27, 
S. 931—937. 1923. 

Der durch seine Monographie über die Encephalitis epidemica (,,Gehirngrippe‘“‘) 
bestens bekannte Verf. gibt hier eine ausgezeichnete knappe Zusammenfassung der 
verschiedenen chronischen Bilder dieser Krankheit sowie der nach ihr vielfach ver- 
bleibenden Restzustände. Wichtig ist sein Hinweis auf die immer noch nicht genügend 
gewürdigte Häufigkeit der Erkrankung und die trotz der riesigen Literatur immer 
noch nicht seltenen Verkennungen und Verwechslungen. 5 der mitgeteilten Fälle 
betreffen Kinder bzw. Jugendliche. Bei einem löjährigen Mädchen blieb eine auf 
Blutdrüsenstörung zurückzuführende Fettsucht — wohl im Zusammenhang mit Dauer- 
schädigungen der Zwischenhirnbasis — und eigenartige Mundwinkelzuckungen zurück. 
Ein 18jähriger Jüngling behielt Muskelzudkungen bei, die lange Zeit als hysterisch 
betrachtet und behandelt wurden. Viel häufiger als bei Erwachsenen kommt es bei 
Kindern zu hartnäckigen und langwierigen „subdeliranten Erregungszuständen mit 
Faxentendenzen“. Die bekannten Charakterveränderungen der Kinder nach ‚Kopf- 
grippe‘‘ werden mit 3 kurzen Krankengeschichten belegt und als eine triebhaft auto- 
matisierte, bis zur negativistischen Trotzhandlung gesteigerte krankhafte Entladungs- 
bereitschaft aufgefaßt. Villinger (Tübingen). 

Cameron, Heetor Charles, and A. A. Osman: The late results of meningeal hae- 
morrhage of the newly born. (Spätzustände nach meningealen Blutungen bei Neu- 
geborenen.) Brit. med. journ. Nr. 3244, S. 363—366. 1923. 

In bezug auf die Entstehung der cerebralen Kinderlähmung stehen noch immer 
mehrere Anschauungen einander gegenüber: Little machte einst Geburtstraumen 
mit nachfolgenden Blutungen in die Meningen dafür verantwortlich, Virchow u.a. 
nahmen eine intra- oder neonatale Encephalitis interstitialis an, Henoch eine hämor- 
rhagische Gehirnentzündung, andere Forscher denken an pränatale Entwicklungs- 
störungen. Nach den Erfahrungen des Verf. entwickelt sich nicht selten auf dem 
Boden von traumatischer Blutung eine Encephalitis. Es gibt aber unter den Fällen 
von cerebraler Kinderlähmung eine bestimmte Gruppe, bei der der Defekt sich vor- 
wiegend auf die motorischen Rindenfelder und das sog. Psychomotorium erstreckt 
und die weiterhin dadurch gekennzeichnet sind, daß sie nach anfänglicher geistiger 
Zurückgebliebenheit in der späteren Kindheit psychisch gut ausreifen und nun auf 
psychischem Wege — durch Selbsterziehung und -übung — einen großen Teil ihrer 
spastischen Lähmung überwinden und eine relativ große Beweglichkeit erlangen. Es 
sind dies durchweg solche Fälle, von denen man annehmen muß, daß ein Geburts- 
trauma vorliegt. Die langsame geistige Entwicklung in den ersten 3 Jahren ist darauf 
zurückzuführen, daß die sensorischen Rindenfelder in gewisser Weise am Geburts- 
trauma beteiligt sind und daß insbesondere das optische und akustische Gedächtnis 
anfangs sehr schwach ist, wodurch nicht selten das Bild des angeborenen Schwach- 
sinns vorgetäuscht wird. Am günstigsten sind die Aussichten bei den Schädigungen 
der Zentren für die unteren Extremitäten, während die Kinder mit Lähmungen in 
den oberen Extremitäten, besonders der Hand, sowie des Sprechapparates mit großen 
Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Arbeit stützt sich auf Untersuchungen und 
Beobachtungen an 30 Fällen. Deutsche Literatur nach 1903 ist anscheinend nicht 
berücksichtigt. Villinger (Tübingen)., 


— 29 — 


Looft, Carl: Die geistige Entwicklung rachitiseher Frühgeburten. Monatsschr. f. 
Kinderheilk. Bd. 25, H. 1/6, S. 420—425. 1923. 

Verf., der überhaupt der Rachitis unter den Ursachen des jugendlichen Schwach- 
sinns eine große Bedeutung beilegt, hat 38 Frühgeburten mit Rachitis untersucht. 
Wie nach den Untersuchungen des Verf. auch die rechtzeitig geborenen rachitischen 
Kinder in der geistigen Entwicklung hinter den nicht rachitischen zurückbleiben, zeigte 
sich, daß auch rachitische Frühgeborene in den ersten 2 Jahren geistig in ihrer Ent- 
wicklung zurückstehen. Schob (Dresden). 

Aronowitseh, G.: Der jugendliche Verbrecher und die Defektiven in Petersburg in 
den Jahren 1919—1920. (Psychiatr. Klin., militärärztl. Akad., Petersburg.) Psychiatrie, 
Neurol. u. experim. Pathol. Nr. 1, S. 89—107. 1922. (Russisch.) 

Die Zahl der defektiven Kinder in Petersburg steht im Wachsen, wobei die Zahl 
der Knaben überwiegt. 1919 rechnete man 1195, 1920 2369, 1921 2779. Auf 1000 
Geisteskranke kommen 684 defektive Kinder, von denen 53,5% moralisch-defektive 
ausmachen. Mark Serejski (Moskau)., 

Cohen, Martin: Report of a ease of amaurotie family idioey in an infant of non- 
jewish parentage. (Bericht über einen Fall von familiärer amaurotischer Idiotie bei 
einem Kind nichtjüdischer Eltern.) Arch. of ophth. Bd. 52, Nr. 2, 8. 140—146. 1923. 

Weibliches, 14 Monate altes Kind italienischer Abstammung. Beide Eltern und Groß- 
eltern in Sizilien geboren, nicht jüdisch. 2 Kinder starben bereits an ähnlicher Krankheit. 
Pat. interesselos für die Mutter und Umgebung, ist apathisch, kann den Kopf nicht aufrecht 
halten, zeitweise Erbrechen. Kann weder aufrecht sitzen noch laufen. Die Untersuchung 
_ des Augenhintergrundes ergab den charakteristischen kirschroten Fleck in der Fovea. Es handelt 
sich um einen der seltenen Fälle von infantiler amaurotischer Idiotie bei einem Kinde nicht- 
jüdischer Abstammung, Sittig (Prag). 

Péhu, M.: Les formes attönu&es du mongolisme infantile. (Die leichten Formen des 
kindlichen Mongolismus.) Journ. de méd. de Lyon Jg. 4, Nr. 75, S. 97—103. 1923. 

Verf. weist auf das häufige Vorkommen leichter Formen von mongoloider Idiotie 
hin, bei welchen sowohl die körperlichen wie die psychischen Erscheinungen nur in 
geringer Ausprägung vorhanden sein können, so daß man nicht mehr von Idiotie 
sprechen könne. Zur Erkennung dieser Formen sei der Gesichtsausdruck zu beachten. 

Jahnel (Frankfurt a. M.)., 

Halbertsma, T.: Mongolism in one of twins and the etiology of mongolism. (Mongo- 
loide Idiotie bei einem von Zwillingen und die Ätiologie des Mongolismus.) Americ. 
journ. of dis. of childr. Bd. 25, Nr. 5, S. 350—353. 1923. 

Über die Ätiologie des Mongolismus ist man noch sehr geteilter Ansicht und von 
vielen wird es für möglich gehalten, daß Einflüsse während der Schwangerschaft 
(exogene Einflüsse) ursächliche Bedeutung haben. Es werden vom Verf. 5 Fälle mit- 
geteilt, wobei von Zwillingen nur ein Kind mongoloid war. Daraufhin wird eine exogene 
Entstehungsweise abgelehnt. Wenn nun in der Tat schon in der allerersten Anlage die 
Frucht zum Mongolismus vorbestimmt ist, dann müßten in einem Fall von eineiiger 
Zwillingsschwangerschaft beide Kinder mongoloid sein. Im Falle einer zweieiigen 
Schwangerschaft kann nur eins der Kinder mongoloid sein, weil die Möglichkeit, daß von 
einer einzigen Mutter mehrere Mongolen geboren werden, äußerst gering ist. In Überein- 
stimmung mit diesen Anschauungen bemerkt der Verf., daß in den 2 einzigen bekannten 
Fällen von doppeltem Mongolismus bei Zwillingen, die Kinder vom selben Geschlecht 
waren, während für beinahe alle Fälle von Mongolismus bei einem von Zwillingen zu 
beweisen war, daß die Schwangerschaft eine zweieiige gewesen war. Autoreferat.°° 

Aronowitseh, G.: Über Anomalien des Descensus der Hoden bei geistig Zurück- 
gebliebenen. (Psychiatr. Klin., Miltärärztl. Akad., Petersburg, Inst. f. defektive Kinder.) 
Wissenschaftliche Medizin Nr. 9, S. 123—134. 1922. (Russsisch.) 

Verf. hat 285 defektive Kinder untersucht und fand unter ihnen 28,42%, mit Ano- 
malien des Descensus. Dieselben müssen als häufigste aller physischen Anomalien 
angesprochen werden. M. Kroll (Moskau)., 


— 30 — 


Psychopathie, Verwahrlosung : 


Chadwiek, Mary: The misunderstood ehild. (Die mißverstandenen Kinder.) Child 
Bd. 13, Nr. 9, S. 264—266. 1923. 

Neurotische Kinder sind mißverstandene Kinder. Das Kind braucht liebevolles 
Verständnis für seine psychische Eigenart, für seine Leiden und Freuden; es bedarf 
einer ruhigen, sich stets gleichbleibenden Liebe seitens seiner Eltern und Erzieher, 
um ihm ein Gefühl innerer Sicherheit zu geben und es für den Lebenskampf tüchtig 
zu machen. An der nötigen Liebe hat es häufig den immer mißvergnügten, weiner- 
lichen Kindern gefehlt; ein Mangel an richtiger Liebe ist es auch, wenn die Kinder zum 
Gegenstand des Ehrgeizes und der Eitelkeit der Eltern gemacht werden, wenn sie ver- 
wöhnt und stets bewundert werden, die Mutter anderweitig unbefriedigte Liebes- 
bedürfnisse auf das Kind überträgt oder es zum Vertrauten seiner Sorgen macht. Die 
Kinder versagen in der Schule, wo man Leistungen von ihnen verlangt und sie nicht 
bewundert; sie werden ungezogen, eigensinnig, unverträglich, neigen zum Lügen, 
oder sie werden verträumt und verschlossen, ängstlich, neigen zu nächtlichem Auf- 
schrecken, beunruhigenden Träumen, Stottern. Erna Lyon (Hamburg). 


Pophal, R.: Über exogene Charakterveränderungen im Sinne der „Moral insanity“. 
(Psychiatr. u. Nervenklin., Univ., Greifswald.) Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 
Bd. 53, H. 5/6, S. 343—360. 1923. 

Verf. teilt die Krankengeschichten von 4 Fällen mit ‚„moral insanity“-Bildern 
nach exogenen Hirnschädigungen mit: 

1. Im Anschluß an einen sehr schweren Scharlach entwickelte sich bei einem 16jährigen, 
in jeder Beziehung durchschnittlich veranlagten, leicht erziehbaren Jungen eine Charakter- 
veränderung, die sich in schwerer Erziehbarkeit, Verlust der Familienanhänglichkeit, Gleich- 
gültigkeit gegen Lob und Tadel, störrischem und widerspenstigem Wesen, Arbeitsscheu, Hang 
zum Bummeln, zur Lügenhaftigkeit und zu Betrügereien dokumentiert; kein Intelligenzdefekt. 
2. Nach einer schweren Kopfverletzung bildet sich bei einem bis dahin fleißigen und muster- 
haften 8jährigen Knaben eine traumatische Epilepsie mit Verstimmungen und Dämmerzu- 
ständen, sowie eine Wesensveränderung im Sinne von Dreistigkeit, Ungeniertheit, Vorlautheit, 
Mangel an Anhänglichkeitsgefühl, leichter Erregbarkeit, Bosheit, Neigung zum Umbhertreiben 
heraus; asoziales Verhalten auch außerhalb der Verstimmungszustände, wenn auch in ver- 
ringertem Maße. 3. 21jähriger, von jeher leicht erregbarer, aber sozial tüchtiger und brauch- 
barer Mensch. Hirnerschütterung, danach grobe Wesensveränderung: Arbeitsscheu, Wider- 
spenstigkeit, Brutalität, völliger Verlust des Anhänglichkeitsgefühls, Neigung zum Renom- 
mieren, Uneinsichtigkeit, Neigung zum Mißbrauch narkotischer Mittel. Daneben a 
sprochene Verstimmungszustände, in denen Patient außerordentlich erregbar, von wi 
Brutalität, Grobheit und Gemeinheit ist. 4. 14jähriger ordentlicher Junge, vermutungsweise 
abortive Encephalitis epidemica, danach Charakterveränderung: Verstimmungezustände, 
in denen der Knabe flegelhaft, verlogen, störrisch, widerspenstig, hyperkinetisch ist. Zwischen- 
durch seltenere Zustände leichter Hemmung. 

Auf Grund seiner Fälle und anderer in der Literatur niedergelegter Beobachtungen 
kommt Pophal zu dem Schluß, daß Hirnkommotionen und schwere Infektionskrank- 
heiten, besonders die Encephalitis epidemica, bei Kindern und Jugendlichen, vor- 
wiegend männlichen Geschlechts, einen Gemütsdefekt im Sinne der „moral insanity“ 
als Habitualzustand bei einem kleinen Prozentsatz der Geschädigten hervorrufen 
können. Schob (Dresden). 


Zappert, J.: Über Neurosen im Kindesalter. Arch. f. Kinderheilk. Bd. 73, H. 2/3, 
S. 108—126. 1923. 

In einem Fortbildungsvortrage nimmt Verf. zur derzeitigen Gruppierung der kind- 
lichen Neurosen Stellung. Die Einteilung in Neuropathie, Neurasthenie, Hysterie kann 
nicht mehr genügen. Verf. schlägt vor, eine neue Gruppe der Gewohnheitsneurosen 
aufzustellen, für welche Kinder, auch wenn sie sonst nicht neuropathisch sind, eine 
große Disposition besitzen. Hierher gehören einerseits die auf pathologischen Bedin- 
gungsreflexen beruhenden, anderseits die auf Lustgewinn berechneten Gewohnheiten. 
Als Beispiele der ersteren Untergruppe wären das Wegbleiben, der Tic, das habituelle 
Erbrechen, als Beispiele der zweiten Unterabteilung das Fingerlutschen, das nächtliche 





za 


Kopfwackeln, die Masturbation anzusehen. Die Lehre der Bedingungsreflexe könnte 
durch die Aufstellung eines positiven oder negativen Reflexes erweitert werden, je 
nachdem ob durch den Bedingungsreiz ein ungewöhnlicher motorischer Vorgang her- 
vorgerufen oder ein sonst normaler unterdrückt wird. In der Gruppe der Neuro- 
pathie wird an der Hand neuerer Untersuchungen die Aufstellung eigener, insbeson- 
dere vasomotorischer Untergruppen und die Beziehung dieser zu innersekretorischen 
Einflüssen besprochen, ohne daß hierbei bestimmte Resultate erlangt werden können. 
Die Psychopathie wird im Sinne Ziehens scharf von der Neuropathie getrennt, mit 
der sie vereint sein kann, aber nicht muß. Als Neurasthenie wird entsprechend 
neueren Begriffsbestimmungen nur ein erworbener neurotischer Zustand bezeichnet, 
wie er als Erschöpfungsfolge bei älteren Kindern zuweilen — nicht oft — auftritt. Von 
der Hysterie sind nicht nur viele „monosymptomatische“ und glatt ausheilende Er- 
krankungen abzutrennen, welche nach Ibrahim mit mehr Recht den durch patholo- 
gische Bedingungsreflexen erzeugten Gewohnheitsneurosen zuzuweisen sind, sondern 
es empfiehlt sich auch dielmitations- (Induktions-) Neurosen als eigene Gruppe 
aufzustellen, da solche z. B. die sog. nervösen Schulepidemien, bei Kindern als ganz 
isolierte Neurosen auftreten können, ohne daß vor- oder nachher hysterische Sym- 
ptome zu beobachten wären. Ferner ist im Sinne Freuds sicherlich der Angstneu- 
rose und der Zwangsneurose eine Sonderstellung zu geben, um so mehr als diese 
beiden Neurosenformen im Kindesalter recht häufig sind. Als Hysterie im engeren 
Sinne wäre dann die „Psychoneurose“ Freuds anzusehen, deren sexuelle Grundlage 
nach Art einer „Reminiszenzhysterie‘“ für viele Fälle zugegeben werden muß. Der 
Freudschen Auffassung von der Wichtigkeit sexueller Eindrücke im frühen Kindes- 
alter sollte mehr Beachtung geschenkt werden, als dies gemeinhin von seiten der Kinder- 
und Nervenärzte geschieht, ohne daß deswegen manche Verallgemeinerungen der psy- 
chosnalytischen Schule sowie manche auf Grund von psychischen Studien bei Er- 
wachsenen erhaltenen Resultate ohne weiteres auf kindliche Verhältnisse übertragen 
werden dürfen. Autoreferat. 

Rombouts, J. M.: Über den Ursprung kindlieher Angst. Zugleich ein Beitrag zur 
Kenntnis des „Männlichkeitskomplexes“. (Psychiatr., neurol. klin., uniw., Leiden.) 
Nederlandsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 67, Nr. 26, S. 2915—2923. 1923. (Holländisch.) 

l5öjähriges 2, das schon früh schlafwandelt, seit dem 5. Jahre an Weinkrämpfen und 

tzuständen litt, so daß sie die Schule nur unregelmäßig besuchen konnte, kommt wegen 

lechter‘‘ Gedanken und Selbstmordplänen in die Klinik. Sie verläßt diese wieder, weil 
man sich nicht genügend mit ihr beschäftigt hat. Schließlich kam heraus, daß sie als kleines 
Kind schon gerne ein Junge hat sein wollen, sich die Haare abschnitt, Milchmann werden wollte. 
Andererseits hatte sie ein starkes Anlehnungsbedürfnis, verliebte sich als 10jährige in den 
Ohrenarzt, der sie operiert hatte, war eifersüchtig auf die Mutter. Verf. stellte bei der Kranken 
eine Ambivalenz fest. In ihr streiten männliches und weibliches Verlangen. Nach Aufdeckung 
dieses Komplexes half psychotherapeutische Belehrung und Hinlenkung auf die Wirklich- 
keit (Pflichten, Haushalt usw.). Nach 1 Jahr stellte sich die Kranke wieder vor, sie war frei 
von ihren Angstzuständen und machte freien, gesunden Eindruck. Creutzfeldt (Kiel)., 

Rehm: Die Verwahrlosung der Großstadtjugend.. Ver. Norddtsch. Psychiater 
u. Nervenärzte u. Ges. d. Neurologen u. Psychiater Groß-Hamburgs, Hamburg- 
Friedrichsberg, Sitzg. v. 9. VI. 1923. 

Vortr. bespricht an der Hand ausführlicher Tabellen das von ihm untersuchte 
und beobachtete Material, welches aus rund 300 Fällen besteht und durch das Heim 
für Jugendliche der Stadt Bremen gegangen ist. In diesem Heim wurden bis vor 
kurzem alle jugendlichen Verwahrlosten aufgenommen Die Knaben kamen etwas 
früher zur Verwahrlosung als die Mädchen. Die hereditäre Belastung mit Geistes- 
krankheiten war etwas, die mit Trunksucht erheblich größer als dem Gesamtdurch- 
schnitt entspricht. In ungefähr der Hälfte der Fälle fand sich ungünstiges Milieu, 
bei den Mädchen häufiger als bei den Knaben, wahrscheinlich deswegen, weil das 
ungünstige Milieu die Knaben wegen ihrer mehr selbständigen Entwicklung nicht so 
angreift. Im übrigen werden die Erfahrungen anderer Autoren bestätigt, daß Un- 


— 32 — 


stetigkeit und Neigung zu Eigentumsvergehen weitaus vorherrschend Eigenschaft der 
verwahrlosenden Knaben, sittliches und geschlechtliches Verkommen aber weitaus 
häufiger bei Mädchen vorkommt als bei Knaben. Angeborener Schwachsinn fand sich 
bei etwa einem Drittel der Jugendlichen, während psychopathische Eigenschaften in 
mehr oder weniger starkem Maße ungefähr bei allen anzutreffen waren, in stärkerem 
Grade bei etwa 50%. Die Stadt liefert an jugendlichen Verwahrlosten mehr Unstete 
und das Gros der jugendlichen Prostituierten; es sind aber die Sittlichkeits-, Roheits- 
und Affektverbrecher geringer an Zahl als auf dem Lande. Eine große Rolle spielt 
in der Stadt die Bandenbildung, welche begünstigt wird durch die vielen Sportvereine, 
denen die Jugend jetzt angehört. Ungünstiges Milieu ist in den meisten Fällen die 
auslösende Ursache der Verwahrlosung, wenn auch auf Grund einer durch Vererbung 
oder Geburt erworbenen fehlerhaften Anlage. Jeder Fall eines sozial ungünstig sich 
auswirkenden Milieus muß Gegenstand fürsorgerischer Maßnahmen sein. Fälle von 
Verwahrlosung müssen von der Schulzeit bis zur Mündigkeit und dann nach Ent- 
mündigung durch einen Berufsvormund betreut werden. Jeder Verwahrlosungsfall 
muß nicht nur fachärztlich untersucht, sondern soil auch fachärztlich beobachtet 
werden. Die Ausbildung der mit der amtlichen Fürsorge betrauten Personen muß 
eingehender gestaltet werden. Ein Arzt muß Mitglied des Jugendamtes sein. Bei der 
Unterbringung in Erziehungs- usw. Anstalten ist ärztliche Mitwirkung notwendig. 
Jugendliche Prostituierte dürfen nicht in Geschlechtskrankenstationen der öffentlichen 


Krankenanstalten behandelt werden. 

Diskussion: Weygandt: Wichtig ist Vergleichung mit früheren Zuständen, vor dem 
Krieg, während dessen und seither. Auch Kinder wohlhabender Familien entgleisen öfter schwer. 
Die gesamte Jugendbewegung bat einen desequilibrierten Zug. Bedenklich ist die weit aus- 
gedehnte präcoxe Erotisierung. Die Schule ist in Neuerungebestrebungen nicht immer günstig 
hinsichtlich jener Bedenken. Die Resolution ist dringend zu empfehlen, insbesondere Hervor- 
hebung der ärztlichen Mitarbeit. Man sollte einschalten: „Schaffung ärztlicher Beobachtungs- 
gelegenheiten“. — Rautenberg: Wege der Fürsorge- und Zwangserziehung müssen geändert, 
gebessert werden. Eine Zusammenarbeit der noch zu sehr getrennten Stellen (Entlassungs- 
fürsorge der Gefängnisbehörde, Jugendfürsorge), ein Hand-in-Hand-Arbeiten der Beratungs- 
stellen ist notwendig. Vielleicht ist es doch zweckmäbig, das Jugendgefängnis der Jugend- 
fürsorge zu unterstellen, damit der Gang der Fürsorgeerziehung einheitlich durchgefübrt 
werden kann. Zu fordern ist der ärztliche Einfluß beim Jugendamt durch einen psychiatrischen 
Dezernenten. — Runge: Bisher sind alle Versuche, von den Behörden der Provinz Schleswig- 
Holstein und dem Jugendamt der Stadt Kiel die psychiatrische Untersuchung sämtlicher 
Fürsorgezöglinge und asozial werdenden Jugendlicher und Kinder zu erreichen, leider erfolglos 
geblieben. Runge begrüßt daher die Resolution als dringend erforderlich. Es ist aber not- 
wendig, da die gesonderte Unterbringung und Erziehung der Psychopathen aus Mangel an 
entsprechenden Einrichtungen gar nicht möglich ist, folgenden Zusatz zur Resolution vor- 
zuschlagen: „Die Einrichtung eines Heilerziehungsheims für psychopathisch schwer erziehbaere 
Kinder im Alter von 5—14 Jahren ist, um eine rechtzeitige erzieherische Wirkung zu ermög- 
lichen, dringend erforderlich, ebenso die Errichtung von unter ärztlich-peychiatrischer und päd- 
agogischer Leitung stehenden Sonderabteilungen für erziehbare psychopathische Fürsorgezög- 
linge“. — Rittershaus: Der Vorschlag Draeseke ist ein zweischneidiges Schwert, es steht 
zu befürchten, daß wir uns psychiatrisch-pädagogische Kurpfuscher großziehen und daß eine 
psychiatrische Mitarbeit nur noch mehr erschwert wird. Die Resolution ist nur ein beschei- 
denes Kompromiß, das lange nicht das erstrebt, was anderswo, z. B. in Baden, schon längst 
erreicht ist. Dringend nötig ist nicht nur die Beobachtung, sondern auch die Erziehung, d. h. 
Weiterbehandlung der pseychopathischen Fürsorgezöglinge unter psychiatrischer Leitung. 
Insbesondere die weiblichen Patienten dieser Art sind in der Irrenanstalt, auf den Abteilungen 
der alten Schizophrenen usw., wo sie keinen Resonanzboden finden, recht gut aufgehoben 
und ergaben recht gute Resultate. Eine durchgreifende Besserung ist wohl erst nach einer 
Besserung der allgemeinen politischen Verhältnisse zu erwarten. — Hinrichs: In der Provinz 
Schleswig-Holstein sind freilich Beratungsstellen und Beobachtungsabteilungen eingerichtet. 
Im wesentlichen bestehen sie aber nur auf dem Papier, sie werden viel zu wenig benutzt, weil 
der psychiatrische Einfluß in der Behörde viel zu gering ist. Auch die Kontrolle der Erziehungs- 
durchführung muß unter fachärztlicher Mitwirkung geschehen. — Zendig: Übernahme einer 
Anzahl schwieriger Vormundschaften durch Fachärzte. — Grim me erwähnt die Beobachtungs- 
möglichkeiten der Fürsorgezöglinge in der Provinz Hannover. Männliche Fürsorgezöglinge 
werden in der Heil- und Erziehungsanstalt in Göttingen beobachtet, die weiblichen in den 
Heil- und Pflegeanstalten. Dies gibt zu großen Schwierigkeiten Veranlassung, da durch die 


I. Re 


unsozialen Elemente unter den Fürsorgezöglingen die Behandlung der sozialen Geisteskranken 
leidet, weil eine räumliche Trennung der beiden Arten von Kranken nicht so weit möglich ist, 
wie das im Interesse der sozialen Kranken unbedingt notwendig ist. Der soziale Abstieg unter 
den Anstaltskranken macht eine räumliche Trennung besonders erforderlich. — Cre utzfeldt 
weist auf die Gefahr einer Statistik hin, die dem Wesen nach nicht auf Vergleichbarem fußt. 
Betont noch einmal die Bewertung der Anlage gegenüber dem Milieu. Aus der Statistik darf 
man vielleicht schließen, daß die mehr passiven Untugenden bei den Mädchen, die aktiven bei 
den Knaben hervortreten. — Trö m mer: Bei der allenthalben zutage tretenden Verwahrlosung 
unserer Jugend spielen die mannigfachen Nachteile der Wohnungsnot eine werentliche Rolle. 
Die Schuld des Alkohols sehe ich ebensosehr in der Vergiftung des häuslichen Milieus und der 
Zersetzung des Familienlebens durch den Trinker, als in der keimschädigenden Rolle des Alko- 
hols. Im Kampfe gegen die Verwahrlosung nützen die Behörden nicht allein, auch wenn 
Psychiater mitwirken, vor allem müssen Volksschule und Presse, besonders die Arbeiterpresse 
in ausgiebiger und methodisch zu verabredender Weise mithelfen. — Rehm (Schlußwort): 
Es muß eine Engherzigkeit für die Unterbringung der psychopathischen Jugendlichen, auch 
evtl. in den öffentlichen Anstalten, gesorgt werden. Der Arzt muß überall in die Organisation 
hinein. Über die Frage, ob die Verwahrlosung nach dem Kriege zugenommen hat, was sehr 
wahrscheinlich und augenfällig ist, stehen mir Zahlen nicht zur Verfügung. 
Eigenbericht (überreicht durch V. Kafka [Hamburg)). 

Psychosen: 


Kehrer, F., und $. Fischer: Modell einer klinisch-experimentellen Pathographie. 
Mit besonderer Berücksichtigung der Erbliebkeitsuntersuchung und der experimental- 
psyehologisehen Methodik. (Psychiatr. u. Nerv.-Klin., Univ. Breslau.) Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 85, H. 1/3, S. 315—386. 1923. 

Eingehende Untersuchung eines Falles von Geisteskrankheit mit Wahnbildungen 
der in Heilung ausging, mit allen nur erdenklichen körperlichen und psychischen 
Methoden. Das Ergebnis ist, daß hier Zusammentreffen einer thyreotoxischen Schädi- 
gung mit seelischen Erlebniswirkungen bei einem erbbiologisch zu krankhaften Reak- 
tionen vorbereiteten Boden in weitgehendem Maße Auftreten der Geisteskrankheit 
und ihren Verlauf auf verstehbare Zusammenhänge und körperlich erklärbare seelische 
Gegebenheiten zurückführen ließ. Anwendung aller uns zur Verfügung stehenden 
Methoden kann also auch in diagnostisch unlösbar scheinenden Fällen Klärung herbei- 
führen. Reiss (Tübingen). 

Maier, Hans W.: Psyehische Störungen beim Kleinkind. Schweiz. Zeitschr. f. 
Gesundheitspfl. Jg. 3, H. 2, S8. 283—290. 1923. 

Verf. bezweckt mit seiner kurzen Abhandlung, die einen Überblick über die wich- 
tigsten Äußerungen nervöser Störungen im frühen Kindesalter gibt, Pädagogen und 
sonstige Erzieher auf die Wichtigkeit derartiger Störungen hinzuweisen, damit solche 
Kinder rechtzeitig in ärztliche Beobachtung und Behandlung überführt werden. Das 
Zentrum für richtige Erkennung und Behandlung schwerer psychisch-nervöser Stö- 
rungen beim Kind müssen modern eingerichtete psychiatrische Beobachtungsstationen 
sein, wo auch kleinste Kinder schon Aufnahme und ärztlich-pädagogische Beobachtung 
und Behandlung finden können. Schob (Dresden). 

Gellatly, Jessie H.: A ease of encephalitis lethargiea recognised by ehange in 
behaviour. (Ein Fall von Encephalitis leth., durch Charakterveränderungen fest- 


gestellt.) Lancet Bd. 204, Nr. 24, S. 1213—1214. 1923. | 

Sehr typischer Fall postencephalitischer Charakterveränderung bei einem 10 jährigen 
Kinde, das vor der Erkrankung (1920 unter dem Bilde einer Chorea mit vorübergehenden 
Augenmuskellähmungen) keine psychischen Anomalien, nur etwas Nervosität gezeigt hatte. 
Reizbarkeit, nächtliche Unruhe, Unerziehbarkeit waren die psychischen Hauptveränderungen. 
Daneben Frühsexualität, Neigung zum Exhibitionieren, Beginn der Menses mit 10 Jahren, 
1 Monat; über die körperlichen Geschlechtsmerkmale wird nichts ausgeführt. Mannigfache 
Fehldiagnosen waren gestellt, bis man auf den Encephalitisverdacht kam. F. Stern., 

Collin, André, et Jeanne Requin: Séquelles psyehiques de l’ene£phalite épidémique 
ehez les enfants. (Die psychischen Folgeerscheinungen der epidemischen Encephalitis 
bei Kindern.) Arch. de med. des enfants Bd. 26, Nr. 5, S. 265—278. 1923. 

Im frühen Kindesalter bis zu 7 Jahren pflegen die schweren Hirnentzündungen, 


soweit sie nicht völlig heilen, psychische Entwicklungshemmungen zu hinterlassen, 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 3 


en N 


bei denen aber ausgesprochenere Charakteranomalien meist fehlen; während diese bei 
älteren Kindern nach Encephalitis lethargica (Hirngrippe) neben motorischen Erschei- 
nungen meist im Vordergrunde stehen. Es handelt sich um Reizbarkeit, Bösartigkeit, 
Erregbarkeit, Wankelmütigkeit und Neigung zu impulsiven Handlungen. Hier ist die 
Prognose schlecht. Bei langsamer Entwicklung kommt es wohl zu Stillstand, aber 
nur selten zur Rückbildung der Veränderungen. Vieles erinnerte die Verff. an das 
Symptomenbild der Dementia praecox. Neben der Lokalisation des Krankheitsprozesses 
im Gehirn spielt auch das Lebensalter eine ausschlaggebende Rolle für Verlauf und 
Form der Erkrankung. Reiss (Tübingen). 


Lemaire, Henri: Les troubles mentaux dans la tétanie de la première enfance. 
(Die Geistesstörungen bei der Tetanie der frühen Kindheit.) Nourrisson Jg. 11, Nr. 2, 
S. 103—113. 1923. 

Verf. stellte bei 22 von ihm beobachteten Fällen von Tetanie-Erkrankungen kleiner 
Kinder das Vorhandensein psychischer Störungen fest. Die Symptome fanden sich 
vom Ende des 1. Jahres an bis in das 2. und 3. Lebensjahr hinein; sie sind nicht so 
differenziert wie diejenigen der ferneren Entwicklungsjahre. Im Vordergrund stehen 
2 Typen: Affektive Störungen, die als pathologische Zornausbrüche in Erscheinung 
treten, und Störungen der Sinneswahrnehmung, vor allem optische Halluzinationen. 
Die psychischen Störungen entwickelten sich parallel mit den somatischen Erschei- 
nungen der Tetanie und verschwanden ebenso wie diese auf Behandlung mit Chlor- 
calcium und Phosphorlebertran. Das gehäufte Auftreten der beschriebenen Störungen 
(in 22 von im ganzen 40 beobachteten Fällen) und die therapeutische Beeinflußbarkeit 
legen den Schluß auf eine enge Beziehung zwischen diesen psychischen Symptomen 
und den somatischen Erscheinungen der Tetanie nahe. Andere ätiologische Momente 
kamen bei den beobachteten Fällen nicht in Frage. Verf. tritt der früher fast allgemein 
vertretenen Anschauung entgegen, daß das Fehlen psychischer Symptome für die 
Tetanie des frühen Kindesalters charakteristisch sei. Der Arbeit sind 19 Kranken- 
geschichten im Auszug beigefügt. Jossmann (Berlin).°° 


Henderson, D. K.: Prognosis of psyehoses during adoleseenee. (Zur Prognose der 
Pubertätspsychosen.) (Brit. med. assoc. Portsmouth, sect. of neurol. a. psychol. med., 
27. VII. 1923.) Lancet Bd. 205, Nr. 9, S. 461—463. 1923. 

Der Begriff der Dementia praecox ist zu weit. Verf. schließt sich McCarthy an, 
der die große Schizophreniegruppe in degenerative und nichtdegenerative Fälle einteilt. 
Die letzteren, die praktisch als heilbar gelten, zerfallen in toxisch und in infektiös 
bedingte. Exogene (von außen her wirkende) Faktoren spielen vielleicht doch eine 
größere Rolle bei dem Zustandekommen der Krankheit, als man bisher glaubte. Der 
Krieg hat dafür viele Beispiele gebracht (bei deren Bewertung ist größte Vorsicht am 
Platz; Ref.). Die Prognose der jungen Schizophrenen ist bedeutend besser, wenn sie 
bald ın klinische Behandlung kommen, als wenn sie lange krank im Lebenskampf 
verbleiben. Eine individualisierte Arbeitstherapie gibt im allgemeinen die besten 
Erfolge. Villinger (Tübingen). 


Krankheiten des Kindesalters (einschl. allgemeine Pathologie): 


Kleinsehmidt, H.: Die bedeutungsvolle Rolle des Nervensystems in der Pathologie 
des Kindesalters. Jahreskurse f. ärztl. Fortbild. Jg. 14, H. 6, S. 16—31. 1923. 

Besprechung der Krankheitszustände des Kindesalters, deren Abhängigkeit vom 
Nervensystem nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Dazu gehören z. B. schon Ernährungs- 
störungen im Säuglingsalter. Nur selten wird die nervöse Komponente erkannt. Das 
Facialis-Phänomen hat die größte Bedeutung für die Diagnostik, es beweist beim 
Kinde immer funktionelle Minderwertigkeit des Nervensystems. Darauf pfropft sich 
oft, vielleicht auf dem Weg endokriner Drüsen, eine Kalkstoffwechselstörung. Das 
aber heißt: Krampfbereitschaft. Die Neurodermatitis ist oft verbunden mit neuro- 


ie BD ne 


pathischen Störungen, vasomotorische Blässe oft abhängig von psychischen Kon- 
flikten in der Schule und im Elternhaus. Auch bei Fluor, Mastitis adolescentium ist 
oft die neuropathische Konstitution Träger der Affektion. Die Diagnose „neurogene“ 
Leibschmerzen ist, besonders im Hinblick auf chronische Appendicitis, nur per ex- 
clusionem zu stellen. Eine ausgesprochene Secretionsneurose ist die Colitis mem- 
branacea. Bei Schulanämie kann auch an virulente Tuberkulose gedacht werden. 
Doch soll hier eine gründliche Anamnese über hereditäre Verhältnisse oft den neuro- 
pathischen Keim der angiospastischen Blässe aufdecken. Auch beim fiebernden in- 
fizierten Kind ist die Aufmerksamkeit nicht nur auf die angreifende Noxe zu 
richten, sondern auch auf die Eigentümlichkeiten in der Reaktion des Angegriffenen. 
Singer (Berlin)., 

Weill, E., C. Mouriquand et A. Dufourt: Les dystrophies infantiles d’après les tra- 
vaux récents. (Formen infantiler Dystrophie auf Grund neuerer Forschungen.) 
Journ. de méd. de Paris Jg. 42, Nr. 8, S. 155—160. 1923. 

Die Verff. geben einen Überblick über die verschiedenen Formen infantiler Dys- 
trophie auf Grund neuerer Arbeiten, unter besonderer Berücksichtigung französischer 


und englisch-amerikanischer Literatur. 
Sie teilen ein in folgende Formen: 1. Glanduläre Dystrophien. A. Formen mit Störung 
der Skelettentwicklung. a) Hypophysäre Dystrophien: reiner Zwergwuchs; Infantilis- 
m us mit Atrophie der Genitalien, Fehlen oder Rückbildung der sekundären Geschlechtscharak- 
tere, häufig Fettsucht und ausgesprochen auf Hypophyse hinweisenden Symptomen, z. B. 
Augensymptomen, Vergrößerung der Sella turcica usw.; Akromegalie, von der auch etwa 
40 das Kindesalter betreffende Fälle bekannt sind; infantiler Riesenwuchs, oft mit Hypo- 
plasie der Genitalien. Ob die Wachstumsdystrophie der Jünglinge (Hutinel) und die Acroce- 
phalo-syndactylie (Apert) zu den hypophysären Störungen zu rechnen sind, bleibt offen. 
b) Epiphysärer Knochenmißwuchs, selten; charakteristisch: vorschnelle Entwicklung des 
Knochenskeletts, vertikale Blicklähmung, bisweilen Fettsucht, vorzeitige intellektuelle Ent- 
wicklung, Polyurie, vorzeitiger Eintritt der Pubertät. c) Genitaler Knochenmißwuchs: Über- 
triebenes Wachstum der Beine, Verzögerung des Eintritts der sekundären Geschlechtscharak- 
tere. d) Thyreoidealer Knochenmißwuchs oft verbunden mit Myxödem e) polyglandu- 
lärer Knochenmißwuchs, hierher gehört der suprarheno - genito - hypophysäre Zwergwuchs 
mit greisenhaftem Aussehen. B. Dystrophien infolge allgemeiner Störung des Stoff- 
wechsels.. Adiposo-genitales Syndrom — glanduläre Fettsucht. a) Hypophysäre Fett- 
sucht: hauptsächlich Stamm und proximale Teile der Extremitäten, Ausbleiben der Menses; 
wahrscheinlich nicht auf Läsion der Hypophyse, sondern des Bodens des 3. Ventrikels zu be- 
ziehen; ebenso die Fettsucht nach Encephalitis und bei Hydrocephalus; besonders wichtig 
die Gegend des Tubers, oberflächliche Zonen der mittleren und vorderen Partie (noyau supra- 
chiasmatique et noyau supraoptique). b) Epiphysäre Fettsucht. c) Thyreoideale Fettsucht, 
kommt mit Myxödem, aber auch als forme fruste vor. d) Genitale Fettsucht, besonders bei 
Frauen. e) Suprarhenale Fettsucht, bei Mädchen dabei öfters Pseudo-hermaphrodismus. 
2. Infantile Dystrophie alimentären Ursprungs. Beriberi: bis 38%, der gestillten Säuglinge er- 
l<ranken auf Philippinen; heilt bei Kuhmilchgabe. Ursache: Ernährung der Mutter mit ent- 
schältem Reis. Skorbut: besonders gefährlich lange und bei hoher Temperatur sterilisierte 
Milch, fein ausgemahlenes Mehl; besonders günstige Gegenmittel: Orangensaft, grünes Gemüse, 
besonders Kohl. Vorerscheinungen: Appetitlosigkeit, Steigerung der Reflexe, Beschleunigung 
von Puls und Atmung, vor allem Anämie, die auf Darreichung von Citronensaft schnell weicht. 
Nahrung und akzessorische Wachstumsfaktoren: Weill und Mouriquand haben zwei für 
das kindliche Wachstum nötige Faktoren entdeckt; der eine (hydrosoluble B) löslich in Wasser 
und Alcoh. dilutus, besonders in der Schale der Kornfrüchte, den Getreidekeimen usw., in 
Leber, Pankreas, sehr gering in Fleisch und Milch enthalten; der andere in Fett löslich (liposo- 
luble A), besonders in Lebertran, Butter, Sahne, Kräutern; bei Fehlen: Xerophthalmie, epi- 
demische Hemeralopie, Wachstumsstörungen. 3. Rachitische Dystrophie: besonders durch 
„amerikanische Autoren ist Rachitis bei Ratten experimentell durch Phosphormangel erzeugt 
worden; Sonnenlicht, Fasten wirken der Krankheit entgegen. Dystrophien u. Grund-Stoff- 
wechsel (metabolisme basal), d. i. die Energie (ausgedrückt in Calorien), die pro Stunde und pro 
Quadratmeter Körperoberfläche verbraucht wird, gemessen bei Ruhe, nach l4stündigem Fasten 
und Aufenthalt in einer Atmosphäre von 16°, wobei der Körper so weit bedeckt sein muß, 
daß weder Frost- noch Wärmegefühl vorhanden ist, leicht erhöht beim Neugeborenen, erreicht 
er seinen höchsten Stand mit 6 Jahren, dann Abfall; gesteigert bei reichlicher Nahrungsauf- 
nahme, Aufenthalt im Freien, in Kälte. Licht und Höhe ohne Einfluß (Nobecourt, Janet); 
am 15—48% herabgesetzt bei Hypothyreoidismus, gesteigert bei Basedow, ebenso bei Akro- 
zmegalie; vermindert bei Kastration. Schob (Dresden), , 
3% 


= 6 = 


Klose, H., und A. Hellwig: Über Bau und Funktion der kindlichen Sehilddrüsen- 
hyperplasie. (Chirurg. Uniw.-Klın., Frankfurt a. M.) Arch. f. klin. Chirurg. Bd. 124, 


H. 2, S. 347—361. 1923. 

Die Verff. haben die Schilddrüsen von 6 Kindern untersucht, von denen zwei einwand- 
freie Hypothyreosen, eins einen außerordentlich symptomreichen Morbus Basedow, drei Thy- 
reotoxikose leichteren Grades boten; die Kinder standen im Alter von 8—13 Jahren, nicht ein 
einziger Fall zeigte Zeichen von geschlechtlicher Reife, keine sekundäre Geschlechtscharak- 
tere. Trotz der klinischen Gegensätzlichkeit fanden sich in allen diesen Fällen Schilddrüsen, 
die anatomisch und histologisch unzweifelhaft die Zeichen erhöhter Tätigkeit boten. Gerade 
in den 2 Fällen mit Myxödem mußte die Diagnose in pathologisch-anatomischer Hinsicht auf 
„Basedowdrüse‘““ gestellt werden. Die Befunde bei den 4 Fällen kindlicher Hyperthyreoeis 
entsprachen den Bildern, wie sie typisch sind für die Basedowstruma der Erwachsenen. Wie 
erklärt sich die auffallende Tatsache, daß hier in den Fällen von Hypothyreosis sich ebenfalls 
ein auf erhöhte Sekretionszustände hinweisender histologischer Befund an der Schilddrüse er- 
gibt? Klose und Hellwig erklären diese Befunde ebenso wie Hotz, der ähnliche Beobach- 
tungen publiziert hat, mit dem Gesetz von Arndt: ‚ Kleine Reize fördern, starke hemmen“. 
Die kretinoiden kindlichen Kropfträger sind wahrscheinlich Hemmungsformen infolge zu 
starker Überproduktion von Schilddrüsensekret; einen Beweis für die Richtigkeit dieser Hypo- 
these gibt den Verff. die auch von Hotz gemachte Erfahrung, daß diese kindlichen Myxödem- 
fälle bei ausgedehnter Resektion der Schilddrüse mit Unterbindung aller Hauptarterien keine 
Ausfallserscheinungen, sondern im Gegenteil in körperlicher und geistiger Beziehung 
darbieten. Schob (Dresden). 


Nobel, Edmund, und Alexander Rosenblüth: Über das Vorkommen von Sehild- 
drüsenvergrößerungen bei Kindern in Österreich und deren Bekämpfung. (Univ.- 
Kinderklin., Wien.) Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 36, H. 1, S. 17—31. 1923. 

Die Steigerung der Häufigkeit kindlicher Schilddrüsenvergrößerungen ist in den 
letzten Jahren an vielen Orten (nicht nur in Wien) aufgefallen. Die Verff. haben an 
über 14000 Kindern aus allen Teilen Österreichs Untersuchungen über die Schild- 
drüsenbefunde angestellt und das erhaltene Material nach fünf Graden der Schilddrüsen- 
vergrößerungen angeordnet. Es zeigten sich hierbei nicht nur deutliche Unterschiede 
zwischen beiden Geschlechtern (Bevorzugung der Mädchen), sondern auch, wie zu 
erwarten gewesen war, zwischen den einzelnen Bundesländern. Letztere Unterschiede 
betreffen weniger die Häufigkeit der Schilddrüsenvergrößerungen überhaupt als deren 
Intensität. Sehr starke Strumen fanden die Verff. in Niederösterreich und Linz gar nicht 
(wenigstens bei Knaben), in Wien und Tirol selten, in Steiermark und Kärnten recht 
häufig. In Wien zeigt vom 10. Jahre angefangen fast die Hälfte der Kinder Schilddrüsen- 
vergrößerungen, in Kropfländern finden sich schon bei kleinen Kindern Strumen. Die 
von Wagner-Jauregg warm befürwortete Verabreichung von jodiertem Kochsalz (mit 
minimalen völlig unschädlichen Jodmengen) verdient auch in Österreich reichliche An- 
wendung, womit in den amerikanisch-österreichischen Schulspeisungen bereits begonnen 
wurde. Die Tabellen der vorliegenden Untersuchungen können späteren, nach An- 
wendung von Jodsalz durchgeführten Zusammenstellungen zur Kontrolle dienen. 

Zappert (Wien). 

Lereboullet, P.: Les dystrophies hypophysaires en clinique infantile. (Die hypo- 
physären Dystrophien in der Klinik der Kinderkrankheiten.) Arch. de med. des 
enfants Bd. 26, Nr. 3, S. 129—149 u. Nr. 4, S. 223—241. 1923. 

Die Arbeit enthält eine übersichtliche Darstellung der Anatomie und experimen- 
tellen Physiologie der Hypophyse sowie der den Pädiater interessierenden Erkrankungen 
der Hypophyse. Den neuesten Anschauungen entsprechend werden die bei Hypo- 
physenerkrankungen vorkommenden Knochendystrophien (insbesondere die auch im 
Kindesalter wiederholt beobachtete Akromegalie, der Riesen- und Zwergwuchs). mit 
der Hypophysenaffektion in direkten Zusammenhang gebracht, während die sonstigen 
Dystrophien, namentlich die Dystrophia adiposogenitalis, auf die Erkrankung der 
nervösen Zentren am Boden des III. Ventrikels bezogen werden, ebenso die sogenannte 
hypophysäre Kachexie, Glykosurie und Polyurie. Therapeutisch kommt nach wie 
vor außer der spezifischen Behandlung die direkte radiotherapeutische und chirurgische 
Beeinflussung der Hypophysenaffektion in Betracht. A. Schüller (Wien)., 


RES. 

Fein, A.: Zwei Fälle von Erkrankung der Zirbeldrüse und der Hypophyse. Med. 
Korresp.-Blatt f. Württ. Bd. 93, Nr. 21, S. 87—88 u. Nr. 24, S. 99—100. 1923. 

Verf. berichtet im Anschluß an 2 von ihm als Schularzt beobachtete Krankheits- 
fälle über den Einfluß der Zirbeldrüse und Hypophyse und ihrer Erkrankungen auf 
die körperliche und geistige Entwicklung. Im 1. Fall trat bei einem 6jährigen Knaben 
infolge krankhafter Herabsetzung der Funktion der Zirbeldrüse körperliche Frühreife 
ein. Der Knabe ist 145 cm groß, hat ein Gewicht von 43 kg, die sekundären Geschlechts- 
merkmale sind übermäßig entwickelt. Verf. bezeichnet den Knaben auch als geistig 
frühreif. Er teilt mit, daß der Knabe mit 5!/, Jahren lesen konnte, seit dieser Zeit in 
die Schule geht und gut mitkommt. Sein Gedächtnis für Zahlen und Daten sei außer- 
gewöhnlich gut, dagegen falle bei dem Knaben eine große motorische Unruhe und 
ein läppisches Benehmen auf. Im 2. Fall handelt es sich um einen 11 jährigen Knaben, 
bei dem seit seinem 2. Lebensjahr eine starke Fettsucht auffiel. Bei der Untersuchung 
zeigte sich außerdem eine Genitalatrophie. Das Gesichtsfeld ist konzentrisch einge- 
schränkt, Farben werden rechts richtig erkannt, links nur Rot. Von den psychischen 
Eigenschaften berichtet der Verf.: der Gesichtsausdruck sei stumpf, die Intelligenz 
sehr gering, der Knabe sei phlegmatisch und ein sehr schwacher Schüler. Die Ursache 
der krankhaften Veränderungen ist in einer Geschwulst an der Hypophyse zu sehen. 

Olga Marum (Köln a. Rh.). 

Talbot, Fritz B.: Metabolism study of a ease simulating premature senility. 
(Stoffwechseluntersuchungen bei einem Fall von anscheinend vorzeitiger Senilität.) 
(Children’s med. dep., Mass. gen. hosp., Boston.) Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 25, 
H. 1/6, S. 643—646. 1923. 

12jähriges Mädchen von normaler Größe und normalem Gewicht, aber mit durchaus 
senilen Gesichtszügen (Abbildung) und einem Blutdruck von 182. Die Mutter des Mädchens 
war bei der Geburt desselben 18 Jahre gewesen und hatte dasselbe senile Aussehen gezeigt. 
Sie starb mit 28 Jahren. Der Vater war ein großer kräftiger Mann und starb durch einen Un- 
fall. Das Mädchen machte bis zum Alter von 6 Monaten einen normalen Eindruck, dann wurde 
sie das Ebenbild ihrer Mutter. In der Schule blieb sie 2 mal sitzen. Vorübergehende Krank- 
heiten und Wechsel des Wohnorts waren daran schuld. Der Lehrer erklärte sie für eine gute 
Schülerin. Zeichen einer innersekretorischen Störung fehlten. Pubertätszeichen waren nicht 
vorhanden, aber Aussehen und Stimme waren die einer alten Frau. Stoffwechseluntersuchung 
ergab keine Abweichung von der Norm. 2 Jahre später war der Zustand unverändert. 

Campbell (Dresden). 

Brelet, M.: Le diabète infantile. (Der Diabetes der Kinder.) Gaz. des höp. civ. et 
milit. Jg. 96, Nr. 39, S. 624—626. 1923. 

Besprechung an der Hand 5 neuerschienener französischer Bearbeitungen. Die 
Ätiologie ist noch ganz unklar, Zusammenhang mit Erkrankung der Bauchspeichel- 
drüsen wird von den meisten Autoren abgelehnt, auch die Beziehungen zu den übrigen 
inneren Drüsen in Frage gestellt. 3 Erkrankungsformen werden unterschieden, leichte, 
der alimentären Glykosurie sich nähernde, schwere mit Ausgang in Koma oder Tuber- 
kulose als Todesursache und drittens eine Form mit dystrophischen Störungen, die dem 
Diabetes vorausgehen. Therapeutisch werden keinerlei neue Ratschläge gegeben. 

Reiss (Tübingen). 

Klotz, Max: Die Rachitis. Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. Bd. 24, S. 254 
bis 309. 1923. 

Verf. hält die Annahme, daß die Rachitis während des Krieges zugenommen habe, 
zum mindesten für fraglich, eine Zunahme der Rachitis durch die in der Kriegszeit 
mangelhafte Ernährung der Mütter während der Schwangerschaft lehnt er als unge- 
nügend bewiesen ab. Die schweren Formen der Rachitis und die’ Spätrachitis aller- 
dings seien in der Nachkriegszeit häufiger geworden. Klotz erachtet eine genauere 
Festlegung des Begriffes ‚„Rachitis‘, als wir sie bisher haben, für wünschenswert. Hin- 
sichtlich der Lokalisation der Rachitis hebt Verf. hervor: die Zähne, die Kraniotabes, 
die Skoliose und die Kyphöse, die Muskulatur, das Gefäßsystem, das Nervensystem, 
die rachitischen Krämpfe, den Hydrocephalas, ferner die kongenitale Rachitis und die 


zi AR: 


rachitische Knochenbrüchigkeit. Zu dem Kapitel „Gefäßsystem‘‘ ist zu bemerken, 
daß- Verf. bei seinen Untersuchungen röntgenologisch durchweg normalgroße Herzen 
bei rachitischen Kindern fand, während bisher die meisten Forscher durchschnittlich 
ein vergrößertes Herz feststellten. Die pathologische Chemie der Rachitis ist in den 
letzten Jahren nicht wesentlich gefördert worden. Auch die Fragen über die inneren 
und äußeren Ursachen und die dadurch bedingte Entstehung der Rachitis bedürfen 
dringend weiterer Klärung. Der Aufsatz ist wegen seiner übersichtlichen Darstellung 
und kritischen Bewertung der Ergebnisse der einschlägigen Arbeiten sehr lesenswert. 
| Többen (Münster). 

Wimmenauer: Ein Beitrag zur Rachitisstatistik. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. 
Schulgesundheitspfl. Jg. 36, Nr. 7, S. 201—214. 1923. 

Die stark abweichenden Zahlen über die Verbreitung der Rachitis unter den Schul- 
kindern der deutschen Städte beruhen auf der Verschiedenheit der von den einzelnen 
Autoren angewandten Untersuchungsmethoden. Verf. bezeichnet als Rachitis 1. Grades 
leichte Schädel- und Brustkorkveränderungen in Verbindung mit dem einen oder 
anderen Begleitsymptom (in der Hauptsache Kiefer- und Wirbelsäulendeformitäten), 
als Rachitis 2. Grades schwere Schädel- und Brustkorbveränderungen allein oder in 
‘Verbindung mit Deformitäten der Gliedmaßen, als Rachitis 3. Grades schwere rachi- 
tische Verkrümmungen des gesamten Knochengerüstes oder rachitischen Zwergwuchs. 
Bei Anwendung dieser Finteilung erwiesen sich 1913 bei der Untersuchung der Mann- 
heimer Schulanfänger 64,1%, der Knaben und 47,0% der Mädchen als rachitisch. 
Bei.über ?/, aller Rachitisfälle handelte es sich um leichte Formen. Die rachitischen 
Kinder waren im Durchschnitt um 2—3 cm kleiner als ihre gesunden Altersgenossen. 
Die Trennung der Rachitisfälle nach Schulen und Stadtbezirken ergab, daß Zahl 
und Schwere der Rachitis abnahm, je weiter wir aus der Stadt herauskommen, d. h. 
je besser die allgemein hygienischen Lebensbedingungen der Bevölkerung sind. Bei 
Offenbacher Schulkindern fand Verf. in den Jahren 1921/22 im 1. Jahrgang 40,3%, 
Knaben und 37,0%, Mädchen rachitisch. Diese Zahlen bleiben weit hinter den Mann- 
heimer Friedenszahlen zurück. Eine Vermehrung der Rachitis unter der deutschen 
Schuljugend durch den Krieg erscheint hiernach nicht wahrscheinlich. Sowohl nach 
den Mannheimer als auch nach den Offenbacher Zahlen erscheinen die Knaben stärker 
von der Rachitis befallen als die Mädchen. Lehnerdt (Halle a. S.).. 

Johannessen, Christen: Kasuistische Mitteilung zur Beleuchtung der Ollierschen 
Waehstumsstörung. Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 25, H. 1/6, S. 294—305. 1923. 

Die von Ollier, Wittek u. a. beschriebene seltene Anomalie besteht in einer 
vorwiegend halbseitigen, angeborenen Störung des Knorpelwachstums, die namentlict; 
die langen Röhrenknochen betrifft und zu Verkürzung der Extremitäten führt. Es 
handelt sich hierbei um eine Verzögerung der Verknöcherung der Intermediärknorpeln 
mit gleichzeitiger Entwicklung von Knorpeltumoren an den Epiphysenknorpeln de: 
langen Röhrenknochen. Die histologische Untersuchung eines vom Verf. zu therapeu- 
tischen Zwecken exstirpierten Gewebsstückes ergab zellreiche Knorpelzellen ohn- 
Zeichen einer Neubildung oder einer Entzündung. Das Leiden ist ziemlich stationär. 
jedenfalls nicht deutlich fortschreitend. Es macht außer der Verkürzung und der 
dadurch bedingten Gehstörung keine Beschwerden. Der dänische Orthopäde Bentzon 
hat für die von Ollier als Dyschondroplasie bezeichnete Wachstumsstörung auf Grun% 
interessanter anatomischer und Tierversuche einen vom Sympatbicus ausgehende: 
Nerveneinfluß als Ursache hingestellt. Zappert (Wien). 

Nissen, Karl: Beiträge zur Kenntnis der Thomsenschen Krankheit (Myotonia 
congenita) mit besonderer Berücksichtigung des hereditären Momentes und seiner Be- 
ziehungen zu den Mendelschen Vererbungsregeln. (Med. Klin., Univ. Kiel.) Zeitschr. 

f. klin. Med. Bd. 97, H. 1/3, S. 58—93. 1923. 

Die Arbeit ist eine Zusammenfassung des über die Thomsensche Krankhe:: 

Bekannten, bringt aber auch einige Beobachtungen aus der Familie des Verf. (es is: 


= 30, zu 


die Thomsens), in der die Erkrankung erblich ist. Aus der Geschichte der Krank- 
heit ist bemerkenswert, daß Leyden der erste Beschreiber war. Zur Symptomato- 
logie wird erwähnt, daß die charakteristische Intentionsrigidität sich schon bei kleinen 
Kindern in Blick und Lidaufschlag bemerkbar macht. Auffallender wird das Leiden 
erst, wenn die Kinder laufen lernen, und in der Schule beim Turnen. Aus den bei- 
gegebenen Familientgfeln geht der einfach dominante Erbgang der Thomsenschen 
Krankheit deutlich hervor, die auf Grund der anatomischen, elektrischen und mecha- 
nischen Untersuchungen den Myopathien zugerechnet werden muß. Jede Therapie 
war bisher erfolglos. Verf. schlägt die Bezeichnung ‚‚Myotonia hereditaria“ vor. 
Ernst Grünthal (München). 
Michael, Joseph ’C.: Infantile progressive museular atrophy of Werdnig-Hoffmann 
type. Case report with neeropsy. (Infantile progressive Muskelatrophie nach dem Typus 
Werdnig-Hoffmann. Fall mit Autopsie.) (Zaborat. of neuropathol., Harvard med. school 
a. children’s hosp., Boston.) Arch. of neurol. a. psychiatry Bd. 9, Nr. 5, S. 582—588. 1923. 
Ein 2 Monate altes Mädchen aus einer Familie, in der schon mehrere Kinder mit Lähmungs- 
erscheinungen starben, erkrankte mit fortschreitender Schwäche der Glieder, der Bauch- und 
Atmungsmuskeln, Atrophien ohne fibrilläre Zuckungen, Entartungsreaktion, Verminderung 
des Muskeltonus und Verlust der Sehnenreflexe an den Beinen. Tod nach 4 Monaten. Die 
anatomische Untersuchung ergab Zellausfall, starke chronische Zelldegeneration, geringe akute 


Zellveränderungen in den Vorderhörnern in der ganzen Ausdehnung des Rückenmarkes, Mark- 


verminderung in den vorderen Wurzeln und den Brachialplexus, atrophische Prozesse in den 
Muskeln. 


Der Werdnig-Hoffmannsche Typus ist nach dem Verff. identisch mit der 
von Krabbe abgegrenzten 2. Form der Amyotonia congenita, die durch Atrophien 
der Vorderhornzellen und Muskeln bei positiver erblicher Familiengeschichte gekenn- 
zeichnet ist. Das Auftreten von Symptomen schon vor der Geburt (Fehlen der Intra- 
uterinbewegungen) oder erst nach Vollendung des 1. Halbjahres bildet kein unter- 
scheidendes Merkmal. Die 1. Form hingegen, welche der Amyotonia congenita von 
Oppenheim entspricht, bei der die Veränderungen auf die Muskeln beschränkt sind 
und die Prognose günstig ist, ist als ein besonderes, gut umschriebenes Syndrom 
anzusehen. Zingerle (Graz). 

Reiche, A.: Über Neuralgien im Kindesalter. Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 26, 
H. 1, S. 34—42. 1923. 

Das Vorkommen von Neuralgien im Kindesalter scheint nicht so selten zu sein, 
wie man es nach den Angaben der Literatur annehmen sollte. Verf. hat von Oktober 
1918 bis Oktober 1922 unter ca. 1500 Kindern in der Sprechstunde bei 17 Kindern 
Neuralgien beobachtet (dazu kommen noch 3 Fälle, die er zwischen Absendung der 
Arbeit und Korrektur sah). Von diesen 20 Kindern waren 6 im vorschulpflichtigen, 
die übrigen im schulpflichtigen Alter. Die Mehrzahl waren Knaben. Verf. glaubt 
sogar, daß die Zahl der an Neuralgien erkrankten Kinder noch viel größer gefunden 
würde, wenn man bei Reihenuntersuchungen in der Schule mehr auf Nervendruckpunkte 
achten würde. Die Krankheitserscheinungen weichen von den von Erwachsenen her 
bekannten kaum ab, insbesondere sei hervorzuheben, daß kaum ein Nerv bevorzugt 
wird. Selten auch sei die Neuralgie auf einen Nerv beschränkt. Dies habe Verf. 
nur 2 mal beobachten können: einmal war lediglich der N. suprainfraorbitalis befallen, 
Ursache Ungleichheit der Augen; das zweite Mal der Ischiadicus nach einer Butolankur. 
Sonst waren am häufigsten befallen: die Nn. occipitales, sodann der N. suprascapularis, 
besonders die Äste für den M. supra- und infraspinatus, sowie Teile des N. medianus 
und ulnaris. Am Bein waren es besonders die Druckpunkte des N. obturat., N. saphenus 
und Plexus sacralis. Die Klagen der Kinder bestanden in Kopfschmerzen und ziehen- 
den Schmerzen in verschiedenen Teilen des Körpers, ferner Mattigkeit, Appetitlosig- 
keit, mitunter Schwindelgefühl und Ohnmachten und gelegentlich Frösteln. Dazu kam 
starke Blässe des Gesichtes. Bei 6 Kindern bestand Lassegue, bei 2 Kindern freiwilliges 
Hinken wie bei Coxitis. Atrophien waren in keinem Falle nachweisbar. Verf. bespricht 


z g 


einige Fälle genauer und kommt dann auf die Ätiologie zu sprechen. Als solche scheint 
ihm die Grippe von gewisser Bedeutung zu sein, ferner hat er beobachten können, 
daß neuropathische Kinder (Bettnässen, frühere Krämpfe, allgemeine Reizbarkeit) 
besonders anfällig für Neuralgien sind. Die Diagnose sei nicht immer ganz einfach. 
Differentialdiagnostisch kommen u. a. Poliomyelitis und Coxitis in Betracht. Die 
Prognose für die vollkommene Heilung des Leidens sei besser wie beim Erwachsenen. 
Die Behandlung sei im allgemeinen dieselbe wie beim Erwachsenen. In schweren Fällen 
könne die Vornahme einer Vaccineurinbehandlung angeraten werden. A. Isserlin. 

Feer, E.: Eine eigenartige Neurose des vegetativen Systems beim Kleinkinde. Er- 
gebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. Bd. 24, S. 100—122. 1923. 

Auf Grund seiner klaren Beobachtungen an 6 Kindern im Alter von 1?/,—31/, 
Jahren kommt Feer zur Aufstellung eines neuen interessanten Krankheitsbildes, 
das durch folgende Symptome charakterisiert ist: Beginn mit Verminderung des 
Appetits, Schlafstörung, psychische Verstimmung, Verdrossenheit und Weinerlich- 
keit; etwas später: anhaltende Schweißausbrüche mit Ausbruch von Miliaria rubra 
und Desquamation der Haut, besonders an Händen und Füßen, Cyanose der Nase, 
Hände, Füße, Hypotonie der Muskulatur, Herabsetzung der Motilität, hauptsächlich 
Schwäche beim Gehen, Sitzen, Stehen, Tremor, dabei grobe Kraft der einzelnen Muskel- 
gruppen nicht wesentlich herabgesetzt, Reflexe nicht gestört; Pulsbeschleunigung, 
auch im Schlafe; Erhöhung des Blutdrucks. Verlauf: rasche Ausbildung der Sym- 
ptome, Höhestadium 2—4 Monate, allmähliches Abklingen, dauernde Heilung; nur 
in einem Fall Tod durch intercurrente Sepsis. Nosologische Stellung: Neurose 
des ganzen vegetativen Systems, mit Überwiegen vagotonischer Symptome. Ätiologie 
unklar. Auffallendes Überwiegen des weiblichen Geschlechtes (5), Lebensalter etwa 
2 Jahr (5), Jahreszeit: Januar bis April (Jahreszeit der inneren Sekretion nach Moro). 

| -Schob (Dresden). , 

Bergmann, E., und R. Kochmann: Pneumonie und neuropathische Konstitutien 
im Kindesalter. (Unw.-Kinderklin., Freiburg i. Br.) Klin. Wochenschr. Jg. 2, Nr. 22, 
S. 1011—1015. 1923. 

Schwere und Verlauf der Lungenentzündung wird im Kindesalter wesentlich 
vom Gesamtzustand mitbeeinflußt, wobei neuropathische Veranlagung nach den 
Beobachtungen des Verf. eine ausschlaggebende Rolle spielt. Die darin begründete 
starke psychische Übererregbarkeit, Ängstlichkeit und Verstimmungsneigung führt 
bei allen ärztlichen Maßnahmen die Gefahr des Kollapses herbei und kann auch bei nur 
geringfügiger Ausdehnung der Lungenerkrankung das Leben ernsthaft gefährden. 
Die Prognose ist bei solchen Kindern durchweg ernster zu stellen als sonst. Am besten 
hat sich Freiluftbehandlung bewährt, die den bis dahin völlig fehlenden Schlaf und 
EBlust herbeizuführen vermag. Reiss (Tübingen). 

Lange, Cornelia de: Some aspeets of neuropathy in infaney. (Einige Erschei- 
nungsformen der Neuropathie im Säuglingsalter.) Americ. journ. of dis. of children 
Bd. 26, Nr. 1, S. 88—90. 1923. 

Verf. schildert 3 neuropathische Kinder mit dyspeptischen Störungen und Zwangs- 
haltungen (Rückwärtsbeugung des Kopfes und Anziehen der Beine), von dem 2 nach 
Behandlung genasen. Er nimmt an, daß bei derartigen Kindern sich im späteren Leben 
die typischen nervösen Erscheinungen entwickeln. Bei dem Kind, das zugrunde ging, 
fand sich Atemstörung vom Cheyne-Stokesschen Typus, was Verf. auf Störungen 
ausgehend von der Hirnrinde zurückführt. Er trennt die hier geschilderte Gruppe 
scharf von den Formen, die mit hypertonischen Escheinungen Hand in Hand gehen. 

| Reiss (Tübingen). 
© Lust, F.: Diagnostik und Therapie der Kinderkrankheiten. Mit speziellen Arznei- 
verordnungen für das Kindesalter. Ein Taschenbuch für den praktischen Arzt. 3. neu- 
bearb. Aufl. Berlin u. Wien: Urban & Schwarzenberg 1923. VII, 465 S. G. Z. 9,6. 
Das vorliegende Buch sei den Lesern dieser Zeitschrift warm empfohlen. Lust 


— 41] — 


hat die Aufgabe, die er sich gestellt hat, in praktisch wissenswerten Fragen zur raschen 
und vorläufigen Orientierung Ratgeber zu sein, aufs beste gelöst. Verf. hat wohl ab- 
sichtlich auf eine Darstellung akuter Psychosen im Kindesalter verzichtet. Durch die 
Einfügung eines derartigen Kapitels würde das Buch, meiner Auffassung nach, ge- 
winnen. Auch wäre es wohl zweckmäßig, wenn in dem Abschnitt, der von der Ence- 
phalitis epidemica handelt, etwas näher auf die momentan im Vordergrund des Inter- 
esses stehenden psychischen Veränderungen bei Kindern eingegangen würde. Den 
Praktiker würde endlich ein ganz kurzer Überblick über heilpädagogische Bestrebungen 
interessieren. Diese Vorschläge sollen jedoch nicht den Wert des ausgezeichneten, 
sehr übersichtlich dargestellten Buches beeinträchtigen. Sehr zweckmäßig ist ein An- 
hang, der ein Verzeichnis von Anstalten zur Aufnahme kranker Kinder bringt. 
R. Hirschfeld. 

Mosse, Karl: Die Hypnose im Kindesalter. 1. Mitt. (Uniw.-Kinderklin., Berlin.) 
Monatsschr, f. Kinderheilk. Bd. 25, H. 1/6, S. 486—499. 1923. 

Mosse teilt seine Erfahrungen in der Kinderhypnose mit. Die Hypnotisierbarkeit 
beginnt durchschnittlich mit dem 6. Lebensjahre. Erschwerend wirken geistige 

‘ Schwäche und schwere Konzentrierbarkeit. Als ein Anzeichen leichter Einschläferung 

erschien das Fehlen des Würgreflexes. Posthypnotischen Befehlen waren die meisten 
Kinder sehr unzugänglich. Schädliche Wirkungen ergaben sich nie. Die Besserung 
der Schlafstörungen durch Hypnose war sehr befriedigend, die des Einnässens war 
oft recht gut, oft aber blieb sie auch ganz aus. Im allgemeinen erwies sich die Kinder- 
hypnose dann als sehr empfehlenswert, wenn sie zur Herbeiführung eines Ruhezustandes 
diente oder wenn innerhalb des Heilschlafes irgendeine Übungstherapie angewendet 
werden konnte. Gruhle (Heidelberg). 


Normale Pädagogik: 

Kretzschmar, Johannes: Die Wandlung der Erziehungswissensehalt seit 1880. 
Dtsch. Schule Jg. 27, H. 6, 8. 229—237. 1923. 

Eine kurze Zusammenfassung der Gedanken, die der Verf. schon verschiedentlich 
vorgelegt hat. Die Herbartsche Begründung der Pädagogik auf Ethik und philo- 
sophische Psychologie ist, wie die spekulative Begründung der Einzelwissenschaften 
überhaupt, gefallen. Erst ist die Psychologie Tatsachenwissenschaft geworden, dann 
wurde die Ableitung der pädagogischen Ziele aus der Ethik abgelehnt. Wenn die 
Wertwissenschaft seit Natorp jetzt an die Stelle der Ethik das Wertsystem überhaupt 
setze, so sei, von anderen Einwänden abgesehen, damit die Pädagogik zu der rein 
technischen Wissenschaft der Verwirklichung der Werte herabgedrückt, die entschei- 
dende pädagogische Frage, nämlich die nach der Auswahl der Kulturgüter für die Er- 
ziehung des einzelnen, hänge in der Luft. Diese Auswahl habe zur Voraussetzung 
eine historische und psychologische Analyse der Erziehungswirklichkeit, also auch hier 
eine Tatsachenwissenschaft. Und die Erziehungsphilosophie begründet die Päda- 
gogik nicht mehr, sondern rückt an das Ende der Pädagogik, wo sie, wie gegenüber den 
übrigen Einzelwissenschaften die Aufgabe übernimmt, die Erkenntnistheorie der 
Pädagogik zu bringen und die Ergebnisse der Pädagogik der durch eine induktive 
Metaphysik, wie sie Fechner geschaffen und Wundt und Külpe vertreten habe, 
erarbeiteten Weltanschauung einzufügen. Herman Nohl (Göttingen). 

Das Pädagogische Institut der Stadt Wien. Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- 
u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 1, S. 6. 1923. 

Es handelt sich hier um geringfügige Erweiterungen einer alten Institution, die 
dadurch mehr an Hochschulcharakter gewinnen soll. Eine Reihe von den früheren 
Dozenten wurde zweckmäßig durch andere ersetzt, an den Gegenständen und an den 
Besuchsbedingungen wurde wenig geändert. Experimentelle Psychologie und Heil- 
pädagogik finden nur insofern die ihnen zukommende Berücksichtigung, als sie über- 
haupt als Gegenstände vorgetragen werden. Die Möglichkeit einer intensiven prak- 


— 12 — 


tischen Betätigung auf diesen Gebieten für weitere Kreise der interessierten Lehrer- 
schaft wird wohl angestrebt, ist aber sowohl in bezug auf die entsprechenden Örtlich- 
keiten wie auch auf die Zuweisung von ausbildungsbeflissenen Arbeitskräften nicht 
gegeben. Die genannten Disziplinen sind aber gerade nur dann wirklich nutzbringend, 
wenn in großem Stil gearbeitet werden kann, wie man ja aus den Arbeitsgemeinschaften 
des Deutschen Reiches weiß. Es ist zu hoffen, daß mit der Zeit die Steigerung der mate- 
riellen Zuschüsse mit der Erkenntnis der Notwendigkeit der genannten Wissenschaften 
Hand in Hand gehen wird. Lazar (Wien). 

Inhoven, W.: Der erste Sprech- und Leseunterriceht auf phonetischer Grundlage 
bei Verwirkliehung des Arbeitssehulgedankens. Zeitschr. f. d. Behandl. Schwach- 
sinniger Jg. 43, Nr. 4, S. 55—59 u. Nr. 5, S. 74—79. 1923. 

Der Verf. will den Weg betreten, den die Natur geht bei der Sprachentwicklung 
im vorschulpflichtigen Alter. Zu diesem Behufe will er den Schulneulingen die Laute 
als lebensvolle Gebilde geben und jeden Laut durch Ohr, Auge und Getast vermitteln, 
so daß auch die motorische Seite der Sprache beachtet wird; die synthetische Übung 
der Verbindung der Laute zu Silben hat den Vortritt vor der (übrigens unentbehrlichen) 
Analyse des Wortes in die Laute. Die Normalwörtermethode entspricht diesen Forde- 
rungen nicht, er nimmt den Laut als Ausgangspunkt, indem er ihm analoge Geräusche 
aus dem Erfahrungskreise des Kindes entnimmt. Bei der Bearbeitung im Sinne der 
obigen Grundsätze bedient sich Inhoven phonetischer Tafeln, die in 24 Bildern je 
ein Lautsprechbild als natürliche Fixierung des gesprochenen Lautes bieten. Vom 
Standpunkt der modernen Phonetik aus müssen manche Bedenken aufsteigen. Einzel- 
laute sind künstliche Abstraktionen, die auf keine Weise lebensvoll gemacht werden 
können. Sie decken sich durchaus nicht mit den Interjektionen ah, oh, uh, hm usw., 
die sog. analogen Geräusche sind kaum Vergleiche, durchaus keine Deckung. Die 
Schwierigkeiten, die sich I. durch den Ausgangspunkt vom Stellungslaut schafft. 
‘zeigen sich deutlich bei den Verbindungsübungen, die er beim Silbenlesen vornehmen 
muß. Es gibt nur zwei Wege des Lesenlehrens. Entweder man faßt das Lesen auf als 
eine Technik, als einen Mechanismus, der so bald als möglich zu überwinden ist, und 
wählt dazu das letzte natürliche Sprachelement, die Sprechsilbe, zum Ausgangspunkt. 
oder man lehrt lesen, wie das Kind sprechen lernt, indem man lebendige Sprache dem 
Auge darbietet wie dem Ohr und das Lesen zu einem Akte der fortschreitenden Diffe- 
renzierung macht. Paul Schumann (Leipzig). 

Freudenthal, Gunnar: Über Beschaffenheit und Entstehung der Sprachbegriffe 
nebst Anwendung auf die Pädagogik der fremden Sprachen. Arkiv f. is och peda- 
gogik Bd. 2, H. 1/2, S. 1—53. 1923. (Schwedisch.) 

Die übliche Unterrichtstechnik der fremden Sprachen wird von einer Seite über- 
schätzt, von der anderen unterschätzt; bei dem einen soll die Methode alles machen, 
und andere lehren ohne besondere Methode fremde Sprachen sprechen. Der wissen- 
schaftliche Pädagoge muß das durch die Erfahrung festgestellte System der Sprach- 
lehre beachten und richtig verwerten unter Berücksichtigung der Individualität der 
Schüler und ihrer Sprecheigenheiten. Experimentelle Untersuchungen über das Asso- 
ziationsverhalten fremdsprachigen Worten gegenüber werden eingehend berichtet und 
das Verhalten der Muttersprache zur Bildung der fremden Sprache erörtert. Die 
Entwicklung der Sprache des Kindes wird im Anschluß an Sterns Buch ‚Die Kinder- 
sprache“ geschildert. S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 

Smith, Frank: Bilingualism and mental development. (Zweisprachigkeit und 
geistige Entwicklung.) Brit. journ. of psychol. Bd. 13, Pt. 3, 8. 271—282. 1923. 

Frank Smith untersuchte durch verschiedene Prüfungen die bilingualen Schul- 
kinder, die zwei Sprachen frühzeitig erwerben und sprechen lernen. Es zeigte sich 
nun, daß die monoglotten (einsprachigen) Kinder im Alter von 8—11 Jahren bessere 
Fortschritte als die zweisprachigen machten in der Fähigkeit des Ausdruckes, in der 
Wahl der Worte und in der Genauigkeit des Denkens. Jedenfalls erwies sich, daß die 


wer: icu 


Zweisprachigkeit bei den Schulkindern in Wales keinen Vorteil darstellt in der intel- 
lektuellen Ausbildung. Bei 4 verschiedenen Testprüfungen in 4 verschiedenen Schulen 
wurde im Durchschnitt das gleiche Resultat erzielt, wenn auch alle einzelnen Test- 
prüfungen nicht gleichmäßige Resultate ergeben. Die Prüfungen der freien Kompo- 
sition ergaben noch einen höheren Prozentsatz zugunsten der einsprachigen Kinder 
als die Prüfungen der Wortbildung und der vergleichenden Fehler. — Es dürften wohl 
Unterschiede bestehen bei der Stadt- und Landbevölkerung und je nach der Zeit des 
Erlernens der zweiten Sprache, ob gleichzeitig mit der ersten oder erst nach Gebrauch 
und Erlernung der einen Sprache. S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin)., 

© Weisser, Richard: Die geöffnete Zahlenpforte. Beiträge zur Methodik des Volks- 
und Hilfssehulreehnens. Post Hemfurth (Waldeck): Verlag Wegweiser 1923. 79 S. 
G.2.1.—. 

Von dem Ziel des Rechenunterrichts — Fertigkeit im reinen Zahlenrechnen und 
Einführung in das rechnende Leben — ausgehend, zeigt der Verf. die besonderen 
Schwierigkeiten und fordert, vornehmlich mit Rücksicht auf die lebhaften, die lang- 
samen und auch die unbegabten Schüler Belebung der toten Zahlen durch selbsttätige, 
vielseitige Darstellung, bis die spielende Phantasie von dem denkenden und ordnenden 
Verstande abgelöst wird, daher Rechnen mit wirklichen Größen, nicht mit gedachten 
Ziffern und Formeln, Hinausschieben des schriftlichen Rechnens, ausgiebiges Üben 
nach den Grundsätzen der Vollständigkeit und Lückenlosigkeit. Ein Lehrgang für 
die 4 Grundschuljahre legt vor allem Wert auf die Entwicklung der ersten Rechen- 
begriffe. Den Kern der Schrift bildet der Abschnitt über Lehr- und Lernmittel. Hier 
empfiehlt der Verf. seinen Rechenapparat „Wegweiser“, der vor den sonst gebräuch- 
lichen, auch vor der russischen Rechenmaschine, wesentliche Vorteile bietet. Er ge- 
währt bis in die Tausender hinein eine gute Veranschaulichung, bringt den Grundsatz 
der Zahlenreihe klar zum Ausdruck und gestattet eine sichere Einführung in den Auf- 
bau unserer Zahlen. Der „Wegweiser‘‘ wird für das Bruchrechnen ergänzt durch ein 
anderes Hilfsmittel, zwei Bruchscheiben mit farbiger Darstellung der gebräuchlichsten 
Brüche. Wie der Verf. sein Lehrmittel benutzt wissen will, zeigt er ausführlich in den 
Einzelabschnitten über den Unterrichtsbetrieb, den Zahlenraum bis 20, bis 200, über 
200, die Bruchrechnung und das heimatkundliche Rechenbuch. Die Schrift und die 
Lehrmittel, namentlich ‚Der Wegweiser‘ sollten wohl beachtet werden. Dreßler. 

Bavin, J. T.: The gramophone and the musical edueation of the child. (Das 
Grammophon und die musikalische Erziehung.) Child Bd. 13, Nr. 11, S. 332-334. 1923. 

Die musikalische Erziehung darf nicht mit der Quälerei durch die Technik beginnen, das 
Kind muß zuerst Freude an der Musik bekommen, indem es singen und spielen hört. Hierzu 
bietet das Grammophon wertvolle Unterstützung. Mit seiner Hilfe kann Kind alle Arten 
Musik kennen lernen, durch Wiederholung sich einprägen und so ein Gefühl fir Rhythmus, 
Melodie und Harmonie bekommen, sein Ohr und sein musikalisches Gedächtnis ausbilden. 

Lotte Nohl (Berlin). 

Vliet, W. C. van: Der Handswerksunterrieht in Verbindung mit dem Volksschul- 
gesetz. (Niederländ. Vereinig. d. Schulärzte. Utrecht, Süzg. v. 13. V. 1923.) Neder- 
landsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 67, 2. Hälfte, Nr. 7, S. 733—742. 1923. (Holländisch.) 

Die Ref. rügt gewisse, auch durch andere Ärzte und Lehrerinnen zum Ausdruck 
gebrachte Mängel des Handwerksunterrichtes. Sie berichtet über den Kampf der hollän- 
dischen Schulärzte gegen die Stadtverwaltungen, welche den Handwerksunterricht auf den 
Nachmittag verlegen und verlangt, daß der Handwerksunterricht auf die Vormittage inner- 
halb der Schulzeit verlegt werde, um dadurch einer Mehrbelastung namentlich der Mädchen 
vorzubeugen. Walther Riese (Frankfurt a. M.). 

Reijs, J. H. 0.: Körperliehe Erziehung. (Niederländ. Vereinig. d. Schulärzte, 
‚Utrecht, Süzg. v. 13. V. 1923.) Nederlandsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 67, 2. Hälfte, 
Nr. 7, 8. 742—757. 1923. (Holländisch.) 

Die körperliche Erziehung muß Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit der Schulärzte 
werden. Sache des Schularztes soll es sein, die körperliche Erziehung zu beaufsichtigen. Die 


körperliche Erziehung des schulpflichtigen Kindes gehört ganz in die Hand der Schule. Eine 
richtige körperliche Erziehung erfordert täglich wenigstens 40 Minuten Gymnastik, jede Woche 


— 44 — 


einen Spielnachmittag während der Unterrichtszeit, jeden Monat eine Wanderung; regelmäßige 
Treffahrten von Kindern müssen veranstaltet werden. Walther Riese (Frankfurt a. M.). 

Seheiblauer, M.: Die rhythmische Gymnastik und das Kleinkind. Schweiz. Zeitschr. 
f. Gesundheitspfl. Jg. 8, H. 2, S. 282—283. 1923. 

Kurze Darlegung der Dalcrozeschen Anschauungen durch eine Musiklehrerin. 
Durch rhythmische Gymnastik wird das Kind nicht nur auf musikalische Tätigkeit 
vorbereitet, sondern auch für Musik empfänglich gemacht. Mit Hilfe des Rhythmus 
wird ferner Ausdauer, Kraft, Geistesgegenwart, Beherrschung der Muskeln wie der 
Nerven ausgebildet, der Wille wird gestärkt, und der Körper dem Willen gefügig 
gemacht. G. Tugendreich (Berlin). 

Knoop, Jeanne: Sexuelle Erziehung. Sex. hyg. Tl. 3, Lfrg. 1, S. 1—20. 1923. 
(Holländisch.) 

Die Verf. beschreibt sehr anziehend ihre Erfahrungen bei den Versuchen der Er- 
ziehung junger Mädchen in sexualibus. Den Hauptwert legt sie auf die sittliche Er- 
ziehung. Verantwortlichkeitsgefühl in jeder Hinsicht will sie wecken. Dazu dient ihr 
einmal die Belehrung der Schülerinnen über die Physiologie und Ethik der Mutter- 
schaft, sodann über die Aufzucht und Erziehung des Kindes. Am besten gibt diesen 
Unterricht eine Ärztin. Das, wie sie es nennt, niedrigere Sexualleben wird nicht oder 
kaum besprochen — die besten Erfolge sah sie bei den 17 —19 jährigen Schülerinnen der 
höheren Töchterschule (Haag). Bei den l5jährigen Volksschülerinnen (Fortbildungs- 
und Haushaltsschulen) erlebte sie Enttäuschungen, die sie auf die Unreife der Hörerin- 
nen, hauptsächlich auf ihre Unwissenheit zurückführt. Sie glaubt, daß hier gelegent- 
lich sich bei der Lektüre ergebende Hinweise vonseiten der Lehrerin etwas nützen kön- 
nen. Bei Mädchen und Frauen niederer Bildungsstufe muß man später Aufklärungs- 
vorträge halten. — Die Verf. stellt immer wieder die rein ethische Bedeutung der sexuel- 
len Erziehungsversuche in den Vordergrund. Selbstbewußtsein, Verantwortungsgefühl 
sind die Kräfte, die sie stärken will. Die Furcht vor Schande oder Geschlechtskrankheit 
zu wecken, hält sie für völlig verfehlt. Sie bemüht sich, an ihren Bestrebungen selbst 
eine scharfe Kritik zu üben. Creutzfeldi (Kiel). 

Adler, Alfred: Die Gefahren der Isolierung. Zentralbl. f. Vormundschaftsw., 
Jugendger. u. Fürsorgeerziehg. Jg. 15, Nr. 3, S. 53—54. 1923. 

In kurzer, gemeinverständlicher Form legt Adler die Grundgedanken seiner Neu- 
rosenlehre und deren Folgerungen für die Jugenderziehung dar. Er betont zunächst, 
daß das Wesen der Persönlichkeit gerade auf ihrer Beziehung und Stellungnahme zur 
Gemeinschaft beruht. Alle geistigen Leistungen erhalten dadurch erst Sinn und Wert. 
Daraus ergibt sich eine dauernde Spannung zwischen Individuum und Allgemeinheit, 
die leicht die Stimmung der Unsicherheit und Minderwertigkeit aufkommen läßt. Die 
Erziehung muß dem vorbeugen und schon beim Kinde den geistigen Prozeß des ‚Wurzel- 
schlagens‘‘ fördern. Dies kann durch organische Schwächen des Kindes erschwert 
werden, wodurch es leicht in eine feindselige Haltung zum Leben gerät, aber ebenso 
können Erziehungsfehler wirken, wie Lieblosigkeit oder Verzärtelung. In dem Maße, 
wie der Kontakt mit dem Leben verloren geht, entwickelt sich eine falsche egozentrische 
Einstellung zur Umwelt. Hinter den Absonderlichkeiten des Neurotikers, des Un- 
sozialen und Verbrechers verbirgt sich nur die Isoliertheit seines Seelenlebens. Die 
Erziehung des Kindes muß daher eine Erziehung zur Gemeinschaft sein, wozu die 
Familie den Grund legen soll. Daß die meisten Kinderfehler auf einer solchen geistigen 
Isolierung beruhen, wird vielfach noch verkannt, weil die Zusammenhänge sehr versteckt 
liegen. Walter Hoffmann (Leipzig). 

© Montessori, Maria: Die Selbsterziehung des Kindes. (Die Lebensschule. Schriften- 
folge des Bundes entschiedener Sehulreformer. Hrsg. v. Franz Hilker. H. 12.) Berlin: 
C. A. Schwetschke & Sohn 1923. 79 S. u. 6 Taf. G. Z. 1,50. 

Die Aufsätze von Dr. Maria Montessori „Der Weg zu meiner Erziehungs- 
methode‘ und „Grundlinien meiner Erziehungsmethode‘“ bieten demjenigen, der ihr 


ed 


Hauptwerk kennt, kaum etwas Neues. Die wichtigste Arbeit in dem Heft ist die von 
ClaraGrunwald „Erziehung und Unterricht im Dienst der natürlichen Entwicklung 
desKindes‘‘. Sie gibt eine Fülle von Anregungen, besonders wohl für den vorbereitenden 
Unterricht an psychopathischen und geistig zurückgebliebenen Kindern. Wie die 
Methode bei normalen Kindern wirkt, möchte man nach dem Lesen des Aufsatzes 
allein nicht entscheiden, auch nicht nach dem ‚Tagebuch einer Montessori-Lehrerin“ 
von Elsa Ochs, das eine gute Illustration zu der Ausführung von Clara Grunwald 
gibt. Zum Schluß betont Elisabeth Schwarz-Hierl noch einmal „Grundsätzliches 
über die Umgebung des Kindes“, doch wirkt das nach dem Vorangegangenen nur 
wie eine Wiederholung. Lotte Nohl (Berlin). 

Hutt, R. B. W.: The school psyehologist. (Der Schulpsychologe.) Psychol. clin. 
Bd. 15, Nr. 1/2, 8. 48—51. 1923. 

Verf. legt sich die Frage vor, welche Aufgaben der Schulpsychologe in einer Klasse 
mit normalen Schülern zu erfüllen hat. Die Norm bezieht er dabei auf die Erzieh- 
barkeit. „Normal sind diejenigen, welche nicht dauernd unfähig sind, aus dem Unter- 
richt in den gewöhnlichen Schulen den rechten Nutzen zu ziehen“. Dabei muß aber 
zugegeben werden, daß zwischen diesen Individuen immer noch die größten Unter- 
schiede bestehen können. Diesen muß der Schulpsychologe nachgehen und jedem 
Kinde die seiner Individualität angemessenste Behandlung ermöglichen. Wie dies 
in der Praxis durchzuführen ist, zeigt Verf. an der Hand einer Reihe von Beispielen. 

Ersch Stern (Gießen). 

© Weiß, Georg: Erziehung und Volkserneuerung. (Friedrich Manns pädag. Ma- 
gazin. H. 941.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1923. 16 S. G. Z. 0,75. 

Die Abhandlung sieht die Hoffnung in der zunehmenden Teilnahme aller Staats- 
bürger an den Angelegenheiten der Erziehung des Volksnachwuchses und fordert von 
den Erwachsenen ein vorbildliches Leben als die entscheidende Bedingung jeder Ent- 
wicklung der Jugend. Allerdings macht ihn die Mentalität der heute lebenden Genera- 
tion der Erwachsenen bedenklich. Die Jugendbewegung sieht er auch nicht ohne 
Skepsis an, doch „kommt sie den Bestrebungen einsichtiger Erwachsener, durch eine 
Verbesserung der Volkserziehung die innere Erneuerung des deutschen Menschen 
vorzubereiten, geraden Weges entgegen‘ und „hat im ganzen recht erfreuliche Früchte 
gezeitigt“. Usw. Man versteht nicht recht, warum dieser Aufsatz gedruckt werden 
mußte, wen er belehren soll und warum er geschrieben wurde. Herman Nohl (Göttingen). 

World federation of edueational associations. (Weltbund der Erziehungs- 
vereinigungen.) School review Bd. 31, Nr. 7, S. 483—485. 1923. 

Gelegentlich einer Tagung der nationalen (amerikanischen) Erziehungsvereinigung 
in San Francisco wurde unter Teilnahme von ca. €O Staatenvertretern ein ‚Weltbund 
der Erziehungsvereinigungen“ gegründet. Hauptgeschäftsstelle zunächst in San Fran- 
cisco. Man gibt sich der Hoffnung hin, durch diesen „Weltbund‘ ein internationales 
Zusammenwirken aller Erziehungsunternehmen zu erreichen und die Belehrung in 
Erziehungs- und Unterrichtsfragen aller Art allen Nationen und Völkern zugänglich 
zu machen. Näheres braucht wohl erst mitgeteilt zu werden, wenn der Weltbund 
über die Ausübung seiner Tätigkeit berichten kann. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Häberlin, P.: Kinderfehler, Wesen und Erziehung des Kleinkindes. Schweiz. 
Zeitschr. f. Gesundheitspfl. Jg. 3, H. 2, S. 260—268. 1923. 

Alles psychische Leben äußert sich in der Form der Handlung. Eine Handlung 
entspringt aus 2 Arten von Interessen, den Triebinteressen und den geistigen Inter- 
essen. Die Triebinteressen zerfallen in den Selbstbehauptungstrieb und den sozialen, im 
weitesten Sinne erotischen Trieb. Die geistigen Interessen bezwecken einen Ausgleich 
und Maß der Triebinteressen im Interesse der Gesamtheit; sie sind überindividuell im 
Gegensatz zu den Trieben, die nur dem Interesse des Individuums dienen. Das Kindes- 
alter etwa vom 3. bis 7. Lebensjahr ist ausgezeichnet durch die große Intensität der 
Triebinteressen; die allmähliche Entwicklung der geistigen Interessen führt zu einem 


— 46 — 


heftigen Kampf in diesem Alter zwischen Trieb und Geistesleben, auf dessen Ausgang 
Erziehung und Umgebung großen Einfluß hat. Nicht überrundene Maßlosigkeit der 
Triebinteressen führt zu Kinderfehlern, Nachwirkungen dieser Maßlosigkeit zu soge- 
nannten sekundären Fehlern. Zu den primären Fehlern gehört einerseits der über- 
mäßige Egoismus, der häufig kompliziert wird durch maßlose Liebesansprüche, an- 
dererseits die sexuelle MaBlosigkeit, die sexuelle Frühreife und die Autoerotik. Aus 
den primären Fehlern entstehen sekundäre, wenn die geistige Kraft nicht ausreicht zu 
ihrer Überwindung, aber groß genug ist, um dem Individuum die Schwäche bewußt 
zu machen. Daraus resultiert Unzufriedenheit, Minderwertigkeitsgefühl, Mutlosigkeit. 
Diese Gefühle führen zu Einsiedlertum, Schuldgefühl, mangelhafter Brauchbarkeit 
ım praktischen Leben, was Verf. als Zeichen geistigen Infantilismus anspricht. Eine 
andere Art sekundärer Fehler ergibt sich aus dem Bestreben, den Defekt zu verbergen, 
das führt zu Überkompensierung des Insuffizienzgefühles, zu Posieren, Selbstbetrug. 
Demselben Bestreben entspringt die Sucht derartiger Menschen nach Lob und äußerer 
Anerkennung und die Empfindlichkeit für Tadel. Das Ziel der Erziehung muß sein, die 
geistigen Interessen zu stärken, damit sie Herr über die Triebe werden können. Diese 
Herrschaft des Geistes wird besser durch allgemeine Disziplinierung erreicht als durch 
Bekämpfung der einzelnen Auswüchse des Trieblebens. Das Kind soll zu Konsequenz 
und Durchführung bei seinen Spielen angehalten werden und seinen Leistungen ent- 
sprechend zu kleinen Arbeitsleistungen herangezogen werden. Neben dieser positiven 
Erziehungsarbeit muß eine negative geleistet werden, d. h. es muß vermieden werden, 
das Triebleben des Kindes aufzureizen durch Verwöhnung, übermäßige Zärtlichkeiten, 
Ins-Bett-nehmen usw. Erna Lyon (Hamburg). 


Heilpädagogik und Anomalen - Fürsorge: 


Allgemeines: 

© Goepfert, Hans: Bericht über den ersten Kongreß für Heilpädagogik in München, 
2.—5. August 1922. Berlin: Julius Springer 1923. XII, 134 S. G.-M. 3.—, $ —.75. 

Der allzufrüh verstorbene jugendliche Autor hat sich durch Zusammenstellung 
von Autoreferaten der am I. Kongreß für Heilpädagogik in München gehaltenen Vor- 
träge ein bleibendes Verdienst um die Heilpädagogik geschaffen. Der Bericht bietet 
einen ausgezeichneten Überblick über den Umfang der Heilpädagogik; nicht alle 
Referate sind gleich ausführlich und nicht alle von allgemeinerem Interesse. M. Isser- 
lin, Psychiatrie und Heilpädagogik (S. 1—10). Als Originalartikel im Heft 1 dies. 
Zeitschr. erschienen. — K. Isemann, Die epidemische Encephalitis und ihre Be- 
ziehungen zur Heilpädagogik (S. 11—12). Der Vortragende entwickelt an Fällen, 
die von ihm beobachtet wurden, den heilpädagogischen Einfluß bei diesem Leiden. 
Nachdruck wird besonders auf die affektive und subjektive Beeinflußbarkeit dieser 
Fälle gelegt. — Fürstenheim, Zur Biologie des Hilfsschulkindes (S. 12, 13). F. hat 
nur in zwei Drittel seines Frankfurter Materiales mit Sicherheit angeborene geistige 
Schwächezustände finden können. Davon entfällt etwa ein Drittel auf krankhafte 
Fehlbildungen, die von der Ascendenz abzuleiten sind. Das andere Drittel der Schwach- 
begabten, die F. unter der Bezeichnung ‚Niederarten‘‘ zusammenfaßt, stammen aus 
einer körperlich gesunden, geistig aber minder begabten Bevölkerungsschicht, die. 
zumal in der Großstadt, mancherlei Lebensschädlichkeiten unterliegt, welche sich 
bei den Nachkommen auswirken. Das letzte Drittel besteht aus erworbenen geistigen 
Schwächezuständen. Durch Besserung der sozialen und pädagogischen Verhältnisse 
könnte nach F. etwa ein Viertel der Kinder vor der Hilfsschule bewahrt werden. — 
Th. Gött, Instinkte und Instinktschwäche des Kindes (S. 13—14). Von krankhaften 
Abweichungen des Instinktlebens sind wesentlich Instinktübermacht und Instinkt- 
schwäche zu unterscheiden. Erstere beruht auf ungenügender Entwicklung der hem- 
menden höheren Funktionen, letztere auf einem Fehlen oder zu schwacher Aus- 
bildung der Instinktmechanismen. Die Instinktschwäche bildet schon beim Säugling 


s di e= 


vor dem Zutagetreten der eigentlichen Intelligenzmängel das erste Zeichen des Schwach- 
sinns; beim älteren Kind zeigt sie sich in Störungen der Aufmerksamkeit, der Nach- 
ahmungstätigkeit, des Spielens und des Sprachbeginnes. — T. Schmidt - Kraepelin, 
Untersuchungen an Mannheimer Hilfsschulkindern (S. 14—17). Die Ausführungen 
gründen sich auf die Untersuchung von 212 Mannheimer Hilfsschulkindern. 40%, 
derselben stammten von ungelernten Arbeitern, 39%, lebten in guten oder doch ge- 
ordneten Verhältnissen, 34%, entstammten einer äußerst ärmlichen oder moralisch 
bedenklichen Umgebung. Alkoholmißbrauch der Väter war bei einem Sechstel der 
Kinder nachzuweisen. Geisteskrankheiten traten in der Ascendenz zurück, recht häufig 
aber war psychopathische Veranlagung der Erzeuger im Sinne gesteigerter gemütlicher 
Erregbarkeit anzunehmen. Unter 1076 Schwangerschaften, die in 200 der untersuchten 
Familien ermittelt werden konnten, führte nur rund ein Drittel zu anscheinend ge- 
sunder Nachkommenschaft. Ein Drittel erwies sich als geistig oder körperlich minder- 
wertig, ein Drittel starb frühzeitig. Rachitis (auch in schwerer Form) sowie Säuglings- 
krämpfe spielten in der Entwicklung der Kinder eine große Rolle. Die körperliche Ver- 
anlagung war bei etwa einem Drittel ganz schlecht. Nach der Methode von Binet- 
Simon war bei Schuleintritt ein durchschnittlicher Rückstand von 2!/, Jahren an- 
zunehmen. Ein Fortschritt im Unterricht fand bei 75% statt, während 25% sich als 
nahezu bildungsunfähig erwiesen. In 23%, der Fälle war keine bestimmte Ursache: 
der geistigen Minderwertigkeit festzustellen. In 28%, war unmittelbare Erblichkeit, 
und zwar meist Schwachsinn der Eltern, als Ursache der Imbezillität anzusprechen. 
Besonders verhängnisvoll erschien eine derartige doppelseitige Belastung, da dann 
fast stets mehrere Geschwister schwachsinnig waren. In 29%, der Fälle war als Ur- 
sache Keimschädigung durch Syphilis, Alkoholismus usw. anzusehen. — Ernst Rüdin, 
Über Untersuchungen an Münchner Hilfsschulkindern (8. 17—23). Der Vortragende 
berichtet über das von Frau Rüdin -Senger bearbeitete Material. Bei 350 Hilfs- 
schulkindern wurde die Wassermannsche Reaktion angestellt; sie fiel in 16%, positiv 
aus; ein negativer Wassermann bei eindeutigen Krankheitszeichen von angeborener 
Syphilis bestand in 4,8%, negativer Wassermann ohne derartige Zeichen bei sicherer 
Syphilis von Eltern oder Geschwistern in 6% der Fälle. Kinder der ersten Hilfsschul- 
klassen zeigten häufiger Syphiliszeichen als solche der späteren, bei denen der Prozent- 
satz um 5,3% niedriger war. Erbliche Belastung war bei Hilfsschulkindern im Ver- 
gleich zu Normalschülern in viel größerem Umfange vorhanden, ja sogar stärker als 
bei Geisteskranken, und zwar war die erbliche Belastung syphilitischer Hilfsschüler 
größer als syphilisfreier. }Ebenso wirkt auch Trunksucht und erbliche Belastung zu- 
sammen. Auch thyreotoxische Ursachen spielen beim Schwachsinn der Hilfsschüler 
mit, unter 100 Fällen war in 82 Kropf nachzuweisen, unter 100 Normalschülern da- 
gegen nur ın 41 Fällen. — F. Wanner, Die Untersuchung des taubstummen und 
schwerhörigen Kindes und dessen Einschulung auf Grund derselben (S. 23—27). Durch 
Untersuchungen mittels der Bezold - Edelmannschen Tonreihe wurde festgestellt, 
daß etwa ein Drittel aller Taubstummen in den Anstalten noch so viel Hörreste besitzen, 
daß sie die Sprache mit Hilfe des Ohres erlernen können. Diese Kinder sind in eigenen 
Klassen, den Hörklassen, zu vereinigen. Unter den Hilfsschulen für Schwachsinnige 
befindet sich eine größere Zahl Schwerhöriger, die nicht schwachsinnig sind, daher nur 
in Schwerhörigenschulen gehören. Mit einer bestimmten Stärke der Schwerhörigkeit 
sind befriedigende Fortschritte in einer Normalklasse unvereinbar. — H. W. Gruhle, 
Psychopathie und Verwahrlosung (S. 27—32). G. zieht aus seinen bekannten Unter- 
suchungen an Flehinger Jugendlichen und anderem Materiale den Schluß, daß an der 
Verwahrlosung der Jugendlichen ihre Psychopathie relativ wenig schuld ist. Wie sehr 
ın dieser Frage die Meinungen differieren, habe ich kürzlich (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. 
84, 434) hervorgehoben. Allgemeine Zustimmung wird aber die andere Behauptung 
.s finden, daß das Moment der Psychopathie für die Behandlung Verwahrloster von 
allergrößter Bedeutung ist. — A. Gregor, Organisation der Fürsorgeerziehung (S. 33 


— 48 — 


bis 37). Vortragender bespricht die Beziehungen der Fürsorgeerziehung zur Heil- 
pädagogik und stellt fest, daß die Fortschritte der Heilpädagogik auf diesem Gebiete 
größtenteils der Psychiatrie zu verdanken sind. Eine Organisation der Fürsorgeer- 
ziehung läßt nicht nur bessere Erfolge, sondern auch brauchbarere wissenschaftliche 
Resultate erwarten. Sie ist teils als eine äußere, in der Zusammenarbeit offener und 
geschlossener Fürsorge und deren komplizierten Einrichtungen, teils als eine Vervoll- 
kommnung der inneren Organisation zu denken. Als einen wesentlichen Bestandteil 
der letzteren führt Verf. die aktive Pädagogik aus. — R. von der Leyen, Fürsorge 
und Heilpädagogik für psychopathische Kinder und Jugendliche (S. 37—40) (siehe 
Zeitschr. f. Kinderforsch. H. 1, 8. 37). — K. Mark - Bergli, Notwendigkeit von Lehr- 
werkstätten und Arbeitskolonien für Anomale, sowie einer heilpädagogischen Aus- 
bildung von Handfertigkeitslehrern und Lehrmeistern (S. 40—41). Der Inhalt ist 
in der Überschrift bezeichnet. — L. Cron, Die Lasten und Kosten der Heilerziehung 
als sozial-öffentliche (S. 42, 43). C. weist darauf hin, daß im Gegensatz zur Fürsorge 
für Blinde, Taubstumme und Gliedergebrechliche die öffentlichen Vorkehrungen zur 
Besserung der geistig Defekten, der entwicklungsfähigen Nerven-, Willens- und In- 
telligenzkranken heute noch den Charakter des Behelfsmiäßigen tragen und in der 
praktischen Durchführung sehr lückenhaft sind. Es sei Schuldigkeit der Öffentlichkeit 
dafür zu sorgen, daß die öffentlichen Anstalten wenigstens annähernd dem entsprechen, 
was bisher gute Privatanstalten geleistet haben. — J. Lindworsky, Die Willens- 
defekte vom Standpunkt der Normalpsychologie (S. 45—61). L. beleuchtet die als 
Willensdefekte, Willensschwäche usw. bezeichneten Anomalien vom Standpunkt seiner 
bekannten Willenstheorie. Er hat in der Literatur beschriebene Willensdefekte ge- 
sammelt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß sie nicht einfach auf einem ange- 
borenen Willensmangel, etwa im Sinne einer primären Willensschwäche, beruhen, 
sondern in der Mehrzahl der Fälle das Endergebnis des Zusammenwirkens verschie- 
dener Faktoren darstellen. In dem Vortrag werden die wesentlichen Seiten des Willens, 
Motiv, Entschluß, Willenshandlung im Hinblick auf die zu deutende Anomalie ge- 
prüft. Ein besonderes Interesse beansprucht seine Auffassung der Abweichungen im 
Prozesse der Motivbildung. Er unterscheidet den Ausfall der Wertbildung, der viel- 
fach der Moral insanity zugrunde liegen dürfte, von der falschen Wertbildung. Ein 
Ausfall, wie ihn das sog. moralische Irresein bietet, geht wohl seltener auf eine Alte- 
ration des Gefühlslebens, als auf einen Mangel in der Werterziehung zurück. Mängel 
in der Wertrichtung haben ihre Ursache nicht in einer angeborenen, verkehrten Willens- 
richtung, auch nicht in Anomalien einzelner Funktionen, sondern darin, daß dem 
Individuum durch Umgebung und persönliche Erfahrung keine Gelegenheit geboten 
wurde, diese Werte in sich entstehen zu lassen. Daß freilich angeborene Eigentümlich- 
keiten des Geistes dieser Entwicklung Vorschub leisten, wird zugegeben. Bei der falschen 
Wertbildung werden echte Werte als Unwerte und umgekehrt erkannt. Bei der ano- 
malen Wertbildung, die etwa bei der Koprophagie vorliegt, wird scheinbar Unlust 
angestrebt, tatsächlich handelt es sich aber doch wohl um eine nicht immer durchsich- 
tige Verschiebung des Wertgefühls. L. würdigt sodann die Bedeutung intellektueller 
Funktionen für den Willen, unter denen er der Kritik und dem Urteil die größte Be- 
deutung beimißt. Bei Erörterung der Mängel des Willensentschlusses lehnt der Vor- 
tragende seiner Theorie gemäß, nach welcher der Entschluß eine Weichenstellung bildet, 
die Annahme eines angeborenen oder erworbenen Mangels von Entschlußkraft, etwa 
im Sinne einer verschiedenen Größe disponibler Energie des Wollens ab, vielmehr gehen 
alle hier bestehenden Mängel auf solche der Motive zurück. Wir können ihm aus der 
Kriegserfahrung über Psychopathen durchaus zustimmen, wenn er erklärt, daß der 
scheinbar Willensschwache zu einem Kraftmenschen wird, sobald ihm der richtige Wert 
entgegenleuchtet. Ebenso spielen bei Aufmerksamkeitsverhältnissen, die einen wesent- 
lichen Teil der inneren Willenshandlung ausmachen, Motive die Hauptrolle. Endlich 
weist er auch bei Mängeln äußerer Willenshandlung die Wirksamkeit von Motiven 


= 49. — 


nach. So liegt bei der als Abulie bezeichneten Hemmung die scheinbare Willensschwäche 
nicht an einem Mangel des inneren Wollens, sondern an einer seelischen Hemmung, 
die vielfach in nichts anderem als einem wirksamen Gegenmotiv besteht. Die kom- 
plizierte Struktur der von der Norm abweichenden Willenserscheinungen eröffnet 
reiche Ausblicke auf Angriffspunkte pädagogischer Maßnahmen. — R. Pauli, Ex- 
perimentelle und methodische Untersuchungen zur Testpsychologie (S. 61—63). Ver- 
suche mit fortlaufendem Rechnen erwiesen diese Form der kraepelinschen Arbeits- 
methode als einen brauchbaren Test für die mathematische Leistungsfähigkeit. Die 
mittlere Additionsleistung hängt vom Alter ab, mit dem sie erst schnell, dann immer 
langsamer zunimmt. Knaben leisten mehr als Mädchen, das 13. Lebensjahr ausge- 
nommen. Landkinder übertreffen durchschnittlich Stadtkinder. In ausgedehnten Ver- 
suchen mit verschiedenen Tests wurde die Frage nach der Bedeutung der Wiederholung 
geprüft. Es zeigte sich, daß Ausgangsleistung und Wiederholungsgewinn im verkehrten 
Verhältnis stehen. Leistungen, die über dem Mittel liegen, zeigen größere Beständig- 
keit als die untermittelwertigen. Bei sehr gutem Ausfall der ersten Testprüfung sind 
also Wiederholungsversuche überflüssig, bei Leistungen, die unter dem Durchschnitt 
liegen, kann das Ergebnis erst nach wenigstens 3 Wiederholungen als feststehend be- 
trachtet werden. — Herm. Weiskopf, Tiefenpsychologische Richtpunkte zur heil- 
erziehlichen Behandlung der Psychopathie durch Ärzte, Eltern, Lehrer und Fürsorger 
(S. 64, 65). Der Vortragende zeigte an Fällen seiner Beobachtung den Wert der Tiefen- 
psychologie für die Heilpädagogik. Gefahren und Fehler der Psychoanalyse sind zu 
vermeiden, das Kind dürfe und brauche von seinen Komplexen nur wenig oder nichts 
zu wissen; die Psychoanalyse erfordere ein Höchstmaß von richtigem pädagogischen 
Takt. Ärzte, Lehrer usw. müssen auch der eigentlichen Wesenheit des Kindes Achtung 
zollen, die heute meist noch unerkannt und ungewürdigt ist. Sie ist auch mehr als 
bisher beim Aufbau der Schulorganisation zu beachten und namentlich bei Psycho- 
pathen das Entstehen neuer Komplexe zu vermeiden. — Th. Heller, Die Heilpäda- 
gogik in Gegenwart und Zukunft (S. 66—79). Der Autor gibt einen Überblick über 
die Entwicklung der Heilpädagogik und ihren gegenwärtigen Stand. Bemerkenswert 
ist die Angabe, daß in Fällen von sporadischem Kretinismus die sog. Aktivitätsmethode, 
nach welcher die Kinder durch entsprechende gymnastische Übungen und durch 
Übungen der Sinne, die dann zu Aufmerksamkeits- und Ausdrucksübungen verdichtet 
wurden, sich als außerordentlich wirksam erwies. Der Vortragende fordert, daß die 
Hilfsschulen zur Entlastung der Anstalten einen Teil ihres Zöglingsmaterials über- 
nehmen. Bedeutsam ist der Hinweis, daß der Heilpädagogik in künftigen Tagen un- 
geahnt große Aufgaben erwachsen werden. Die Schäden der Kriegs- und Nachkriegs- 
zeit lassen eine minderwertige Generation heranwachsen, die körperlich und geistig 
defekt, heilpädagogisch versorgt werden muß, wenn der Öffentlichkeit nicht ein Heer 
von Bettlern, Vagabunden und Rechtsbrechern zur Last fallen soll. Heilpädagogische 
Einrichtungen stellen sich unter diesem Gesichtspunkt als ein Akt größter finanzieller 
Einsicht dar. Einen gebührend breiten Raum nahmen bei der Verhandlung die Aus- 
bildungsfragen ein. Tatsächlich wird jeder, der mit der Praxis Fühlung hat, ein Miß- 
verhältnis zwischen dem Umfang sozialer, zumal heilpädagogischer Aufgaben und 
den heute bestehenden Ausbildungsmöglichkeiten empfinden. Die Lösung wird all- 
gemein in der Gründung von Lehrkanzeln für Heilpädagogik gesucht. — R. Egen- 
berger, Die Ausbildung der Heilpädagogen (S. 79—87). Vortragender tritt für die 
Begründung einer heilpädagogischen Forschungsanstalt und für die heilpädagogische 
Ausbildung an der Hochschule ein. Diese Aufgabe dürfte seiner Auffassung nach 
vorwiegend im Rahmen der medizinischen Fakultät zu lösen sein. Er stellt direkt die 
Forderung nach einer heilpädagogischen Kinderklinik auf. — H. Göpfert, Profes- 
suren für Heilpädagogik (S. 88—93). Vortragender formuliert in präziser Form die 
Forderungen nach einer Professur für Heilpädagogik und bespricht die Vorgeschichte 
eines sehr gut fundierten, durch Gutachten anerkannter Gelehrter gestützten Antrages, 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 4 


— 50 — 


der an das bayrische Ministerium und an den bayrischen Landtag gerichtet war. Daß 
das m Deutschland schier unerreichbare Ziel bereits andernorts verwirklicht ist, er- 
öffnet ein Vortrag von Schneerson, nach dem in Moskau, Petersburg und Kiew 
spezielle Hochschulen für Heilpädagogik geschaffen worden sind. Die Fakultāt für 
Heilpädagogik in Kiew bereitet Pädagogen für Behandlung und Erziehung von geistig, 
sittlich Defekten, sowie von taubstummen und blinden Kindern vor. Ein genauer 
Lehrplan der 3 Studienjahre wird vorgelegt. (Die höhere heilpädagogische Bildung 
als eine unaufschiebbare Aufgabe. S. 94—190.) Bemerkenswerte Anregungen zu dem 
in Rede stehenden Thema bringen die Vorträge von Johann Mauer, Die Heilpäda- 
gogik im künftigen Plane der Lehrerbildung (S. 100—101). Derselbe: Beratungs- und 
Beobachtungsstationen für geistige Kinderfehler (S. 102, 103). — Fr. Weigl, Zur 
Frage der heilpädagogischen Orientierung der künftigen Lehrerbildung (S. 104—106). — 
W. J. Ruttmann, Notwendigkeit der heilpädagogischen Ausbildung im Rahmen 
der allgemeinen Lehrerbildung (S. 106—109). — L. Cron, Gemeinsames Studium der 
heilpädagogisch Interessierten (S. 109, 110). — J. Moses, Über die Notwendigkeit 
und die Wege der Ausbildung des Heilpädagogen in der sozialen Psychopathologie 
(S. 110—112). Gregor (Flehingen). 
Martini: Zur Personalbogenfrage. Hilfsschule Jg. 16, H. 7, S. 97—100. 1923. 
Verf. polemisiert gegen den Vorschlag von Hoffmann (Meißen) (Zeitschr. f. d. 
Behandl. Schwachsinniger 1923, Heft 3), den Personalbogen aus sieben, am Abschluß 
zusammenzuheftenden Teilen bestehen zu lassen (nämlich: Antragsbogen, Prüfungs- 
bogen, Gesundheitsbogen, Erkundungsbogen, Beobachtung-, Versäumnis- und Zensur- 
bogen). Leicht können die einzelnen Bogen verlorengehen. Schwere grundsätzliche 
Bedenken hat Verf. ferner besonders gegen den Prüfungsbogen, der ein Prüfungsschema 
nach der von Chotzen verbesserten Simon-Binetschen Testmethode allgemein 
verbindlich machen will. Dafür ist diese Methode nicht reif. Um zu einem allgemein 
anerkannten Personalbogen zu gelangen, schlägt Verf. vor, daß der Verbandsvorstand 
Gutachten aller Unterverbände einfordert und auf Grund dieser Abänderungsvorschläge 
einen neuen Entwurf ausarbeitet. @. Tugendreich (Berlin). 


Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien: 


Diseussion on mental difieieney in its social aspeets. General discussion. Dis- 
kussion über: Der Schwachsinn in sozialer Hinsicht. Allgemeine Diskussion. Brit. 
med. journ. Nr. 3267, S. 231—234. 1923. 

Miß Evelyn Fox: Der größere Teil aller Schwachsinnigen sei außerhalb der 
Anstalten und bedürfe dringend des Schutzes. Die Frage, ob ein Kind sich ım freien 
Leben werde halten können oder ob es anstaltsbedürftig sei, müsse möglichst früh ent- 
schieden werden, ebenso die andere: Hat das Kind wirklich Nutzen von einer Hilfsschul- 
bildung oder nicht? Für die schweren Fälle seien Anstalten nötig, ebenso für die 
leicht schwachsinnigen Psychopathen, für diese letzteren am besten Kolonien. Soweit 
die Bildungs- und Dressurfähigkeit reiche, müsse sie ausgenützt werden, denn unaus- 
gebildete Schwachsinnige, die gar nichts leisten, seien eine schwere ökonomische Be- 
lastung. Bei den schon ohnehin schwerringenden Familien, aus denen die meisten 
Schwachsinnigen stammen, ist es geboten, die schweren Fälle ohne weiteres heraus- 
zunehmen. Überhaupt wird noch in den Familien zuviel gute Kraft auf wertloses, 
nicht bildungsfähiges Material verschwendet. Dr. Joseph Prideaux (psychiatrischer 
Referent im Pensionsministerium) bespricht die Frage der Unfruchtbarmachung der 
Schwachsinnigen. Man müßte, wollte man ganze Arbeit machen, etwa 10%, der Be- 
völkerung von der Fortpflanzung ausschalten. Solange dies aber noch nicht möglich 
sei, müsse man sich mit der Erziehung und Ausbildung der Schwachsinnigen befassen. 
Vom Standpunkt des Staates und der Kassen aus müsse man fragen, ob die großen 
Ausgaben (75 Pfund pro Jahr und Kind) für die Hilfsschulen auch lohnen. Für die 
leichteren Grade des Schwachsinns spreche die Erfahrung sehr zugunsten der Erziehung 


== Jl a= 


und Ausbildung. In London sei man mit Hilfsschulen für 1!/,%, der Gesamtsumme 
aller Schulkinder eingerichtet, dagegen im übrigen England nur auf etwa 20%, des 
Solls. Dieses Versagen rühre von der mangelhaften Zusammenarbeit der zuständigen 
Behörden und von der ungenügenden Sachkenntnis des nicht fachlich vorgebildeten 
Arztes. Psychiatrie und ärztliche Psychologie seien dem praktischen Arzt ziemlich 
unbekannt. Vor allem aber fehle es an speziell vorgebildeten Lehrern, ohne welche man 
Schwachsinnige niemals richtig erziehen könne. Sir J. Verco (Südaustralien) weist auf 
die Notwendigkeit der sorgfältigen Abstufung der Schwachsinnigen hin, die sich auf 
peinliche Sondierung innerhalb der Hilfsschulen erstrecken müsse. Vrllinger (Tübingen). 

Discussion on mental defieieney in its social aspeets. Campbell, C. Macfie: Or- 
ganization for the supervision of mental defectives. (Diskussion über: der Schwachsinn 
in sozialer Hinsicht. Campbell, C. Macfie: Organisation der Beaufsichtigung der Schwach- 
sinnigen.) Brit. med. journ Nr. 3267, S. 229—230. 1923. 

Eine pflichtmäßige Aufgabe des „Boston Psychopathic Hospital‘, dessen Chef 
Ref. ist, besteht darin, daß die gesamten Schulen des Staates von ihm aus regelmäßig 
psychiatrisch durchuntersucht werden. Diese Untersuchung erfolgt in engster Zu- 
sammenarbeit mit dem Schularzt, dem Lehrer und der Schulschwester. Von klinischer 
Seite wirken gleichfalls drei Kräfte mit: der Psychiater, der Psychologe und der Für- 
sorger, d.h. ein Assistent, dessen Sonderaufgabe es ist, in jedem Einzelfall die sozialen 
Verhältnisse des Patienten an Ort und Stelle sowie durch Erkundigungen usw. zu 
studieren. Zur Fertigstellung der Diagnose liegt also ein sehr gründliches Material vor, 
das jedenfalls erheblich über den sog. „gesunden Menschenverstand‘ hinausgeht, mit 
dem man von juristischer Seite aus oft geglaubt hat, bei der Erkennung jugendlicher 
Abnormer sich völlig begnügen zu können. Die Erziehung der Zurückgebliebenen 
und Schwachsinnigen hat sich streng an die individuelle Begabung und den späteren 
Beruf des Kindes zu halten. Eigentlich sollte dieser Grundsatz für die gesamte Er- 
ziehertätigkeit Gültigkeit erlangen. Überhaupt hat die Pädagogik von der Heilpäda- 
gogik manches gelernt und noch vieles zu lernen. — Die Ergebnisse der experimentellen 
Psychologie (Psychometrie) dürfen nicht schematisch’ ausgewertet werden; man darf 
z. B. nicht sagen: da dies Kind einen Leistungsquotient von ca. 70% hat, so muß man 
so oder so mit ihm verfahren. Bei der Untersuchung der Arbeiter einer Fabrik stellte 
sich heraus, daß 50%, intellektuell unzulänglich waren, zum großen Erstaunen desFabrik- 
leiters, der gerade diese Arbeiter als seine besten Leute bezeichnete. Das beweist deut- 
lich genug, daß Testprüfungen allein nicht sehr viel besagen. Nach der Entlassung 
aus der Schule bzw. Spezialschule (Hilfsschule) muß die Verbindung der Schule und 
des Psychiaters mit dem Abnormen aufrechterhalten bleiben, damit er vor Mißgriffen 
seitens seiner neuen Umgebung geschützt bleibt. Die Schulpsychologie der Universi- 
täten ıst noch sehr unzulänglich, sie sollte immer mehr beherzigen, daß ihr Feld der 
Mensch und seine Beziehungen zum Nebenmenschen ist. Villinger (Tübingen). 

Diseussion on mental delieieney in its social aspects. Mott, Frederiek: Heredity 
and social eonditions among the mental defective. (Diskussion über: Der Schwachsinn 
ın sozialer Hinsicht. Mott, Frederick: Heredität und soziale Verhältnisse bei Schwach- 
sinnigen. Brit. med. journ. Nr. 3267, S. 230—231. 1923. 

Mott berichtete über eine vergleichende Untersuchung über Heredität und soziale 
Verhältnisse bei je 60 Geisteskranken, Schwachsinnigen und Gesunden, die auf seine 
Anregung und unter seiner Aufsicht angestellt wurde. Die Stammbäume der Geistes- 
kranken ergaben mehr Geisteskrankheit als Schwachsinn in der Ascendenz, während 
die Vorfahrenschaft der Hilfsschulkinder mehr Schwachsinnige als Geisteskranke 
aufwies. Der Durchschnittstand der Intelligenz und der körperlichen Gesundheit bei 
den Geschwistern der Hilfsschulkinder war unternormal. Dagegen waren die Kinder 
der Geisteskranken hinsichtlich ihrer Intelligenz ungleich, teils sehr gut, ja glänzend, 
teils zurückgeblieben, stumpf, unharmonisch. Die soziale Lage und Stellung der 
Familien der Geisteskranken umfaßt die ganze Skala von hochstehend und reich bis 


4* 


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arm, verkommen, kriminell, während bei den Schwachsinnigen eine sozial gehobene 
Lage fast nie vorkam; hier befand man sich fast durchweg in der Gesellschaft von un- 
gelernten Arbeitern oder Tagelöhnern, deren Frauen auch meist recht unzulänglich 
waren. Die Familien der Schwachsinnigen waren im allgemeinen charitativ viel besser 
versorgt als die der Psychotischen. Diese Untersuchung ist vor nahezu 10 Jahren 
abgeschlossen worden. M. hofft, daß von irgendeiner zuständigen Stelle diese For- 
schungen an Hand der damaligen Stammbäume und Krankengeschichten wieder auf- 
genommen und weiterverfolgt werden, damit das weitere Schicksal der damaligen 
Kinder verfolgt und der Einfluß der Umwelt, insbesondere auch der des Krieges, studiert: 
werden könne. Es erhebt sich die Frage, ob nicht einige dieser Fälle hätten „gehoben‘“ 
werden können? Hier gilt es, engstes Zusammenwirken von sozialer Hilfstätigkeit und 
Psychiater zu schaffen, da stets die kausale Betrachtung des Schwachsinns und die dar- 
auf aufbauende Diagnose und Prognose die Unterlage abgeben muß für die weitere 
Behandlung dieser Kinder und ihre spätere Verwendung. Die syphilitische Entstehung 
des Schwachsinns sowie andere organische Ursachen dürfen nicht übersehen werden. 
Den meisten Ärzten fehlt die Kenntnis der psychologischen Grundtatsachen und des 
menschlichen Charakters. Die Psychiatrie hat hier helfend einzugreifen. Vor allem aber 
sind Vorlesungen über medizinische Psychologie einzurichten. Yillinger (Tübingen). 

Clarke, Erie Kent: Mental hygiene in Toronto publie sehools. (Psychische Hygiene 
in den öffentlichen Schulen in Toronto.) Public health journ. Bd. 14, Nr. 3, S. 127 
bis 133. 1923. 

Verf. bespricht die in Toronto bestehenden Einrichtungen für die Erziehung schwach- 
sinniger Kinder. In den öffentlichen Schulen befinden sich ungefähr 7!/,%, geistig 
Zurückgebliebener. Der Prozentsatz ist am größten in den Stadtteilen, in denen niedere 
soziale Schichten, ungelernte Arbeiter, untergeordnete Beschäftigungen, vorwiegend ver- 
treten sind. Es weist dies auf die Heredität der geistigen Minderbegabung hin. An die 
Hilfsschulen müssen Fortbildungsschulen für den Handwerksunterricht der Schwach- 
sinnigen angegliedert werden, um sie zu einem selbständigen Fortkommen zu befähigen. 
Stellenvermittlung, zweckmäßige Auswahl der Stellen und Überwachung in diesen müssen 
sich anschließen. Asoziale Elemente müssen in Anstalten erzogen werden; auch hier 
muß Beschäftigung und handwerkliche Ausbildung im Vordergrund stehen. Es ist 
dann auch möglich, daß ein Teil von ihnen nach ausreichender Erziehung, unter Über- 
wachung, in seine Beschäftigung entlassen wird. Kramer. 

Voorthuysen, A. van: Die Entwieklung des Spezialunterrichtes für Sehwachsinnige 
in Holland. Tijdschr. v. buitengewoon onderwijs Jg. 4, Nr. 7, S. 113—119. 1923. 
(Holländisch.) 

Historische Übersicht. Die eigentliche Entwicklung des Unterrichtswesens für 
Schwachsinnige datiert in Holland seit 1892. Seither starke Zunahme der Schulen, 
Schüler und Klassen. Zur Erläuterung der ganzen Bewegung sind Kurven beigegeben. 

Walther Riese (Frankfurt a. M.). 

Inhoven, W.: Der erste Sprach- und Leseunterricht auf phonetischer Grundlage 
bei Verwirklichung des Arbeitsschulgedankens. Hilfsschule Jg. 16, H. 5, S. 69—75. 1923. 

Lesen und Schreiben hat einwandfreies Sprechen zur Voraussetzung. Also muß 
die Grundlage eines jeden Elementar- und besonders des Hilfsschulunterrichts Pflege 
einer guten Phonetik sein, wenn nicht Sprachfehler der verschiedensten Art den Erfolg 
des Unterrichts in Frage stellen sollen. Der einzelne Laut darf nicht vorausgesetzt 
werden, er muß sich aus Hören, Sehen und Tasten im kindlichen Gehirn assoziieren. 
Dies Ziel wird erreicht durch Aufsuchen lautähnlicher Geräusche, die sich während des 
Unterrichts erzeugen lassen müssen, durch Nachahmen derselben, Ablesen von sog. 
Lautsprechbildtafeln oder vom Munde, unter Umständen unter Selbstkontrolle vor dem 
Spiegel, durch Einprägung von Laut-Merkversen. Die Anwendung der gewonnenen 
Kenntnisse erfolgt durch Zusammenstellen von Silben und endlich von Worten unter 
Zuhilfenahme der Lautsprechbilder. Der Übergang vom Sprechen zum Lesen und 


ise JS we 


Schreiben vollzieht sich dann durch Anhängen von Lautschriftbildtafeln an die Laut- 
bildsprechtafeln zwanglos. Es ist leicht, die lebendige Mitarbeit der Schüler für dies 
System zu gewinnen, das teilweise in Hilfsschulen und Schwachsinnigenanstalten mit 
bestem Erfolg Eingang gefunden hat (Ref.). Brunthaler (Hildesheim). 

Willich, Ernst: Über die Erziehung eines Schwachsinnigen dureh einen Haus- 
lehrer — Lieht- und Sehattenseiten. Hilfsschule Jg. 16, H. 3, S. 34—38, H. 5, S. 65—69 
u. H.7, S. 104—106. 

Der Verf., der als Hauslehrer einen schwachsinnigen Knaben vom 13. bis zum 
27. Jahr erzogen hat und dabei weder in unterrichtlicher noch in erziehlicher Hinsicht 
erheblichen Erfolg gehabt hat, verallgemeinert seine persönliche Erfahrung zu der 
Behauptung: „Häusliche Einzelerziehung vermöge keine Erfolge von einigermaßen 
praktischer Bedeutung zu erreichen, besser sei Hilfsschulerziehung; zwar habe diese 
auch ihre Schattenseiten, aber gegenüber der häuslichen Erziehung sei sie doch das 
kleinere Übel.“ Ob nicht eine andere Persönlichkeit, die die Fehler vermieden hätte, 
die der Verf. offenherzig von sich eingesteht (er vermochte sich nicht gegen den häus- 
lichen Einfluß durchzusetzen — und doch blieb er 14 Jahre —, er erreichte nicht, 
daß der Zögling seinen Anordnungen folgte, er war oft ungeduldig und gereizt gegen 
ihn, es gelang ihm nicht eine heitere Unterrichtsstimmung zu erzeugen, sondern die 
Stunden hatten durchweg etwas Trockenes, Nüchternes, Zähes an sich u. a.), und die 
Schwierigkeiten der Einzelerziehung, die der Verf. mit Recht hervorhebt, überwunden 
hätte, zu ganz anderen praktischen und theoretischen Ergebnissen gekommen wäre? 

Lotte Nohl (Berlin). 

Hilscher, Karl: Über die moralische Erziehung von Hilfsschülern. Zeitschr. f. 
Heilpädag. u. soz. Fürs. Jg. 3, Nr. 1—3, S. 1—5. 1923. 

Der Autor schildert einige typische Fälle zeitgemäßer Verwahrlosungsformen 
und knüpft daran eindringliche Ermahnungen an die Eltern, in denen er sie vor fahr- 
lässiger Nachsicht warnt und auf die Notwendigkeit von Zusammenarbeit von Schule 
und Haus in der Kindererziehung hinweist. Gregor (Flehingen). 

Lesemann, Gustav: Geistig- orthepädische Übungen in der Hilfssehule. Hilfsschule 
Jg. 16, H. 7, S. 100—104. 1923. 

Nicht Stoffeinpauken, sondern Stärkung der allgemeinen geistigen Anlagen, 
Weckung und Emporbildung der vorhandenen schwachen Geisteskräfte muß vornehm- 
stes Ziel der Hilfsschule sein. Durch besondere, systematisch aufgebaute und planmäßig 
betriebene Übungen können formale Kräfte gestärkt werden. Somit ist eine geistige 
Orthopädie möglich. Verf. gibt eine Auswahl von Übungen, die sich ihm bewährt 
haben, wobei er die strenge Rücksicht auf den Einzelfall hervorhebt. (Z. B. Übung 
zur Erzielung geistiger Ruhe [für Erethiker]: Gebetstellung beider Hände, Verschränken 
der Arme, der Finger, mit Verharren in der Stellung. Seitwärtsdrehen des Kopfes 
und längeres Verharren in der Stellung. Stillsitzen. Fixieren eines Punktes.) Ent- 


sprechend T Verf. Übungen für den torpiden Typ an. Es folgen reine geistig-ortho- 


pädische Übungen (Aufmerksamkeits-, Merkfähigkeitsübungen usw.). Einzelheiten 
müssen im Original nachgelesen werden. G. Tugendreich (Berlin). 
Sinnendefekte, Sprachstörungen : 


Poggiolini, Oreste: Il problema della eeeitä. (Das Problem der Blindheit.) In- 
fanzia anorm. Jg. 16, Nr. 2, S. 25—29. 1923. 

In Rom tagte mit gutem Erfolg eine Kommission, die über die Probleme der 
Instruktion, der Erziehung und der Fürsorge für Blinde zu beraten hatte. Die be- 
handelte Materie und die führenden Persönlichkeiten werden kurz geschildert. 

Neurath (Wien). 

Per la prevenzione della eeeitä. (Für die Verhütung der Erblindung.) Infanzia 
anorm. Jg. 16, Nr. 2, S. 43—45. 1923. 

Nach Darstellung der legislatorischen Maßregeln in anderen Ländern, die eine 


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Erblindung durch Ophthalmoblennorrhöe der Neugeborenen verhüten sollen, wird der 
Aufruf der „Federazione Nationale delle Istituzioni pro ciechi“ an die Hebammen 
Italiens mitgeteilt. Neurath (Wien). 


Boas, Harald: Eine Untersuchung von Dänemarks Blinden und Taubstummen mit 
Hilfe der Wassermannsehen Reaktion. (Staatl. Seruminst., Kopenhagen.) Hospitals- 
tidende Jg. 66, Nr. 19, S. 357—358. 1923. (Dänisch.) 

Über 157 Insassen einer Blindenanstalt fand Harald Boas 5mal eine positive 
und 155 mal eine negative Wassermannsche Reaktion. 2 Fälle hatten sichere Zeichen 
kongenitaler Lues, ohne einen positiven Blutbefund zu zeigen. Unter 277 Taubstummen 
war die Wassermannsche Reaktion keinmal positiv. Die Untersuchungen erweisen, 
daß die angeborene Syphilis bei Blinden und Taubstummen ätiologisch nicht eine 
so große Rolle spielt, als man bisher annahm. S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 


Bürklen, K.: Unsere Blindenfürsorge und ihre Organisation. Zeitschr. f. d. österr. 
Blindenwesen Jg. 10, Nr. 3/4, S. 1554—1567. 1928. 

Obschon festgestellt ist, daß Blinde bildungsfähig sind und zu Selbständigkeit in 
verschiedenen Berufen herangebildet werden können, ist eine Blindenfürsorge unent- 
behrlich. Sie gliedert sich in drei Teile: 1. Erziehung und Bildung, 2. Förderung der 
Erwerbstätigkeit und 3. Armen- und Hilflosenfürsorge. Die Blindenfürsorge gehört 
der neueren Zeit an, in Österreich wurde die erste Blinden-Unterrichtsanstalt 1804 
durch J. W. Klein gegründet. Aber trotz weiterer Gründungen sind heute noch in 
Österreich 65%, der bildungsbedürftigen blinden Kinder ohne Blindenunterricht. Da 
die Berufsbildung der Blinden andere Wege zu gehen hat als die der Sehenden, 
muß schon im Anschluß an die Blindenschule die berufliche Ausbildung gefördert 
werden: in den Blindenschulen wird für Erlernung eines Handwerks und für Ausbildung 
in der Musik Sorge getragen. Die Gesetzgebung greift noch nicht genügend helfend ein, 
so daß die Anstalten auf private Wohltätigkeit angewiesen sind; gesetzlich festgelegt 
ist nur die Schulpflicht. Zur Weiterbildung der Schulentlassenen dienen besondere 
Anstalten und Bibliotheken. Im Erwerbsleben der Blinden ist die Selbsthilfe eingetreten, 
es werden Produktivgenossenschaften gegründet. Bemühungen, den Blinden neue 
Berufe zu erschließen, sind im Gange. Die tätigen Organe der Blindenfürsorge sind 
1. die Landesverwaltungen, nämlich für Erwerb das Bundesministerium für Handel 
und Gewerbe und die Gewerbebehörden, die aber praktisch zur Zeit nicht in Frage 
kommen; 2. die private Blindenfürsorge: 5 Vereine, in denen die Blinden mit Hilfe der 
Sehenden schaffen und eine Anzahl von Vereinen, in denen vorwiegend Sehende tätig 
sind. Die Mittel fließen nur zu einem kleinen Teil aus öffentlichen Quellen, zum 
größten Teil kommen sie von privater Wohltätigkeit. Zu beklagen ist die System- 
losigkeit, die heute noch überall, vielleicht mit Ausnahme von Sachsen herrscht, Zael 
und Methode der Blindenfürsorge sind noch nicht in den Grundzügen festgestellt. Bei 
den Fachleuten bestehen aber feste Richtlinien, nämlich: Blinde Kinder müssen bis 
zum 15. oder 16. Lebensjahre unterrichtet werden, und zwar in Sonderschulen, für 
Blinde von 16—20 Jahren, ebenso für Späterblindete ist Berufsausbildung nötig, die 
aber von der Schulbildung (also anders wie bisher) zu trennen ist. Für das 4.6. Lebens- 
jahr ist weiter eine Vorschule zu errichten. Weiter soll Zentralisation der Blindenfür- 
sorge erstrebt werden, so daß die Blinden eines Landes einem Wirtschaftskörper 
angehören. Der Armenfürsorge soll jede demütigende Form genommen werden, sie soll 
im Sinne der freien Fürsorge vorgenommen werden. Es werden dann ins einzelne 
gehende Vorschläge über den Ausbau der Organisation gemacht: Zentrum ist das 
Bundesministerium, beratend sind Fürsorgestellen, Kommissionen, Vereine und der 
Blindenfürsorgetag. In der privaten Fürsorge müssen die Vereine der Sehenden, der 
Geber und die der Blinden gemeinsam arbeiten, es muß vor allem Einheitlichkeit der 
Sammel- und Hilfstätigkeit erreicht werden, eine Begutachtung vor der Genehmigung 
von Sammlungen durch die zentrale Stelle wird empfohlen. Zade (Heidelberg). 


— 55 — 


Altmann: Staat und Blindenbildungswesen. (8. österr. Blindenfürsorgetag [ Blinden- 
lehrertag], Wien, Sitzg. v. 23.—24. V. 1923.) Zeitschr. f. d. österr. Blindenwesen Jg. 10, 
Nr. 5/8, S. 1578—1581. 1923. 

Altmann erwartet eine volle Verwirklichung der Ziele des Blindenbildungswesens nur 
durch Übernahme der Arbeit durch den Staat. Die steuerliche Mehrbelastung würde sehr 
gering sein. Zade (Heidelberg)., 

Per istruzione dei eiechi. (Für den Blindenunterricht.) Infanzia anorm. Jg. 16, 
Nr. 2, 8. 30—33. 1923. 

Die Blindenkommission hat eine Resolution bezüglich des Blindenunterrichts 
angenommen, die in extenso mitgeteilt wird. Für das Referat ist die Wiedergabe 
entbehrlich. Neurath (Wien). 

Leegaard, Frithjof: Hardness of hearing in school-ehildren. Examinations carried 
out with regard to hardness of hearing amongst the pupils in the state sehools of Christiania. 
(Schwerhörigkeit bei Schulkindern. Diesbezügliche Untersuchungen an Kindern der 
Staatsschulen von Christiania.) Acta oto-laryngol. Bd. 5, Nr. 2, S. 149—206. 1923. 

Die indirekte Methode gibt nur unzuverlässige Resultate. Für eine verwertbare 
Untersuchung kommt nur die direkte Methode in Betracht. Eine gewisse Routine, die 
Vermeidung aller Nebengeräusche, ist unentbehrlich. Unter 4721 Kindern der 3. Klasse 
der Elementarschulen waren 459 (9,7%) in ihrem Hörvermögen gestört, von diesen 
119 (2,5%) auf beiden Seiten, 340 (7,2%) auf einer Seite schwerhörig. Von 9442 unter- 
suchten Ohren zeigten 1,42%, chronische eitrige Otitis, von 578 schwerhörigen Ohren 
22,15%, von 459 schwerhörigen Kindern 25,27%. Von 9442 Ohren zeigten 1,72% 
trockene Trommelfellperforation, die in 1,04%, von Schwerhörigkeit begleitet war, 
171% Trommelfellnarben (0,31%, schwerhörig). Unter den 9—10jährigen Kindern litt 
ein großer Teil an Tonsillarhypertrophie und adenoiden Vegetationen. Es ist angezeigt, 
alle Kinder, die an eine Hilfsschule überwiesen werden, vorher bezüglich ihres Gehörs 
zu untersuchen, ein Teil wird sich hierbei eher für eine Schwerhörigenschule geeignet 
erweisen. Neurath (Wien). 

Greene, James Sonnett: Some eonelusions derived from the last five years’ work 
at the national hospital for speech disorders. (Einige Schlußfolgerungen aus der Arbeit 
der letzten 5 Jahre an dem Staatskrankenhause für Sprachstörungen.) Boston med. 
a. surg. journ. Bd. 189, Nr. 2, S. 57—62. 1923. 

Verf. berichtet über seine Erfahrungen an einem großen Material von Sprach- 
störungen: Stottern, Stammeln, Lippen-Gaumendefekten, aphasischen Störungen 
usw. Besonders wird eingegangen auf die Psychologie der Stotterer. Es handelt sich 
um von Hause aus psychopathische Individuen, um empfindliche, ängstliche, eigen- 
brödlerische Menschen, die durch ihren: Sprachfehler in ihrer weltabgewandten Ein- 
stellung bestärkt werden. Die Therapie hat diese konstitutionelle Grundlage zu berück- 
sichtigen und darauf auszugehen, Selbstvertrauen und Lebenswillen in ihnen zu er- 
wecken. | R. Thiele (Berlin). 
Krüppel: 

Jones, Robert: Die Krüppelpflege in Großbritannien. Nederlandsch tijdschr. v. 
geneesk. Jg. 67, 1. Hälfte, Nr. 21, S. 2254—2259. 1923. (Holländisch.),. 

Biesalski, K.: Der Stand der Frage nach der Krüppelfürsorge in Deutschland. Neder- 
landsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 67, 1. Hälfte, Nr. 21, S. 2260—2266. 1923. (Hol- 
ländisch.) 

Spitzy, Hans: Krüppelpflege in Wien. Nederlandsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 67, 
1. Hälfte, Nr. 21, S. 2266—2270. 1923. (Holländisch.) 

Berichte über die Krüppelfürsorge in Großbritannien, dem Deutschen 
Reiche und Deutsch-Österreich. In Shropshire gedeiht eine Organisation mit einem 
Zentralspital und über die ganze Provinz verteilten Nachbehandlungs- und Fürsorge- 
stellen. Diese und ähnliche Ansätze planen, private Vereinigungen für ganz England 
auszubauen. Das Gesetz, das die Schulbehörde zur Erziehung von Krüppelkindern 


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verpflichtet, ist erst für London in Geltung. — Die „Deutsche Vereinigung für Krüppel- 
fürsorge‘‘ umfaßt auch Deutsch- Österreich, das aber vor dem Kriege kaum etwas 
den über 7000 Anstaltsbetten des Reiches gegenüber zu stellen hatte. Auf Grund der 
Kriegserfahrungen wurde die Krüppelfürsorge durch Gesetze — für Preußen vom 
Mai 1920 — und Verordnungen eingehend geregelt. Darüber hinaus ist die Fürsorge- 
arbeit durch die Arbeitsgemeinschaft von sozialhygienischen ‚„Reichsverbänden““ wohl 
organisiert. Bei der Neuschaffung von Einrichtungen für Kriegsverstümmelte u. dgl. 
in Wien hatte Spitzy Vorbedacht auf die Nachkriegszeit genommen. Es ist ihm so 
gelungen durch die kritischen Zeiten hindurch alles für Krüppelkinder und unfall- 
verletzte Arbeiter zu retten. Die weiter ausgebaute Organisation wird vom Schöpfer 
derselben eingehend geschildert. Beckh (Wien)., 
Seherb, Riehard: Die Bedeutung der ersten Lebensjahre für die Entstehung ortho- 
pädischer Leiden. Schweiz. Zeitschr. f. Gesundheitspfl. Jg. 3, H. 2, S. 235—247. 1923. 
Eine genaue Erkenntnis der Ursachen der orthopädischen Leiden muß schon im 
frühen Kindesalter vorgenommen werden zum Zwecke einer sicheren Prognose und 
eines manchmal für das ganze Wachstum gültigen Behandlungsplanes. Als Regel gilt: 
je früher angeborene Leiden zur Behandlung kommen, desto besser sind die Aus- 
sichten auf einen Dauererfolg. Ein erheblicher Teil der orthopädischen Leiden beruht 
auf Rachitis oder Tuberkulose. Im frühen Kindesalter ist Vorbeugung dagegen möglich 
und geboten. Dadurch ergeben sich enge Zusammenhänge zwischen Orthopädie und 
Kinderfürsorge. Tugendreich (Berlin). 


Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung: 
Allgemeines : 
Jahresbericht des Instituts für Jugendkunde in Bremen für das Jahr 1922. 
Der Bericht, von Dr. Th. Valentiner, dem Leiter des Institutes für Jugend- 
kunde in Bremen verfaßt, gibt die Arbeiten verschiedener Kommissionen der Anstalt 
wieder. Die „Jugendschriften-Kommission“ führt durch Ausstellung und Verkauf 
von guten Jugendbüchern einen wirksamen Kampf gegen die Verbreitung der Schund- 
literatur. In der „Kommission für das Begabungsproblem“ wurden korrelations- 
psychologische Forschungen über Tests zur Prüfung der Augenmaßfunktionen und zur 
Untersuchung der Willenseigenschaften von Jugendlichen unternommen (vgl. Ber. 
über den Kongr. f. prakt. Psychol., Berlin, Okt. 1922 und „Praktische Psychologie“ 
Jahrg. 1V, S. 10. f. 1922.). Die Zahl der Betriebe, die ihre Lehrlinge zu Eignungs- 
prüfungen in die Laboratorien schicken, wird immer größer. Bei den Prüfungen ergab 
sich ein günstiges Zusammenarbeiten zwischen Psychologen und Lehrerschaft. Durch 
eine Reihe von Vorträgen, darunter von auswärtigen Gelehrten (Dr. Johann Weber, 
Prof. Dr. E. Spranger u. a.) wurde für Fortbildung auf psychologischem Gebiete 
gesorgt. Die namhafte Spende eines amerikanischen Freundes deutscher Wissenschaft, 
Henry Goldmann, machte die Unterhaltung und den Ausbau des Institutes möglich. 
E. Feuchtwanger (München). 
Hornek, Rudolf: Organisation und Wirkungskreis der städtischen Jugendfürsorge. 
Zeitschr. f. Kindersch., Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 7/8, S. 121—129. 1923. 
Der Verf., Leiter des Wiener städtischen Jugendamtes, gibt eine Fülle von Ge- 
danken und Vorschlägen, die sich mit dem Ausbau der städtischen Jugendfürsorge 
überhaupt, speziell in Wien, befassen. Alle seine Reformvorschläge lassen sich im Rah- 
men eines Referats nicht aufzählen. Der österreichischen Jugendfürsorge fehlt noch 
immer eine gesetzliche Grundlage, wie sie Deutschland im Jugendwohlfahrtsgesetz 
besitzt. Dieser Mangel macht sich besonders in der Rechtsfürsorge geltend. Der Verf. 
wirft die Frage auf, ob bei der städtischen Berufsvormundschaft eine Überwachung 
durch die gerichtliche Obervormundschaft einen Sinn habe, ob nicht vielmehr bei 
Vormundschaften, die das Jugendamt führt, eine gerichtliche Obervormundschaft 
entbehrlich wäre. Er zieht aber daraus nicht die äußerste Konsequenz, das Verlangen 


nach Ausschaltung des Gerichtes, sondern begnügt sich mit einzelnen sehr beachtens- 
werten Vereinfachungsvorschlägen; zum Teil verlangt er auch Änderungen des materi- 
ellen Rechts. Zu erwähnen wären daraus bloß das Verlangen nach Mithaftung der 
Eltern und der Frau des a. e. Vaters für den Unterhalt seines Kindes, wenn er bei diesen 
gegen bloße Naturalverpflegung arbeitet, ferner Arreststrafe für Väter, die sich der 
Unterhaltspflicht entziehen. Weitere Vorschläge zur Verbesserung der Rechtsfürsorge 
beziehen sich auf die unehelichen Schwangeren, auf Änderung der Ziehkinderordnung 
und auf Regelung der Schutzaufsicht und der Fürsorgeerziehung. In der Frage der 
gesundheitlichen Fürsorge schildert Verf. die heutigen Verhältnisse in Wien, wo nur 
ein kleiner Teil im Jugendamt, der überwiegende Teil durch das Gesundheitsamt ge- 
leistet wird. Er empfiehlt eine Zusammenfassung der gesamten Jugendfürsorge im 
Jugendamt durch Ausgestaltung des ärztlichen Dienstes in diesem und stellt als weiteres 
Ziel die Schaffung von allgemeinen Wohlfahrtsämtern auf, deren Aufbau er im einzelnen 
entwirft. Ausgezeichnete Bemerkungen befassen sich mit dem Verhältnis zwischen 
Arzt, Juristen und Fürsorger. Im Bereich der Erziehungsfürsorge wird die Umgestal- 
tung der Wiener städtischen Waisenhäuser in Erziehungsanstalten für schwer erzieh- 
bare oder überhaupt anstaltsbedürftige Kinder besprochen. Daran schließen sich Be- 
merkungen über den Ausbau der Einrichtungen der halboffenen Fürsorge. Für das 
Gebiet der Wirtschaftsfürsorge fordert Verf. die Übertragung der gesamten Armen- 
kinderpflege an das Jugendamt. Mit ein paar Worten streift er die Rückständigkeit 
des österreichischen Armenrechts und die als skandalös bezeichneten Verhältnisse der 
Fürsorge (eigentlich Nichtfürsorge) der Nachfolgestaaten für ihre in Wien zahlreich 
wohnenden Staatsangehörigen. In der Personalfrage wird der Mangel an genügender 
Zahl von Berufsfürsorgerinnen beklagt und Unterstützung durch ehrenamtliche Helfe- 
rinnen gefordert. In der Besprechung der freiwilligen Fürsorge wird das Überwiegen 
der parteipolitischen Einstellung beklagt, die eine Führung durch die Gemeinde eigent- 
lich ausschließt, weil diese nicht als politisch neutral angesehen wird. Der Verf. beklagt 
das mangelnde Gemeinschaftsgefühl der Massen, an deren Stelle ein durch Demagogie 
bis zur Bürgerkriegsstimmung entfachter Parteigeist herrscht. Er fordert völlige 
Neutralität des Berufsbeamtentums, namentlich aber der Fürsorgerinnen, früh von 
dem autokratischen Gewissensdruck der jeweils herrschenden Partei und tritt für die 
meist dem früheren Mittelstand entstammenden Fürsorgerinnen ein, die, ohne aus dem 
Proletariat im gewöhnlichen Sinne hervorgegangen zu sein, durch das der Intelligenz- 
schicht seit jeher eigene vertiefte Gemeinschaftsgefühl und deren vertiefte soziale Er- 
kenntnis zu trefflichen Erzieherinnen für die unteren Schichten gemacht werden. Bartsch. 
Uhlirz, Rudolf: System der gesundheitlichen Jugendfürsorge auf dem Lande. 
Zeitschr. f. Kindersch., Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 7/8, S. 135—137. 1923, 
Zur Ausgestaltung der gesundheitlichen Jugenfürsorge gibt Uhlirz aus seinen 
langjährigen Erfahrungen unter der österreichischen Landbevölkerung ganz präzise 
Vorschläge. Da die Sterblichkeit eines Geburtsjahrganges auf dem Lande im Durch- 
schnitt wesentlich höher ist als in der Stadt (15—50%, gegen 20%), von den Überleben- 
den nach Erfahrungen des Verf. nur 20—25% vollwertige Erwachsene werden, alle 
übrigen minderwertig bleiben, stellt dieses Ergebnis eine gewaltige Schädigung des 
Naturalvermögens dar. Eine Abhilfe ist um so dringender, als auf dem Lande doppelt 
soviel Kinder geboren werden, wie in der Stadt. Der Zweck einer gesundheitlichen 
Kinderfürsorge ist in keiner Weise ein karitativer, sondern der einer Verminderung 
sowohl der Kindersterblichkeit als einer Hebung der Wertigkeit der Überlebenden. 
Er wird dadurch erreicht, daß, nicht wie jetzt gelegentlich, sondern obligatorisch, 
am besten durch gesetzliche Regelung, alle Kinder regelmäßig vom Arzte untersucht 
werden. Prophylaktisches, rechtzeitiges Eingreifen wird auch eine finanzielle Be- 
lastung der Allgemeinheit vermeiden, da in weitaus der Mehrzahl der Fälle die zur 
Behebung oder Vermeidung der Schäden nötigen Maßregeln von der Familie und 
in der Familie durchgeführt werden können. — Die organisatorische und finanzielle 


za BR: ei 


Durchführung, für österreichische Verhältnisse gedacht, braucht nicht erörtert zu 
werden. v. Düring (Frankfurt a. M.). 
Haegi, Max: Kurerfolge der Kinder im Erholungshaus Adetswil. Schweiz. Zeitschr. 


f. Gesundheitspfl. Bd. 3, H. 3, S. 356—374. 1923. 

An 337 Kindern angestellte Messungen vor und nach dem Kuraufenthalt (Gewicht, 
Wachstum, Brustmaß, Kraftmessung, Blutbildung). Ein Teil der Kinder (etwa 40) nach !/, 
und ®/, Jahr nachuntersucht. Die meisten Schlüsse treffen bekannte Tatsachen; einige andere 
seien angeführt: die besten Resultate ergeben Kinder zwischen 10 und 13 Jahren. Ein Teil 
der Kinder erreicht nach kurzer Kur die Wirkungshöhe (einfach Erholungsbedürftige, Über- 
müdete, Unterernährte), andere recht langsam (latent Tuberkulöse, Rekonvaleszenten aus 
schwerer Krankheit). Hier ist 8—12 Wochen Aufenthalt nötig. Die Nachuntersuchung ergab, 
daß die Gewichtszunahme in beiden Gruppen nur recht beschränkt erhalten bleibt, viel besser 
der Blutbildungserfolg, der auch bei der zweiten Gruppe öfter sogar zu Hause sich erhöhte. 
Es wird darum empfohlen, Sonnenkuren zu bevorzugen, wo Sonne, Luft mit entsprechender 
Ernährung besondere Erfolge erwarten lassen. Mainzer. 


Bunsen, Vietoria de: A ehildren’s eharter. (Ein Freiheitsbrief des Kindes.) Child 
Bd. 13, Nr. 11, S. 321 —326. 1923. 

Der Save-the-Children Fund wurde zunächst zur Linderung der Hungersnot unter 
den Kindern gegründet, aber er hat von Anfang an weitere Ziele verfolgt, und nun ver- 
öffentlicht er den Entwurf einer Charter für das Kind (Charter ist schwer vollkommen 
zu übersetzen, es bedeutet eine feierliche Urkunde, in der Rechte verbrieft werden). 
die als Ausführung der ‚Grundrechte des Kindes‘ gedacht ist, wie sie im Februar 
d. J. in Genf auf der Jahreskonferenz der Internationalen Union des Save-the-Children 
Fund einstimmig beschlossen worden sind. Die dort beschlossenen Grundrechte sind 
in Schlagworte zusammengefaßt: 1. Recht auf Erziehung. 2. Recht auf Fürsorge im 
Bedarfsfall. 3. Recht auf Bevorzugung der Kinder bei Hilfen in Zeiten der Not. 4. Recht 
auf Entwicklung der Erwerbsfähigkeit und Schutz vor Ausbeutung. 5. Erziehung im 
Sinne sozialer Hilfsbereitschaft. Jede nationale Abteilung der Union sollte einen den 
Bedürfnissen ihres Landes entsprechenden Entwurf verfassen, der englische erscheint 
zuerst, wenn auch noch nicht in endgültiger Form. Er besteht aus einer Einleitung, 
einer Darlegung von vier Grundsätzen und aus 28 Ausführungsbestimmungen. In der 
Einleitung werden alle Völker der Welt aufgefordert, sich zum Schutze der Kinder 
zu vereinigen. Kein Kind soll wegen Mangels elterlicher Fürsorge zugrunde gehen, 
die Charter soll das Mindestmaß der einem Kinde gebührenden Pflege sichern. Als 
Hauptgrundsätze werden aufgestellt: Jedes Kind soll in Gesundheit und Ehre ge- 
boren und unter gesunden Bedingungen aufgezogen werden; jedes Kind soll in seiner 
Gesundheit geschützt, in Krankheit und Elend unterstützt, von Abwegen zurück- 
geführt werden; jedes Kind soll Gelegenheit zu physischer, geistiger, moralischer und 
geistlicher Entwicklung haben; jedes Kind soll als Mitglied der menschlichen Familie, 
im Bewußtsein seiner Kameradschaft mit allen Kindern erzogen werden. Die 28 Aus- 
führungsbestimmungen sind im Stile der englischen Gesetzessprache abgefaßt. Ihr 
wesentlicher Inhalt kann aus Raumgründen z. T. nur in Schlagworten und mit Un- 
genauigkeiten wiedergegeben werden. 1. Erziehung und Anleitung der Eltern und 
künftigen Eltern zur Erfüllung ihrer Pflichten. 2. In jedem Land soll ein Staatsamt 
zur Wahrung der Kinderinteressen und zur Beaufsichtigung der Anstalten für Kinder 
bestehen. 3. Anzeige jeder Geburt an die Gesundheitsbehörde. 4. Aufzucht der Kinder 
tunlichst in freier Luft und in Sonne. 5. Ordentliche Wohngelegenbheit für Eltern und 
Kinder mit Wasch- und Badeeinrichtungen. 6. Fürsorgestellen mit ärztlichem Dienst 
zur Beratung der Mütter über Pflege, Nahrung, Kleidung. 7. Milchbeschaffung zu 
billigsten Preisen. 8. Schulmahlzeiten für bedürftige Kinder. 9. Unterweisung über 
die zuträglichsten und billigsten Nahrungsmittel für jedes Lebensalter. 10. Unter- 
richt über die Grundregeln der Hygiene, besonders Reinlichkeit. 11. Erholungsfürsorge 
für Großstadtkinder und kränkliche Kinder. 12. Fürsorge für kranke, zurückgebliebene, 
verkrüppelte, nicht vollsinnige und schwachsinnige Kinder. 13. Fürsorge für schwäch- 
liche Mütter, Behandlung der Augen, Ohren, Nasen, Zähne der Kinder und Behand- 


lung der Volkskrankheiten. 14. Erhaltung bedürftiger Waisen durch den Staat. 
14. Fürsorge für Kinder verlassener und verwitweter Mütter, invalider und arbeits- 
loser Väter. 16. Jugendgerichte mit dem Zweck der Fürsorge, nicht der Bestrafung. 
17. Keine Todesstrafe für Kinder. 18. Verbot der Industriearbeit für Schulkinder, 
der gefährlichen und der Nachtarbeit für Jugendliche. 19. Bestrafung von Grausam- 
keiten, der Vernachlässigung und der Ausbeutung von Kindern. 20. Schulunterricht 
und Schuleinrichtungen. Jedes Kind, das besonderes verspricht, soll zum höheren 
Unterricht zugelassen werden. 21. Handfertigkeit und Körperübungen obligat im 
Schulunterricht. 22. Mädchenunterricht im Nähen, Waschen, Kochen, Hauswirtschaft 
und Kinderpflege. 23. Berufsberatung. 24. Berufsführung. 25. Spielplätze und Spiel- 
geräte. 26. Erziehung zur Kenntnis der Naturwunder und zum Schutz des Tier- und 
Pflanzenlebens. 27. Erziehung zur Pflege des Schönen, zur Kenntnis und Teilnahme 
an Kunst, Musik, Theaterspiel. 28. Gelegenheit zur Berührung mit Kindern anderer 
Klassen und Rassen und zur gegenseitigen Dienstleistung. Ziel alles Geschichtsunter- 
richtes Erweckung allgemeiner Menschenliebe. R. Bartsch (Wien). 

„Desertion in Toronto“. Memorandum of wife and family desertion, Importance of 
family desertion as a soeial problem. (Instichlassen von Ehefrau und Kindern als 
soziales Problom.) Public health journ. Bd. 14, Nr. 2, S. 82—89. 1923. 

Der Aufsatz weist auf die große Bedeutung hin, die das Verlassen, das In-Stich- 
lassen der Familie durch den Familienvater, als soziales Problem hat. Den Kindern 
einer solchen Familie fehlt nicht nur der Vater, auch die Mutter wird ihnen durch die 
Erwerbsarbeit, zu der sie gezwungen ist, genommen, sie kann sich nicht mehr in aus- 
reichender Weise um das Hauswesen kümmern, und trotzdem ist sie oft nicht imstande, 
den notwendigen Lebensunterhalt heranzuschaffen. Durch Zahlen aus den verschie- 
denen Gebieten der Wohlfahrtspflege in Toronto wird nachgewiesen, daß von den 
unterstützten Familien fast 10%, die Unterstützung brauchten, weil der Familienvater 
sie verlassen hatte und nicht für sie sorgte. Zahlenmäßig nicht zu belegen ist der Ein- 
fluß, den das gewissenlose Verhalten des Vaters auf die Kinder gehabt, die vor dem 
Jugendgericht erscheinen mußten, wohl aber kann man annehmen, daß er recht be- 
trächtlich ist. Die Gesetzgebung hat die Bedeutung der väterlichen Verantwortlich- 
keit dadurch anerkannt, daß sie durch Vertrag mit den Vereinigten Staaten das bös- 
willige Verlassen der Familie zu einer Straftat gemacht hat, deren Täter ausgeliefert 
wird. Im allgemeinen aber ist die Praxis noch weit davon entfernt, den Ansprüchen 
der Familie zu genügen, hier bleibt noch viel zu wünschen übrig; ist es einer 
Wohlfahrtsorganisation glücklich gelungen, den flüchtigen Vater in einer anderen Stadt 
ausfindig zu machen, so ist es doch fast unmöglich, ihn zur Gerichtsverhandlung nach 
Toronto zu bringen, weil öffentliche Mittel für den Transport nicht vorhanden sind, 
sie also von anderer Seite aufgebracht werden müssen; die betroffene Familie selbst 
ist dazu aber nicht in der Lage, und ersetzt werden die Kosten später nur, wenn eine 
Verurteilung erfolgt. Und wenn es wirklich bis zur Verhandlung kommt, ist damit 
nicht viel geholfen, denn meist wird das Urteil aufgeschoben (sentence suspended) 
und der Mann verschwindet wieder, ohne daß es gelungen ist, einen Pfennig von ihm 
zu erlangen. Verf. macht zum Schluß verschiedene Vorschläge, um diesen unhaltbaren 
Zuständen abzuhelfen; vor allem fordert er, daß die vorläufigen Kosten des Straf- 
verfahrens von der Öffentlichkeit übernommen werden. Elsa v. Liszt (Berlin). 

Powlison, Charles F.: The road to mental health. (Seelische Hygiene.) ‚Child 
Bd. 13, Nr. 11, S. 335—337. 1923. 

In Amerika besteht ein großes Interesse an „vorbeugender geistiger Hygiene‘, 
einer Bestrebung, die etwa unserer Psychopathenfürsorge gleicht. Man betont auch dort 
die Wichtigkeit, geistige Abnormitäten Erwachsener dadurch zu verhüten, daß man 
die leichten Anklänge in der Kindheit aufdeckt und durch Besserung der häuslichen 
Verhältnisse und durch verständnisvolle Erziehung das Kind zu ‚‚gesunden geistigen 
Gewohnheiten“ erzieht. Um die Aufmerksamkeit der breiten Volksschichten auf diese 


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Arbeit zu lenken und sie zur Mitarbeit heranzuziehen, hat die National Child Welfare 
Association eine Reihe von Plakaten veröffentlicht, unter dem Titel „Geistige Hy- 
giene in der Kindheit.“ Diese Bilder zeigen außerordentlich anschaulich die Fehler, 
die bei ungünstiger Umgebung und verständnisloser Erziehung oft die mißlichen 
geistigen Reaktionen in dem Kind hervorrufen. So steht z. B. ein ganz vertrotztes 
kleines Mädchen hinter einer Barriere, auf der die dauernden Verbote stehen: Nicht 
doch! laß das! nicht anfassen! halt dich still! . Und darunter die Frage: ‚Warum 
hältst du dein Kind hinter Schranken? Fragen, untersuchen, zweckvolle Tätigkeiten 
sind natürlich und notwendig zur Gesundheit des Kindes und seiner Entwicklung.“ Die 
Bilder geben aber auch sog. „Gefahrsignale‘“. So sitzt ein kleiner Junge ganz allein 
ohne zu spielen vor dem Haus. An der Ecke stehen 2 andere Buben, von denen einer 
den anderen fragt: Hans ist sehr sonderbar, nicht? Und darunter steht ‚„Untätigkeit, 
schlechte Laune, Ungeselligkeit, Wutanfälle, Erregbarkeit, große Ängstlichkeit, un- 
kindliches Benehmen, darauf sollte man achten.“ Hoffentlich lassen sich auch bei uns 
Mittel finden, auf so einfache, volkstümliche Weise die Aufmerksamkeit weiterer Kreise 
auf die Wichtigkeit der Beachtung von kleinen Einzelzügen hinzulenken. Nur so kann 
man die Erziehungsmaßnahmen der Eigenart des Kindes anpassen und wirklich er- 
folgreich eine Reihe von geistigen Abnormitäten des Erwachsenen verhüten. Lotte Nohl. 

Clarke, €. K.: Mental hygiene in Canada. (Psychische Hygiene in Kanada.) Lancet 
Bd. 204, Nr. 22, S. 1139—1141. 1923. 

Verf. berichtet üher die in Kanada getroffenen psychiatrisch-hygienischen Maß- 
nahmen. Er weist zunächst auf die Gefahren einer planlosen Einwanderung hin; 
diese besteht besonders hinsichtlich der Jugend. Von 1386 schwachsinnigen Kindern 
waren nur 25%, in Kanada geboren, 33%, waren Fremde, der Rest war erst kürzlich ein- 
gewandert. In einer Klinik allein waren binnen kurzem 107 Mädchen und 24 Knaben 
von Auswanderern eingeliefert worden. Die psychiatrische Ausbildung der Ärzte ließ 
bis vor kurzem zu wünschen übrig. Es besteht eine starke Bewegung, um eine wirk- 
same psychische Hygiene zu schaffen: Verbesserung der Pflegeanstalten, Studium der 
Krankheitsursachen, Aufklärung des Publikums, Beeinflussung der öffentlichen Mei- 
nung. Besonders die Dementia praecox verdient eifriges Studium, damit eine früh- 
zeitige Erkennung der Fälle möglich ist. Von eugenischen Maßnahmen verspricht man 
sich nicht allzu viel. Der Anwendung von Tests gegenüber verhält Verf. sich kritisch. 
Als besonders wichtig bezeichnet er die Erziehung des Publikums. Erich Stern., 

Giannini, Cesare: Previdenza sociale. (Soziale Vorsorge.) Rass. d. previd. soc. 
Jg. 10, Nr. 3, S. 22—31. 1923. 

Am l. Februar d. J. begann in Rom ein Kurs über ‚‚soziale Vorsorge‘, der mit 
einem Vortrag des Verf. eröffnet wurde, in dem die allgemeinen Grundsätze, die ge- 
schichtliche Entwicklung und die gegenwärtigen Einrichtungen behandelt wurden. 
Der Artikel bringt den Hauptteil dieses Vortrages, der die modernen Versicherungs- 
formen betrifft. Soweit der veröffentlichte Teil des Vortrages es erkennen läßt, scheint 
der Verf. unter ‚Previdenza‘‘ nur die Vorsorge für die Mittel zu einer Fürsorge in den 
verschiedensten Bedürfnisfällen zu verstehen. Die freie Vorsorge, auf dem Gedanken 
der Zurücklegung für Notfälle beruhend, reicht nicht aus, die Entwicklung des Arbeits- 
verhältnisses mit seinen Gefahren hat zur obligatorischen Vorsorge unter Beteiligung 
von Kapital und Arbeit geführt, deren Programm einerseits die Verhütung von Schäden 
ist, andererseits die gesundheitliche und wirtschaftliche Heilung von Schäden, die die 
Verhütungsvorsorge nicht zu hindern vermochte. Daneben wird der Fortbestand 
anderer Vorsorgearten mit ihren besonderen Bedingungen anerkannt (Liebestätigkeit, 
Gegenseitigkeitshilfe und private Vorsorge des einzelnen). Eine ideale Ordnung der 
Vorsorge ist nirgends verwirklicht, auch nicht in Deutschland, das in dieser Beziehung 
am fortgeschrittensten ist. Sodann werden die allgemeinen Gesichtspunkte für die 
einzelnen Vorsorgezweige und ihren Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Ordnung 
erörtert. In einer für Anfänger bestimmten Weise wird eine Einführung in die Grund- 


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gedanken der Mutter- und Säuglingsfürsorge, der Bekämpfung der Volkskrankheiten 
und der Schulkinderfürsorge gegeben, woran sich eine ebenso allgemein gehaltene 
Erörterung der Grundgedanken der einzelnen Sozialversicherungszweige, der Kranken-, 
Unfalls-, Invaliditäts- und Altersversicherung anschließt. Bartsch (Wien). 

Holt, L. Emmett, and Helen L. Fales: Observations on the health and growth of 
ehildren in an institution. (Beobachtungen über Gesundheitszustand und Wachs- 
tumsverhältnisse von Kindern in einem (halbcharitativem) Institut.) (Zaborat., Rocke- 
feller inst. f. med. research a. babies’ hosp., New York.) Americ. journ. of dis. of children 
Bd. 26, Nr. 1, S. 1—22. 1923. 

Die Beobachtungen sind dem Material eines katholischen Schulheims für arme 
Kinder entnommen, das von französischen Ordenssch western geleitet wird. Die Kinder 
entstammen nicht den allerärmsten Kreisen, da ein mäßiges Verpflegungsgeld verlangt 
wird. Altersgrenzen 4—14 Jahre bei den Jungen, 4—16 Jahre bei den Mädchen. Das 
Heim befindet sich auf dem Lande in der Nähe von New-Jork. Der Schulunterricht 
ist der übliche. Da nur ein Teil der Kinder während der ganzen möglichen Aufent- 
haltsdauer dort bleiben, viele dagegen nur einige Jahre oder Monate, so ist der Wechsel 
ziemlich groß. Psychisch abnorme sowie akut oder infektiös kranke Kinder werden 
nicht aufgenommen. Unterernährte Kinder dagegen werden bevorzugt. Innerhalb 
31 Beobachtungsmonaten entstand keine Epidemie, der Gesamtgesundheitszustand 
war ausgezeichnet. Die Mahlzeiten wurden schweigend eingenommen, da es sich 
herausgestellt hat, daß die Kinder so hesser essen. Von der Schulstunde fallen 3 auf den 
Vormittag, 2 auf den Nachmittag. Die älteren Mädchen arbeiten im Haushalt und in 
der Nähstube mit, die Knaben im Garten. An der Hand ausführlicher Tabellen wird 
eingehend über die Ernährungsweise, die Beziehungen von Gewicht zur Größe, der 
Größe zum Alter, des Gewichts zum Alter und über die körperliche Gesamtentwick- 
lung berichtet. Kinder bis zu 10 Jahren haben spontan erheblich mehr Nahrung zu 
sich genommen, als den theoretischen Erfordernissen entsprach; diejenigen über 10 Jahre 
dagegen blieben vielfach hinter dem theoretischen Normalbedarf zurück. Die Zahl 
der Kinder mit unternormalem Gewicht war kleiner als gewöhnlich bei schulärztlichen 
Untersuchungen. Von den Kindern, die länger als ein Jahr in dem Heim waren, erreich- 
ten fast alle Knaben das normale Gewicht, über zwei Drittel der Knaben auch die nor- 
male Länge, während bei den Mädchen das Ergebnis erheblich schlechter war (wenig 
mehr als die Hälfte bekanı das Normalgewicht, eben die Hälfte die normale Länge). 
Vergleiche der Monatsgewichtszunahmen ergaben keine Gesetzmäßigkeit; die gleichen 
Kalendermonate verhielten sich in den aufeinanderfolgenden Jahren ganz verschieden. 
Dagegen waren die Jahresgewichtszunahmen für die gleichen Altersstufen fast kon- 
stant. Die Untersuchungen kommen zu den Ergebnis, daß in einem Kinderheim durch- 
aus kein „Hospitalismus‘“ zu herrschen braucht, daß im Gegenteil die Gesundheits- 
verhältnisse bei guter ärztlicher Überwachung, regelmäßiger Lebensführung, einfacher, 
aber auskömmlicher Kost und dem Fehlen von Infektionskrankheiten ausgezeichnet 
sein können. Obwohl die Mengenverhältnisse von Fett, Eiweiß und Kohlenhydraten 
in der Nahrung nicht ideal und vor allem Milch, Fett, Vitamin A und Calcium zu knapp 
waren, gediehen die Kinder gut und waren nicht besonders krankheitsanfällig. Yillinger. 

Give the ineorrigible ehild a ehance. (Gebt dem schwererziehbaren Kind eine 
Aussicht!) Long Island med. journ. Bd. 17, Nr. 7, S. 248—249. 1923. 

Newman, Ruth: The Suffolk County Board of Child Welfare. (Das Kinderwohl- 
fahrtsamt des Bezirks Suffolk N. Y.) Long Island med. journ. Bd. 17, Nr.7, S. 250 
bis 253. 1923. 

Macauley, Ella H.: The Nassau County Board of Child Welfare. (Das Kinder- 
wohlfahrtsamt des Bezirks Nassau N. Y.) Long Island med. journ. Bd. 17, Nr.7, S. 253 
bis 255 1923. 

Die 3 Artikel der amerikanischen medizinischen Zeitschrift gehören insofern zu- 
sammen, als sie über die Art und Tätigkeit zweier vorbildlicher Kinderwohlfahrtsämter 


— 62 — 


im Staate New Yersey der amerikanischen Union berichten. Von diesen ist das Amt 
von Suffolk besonders gut eingerichtet. Es wurde durch ein Gesetz vom Jahre 1921 
geschaffen. Die Leitung besteht aus dem Superintendenten für Armenpflege, 2 Mit- 
gliedern des Beaufsichtigungsamtes (Board of Supervisors), 4 Beisitzern des Bezirks- 
gerichtes (darunter notwendig 2 Frauen) und einem Stab von 4 weiblichen Beamten, 
einer Direktorin, 2 Fürsorgerinnen (, investigators“) und einer Stenotypistin. Die Auf- 
gaben des Amtes, dem im allgemeinen, wo es notwendig ist, die Sorge und Behandlung 
der Kinder unter 16 Jahren unterliegt, besteht speziell in folgendem: 1. Es hilft 
mittellosen Müttern und Vormündern, die ihrer menschlichen Qualität nach imstande 
sind, die Kinder zu versorgen, mit Geldunterstützungen aus. 2. Es nimmt hilfsbe- 
dürftige Kinder aus ungeeigneten häuslichen Verhältnissen heraus und bringt sie auf 
öffentliche Kosten in entsprechende Anstalten oder Heime unter. 3. Es läßt die Woh- 
nungen vernachlässigter oder mißhandelter Kinder aufsuchen und zwingt die Erzie- 
hungspflichtigen durch Warnungen ev. durch Strafanzeigen zur Erfüllung ihrer Pflich- 
ten gegen die Kinder. 4. Es läßt auf öffentliche Kosten straffällige Kinder in An- 
stalten und Heime unterbringen. 5. Es sorgt für defekte Kinder, so für geisteskranke, 
epileptische, schwachsinnige, blinde, taubstumme und körperlich verkrüppelte Kinder. 
Die staatliche Kommission für geistig Defekte unterstützt insofern die Bestrebungen 
des Wohlfartsamtes, als es besondere Sprechstunden zur Untersuchung solcher Kinder 
eingerichtet hat; auch die staatlichen Krankenhäuser arbeiten mit. Die Notwendig- 
keit einer geistigen Erziehung (Heilpädagogik!) wird besonders betont. An einigen gut 
gewählten Beispielen wird die segensreiche Tätigkeit des Kinderwohlfahrtsamtes in 
Suffolk beleuchtet. Das Amt im Bezirk Nassau ist insofern nicht so umfangreich, 
als es sich auf die Unterstützung verwitweter Mütter oder von solchen Frauen, deren 
Männer geisteskrank in einer Anstalt oder als Verbrecher über 5 Jahre im Gefängnis 
sich befinden, beschränkt. Überall wird das Prinzip vertreten, das Kind möglichst 
im Schutz der Mutter und des eigenen Heims zu belassen und nur unter ungünstigen 
Bedingungen diesen Schutz dem gefährdeten Kind von Amtswegen zu ersetzen. Den 
schwer erziehbaren psychopathischen Kindern (in den erfaßten amerikanischen Be- 
zirken merkwürdigerweise fast nur Knaben!), deren Behandlung bekanntlich ein schwie- 
riges Problem darstellt, ist ein eigener, warmherziger Artikel gewidmet. Diesen Kin- 
dern ist nach Ansicht des Autors nur zu helfen durch Herausnahme aus den häuslichen 
Verhältnissen, strenge Abhaltung elterlicher Einmengung, unter der fürsorglichen und 
erzieherischen Hand einer Frau mit besonderen Muttereigenschaften (‚‚motherly wo- 
men‘). Mit solchen Frauen, die Neigung zum schwer erziehbaren Kinde haben müssen, 
hat man im Suffolkamte gute Erfahrungen gemacht. Es muß bemerkt werden, daß 
eine Behandlung auch bei einer solchen hochqualifizierten Erzieherin auf mindestens 
2 Jahre geschätzt wird (eine Mahnung für diejenigen, die den Wert heilpädagogischer 
Maßnahmen in der Schnelligkeit ihrer Erfolge sehen!). Es wird dafür eingetreten, einer 
solchen Spezialerzieherin eine entsprechend hohe Bezahlung zu geben, weil sie neben 
dem ethischen Erfolg, auch wenn sie nur wenige Kinder in Erziehung nehmen kann, 
durch Korrektion dieser sozial minderwertigen und gefährdenden Individuen dem 
Staate viel Kosten zu ersparen vermag. E. Feuchtwanger (München). 
Diseussion on mental defieieney in its social aspeets. I. Potts, William A.: Intre- 
duetory papers. (Diskussion über die geistige Minderwertigkeit in ihren sozialen Aus- 
wirkungen. I. Einleitende Abhandlung.) Brit. med. journ. Nr. 8267, S. 219—221. 1923. 
Die Zahl der geistig Minderwertigen ist eine große. Die in England 1906 fest- 
gestellte Zahl von 1: 200 der Bevölkerung ist zu niedrig gegriffen. Sie haben zu allen 
sozialen Problemen enge Beziehungen, zur Prostitution und Verbreitung der Ge- 
schlechtskrankheiten, zur chronischen Trunksucht, zu den unehelichen Geburten. 
dem Verbrechertum, zur Arbeitslosigkeit, ja selbst bei den Kriegserkrankungen und 
Granatschockverletzungen macht sich die Bedeutung der geistigen Minderwertigkeit 
bemerkbar. Dieser großen Wichtigkeit für das öffentliche Leben hat das englische 


Gesetz über die geistig Minderwertigen Rechnung getragen, dem aber besonders von 
seiten der Behörden noch nicht das volle und nötige Verständnis entgegengebracht wird, 
und dem bei seiner Anwendung noch viele Mängel anhaften. Besonders wird ver- 
kannt, daß die rechtzeitige Erkennung des Schwachsinns nur durch sorgfältige und 
wiederholte Untersuchungen durch besonders ausgebildete Sachverständige möglich ist 
und daß den geistig Minderwertigen gegenüber jede nicht ärztliche und nicht fürsorge- 
rische Behandlung unangebracht ist. In allen Fällen von sozialem Schiffbruch ist 
zuerst die Frage nach geistiger Minderwertigkeit aufzurollen. Eine Ausmerzung der- 
selben wird niemals möglich sein; man wird aber durch vorbeugende Maßnahmen 
gegen die Hauptschädlichkeiten — Vererbung, Syphilis, Alkohol, ansteckende Er- 
krankungen die Häufigkeit wesentlich einschränken können. Andererseits kann auch 
die schon bestehende geistige Minderwertigkeit wenigstens teilweise arbeitsfähig ge- 
macht und vor der Verwahrlosung geschützt werden — durch Untersuchung und 
Feststellung in den Schulkliniken, wirksame Überwachung, Erziehung und Unter- 
bringung in Anstalten. Bei allen diesen Maßnahmen hängt viel von der fachärztlichen 
Schulung und dem Interesse der Amtsärzte ab. Auch in England hat die Nachkriegs- 
zeit infolge des Mangels an Mitteln eine Erschwerung der sozialen Fürsorge mit sich 
gebracht und klagt Verf. sowohl über die Unmöglichkeit der Errichtung von Anstalten, 
als auch über die Erschwerung der kostspieligen Anstaltsunterbringung, welche die 
Frage nach anderen weniger kostspieligen Ersatzmaßnahmen wie die Sterilisation 
und die schmerzlose Tötung geistig Minderwertiger zur Diskussion gebracht hat, 
gegen welche er sich ablehnend verhält. Zingerle (Graz). 

Diseussion on mental deficiency in its social aspects. II. Pinsent, Ellen F. (Dis- 
kussion über die geistige Minderwertigkeit und ihre sozialen Auswirkungen. II.) Brit. 
med. journ. Nr. 3267, S. 221—224. 1923. 

Der Überblick über die seit dem 10jährigen Bestande des Gesetzes über die geistig 
Minderwertigen geleistete Arbeit läßt eine Reihe von Schwierigkeiten erkennen, welche 
der Auswirkung desselben noch entgegenstehen. In England und Wales betrug die 
Zahl der geistig Minderwertigen schätzungsweise 0,46%, der Bevölkerung und sind 
von diesen 44,45%, dringlich der Überwachung bedürftig. Diese begegnet aber noch 
großen Hindernissen, weil nicht alle geistig Minderwertigen der gesetzlichen Kontrolle 
unterliegen und weil die verschiedenen Alterskategorien verschiedenen Zentral- 
und Lokalbehörden unterstellt sind. Es leidet dadurch die Zusammenarbeit und die 
Kontinuität der Fürsorge, die Kontrolle und die Verhütung der sozialen Schäden. 
Nur die Hälfte der Fälle findet die im Gesetze vorgeschriebene besondere Schulerziehung; 
die übrigen bleiben in den gewöhnlichen Schulen und werden nicht unter den Schutz 
des Gesetzes gestellt. Es sollte deshalb jedes geistig minderwertige Kind zum min- 
desten wenn es die Schule verläßt, oder ausgeschlossen wird, angemeldet werden. 
Eine bessere Kontinuität der Fürsorge müßte auch erwirkt werden bei Übernahme der 
geistig Minderwertigen aus den Armenhäusern und den Spitälern, die durch admi- 
nistrative Schwierigkeiten sehr behindert ist und unter dem Mangel des Zusammen- 
arbeitens der Lokalbehörden leidet. Ebenso ist es bedauerlich, daß von der Verfügung 
kriminelle geistig Minderwertige statt in Gefängnisse in Spezialanstalten zu bringen, 
zu wenig oder zu spät Gebrauch gemacht wird. Sehr mangelhaft kommen viele Lokal- 
behörden der Verpflichtung nach, die Überwachung und Fürsorge für die geistig Minder- 
wertigen ihres Amtsbezirkes durchzuführen und für die Vormundschaft zu sorgen. 
Eine der wichtigsten Aufgaben — die Unterbringung in Anstalten — scheitert leider 
an dem Platzmangel, durch welchen die viel zu ungenügende Bettenzahl meist auf 
lange hinaus vergeben ist. 14 von 126 Lokalbehörden besitzen keine eigene Anstalten 
und ist seit 1922 keine neue Anstalt errichtet worden. Die Not der Nachkriegszeit 
drängt die Frage auf, ob man mit anderen Methoden außerhalb der Anstalten die 
Sicherung der geistig Minderwertigen und den Schutz der Allgemeinheit leisten kann. 

Zingerle (Graz). 


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Discussion on mental deficieney in its soeial aspeets. Devine, Henry: Segregation 
of mental defeetives. (Die Internierung der geistig Minderwertigen.) Brit. med. journ. 
Nr. 3267, S. 224—226. 1923. 

Durch die Anstaltsunterbringung der Geisteskranken, Epileptiker, Verbrecher 
und geistig Minderwertigen wird eine große Anzahl von Individuen unschädlich ge- 
macht, welche unfähig sind, für sich selbst zu sorgen, und eine soziale Gefahr bedeuten. 
Gleichzeitig wird dadurch die Fortpflanzung der Untauglichen verhindert. In Eng- 
land ist ein Mißbrauch der Internierung nicht zu befürchten, die erst nach Erschöpfung 
jeder anderen Möglichkeit durchgeführt wird. Es besteht gegenwärtig sogar eine 
ausgesprochene soziale Strömung gegen die Anstaltsunterbringung, die eine Gefahr 
für die Gesellschaft bedeutet. Die Internierung aus eugenischen Rücksichten allein 
kommt aus verschiedenen Gründen nicht in Betracht und bleibt eine große Anzahl 
von Psychopathen und geistig Minderwertigen in der Freiheit, die der Hilfe und Führung 
bedürfen. Ihnen kann genützt werden durch Überwachung vom Kindesalter an, 
durch Ausbreitung der Organisationen für soziale Wohlfahrt, Schaffung von ihren 
Fähigkeiten angepaßten Arbeitsmöglichkeiten, Schutz vor schlechten Umgebungs- 
einflüssen und Einrichtung von Ambulanzkliniken. Zur Verhütung der Fortpflanzung 
solcher Individuen können erziehliche Methoden, Aufklärung über Geisteshygiene, 
Ehe und Vererbung im Volke viel beitragen. Zingerle (Graz). 

Diseussion on mental defieieney in its social aspeets. Gibbons, R. A.: Sterilization 
of mental deleetives. (Die Sterilisation der geistig Minderwertigen.) Brit. med. journ. 
Nr. 3267, S. 226—228. 1923. 

Trotz der im Gesetze vorgesehenen Fürsorge wächst die Zahl der geistig Minder- 
wertigen. Zwei Drittel derselben können nicht geheilt werden, pflanzen sich aber 
massenhaft fort und erzeugen wieder minderwertige Kinder. Dagegen gibt es nur eine 
Abhilfe — die Sterilisation. Diese wäre bei Kindern bei festgestellter Unheilbarkeit 
bis zum 16. Jahre durchzuführen, nach genauer Untersuchung durch zwei Irrenärzte, 
welche bei geringstem Zweifel über die Besserungsfähigkeit die Grenze der Sterilisation 
über 16 Jahre hinauszuschieben hätten. Bei erwachsenen Minderwertigen könnte man 
einen oder beide Teile sterilisieren, bevor man den Ehekonsens erteilte. Dadurch 
würde man auch der Gefahr unehelicher Kinder entgehen, die bei einfachem Ehe- 
verbot besteht und würde man auch der Unzufriedenheit aus dem Wege gehen. — 
Gegengründe gefühlsmäßiger Art können keine Geltung haben, wenn das Wohl der 
ganzen Gesellschaft auf dem Spiele steht. Man könnte übrigens auch eine 4jährige 
Probezeit der Sterilisation einführen und falls sie sich nicht bewähren sollte, dann eine 
bessere Methode der Lösung des Problems versuchen. Zingerle (Graz). 

@ Reichel, H.: Katechismus der Gesundheit. 2. verb. Aufl. Wien u. Leipzig: 


Moritz Perles 1923. Kr. 5000.—. 

In knapper, dabei doch eindringlicher Form werden in 3 Hauptstücken Regeln für die 
Gesunderhaltung aufgestellt. Das 1. Hauptstück handelt von Wesen und Wert der Gesund. 
heit und der Pflicht, gesund zu sein, das 2. vom Streben nach Gesundheit (naturgemäße Be- 
tätigung, Nahrung und Umwelt); das 3. Hauptstück von der Bewahrung der Gesundheit (Be- 
wahrung vor Krankheitserregern, vor Giften, Bewahrung des ererbten Keimgutes). Das 
Büchlein ist nicht nur in der Hand des Laien nützlich, sondern kann auch für volkstümliche 
Vorträge als Unterlage dienen. Tugendreich (Berlin). 

Tonina, Teodoro A.: Die Ernährung des Sehulkindes. Semana med. Jg. 30, Nr. 23. 


8.1085—1095. 1923. (Spanisch.) 

Befragung der Schüler von 3 Volksschulen in Buenos Aires, davon eine im Innern 
der Stadt, eine im Stadtteil Flores und eine im Stadtteil La Boca lag, ergab, daß 67,25°. 
genügend gefrühstückt, 65,15%, genügend zu Mittag gegessen hatten. 29,95%, hatten ungenü- 
gend, 2,8% gar nicht gefrühstückt, 32,85%, hatten ungenügend zu Mittag gegessen. Dies 
und andere Feststellungen sind ein Beweis für die schlechte Ernährung argentiniecher Groß- 
stadtschulkinder. Es sind dort deshalb schon seit 1904 durch Dr. Genaro Sixto Einrichtungen 
getroffen, die eine Ernährungszulage für die Schulkinder ermöglichten. Die sog. „Copa de 
leche‘‘ (Tasse Milch), der „plato de sopa“‘ (Teller Suppe) und die „Miga de pan“ (Scheibe Brot 
sind derartige durch Stiftungen, Beisteuern der Eltern usw. in den Schulen bereitgestellte 


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Nahrungsmittel. Aber allgemein durchgeführt sind diese Maßnahmen nicht. Deshalb wird 
vorgeschlagen, daß der Staat eine Schülerernährung einrichtet, die in einem Frühstück für 
alle, dazu in einem Mittagessen und einer Pause für die Schüler, die auch nachmittags Unter- 
richt haben, bestehen muß. Auch für Reinlichkeit (Bäder, Kleidung) müßte gesorgt werden. 
Neben den hygienischen Vorteilen verspricht Verf. sich auch Besserung der Manieren usw. 
von diesen gemeinsamen Mahlzeiten, nicht zuletzt aber strebt er auch eine Erziehung zu 
rationellerem Wirtschaften und Kochen an. Creutzfeldt (Kiel). 

Sehmitt, Erich: Die erzieherischen Aufgaben des Fürsorgearztes. Sozialhyg. Mitt. 
Jg. 7, H. 1/2, S.7—11. 1923. 

Die Fürsorgetätigkeit erschöpft sich nicht in den bekannten Fürsorgemaßnahmen, 
sie hat 2 Aufgaben zu erfüllen: Erziehung zur Gesundheit und Erziehung zur Verant- 
wortung. ‚Die Sorge für die Gesundung oder Gesunderhaltung muß zum kategorischen 

Imperativ werden! Ein jeder muß durchdrungen sein von der Pflicht, seinen Körper 
und Geist gesund zu erhalten und auch die Gesundheit seiner Mitmenschen zu achten!“ 
Der Fürsorgearzt soll aber auch Erzieher zur Kultur sein. Wirtschaftlicher Wiederauf- 
bau ohne Erziehung zur Kultur ist erfolglos. Verf. gibt zu, daß in dieser Forderung viel 
Idealismus und Optimismus stecken mag. Der Fürsorgearzt soll heute aber auch Seelen- 
arzt sein und wird vom Verf. bewußt in die erste Reihe der Führer gestellt, die das 
Volk wieder zur Höhe führen können (? Ref.). Engelmann (Kiel). 
Säuglings- und Kleinkinderfürsorge : 

Rott: Die Not der Säuglings- und Kleinkinder-Heil- und -Pflegeanstalten und die 
Wege zu ihrer Abhilfe. Zeitschr. f. Säuglings- u. Kleinkinderschutz Jg. 15, H. 2, S. 41 
bis 51. 1923. 

Durch die schwierige Finanzlage sind Säuglings- und Kleinkinderpflegeanstalten 
in die bedrohlichste Lage geraten. Durch den Mangel an Pflegestellen, hervorgerufen 
durch die von der Stadt Berlin gezahlten, absolut unzureichenden Pflegesätze (Dezember 
1922 300 M. täglich, 11 Milch = 200 M täglich!) wird die Anstaltspflege überlastet. Die 
von der Stadt Berlin gezahlten Subventionen an die privaten Anstalten (die städtischen 
reichen zur Unterbringung der anstaltsbedürftigen Kinder nicht aus) sind unzureichend, 
die Pflegegelder werden von der Stadt Berlin erst nach eingetretener Geldentwertung 
gezahlt. Verf. schlägt vor, daß die Stadt Berlin an Stelle von Geldmitteln Sachleistun- 
gen (Heizmaterial, Erleichterung bei Anschaffung von Seife und Textilien) gewährt. 
Eine besondere Schwierigkeit der Zusammenarbeit von freier und öffentlicher Jugend- 
hilfe liegt in Berlin noch in der Zersplitterung der Säuglings- und Kleinkinderfürsorge 
von Jugend- und’ Gesundheitsamt. Vorschläge des Verf.: Selbsthilfe der freien Organi- 
sationen zur gemeinsamen Aufstellung der an die Stadt zu richtenden Forderungen. 
Wiederherstellung eines geordneten Pflegewesens. Klarlegung der Bedürfnisfrage 
d. f. Wieviel Säuglings-, Heil- und Pflegeanstalten sind notwendig zur Deckung des 
Fürsorgebedürfnisses. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Wynne, Fred. E.: An address entitled should infant mortality be redueed? (Denk- 
schrift über die Frage, ob die Säuglingssterblichkeit vermindert werden soll. Gerichtet 
an die Sektion für Mutterschafts- und Kinderschutz bei der Tagung des Sanitary Inst. 

in Hull am 2. Aug. 1923.) Lancet Bd. 205, Nr. 5, S. 211—213. 1923. 

Die Frage, die schon von manchen Autoritäten verneint worden ist, hat 2 Seiten: 
eine bevölkerungspolitische und eine rassenhygienische. Übervölkerung hat in man- 
chen ostasiatischen Ländern (China, Indien) zum (rituell befürworteten) Mädchenmord 
an Neugeborenen geführt. Statistische Zahlen von England und Wales zeigen, daß dort 
der Geburtenüberschuß in 10 Jahren von 12 auf 13 stieg, während er ın Sheffield von 
1902—22 um 32%, zurückging. Eine bevölkerungspolitische Indikation läge also für 
Sheffield nicht vor. Die selektive Bedeutung der Säuglingssterblichkeit kann auf Grund 
der bisher vorliegenden Untersuchungen (von Pearl und Snow) nicht zuverlässig be- 
urteilt werden. Es gilt vor allem zu entscheiden, ob an mit der Säuglingsfürsorge 
den Tod Minderwertiger nur hinausschiebt oder ob man damit wirklich günstigere Be- 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 5 


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dingungen für das endgültige Überleben von an sich lebenstüchtigen Kindern schafft. 
Verf. betrachtet eine Gruppe von 100 Säuglingstodesfällen in Sheffield und versucht 
zwischen vorwiegend erbbedingten Todesursachen (Frühgeborene, Debilität, Maras- 
mus, Krämpfe) und gleichermaßen erb- und umweltbedingten Todesursachen zu unter- 
scheiden. Der Einfluß der Säuglingsfürsorge ist wesentlich nur bei den Dyspepsien zu 
erkennen, die (als Todesursache) nach Ansicht des Verf. nicht viel mit Erbanlagen zu 
tun haben. Ein Vergleich der Säuglingssterblichkeit mit der Kleinkindersterblichkeit 
zeigt, daß die letztere von 1897—1922 nicht in dem gleichen Maß abnahm wie die 
erstere. Obwohl der Verf. in seinen Zahlen schon eine Rechtfertigung der Säuglings- 
fürsorge vom rassenhygienischen Standpunkt aus sehen möchte, betont er doch die 
Notwendigkeit größerer Zahlen (der Fehler der kleinen Zahl ist nirgends berechnet. 
Ref.) und genauere Studien über die Erblichkeitsverhältnisse der beobachteten und von 
der Fürsorge erfaßten Familien. Walter Scheidt (München). 

Trigueros, G.: Kinderschutz und Rechte der Sehwangeren. Asclepios Bd. 11, 
Nr. 3/4, S. 84—90. 1923. (Spanisch.) 

Kinderschutz und Mutterfürsorge sind untrennbar miteinander verbunden. Es wird 
ein Programm entwickelt, das keine wesentlich neuen Züge enthält. Eine Überwachung 
der arbeitsfähigen Schwangeren und deren rechtzeitige Spitalisierung wird gefordert. 

Rudolf Allers (Wien). 
Schulkinderfürsorge : 

@ Corvey: Über die Schulgesundheitspflege als Teilaufgabe der allgemeinen Wohl- 
fahrtspflege und Fürsorge und die dringende Notwendigkeit der Sehulkinderfürsorge in 
Lippe. Detmold: Meyersche Hofbuchhandlung 1923. 68 S. G.Z. 10. 

Ein in knapper Form gehaltener Abriß der Schulgesundheitspflege, wie sie ın 
Lippe gehandhabt wird, geeignet, das Interesse aller bisher noch der Schulgesundheits- 
pflege verständnislos gegenüberstehenden Kreise wachzurütteln. Einige Sätze ver- 
dienen besonders herausgehoben zu werden: Obwohl „jeder Wohlfahrtsbeamte das 
Recht“ hat, „sich zu einer Weltanschauung zu bekennen, welche ihm paßt‘, muß es 
sein Bestreben sein, „seine Arbeit Angehörigen aller Parteien zugute kommen zu lassen“. 
Allgemeines Vertrauen kann er nicht genießen, „wenn ihm mit Recht vorgeworfen 
werden kann, daß er sein Amt nicht seinen Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern 
einer Parteizugehörigkeit verdankt“. Da liegen die Verhältnisse in Lippe günstiger 
als in Preußen. Andererseits muß es als bedauerlich bezeichnet werden, wenn sich 
die Einstellung hauptamtlicher Schulärzte und damit z. B. die alljährliche Unter- 
suchung aller Schulkinder in Lippe noch nicht hat durchführen lassen. Bei der Sorg- 
falt, mit der verwandte Fragen, Berufsberatung und vorbeugende Krüppelfürsorge, 
behandelt sind, hätte man nähere Ausführungen zur Frage der Hilfsschulbedürftigkeit 
und der Psychopathie als modernstem Zweig der Schulgesundheitspflege erwarten dür- 
fen. Die für die in Lippe tätigen „Kreis-, Schul- und Fürsorgeärzte‘ geforderte Aus- 
bildung nimmt m. E. (Ref.) zu wenig Bedacht auf eine fachärztliche Ausbildung als 
Kinderarzt. Brunthaler (Hildesheim). 

Hiscock, Ira V., and W. T. Fales: School health supervision. (Section VII. from 
the Fortheoming report of the committee on municipal health department practice.) 
(Auszug aus dem Bericht des Komitees über die Ausführung der öffentlichen Gesund- 
heitspflege.) Americ. journ. of public health Bd. 13, Nr. 4, S. 259—269. 1923. 

Der Bericht enthält eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer Erhebung über die 
Schulgesundheitspflege in amerikanischen Staaten. Als Aufgaben der seit dem Jahre 
1894 (zuerst in Boston) ausgeübten hygienischen Überwachung der Schulen werden jetzt 
aufgestellt: 1. Erkennung und Verhinderung körperlicher oder geistiger Defekte bei 
den Kindern. 2. Beschaffung gesunder Umgebung. 3. Erziehung der Kinder zu 
hygienischer Lebensführung. Der Bericht stellt fest, daß in den 83 untersuchten Städten 
T1 einen ärztlichen Oberbeamten besitzen, davon 27 hauptamtlich beschäftigt. In den 
größeren Städten scheint es üblich zu sein, daß außerdem 1 oder 2 Ärzte hauptberuflich 





ze O — 


tätig sind. In den kleineren scheint eine Zeit von 2—4 Stunden täglich der Schularbeit 
gewidmet zu werden. Die Zahlen der Kinder, auf die je 1 Arzt kommt, sind un- 
gemein verschieden. Z. B. haben Pittsburgh und St. Louis viermal soviel Ärzte als ein 
großer Teil der kleineren Städte. Den Ärzten zur Seite stehen in den allermeisten 
Städten Schulpflegerinnen, die zuerst in New York durch ein Settlement angestellt 
waren. Vor ihrer Einführung hatte man einfach kranke oder pflegebedürftige Kinder 
vom Schulbesuch ausgeschlossen. Die Übersicht über die Zahlen ergibt, daß kleinere 
Städte mehr Schulpflegerinnen besitzen; aber selbst bei ihnen kommen mehr als 2000 
Schüler auf eine solche Kraft. Das ist nach Ansicht des Berichterstatters etwa nur 
die Hälfte der notwendigen. Im allgemeinen wird überall in den größeren Städten 
jedes Kind bei seiner Schulaufnahme einer . Untersuchung unterworfen, der später 
weitere folgen; zum Teil 3 mal, nämlich im 1., 3. und 5. Schuljahr, in anderen Städten 
(allerdings ohne genügendes ärztliches Personal, daher nicht ganz durchgeführt), 
jährlich. Wo diese beiden Methoden nicht durchführbar sind, finden Untersuchungen 
durch die Schulpflegerin mit Überweisung der ärztlichen pflegebedürftigen Kinder 
an den Arzt statt. Um Epidemien zu vermeiden, müssen die Schulpflegerinnen einiger 
Städte während der Zeit des Vorherrschens solcher Epidemien die Klassen in 
regelmäßigen Zwischenräumen untersuchen, und die Kinder, die länger als 3 oder 
4 Tage fehlen, in ihrem Heim besuchen. Ferner hat der Schularzt oder die Pflegerin 
täglich in der Schule anwesend zu sein. Diese Maßnahmen, die nicht überall insgesamt 
getroffen sind, müßten jedoch, so fordert es der Bericht, sämtlich zugleich in Übung 
sein, um tatsächlich einer Seuchenverbreitung vorzubeugen. Ziemlich weit fort- 
geschritten ist die Schulzahnpflege. 34 der untersuchten Städte haben Schulzahnärzte, 
von ihnen etwa !/, vollberuflich. Auf diese letzteren kommen durchschnittlich 23 000 
Kinder. Zahnkliniken, zum Teil mit fahrbarem Inventar sind ziemlich zahlreich, 
dürfen jedoch in einer großen Reihe von Städten nur den Bedürftigen zur Verfügung 
gestellt werden. Wie in Deutschland, so ist auch in den untersuchten amerikanischen 
Staaten die Funktion des Schularztes nicht auf die Behandlung der Krankheiten aus- 
gedehnt. Festgestellte Erkrankungen werden den Eltern, mit der Aufforderung einen 
Arzt zuzuziehen, mitgeteilt. Die Schulpflegerin hat in den meisten der Städte die 
Verpflichtung, auf die Durchführung dieser Aufforderung hinzuwirken, evtl. bei Nicht- 
beachtung die Kinder einer Poliklinik zuzuführen. Einige wenige Städte veranlassen 
sogar gerichtliche Klagen gegen widerspenstige Eltern, auf Grund ihrer Vernach- 
lässigung des Kindes. Sonderklassen für körperlich und geistig defekte Kinder scheinen 
noch ziemlich wenig dem eigentlichen Bedarf entsprechend vorhanden zu sein. Der 
Berichterstatter erklärt es für eine unbedingte Notwendigkeit, in dieser Hinsicht das 
Programm der Schulhygiene für die amerikanischen Gemeinden zu reformieren. Kurze 
Berichte über Speisung, Behandlung von Krüppelkindern folgen. Wichtig erscheint 
lie bisher in zahlreichen Städten, aber noch nicht in ausreichender Gründlichkeit 
lurchgeführte Einrichtung der Personalkarten für jedes Kind. Ebensowenig befriedigt 
rklärt sich der Berichterstatter mit dem bisher durchgeführten System der körper- 
ichen Erziehung und des Hygieneunterrichts in den Schulen und sieht hierin eine 
Iringende Aufgabe für die nächste Zukunft. Im allgemeinen ist der Bericht zu kur- 
orisch, als daß für deutsche Leser ein tieferer Einblick in amerikanische Verhältnisse 
araus gewonnen werden könnte, mehr wohl für Amerikaner, denen die Grundlagen 
jekannt sind. K. Mende (Berlin). 

Oxenius, R.: Die Aufgaben und Grenzen der sehul- und fürsorgeärztlichen Tätig- 
eit. Arch. f. soz. Hyg. Bd. 15, H.2, S. 188—200. 1923. 

Die noch junge Einrichtung des „Kommunalarztes‘ hat noch keine festumris- 
ene Begrenzung gefunden. Die Gemeinden verfahren in der Auftragserteilung an die 
tommunalärzte sehr verschieden. Zum Teil begründet sich diese Mannigfaltigkeit 
uf der noch sehr uneinheitlichen Vor- und Ausbildung der Kommunalärzte. Verf. 
‚rdert für den Kommunalaızt einen ähnlichen Bildungsgang wie er von dem Kreis- 


px 


— 68 — 


arzt gefordert wird, wenigstens hinsichtlich der Ausbildungszeit. Vor allem soll auch 
der Kommunalarzt eine mehrjährige Kommunalassistenzarztzeit durchmachen, ehe 
er in verantwortungsvolle Stelle einrückt. Der Kommunalarzt muß der Gemeinde 
ärztliche Gutachten rein ärztlicher Art (Arbeitsfähigkeit der Beamten, Beurlaubun- 
gen, Pensionierungen, Unfälle usw.) und allgemein hygienischer Art (Wasserversorgung 
Wohnungen, Schulen usw.) zu erstatten imstande sein. Ein wichtiges Gebiet für ihn 
ist die Aufklärung über Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege. Ferner Ausbil- 
dung der Fürsorgerinnen. Die Bearbeitung der örtlichen Medizinalstatistik fällt 
ihm zu. Scharf zieht Verf. — und mit Recht — einen Strich zwischen Sozial- 
hygiene und Behandlung. Die Sozialhygiene hat mit der Behandlung 
von Kranken nichts zu tun. So gehört die Behandlung der Waisenkinder oder 
der Siechen usw. nicht zu den Aufgaben des Kommunalarztes. So fordert Verf. 
für die Fürsorge für Gemüts- und Nervenkranke, Alkoholiker, Psycho- 
pathen, Krüppel, Säuglinge und Kleinkinder Fachärzte. Nur die Über- 
wachung der Fürsorgestellen ist Aufgabe des Kommunalarztes. Sehr vorsichtig und 
vermittelnd spricht sich Verf. über die Frage der Hauptamtlichkeit dieser Fachärzte 
aus. Er verkennt zwar nicht die Vorteile der hauptamtlichen Anstellung, betont aber, 
daß bei richtiger Auswahl der nebenamtlichen Mitarbeiter und straffer Organisation 
unter hauptamtlicher Leitung das System der nebenamtlichen Ärzte nicht sehr hinter 
dem anderen zurückzustehen braucht. Den Schluß der Arbeit, die sehr beachtlich ist, 
bilden sehr verständige Ausführungen über die Zusammenarbeit von Fürsorgearzt 
und frei praktizierendem Arzt. G. Tugendreich (Berlin). 

Hohlfeld, Martin: Die Tätigkeit des Sehularztes. Fortschr. d. Med. Jg. 41, Nr. 6, 
S. 92—93. 1923. 

Die Tätigkeit des Schularztes erstreckt sich nach der Ordnung, welche der Rat 
der Stadt Leipzig für die Gesundheitspflege an den städtischen Höheren Schulen er- 
lassen hat: 1. Auf die Mitwirkung bei der Überwachung der gesundheitlichen Verhält- 
nisse der Schule und der Gesundheit der Schüler. 2. Auf die sachverständige Teilnahme 
an allen gesundheitlichen Fragen des Unterrichts und der Jugendwohlfahrtspflege. 
Der Schularzt überwacht im Verein mit Schulbehörde, Lehrern und Eltern nicht nur 
die Gesundheit seiner Schüler, sondern auch den Zustand des Schulgebäudes und seiner 
Einrichtungen, die Organisation des Unterrichts und alle Maßnahmen, welche das Wohl 
der Schüler fördern sollen. Den Kern der schulärztlichen Tätigkeit bilden die Unter- 
suchung sämtlicher Schüler der Anstalt einmal im Jahre, die Abhaltung einer Sprech- 
stunde in der Schule zweimal im Monat und die Besichtigung des Schulgebäudes 
zweimal im Jahre. Verf. bespricht kurz diese drei Hauptleistungen seiner schulärzt- 
lichen Tätigkeit. Bei der Untersuchung aller Schüler sollen diese nach dem allgemeinen 
Eindruck in 3 Gruppen eingeteilt werden: gut, mittel, schlecht. Grundsätzlich Neues 
hat das Ergebnis dieser Untersuchungen an den verschiedenen Höheren Schulen nicht 
gebracht. Der Gesundheitszustand in den unteren Klassen war durchweg entschieden 
schlechter als in den höheren, da die Schüler der niederen Klassen den Ernährungs- 
schäden, der der Krieg mit sich brachte, in einem jüngeren und noch weniger wider- 
standsfähigem Alter ausgesetzt waren als die der oberen Stufen. Krankhafte Verände- 
rungen wurden nur selten oder doch in Formen, die den Allgemeinzustand nicht be- 
einträchtigten, beobachtet. Außerordentlich häufig allerdings fanden sich schlechte 
Zähne, in zweiter Linie stand die verminderte Sehschärfe, die nach den oberen Klassen 
hin an Häufigkeit zunahm. Relativ häufig zeigten sich der Plattfuß bei den älteren 
und die Vergrößerung der Gaumenmandeln bei den jüngeren Kindern. Nervöse Störun- 
gen wurden selten beobachtet, Verf. glaubt aber, daß siein Wirklichkeit nicht so selten 
vorkommen und daß er zu einem anderen Resultat kommen würde, wenn Eltern 
und Lehrer mehr als bisher ihre eigenen Beobachtungen mitteilen wollten. Auf Grund- 
des Überblicks, den der Schularzt durch die Untersuchung über den Zustand der Kinder 
bekommt, gewinnt er eine Grundlage für das Urteil, das Lehrer und Eltern im Einzel- 


— 69 — 


'all von ihm fordern; es wird ihm auch ermöglicht, den Ursachen der festgestellten 
Krankheitszustände nachzugehen und sie zu bessern, resp. ganz zu beheben. Dringend 
erforderlich ist es, daß die Eltern den Schularzt unterstützen und z. B. die Kinder, 
bei denen er es für notwendig erachtet, ärztlicher Behandlung zuführen. In der zwei 
mal im Monat abzuhaltenden Sprechstunde ist Gelegenheit gegeben, die Schüler, bei 
denen durch die allgemeine Untersuchung Krankheitszustände festgestellt wurden, 
von neuem zu untersuchen und zu entscheiden, mit welchem Erfolge eine eventuelle 
ärztliche Behandlung eingeleitet worden ist. In der Sprechstunde sollen die Kinder 
nicht ohne ihre Eltern kommen, da eine persönliche Fühlungnahme mit den Eltern 
für den Schularzt außerordentlich wertvoll ist. Die zweimal im Jahre stattfindende 
Besichtigung des ganzen Schulgebäudes endlich dient dazu, irgendwelchen Mängeln, 
wie es z. B. ungenügende oder unzweckmäßige Heizkörper sind, nach Kräften ab- 
zuhelfen. Außer diesen Hauptleistungen hat der Schularzt auch noch andere Auf- 
gaben zu erfüllen, so wird er z. B. reges Interesse an der Art und dem Umfang der Leibes- 
übungen, die seine Schüler treiben, nehmen. Eines aber ist seines Amtes nicht, das ist 
das Behandeln von Krankheiten. Der Schularzt sucht die Krankheiten seiner Schüler 
zu verhüten oder einer geeigneten Behandlung zuzuführen, aber er behandelt sie 
nicht. Die Darlegungen des Verfassers dürften in ihrer klaren und anschaulichen Art 
sicherlich dazu beitragen, weitere Kreise über die Aufgaben der schulärztlichen Tätig- 
keit aufzuklären und insbesondere Lehrer und Eltern in höherem Maße, als es bisher 
der Fall war, für die Mitarbeit mit dem Schularzt zu interessieren. Többen (Münster). 

Rehberg: Gutachten über die Regelung des Schularztwesens in Preußen. Zeitschr. 
f. Medizinalbeamte Jg. 36/45, Nr. 15, S. 201—209. 1923. 

Die schulärztliche Versorgung unserer Jugend ist in den verschiedenen Teilen 
Deutschlands ungleichmäßig geregelt, besonders mangelhaft in einzelnen ländlichen 
Bezirken Ostpreußens. Folge: Ausbreitung der Tuberkulose und anderer verheerender 
Seuchen durch Übertragung in den Schulen. Bei der heutigen Finanzkalamität des 
Staates und der Kommunen können nur Mindestforderungen für die notwendige Neu- 
regelung aufgestellt werden. Die Entwicklung sich selbst zu überlassen, wäre bei dem 
teilweise noch recht unentwickelten Verständnis für die Wichtigkeit einer geregelten 
Schulgesundheitspflege verfehlt. Eine gesetzliche Regelung würde erfahrungsgemäß 
eine nicht wünschenswerte Verzögerung bedeuten, wenn die Kostenfrage das Gesetz 
nicht schon vorher zu Fall bringt. Am meisten Aussicht auf einen vollen Erfolg ver- 
spricht die auf freier Vereinbarung basierende Zusammenarbeit von Staat und Ge- 
meinden, zumal der Verlauf der Trachombekämpfung in Ostpreußen 1905—1913 
diesem Verfahren das beste Zeugnis ausspricht. Auf diesem Wege würde vor allem 
eine baldige Lösung möglich sein. Brunthaler (Hildesheim). 

Welde: Sehularzt und Vererbungslehre. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schul- 
gesundheitspfl. Jg. 86, Nr. 6, S. 185—191. 1923. 

Der Verf. hält die heute übliche Form der sog. Gesundheitsscheine für ungenügend, 
weil sie kein Gesamtbild des untersuchten Kindes liefern. Ihre statistische Verarbeitung 
asse im günstigsten Falle die Häufigkeit bestimmter Einzelfehler erkennen und komme 
tanz einseitig der Kranken- und Gefährdetenfürsorge zugute. Darunter leide notwendig 
lie Gesundenfürsorge. Unsere traurige Wirtschaftslage mache es aber unmöglich, 
æiden Aufgaben gleichzeitig zu genügen, weswegen ein Abbau erfolgen müsse. Die 
wophylaktische Arbeit für die Gesunden sei für die Allgemeinheit die wichtigere Auf- 
abe und verdiene darum den Vorzug. Aber selbst hierzu würden unsere Mittel nicht 
nehr ausreichen, so daß wir zu einer noch schärferen Auslese gezwungen seien, wie 
ie von der Eugenetik und Rassenhygiene gefordert werde. Um dies durchzuführen, 
nüßten die Gesundheitsscheine der Schule die „Erbanlagen‘“ irgendwie registrieren. 
'raktische Vorschläge werden nicht gebracht, sondern nur allgemeine Hinweise auf 
ïe Bedeutung der Vererbungslehre, Familienforschung und Rassenkunde unter Angabe 
on Literatur. Walter Hoffmann (Leipzig). 


— 70 — 


Rowell, Hugh Grant: The activities of the sehool nurse when under proper direction. 
(Die Wirksamkeit der richtig geleiteten Schulpflegerin.) Boston med. a. surg. journ. 
Bd. 189, Nr. 2, S. 63—65. 1923. 

Verf. sucht auf Grund eigener Erfahrungen die Bedeutung der Schulpflegerin 
klarzustellen und ihren Aufgabenbereich gegen den des Schularztes, insbesondere des 
nebenamtlichen Schularztes abzustecken. Keinenfalls mache die Pflegerin, wie vielfach 
angenommen wird, den Arzt überflüssig. Sie kann ihn in wertvoller Weise unterstützen, 
indem sie die ihm vorzustellenden Fälle aussucht, seine Anordnungen ausführt bzw. 
deren Ausführung in den Familien überwacht. Bei Hauterkrankungen, Parasiten usw. 
kann sie die Behandlung durchführen. Sie hat während der einzelnen Untersuchungen 
zu helfen, in der Zeit zwischen den ärztlichen Besuchen die Kinder zu überwachen. 
Die Hygiene des Klassenraums, die Absonderung infektiöser Kinder bietet eine weitere 
Aufgabe. Erich Stern (Gießen). 

Stephani: Über Schülergesundheitsbogen. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schul- 
gesundheitspfl. Jg. 36, Nr. 6, S. 191—193. 1923. 

Von den verschiedensten Seiten ist auf die Wichtigkeit eines regelmäßigen und 
raschen Mitwanderns der Schülergesundheitsbogen bei Umschulungen hingewiesen 
worden. Von einzelnen Staaten ist eine Vereinheitlichung erfolgt, inr allgemeinen hält 
jede Schule an ihrem Bogen fest. Das Reichsgesundheitsamt hat Entwürfe für eine 
einheitliche Schülerstatistik ausarbeiten lassen. Auf den handlich, dauerhaft, einfach 
und übersichtlich zu gestaltenden Schülerbogen muß der Schularzt sein Endurteil 
auf alle Einzelheiten der Untersuchung stützen können und seine Feststellungen genau 
in gedrängter Kürze auf dem Bogen eintragen oder von früheren Untersuchungen 
her vorfinden. Der Lehrer muß sich ein Bild davon machen können, was dem Schüler 
fehlt und gegebenenfalls seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann. Manche Formu- 
lare, die auf die Erhebungen großer Statistiken eingestellt waren, sind zu kost- 
spielig und ungleichartig. Dazu fehlt die einheitliche Unterlage in der Form und der 
einzelnen Begriffe der ärztlichen Befunde, die als Zähleinheiten in Betracht kommen, 
wie es schon die badischen Schulärzte versucht haben. Die Beschränkung auf wenige, 
aber genaue und gleichmäßig erhobene Befunde ist wertvoller als ein großer, vielfach 
gegliederter Bau, der in seinen Einzelheiten Unzulänglichkeiten birgt. Der Sozial- 
hygieniker muß außer den körperlichen Befunden die Umwelt berücksichtigt finden. 
Dem Anthropologen ist nur mit sehr genauen Messungen gedient. Allgemeine 
Durchführbarkeit ist nur durch Beschränkung um so eher zu erreichen, je leichter 
die Arbeit des Schularztes wird: Schaulinien sind übersichtlicher und einfacher als 
Zahlenreihen und Tabellen. Kürzt man ab, so geht das schneller, wenn man den 
Befund gleich hinschreiben kann. Eine größere Anzahl von Befunden in verschiedenen 
Altersstufen auf kleinem Raum sichert einen besseren und rascheren Überblick. Der 
Lehrer wird sich rasch in die Abkürzungen einlesen, falls ein genügend klarer Schlüssel 
dem Bogen beiliegt. Alle diese Gesichtspunkte berücksichtigt der bei L. Voß (Leipzig) 
erschienene Schulgesundheitsschein von Medizinalrat Drescher (Alzey). Wer sich in 
die diesem Scheine zugrunde gelegten Gedanken vertieft, erkennt, daß hier ein gewi 
Fachmann die Vereinheitlichung des Schülerpersonalbogens erheblich gefördert hat. Er 
kann berufen sein, den alten Wunsch der Schulärzte nach einem Einheitsbogen zu er- 
füllen. Mönkemöller (Hildesheim). 


Berufsberatung : 


Kammel, Willibald: Organisation der Berufsberatungskunde. Ein österreichisches 
Institut für Berufsberatungskunde. II. Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- u. Berufsfürs. 
Jg. 15, Nr. 4, S. 74—76. 1923. 

Zur Behebung der gegenwärtigen Berufsnot und zur Förderung der als erste Voraus- 
setzung dafür geltenden Berufsberatung schlägt der Verf. die Errichtung eines Institutes 
für Berufsberatungskunde für Österreich vor. In Anlehnung an deutsche Verhältnisse 





z WE ee 


und unter eingehender Benutzung der umfangreichen deutschen Literatur empfiehlt 
er diesem österreichischen Institut für Berufsberatungskunde folgendes Programm zur 
Durchführung: 1. Forschungsarbeit auf dem Gesamtgebiete der Berufsberatungskunde 
mit dem Ziel, einwandfreie Berufsanalysen als Grundlage für die Berufsberatung zu 
gewinnen; 2. Heranbildung von Dozenten und Assistenten für die besonderen Arbeiten 
des Institutes für Berufsberatungskunde; 3. theoretische und praktische Ausbildung 
von Berufsberatern und Berufsberaterinnen; 4. Durchführung praktischer Eignungs- 
prüfungen, und zwar sowohl für gewerbliche. und kaufmännische Berufe — besonders 
hervorgehoben wird die Notwendigkeit der Prüfung von Anwärtern für das Verkehrs- 
gewerbe — als auch für mittlere und höhere geistige Berufe; 5. Durchführung von 
Eignungsprüfungen in Sonderfällen, z. B. beim Berufswechsel (Kriegsbeschädigte); 
6. die Veranstaltung und Durchführung von Vorträgen und Lehrgängen über alle im; 
Zusammenhang mit der Berufsberatung stehenden Fragen. Als besonders dringliche 
Aufgabe wird die Herstellung eines einheitlichen Schülerbeobachtungsbogens, der nicht 
nur Berufsberatungszwecken zu dienen braucht, gefordert. Der Verf. ist sich darüber 
klar, daß aus Mangel an finanziellen Mitteln die Gründung eines eigenen Institutes 
für die beschriebenen Zwecke nicht möglich ist. Um so eindringlicher fordert er als 
Ersatz dafür die Zusammenfassung aller bisher auf dem angedeuteten Gebiete arbeiten- 
den Stellen zu einer geistigen Organisation, die unter der Bezeichnung ‚Institut für 
Berufsberatungskunde“ in engsten Zusammenhang mit dem Bundesministerium für 
soziale Verwaltung gebracht werden müßte. Auf diesem Wege könnten die grundlegen- 
den archivalischen Arbeiten sofort in Angriff genommen werden. Gleichfalls könnte 
jetzt schon auf Grupd einer mit den Hochschulen Wiens zu vereinbarenden Arbeits- 
teilung (z. B. Institut für Jugendkunde, Kinderklinik, technische Hochschule u. a.) 
eine ganze Reihe bedeutsamer Teilaufgaben durchgeführt werden. Schließlich könnte 
bei einer zweckentsprechenden einheitlichen Gestaltung des Vorlesungswesens aller 
österreichischen Hochschulen auch schon mit der Ausbildung von Berufsberatern, für 
die der Verf. 4 Semester in Aussicht nimmt, begonnen werden. Liebenberg (Berlin). 

Rose, Heinrieh: Der Selbstberieht und die Berufsberatung der Sehüler höherer 
Lehranstalten. Prakt. Psychol. Jg. 4, H. 10, S. 294—300. 1923. 

Gegenüber der sonst geläufigen Fragebogenmethode wird zum Zwecke der Berufs- 
beratung von Schülern höherer Lehranstalten auf Pearsons Idee des Selbstberichtes 
zurückgegriffen. Die Leitgedanken dazu werden in einigen Fragen gegeben. Der 
Artikel berichtet über das Ergebnis einer solchen Umfrage bei den Schülern von 10 
verschiedenen höheren Lehranstalten (humanistisches Gymnasium, Realgymnasium, 
Oberrealschule, Realschulen, höhere Mädchenschulen). . Allerdings wurde nur ein Teil 
der verwandten Bogen ausgefüllt (62). Immerhin war die Erledigung einwandfrei 
geschehen. Eine Tabelle gibt Einblick in die zum Teil recht bemerkenswerten Ver- 
anlassungen zum Berufswechsel. Nachdruck wird auf die Mitwirkung des Arztes bei 
der Berufswahl gelegt. Gregor (Flehingen i. Baden). 


Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches : 


Kutzner, Oskar: Freiheit, Verantwortlichkeit und Strafe. (Friedrich Manns 
pädag. Magazin. H. 924.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1923. 148 S. G.Z. 5. 

Der Verf. glaubt, daß der Begriff der Willensfreiheit nur deswegen noch aufrecht 
erhalten werde, weil man befürchte, sonst die ethische Grundlage für Verantwortlich- 
keit und Strafe zu verlieren. Auf dieser falschen Voraussetzung baut er seine „Lösung“ 
des Problems der Willensfreiheit auf. Er untersucht zunächst den Begriff der Willens- 
freiheit, wie er von Kant entwickelt worden ist, indem er die inzwischen eingetretene 
Verschiebung der wissenschaftlichen Problemstellung unberücksichtigt läßt. Dann 
führt er den negativen Beweis, daß auch von einem streng deterministischen Stand- 
punkte aus die Idee der Verantwortlichkeit bestehen bleibe. „Der Mensch konnte 
zwar nicht anders in dem gegebenen Zeitpunkte, aber er kann anders in einem zu- 


— 72 — 


künftigen Zeitpunkt.“ „Das Verantwortlichmachen selbst ist ein Hebel sittlicher Ent- 
wickelung.“ Die Strafe werde dadurch Zweckstrafe im Sinne der Besserung anstatt 
Vergeltung. Das Freiheitsbewußtsein deutet er als Illusion. Trotzdem hält er das 
Schuldbewußtsein für den Erfolg der Strafe sehr wertvoll. Das metaphysische Problem 
wird also nicht ‚‚gelöst‘‘, sondern umgangen, indem nur die technische Seite behandelt 
wird. Unter dieser Einschränkung könnte man den Ergebnissen der Untersuchung 
zustimmen, ohne daß damit gesagt sein soll, daß die Gedankengänge neu wären. 
Walter Hoffmann (Leipzig). 

Anderson, V. V.: The work of the montaia elinies conducted by the divisiom 
on the prevention of delinqueney of the national committee for mental hygiene. (Die 
Tätigkeit der Demonstrationskliniken des Nationalen Komitees für geistige Hygiene 
[Abteilung zur Bekämpfung der Kriminalität]). (New York neurol. soc., 1. V. 1923.) 
Arch. of neurol. a. psychiatry Bd. 10, Nr. 1, S. 133—140. 1923. 

Die Psychiatrie beteiligt sich immer mehr an sozialen Aufgaben. Anfangs handelte 
es sich darum, die Aufmerksamkeit auf die Häufigkeit von Geistesstörungen und 
Schwachsinn unter den Insassen von Strafanstalten zu lenken. Nachdem dies erreicht 
war, wurden Psychiater von Gerichten zugezogen, um Delinquenten auf ihren Geistes- 
zustand zu untersuchen. Boston, Chicago und Philadelphia gründeten psychiatrische 
Kliniken in Verbindung mit den Gerichten. Es stellte sich aber heraus, daß aus- 
gesprochene Geisteskrankheiten und geistige Defekte unter den Delinquenten nicht 
so häufig sind, als man zuerst angenommen hatte, und daß andere konstitutionelle 
und Umwelteinflüsse eine wichtige Rolle spielen. Bei einer kürzlich vorgenommenen 
Untersuchung aller jugendlichen Delinquenten in Cincinnati fand sich nur bei 8% 
Schwachsinn. Regelmäßig wurden festgestellt : seelische Konflikte, mangelhafte geistige 
Anpassung, Gefühlskomplexe, ungesunde Phantasie, körperliche Störungen, schlechte 
häusliche Einflüsse. Der moralische, geistige und religiöse Einfluß der Häuslichkeit 
der Kinder wurde als der wichtigste Faktor im Leben der Kinder erkannt. Er ist von 
wichtigster Bedeutung für die Entwicklung des Charakters und der Persönlichkeit. 
Die Mehrzahl der Verbrecherlaufbahnen beginnt in der Kindheit. Zur Bekämpfung 
der Kriminalität ist ein auf 5 Jahre bemessenes Programm vorgesehen. Ein Teil 
davon besteht darin, daß zwei aus Psychiatern, Psychologen, Soziologen usw. gebildete 
Kommissionen je 6—12 Monate lang verschiedene Städte besuchen und dort Demon- 
strationen und Unterweisungen in der Untersuchung und Behandlung von jugend- 
lichen Delinquenten und gefährdeten Kindern abhalten. Viele Städte haben um den 
Besuch einer Kommission gebeten. Im April 1922 wurde in St. Louis angefangen. 
Zahlreiche dort ansässige Personen der verschiedensten Berufe beteiligten sich daran. 
Dies führte zur Gründung einer permanenten Einrichtung dieser Art für die Kinder 
in St. Louis. Schon jetzt ist wertvolles Material zur Erforschung des Kindes und zur 
Verhütung verbrecherischer Neigungen gewonnen. Campbell (Dresden). 

Gelma, Eugene: Etat mental des petites filles plaignantes dans les affaires d’attentat à 
la pudeur. (Seelenzustand junger Mädchen bei Unzuchtsdelikten.) Ann. de med. leg. 
Jg. 3, Nr. 3, S. 121—127. 1923. 

Nach Dufour sind 60—80% aller Anzeigen wegen Unzucht und Notzucht an 
jungen Mädchen unbegründet. Gelma unterscheidet: 1. Konfabulationen, an die das 
angeblich berührte Kind und seine Umgebung selbst glauben. 2. Bewußte Lügen, 
die vorgebracht werden, um sonstige sexuelle Exzesse zu beschönigen. — In der Mehr- 
zahl der Fälle, namentlich bei den jüngsten Mädchen (3—6 Jahre alt) fehlt das Ver- 
ständnis für die in Betracht kommenden Vorgänge. Bisweilen entwickeln die Zeu- 
ginnen eine staunenswerte Kenntnis des Geschlechtslebens. — 3. Manche Mädchen 
provozieren durch ihr Verhalten sexuelle Attentate und denunzieren dann den Täter 
sofort, weil sie sich interessant machen oder den Angeschuldigten ins Gefängnis bringen 
wollen. — In allen solchen Fällen muß sowohl eine Lokaluntersuchung der Genitalien, 
wie auch eine psychiatrische Untersuchung des betroffenen Mädchens vorgenommen 


aa N 


werden (Charakter, Schulleistungen, Beeinflußbarkeit, Glaubwürdigkeit, sexuelle Er- 
fahrung). Untersuchungshaft sollte nur in klarliegenden Fällen, nie allein auf Angabe 
einer Jugendlichen verhängt werden. Der Presse empfiehlt Verf. mehr Zurückhaltung 
gegenüber sexuellen Attentaten. Die diskrete Regelung derartiger Vorkommnisse 
sollte zum Prinzip erhoben werden. Hübner (Bonn)., 


Fürsorgeerziehung: 


Vossen: Die Bedeutung eines Bewahrungsgesetzes für die Fürsorge - Erziehung. 
Zentralbl. f. Vormundschaftswesen, Jugendger. u. Fürsorgeerziehg. Jg. 15, Nr. 4, 
S. 69—72. 1923. 

Jeder in der Fürsorgeerziehung tätige Praktiker wird sich des einen oder anderen 
Zöglings erinnern, bei dem alle Mühe und Sorgfalt vergeblich war, den er als unerziehbar 
bezeichnen mußte, und den er als unliebsames störendes Element am liebsten losge- 
worden wäre. Ein Gefühl der Trauer und des Schmerzes erfüllt einen bei dem Ge- 
danken, daß diese unerziehbaren Zöglinge mit der Großjährigkeit unsere schützende 
Hand entbehren müssen und nach menschlicher Voraussicht dem sittlichen Verderben 
mit allen seinen Folgen anheimfallen. Wir alle haben den $ 73 RJWG. begrüßt, der 
besagt, daß die vorzeitige Entlassung eines Minderjährigen wegen Unausführbarkeit 
der Fürsorgeerziehung aus Gründen, die in der Person des Minderjährigen liegen, 
unter der Voraussetzung zulässig ist, daß eine anderweite gesetzlich geregelte Be- 
wahrung des Minderjährigen sichergestellt ist. Vielleicht hat der eine oder andere 
große Hoffnungen an diesen Paragraphen geknüpft; ich glaube aber nicht, daß die 
Sache anders wird. Es war sehr zu begrüßen, daß Landesrat Dr. Vossen auf dem 
Allgemeinen Fürsorge-Erziehungstag zu Bamberg am 29. 5. 23 in seinem Vortrag 
über die Bedeutung eines Bewahrungsgesetzes für die Fürsorgeerziehung die Sach- 
lage beleuchtet und die Bedeutung des $ 73 für die Fürsorgeerziehung klargestellt 
hat. V. weist zunächst auf die geringe Zahl der Unerziehbaren hin (die Zahl der 
„schwer‘‘ Erziehbaren ist groß! Ref.). Er knüpft die Diagnose der Unerziehbarkeit an 
zwei Bedingungen: 1. daß alle nur möglichen erziehlichen Maßnahmen wiederholt mit 
negativem Erfolg angewandt worden sind; 2. daß auf Grund eingehenden ärztlichen, 
insbesondere fachärztlichen Gutachtens anormale Geistes- oder Willensverfassung (als 
Grund der Unerziehbarkeit) festgestellt ist. Die Bedingung für die Ausscheidung ist die 
anderweite gesetzlich geregelte Bewahrung. Abgesehen davon, daß eine solche vorläufig 
noch nicht vorhanden ist, weist V. mit Recht daraufhin, daß die Träger dieser Bewahrung 
voraussichtlich hinsichtlich der Ausführung und der Kosten dieselbe staatliche oder 
kommunale Instanz werden wird, dieauch als Fürsorgeerziehungsbehörde fungiert. Der 
Unerziehbare schlüpft zur einen Tür hinaus und zur anderen wieder herein. Übrigens 
wird auch bei den „Unerziehbaren‘“ auf erzieherische Einwirkung nicht verzichtet. 
V. betont mit Recht, daß die Absonderung von geistig abnormen Zöglingen, Psycho- 
pathen, Epileptikern, schwer Erziehbaren in besonderen Anstalten oder Abteilungen 
ja schon durchgeführt ist. Da mögen die paar ‚„Unerziehbaren‘ ruhig bleiben. Der 
Unterschied zwischen schwer Erziehbaren und Unerziehbaren ist in manchen Fällen 
recht gering und kaum zu bestimmen; die Abteilungen füs die schwer Erziehbaren sind 
daher denen recht ähnlich, wie das Reichsbewahrungsgesetz sie nötig machen wird. 
Auch darauf weist V. mit Recht hin. Wir haben also solche Abteilungen schon. Das 
Bewahrungsgesetz ist für Minderjährige nicht notwendig. Wo bleiben diese unerzieh- 
baren Zöglinge nach erlangter Großjährigkeit? Sie werden auf die Menschheit los- 
gelassen und gehen zum großen Teil sittlich zugrunde. Hier ist die Lücke im Gesetz, 
die wir alle so schmerzlich empfinden. Und hier liegt, wie V. mit Recht nachdrücklich 
betont, die Bedeutung der reichsgesetzlichen Bewahrungsmöglichkeit. Diese Be- 
deutung hat sogar für den ersten Entwurf des Gesetzes zu einem bedenklichen Irrtum 
Veranlassung gegeben. Der erste Entwurf hatte als Voraussetzung für die gesetzliche 
Zwangsbewahrung neben Geisteskrankheit oder Geistesschwäche die einfache Tat- 


eo M 


sache, daß bei der betr. Person Fürsorgeerziehung einmal bestanden habe. Es ist ein 
großes Verdienst V., daß auf seine Anregung diese Voraussetzung einer früheren Fürsorge- 
erziehung gestrichen worden ist und der Kreis der Personen, die bewahrt werden sollen, 
nach anderen inneren Kriterien bestimmt worden ist. Richtig ist ja nur, daß unter den 
zu bewahrenden Personen auch Fürsorgezöglinge sein werden. An sich haben Fürsorge- 
erziehung und Bewahrung nichts miteinander zu tun. V. faßt seine Ausführungen dahin 
zusammen, daß die Bedeutung einer gesetzlichen Bewahrungsmöglichkeit vom Stand- 
punkte der Fürsorgeerziehung in der weiteren Bewahrungsmöglichkeit großjährig ge- 
wordener Fürsorgezöglinge besteht und darin, daß der $ 73 RJWG. darum zu begrüßen 
ist, weil er den ersten gesetzgeberischen Anstoß zu einem Bewahrungsgesetz für Groß- 
jährige gegeben hat. Die Bewahrung ist von der größten Bedeutung als notwendige 
Ergänzung der gesetzlich mit der Großjährigkeit zu beendenden Fürsorgeerziehung für 
einen bestimmten Kreis von Fürsorgezöglingen. Lückerath (Euskirchen). 
Gefängniswesen: 

Hagemann: Gefängniswesen in England. Dtsch. Juristen-Zeit. Jg. 28, H. 19—20, 
S. 618. 1923. 

Die leider sehr kurzen Ausführungen behandeln den Bericht über die Gefängnis- 
statistik in England und Wales für 1921/22. Die Gesamtzahl der Strafgefangenen ist 
gegen das Vorjahr um etwa !/, gewachsen, beträgt aber nur etwa 1/, der Zahl des Jahres 
1913/14. Der Bericht enthält interessante Bemerkungen über die Erfolglosigkeit der 
kurzen Freiheitsstrafen. Francke (Berlin). 

Wilker, Karl: Stätten des Leids. Neue Erziehung Jg. 5, H. 2, Vierteljahresbeilage, 
S. 3—17. 1923. 

„Stätten des Leids“ nennt Karl Wilker seinen Bericht über ein Werk 
von Stephen Hobhouse und Fenner Brockway, das 1922 unter dem Titel 
English Prisons To-Day erschienen ist und sich auf eigene Beobachtungen während 
längerer Gefangenschaft (12 Monate und 28 Monate) gründet. Danach sollen in den 
englischen Gefängnissen geradezu unmenschliche Zustände herrschen. Manche Zellen 
seien so dunkel, daß man auf den Schemel steigen müsse, um am Fenster etwas arbeiten 
zu können. Auch nachts müßten gelegentlich die Gefangenen in ihren Zellen auf und ab 
laufen, um sich warm zu halten. Ärztliche Bemerkungen und Kritiken würden einfach 
unterdrückt. Jeärmer ein Gefangener sei, desto ungerechter werde er behandelt. 95% aller 
Gefangenen könnten weder lesen noch schreiben. Sie erhielten zwar Elementarunterricht, 
aber durch ganz ungeeignete Lehrer. Es fehle an geeigneten Büchern. Die Werkstätten 
seien schlecht. Den Besuch von Angehörigen dürfe der Gefangene nur hinter Käfiggittern 
sitzend empfangen. Der Anblick des Arztes sei gefürchtet. ‚‚Behandelt wird man wie ein 
Tier“, so sollen die Gefangenen ,stammeln“. — Eine kritische Nachprüfung dieser An- 
gaben wäre sehr verdienstvoll. Wilker übergeht diese Frage. Er hält die Darstellung 
deshalb in allen Punkten für überzeugend, weil — in Deutschland dieselben Mißstände 
herrschten: ‚Und wer Gefängnisse kennt, der wird finden, daß die Zeichnung überall 
dieselbe ist, ob sie in England oder bei uns oder sonstwo sind.“ Walter Hoffmann. 
Gesetzgebung : 

© Das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt. Eine Einführung von Landesgerichts- 
präsident Dr. Engelmann, Schweidnitz. Hrsg. v. Dtsch. Caritas-Verband. Freiburg: 
Caritasverlag. 1923. Mit dem Text des RJWG. 160 8. 

Aus der Einführung tritt die religiöse und politische Auffassung des Zentrums 
etwas zu einseitig in den Vordergrund. Bei der Durchberatung des Gesetzes sei man 
bestrebt gewesen, unter Ausschaltung der freien, besonders der konfessionellen Liebes- 
tätigkeit, die Jugendfürsorgearbeit zu sozialisieren und zu entchristlichen (S. 37). Dem 
Einfluß des Caritasverbandes sei es vornehmlich gelungen, dem Gesetz einen Inhalt 
zu geben, der es auch für die auf dem Boden christlicher Weltanschauung stehenden 
Parteien annehmbar machte. — Bei aller Würdigung des Verdienstes des Caritasverbandes 


— 75 — 


um die Jugendwohlfahrtspflege und um das Reichs-Jugendwohlfahrts-Gesetz erscheint 
der Einfluß des Verbandes auf organisatorische und pädagogische Probleme des Gesetzes 
und die Notwendigkeit konfessionell betriebener Jugendfürsorge reichlich einseitig hervor- 
gehoben: so in dem Kommentar zu der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und freier 
Jugendhilfe, in dem Aufruf zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit der katholisch- 
charitativen Organisationen bei der Übernahme von Gruppen von Geschäften des Jugend- 
amts. (§11 RJWG.) In der Berücksichtigung des religiösen Bekenntnisses des Mündels 
bei den Fragen der Amts-, Einzel- und Anstaltsvormundschaft (Abschnitt 4). Auch von 
der Bestellung des Curator ventris soll aus konfessionell religiösen Rücksichten möglichst 
häufig Gebrauch gemacht werden. Die Bekenntnisgleichheit des Helfers bei Durchführung 
der Schutzaufsicht (Abschnitt 6); die Berücksichtigung des religiösen Bekenntnisses bei 
der Unterbringung in Fürsorgeerziehung (Abschnitt 6). — Alle diese, für die Arbeit an 
der Jugend so wichtigen Fragen werden ausführlicher nur unter dem Gesichtswinkel der 
-= katholischen Kirche dem Leserkreis nahegebracht; dabei soll das Buch zur Einführung 
von Persönlichkeiten dienen, die an leite nden Stellen der katholischen und charitativen 
Jugendfürsorge stehen. Die Einführung wird kaum dazu dienen, den Kampf der Parteien 
um die Jugend zu mildern. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Oldenburg. Verordnung des Staatsministeriums zum Sehutze der Jugendlichen. Vom 
26. Januar 1923. (Gesetzbl. S. 49.) Veröff. d. Reichsgesundheitsamtes Jg. 47, Nr. 11, 
S. 180. 1923. : Ä 

Die Verordnung, die an die Seite der thüringischen Polizeiverordnung vom 24. V. 
1922 (Zentrlbl. f. Vormundschaftswesen 14, 152) tritt, enthält Vorschriften über Alkohol- 
genuß und Rauchen, Besuch von Schankstellen und Tanzlustbarkeiten. Die Vorschriften 
sind zum Teil überholt durch Art. I 5 des Notgesetzes vom 24. II. 1923 RGBl. I, S. 147. 

Francke (Berlin). 

Doerr, Fr.: Das Jugendgeriehtisgesetz vom 16. Februar 1923. Zeitschr. f. d. ges. 
Strafrechtswissenschaft Bd. 44, H. 3, S. 213—219. 1923. 

Der Aufsatz enthält eine Wiedergabe und kriminalpolitische Beleuchtung der 
Hauptvorschriften des Gesetzes. Auffallend ist, daß der Verf. die weitere Abmilderung 
der gegen Jugendliche zulässigen Strafen ($ 9 JGG.) bedauert. Francke (Berlin). 

Polligkeit: Kommissionsberatungen zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend Über- 
weisung zur Verwahrung. (Antrag Neuhaus und Gen.) (Reichst. Dr. Nr. 1766.) 
Monatsschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsreform Jg. 14, H. 1/3, S. 68—75. 1923. 

Das Gesetz soll bei Personen, die durch ihr Verhalten ihre Unfähigkeit zu einer 
selbständigen Lebensführung bewiesen haben, die Verbringung in Anstaltsfürsorge 
erleichtern, um sie dort — erforderlichenfalls gegen ihren Willen — festzuhalten. 
Außerdem aber muß bei solchen Personen, sei es zum Übergang in das freie Leben, 
sei es als Ersatz des Anstaltsaufenthaltes, auch die Unterbringung in Familie oder Arbeits- 
stelle unter Überwachung durch die Vollzugsbehörde vorgesehen werden. Neben dem 
Schutz der Öffentlichkeit vor den Folgen des asozialen Verhaltens solcher Personen 
darf der Schutz ihrer eigenen Interessen nicht außer acht gelassen werden. Ungerecht- 
fertigte Eingriffe in die Freiheit der Person müssen vermieden werden. Die Verwahrung 
muß mit dem System der Bewährung verbunden sein. Bei geeigneten Personen müssen 
Versuche gemacht werden, sie zu einer selbständigen Lebensführung anzuleiten. Die 
im Gesetz vorgesehene Nebeneinanderstellung von Fürsorgezöglingen und entmündig- 
ten Geisteskranken oder Geistesschwachen muß abgelehnt werden, schon deshalb, 
weil sich unter den ersteren viele nur objektiv verwahrloste Jugendliche befinden, 
für die eine spätere Verwahrung nie in Betracht kommt. Die Anknüpfung des Ver- 
wahrungsgesetzes an die Fürsorgeerziehung würde diese nur in Mißkredit bringen. 
Der grundlegende Paragraph wurde folgendermaßen gestaltet: „Personen können, 
soweit dies zur Bewahrung vor körperlicher oder sittlicher Verwahrlosung erforderlich 
ist, zur Verwahrung überwiesen werden, wenn sie gemäß $ 6 Ziffer 1 oder Ziffer 3 BGB. 
entmündigt sind.‘ Voraussetzung dabei ist die Änderung des $ 6 Ziffer 1 BGB. in fol- 


_% — 


gender Form: „Entmündigt kann werden, wer infolge von Geisteskrankheit oder Geistes- 
schwäche seine persönlichen oder seine Vermögensangelegenheiten nicht 
zu besorgen vermag.“ Die Notwendigkeit dieser Veränderung gründet sich auf die 
in der Provinz Hannover (Schatzrat Hartmann) angestellten Versuche, Fürsorge- 
zöglinge, die bei erreichter Volljährigkeit nicht fähig waren, sich selbständig im Leben 
zu behaupten, zu entmündigen und unter die ständige Fürsorge eines Amtsvormundes 
zu bringen. Das ist besonders schwierig bei willensschwachen Personen, die, ohne ein 
Gesetz verletzt zu haben, sich nicht selbständig zu führen vermögen, zumal viele 
Richter zu der Annahme geneigt sind, daß bei der Entmündigung in erster Linie die 
Sorge für das Vermögen bezweckt sei. Die Kommission legte entscheidenden Wert 
darauf, daß die Entmündigung der endgültigen Überweisung zur Verwahrung voraus- 
gegangen sein müsse. Dadurch werde der Umkreis der zur Verwahrung geeigneten 
Personen klar umrissen. Die Einbeziehung gemeingefährlicher Geisteskranker und 
Geistesschwacher wie der gemeingefährlichen Gewohnheitsverbrecher ist abzulehnen: 
Für sie muß die bevorstehende Strafrechtsreform und das kommende Irrengesetz 
sorgen. Die Auffassung, daß die Entmündigung auch dann erfolgen könne, wenn der 
Geisteskranke oder Geistesschwache nicht imstande sei, seine persönlichen An- 
gelegenheiten zu besorgen, müsse gesetzlich festgelegt werden. Die Aufnahme einer 
weiteren Voraussetzung der Entmündigung wegen Willensschwäche wurde als zur Zeit 
nicht durchführbar abgelehnt, obwohl bei den Personen, die zur Verwahrung über- 
wiesen werden müssen, die Unfähigkeit zur selbständigen Lebensführung in der Regel 
auf krankhafter Willensschwäche beruht. Der Versuch, die Voraussetzungen zur 
Überweisung zur Verwahrung kasuistisch auf bestimmte Tatbestände abzustellen, 
wurde abgelehnt, weil die Abgrenzung der Begriffe: Gewohnheitsmäßiger Bettler, 
Landstreicher, Arbeitsscheuer, gewerbsmäßige Prostituierte schwierig ist, so daß eine 
Entscheidung nach dem Ermessen des entscheidenden Richters leicht die Befürchtung 
eines ungerechtfertigten Eingriffs in die persönlichen Rechte nach sich ziehen kann. 
Die Voraussetzungen der Überweisung wurden darauf beschränkt, daß die Verwahrung 
in körperlicher oder sittlicher Verwahrlosung das einzig Ausschlaggebende sein müsse, 
um die Überweisung von anderen Personen, deren Kur und Bewahrung lediglich Auf- 
gabe der öffentlichen Armenpflege sei, zu verhüten. Die Zulässigkeit der wahlweisen 
Unterbringung in Anstalts- und Familienpflege, die widerrufliche Entlassung, die 
Anhaltung zur Arbeit, die Anwendung von Disziplinarmitteln soll einheitlich für das 
Reich geregelt werden, im übrigen soll die Ausführung nach Maßgabe der Landes- 
gesetzgebung erfolgen. Bei Bewahrung in der Anstalt soll in geeigneten Fällen auch 
versuchsweise die Unterbringung in freien Arbeitsstellen oder Familien zugelassen 
sein, wenn hierbei die Schutzaufsicht angeordnet ist. Die Möglichkeit einer widerruf- 
lichen Entlassung ist unentbehrlich. Die Zulässigkeit der Anhaltung zur Arbeit muß 
im Gesetz ausgesprochen werden, da die Ausnutzung der Arbeitskraft eine wirtschaft- 
liche Notwendigkeit ist. Eine gewerbliche Ausbildung wurde nicht für erforderlich 
erachtet, da in der Regel eine Erziehung zur Arbeit durch die krankhafte Veranlagung 
erschwert oder ausgeschlossen ist. Die Rechte der Überwiesenen, vor allem in der 
Anwendung zulässiger Disziplinarmittel, müssen durch den Ausbau der Beschwerde- 
möglichkeit geschützt werden. Die Dauer der Verwahrung wurde auf unbestimmte 
Zeit festgesetzt, solange es ihr Zweck erfordert. Doch wurden regelmäßige Nach- 
prüfungen verlangt und die Fortdauer über 3 Jahre hinaus von einer neuen Entschei- 
dung abhängig gemacht. Die Überweisung zur Verwahrung kann auf Antrag wie von 
Amts wegen erfolgen. Die Aussetzung des Verfahrens darf nicht länger als 2 Jahre 
dauern. Diese Probefrist ist von der Einsetzung einer Schutzaufsicht abhängig zu 
machen. Zu den antragsberechtigten Behörden muß auch die Stattsanwaltschaft 
gehören. Nicht dem Amtsgericht, sondern dem Vormundschaftsgericht ist die Ent- 
scheidung über die Überweisung zu übertragen, da der Vormundschaftsrichter mit 
Fragen der Fürsorge vertrauter ist, und Tatbestände körperlicher und sittlicher Ver- 


2 N ei 


wahrlosung zutreffender beurteilen kann wie ein Richter, der lediglich mit zivilpro- 
zessualen Angelegenheiten befaßt ist. Die vorläufige Überweisung bei Gefahr im Verzug 
kann auch von Amts wegen erfolgen. Der Vorschlag, die Überweisung von der Bei- 
bringung eines ärztlichen Attestes, unter Umständen von einer Beobachtung in einer 
geeigneten Heil- und Pflegeanstalt abhängig zu machen, wurde gebilligt. Die Be- 
schwerdemöglichkeit ist sowohl auf Entscheidungen, die die Überweisung zur Ver- 
wahrung betreffen, wie auch auf solche, die die widerrufliche oder endgültige Entlassung 
und Ablehnung eines Antrages auf Aufhebung regeln, auszudehnen. Die Bestimmung 
der Vollzugsbehörden ist der Landesgesetzgebung zu überlassen. !/, der entstehenden 
Kosten sollen dem Reiche zur Last fallen, ?2/, den Ländern (in Preußen davon je die 
Hälfte dem Land und den Provinzen). Mönkemöller (Hildesheim). 

Erlaß vom 11. April 1923, betr. Befreiung von Anstaltsbehandlung der Krüppel 
(III E 508). (Abdruck aus Volkswohlfahrt 4, Nr. 9, S. 217—218. 1923.) 

Auf Grund des § 11 Abs. 2 des Gesetzes betreffend die öffentliche Krüppelfür- 
sorge vom 6. Mai 1920 (Gesetzsamml. 8. 280) verlängere ich über den 31. März 1923 
hinaus bis zum 31. März 1924 die den nachstehend angeführten Landarmenverbänden 
bisher gewährten Befreiungen von der Verpflichtung zur Anstaltsunterbringung der 
Krüppel mit der Maßgabe, daß diejenigen Krüppel erforderlichenfalls in Anstalts- 
behandlung zu nehmen sind, welche bis zum 31. März 1924 ihr 6. Lebensjahr vollendet 
oder ihr 14. Lebensjahr nicht überschritten haben werden. Diejenigen Krüppel, denen 
gegenüber nach den bisherigen Bestimmungen eine Behandlungspflicht bestand, sind 
weiterzubehandeln, auch wenn sie das 14. Lebensjahr inzwischen überschritten haben. 
Die Befreiung wird folgenden Landarmenverbänden erteilt: 1. Ostpreußen, 2. Grenz- 
mark Posen-Westpreußen, 3. Pommern, 4. Brandenburg, 5. Schleswig-Holstein, 
6. Sachsen, 7. Wiesbaden, 8. Cassel, 9. Schlesien (für die Provinzen Nieder- und Ober- 
schlesien), 10. Westfalen. Ich bemerke im übrigen, daß hiermit die genannten Land- 
armenverbände nicht von der Verpflichtung zur Tragung der Kosten der Anstalts- 
pflege befreit werden, soweit Krüppel bereits in geeigneten Anstalten, und zwar öffent- 
lichen oder privaten, innerhalb oder außerhalb des Bezirks des Landarmenverbandes 
untergebracht sind. Ferner werden die Landarmenverbände durch diesen Dispens nicht 
von ihrer gesetzlichen Pflicht, anstaltspflegebedürftige Krüppel in geeigneten Anstalten 
unterzubringen, entbunden, sofern solche Anstalten, seien es private oder öffentliche, 
im Bezirk des Landarmenverbandes zur Verfügung stehen. gez. Hirtsiefer. 

An die Herren Oberpräsidenten und den Herrn Regierungspräsidenten in Sigmarigen. 


Erzieher, Fürsorger, Ausbildungstragen: 


Ammann: Erfahrungen über weibliche Erziehungshilfen bei männlichen Zöglingen. 
Zentralbl. f. Vormundschaftswesen, Jugendger. u. Fürsorgeerziehg. Jg. 14, Nr. 11, 
8. 238—239. 1923. 

Einen kleinen Beitrag zu der wichtigen Frage: Weibliche Erziehungshilfen für 
männliche Zöglinge gibt das Kinderheim Heidelberg — gleichzeitig Beobachtungs- und 
Verteilungsstation. Es können 25 schulpflichtige, darunter auch psychopathische 
Mädchen und Jungen dort aufgenommen werden. Die ärztliche Aufsicht führt ein in 
der Heilpädagogik erfahrener Facharzt für Psychiatrie; die Leitung besteht aus: 
1 Oberin, 1 Gehilfin, 2 Praktikantinnen. Die Ergebnisse der Erfahrungen sind: Bis 
zum 12. Lebensjahr machten die Jungen der weiblichen Leitung keine Schwierigkeiten. 
Auch bei den 13—14jährigen Jungen traten die Schwierigkeiten nur gegenüber den 
Erzieherinnen — nicht gegenüber der Oberin auf. Und zwar handelte es sich hauptsäch- 
lich um psychopathische Jungen (reizbar, stark verstimmbar), die schwer disziplinierbar 
waren. Dies ist zu betonen, weil der Grund zu diesen Schwierigkeiten für die Erziehe- 
rinnen neben der mangelnden Autorität der jüngeren Frau (Helferinnen sollen mindestens 
20 Jahre, Erzieherinnen mindestens 24 Jahre alt sein) auch in deren mangelnder Erfah- 
rung und Ausbildung über Behandlung und Erziehung psychopathischer Kinder zu 


— 78 — 


suchen sein dürfte. Die Einstellung von Frauen auch zur Erziehung von Jungen wird 
von dem Berichterstatter gefordert: 1. weil „eine rein männliche Erziehung sehr leicht 
zu einer Verkümmerung des kindlichen Gefühlslebens führt und in Einseitigkeit ausartet; 
2. weil weibliche Erziehungskräfte der Anwendung von Zuchtmitteln entgegen wirken 
und bei genügender Befähigung die Notwendigkeit und Bestrafungen überhaupt erheblich 
einschränken können; 3. die Erziehung zur Achtung vor der Frau muß als ein unentbehr- 
licher Bestandteil der Knabenerziehung überhaupt angesehen werden“. v.d. Leyen. 

Haloua - Dorange: Les prineipes de l’education professionnelle de la visiteuse 
d’hygiöne. (Die Ausbildungsgrundlagen der beruflichen Gesundheitsfürsorgerin.) Bull. 
du comité nat. de défense contre la tubercul. Jg. 4, Nr. 3, S. 145—157. 1923. 

Ausführliche Angaben über die Ausbildung der Gesundheitsfürsorgerin, die als 
solche ministerielle Genehmigung erhalten hat. Die Ausbildung in den Schulen ist 
rein auf Gesundheitsfürsorge eingestellt (so wie früher in Deutschland, während jetzt 
nur Wohlfahrtspflegerinnen bei uns ausgebildet werden). Es wird eine allgemeine 
gesundheitliche Vorbildung gewährt; erst später spezialisiert sich die Tuberkulose-, 
Schulfürsorgerin, die Kinder- und Fabrikpflegerin. Im theoretischen Unterricht soll 
besonderer Wert auf die Tuberkulose der Erwachsenen und der Kinder, auf die Kinder- 
krankheiten und die genauen Kenntnisse für die Schulfürsorge gelegt werden. Für 
die praktische Ausbildung wird ein 2jähriger Krankenhauskursus ganztägig für not- 
wendig erachtet und nützlicher als ein 14 monatlicher Kursus von 5—6 Stunden täglich. 
Die Schaffung von Gemeindeschwestern als Gehilfinnen des Arztes wird erst angeregt 
(in Deutschland seit langem die Grundlage der Gesundheitsfürsorge). Gemeinde- 
schwester und Fürsorgerin sollen dieselbe Ausbildung genießen. Die praktische Aus- 
bildung soll umfassen: Chirurgie des Erwachsenen, des Kindes; innere Medizin der Er- 
wachsenen und der Kinder; Kinderpflege, Mutterschaft, Pflege der Tuberkulose- 
kranken. Eine Fürsorgerin, die bei ihrem Familienbesuch sich nicht besonders der 
Kinder annimmt, bei ihnen nicht die Initialerscheinungen jedweder Infektionskrankheit 
zu erkennen vermag, erfüllt ihre Aufgabe nicht. Immer wird betont, daß die Fürsorgerin 
2 Aufgabenkreise hat: die Aufspürung von Krankheiten — die Belehrung und Er- 
ziehung. Besonderen Wert wird auf die praktische Ausbildung in der sozialen Für- 
sorge gelegt — Hausbesuche unter Leitung einer Fürsorgerin und nachherige genaue 
Angaben über die Notwendigkeit der besonderen Hilfsmaßnahmen. Engelmann. 

Osgood, Robert B.: The household nursing assoeiation. (Der Hauspflegeverein.) 
Boston med. a. surg. journ. Bd. 188, Nr. 19, S. 732—733. 1923. 

Bericht über Organisation und Ausbildung von Hauspflegerinnen. Dem Mittel- 
stand ist es in Krankheitsfällen vielfach nicht möglich, sich der bestausgebildeten 
Pflegerinnen (supertrained nurses) zu bedienen. Auch sind oft Hilfeleistungen im Haus- 
halt, in der Kinderpflege neben der eigentlichen Krankenpflege erforderlich, die nicht 
in den engeren Tätigkeitskreis dieser qualifizierten Pflegerinnen gehören. Seit d. J. 
1912 besteht in Lynn (jetzt in Boston) eine Ausbildungsstätte für Hauspflegerinnen. 
Sie werden erst einige Wochen in Kochen und Hausarbeit, sowie in der Technik des 
Pflegens unterwiesen, haben nebenher Elementarunterricht in Anatomie und Physio- 
logie; dann folgt die praktische Krankenhausausbildung, zu der 6 Krankenhäuser zur 
Verfügung stehen. Vor Beginn des Kursus verpflichten sich die Kursteilnehmerinnen 
dazu, sich bei der Ausübung ihrer offenen Krankenpflege der Aufsicht einer qualifi- 
zierten Pflegerin zu unterstellen, die in dieser Aufsicht durch den Hauspflegeverein 
unterstützt wird. Wochenpflegen werden meist so ausgeführt, daß die geprüfte Pflegerin 
nur für die Zeit der Entbindung und die dieser folgenden Tage pflegt, während die Haus- 
pflegerin die Wochen vor und nach der Entbindung — unter Aufsicht der geprüften 
Pflegerin — Wöchnerin und Haushalt betreut. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Schacht, Luise: Mütterabende. Zeitschr. f. Säuglings- u. Kleinkinderschutz Jg. 15, 
H. 8, 8. 289—293. 1923. 

Die Einzelbelehrung der Mütter in der Beratungsstelle und bei Gelegenheit der 


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Hausbesuche führt oft nicht oder nur teilweise zum Ziel, weil in der kurzen zur Ver- 
fügung stehenden Zeit auf Einzelheiten nicht in dem erforderlichen Maße eingegangen 
werden kann und von den Verwandten usw. oft die fürsorgerische Arbeit durchkreuzt. 
wird. Diese Lücke auszufüllen sind die Mütterabende berufen, die auch zur Vertiefung 
des Familiengedankens, des Verantwortlichkeitsgefühls, zur Vervollkommnung der 
Handfertigkeit und Pflege der Musik beitragen sollen. Sie bieten Gelegenheit zur An- 
bahnung wertvoller Freundschaften unter den Müttern zwecks gegenseitiger Unter- 
stützung, Vertretung usw. Die Propaganda wird nicht zuletzt auf die Schultern junger, 
unverbrauchter, frischer Mütter zu legen sein, die infolgedessen besonders herangezogen 
werden müssen. Das Programm der einzelnen Abende soll in bunter Folge bald von 
Ärzten, bald von Schwestern bestritten werden. ‚Wer die Mütter hat, der hat das 
ganze Volk.“ Brunthaler (Hildesheim). 

Loehte: Über die gerichtliche und soziale Medizin als Unterrichts- und Prüfungsfach 
an den preußischen Universitäten. Ärztl. Sachverst.-Zeit. Jg. 29, Nr. 5, S. 49—52. 1923. 

Lochte weist darauf hin, daß es ein offenkundiger Rückschritt wäre, wenn man die 
gerichtliche und soziale Medizin nicht zur Zwangsvorlesung und zum Prüfungsfach im medi- 
zinischen Staatsexamen in der kommenden Prüfungsordnung machen würde. Ärztliche Kunst- 
fehler schlimmer Art rühren davon her, daß der Arzt nichts von der gerichtlichen Medizin 
in sein Können aufnimmt. Wie soll der Arzt etwas von Strangulation verstehen und einen 
durch Strangulation erfolgten Tod bescheinigen, wenn er in seiner ganzen ausschließlich auf 
die Klinik eingestellten und durch die Klinik erfolgten Ausbildung nichts vom gewaltsamen 
Tode hört. Problemen, wie der Kurpfuscherei, der Berufsverschwiegenheit, der Geschäfts- 
fähigkeit und Zurechnungsfähigkeit steht er als behandelnder Arzt hilflos gegenüber, wie ihm 
überhaupt die ganze gesetzliche Grundlage seiner Stellung verborgen bleibt, wenn er nicht 
durch einen systematischen Unterricht in diese eingeführt wird. Was gerichtliche und soziale 
Medizin ist, wissen von der heutigen Ärztegeneration nur die allerwenigsten, weil sich nur sehr 
wenige damit befaßt haben, aber fast jeder glaubt sein Urteil dahin abgeben zu können, daß 
gerichtliche und soziale Medizin in der ärztlichen Ausbildung und im ärztlichen Examen 
überflüssig sind! Puppe (Breslau). 

De Sanetis, Sante: La neuro psichiatria infantile. (Die Neuropsychiatrie des Kindes- 
alters.) Rass. di studi psichiatr. Bd. 12, H. 2/3, S. 97—121. 1923. 

Verf. verlangt für die Neuropsychiatrie des Kindesalters eine Sonderstellung und 
die Zuerkennung des Ranges eines Spezialfaches, das den übrigen Disziplinen gleich- 
gestellt sein soll. Er begründet diese Forderung in ausführlicher Darstellung mit der 
Wichtigkeit einer genauen klinischen Analyse der vielfach noch dunklen Krankheits- 
bilder, mit der Eigenart, die diese Erkrankungen gegenüber denen des reifen Alters 
besitzen, mit ihrer Bedeutung für die klinische Psychopathologie der Erwachsenen, 
und mit dem Umstande, daß weder die Kinderärzte, noch die durch die Einbeziehung 
der Neurologie ohnedies zu viel belasteten Psychiater sich diesem Studium mit voller 
Hingebung widmen können. Zur Verwirklichung dieser Spezialisierung ist nötig die 
Ausgestaltung der Kinder- und Idiotenabteilungen in den Irrenhäusern, die Eröffnung 
von Ambulatorien für Nerven-, und Geisteskrankheiten des Kindesalters, wie ein solches 
schon in Rom besteht, Errichtung von Abteilungen in den Kinderkliniken und Kinder- 
spitälern, Ausgestaltung der Zeitschriften für kindliche Neuropsychisatrie und Bildung 
einer eigenen Sektion auf den Kongressen, sowie Herausgabe eigener Lehrbücher. 
Allgemeines: Zingerle (Graz). 

Roesle, E.: Die Organisation der Gesundheitsministerien in versehiedenen Ländern. 
Arch. f. soz. Hyg. Bd. 15, H.2, S. 121—147. 1923. 

Die Arbeit ist zu kurzer Besprechung nicht geeignet, sollte aber gerade deswegen 
von allen studiert werden, die sich mit Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege be- 
schäftigen; besonders sollten auch Parlamentarier das wertvolle, mühsam zusammen- 
gebrachte Material studieren. Verf. stellt tabellarisch alles zusammen, was bisher 
über die Errichtung von Gesundheitsministerien bekannt geworden ist. Diese 
Tabelle zeigt den Widerhall, den der Ruf oder besser der Notschrei nach solchen Mini- 
sterien bisher in der gesamten Kulturwelt gefunden hat. Leider ist Deutschland in 


— 0 — 


dieser Beziehung — erklärlich vielleicht durch unseren Zusammenbruch — nicht unter 
den Ländern, die sich eines solchen Ministeriums erfreuen. Hingegen haben Österreich, 
Sowjet-Rußland, Tschechoslowakei, Jugoslawien, England, Polen, Ungarn, Frankreich 
und die Ukraine solche ins Leben gerufen; ferner Australien, Neu-Seeland, Vereinigte 
Staaten von Südafrika, China u. a. Freilich erfüllen auch diese Länder nicht sämtlich 
die von ärztlicher Seite erhobene Forderung, den Ministerposten mit einem Arzt zu 
besetzen. Das Dogma von der alleinigen Befähigung des Juristen oder Politikers 
scheint wirklich zu fest gewurzelt. Roesle empfiehlt, diese Ministerposten zu neutrali- 
sieren, damit nicht bei jedem Kabinettswechsel auch der Leiter dieses Gesundheits- 
ministeriums zu wechseln brauche. Von den insgesamt 30 Ländern, die in der kurzen 
Spanne von 1918—1922 Gesundheitsministerien geschaffen haben, haben nur einige 
Staaten diese verständige Regelung getroffen. Polen hat die Bestimmung getroffen, 
daß der Gesundheitsminister bei einem Kabinettswechsel nicht auszuscheiden brauche. 
Der Neuheit der Einrichtung entsprechend, herrscht noch ziemlich große Verschieden- 
heit im Aufbau und Aufgabenkreis dieser Ministerien in den verschiedenen Ländern. 
Sie sind in der Arbeit eingehend geschildert und für die betreffenden europäischen 
Länder tabellarisch zusammengestellt. Für die Jugendfürsorge im besonderen ist es 
von Interesse, daß das Volkskommissariat für Gesundheitsschutz in Sowjet-Rußland 
als 4. Abteilung den Gesundheitsschutz der Kinder und Jugendlichen bearbeitet, und 
zwar in einer ärztlich-pädagogischen und einer schul-pädagogischen Unterabteilung. 
Die Arbeit R.s, wohl die erste Zusammenstellung in dieser Frage, wird hoffentlich 
dazu beitragen, auch in Deutschland die Frage in Fluß zu bringen. Tugendreich (Berlin). 

Das Gesundheitswesen des Preußisehen Staates im Jahre 1921. Im Auftr. d. Min, 
f. Volkswohlfahrt bearb. in d. Abt. f. Volksgesundheit d. Ministeriums. Veröff. a. d. 
Geb. d. Medizinalverw. Bd. 18, H.3, S. 323—440, 1923. 

Aus der Arbeit seien hier kurz die beiden ersten Abschnitte besprochen. Ab- 
schnitt I bespricht an Hand der Tabellen die Bevölkerungsbewegung. Die Bevölkerung 
betrug 1921: 38 245 229 gegen 42 364 017 in 1915 (Höchststand), entspricht also etwa 
dem Stand von 1907. Das Verhältnis der männlichen zur weiblichen Bevölkerung 
ist erheblich ungünstiger als in der Vorkriegszeit, indem auf 19 714 497 weibliche nur 
18 530 732 männliche Einwohner entfallen. Der Geburtenrückgang, der 1908 einsetzte, 
in den Kriegsjahren ganz besonders stark war, ist zwar nach dem Kriege geringer 
geworden, zeigt aber 1921 schon wieder eine Zunahme gegenüber 1920. Auf je 1000 
der mittleren Bevölkerung kamen 1908 32,7 Lebendgeborene, 1917 14,4, 1920 25,7, 
1921 24,8. Entsprechend ist die Zahl der Eheschließungen, die sich nach dem Kriege 
gegenüber den Kriegsjahren mehr als verdoppelte, bereits 1921 wieder eine Abnahme 
gegen 1920; auf je 1000 der mittleren Bevölkerung entfielen 12,08 Eheschließungen 
(gegen 8,02 in 1908, 4,19 in 1916, 14,44 in 1920). Ein kleiner Ausgleich gegen diesen 
Rückgang der Geburtenziffer wird durch den Rückgang der Sterblichkeit geboten. 
Die Sterblichkeit, die 1908 17,9 auf das 1000 der mittleren Bevölkerung betrug und 
1918 auf 25,06 gestiegen war, fiel bis 1921 auf 13,84, die niedrigste, bisher beobachtete 
Ziffer. Leider ist damit noch nicht ein guter Gesundheitsstand bezeugt. Abschnitt II 
handelt von der Sozialen Hygiene und Fürsorge. In 472 von 530 Kreisen bestanden 
655 Wohlfahrtsämter. 146 Kreise hatten 750 Kommunalärzte angestellt. Im Berichts- 
jahr wurden 79 Wohlfahrts- und 22 Gesundheitsämter, sowie 13 Tuberkuloseberatungs- 
stellen gegründet. Es bestanden in Preußen an Fürsorgestellen: 2234 für Säuglinge, 
1134 für Kleinkinder, 1151 für Tuberkulöse, 605 für Krüppel, 724 für Kriegsbeschädigte, 
213 für Trinker, 153 für Geisteskranke und 86 für Geschlechtskranke. Die Frage: 
Familien- oder Spezialfürsorge ist, wenigstens für Kleinstadt und Land, zugunsten 
der Familienfürsorge entschieden. Die schulärztliche Versorgung erfaßte etwa ?/, der 
preußischen Schulkinder. Für den Leser dieser Zeitschrift ist von Interesse, daß in 
diesem Überblick der Psychopathenfürsorge nirgends gedacht ist, wohl ein Zeichen 
für ihren noch sehr bescheidenen Umfang. Tugendreich (Berlin). 


Referatenteil der Zeitschrift für Kinderforschung. 


29. Bd., H. 2 S. 81—144 


Biologie, Constitution, Rasse, Vererbung : 


© Siemens, Hermann Werner: Einführung in die allgemeine und spezielle Ver- 
erbungspathologie des Mensehen. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 2. um- 
gearb. u. stark verm, Aufl. Berlin: Julius Springer 1923. 1X, 286 S. G.-M.12.—/$ 2.90. 

Das vorzügliche Buch von Siemens, dessen Erscheinen in 2. Auflage freudig 
begrüßt werden muß, bedeutet eine der wertvollsten und von der Zeit am notwendigsten 
geforderten Bereicherungen der medizinischen Literatur. Bei der noch immer un- 
glücklich geringen vererbungswissenschaftlichen Vorbildung der meisten Ärzte kann 
man nur wünschen, daß bald kein Mediziner, aber auch kein Pädagoge und kein Jurist 
mehr ohne eine gediegene Einführung in der Vererbungspathologie sei. Für diejenigen, 
welche sich mit Kinderheilkunde und angrenzenden Gebieten beschäftigen, bedeutet 
die Kenntnis solcher Dinge erst recht eine conditio sine qua non für ihre Arbeit. Denn 
gerade in der Kinderforschung herrscht immer noch eine Überschätzung der Umwelt- 
einflüsse vor, welche zahlreiche Fragestellungen von vornherein zu ergebnislosen Ver- 
suchen stempelt. S. gibt in ziemlich erschöpfender, aber gedrängter Darstellung die 
allgemein-biologischen und pathologischen Grundbegriffe, die experimentellen, cyto- 
logischen und theoretischen Grundlagen der Erblichkeitslehre, und baut sodann darauf 
die Lehre von den erblichen Krankheiten, ihrer Erforschung, Diagnostik und Therapie. 
Leser, die bereits in den Gedankengängen der neueren Biologie mit ihrer Unterscheidung 
ideotypischer und paratypischer Anteile an den erscheinungsbildlichen Äußerungen 
des Organismus zu Hause sind, werden die zahlreichen wohlerwogenen Begriffsbe- 
stimmungen der allgemeinen Abschnitte mit noch größerem Vorteil kennen lernen 
als Neulinge auf dem Gebiet der Erblichkeitslehre; jedoch dürfte auch den letzteren 
eine gute Vorstellung von rassenkundlicher und rassenhygienischer Betrachtungsweise 
vermittelt werden. Die Einleitung gilt der Klärung der Begriffe Krankheit, 
Konstitution und Disposition. S. folgt dabei der von F. Lenz geschaffenen 
Definition der Krankheit und faßt ‚Disposition‘ (zum Vorteil der praktischen Ver- 
wertbarkeit dieses Begriffes) als „Wahrscheinlichkeit, die Grenzen der Anpassung zu 
erreichen‘, „Konstitution“ als ‚Beschaffenheit des Körpers, inwieweit von ihr seine 
Disposition zu Krankheiten abhängt“. Die daraus sich ergebende Betrachtungsweise 
einschlägiger Fragen (nach Konstitutionskrankheiten, Konstitutionsanomalien, Habi- 
tus) gewährt viele interessante Anregungen auch für den, der die Anschauungen des 
Verf. nicht überall teilt. (So hält Ref. die Berücksichtigung des alten Begriffes der 
‚„Systemrasse‘ nicht für gut. Die Unverträglichkeit dieses Begriffes mit den Anschau- 
ungen der neueren Biologen kommt immer wieder in solchen Auseinandersetzungen 
störend zum Ausdruck. Von ‚„paratypischen Rassendispositionen‘ sollte man heute 
nicht mehr sprechen müssen; sie fällt, so wie sie S. sich offenbar vorstellt, zweifellos 
‘mit „Lokaldisposition‘ und ‚„Temporaldisposition‘ zusammen. — Die Sozialdisposition 
würde Ref. vorwiegend als idiotypische Disposition betrachten. Die Notwendigkeit 
des Begriffes der „komplexen Disposition‘ scheint Ref. deutlicher darauf hinzuweisen, 
daß man Disposition vielleicht zweckmäßig als Maß der Konstitution, Habitus u. U. 
als ihren phänotypischen Ausdruck auffaßt. — Ref. vermißte im Text und im Literatur- 
verzeichnis die ausgezeichnete Arbeit von Pfaundler [122] über den Konstitutions- 
begriff.) — In dem Abschnitt über Erblichkeitslehre sind, was vielen Lesern be- 
sonders erwünscht sein dürfte, auch die neueren Ergebnisse der Morgan-Schule kurz 
dargelegt. Die vielen Fachausdrücke, welche S. verwendet, könnten im Anfang vielleicht 
etwas verwirrend erscheinen, doch sind sie in ihrer folgreichtigen Bildung bald leicht 
zu übersehen und gestatten in vielen Fällen eine gekürzte Ausdrucksweise. (Die Be- 
griffe der „polyphänen“ und der „heterophänen Vererbung‘ erscheinen dem Ref. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ret. 6 


— 89 — 


entbehrlich; sie könnten auch zu Mißverständnissen Anlaß geben [gegen die sich S. 
selbst — S. 173 — zu sichern für nötig hält]; auch der S. 110 anmerkungsweise erwähnte, 
zurückgewiesene Einwand würde vielleicht besser berücksichtigt werden. — Ref. hält 
dafür, daß im allgemeinen der Ausdruck „Eigenschaft‘‘ dem Wortsinn nach besser 
für Erbanlagen vorbehalten und den ‚Merkmalen‘ [= phänotypischen Merkmalen] 
gegenübergestellt würde. — Man sollte auch wohl mit Lenz den Ausdruck „homo- 
zygot‘‘ durch den treffenderen „homogametisch‘‘ ersetzen. — Ob Haecker unter 
„komplex-verursachten Merkmalen‘ tatsächlich polymer-bedingte verstanden haben 
will, geht aus seinen Ausführungen nicht ganz klar hervor. — Die diploide Chromo- 
somenzahl beim Menschen wurde in den neueren Arbeiten von Winiwarter und 
Painter zu 48 [nicht 24] gefunden.) — Die allgemeine Vererbungspathologie 
des Menschen enthält weiter die Anwendung der erläuternden Grundlagen mit be- 
sonderer Berücksichtigung der Methoden vererbungspathologischer Forschung, der 
Art des Materialsammelns und der Materialbeurteilung. (Die hier wiederholte Be- 
hauptung, daß aus der Häufung bestimmter Krankheiten bei bestimmten Systemrassen 
keine oder so gut wie keine Schlüsse gezogen werden könnten, scheint Ref. etwas zu 
weitgehend. Für viele Krankheiten ist die peristatische Komponente doch ganz gering, 
so daß man ihre gruppenweise Häufung in erster Linie auf rassenbildende Ursachen 
zurückführen bzw. damit in Zusammenhang bringen darf.) Das umfangreiche Kapitel 
über die Therapie idiotypischer Krankheiten vermittelt eine gute Vorstellung 
vom Wesen, Wegen und Zielen der Rassenhygiene. (Fraglich erscheint Ref. hier die 
Ablehnung des Verf. gegenüber der Anschauung von der idiokinetischen rassen- 
gefährdenden Wirkung des Alkohols.) Die wenigen kritischen Bemerkungen, die der 
vorstehenden kurzen Inhaltsangabe eingeflochten wurden, sollen vor allem auch 
andeuten, wie viele allgemeinbiologische und ärztlich belangreiche Probleme in dem 
Buche aufgerollt werden. Die überaus wertvolle vielseitige Anregung, die jeder medi- 
zinische Leser aus dem Werke schöpfen wird, leistet Gewähr dafür, daß es seinen 
Zweck erreichen wird: die wirksame Anbahnung der dringend notwendigen Umstellung 
im ärztlichen wie im pädagogischen Denken. Walter Scheidt (München). 

Lenz, Fritz: Die Übersterblichkeit der Knaben im Lichte der Erblichkeitslehre. 
Arch. f. Hyg. Bd. 93, S. 126—150. 1923. 

Die Arbeit bringt überraschend klare Beweise für die Richtigkeit der Theorie 
des Verf., daß die bekannte und allgemein zu findende Übersterblichkeit der Knaben 
(im Vergleich zu den Mädchen) mit geschlechtsgebunden-recessiven, krankhaften Erb- 
anlagen zusammenhängt. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Erklärungsversuche ist 
wohl stets zugegeben worden. Wenn aber geschlechtsgebunden-recessive krankhafte 
Erbanlagen anzunehmen sind, so ist zu erwarten, daß die Knabenübersterblichkeit 
um so geringer ist, je größer die (in ihren Schwankungen wesentlich von äußeren 
Umständen abhängige) Säuglingssterblichkeit überhaupt ist. Die Statistik Deutsch- 
lands und außerdeutscher Länder, sowie der Vergleich der Jahresschwankungen bestätigt 
dies vollkommen: die Kurve der Übersterblichkeit der Knaben ist in allen Teilen das 
Spiegelbild der Kurve der Säuglingssterblichkeit, und Länder, in denen die letztere 
geringer ist (vorzüglich Länder mit kälterem Klima, so Schweden, Norwegen, Däne- 
mark, England), zeigen die höhere Knabenübersterblichkeit. Zur Korrelationsberech- 
nung verwendet Lenz einen eigenen neuen Index, der gegenüber der Bravais-Pearson- 
schen Formel den Vorteil hat, daß er nicht mit der fälschenden quadratischen Ab- 
weichung arbeitet. Die Korrelationswerte sind (für Säuglingssterblichkeit und Knaben- 
übersterblichkeit) stets negativ, z. B.: 


für England = 0,63 + 0,19 
„ Schweden = 0,72 +- 0,17 
„ Deutschland = 0,58 4 0,14 
‚ Spanien = 0,49 + 0,24 
Bezüglich der Berechnung des (einfacheren) deutschen Korrelationsindex muß 


auf das Original verwiesen werden. Scheidt (München). 


— 83 — 


Fiek, Rudolf: Weitere Bemerkungen über die Vererbung erworbener Eigensehaften, 
Zeitschr. f. indukt. Abstammungs- u. Vererbungslehre Bd. 31, H. 1/2, 8. 134—152. 1923. 

Unter dem Einfluß der Tätigkeitsanpassung sollen Vorstufen von Erbfaktoren, „Pro- 
gene“, entstehen. Aus diesen „Progenen‘“ sollen sich unter dem Einfluß einer durch Gene- 
rationen wiederholten Tätigkeitsanpassung die endgültigen Erbfaktoren (Gene) bilden. Auf 
diese Weise kommt nach des Verf. Vorstellungen die Vererbung erworbener Eigenschaften 
vor, die er zweckmäßiger „Vererbung durch Umwelteinflüsse auf den Körper entstandener 
Spielarten‘‘ nennen zu sollen glaubt. Eugen Kahn (München)., 

Dahlberg, Gunnar: Twins and heredity. (Zwillinge und Erblichkeit.) (Inst. of 
race biol., Upsala.) Hereditas Bd. 4, H. 1/2, S. 27—32. 1923. 

Es handelt sich um kritische Betrachtungen zu den bisherigen Untersuchungen 
über die erbliche Bedingtheit der Zwillingsgeburten, hauptsächlich zu den Arbeiten 
von Weinberg, Bonnevieund Davenport. Weinberg glaubte aus der Geschlechts- 
verteilung der Zwillingsgeburten berechnen zu können, ein wie großer Teil aller Zwil- 
lingsgeburten als eineiig anzusehen sei. Dahlberg macht nun mit Recht darauf 
aufmerksam, daß Weinbergs Voraussetzung gleicher Häufigkeit zweieiiger Zwil- 
lingspaare von gleichem und von ungleichem Geschlecht nicht genau richtig zu sein 
braucht. Tatsächlich ist zu vermuten, daß zweieiige Zwillinge von gleichem Geschlecht 
etwas häufiger als solche von verschiedenem seien, wie Ref. hinzufügen möchte, und 
dann würde Weinbergs Methode einen etwas zu großen Bruchteil eineiiger Zwillinge 
ergeben. Weinberg hat an seinem Material die erbliche Mitbedingtheit zweieiiger 
Zwstlingsgeburten dartun können, nicht aber die eineiiger Zwillingsgeburten. Daraus 
ist öfter der Schluß gezogen worden, daß eineiige Zwillingsgeburten nicht erblich seien, 
was aber, wie D. auseinandersetzt, aus Weinbergs Material nicht folgt. Auch Kri- 
stine Bonnevies Befunde sprechen nicht gegen die Mitwirkung gewisser Erbanlagen 
beim Zustandekommen eineiiger Zwillingsgeburten, wie sie meinte, sondern, wie D. 
zeigt, eher dafür. Davenport, der nicht wie die beiden anderen Untersucher von 
unbestimmten Zwillingspaaren ausging, sondern von solchen, die mit größter Wahr- 
scheinlichkeit als zweieiig angesehen werden mußten, kam zu dem Ergebnis, daß auch 
die eineiigen Zwillingsgeburten erblich bedingt seien; doch ist sein Material zu klein, 
um endgültige Schlüsse zu gestatten. D. kommt somit zu der Vermutung, daß wahr- 
scheinlich sowohl die eineiigen als auch die eineiigen Zwillingsgeburten erblich bedingt 
seien. Leider seien die Schwierigkeiten, ein Material zu beschaffen, das zur klaren 
Entscheidung ausreiche, so gut wie unüberwindlich. Er ist daher auch zu keinem an- 
deren Resultat gekommen wie der Ref., von dem er gegen den Anfang seiner Arbeit 
sagt: „Lenz nimmt anscheinend aus rein theoretischen Gründen und, ohne irgend- 
welche neuen Tatsachen beizubringen, die Erblichkeit sowohl eineiiger als auch zwei- 
eiiger Zwillingsgeburten an.“ Neue Tatsachen aber hat D. auch nicht beigebracht. 

Lenz (München). 

Gigon, Alfred: Über Konstitution und Konstitutionsmerkmale. Zeitschr. f. d. ges. 
Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutionslehre Bd. 9, H. 3/4, S. 385—411. 1923. 

Die Konstitutionsdefinition des Verf. lautet: Konstitution ‚ist die einem Indi- 
viduum eigentümliche Summe der charakteristischen qualitativen Eigenschaften, 
aus welchen seine Körperbeschaffenheit und Reaktionsfähigkeit resultieren“. Dabei 
soll besonders betont werden, daß Konstitution ‚etwas Ganzes‘, nicht lokalisierbar 
und zeitlich von einer gewissen Dauer sei. Den Begriff der Partialkonstitution lehnt 
Gigon ab. In seinen theoretischen Erwägungen spielt sichtlich die Vorstellung von 
H. Driesch eine große Rolle. Die klare Auseinandersetzung von Pfaundler (’22) 
wird mehrfach angeführt, hätte aber vielleicht zu einer treffenderen Abgrenzung und 
Gliederung der Konstitutionsforschung Anlaß geben können, wenn Verf. nicht (unter 
Driesch’ Einfluß?) der Umwelt eine fast allmächtige Rolle zuschreiben und das Erbgut 
offenbar als etwas ganz Unbestimmtes, Vieldeutiges auffassen wollte. Es wird auch 
schwer, Sätze wie etwa die beiden folgenden miteinander in Einklang zu bringen: 
„Solange ein Individuum gesund bleibt, so können unmöglich neu erworbene quali- 


6* 


— 84 — 


tative, konstitutionelle Eigenschaften erscheinen, die nicht schon im Erbgut prä- 
formiert wären“ (S. 388). Und gleich darauf: ‚Ein Individuum, welches die Umstände 
zum Schreiber gemacht haben, hätte unter anderen Bedingungen einen tüchtigen 
Schmied oder Gelehrten gegeben.“ Die praktischen Auseinandersetzungen G.s ent- 
halten viel Belangreiches. Auch die mitgeteilten Fälle sind sicher lesenswerter als 
vieles, was über Konstitution und Konstitutionsforschung theoretisiert wird. Man 
wird dem Verf. nur beistimmen können, wenn er die gute klinische Untersuchung sog. 
konstitutioneller Merkmale über alle Typisierungsversuche stellt. Scheidt. 

Beloff, N. A.: Das Prinzip des kompliziert-ausgleiehenden Aufbaues der Orga- 
nismen als Ursache ihrer Veränderlichkeit in verschiedenen Altersstufen. Zeitschr. f. 
d. ges. Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutionslehre Bd. 9, H. 3/4, S. 356—372. 1923. 

Beloff versucht, einen rechnerischen Ausdruck für die Wechselwirkung der Organe 
und Gewebe zu finden und daran die Erscheinungen der Entwicklung und des Wachs- 
tums, der Hypertrophie und Atrophie usw. zu erläutern. Die gewählte Formulierung 
bildet wohl einen ganz lehrreichen Vergleich, doch dürfte es kaum — wie B. will — 
möglich sein, biologische ‚‚Gesetze‘‘ daraus abzuleiten. (Inhaltlich zu kurzem Referat 
nicht geeignet.) Scheidt (München). 

Rondoni, P.: I fattori esterni della eostituzione. (Die äußeren Faktoren der Kon- 
stitution.) (Istit. di patol. gen., univ., Napoli.) Arch. di patol. e clin. med. Bd. 2, 
H. 2, S. 155—174. 1923. 

Rondoni ist eher geneigt, die phenotypische Fassung des Konstitutionsbegriffes 
(genotypische Individualität plus Faktoren der Umwelt) zu akzeptieren als die ledig- 
lich genotypische. Er betont die Schwierigkeiten, die eine Trennung der hereditären 
von den akquirierten Elementen bietet und führt hierfür konkrete Beispiele. an, be- 
sonders aus dem Gebiete der inneren Sekretion, die dem Einfluß des Milieus mannig- 
fache Angriffspunkte bietet. Das endokrine System ist ein wahrhafter Transformator 
äußerer in innere Kräfte. Neuere Untersuchungen zeigen die Beeinflussung der 
inneren Sekretion durch die Ernährung, durch Hungerkost, aber auch durch Außen- 
temperatur, durch Überwinterung, durch toxische und infektiöse Prozesse. R. gedenkt 
auch gewisser Formen des Infantilismus, der Neotenie, schließlich auch der Vererbung 
erworbener Eigenschaften, deren Möglichkeit er nicht prinzipiell ablehnt. 

Neurath (Wien). 

Wehrlin, Kurt: Eugenetik und ihre praktische Anwendung. Schweiz. Zeitschr. 
f. Gesundheitspfl. Bd. 3, H. 3, S. 319—355. 1923. 

Es wurde versucht, das umfangreiche Problem der Eugenik in allgemeinverständlicher 
Form zu behandeln. Das ist dem Verf. im großen und ganzen gelungen, wenn auch verschiedene 
Ungenauigkeiten, schiefe Auffassungen, ja sogar Fehler unterlaufen sind, die störend wirken 
müssen. Für den gebildeten Laien wird die Arbeit trotzdem eine Fülle interessanter Fragen 
aufwerfen und wird ihn zwingen, über manche Zeiterscheinungen nachzudenken, an denen er 
bisher achtlos vorübergegangen ist. — Der Fachmann dürfte jedoch weder aus den objektiv 
mitgeteilten Tatsachen, noch aus den persönlichen Deduktionen und Vorschlägen des Verf., 
irgendeinen neuen Gedanken über das Problem der Eugenik und ihre praktische Anwendung 
finden, so daß es sich erübrigt, auf Einzelheiten der Arbeit einzugehen. 

Reiter (Berlin-Dahlem). 
© Rössle, Robert: Wachstum und Altern. Zur Physiologie und Pathologie der 
postfötalen Entwieklung. München: J. F. Bergmann 1923. IV, 351 S. G.-M. 10,50. 

Wenn Rössle eine zusammenfassende Darstellung der Pathologie und Physiologie 
des Wachstums und Alterns gibt, so will er damit eine in der deutschen wie ausländischen 
Literatur vorhandene Lücke füllen. Im ersten Teil wird die Physiologie des Wachstums 
und Alterns abgehandelt; der erste Unterabschnitt „Das natürliche Wachstum“ 
enthält insbesondere Kapitel über Definition des Wachstums, Wesen des Wachstums 
und Wachstumsgesetze, Beziehung von Wachstum und Altern, Wachstumsabschluß, 
Biochemie des Wachstums u.a.; im zweiten Unterabschnitt, der die Überschrift 
„Das natürliche Altern‘ trägt, werden Altern und Alterskrankheiten, Wesen des 
Alterns, physiologischer Tod und Verjüngung und in umfassender Weise die Alters- 


u RE a 


veränderungen der einzelnen Organe besprochen. Der zweite Teil ist der Pathologie 
des Wachstums und Alterns gewidmet. Hier werden im ersten Abschnitt ‚Pathologie 
des Wachstums“ zunächst von allgemeinen Gesichtspunkten aus die Wachstums- 
störungen, der Einfluß von Ernährung, endokrinen Störungen, Krankheiten, sozialen 
und klimatischen Faktoren behandelt; in dem Abschnitt „Spezielle Pathologie des 
Wachstums“ gibt Verf. dann einen Überblick über krankhafte Hemmungen des 
Wachstums einerseits, über krankhafte Verstärkungen andererseits (Hoch- und Riesen- 
wuchs); in entsprechender Weise befaßt sich der nächste Abschnitt mit der Patho- 
logie des Alterns. Man gewinnt aus der Lektüre des Buches, in dem neben einer weit- 
gehenden Verwertung bereits vorhandener Arbeiten die große eigene Erfahrung und 
Forschungsarbeit des Verf. allenthalben deutlich hervortritt, den bestimmten Ein- 
druck, daß der Verf. die gestellten Aufgaben in glänzender Weise gelöst hat; das 
Buch wird namentlich auch für den in der Arbeit am Kinde stehenden Arzt und 
Forscher ein unentbehrlicher Berater sein. Durch die umfassenden Literaturüber- 
sichten wird der Wert des Buches als Nachschlagewerk noch besonders gehoben. 
ö Schob (Dresden). 

Penon, K.: Die Pubertätsjahre bei Mädchen. (Süd-Holländ. neurol. Vereinig., 
’s-Gravenhage, Sitzg. v. 10. VI. 1923.) Nederlandsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 67, 2. Hälfte, 
Nr. 14, S. 1476—1487. 1923. (Holländisch.) 

Die Pubertät beginnt bei Mädchen mit der ersten Menstruation, die in Holland 
durchschnittlich im Alter von 14 Jahren eintritt. Wie der Eintritt der körperlichen 
Reife von inneren (Rasse, Anlage) und äußeren Faktoren (Klima, Ernährung) abhängt, 
so auch die geistige; manche Eigenschaften können aus Gründen der Lebenslage nicht 
auftreten, wiewohl sie sich normalerweise in der Pubertät zeigen, und umgekehrt. 
Die Pubertätsumwandlung kann sehr rasch, innerhalb weniger Wochen sich vollziehen. 
Mit Abschluß der Pubertät — nach 1!/,—2 Jahren — ist das Mädchen heute vielfach 
noch nicht erwachsen, insbesondere was das Gefühlsleben anlangt. Es kommt eine 
Phase unbestimmter, oft depressiver Gefühlslage, die auch noch im 18. Jahr auftreten 
kann. Dieser Phase folgt die des „Sturm und Dranges‘, so daß die ganze Pubertät 
in die Abschnitte: Backfisch, ernste Phase und jene dritte zerfällt. Die nähere Be- 
schreibung des Backfisches entnimmt Verf. dem „Tagebuch eines halbwüchsigen 
Mädchens“, die der zweiten Phase dem Werke Ch. Bühlers, für die dritte bringt er 
eigenes Material. Es scheint, daß die erste liebende Zuneigung des Mädchens auf eine 
Person gleichen Geschlechtes gerichtet sei. Eine eingehende Beschreibung und Analyse 
fehlen. Rudolf Allers (Wien). 

Kistler, Helene: Individualmessungen in der Zeit des Pubertätswachstums. 
(Kinderklin., Univ. Wien.) Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 36, H. 4/5, S. 157—163. 1923. 

Verf. konnte 20 Kinder während der Pubescenz beobachten und fand, daß auch (7) 
Individualkurven das massenstatistische Ergebnis Pirquets bestätigen: während 
der Pubescenz findet eine beträchtliche Zunahme der Stammlänge statt; die untere 
Extremität wächst hingegen nur im Anfang gleich stark mit und zeigt bald keine 
wesentliche Längenzunahme mehr. Walter Scheidt (München). 

Hoffmann, Walter: Das Pathologisehe in der Entwieklung der Jugendlichen. 
(Zentralinst. f. Erziehung u. Unterricht, Berlin.) Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. 
Pädag. Jg. 24, H. 5/6, 8. 138—152. 1923. 

Der am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin gehaltene pädago- 
gische Vortrag bringt mancherlei Allgemein-Psychopathologisches über die Entwick- 
lungsjahre, bietet aber naturgemäß dem Arzt nichts Neues. Er ist zudem von falschen 
Anschauungen nicht ganz frei, so wird beispielsweise erklärt, das Sich-Einspinnen in 
Träumereien (die ‚innere Spaltung“) führe zur Schizophrenie. Verf. sieht im übrigen 
den Hauptschlüssel zum Verständnis der seelischen Varianten in der Entwicklungs- 
psychologie und schließt sich der bekannten Anschauung an, daß ein großer Teil der 
Entartungserscheinungen als Entwicklungsstillstand auf tieferer Stufe zu erklären ist. 


6 — 


Die Gefahren der (sozialen usw.) Entwurzelung werden herausgehoben, die besondere 
Bedeutung der erzieherischen Behandlung der Psychopathen wird betont. 
Birnbaum (Herzberge)., 

Berger, J.: Die Gesetze der körperlichen Entwicklung des kindlichen Organismus. 
Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schulgesundheitspfl. Jg. 36, Nr. 8/9, S. 234—242. 1923. 

Untersuchungen an dem Material der jüdischen Kinder in Wilna von Makower 
und der Vergleich der gewonnenen Daten mit Körpermaßen von schwedischen, russi- 
schen und deutschen Kindern führen den Autor namentlich zu folgenden Schlüssen: 
Der frühere Eintritt der Geschlechtsreife bei den südlichen Rassen und der spätere 
Eintritt bei den nördlichen Rassen verursacht die Verschiedenheit des Entwicklungs- 
ganges der verschiedenen Rassen. Die Nördlichen erlangen vor den Südlichen einen 
Vorrang dadurch, daß jene mehr Zeit für ihre Entwicklung zur Verfügung haben. 
Mit Recht meint Verf., daß diese Schlüsse noch weiterer Begründung und Prüfung 
bedürfen — um so mehr als die Wilnaer Kinder, einer südlichen Rasse angehörig, sich 
doch im nördlichen Klima entwickeln und insofern keine reinen Bedingungen bieten. 
Als den „Hauptfaktor der Lebenskraft‘ erachtet Verf. den Brustumfang. Unter un- 
günstigen Bedingungen (Krieg!) bleibe dieser Hauptfaktor fast unberührt, während 
weniger wichtige Faktoren (Körperlänge und Körpergewicht) um so mehr einbüßen, 
je weniger sie für den kindlichen Körper wichtig sind. Pjaundler (München)., 

Wolfer, Leo: Zur Bestimmung des körperliehen Entwicklungszustandes bei Schul- 
kindern. Wien. klin. Wochenschr. Jg. 36, Nr. 30, S. 541 —542. 1923. 

Bei der Klassifizierung der Schulkinder nach dem Gesundheitszustand mangelte 
es bislang an der erforderlichen Einheitlichkeit, so daß die Ergebnisse der schulärzt- 
lichen Untersuchungen an zentraler Stelle schwer verwertbar sind. Verf. will den 
Entwicklungszustand eines Kindes als „gut‘‘ bezeichnen, wenn Körperlänge durch 
Gewicht x 2 gleich Brustumfang durch Alter x 3, als ‚mittel‘, wenn der erste Quotient 
kleiner, als „schlecht“, wenn er größer als der zweite ist. Neu ist die exakte Verwertung 
der Breitenentwicklung. Ernst Brunthaler (Hildesheim). 

Pirquet, C.: Anthropometrische Untersuehungen an Schulkindern in Österreich. 
Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 36, H. 2/3, S. 63—83. 1923. 

Pirquet bestimmt (mit einem Beobachtungsmaterial von 74171 Knaben und 
74 098 Mädchen) ein ‚ausgeglichenes Durchschnittsgewicht‘“ für jede Körpergrößen- 
und Altersstufe beider Geschlechter. Die Camererschen Zahlen in Pfaundler- 
Schloßmanns Handbuch sind nach diesen neuen Befunden zu hoch; sie weichen 
nach Ansicht des Verf. stark vom physiologischen Durchschnittsmaß ab. Die Woodsche 
Ansicht (Verf. spricht vom ‚„Woodschen Gesetz“), daß ältere Kinder schwerer sind 
als jüngere mit derselben Körpergröße, besteht zu Recht. Knaben sind anfangs schwerer 
als gleichgroße Mädchen, gegen die Pubertät zu kehrt sich das Verhältnis um. 

Walter Scheidt (München). 

Stalnaker, Elizabeth M.: A comparison of eertain mental and physical measure ments 
of school children and college students. (Vergleich einiger psychischer und physischer 
Messungen bei Schulkindern und Kollegestudenten.) (Psychol. laborat., Johns Hopkins 
univ., Baltimore.) Journ. of comp. psychol. Bd. 3, Nr. 3, S. 181—239. 1923. 

Verf. gibt einen Überblick über die bisher über das obige Thema veröffentlichte 
Literatur, um auf Grund desselben die wesentlichsten Ergebnisse der bisherigen For- 
schung herauszuschälen. Trotz der vielen aufgewandten Mühe ist es bisher noch nicht 
möglich, Gesundheit und Entwicklungsstand eines Individuums aus anthropometrischen 
Messungen zu bestimmen. Die Aufstellung von Normen ist bisher nicht gelungen. 
In einer „gemischten“ Bevölkerung, die sich: aus verschiedenen Stämmen zusammen- 
setzt, ist die Aufstellung einheitlicher Standardwerte völlig unmöglich. Die Begriffe, 
nach denen wir Menschen in Gruppen einteilen, wie „schlecht ernährt“, „unterernährt‘“ 
usw., sind völlig unbrauchbar, weil unscharf und willkürlich. Die Beziehungen zwischen 
körperlicher und seelischer Entwicklung stellen ein Problem für experimentelle Unter- 


— 8&7 — 


suchungen dar. Hier liegen noch wichtige Aufgaben vor allem in dem Auffinden von 
Standardwerten. Erich Stern (Gießen). °° 

Stefko, W. H.: Der Einfluß des Hungerns auf das Wachstum und die gesamte 
physische Entwieklung der Kinder (im Zusammenhang mit anatomischen Verände- 
rungen beim Hungern). Zeitschr. f. d. ges. Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutions- 
lehre Bd. 9, H. 3/4, S. 312—355. 1923. 

Die untersuchten Kinder stammten größtenteils von Bauern aus hungernden 
Dörfern, zum kleineren Teil aus Städterkreisen (manuelle Arbeiter); insgesamt waren es 
800, die sich auf Russen, Juden, Krimschaken und Tartaren verteilen. Zum Vergleich 
werden Angaben aus der Literatur über deutsche Kinder während des Krieges heran- 
gezogen. Bei den Kindern aller Altersstufen und aller Nationalitäten ist unter dem 
Einflusse des Hungerns eine starke Wachstumsminderung festzustellen. In Wachs- 
tums- und Gewichtsverlauf machen sich Rassenunterschiede geltend; bei Krimschaken 
und Juden war keine Änderung im allgemeinen Entwicklungsverlauf zu bemerken, 
während solche bei den russischen Knaben deutlich, bei den Tartaren weniger aus- 
gesprochen waren. Die Stabilität des männlichen Organismus gegenüber dem Hunger 
ist geringer als der des weiblichen, was sich sowohl in der Unfähigkeit, die festen physi- 
schen Merkmale beizubehalten, alsauch in dem Kampfe gegen die äußeren Bedingungen 
kund gibt. Der Hauptgewichtsverlust des weiblichen Körpers entfällt aus das Fett- 
gewebe. Dieses ist beim männlichen weniger ausgeprägt und erschöpft sich daher 
rascher, daher sehr bald auch die anderen Körpergewebe (Eiweiß) in Mitleidenschaft 
gezogen werden. Beim Hungern treten Erscheinungen von seiten der endokrinen 
Systeme auf, welche in den Gesamtveränderungen des Wachstums eine entscheidende 
Rolle spielen dürften; es liegen Anzeichen der pluriglandulären Insuffizienz vor. So 
gehen in den Övarien die generativen Elemente zugrunde, während die inter- 
stitiellen sich entfalten. Damit hängt das Ausbleiben der normalen Wachstumszunahme 
zwischen dem 8. und 9. Jahr unter dem Einfluß des Hungerns zusammen. Diese endo- 
krinen Veränderungen sind biologisch als zweckmäßige Anpassungen zu verstehen. Sie 
bedeuten aber, da sie sich wesentlich auf die Generationsorgane erstrecken, eine Ge- 
fährdung für die Qualität der kommenden Generation. Rudolf Allers (Wien). 

Bürgers, Th. J., und W. Baehmann: Untersuchungen über den körperlichen Zustand 
der Jugendlichen Düsseldorfs nach dem Kriege. (Hyg. Inst., Düsseldorf.) Arch. f. Hyg. 
Bd. 92, H. 2/4, S. 169—188. 1923. 

Bürgers und Bachmann weisen wiederholt auf die Schwierigkeit hin, die aus 
der ungenügenden Kenntnis der körperlichen Beschaffenheit der verschiedenen deut- 
schen Stämme bei dem Vergleich anthropologischer Messungen an Jugendlichen in 
verschiedenen Schulen Deutschlands sich ergeben müssen. Aber schon die wenigen 
Kenntnisse, die bisher auf diesem Gebiet vorhanden sind, müssen sorgfältig zu Rate 
gezogen werden, wenn nicht grobe Trugschlüsse entstehen sollen. Die Autoren haben 
1200 Düsseldorfer Fortbildungsschüler im Alter von 14—17 Jahren in körperlicher 
Hinsicht untersucht, und zwar Länge, Gewicht, Brustumfang bei der Ein- und Aus- 
atmung, sowie die Umfänge von Ober- und Unterarmen, Ober- und Unterschenkeln. 
In der Auswertung dieses Urmaterials stimmen sie im wesentlichen mit den älteren 
Arbeiten Aschers, Kaups, Oettingers überein, und auch ihre Ergebnisse weichen 
nicht wesentlich von denen ab, die sich anderwärts auf Grund sorgsamer Untersuchungen 
der gleichen Altersstufe und bei ihrem Vergleich mit den entsprechenden Vorkriegswerten 
ergeben haben. Es zeigt sich wiederum, daß die 14—15jährigen noch keineswegs die 
Friedenswerte voll erreicht haben, sondern hinter der Erwartung zurückbleiben. 
Wo die Übereinstimmung mit Friedenswerten gefunden wird, wie etwa bei der Über- 
einstimmung der Düsseldorfer Schüler mit den Münchner Vorkriegswerten der ent- 
sprechenden Altersstufe, wird die rassenmäßige Unterlegenheit der Münchner zur 
Erklärung herangezogen, denn nach der Rekrutierungsstatistik müßten die Münchner 
von den Düsseldorfern an Länge und Gewicht wesentlich übertroffen werden. Im 


— 8&8 — 


Unterschied dazu ist der Zuwachs an Körperlänge und Gewicht bei den 16jährigen 
so außerordentlich groß, daß er mit Wahrscheinlichkeit den der Friedensjahre bereits 
übersteigt, so daß die Einwirkung der Kriegsjahre als eine Art vorübergehender Ver- 
biegung der Wachstumskurve sicht darstellt, bei welcher der vermehrte Zuwachs der 16 
bis 17jährigen als eine Art Ausgleich gegenüber dem Zurückbleiben der 14—15jährigen 
erscheint. — Damit stimmt gut überein, daß die Zahl der Unterwertigen in bezug 
auf Körperlänge und Körpergewicht die Zahl der Überwertigen in der jüngeren Alters- 
stufe der 14—15jährigen weit übertrifft. Bei den 16jährigen verhält es sich umgekehrt: 
die größeren und schwereren Individuen sind entschieden in der Überzahl. Sichere 
Schlüsse auf die Konstitution wagen die Autoren vorsichtigerweise einstweilen nicht 
zu ziehen, da die entsprechenden Vergleichstabellen noch fehlen; nur haben sie den 
Eindruck gewonnen, daß die Breitenentwicklung der Düsseldorfer Jugendlichen sich 
nicht so günstig entwickelt hat, wie die der Münchener ‘Jugendlichen. Der stärkere 
Wachstumszusatz der 16—17jährigen braucht ihrer Meinung nach nicht auf deren 
bessere Konstitution schließen zu lassen, sondern ist vielmehr eine diesem Lebens- 
alter eigentümliche Erscheinung. — Bei Anwendung der üblichen Konstitutions- 
bezeichnungen nach I, II, III zeigt sich, daß eine bedeutend größere Anzahl von In- 
dividuen der 16—17jährigen mit I bezeichnet werden kann, während die Mittel- 
kräftigen und Schwächlichen bei jugendlichen Jahrgängen überwiegen. — Auch diese 
Autoren haben wieder festgestellt, wie vorher schon Ascher und Kaup, daß es 
gewisse Berufsarten gibt (Schneider, Ungelernte, teilweise auch Kaufleute), bei denen 
die schwächlichen Individuen überwiegen, andere wieder (wie Schmiede, Mechaniker, 
Maschinenbauer, teilweise auch Schlosser, Bäcker und Gastwirte) mit kräftiger ge- 
bauten Vertretern. Sie weisen aber mit Recht darauf hin, daß es überaus schwer ist, 
zu entscheiden, wie weit hier der Beruf den Menschen geformt hat bzw. wie weit schon 
vorher entsprechend gebaute Individuen sich dem artgemäßen Beruf zugewendet 
haben. Das Überwiegen der Gutkonstituierten unter den Schwerarbeitern dürfte 
sich ihrer Auffassung nach durch Auslese der Kräftigen und in zweiter Linie erst durch 
Berufseinflüsse erklären lassen. Entsprechend deuten sie die Verhältnisse bei den 
schlechter Konstituierten. — Dieselbe Schwierigkeit ergibt sich bei dem Versuch, den 
Einfluß des Turmens festzustellen. Auch hier zeigt sich natürlich, daß die Turner in 
den geprüften Maßen die Nichtturner nicht unwesentlich übertreffen, ohne daß man 
mit Sicherheit das Turnen dafür verantwortlich machen kann. — Vergleicht man die 
Herkunft der Jugendlichen mit der Konstitution, so kommt man zu dem Ergebnis, 
daß die gut und mittelmäßig konstituierten Jugendlichen der Überzahl nach nicht 
aus dem Rheinland stammen. — Daß es einstweilen schwer ist, den Einfluß der Er- 
ziehungsmaßnahmen auf die Jugendlichen nachzuweisen, kann, wie die Autoren 
am Schluß richtig bemerken, uns nicht abhalten, alle diese Maßnahmen noch weiter 
auszubauen und sie in einer vom Staate getragenen Organisation zusammenzufassen. 
Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 

Fürst, Th.: Die Münchener SOINLABRENSEHU UBER“ nach dem Krieg. Arch. 
f. Hyg. Bd. 93, S. 79—103. 1923. 

Nach Fortfall der heeresärztlichen Girer wird die Gesundheitsprüfung 
jugendlicher Arbeiter besonders wichtig; hat doch das Beispiel Österreichs die unheil- 
volle Bedeutung des Übersehens eines gesundheitlichen Rückganges innerhalb dieser 
Altersklassen für das Schicksal eines ganzen Volkes gezeigt (Winkler, Arch. f. Hyg. 14, 
Heft 4. 1921). In München ist Kaup auf diesem Gebiete ärztlicher Vorsorge bahn- 
brechend vorangegangen. Seine Ergebnisse werden bestätigt und durch manche wert- 
volle Anregungen ergänzt. Betont wird der Wert periodisch wiederholter Individual- 
untersuchungen an den Lehrlingen einer bestimmten größeren Fabrik mit einheitlichen 
und wohl kontrollierten Arbeitsbedingungen. So zeigt sich z. B. in der ersten Lehr- 
lingszeit ein sehr geringes Ansteigen des Zentimetergewichtes im Zusammenhang mit 
geschlossener Arbeitszeit und weiten Radwegen zur Fabrik. Wesentliche Abweichungen 


er RG -a 


im Querschnittlängenindex bei gewerblichen Anfängern gehen mit häufigen Krank- 
heitstagen und allmählich deutlicher hervortretendem Organbefund (Tuberkulose!) 
parallel. Innerhalb verschiedener Berufsgruppen läßt sich aus der Zuwachsberechnung 
der Einfluß der Berufstätigkeit deutlich zeigen, so die günstige Wirkung bei Schmieden, 
Mechanikern, Metzgern, Bäckern; die ungünstige bei Schneidern, Schlossern, Schreinern. 
Verf. tritt für die Beobachtung kritischer Berufshaltungen im Nacktzustande und 
ihr Festhalten im Lichtbild ein; die durch solche Haltungen entstehenden Schädi- 
gungen will er durch besonders angepaßte Ausgleichsübungen bekämpfen. Er betont 
die Unerläßlichkeit der Mitwirkung sachverständiger Ärzte bei der Berufseignungs- 
prüfung, die nicht in ein einseitig psychotechnisches Fahrwasser geraten, sondern 
den lebenswichtigen Berufen die biologisch wertvollsten Individuen zuführen soll. 
Endlich gibt er ein Verfahren an, um — aus den Werten für Gewicht, Brustumfang, 
unter Berücksichtigung des Querschnittlängenindexes, wie Einbeziehung des Organ- 
befundes nach Schätzungsgraden — eine Rangskala für die Wertigkeit der Glieder einer 
Untersuchungsreihe aufzustellen. Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 

Chadwiek, Mary: The cehild’s position in the family. (Die Stellung des Kindes in 
der Familie.) Child Bd. 13, Nr. 12, S. 358— 361. 1923. 

Die Stellung eines jeden Kindes in der Familie, sei es das einzige, das älteste, 
das jüngste oder das mittlere, ist eine eigenartige und beeinflußt den Charakter oft 
fürs ganze Leben. Das älteste Kind verliert niemals jene Selbstbeherrschung und stolze 
Unabhängigkeit, welche dem Bewußtsein entspringt, das Erstgeborene gewesen zu sein, 
den jüngeren Geschwistern als Vorbild gedient zu haben und oft die Verantwortung 
für sie getragen zu haben. Die Stellung des mittleren Kindes ist verwickelt. Es hat 
weder die Vorrechte des ältesten noch die des jüngsten und wird bald zu den älteren 
bald zu den jüngeren gerechnet. Daraus entspringt oft eine bleibende Unsicherheit 
im Umgang mit anderen. Das jüngste Kind ist nur zu oft der verwöhnte Liebling 
und erwartet auch im späteren Leben verwöhnt und bedient zu werden. Es bleibt 
unselbständig und erlebt Enttäuschungen, wenn es später die Schonung und Rück- 
sicht entbehren muß, die ihm im Elternhaus zuteil wurde. Eine besondere Lage ent- 
steht, weran das jüngste Kind von den Eltern als unerwünschter Familienzuwachs be- 
trachtet wird. Campbell (Dresden). 

Wheatley, James: Discussion on faetors contributing to the recent decrease in 
infantile mortality: are such factors likely to be permanent or temporary? Opening paper. 
(Besprechung der Faktoren, die zu dem neuerlichen Rückgang der Kindersterblichkeit 
beigetragen haben: Sind diese Faktoren wahrscheinlich dauernd oder vorübergehend ? 
Eröffnungsrede.) Brit. med. journ. Nr. 3278, S. 754—759. 1923. 

Während in den Jahren von 1841—1900 in England und Wales die Kindersterb- 
lichkeit mit 156—139 sich nicht wesentlich änderte, sank sie seit 1901 bis auf 77 im 
Jahre 1922 ab. Das Schulgesetz von 1870, das Gesetz über öffentliche Gesundheits- 
pflege von 1875, die Verordnung über die Arbeiterwohnungen 1890 haben also an- 
scheinend keinen Einfluß auf die Kindersterblichkeit gehabt. Dagegen scheinen das 
Hebammengesetz von 1902 und die Verordnungen über Erziehung 1907 und 1915, 
Geburtsmeldungen, Kinderfürsorge 1907, Versicherung, Tuberkulosebekämpfung 1911, 
Geschlechtskrankheitenbekämpfung 1916 und Mutterschutz 1918 eine günstige Wirkung 
gehabt zu haben. Nach Besprechung aller in Betracht kommenden Faktoren sieht 
Verf. die Hauptursache für die Abnahme der Kindersterblichkeit in der erzieherischen 
Einwirkung auf Mutter und Kind. Die bessere Milchversorgung, allgemeine 
hygienische Maßnahmen und der verminderte Straßenverkehr (keine Pferde!) mögen 
auch eine gewisse Rolle spielen. Auch dem Geburtenrückgang kommt eine gewisse 
Bedeutung zu. In der Aussprache meint Peck, daß die Verbesserung der Wasser- 
versorgung und Einführung der Sommerzeit von größerer Wichtigkeit sind. Bracken- 
bury (London) möchte einmal eine Feststellung über Schwankungen der Kinder- 
sterblichkeit in bestimmten Klassen usw. haben. Kirkhope schließt sich dem Vor- 


tragenden an und spricht besonders für Mutterbelehrung, ebenso Clark - Trotter. 
Scurfield möchte die bessere Milchversorgung mehr betont wissen, ihm schließt 
Bullough sich an. Dagegen sieht Miller in der ständigen gesundheitsdienstlichen 
Kontrolle den Hauptgrund für Besserung der Verhältnisse. W y n ne hebt den Geburten- 
rückgang und die Besserung der Lebenshaltung hervor. Creuizfeldt (Kiel). 

© Weil, Arthur: Die innere Sekretion. Eine Einführung für Studierende und 
Ärzte. 3. verb. Aufl. Berlin: Julius Springer 1923. V, 150 S. G.-M. 5.—/$ 1.20. 

Von einer kurzen, klaren Übersicht über Entwicklung und Anatomie der inkreto- 
rischen Drüsen ausgehend, schildert Verf. ihre physiologische Bedeutung für die Zirku- 
lation, die Atmung, den Stoffwechsel, das Wachstum, das Geschlechtsleben und die 
Psyche. Die Darstellung ist anschaulich und hebt das Wesentliche so heraus, daß der 
Leser den nötigen Überblick erhält. Der Verf. ist bemüht, alle Ansichten zu Worte 
kommen zu lassen. Etwas komplizierter, als er es darstellt, liegen aber wohl die Ver- 
hältnisse im Bereiche der Geschlechtsdrüsen. Im übrigen indes ist die Stellungnahme 
des Verf. durch eine wohltuende Kritik gekennzeichnet. Die Ausstattung ist vortreff- 
lich. Das Buch ist zur Einführung in das Gebiet der inneren Sekretion ausgezeichnet. 
Daß es seine Aufgabe erfüllt, zeigt außerdem die Tatsache, daß es in 3 Jahren 3 Auf- 
lagen erlebt hat. Creutzfeldt (Kiel). 

© Hart, Carl: Die Lehre vom Status thymieo-Iymphatieus. Ein Beitrag zur 
Konstitutionspathologie. München: J. F. Bergmann 1923. 172 S. G.-M. 3.60. 

Die vorliegende zusammenfassende Übersicht über die Lehre vom Status thymico- 
lymphaticus ist das Werk eines unserer bekanntesten Konstitutionsforscher. Die Fülle 
des Stoffes macht ein eingehendes Referat unmöglich; wir können nur kurz über den 
Aufbau des Inhalts berichten. Verf. gibt ein genaues Bild des Status thymico-Iympha- 
ticus und legt vor allem dar, wie dieser ursprünglich eng umgrenzte Konstitutions- 
typus im Laufe der Zeit eine immer weitere Fassung bekam. Es wurde die Verwandt- 
schaft, ja zum Teil völlige Übereinstimmung dieses Status mit einer Reihe von Diathesen 
betont, und das Ganze könnte man eine nahezu das gesamte Gebiet der Pathologie 
überdeckende Pandiathese nennen. Auf das eingehendste werden alle einschlägigen 
Fragen des Statusthymico-Iymphaticus besprochen; mikroskopische Diagnose; Lympho- 
cytose in Blut und Gewebe; die anererbten und familiären Fälle; die Beziehungen zu 
Infektionskrankheiten, ferner zu bestimmten charakteristischen Störungen anderer 
innerer Drüsen usw. Die Schlußbetrachtung weist u.a. auf die Notwendigkeit hin, 
auf die ursprünglichen Grund- und Kernmerkmale des Status thymico-lymphaticus 
zurückzugehen, sie auf ihre Haltbarkeit zu prüfen und so durch eine feste Verankerung 
des Typus die heute vielfach herrschende Verwirrung zu beseitigen. Dabei sollte aber 
m. £. die Hereditätsforschung ganz entschieden mit herangezogen werden; denn nur 
im Erbgang läßt sich feststellen, welchen Wandlungen ein Konstitutionstypus durch 
andersartige Erbeinschläge unterworfen sein kann. H. Hoffmann (Tübingen). 

Maas, Otto: Beitrag zur Kenntnis des Zwergwuchses. II. Mitt. (Hosp. Buch, 
Berlin.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 86, H. 1/2, S. 76—84. 1923. 

Der kindliche Zwergwuchs, gekennzeichnet besonders durch Kurzgliedrigkeit, 
quadratische und Dreizackhand, vorstehende Stirn und Scheitelbeinhöcker, Einziehung 
der Nasenwurzel, verfrühte Verknöcherung der Schädelbasisknochen und Knickungen 
meist nahe an den Epiphysen, galt lange als regelmäßig, ja gesetzmäßig vergesell- 
schaftet mit psychischen Anomalien, meist mit Schwachsinn. Nachdem durch die 
aufsehenerregenden Mitteilungen Kretzschmers über enge Beziehungen zwischen 
Körperbau und Charakter das Verhältnis zwischen typischen körperlichen und dazu 
gehörigen seelischen Abweichungen in den Vordergrund des psychiatrischen Inter- 
esses getreten ist, hat Verf. auf Grund eines allerdings nicht sehr umfangreichen 
Materials zu diesem Problem Stellung genommen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß 
ein großer Teil der chondrodystrophischen Zwerge psychisch der Norm entspricht, 
während ein anderer Teil Abnormitäten aufweist, daß aber allen gemeinsame, also 





— 9] — 


typische Eigentümlichkeiten, nicht nachweisbar sind. Dieses Ergebnis spricht nicht 
dafür, daß die Anschauung, es bestände zwischen Konstitution und psychischen Eigen- 
schaften gesetzmäßige Beziehungen, für die chondrodystrophischen Zwerge Geltung hat. 
Villinger (Tübingen). 

Sand, Knud: Hermaphrodisme (vrai) glandulaire alternant ehez un individu de 
dix ans. (Fall von echter glandulärer Zwitterbildung bei einem l0jährigen Indi- 
viduum.) (Hôp. municipal, Copenhague.) Journ. d’urol. Bd. 15, Nr.3, S.181—194. 1923. 

Das jetzt 10jährige Individuum wurde als Knabe erzogen. Das äußere Genitale zeigte 
ausgesprochene Zwitterbildung, ohne einen vorherrschenden Geschlechtscharakter zu verraten. 
Die vorgenommene Laparotomie zeigte weibliche Anlage, Uterus und Tuben. Vas deferens, 
Samenkanäle, Prostata waren nicht mit Sicherheit festzustellen. Hingegen fanden sich symme- 
trisch in der Gegend der Ovarien zwei Geschlechtsdrüsen. Die genaue mikroskopische Unter- 
suchung probeexcidierter Stücke ergab, daß die rechte Drüse die Struktur eines fötalen bzw. 


infantil gebliebenen Hodens aufwies, die linke Drüse konnte nicht genau differenziert werden; 
der Gesamteindruck war der eines fötalen Ovariums. 


Es liegt also ein Fall der relativ selten beobachteten echten Zwitterbildung vor. 
Eine genaue Differenzierung dahin, daß eine sexuelle Richtung, wenn auch nur gering, 
dominierte, war weder aus dem klinischen Befunde, der genauen mikroskopischen 
Untersuchung noch aus dem allgemeinen physischen und psychischen Verhalten des 
Individuums abzulesen. Hinsichtlich des therapeutischen Vorgehens waren zwei Wege 
vorgezeichnet, die vollkommene Kastration oder die Entfernung der einen der beiden 
Drüsen und Versuch der Umstimmung des Organismus im Sinne der zurückgelassenen 
Drüse. Gegen die Kastration war kein ernstes Bedenken zu erheben, da die mangel- 
hafte Differenzierung keineswegs dadurch stärker werden konnte, andererseits war der 
Entwicklung maligner Tumoren aus der Entwicklungsanomalie vorgebeugt. Die zweite 
Operation schien riskant, da nicht erwiesen war, ob in den zurückgelassenen Drüsen- 
teilen Reste entgegengesetzt sezernierenden Drüsengewebes vorhanden waren. Verf. 
entschloß sich, einen Eingriff zur Umstimmung des Geschlechtscharakters bis zum 
Eintritt der Pubertät aufzuschieben, da sich bei ihrem Auftreten möglicherweise doch 
natürliche Differenzierungsmöglichkeiten im einen oder anderen Sinne äußern werden. 

S. Hirsch (Frankfurt a. M.)., 

Kelley, C. M.: A „nutrition“ and intelligence quotient slide rule. (Rechenstab 
für den Ernährungszustand und Intelligenzquotienten.) Journ. of the Americ. med. 
assoc. Bd. 80, Nr. 6, S. 397—398. 1923. 

Verf. beschreibt einen Rechenstab, an welchem sich schnell ablesen läßt, ob das Körper- 


gewicht eines Kindes dem-Alter und der Größe entspricht bzw. um wieviel Prozent es abweicht. 
In gleicher Weise läßt sich auch der dem Alter entsprechende Intelligenzquotient ablesen. 


Kramer (Berlin). 

Psychologie: 
Allgemeine und spezielle Psychologie. — Methodisches : 

© Preyer, W.: Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung 
des Menschen in den ersten Lebensjahren. 9. Aufl. (Naeh dem Tode des Verf. bearb. u. 
hrsg. v. Karl Ludolf Sehaefer.) Leipzig: Th. Grieben 1923. XVI, 408 S. G.Z. 22, 

Eine große Zahl von Werken aus dem Gebiete der Kinderpsychologie ist nach 
dem Erscheinen von W. Preyers klassischem Buch ‚Die Seele des Kindes“ heraus- 
gekommen; viele haben auf ihm aufgebaut, haben aus seinem reichen Erfahrungs- 
schatz Nutzen gezogen, keines aber hat es verdrängen oder ersetzen können. Das 
Werk des exakten Beobachters und warmen Kinderfreundes wird nun, mehr als ein 
Menschenalter nach dem ersten Erscheinen, durch die Not der Zeit um einige Jahre 
verspätet, in der 9. Auflage herausgegeben. Es wird wie früher, des kann man sicher 
sein, nicht nur in die Hände derer gelangen, die sich für die praktische Betätigung 
mit Kindern einen Wissensbestand verschaffen wollen, der Mütter, der Lehrer, der 
Kinderärzte, sondern es wird auch dem psychologischen Forscher eine Fundgrube 
von Stoff für theoretische Erkenntnis bleiben. K. L. Schaefer vermeidet bei seiner 





— 92 — 


sorgsamen Überarbeitung den Fehler, den oft Autoren bei Neuauflegung und ‚„Um- 
arbeitung‘‘ eigener Werke machen. Er wahrt, trotzdem er die Forschungsergebnisse 
der neuesten Zeit verwertet, dem Buche seine Anlage und Form und damit seine 
Frische und Ursprünglichkeit. Im Interesse der Kinderpraxis und Kinderforschung 
sei dem Werke noch eine recht große Zahl von Auflagen gewünscht. 

E. Feuchtwanger (München). 

Bridgman, Olga: The psychology of the normal ehild. (Psychologie des normalen 
Kindes.) Journ. of the Americ. med. asoc. Bd. 81, Nr. 15, S. 1260—1262. 1923. 

Jedes Kind ist Träger einer doppelten Erbmasse. Es ist müßig, Eigenschaften 
erziehen und beeinflussen zu wollen, von denen keine Spur im Kinde zu finden ist. 
Andererseits hat Erziehung sich in die individuell eigenartige Naturanlage einzu- 
leben und die guten Eigenschaften im Kinde zu ihrer vollen Auswirkung zu bringen. 
Es gibt charakteristische Züge im Kinde, die sich beim Erwachsenen verlieren. Jedes 
Kind ist ein forschendes, experimentierendes, wachsendes Geschöpf. Es ist ein rezep- 
tives und plastisches Wesen, das in frühester Jugend Gewohnheiten annimmt, die 
oft bis ins Alter erhalten bleiben. Unter den Anlagefaktoren gibt es gewisse Instinkt- 
neigungen. Es gibt (nach Mc Dongall) 7 primäre Instinkte, die mit starken Affekt- 
äußerungen verbunden sind und der Entwicklung des Charakters dienen. Diese 7 pri- 
mären Instinkte sind: 1. Der Fluchtinstinkt, gepaart mit Furcht (hervorgerufen durch 
Dunkelheit, Einsamkeit, unerwartete Bewegungen bei Gegenständen, plötzlich laute 
Geräusche, ungewohnte Erfahrungen); 2. Abwehr und Ekel im Anschluß an unange- 
nehme Erfahrungen; 3. die Neugierde, die stark individuelle Dilferenzen aufweist; 
4. die Streitsucht und der Zorn, beides Verkünder starker Energie; 5. eine Art Minder- 
wertigkeitsgefühl und Unterordnung gegenüber überlegenen Menschen; 6. das Gegen- 
teil vom ebengenannten: eine Selbstüberhebung, gepaart mit der Sucht nach Lob 
und Bewunderung, endlich 7. ein elterlichsorgender Instinkt (parental instinct), der 
Gefühlsäußerungen und Hilfeleistungen gegenüber den schwächeren und hilflosen Ge- 
schöpfen hervorbringt. Auf intellektuellem Gebiet zeigen sich große Unterschiede 
mit dem Erwachsenen. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich nur auf wenig Objekte 
für kurze Dauer. Auch sind die Aufmerksamkeitsleistungen noch nicht so stark mecha- 
nisiert wie beim Erwachsenen. Unmittelbares Merken ist beim Kleinkind gering. Die 
Phantasie des Kindes ist oft verkannt worden und hat wahrscheinlich ein stark produk- 
tives Element. Manche Kinder unterscheiden schwer Gedächtnisinhalt von Phantasie, 
verwechseln vielleicht auch Wahrnehmung und Vorstellung. Viele Kinderlügen sind 
darauf zurückzuführen. Die Unterscheidung läßt sich erlangen und erziehen, doch selbst 
Erwachsene sind nicht immer imstande die scharfen Grenzen zwischen beiden zu ziehen, 
wie manche Zeugenaussage beweist. Das Denken des Kindes hängt oft an Triviali- 
täten, die dem Gesichtskreis des Kindes näher liegen. Ein moralisch-ethischer Sinn 
für Gerechtigkeit schließt sich häufig an das Denken an, ist aber eng mit Gefühls- 
qualitäten verbunden. Der Vortrag, gehalten in der 74. Jahresversammlung der Ameri- 
can-Medical-Association, bietet, wie aus obiger kurzer Zusammenfassung ersichtlich 
ist, nichts Neues und reicht an die kinderpsychologischen Ausführungen deutscher 
Forscher nicht heran. v. Kuenburg (München). 

© Ziehen, Th.: Über das Wesen der Beanlagung und ihre methodische Erforschung. 
3. umgearb. Aufl. (Friedrich Manns pädag. Magazin. H.683. Philosoph. u. psychol. 
Arb. Hrsg. v. Theodor Ziehen. H.1.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1923. 
59 S. G. Z. 1.70. 

Ziehen gehört zu jenen Forschern, welche den Blick nicht auf die Gesamtheit 
der Persönlichkeit richten, sondern sie in irgendwelche Elemente aufzulösen versuchen. 
So lehnt er apodiktisch auch eine allgemeine Intelligenz ab und glaubt mit zahlreichen 
Tests die einzelnen Anlagen erfassen zu können. Er steht somit der Psychographie 
nahe; von der Strukturpsychologie hält er nichts. Er hat an den Tests verschiedener 
Autoren, auch an den Binetschen Prüfungen mancherlei auszusetzen, aber im Prinzip 


— 93 — 


kommt er über die Testpsychologie nicht hinaus. Wieder einmal stellt er eine große 
Anzahl von alten und neuen Tests zusammen, die ihm brauchbar erscheinen. Indem 
er jedesmal diejenige Funktion aufzeigt, die durch die einzelnen Tests getroffen werden 
soll, schafft er eine große Übersicht über die seiner Meinung nach einfachen Funktionen 
und gibt diesen meist gelehrte Fremdworte. Sein Schematismus ist klar, seine Unter- 
scheidungen sind stets richtig, den Unterschied von wesentlich und unwesentlich 
kennt er nicht. — So handelt die kleine Schrift von vielerlei Einzelheiten und bringt 
sicherlich auch für die Prüfung des Einzelnen mancherlei guten Einfall; denn niemand 
wird heute der Tests entbehren wollen. Von dem Wesen der Beanlagung aber — wie 
der Titel besagt — handelt Z.s Arbeit gerade nicht. Gruhle (Heidelberg). 


© Pestalozza, A. Gral v.: Das Wunderkind. Ein Beitrag zur Psyehologie der Hoch- 
begabten. (Wegzeiehen für Erziehung und Unterricht. H.2.) Leipzig: G. Freytag 
G. m. b. H. 1923. 43 S. G. 2.1. 

„Dieses Büchlein wendet sich hauptsächlich an Eltern, die hochbegabte Kinder 
zu haben glauben.“ Es soll eine „Hauspädagogik für Hochbegabte“ sein. — Im ersten 
Teile werden kurze Berichte über die bekannten Wunderkinder gegeben, vom Altertum 
bis zu Otto Braun. Sodann ist einiges zur Psychologie des Wunderkindes gesagt. 
Frühreife eines Kindes ist nicht einfach festzustellen, da es kaum ein Normalmaß gibt. 
Es darf die suggestive Kraft der Umwelt bei vermeintlichen Anlagen nicht außer 
acht gelassen werden; das Augenmerk ist auch auf Frühreife von Wollen und Fühlen 
zu richten. Altklugheit und Blasiertheit sind nicht mit Frühreife zu verwechseln, 
sie entstehen durch Umweltseinflüsse. Manche Betätigungen der Kinder sind lediglich 
durch einen zufälligen, besonderen Anreiz zu erklären. Es ist keineswegs möglich, 
Wunderkinder und Genies auf eine Stufe zu stellen, einzelne von jenen sind ganz 
einseitig begabt und frühreif. Sie versagen zum Teil später völlig. Doch scheinen 
sich spätere musikalische und mathematische Leistungen oft schon in früher Kind- 
heit zu verraten. Schließlich werden noch eingehender 2 Fragen behandelt: Ob man 
Schlüsse aus den bei hochbegabten Kindern beobachteten Eigenschaften auf den 
späteren Beruf ziehen darf, und wie sich der Erzieher zu verhalten habe. Die erste Frage 
wird im allgemeinen verneint. Zur Frage der Förderung des Aufstieges der Hoch- 
begabten stellt sich Verf. zweifelnd. Ein systematischer Unterricht noch nicht schul- 
pflichtiger, hochbegabter Kinder schadet dem geistigen Wachstum eher. Betont wird, 
daß solche Kinder in der Ernährung und Körperpflege besonderer Sorgfalt. bedürfen, 
vor allem genügend Schlaf brauchen. Erziehungsregeln lassen sich nur von Fall zu 
Fall geben. Nicht geringer Wert muß auf die Umgebung gelegt werden; denn gerade 
begabte Kinder sind für Eindrücke der Außenwelt sehr empfänglich. — Ein ausführ- 
liches Literaturverzeichnis ist beigegeben. Ernst Grünthal (München). 


Tigerstedt, Robert: „Begabte Sehüler.“ (Physiol. Inst., Univ. Helsingfors.) Psychol. 
Forsch. Bd. 3, H. 3, S. 241—257. 1923. 

Verf. beschäftigt sich hier mit der interessanten und vielfach erörterten Frage, 
inwieweit die begabten Schüler die in der Schule in sie gesetzten Hoffnungen im späteren 
Leben erfüllen. Im allgemeinen sind die äußeren Schwierigkeiten, die sich einer der- 
artigen Untersuchung entgegenstellen, sehr groß und kaum überwindbar. Dem Verf. 
bot das alte Gymnasium in Abo eine besonders günstige Gelegenheit zu dieser Unter- 
suchung, da hier biographische Aufzeichnungen über die Schüler vorliegen. Die Fest- 
stellungen beziehen sich auf die Abiturienten von 1832—1872. Es ergab sich, daß 
akademische Lehrer und bedeutende Wissenschaftler sich ganz vorwiegend unter 
den Schülern mit guten Abiturientenzeugnissen fanden. Auch bei den Schullehrern 
zeigte sich eine erhebliche Abnahme der Prozentzahl von den guten zu den schlechten 
Schülern hin. Dagegen ergab sich, daß Berufe, bei denen praktische Betätigung viel- 
fach mehr in Frage kommt, wie Geistliche, Juristen, Beamte, eine mehr gleichmäßige 
Verteilung auf die Schüler verschiedener Kategorien, zum Teil eine Zunahme nach der 


— 94 — 


Seite der schlechten Schüler hin aufwiesen. Verf. stellt dann in einer besonderen 
Gesamtgruppe die aus der Schule hervorgegangenen ‚bemerkten Leute“ zusammen, 
wie akademische Lehrer, Schriftsteller, höhere Beamte, in biographischen Handbüchern 
erwähnte Männer, und kommt auch hier zu dem Ergebnis, daß diese sich vorwiegend 
aus den guten Schülern rekrutieren. Verf. faßt die Resultate zum Schluß zusammen: 
„Durch diese Zusammenstellung dürfte es über jeden Zweifel erhaben sein, daß Jüng- 
linge, welche mit Zeugnissen über sehr gute Kenntnisse an der Universität immatriku- 
liert wurden, in zahlreichen, sogar sehr zahlreichen Fällen sich auch während ihrer 
fortgesetzten Entwicklung als verhältnismäßig hervorragend gezeigt haben, und zwar 
vor allem in solchen Berufen, bei welchen eine erfolgreiche Tätigkeit ganz besonders 
eine ausgeprägte Lust und Befähigung zu wissenschaftlichen Studien voraussetzt, 
sowie daß je geringer die Kenntnisse in der Maturitätsprüfung gewesen sind, um so 
seltener auch die Individuen sind, die sich nach den hier benutzten Kriterien über das 
Mittelmaß erhoben haben. Es muß aber andererseits kräftig betont werden, daß unter 
den sehr hervorragenden Schülern dennoch eine bedeutende Anzahl, nach meinen Be- 
rechnungsgründen die Hälfte bis zwei Drittel, auf einem recht mittelmäßigen Niveau 
stehengeblieben sind. Allerdings konnten sie sich zu sehr tüchtigen Männern entwickeln, 
sie brachten es aber keineswegs weiter als diejenigen ihrer Genossen, welche in der 
Schule keine besondere Begabung zeigten.“ Kramer (Berlin). 


Jones, Alice M.: The superior child. Beginning a series of ease studies. (Das 
besser begabte Kind.) Psychol. clin. Bd. 15, Nr. 1/2, S. 1—8. 1923. 

Verf. hat eine große Reihe von außergewöhnlich begabten Kindern untersucht. 
Als erste Mitteilung aus ihrem Material berichtet sie über eine Anzahl von besonders 
begabten Kindern. Es zeigt sich, daß das Ergebnis der Intelligenzprüfung nicht immer 
ganz zuverlässig ist. Erich Stern (Gießen). 


Fukuda, Tonan: Some data on the intelligence of Japanese children. (Einige 
Angaben über die Intelligenz japanischer Kinder.) (Psychol. laborat., Northwestern 
univ., Chicago.) Americ. journ. of psychol. Bd. 34, Nr. 4, S. 599—602. 1923. 

43 geistig und körperlich gesunde Kinder japanischer Eingewanderter in Denver 
im Staate Colorado U. S., 21 Knaben und 22 Mädchen im Alter von 3—12 Jahren, 
wurden einer Prüfung mit den von Stanford revidierten Binet-Simon-Tests (englische 
Fassung) unterzogen. Der Durchschnitt des Intelligenzquotienten (I.Q.) sämtlicher 
Kinder war kaum unter der Norm (97). Die I.Q. der Knaben (I.Q. = 81—114) schwankt 
um den Durchschnitt (94), der Durchschnittsquotient der Mädchen erwies sich höher 
als der der Knaben, nämlich 100; auch die obere Grenze der Mädchen (I.Q. = 143) 
überstieg die der Knaben beträchtlich, während andererseits auch die unterste Grenze 
bei den Mädchen lag (I.Q. = 67). Der Korrelationskoeffizient zwischen I.Q. und 
Schulzensuren erwies sich als hinreichend (0,61); etwas geringer war der zwischen 
I.Q. und Unterrichtserfolg (0,47). Gering war die Korrelation zwischen I.Q. und 
sozialer Stellung der Eltern (0,19). Ein kurzer Lebenslauf der besten und schlech- 
testen Schülerin und Darstellung ihrer Leistungen bei der Testprüfung beschließt 
die kleine Studie. E. Feuchtwanger (München). 


Gray, P. L., and R. E. Marsden: The constaney of the intelligence quotient. 
(Die Unveränderlichkeit der Intelligenzquotienten.) Brit. journ. of psychol. Bd. 13, 
Nr. 3, S. 315—324. 1923. 

Die Autoren machen es sich zur Aufgabe, die Untersuchungen von Terman, 
„Die Begabung von Schulkindern“, nachzuprüfen. Dieser hatte auf Grund von 435 Un- 
tersuchungen den Satz aufgestellt, daß der erst gewonnene Begabungsquotient an- 
nähernd konstant ist und eine gesicherte Grundlage abgibt für die Beurteilung des 
Erziehungsfortschrittes eines Kindes. Die Autoren benutzten die Stanfort-Binet- 
Proben (beschrieben bei Terman, ‚Die Bestimmung der Begabung“). Die Autoren 
verwendeten bei der Nachprüfung von 100 Kindern genau nach Jahresfrist die Be- 


— 95 — 


stimmung nach Punkten. Jede Probe bis zu einschließlich 10 Jahren zählt 2 geistige 
Monate, solche für 12 Jahre 3 Monate, für 14 Jahre 4 Monate, für 16 Jahre 5 Monate, 
für 18 Jahre 6 Monate. Ein Kind, das nicht alle Proben seines Alters beantwortet, 
löst oft Aufgaben, die für höhere Altersklassen bestimmt sind. Diese Punkte werden 
dann zugezählt. Ein Kind mit dem ersten Quotient 100 muß im folgenden Jahre 12 
geistige Monate hinzu erlangen, um den Quotient 100 zu behalten. Betrug der erste 


Quotient 111, so muß das Kind NIE 


erwerben, um den Quotient 111 zu behalten. Wenn ein Kind 144 Monate alt ist und 
auf Grund der geistigen Prüfung 160 geistige Monate aufweist, dann ist der erste Quo- 
tient > x12 = 111. Dieses Kind kann seinen Intelligenzquotienten nur ver meh- 
ren, wenn es nächstes Jahr die Proben für 14 oder mehr Jahre erfüllt. Die Autoren 
weisen nachdrücklich darauf hin, daß man den absoluten Zahlen keinen zu großen 
Wert beimessen darf, sondern die Unsicherheit der Momente, die sie bedingen, beachtet 
werden muß. Es ist daher oft richtiger, die 5 von Terman aufgestellten Klassen 
zu benützen: 1. sehr minderbegabt, 2. minderbegabt, 3. durchschnittlich, 4. über dem 
Durchschnitt, 5. sehr über dem Durchschnitt. Dabei ist aber auch zu bedenken, daß 
auch diese Einteilung bis zu einem gewissen Grade willkürlich sind. In 4 Tabellen 
werden die Ergebnisse der Untersuchungen zusammengestellt. Übereinstimmend 
mit Terman werden folgende 3 Hauptsätze aufgestellt: I. Der jährliche Wechsel 
des Quotienten neigt zu einem Wachstum von 2,25. II. 50% der Veränderung liegen 
zwischen 2,25 Ab- und 7,7 Zunahme. III. Die Irrtumsgrenze der Vorhersage auf Grund 
des ersten Quotienten beträgt 5 Punkte. Körperliches oder geistiges Wachstum, die 
Höhe des ersten Quotienten beeinflussen nicht den Wechsel des ersten Quotienten nach 
Jahresfrist. Bei Knaben war die durchschnittliche Zunahme 3,0, bei den Mädchen 0,0. 
Der Mangel der Stanfort-Binet-Proben liegt darin, daß einige Kinder nicht ihre höhere 
Geschicklichkeit in einem Spezialzweige verwerten können. Von 100 Kindern wurden 
TT von verschiedenen Prüfern nach Jahresfrist untersucht, der Wechsel betrug durch- 
schnittlich 2,1; 9 wurden von demselben Prüfer nachuntersucht, die durchschnittliche 
Abweichung betrug 3,8 bzw. 3,1. Ein Unterschied von 5 liegt aber in der Fehlerbreite. 
Von allen untersuchten Kindern wurden nur 3 in eine niederere Intelligenzklasse ver- 
setzt. Es war die Bestimmung des ersten Quotienten in ca. 90%, mit genügender Sicher- 
heit ausgeführt. An der Prüfung des Wortschatzes wird Zu- bzw. Abnahme des In- 
telliguenzquotienten bei normalen, unter- und übernormalen Kindern (Tab. IV) be- 
sonders gezeigt. Zum Schluß werden an einzelnen (15) Beispielen die Kinder, die eine 
erhebliche Abweichung des ersten Quotienten nach Jahresfrist nach oben oder unten 
zeigen, betrachtet. Diese Beispiele zeigen, daß eine Zunahme nach Jahresfrist unter 
anderem festgestellt werden kann, wenn a) die erste Untersuchung zu früh oder un- 
vollkommen ausgeführt wird, b) wenn die Kinder besondere über ihr Alter hinaus- 
gehende Spezialkenntnisse besitzen. Andererseits kann eine Abnahme beobachtet 
werden a) bei unbegabten Kindern, b) bei sehr begabten Kindern, wenn der erste 
Quotient unverhältnismäßig hoch war (bei einer Abnahme von 12 schreiben die Autoren 
„This is the most intelligent girl in our 100 childrens“!). Diese Beispiele sind ein Beleg 
für die Feststellung der Autoren, daß man die Zahlen nicht als exakte Größen bei 
Bestimmung geistiger Fähigkeiten ansetzen darf; sie sprechen aber auch gegen die 
Ansicht, daß die Änderung nichts zu tun habe a) mit dem körperlichen, b) geistigen 
Wachstum, noch c) der ersten Gruppierung (unvollkommene erste Untersuchung und 
besonders günstige Werte, geistige Zunahme!). Die Formel lautet: ans 

54 86 Natural Age 
= Quotient, z.B. RD 5” 93, nach 1 Jahr 0” 123 Zunahme des ersten Quotienten 


30 Punkte. Engelmann (Kiel). 


—=13.32 geistige Monate im Jahr hinzu- 





— 96 — 


Cornell, Ethel L., and Gladys L. Lowden: A eomparison of the Stanford and Por- 
teus tests in several types of soeial inadequacy. (Vergleich der Standford und Porteus- 
Test in einigen Fällen sozialer Ungleichheit.) Journ. of abnorm. psychol. Bd. 18, Nr. 1, 
8. 33—42. 1923. 

Verff. vergleichen die beiden Testreihen (Stanford und Porteus); die letzteren — 


die nicht näher beschrieben werden — sind in Deutschland nicht weiter bekannt. Es wird unter- 
sucht, für welche Fälle sich die Porteustests eignen. Erich Stern (Gießen). 


Saer, D. J.: The effect of bilingualism on intelligence. (Der Einfluß der Zwei- 
sprachigkeit auf die Intelligenz.) Brit. journ. of psychol., gen. sect. Bd. 14, H. 1, 
S. 25—38. 1923. 

Verf. untersucht die Intelligenz einer zweisprachigen Bevölkerung in Wales, wo 
große Teile der Bevölkerung das ‚Welsh‘ als ihre Muttersprache haben. Er prüft 
zunächst nach Binet; besonders wird ferner festgestellt die Unterscheidungsfähig- 
keit für rechts und links, die rhythmische Fähigkeit, Wortreichtum und Wortverständ- 
nis, die Ausdrucksfähigkeit im freien Aufsatz. Diese Tests wurden bei Schulkindern 
angewandt, eine Reihe anderer Tests bei Studenten aus zweisprachigen Gegenden. 
Verf. findet, daß Kinder aus einsprachigen ländlichen Gegenden nach der Binet- 
Methode einen beträchtlichen Intelligenzvorsprung zeigen; das Gleiche gilt für vom 
Lande stammende Studenten. Dabei scheint es sich um einen Dauerzustand zu handeln. 
Kinder und ebenso Studenten aus Städten zeigen im Hinblick auf Einsprachigkeit 
und Zweisprachigkeit nur geringe Intelligenzunterschiede. Große Differenzen zeigen 
sich zwischen beiden Gruppen hinsichtlich der Unterscheidungsfähigkeit von rechts 
und links und der rhythmischen Fähigkeit. Offenbar rühren die Unterschiede davon 
her, daß die Kinder dadurch verwirrt werden, daß sie beim Spiel und beim Verkehr 
mit anderen Kindern eine andere Sprache sprechen als im Unterricht. 

Erich Stern (Gießen). 

Jaensch, E. R.: Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre Struktur im 
Jugendalter. XIII. Wahrnehmungslehre und Biologie. Die Lehre von den Gesiehts- 
wahrnehmungen vom Standpunkt der Organologie des Auges. (Mit einer Beilage über 
José Ingenieros’ Versuch einer Grundlegung der biologischen Psychologie, und seine 
Kritik der Psychologie in Deutschland. (Psychol. Inst., Univ. Marburg.) Zeitschr. f. 
Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., Abt. I: Zeitschr. f. Psychol. Bd. 93, H. 3/6, S. 129 
bis 260. 1923. 

Der Aufbau der optischen Wahrnehmungswelt wird unter dem Gesichtswinkel 
der in den letzten Jahren von der Marburger Schule erforschten empirischen Tatsachen 
an Eidetikern, nunmehr unter Heranziehung eines möglichst weiten Kreises von Er- 
kenntnissen auf psycho-physiologischem und anatomischem Gebiete einer umfassenden 
theoretischen Bearbeitung unterzogen. Jaensch sieht den Boden für diese Betrach- 
tung in der Einordnung aller Tatsachen des optischen Wahrnehmungsbereiches in 
eine „Organologie des Auges“, d. h. einer Lehre, die das Sehorgan als ein Gebilde aus 
zwar verschiedenen Elementen aufgebaut, aber doch in funktioneller Einheit der 
höheren Einheit des Gesamtorganismus untergeordnet auffaßt und zur Erforschung 
sich der Methoden der verschiedensten Disziplinen bedient. Im Rahmen dieser For- 
schungseinstellung ist die alte Ansicht, daß das Auge ausschließlich ein Auf- 
nahme- und Leitungsorgan, die optische Wahrnehmung eine durch die 
Reizung des Sehorgans vermittelte „reine Empfindung“ mit nachträg- 
licher rückläufiger Verarbeitung durch Engramme sei, nicht richtig. 
Sprechen schon nichtempirische, mathematische oder logische Strukturgesetze des 
Raumes, etwa im Sinne der apriorischen Anschauungsform Kants oder von , Reflexions- 
urteilen‘ nach v. Kries für die Unmöglichkeit, die Raumauffassung von einem Primat 
der „reinen Empfindung“ abzuleiten (vgl. die Raumtheorie Helmholtz’), so sind 
die auf empirisch-psychologischem Gebiete geförderten Tatsachen sicher gegen diese 
alte Ansicht zu verwenden. In den Vorstellungsuntersuchungen von G. E. Müller 
kamen neben den Tendenzen zur „Objektadäquatheit‘, d. h. „zum Erfahrungsmäßigen“ 


— 97 — 


auch Tendenzen zur ,Persönlichkeitsadäquatheit“, wodurch die Vorstellung in das 
Funktionsganze der Persönlichkeit eingeordnet wurde, zum Ausdruck. Dieser Unter- 
schied ist auch in der Wahrnehmung vorhanden. Innerhalb der „Objektadäquatheit“ 
der Wahrnehmung ist von Bedeutung die „Invarianz des Raumes“, d. h. die 
Wahrnehmung des Raumes als eines Unveränderlichen, Bleibenden trotz der ständigen 
Veränderungen der „reinen Empfindungen“ bei Bewegung des Auges; innerhalb der 
„Persönlichkeitsadäquatheit‘ spielt eine Rolle die Entwicklung der Wahrnehmung 
aus den Anschauungsbildern der jugendlichen Eidetiker, die trotz ihres Wahr- 
nehmungscharakters in gewissem Maße unabhängig von der optischen Empfindung, 
jedoch verwandt mit den Vorstellungen sind und auch von den Vorstellungen aus 
in charakteristischer Weise (z. B. in Komplementärfarben) erzeugt werden können 
(Freiling). Beim Eidetiker, der erst in der Entwicklung zum Erwachsenen vom 
Anschauungsbild zur Wahrnehmung kommt, ist somit das Sehen nach dem Schema 
der „reinen Empfindung‘ nicht Ausgangspunkt, sondern Endpunkt der Entwicklung; 
mithin kann der „reinen Empfindung‘ nicht generell ein Primat in der Entwicklung 
der Wahrnehmung zukommen. Die Struktur der ursprünglichen Gesichts- 
phänomenestehtder Strukturder Vorstellungen näher als der der „reinen 
Empfindungen!“ Die Wahrnehmung ist dabei zu betrachten unter dem Gesichts- 
punkt der „Struktur“ (daher sieht J. keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen 
Wahrnehmungspsychologie und ‚„Strukturpsychologie‘‘ im Sinne Sprangers); und sie 
ist weiterhin in jedem Stadium das Produkt einer Entwicklung und hat somit eine 
„Schichtung‘“ (und hier sieht J. einen Gegensatz zu der, wie er meint, nur in einer 
Schicht arbeitenden, von physikalistischen, nichtbiologischen Einflüssen beherrschten 
„Gestaltpsychologie‘ im Sinne von W. Koehler). In Konsequenz dieser Auffassungen 
sieht J. im Auge einen nicht von Haus aus als Aufnahme- und Leitungs- 
organ, sondern von Haus ausals Vorstellungsorgan wirkenden Apparat. 
— Diese These wird in der biologischen Zuordnung vonFunktionund Organ, 
zunächst am anatomischen Substrat erhärtet. Das Auge des Wirbeltieres ist nicht wie 
andere Sinnesorgane entwicklungsgeschichtlich von der Epidermis, sondern vom 
Gehirnbläschen aus gebildet; dem entspricht auch die Entwicklung und Gestaltung 
der histologischen Struktur der Netzhaut. Der Zusammenhang der Faserelemente 
mit den Ganglienzellen der Netzhaut ist nicht eindeutig zentripetal, d. h. hirnwärts 
leitend, sondern es finden sich auch zentrifugale Fasern vom Hirn her in der Netzhaut; 
außer den hirnverbundenen Nervenfasern sind auch horizontal und vertikal innerhalb 
der Netzhaut verbindende Fasern (Assoziationselemente) in verschiedenen Schichten 
vorhanden usw. Es ergeben sich im Aufbau weitgehende Analogien zwischen Netzhaut 
und Hirnrinde; die Netzhaut hat eine anatomische Gehirnstruktur. Diese 
ist in der nachembryonalen Zeit in der Stelle des direkten Sehens (Fovea centralis) 
stark zurückgebildet, bleibt aber in den seitlichen Netzhautteilen bestehen. Um die 
Fovea herum hat man einen Wall in der Netzhaut nachgewiesen (Dimmer), der nach 
der nasenwärts gelegenen Seite dicker ist und stärkere Hirnstruktur besitzt als nach 
der schläfenwärts gelegenen Seite. Der Wall ist beim Kind stark entwickelt, nimmt 
gegen das Erwachsenenalter hin ab. — Zum Zweck der Zuordnung von Funktion und 
Organ wird nun darauf hingewiesen, daß in den seitlichen Netzhautteilen die eidetische 
Anlage der Jugendlichen stärker zum Ausdruck kommt als in der Fovea (Herwig), 
daß auch in den seitlichen Netzhautteilen beim Erwachsenen die eidetischen (d. h. 
nicht empfindungsmäßigen „zentral“ bedingten) Reste am längsten haften. Weiterhin 
zieht J. die Erfahrungen beim Aubert-Foersterschen Phänomen heran, bei 
dem bekanntlich die Unterschiedsschwelle für diskrete Objekte (Doppelquadrate) 
im indirekten Sehen in einem größeren seitlichen Winkel ist, wenn die Objekte nahe 
geboten werden als wenn sie, entsprechend vergrößert bis zum nämlichen Gesichts- 
winkel, in größerer Entfernung geboten werden. J. hatte in früheren Arbeiten eine 
Erklärung aus der Empfindungssphäre (I. Komponente), abgelehnt vielmehr eine II. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 7 


— 98 — 


„zentrale“ Komponente als Ursache bezeichnet. Nun hat Goldstein dargetan, daß 
das Aubert- Foerstersche Phänomen in den schläfenwärts liegenden, also der 
nasenwärts liegenden Netzhautverdickung (Wall) entsprechenden Teilen des Gesichts- 
feldes besonders deutlich ausgeprägt ist. Es ergibt sich daraus, daß eine zentrale 
(nichtempfindungsmäßige) Funktionim Wahrnehmungsvorgang überall 
da besonders zutage tritt, wo eine deutliche Hirnstruktur der Netzhaut 
nachweisbar ist, und daß sie im Laufe der Entwicklung da zurücktritt, 
wo dieGehirnstruktur der Netzhaut abnimmt. Es wird versucht, auch in der 
Wirbeltierreihe ein Homologon zur eidetischen Entwicklung zu finden, indem gezeigt 
wird, daß die (funktionell niedriger stehende) Netzhaut der Wassersäugetiere eine 
hirnmäßigere Struktur aufweist als die in funktioneller Anpassung höherstehende 
Netzhaut der Landsäugetiere. Eine Abgleichung gegenüber der Funktion des Ohres 
als Aufnahme- und Leitungsorgan ergibt die besondere Stellung der Gesichtswahrneh- 
mung gegenüber den übrigen Sinnen. — In einer Beilage setzt sich J. mit einem Buch 
des argentinischen Forschers Jos é Ingenieros (‚Prinzipien der biologischen Psycho- 
logie‘, übersetzt von Reinking, Leipzig 1922) auseinander. Ingenieros will die 
Psychologie auf allgemeine biologische Grundgesetze zurückführen. In diesem Be- 
streben kämpft er gegen zwei Richtungen in der deutschen Psychologie, den ‚„Experi- 
mentalismus‘ oder „Wundtismus“, der die Psychologie von der Biologie abtrenne, 
und den „Bergsonismus‘‘, der zwar zur Biologie Beziehungen sehe, diese aber nicht als 
herrschend anerkenne. J. wendet dagegen ein, daß es für die Psychologie eine Gefahr 
bedeute, wenn von außen her eine schon festgelegte Gesetzmäßigkeit in sie hinein- 
getragen werde und sie so gebunden werde. Er vergleicht Ingenieros’ Bestreben mit 
dem von Dubois- Raymond, der die Lebenserscheinungen mit mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Axiomen zu meistern sucht und setzt diesem die Arbeiten 
des großen Physiologen Ludwig, des Lehrers von Wundt, gegenüber, der aus exakter 
Beobachtung der Lebenserscheinungen die in ihnen liegende Gesetzlichkeit zu erforschen 
trachtet. Auch in der deutschen Naturwissenschaft werden die psycho-physischen 
Phänomene als feinste Reagenzien des Lebensgeschehens gefaßt. Nur sollen die höheren 
psychischen Erscheinungen nicht durch Reduktion auf die niedersten biologischen 
Leistungen vergewaltigt und gebunden werden, sondern man wird das psychische 
Einzelphänomen im Bereiche der Wahrnehmung, des Gedächtnisses usw. untersuchen 
und in die Tiefe bis zur biologischen Wurzel verfolgen, wie es der „Wundtismus“ getan 
hat. So wird man ohne bewußtes Konstruieren und ohne von einem Gebiete aus das 
andere zu zwingen, die körperlichen und psychischen Lebenserscheinungen unter dem 
Gesichtspunkt der individuellen Ganzheit und der entwicklungsmäßig geschichteten 
Struktur betrachten können. Eine solche Verknüpfung von somatischer Biologie 
und Psychologie wird sich nicht gegen die Geisteswissenschaft richten, sondern wird 
gerade eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaft sein können als Grundlage 
einer „Philosophie des Lebens‘ im Sinne Diltheys. E. Feuchtwanger (München). 
Jaensch, E. R.: Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre Struktur im 
Jugendalter. XIV. Ausblieke auf kulturphilosophische und pädagogisehe Fragen und 
die Jugendbewegung unserer Zeit. (Psychol. Inst., Univ. Marburg.) Zeitschr. f. Psychol. 
u. Physiol. d. Sinnesorg., Abt. I: Zeitschr. f. Psychol. Bd. 93, H. 3/6, S. 261 —280. 1923. 
Der Grundgedanke dieser Studie ist der, aus den Ergebnissen der Forschungen 
an Eidetikern Prinzipien für pädagogische und kulturphilosophische Gesichtspunkte 
zu finden. Entgegen dem bekannten pädagogischen Pessimismus Schopenhauers 
setzt Jaensch einen psychologisch begründeten pädagogischen Optimismus. 
Sind die höheren psychischen Dispositionen verhältnismäßig leicht beeinflußbar, so 
zeigen die elementaren Dispositionen ein starres, wenig biegsames Verhalten. Die 
Untersuchungen an Eidetikern haben aber gezeigt, daß schon im Bereiche der optischen 
Wahrnehmung eine starke Plastizität auch schon in niederen psychischen Schichten 
vorhanden ist. Nach dem (freilich nicht bewiesenen) Grundsatz, daß die Bildsamkeit 


— 99 — 


der Funktionen mit ihrer Höhe stetig wächst, ergibt sich nach Ansicht des Verf. die 
Möglichkeit zu unbeschränkter optimistischer Auffassung für die Pädagogik. — Dieser 
Plastizitätsgrad der Wahrnehmungswelt hat aber weitere Bedeutung dadurch, daß 
er die höheren Organismen, vor allem den Menschen, unabhängig macht von den Zu- 
fälligkeiten des Umweltgeschehens. Niederere psychische Organismen (z. B. Hühner) 
stehen einer für sie engen realen Umwelt gegenüber, die sie mit Hilfe eines instinktiv 
festliegenden Gedächtnisbesitzes beherrschen, der Mensch sieht die Welt sozusagen 
im „Spiegelbild“ der Wahrnehmung und dieses ist „invariant“, beim Jugendlichen 
aber noch im Flusse und regulierbar. — Das Selektionprinzip in der Wahr- 
nehmungswelt des Eidetikers zeigt die Bedeutung daraus entspringender Tendenzen 
für Erziehungsgrundsätze, die sich (in Abhängigkeit von den großen Kulturzielen) 
in Werten und Idealen darstellen. Die Werte müssen in der Jugend geweckt werden, 
sie dürfen nicht (wie in der „Jugendkultur“ Wynekens) als Eigenwerte unbeeinflußt 
bleiben. Es muß eine Sokratische Mäeutik, eine geistige Geburtshelferkunst, getrieben 
werden. Diese aktive Selektion soll die Jugend wegbringen von der Welt starrer Sach- 
güter zu lebensvollen Gütern des Seins, zu Idealen nicht ästhetischen, sondern ethischen 
Inhalts, die trotz des Strebens zur Selbstbehauptung zu gemeinsamen Menschheits- 
zielen nach Art früheren Rittertums führen. — So kann die psychologische Wissen- 
schaft auch an den gärenden Strebungen der modernen Jugendbewegung leitend teil- 
haben. Letzten Endes wird die Philosophie der Kulturvölker die Aufgabe haben, 
die Führung der Jugend und somit das Schicksal der Nationen in die Hand zu be- 
kommen. E. Feuchtwanger (München). 

Hegge, Thorleif G.: Über Komplexbildung in verschiedenen Gebieten der Ge- 
dächtnistätigkeit. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., Abt. I: Zeitschr. f. 
Psychol. Bd. 93, H. 3/6, S. 319—359. 1923. 

Die Arbeit bringt einen Vergleich zwischen den Gesetzmäßigkeiten, die beim 
relativ ‚mechanischen‘ (mech.) visuellen Lernen, z. B. von Ziffernreihen, besonders 
durch die Studien von G. E. Müller (‚Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des 
Vorstellungsverlaufes, 3 Bde.) gefunden worden sind und den Regelmäßigkeiten, 
die Hegge beim sinnvollen ‚‚logisch-illustrierenden““ (ill.) Lernen hat festgtellen können. 
Es werden Komplexe von Substantiven in etwa 10 Sek. Abstand sukzessiv geboten 
zur möglichst guten Einprägung und möglichst vollständigen und in der Reihe richtigen 
Wiedergabe. Beispiel: ‚König, Gabel, Taschenuhr, Strom, Pflaume ...‘“ Eine typische 
Lösung dieser Art von ill. Lernen geht z. B. unter dem ‚‚Attentatskomplex‘ einher. „Der 
König wird von einem Mörder mit der Gabel gestochen, die Waffe zertrümmert dabei 
seine Taschenuhr, der Blutstrom wird durch Einpressen einer Pflaume gestillt.. .“ 
H. untersucht die Faktoren des ill. Lernens, von denen die wichtigsten sind: die Tendenz 
zum Verknüpfen der Glieder, zum Einordnen der Glieder in die „passende Stelle“, 
eine Tendenz zur Vereinheitlichung der Glieder in der Lokalisation nach der ‚„Natür- 
lichkeit“ (‚„kausale‘‘ Einheitlichkeit) oder einer herangezogenen Zweckmäßigkeit, 
wie in dem Beispiel der Pflaume (‚‚pragmatische“ Einheitlichkeit). Außerdem kommen 
neben der Tendenz zur Vereinheitlichung noch Tendenzen zur Differenzierung, z. B. 
durch Hervorheben eines „maßgebenden‘‘ Elementes (kausale bzw. pragmatische 
Differenzierung) oder eines möglichst ‚„auffallenden‘‘ Elementes (inhaltliche Differen- 
zierung) in Betracht. — Der Vergleich der ill. mit den mech. Komplexen ergibt 
Gleichartiges und Unterscheidendes. Gemeinsam ist beiden Arten die „kollektive 
Einprägung‘ (wenn sie auch beim ill. Lernen nicht so fundamental ist, da hier nach 
„natürlicher“ Verknüpfung gesucht wird), die räumliche Abgrenzung der Komplexe 
gegeneinander, die Tendenz, die Glieder eines Komplexes möglichst nahe 
zusammenzurücken (beim ill. Lernen manchmal als „pragmatische Ketten‘), die 
Bildung einer neuen Einheit, die beim mech. Lernen die ‚„Komplexgestalt‘“ (unter 
Mitwirkung einer „rationellen‘‘ Komponente), beim ill. Lernen mehr die pragmatische 
und kausale Einheit (unter Mitwirkung einer ‚„logischen‘‘ Komponente) darstellt; die 


7*r 


— 100 — 


Differenzierung der Komplexelemente, beim mech. Lernen wiederum mehr ge- 
staltlich, beim ill. Lernen mehr kausal-pragmatisch oder inhaltlich. Hinsichtlich der 
Determinanten des Komplexumfanges findet der mech.-visuelle Komplex sein Maximum 
in der Visualisationsmöglichkeit der Glieder, der ill. Komplex erreicht seine Grenze mit 
der Möglichkeit natürlicher und anschaulicher Verknüpfung der Glieder. Die ill. Kom- 
plexe gehören prinzipiell (nach Ansicht des Verf.) zu den „assoziativen Gruppen“ (im 
Sinne G. E. Müllers), nicht eigentlich zu den ,mit einem einheitlichen Zuge der Auf- 
merksamkeit erfaßten echten Komplexen‘‘. Die kausalen und pragmatischen Faktoren 
des ill. Lernens wirken in hohem Grade der ‚inneren Undifferenziertheit‘‘, die mech. 
Komplexen eignet, entgegen. — Die assoziationistische Auffassung dieser Versuche 
durch H. wird manchen Psychologen nicht ganz befriedigen. Man wird in den über- 
geordneten Inhalten (z. B. „Attentatskomplex‘“‘ usw.) doch Faktoren sehen können, 
die andere als assoziative Faktoren nämlich spezifische Denkbeziehungen in 
die Gedächtnisinhalte bringt (vgl. zu der „logischen Komponente“ im Sinne von H. die 
„Obervorstellungen“ von H. Lie p ma n n,das „antizipierendeSchema“ von O. Selz u.a.). 
Derartige Studien können somit nicht nur für das Verhältnis von relativ ,Mecha- 
nischem‘‘ und ‚Sinnvollem‘‘ im Gedächtnis, sondern auch für die Erforschung der 
spezifischen Denkphänomene in ihrer Beziehung zu dem Gedächtnis von Bedeutung 
sein. E. Feuchtwanger (München). 


Angewandte Psychologie : 


Rupp, Hans: Über optische Analyse. Psychol. Forsch. Bd. 4, S. 262—300. 1923. 

Die Untersuchung dehnt sich über den Rahmen einer bloß psychotechnischen 
Eignungsprüfung aus. Sie forscht an Hand optischer Versuche (es handelt sich um 
das Erfassen vorgezeichneter Muster, die nachgezeichnet oder weiter fortgeführt 
werden mußten) nach der ‚Fähigkeit‘ optischer Strukturen als Ganzes zu erfassen 
und einer „Fähigkeit zur Analyse‘, d.i. „das Herausheben von Teilen, wie das Er- 
fassen ihrer räumlichen Beziehungen und ihrer Stellung zum Ganzen“; endlich wird 
diese „Fähigkeit der Analyse‘ auch auf anderen Sinnesgebieten als ‚eine alle Sinne 
umfassende“ @rundfähigkeit als möglich und wahrscheinlich hingestellt. Wünschens- 
wert wäre es, wenn der Vorgang während der Leistung eingehender beobachtet und 
nach der Ursache des Versagens bei manchen Versuchspersonen, auch wenn es im 
Massenversuch nur Ausnahmen sind (ein Akademiker, ein Studienrat) geforscht würde. 
Die Versuche bieten mancherlei Anregung, auch für die Heilpädagogik im Sinne von 
Untersuchungen an geistig Anormalen oder optisch Gestörten. v. Kuenburg. 

Ebel, H.: Gegenwärtige Organisationsfiormen der Psyehotechnik. I. Prakt. 
Psychol. Jg. 4, H. 10, S. 309—315. 1923. 

Verf. gibt eine klare, zusammenfassende Darstellung der Organisationsformen, 
Methoden und Ausbreitung psychotechnischer Prüfstellen in Deutschland. — Man hat 
zu unterscheiden: 1.Behördliche Unternehmungen, die volkswirtschaftliche Ziele 
verfolgen. Sie sollen auf Grund der Eigenschaftsdiagnose jedem Prüfling den geeigneten 
Beruf zuweisen. 2. Private Prüfstellen, die es übernehmen, für eine bestimmte 
Arbeit geeignete Bewerber auszusondern. 3. Universitätsinstitute, die eine 
Mittelstellung zwischen den beiden genannten Arten einnehmen, daneben aber noch 
Forschertätigkeit betreiben. Die beiden ersten Organisationsformen können Zentral- 
institute oder Betriebsinstitute sein. Bei den Prüfungsmethoden unterscheidet man 
die Komplexdiagnose, die nach möglichster Erfassung der Gesamtstruktur des 
Prüflings strebt, von der Personenauslese, die sich auf die Eignungsfeststellung 
für einen bestimmten Beruf beschränkt. Es bleibt aber nach Ansicht des Ref. aus- 
drücklich zu betonen, daß beide Arten heute noch nicht zum Ziele führen infolge 
Fehlens systematischer, theoretischer Vorarbeiten. Eine dritte Methode verbindet 
die Auslese mit Rationalisierung der Anlernung und der Arbeit, was zu be- 
deutenden wirtschaftlichen Vorteilen führen soll. Die Ausbreitungder Prüfungen 


— 101 — 


ist über Erwarten groß. Dem Verf. sind über 170 Werke in Deutschland bekannt, die 
sie bei Arbeitern, Angestellten oder Beamten anwenden. Am meisten beteiligt sind 
dabei Werke der Maschinenindustrie und das Verkehrswesen; die Reichseisenbahn 
hat allein 93 Prüfstellen. Es gibt 20 Zentralinstitute, davon 4 an Hochschulen. Über 
die Bewährung aller dieser Bemühungen läßt sich Genaues noch nicht sagen. Das 
Ausleseverfahren scheint imstande zu sein, einen gewissen Prozentsatz gänzlich un- 
geeigneter Arbeitskräfte fernzuhalten und hat wohl auch praktische Erfolge gezeitigt. 
Feste Zahlenwerte liegen aber kaum vor, wie ja überhaupt fast das ganze Gebiet der 
Psychotechnik noch sehr der exakt wissenschaftlichen Grundlegung 
bedarf. Ernst Grünthal (München). 

Bennett, H. S., and B. R. Jones: Leadership in relation to intelligenee. (Führer- 
eigenschaften in Beziehungen zur Intelligenz.) School review Bd. 31, Nr. 2, S. 125 
bis 128. 1923. 

Kurzer Bericht über eine Untersuchung an 29 Schülern (im Alter von 14 bis 
181/ Jahren) einer ‚‚Shop School‘ in Rochester, New York. Die Lehrer hatten ihre 
Schüler, sowie diese selbst ihre Mitschüler, in bezug auf ‚Führereigenschaften“ — 
Initiative, Mut, Selbstvertrauen, Einsicht, Wohlwollen, heitere Stimmung und Menschen- 
kenntnis — zu beurteilen. Diese Urteile wurden verglichen mit den Schulleistungen 
und den Ergebnissen einer Intelligenzprüfung (,‚Otis Group Intelligence Scale‘). 
Resultat: Die Intelligenz ist eine wesentliche Voraussetzung des Führertalents; gute 
Gesundheit und Körperkraft gehören auch dazu, prädisponieren aber ohne einen 
höheren Intelligenzgrad nicht zur Führerschaft. Bobertag (Berlin). 

Abramson, J.: La psychologie expérimentale appliquée à la rééducation des anor- 
maux. (Dic experimentelle Psychologie, angewandt auf die Heilerziehung der Ab- 
normen.) Encéphale Jg. 18, Nr. 2, S. 94—100. 1923. 

Die Verfasserin weist auf die unbefriedigenden Erfolge in der Ausbildung der 
Schwachsinnigen hin, auf die mangelnde Einigkeit in der Beurteilung der Methoden 
und Resultate. Sie führt dies auf ein zu schematisches und zu wenig die Ursachen 
des geistigen Zurückbleibens berücksichtigendes Vorgehen zurück. Sie hat eine Me- 
thodik zur psychologischen Analyse der Schwachsinnigen ausgearbeitet, die ein psy- 
chologisches Profil ergibt. Dies müsse dem Unterricht zugrunde gelegt werden. Das 
geistige Zurückbleiben ist kein einheitliches, sondern es bestehen insbesondere Un- 
stimmigkeiten in der Entwicklung der einzelnen psychischen Faktoren. Die Grup- 
pierung der Schwachsinnigen und der Unterricht dürften nicht nach dem Grade des 
Zurückbleibens, sondern nur nach der psychischen Eigenart erfolgen. Kramer., 


Genetische und vergleichende Psychologie : 


Brown, Warner, and Florence Whittell: Yerkes’? multiple choice method with 
human adults. (Yerkes’ ‚Methode der vielfältigen Wahl‘ an erwachsenen Menschen.) 
(Psychol. laborat., univ. of California, Berkeley.) Journ. of comp. psychol. Bd. 3, Nr. 4, 


S. 305—318. 1923. 

Yerkes stellte Versuche der „vielfältigen Wahl“ an Kindern und Tieren an (Journ. 
comp. psychol. 1921, 369—394), die die Verff. für die Anwendung an Erwachsenen modifiziert 
haben. Die Versuchsanordnung ist folgende: Zwischen der am Tisch sitzenden Vp. und dem 
Vl. ist ein der Länge nach aufrecht stehendes Brett aufgestellt, in dem in einem gewissen 
Abstand nebeneinander 12 Löcher angebracht sind, die durch den VI. geschlossen und aus dem 
Versuch ausgeschaltet werden können. In jedem Loch befindet sich ein elektrischer Schlüssel, 
der in einen Stromkreis eingeschaltet werden kann. Die Vp. hat nun durch Einführen eines 
Fingers in die Löcher den „richtigen“ („correct“) Schlüssel zu finden, den sie daran erkennt, 
daß er stromlos ist, während sie von jedem ‚falschen‘ durch einen elektrischen Schlag bestraft 
wird. Diesem ersten Versuch folgen innerhalb der gleichen Aufgabe weitere Versuche mit 
Suchen des „Richtigen“, bei denen durch Schließen bzw. Öffnen anderer Löcher die Versuchs- 
anordnung in bezug auf Anfang, Ende, Mitte der Reihe, Lage zur Gesamtlöcherzahl auf dem 
Reaktionsbrett geändert wird (z. B. zuerst Loch 1—7 offen, dann Loch 3—9 usw.). Die eigent- 
liche Aufgabe besteht darin, möglichst bald eine Beziehung, ein Lageprinzip des „Richtigen“ 
zu finden, das in den Versuchen der Serie gemeinsam herrscht, und zwar im Verhältnis zum 


— 102 — 


Gesamtbrett (,absolut‘‘) oder zur Zahl der offenen Löcher (,‚relativ‘‘) oder beides. Die Zahl 
der bis zur Lösung benötigten Einzelversuche wird bestimmt. Die Aufgaben (im ganzen 11 
für je eine Zahl von Serien) stehen in aufsteigender Schwierigkeit. Zu findende Lösungen für 
den „richtigen“ Schlüssel waren z. B. jedesmal die Mitte der Reihe oder immer das 5. Loch 
auf dem Brett oder abwechselnd das 2. Loch von rechts und das nächstlinke von der Mitte 
oder abwechselnd Nr. 9 und fortschreitend vom rechten Ende nach links usw. Da der Ausfall 
der Leistungen sich jeweils sehr stark von der Art der vorausgehenden Aufgabenlösungen 
abhängig zeigte, wurde eine Revision der Versuche zur Anordnung nach der Schwierigkeit 
notwendig. — Als Resultat ergab sich, daß alle Aufgaben lösbar waren und daß der beste 
Student sie alle in 5 Sitzungen zu je 20 Min. lösen konnte. Die Verff. glauben bei weiterem 
Ausbau der Versuche „ein Mittel zur quantitativen Messung geistiger Arbeit von verhältnis- 
mäßig hohem Grade“ zu erhalten, das bei entsprechender Abwandlung am Tier, am Kind und 
am Erwachsenen anwendbar ist. — Die Yerkesschen Versuche bieten im Grundgedanken 
(wenn auch nicht in Versuchsanordnung und Tendenz) eine Analogie zu Versuchen über ein- 
fache Zuordnungen und Relationsbildungen, wie sie auch in Deutschland an Tieren (z. B. 
Hühnern), Kindern und Schwachsinnigen angewandt wurden (vgl. die Versuche von Katz 
und Révész u. a.). E. Feuchtwanger (München). 

Filbig, Josef: Untersuchungen über die Entwieklung der Zahlvorstellungen im 
Kinde. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, H. 5/6, S. 156—168. 1923. 

Experimentell-psychologische Versuchsreihen über den Mechanismus des Zu- 
sammenfassens simultan dargebotener Mengen, die Leistungen beim Vergleich zweier 
Reihen, deren Elementenzahl um eine Einheit variiert, den Zählprozeß, die Vorgänge 
beim ÖOperieren mit den vier Grundrechnungsarten usw., aus deren Ergebnissen 
didaktische Konsequenzen gezogen werden. R. Thiele (Berlin). 

Fildes, Lucy G.: Some memory experiments with high-grade deleetives. (Gedächtnis- 
versuche bei hochgradig Schwachsinnigen.) Brit. journ. of psychol., gen. sect. Bd. 14, 
H.1, 8.39—56. 1923. 

Verf. untersucht den Lernprozeß bei Schwachsinnigen und zum Vergleich bei 
Normalen. Eine Reihe einfacher Figuren werden je mit einer sinnlosen Silbe verbunden 
und als Gedächtnismaterial gegeben. Weitere Versuche (Lernen von Figuren allein, 
von Namen allein, von sinnvollem Material) dienen zur Ergänzung. Es zeigt sich, 
daß schwachsinnige Kinder langsamer lernen als selbst normale niederen Alters; 
Schwachsinnige sind weniger geschickt, geben mehr falsche Antworten. Der Lern- 
vorgang selbst gleicht etwa dem Normalen; sie korrigieren Irrtümer nur sehr langsam 
und neigen dazu ihre Antworten automatisch zu geben. Sie können weniger leicht 
neue Verbindungen herstellen; die Ergebnisse weniger gut kritisieren und schlechter 
unter ungewohnten Bedingungen arbeiten. Erich Stern (Gießen). 

Stern, William: Psyehologie der frühen Kindheit und Psychoanalyse. Zeitschr. 
f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, H. 9/10, S. 282—296. 1923. 

Ausgewählte Stellen aus der erweiterten 3. Auflage der „Psychologie der frühen 
Kindheit“, die bei aller Anerkennung des Wertvollen der Psychoanalyse scharf gegen 
die Überschätzung des sexualen Momentes und die therapeutische wie pädagogische 
Auswertung dieser Lehre Front machen. Die Argumente, welche für das Bestehen 
einer Säuglingssexualität beigebracht werden, sind unstichhaltig, weil die Überein- 
stimmung in Elementen nie das Recht gibt, die Identität von Erlebnisganzen anzu- 
nehmen. Ferner wird die psychoanalytische Symboltheorie kritisiert, die in ihrer An- 
wendung auf die Kinderpsychologie oft gar nicht mehr Psychologie, sondern eine deduk- 
tive Herleitung von Erklärungen aus den vorausgesetzten psychoanalytischen Thesen 
über Kindersexualität ist. Die Verdrängung entdeckt zu haben, ist sicherlich ein großes 
Verdienst Freuds, ihre Anwendung auf die frühe Kindheit aber unhaltbar; dabei 
wird der entwicklungspsychologische Gesichtspunkt vernachlässigt, indem in der 
Kinderseele schon angenommen wird, was sich erst im Erwachsenen nachweisen läßt. 
Die Verdrängung, die Spaltung in Bewußtheit und Unbewußtheit ist selbst eine Ent- 
wicklungserscheinung. Eine wesentliche Schwierigkeit bildet die Frage nach der 
Echtheit der von Erwachsenen reproduzierten Kindheitserinnerungen; es handelt 
sich dabei wesentlich um die Erneuerungen gewisser formaler Affekteigentümlichkeiten, 


— 103 — 


die vielleicht auch nur in vagen Anklängen wiederkehren. Ein Abschnitt behandelt 
die Lehre A. Adlers im ganzen zustimmend, wenn auch die Existenz von Abwehr- 
reaktionen aus unmittelbarer Stärke neben der Überkompensation der Minderwertig- 
keiten angenommen werden muß. Zum Schlusse einiges über Liebe und Sexualität, 
wobei die noch geringe Kenntnis kindlicher Sexualerinnerungen betont wird. Allers. 


Psychopathologie und Psychiatrie: 
Geistige Dejektzustände : 


Gurewitseh, M.: Über Charakterveränderungen bei Kindern infolge organischer 
Hirnerkrankungen. (Psychiatr. Kinderklin., med.-pädol. Inst., Moskau.) Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 86, H. 4/5, S. 597—608. 1923. 

Verf. teilt zunächst 2 Fälle von typischen Charakterveränderungen nach Encepha- 
litis epidemica bei Kindern im Alter von 7 bzw. 9 Jahren mit. Der 3. Fall betrifft 
einen lljährigen Knaben, der von einem anderen Waisenhauszögling mit Lues in- 
fiziert worden war und im Verlauf starke Erscheinungen von Charakterdegravation 
darbot: Neigung zu Diebstahl, Lügenhaftigkeit, grobes und freches Benehmen. Inter- 
essant ist, daß unter dem Einfluß einer antisyphilitischen Kur eine sichtliche Besserung 
eintrat. Auch Fall 4 und 5 (15%/,jähr. bzw. 10jähr. Knabe) sind von besonderem 
Interesse insofern, als sich die Charakterveränderung hier im Gefolge einer Fleckfieber- 
infektion entwickelte. Im 2. Fall, bei dem außerdem eine Lähmung aufgetreten 
war, besserten sich die Charakterveränderungen im Anschluß an eine später erfolgte 
Infektion mit Typhus recurrens, während die (pyramidale) Lähmung eine Verschlech- 
terung erfuhr. Handelte es sich in diesen 5 Fällen stets um den anetischen Symptomen- 
komplex, standen in 2 anderen Fällen von postencephalitischen Charakterverände- 
rungen dysthymische Störungen im Vordergrund (10jähr. Mädchen, 18jähr. Bursche): 
weinerliche Verstimmung. Das wesentlichste Moment für das Zustandekommen des 
anetischen Symptomenkomplexes ist eine Steigerung des Ichgefühls. Der Patient 
verliert die Orientierung im sozialen Raume, falls das Ichgefühl die Oberhand bekommt 
und die Ichimperative die Moral übertönen. In Übereinstimmung mit Bonhoeffer 
möchte Gurewitsch annehmen, daß die Störung der sittlichen Gefühle als Ausdruck 
einer Gleichgewichtsstörung zwischen Neencephalon und Palaeencephalon aufgefaßt 
und in die basalen Ganglien lokalisiert werden kann. Schob (Dreden). 


Böhmig, Wolfgang: Psyehische Veränderungen bei Kindern im Gefolge von 
epidemischer Eneephalitis. (Univ.-Nervenklin., Halle a. d. S. u. städt. Nervenheilanst. 
Chemnitz-Hilbersdorf.) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 69, H. 1/3, S. 351 
bis 361. 1923. 

Mitteilung von Fällen mit ethischen Defekten, die teils als „psychisches Korrelat moto- 
rischer Akinese oder Hyperkinese“, teils als „rein psychische Zwangshandlungen“ aufzufassen 
seien. Die Zustände schienen sich durch intravenöse Jodinfusion beeinflussen zu lassen. 

Kurt Schneider (Köln)., 

Clay, Homer T.: Mental and behavior changes in children following encephalitis. 
(Geistige und Charakterveränderungen nach Encephalitis.) (Inst. for juven. research, 
Chicago.) Journ. of the Michigan state med. soc. Bd. 22, Nr. 1, S. 37—40. 1923. 

Eine Reihe von 8 Fällen illustriert die psychischen und Charakterveränderungen 
bei Kindern nach Encephalitis. Die Kinder waren vorher normal gewesen. Von Ände- 
rungen ihrer Personalität fanden sich Zanksucht, Zerstörungstrieb, Ordnungslosig- 
keit, Schlaflosigkeit, Unzulänglichkeit in der Schule. Lügen, Stehlen, sexuelle Ag- 
gressionen wurden öfters angegeben. Im ganzen erwiesen sich die Kinder als anti- 
soziale Elemente, deren Unterbringung in Anstalten nicht zu umgehen war; in Heil- 
anstalten erwiesen sie sich als inkorrigibel. Die Prognose ist schlecht. Neurath., 

Lisser, Hans, and Charles E. Nixon: Mental retardation and duetless gland disease. 


A report of twelve eases. (Geistige Verlangsamung und Erkrankungen der inner- 
sekretorischen Drüsen. Mitteilung von 12 Fällen.) (Ductless gland clin., dep. of med., 


— 104 — 


univ. of California med. school, Berkeley.) Journ. of the Americ. med. assoc. Bd. 81, 
Nr. 14, 8.1174—1179. 1923. 

Zusammenstellung von 12 Fällen mit ausgesprochenen Zeichen dysglandulärer 
Störung, die sämtlich auch geistig defekt waren. 9 Fälle entfallen auf hypophysäre 
Störungen, 2 auf Schilddrüsenminderleistung und 1 auf Störungen der Hypophyse, 
der Keimdrüse, der Schilddrüse und der Nebennieren. Die seelische Unzulänglichkeit 
ist oft lediglich nach dem Intelligenzquotienten, der sich bei der Binet-Simonschen 
Prüfung ergab, angegeben, wodurch die sonst wichtige Arbeit ganz bedeutend an Wert 
verliert. Ä Villinger (Tübingen). 
Burt, Cyril: Delinqueney and mental defeet. II. (Kriminalität und geistiger 
Defekt.) Brit. journ. of med. psychol. Bd. 3, H. 3, S. 168—178. 1923. 

Die intellektuelle Unzulänglichkeit allein hat nur einen geringen Anteil, etwa 5%, 
an der Kriminalität. Einen angeborenen ‚moralischen Schwachsinn“ gibt es nicht, 
wohl aber eine gewisse gemütliche Minderwertigkeit, die vielleicht auf Störungen des 
Instinktlebens zurückzuführen ist. Sehr häufig ist der Charakter der Kriminellen 
gekennzeichnet durch eine unharmonische intellektuelle Entwicklung und eine un- 
beständige, erregbare Affektivität. Nur in einem geringeren Prozentsatz der Fälle 
liegt diese Störung der Affektivität ohne Intelligenzdefekt vor. Einen besonders hohen 
Grad von gemütlicher Unbeständigkeit, so weit sie auf Erbfaktoren beruht, ohne 
Intelligenzstörung, nennt Verf. „gemütliche Minderwertigkeit“. Diese gemütlich 
Minderwertigen sind Individuen, die von frühester Jugend an nur soviel Affektdämpfung 
und Affektbeherrschung zeigen, als jeweils einem halb so alten normalen Menschen 
entspräche. Für Erwachsene wäre der Maßstab die Affektbeherrschung eines normalen 
Siebenjährigen. Zureichende Testproben für die Affektivität gibt es aber noch nicht, 
wennschon diejenigen von Pressey und Downey und die psychogalvanische Methode 
wenigstens Handhaben bieten. Der Ausdruck ‚‚moralischer Schwachsinn“ sollte fallen 
gelassen werden, da er irreführend ist. Vıllinger (Tübingen). 

Shrubsall, F. C.: Delinqueney and mental defect. III. (Kriminalität und geistiger 
Defekt.) Brit. journ. of med. psychol. Bd. 3, H. 3, S. 179—187. 1923. 

Die Beobachtungen des Verf. stammen aus dem umfangreichen Material Groß- 
Londons. Sie führen zu der Ansicht, daß es sich bei den moralisch Unzulänglichen sich 
in erster Linie um affektives Versagen, um Mängel des Gemütslebens handle, die ihnen 
die Einfühlung in andere und das Mitfühlen erschwere. Die moralisch Schwachsinnigen 
sind Menschen mit bestimmten geistigen Defekten konstitutioneller Art und starken 
verbrecherischen Neigungen, auf die durch Strafen nicht einzuwirken ist. 

Villinger (Tübingen). 

Stoddart, W. H. B.: Delinqueney and mental defect. IV. (Kriminalität und 
geistiger Defekt.) Brit. journ. of med. psychol. Bd. 3, H. 3, S. 188—193. 1923. 

Moralische und intellektuelle Defekte gehen parallel. Die Kriminalität eines 
intellektuell normalen Kindes ist die Folge eines Mangels an moralischer Ausbildung, 
oder aber sie ist der Ausdruck einer Psychoneurose, die dann durch Psychoanalyse 
zu beheben ist. Manche Vergehen der Jugendlichen und Kinder sind symbolhafte 
Handlungen im Sinne der Freudschen Theorie; die tiefsten Motive der Verbrechen 
sind in Zusammenhängen zu suchen, die Freud in Bindungen an die Eltern sah. 

Villinger (Tübingen). 

Diseussion on mental defieieney in its soeial aspeets. East, Norwood W.: The 
ineidence of crime and mental defeet. (Diskussion über „Geistige Schwäche in sozialer 
Hinsicht“. Kriminalität und geistiger Defekt.) Brit. med. journ. Nr. 3267, S. 228 
bis 229. 1923. 

Nach amerikanischen Berichten sind 20—30% der Gefängnisinsassen geistig 
irgendwie defekt. Da nach dem bestehenden englischen Gesetz nur wirklich geistig 
schwer Defekte und Geisteskranke unter den Strafgefangenen in ärztliche Behand- 
lung kommen, dagegen die großen Gruppen der Psychopathen, der Neurotiker, der 


— 105 — 


leicht Schwachsinnigen der ärztlichen Untersuchung und Behandlung entbehren, so 
sind die englischen Zahlen weit niedriger. 1921/22 kamen auf 66 715 Gefangene 223 
geistig schwer Defekte (einschl. Psychosen), im Jahr 1922/23 auf 60 983 im ganzen 246. 
Im Brixtoner Gefängnis belief sich ihre Zahl allerdings auf etwa 10%. Die Test- 
prüfungen der Intelligenz haben sich in den Gefängnissen bewährt. Kein Verbrechen 
ist charakteristisch für eine bestimmte geistige Störung. Die Mitwirkung des Psych- 
iaters an der Untersuchung und Behandlung der Strafgefangenen hat sich als sehr 
zweckdienlich erwiesen. Villinger (Tübingen). 

The soeial aspeets of mental defect. (Der geistige Defekt in sozialer Hinsicht.) 
Brit. med. journ. Nr. 3267, S. 249—250. 1923. 

Das soziale Problem des geistigen Defekts ist dreifach: Erstens, wie läßt sich 
das Leben des einzelnen so gesund, glücklich und inhaltsreich als möglich gestalten ? 
Zweitens, wie ist die Gemeinschaft zu schützen vor den sozialen, wirtschaftlichen und 
hygienischen Schäden, die ihr die geistig Defekten zufügen? Drittens, wie kann die 
eugenisch nicht zu rechtfertigende Fortpflanzung solcher Individuen verhindert werden ? 
Es gilt, alle diese Defekten irgendwie so zu versorgen, daß die oben gestellten Fragen 
dabei zu einer möglichst befriedigenden Lösung kommen. Dies war das Thema der 
Verhandlungen der ‚Sektion für medizinische Soziologie‘ in Portsmouth im Sommer 
dieses Jahres. In dem vorliegenden Artikel wird auf die Referate dieser Tagung hin- 
gewiesen und vor allem die Wichtigkeit der dauernden Überwachung der nicht anstalts- 
mäßig versorgten geistig Defekten betont und zu deren Organisation aufgerufen. 

Villinger (Tübingen). 


Psychopathie, Verwahrlosung : 


Lurie, Louis A.: The subnormal and psyehopathie ehild as exemplified in speeial 
elinie. (Erfahrungen über anomale und psychopathische Kinder in einer Spezial- 
klinik.) Journ. of the Americ. med. assoc. Bd. 81, Nr. 15, S. 1262—1266. 1923. _ 

Das genannte Problem ist nicht ausschließlich vom Psychologen, sondern vom 
Mediziner, d. h. vom Psychiater zu lösen, welcher mit dem Kinderarzt und Psychologen 
zusammenarbeiten muß. Nach Herbert Spencer ist das ganze Leben ein dauernder 
Ausgleich zwischen inneren und äußeren Beziehungen. Die Art der Reaktionen eines 
Individuum — und besonders des kindlichen — und die Möglichkeit eines befriedigen- 
den Ausgleiches hängt von zwei fundamentalen Faktoren ab: 1. von der angeborenen 
körperlichen und seelischen Reaktionsfähigkeit und 2. von der Art der Umgebung. 
Um die Einwirkungen einer ungesunden Umgebung auf das Kind zu studieren, wurde 
in Cincinnati in Angliederung an das Jüdische Krankenhaus ein Psychopathisches 
Institut geschaffen. Hier können 8 Knaben, 4 Mädchen aufgenommen und, da die 
Einrichtungen einem normalen Haushalt entsprechen, sowohl auf ihren körperlichen 
Zustand als auf gesellschaftliche Reaktionsfähigkeit untersucht werden. Schulfähige 
Kinder besuchen eine benachbarte Schule, erhalten evtl. im Heim Nachhilfeunterricht. 
Alle Kinder erhalten Unterricht in Handfertigkeit. An zwei ausführlichen Kranken- 
geschichten wird nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer genauen Erkundigung 
über das Milieu hingewiesen und gezeigt, wie Kinder, die einen psychoneurotischen 
oder geistesschwachen Eindruck machen, in gesunder Umgebung seelisch genesen 
können. Vor allem die Geistesschwäche ist nicht als klinische Einheit anzusehen, son- 
dern als Symptom, das auf vielerlei Ursachen beruhen kann. Bei allen Fällen, in denen 
eine organische Grundlage vorliegt (innere Drüsen!), kann’ eine spezifische ärztliche 
Therapie eine weitgehende Besserung, ja selbst Heilung bewirken. In Anlehnung 
an das Psychopathische Institut ist eine Heimschule errichtet, in der geistesschwache 
Kinder jahrelang gehalten und behandelt werden. Mehr als 150 Kinder wurden im 
Psychopathischen Institut bis jetzt beobachtet. Der Zuweisungsgrund war geistige 
Zurückgebliebenheit, antisoziales Verhalten, ordnungswidriges Betragen, z. B. Ver- 
gehen, Unverbesserlichkeit, Mangel an gesellschaftlicher Ausgeglichenheit. Vom medizi- 





— 106 — 


nischen Standpunkt konnte man diese Fälle teilen in funktionelle und organische. 
Der Zahl nach waren beide Gruppen gleich stark. In der funktionellen Gruppe waren 
nervenschwache Kinder, die gefühlsunausgeglichenen, die übererregten und die unter 
einer verderblichen Umgebung leidenden. Diese Gruppe wurde wieder in 2 Unter- 
abteilungen zerlegt, in die erste, bei der alle diese Erscheinungen hauptsächlich auf 
die äußere Einwirkung zurückzuführen waren, eine zweite, bei der die abnormen Äuße- 
rungen durch funktionelle Schädigungen des Kindes erklärt wurden. Bei dieser Unter- 
gruppe kann der gewandte Psychiater die raschesten und beständigsten Erfolge er- 
zielen. In der zweiten großen Gruppe wurden alle die Kinder geführt, die irgendeine 
Form von organisch bedingter Seelenstörung zeigten. 50% betrafen Nervensyphilis; 
Störungen der Drüsen mit innerer Sekretion kamen an zweiter Stelle. Auch von den 
Fällen dieser Gruppe konnte eine große Zahl durch medizinische Behandlung gebessert 
werden.‘ Kein Kind mit antisozialen Äußerungen darf in eine Straf- oder Erziehungs- 
anstalt gebracht werden, bevor es nicht in der angegebenen Weise erforscht ist. Geistes- 
schwäche wird nicht geheilt dadurch, daß man Anstalten baut, sondern dadurch, 
daß man die konstitutionelle Unterlage erkennt und eine ursächliche Therapie in die 
Wege leitet. Engelmann (Kiel). 

Gordon, R. G.: The nervous child. (Das nervöse Kind.) Journ. of neurol. a. 
psychopathol. Bd. 4, Nr. 14, 8. 125—132. 1923. 

Die hauptsächlich referierende Arbeit gipfelt in dem Hinweis auf die Notwendigkeit, in 
Fällen kindlicher Nervosität die körperlich-neurologische Seite bei der Untersuchung nicht zu 
vernachlässigen. (Die angeführten Krankengeschichten sind nicht ausführlich genug mit- 
geteilt, um beweisend zu sein.) Im übrigen werden theoretische Fragen erörtert, so die Instinkt- 
unsicherheit des nervösen Kindes als Folge der Lockerung des Artgedächtnisses, Lokalisation 
hypothetischer Hemmungszentren in den Stirnlappen, die Grenzen der Psychoanalyse beim 
Kind u. dgl. mehr, ohne Beibringung von Neuem. Villinger (Tübingen). 

Reinhold, Maurice: Panasthenie. (Panasthenie) Paris med. Jg. 13, Nr. 32, 
S. 121—124. 1923. 

© Die „Nervösen‘ gehören in 3 große Gruppen aufgeteilt: 1. Die Erregten, deren Nerven- 
system durch einen Schmerz oder einen dem Schmerz nahe kommenden Zustand dauernd in 
Erregung gehalten wird bis zur Erschöpfung; 2. die Erschöpften, bei denen die Leistungsfähig- 
keit der Zellen, sei es aus konstitutioneller Minderwertigkeit, sei es zufolge einer von außen 
kommenden Schädlichkeit herabgesetzt ist; 3. die Mischtypen aus den beiden genannten 
Gruppen. Panasthenie ist eine bessere Bezeichnung für diese körperlich und psychisch gleicher- 
maßen funktionsgeschwächten Individuen. Im einzelnen decken sich ihre Symptome genau 
mit denen der Neurasthenie, Psychasthenie und teilweise der somatischen Asthenie. 
Villinger (Tübingen). 
© Liertz, Rhaban: Wanderungen durch das gesunde und kranke Seelenleben bei 
Kindern und Erwachsenen. München: Kösel & Pustet 1923. IX, 168 S. G. Z. 2. 

Das Buch stellt eine Einführung in das Gebiet der Psychoneurosen auf dem Boden 
der katholischen Weltanschauung und einer gemilderten psychoanalytischen (Freud) 
und individualpsychologischen (Adler) Auffassung dar und wendet sich an ‚‚Seel- 
sorger im weitesten Sinne des Worts‘ (Geistliche, Eltern, Lehrer usw.). Die Beherr- 
schung des Stoffs, die taktvolle und sachliche Behandlung der therapeutischen Seite, 
die große Erfahrung und die warmherzige Persönlichkeit, die aus den Blättern hervor- 
leuchtet, lassen das Büchlein als für seinen Zweck wohl geeignet erscheinen, wenn 
man auch im Einzelnen anderer Auffassung sein könnte. Villinger (Tübingen). 

© Lund, David: Über die Ursachen der Jugendasozialität. Upsala 1918. 358 S. 

Lund hat sich der Aufgabe unterzogen, in einer umfassenden Untersuchung 
Fragen zu bearbeiten, über deren Beantwortung vielfach kein ernster Zweifel besteht. 
In der bisherigen Forschung über jugendliche Kriminalität und Verwahrlosung war 
man von straffälligen und verwahrlosten Individuen ausgegangen und hatte in den 
hohen Werten für die als Ursache in Frage kommenden Momente eine Stütze für die 
Annahme eines kausalen Zusammenhanges gesehen. Die praktisch und wissenschaft- 
lich interessante Frage, wie häufig die gleichen Faktoren auch bei moralisch einwand- 
freien Kindern und Jugendlichen zu finden sind, blieb unerörtert. L. gebührt das un- 


— 107 — 


zweifelhafte Verdienst, die Ursachen jugendlicher Asozialität unter Zuhilfenahme 
eines einwandfreien Materials geprüft zu haben. Sein Material bildeten 175 kriminelle 
und verwahrloste Knaben aus einer schwedischen Fürsorgeerziehungsanstalt, 445 
Knaben gleicher Kategorie, 743 verwahrloste oder kriminelle Knaben aus sämtlichen 
schwedischen F.-E.-Anstalten, 106 gleichwertige Mädchen aus allen F.-E.-Anstalten, 
709 moralisch einwandfreie Knaben und 106 derartige Mädchen. Die beiden letzteren 
Gruppen waren gleichalterig, entstammten derselben sozialen Schicht und ungefähr 
den gleichen Gemeinden wie die Verwahrlosten. Die Untersuchung ist in ihrer Anlage 
den bekannten Arbeiten von Koller und von Diem zu vergleichen, welche die kausalen 
Faktoren bei psychisch kranken und normalen Individuen in Parallele stellten, 
nur haben die Resultate L.s keine derartigen Überraschungen wie die jener Autoren 
gebracht. Anerkennenswert ist die strikte Anlehnung an die bekannten Forschungen 
Gruhles, wodurch Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit gewonnen wurde. Dies 
hätte L. allerdings nicht abhalten dürfen, neueren wissenschaftlichen Errungenschaften 
im weiteren Umfang Rechnung zu tragen. Dies trifft insbesondere das psychiatrische 
Wissensgebiet, das dem Autor anscheinend nicht im genügenden Umfang zur Ver- 
fügung stand. Die Bearbeitung der von ihm gebrachten Lebensläufe hätte durch Ver- 
trautheit mit der neueren Schizophrenieforschung sehr gewonnen. Auch war in der 
charakterologischen Darstellung die Bindung an die von Gruhle aus bestimmten 
Gründen gewählten Merkmale, die nur gewisse Seiten der Persönlichkeit in Vordergrund 
rückten, einer reichen Ausbeute hinderlich. Beim Vergleich mit Gruhles Ergebnissen 
berücksichtigt L. die Altersdifferenz seiner am genauesten studierten Hallknaben nicht 
immer genügend. Gruhle hatte es ausschließlich mit schulentlassenen Burschen 
zu tun, L. mit einem meist jüngeren Material. Da die Untersuchungen von Gregor- 
Voigtländer die prinzipielle Bedeutung der Altersunterschiede für den Zustand der 
Verwahrlosung ergeben haben, muß künftig an der strikten Gliederung von Alters- 
gruppen festgehalten werden. Unter den kausalen Momenten mißt L. der Armut 
mit Recht nur beschränkte Bedeutung zu. Im Gegensatz zur Hypothese, daß Armut 
Hauptursache des Verbrechens bildet, stellt sich ihre Bedeutung vielmehr als sekundär 
im Komplex der sozialen und individuellen Faktoren dar, welche der Verwahrlosung 
zugrunde liegen. Mit anderen Autoren ist L. geneigt, unehelicher Abkunft Mitschuld 
am sozialen Verfall zu geben. Abgesehen von der Anlage, kommt hier die Wirkung 
ungünstiger Milieuverhältnisse zur Geltung. L. glaubt aus der großen Zahl der Ver- 
wahrlosten unter Pflegekindern auf einen kausalen Zusammenhang schließen zu dürfen. 
Seine Feststellung hat aber vielleicht nur lokale Bedeutung. E. Voigtländer hat 
erst kürzlich betont, daß in der von ihr geprüften Gruppe von 363 unehelichen Kindern 
keine ungünstigeren Verhältnisse als bei ehelichen Kindern vorlagen. Auch der Annahme 
L.s, von einem kausalen Zusammenhang zwischen Verwaisung und Verwahrlosung 
steht die Bemerkung Voigtländers entgegen, daß bei Elternmangel ein früheres 
Eingreifen der Behörde erfolgt. Bemerkenswert ist L.s Ergebnis, daß mehr als ein 
Fünftel der Gesamtzahl der Verwahrlosten Eltern hat, von denen wenigstens einer 
psychisch annormal ist, während bei Nichtverwahrlosten das Verhältnis für !/,, der 
Fälle zutrifft. Er findet ferner, daß die Anzahl der asozialen Individuen in Familien mit 
psychischer Minderwertigkeit in der Ascendenz, sowie in solchen, wo die Nachkommen 
ebenfalls psychisch minderwertig sind, besonders groß ist, und zwar nimmt die Fre- 
quenz der psychischen Minderwertigkeit bei den Nachkommen mit der größeren Fre- 
quenz an psychischer Minderwertigkeit in der Ascendenz sukzessiv zu. In anthro- 
pologischer Hinsicht ist der relativ hohe Prozentsatz von Kurzköpfen bemerkenswert, 
die mit 33,7% über dem Werte standen, welcher in Schweden für Kinder von Familien 
aus der niedersten sozialen Schicht ermittelt wurde (30,14%). Bezüglich der psychi- 
schen Konstitution erwiesen sich von den 175 Hallknaben 17,7%, als leicht, 16% 
als schwer imbezill, 13,2%, als psychisch auffällig, 8,6% als psychopathisch. In Bezug 
auf die Handlungsweise waren von dem gleichen Material 20,6%, rohe Charaktere. 


— 108 — 


Von Interesse ist der Vergleich zwischen intellektueller Begabung Verwahrloster 
und Nichtverwahrloster. Sehr gute Verstandesbegabung war bei beiden Gruppen 
ungefähr im gleichen Prozentsatz vertreten; durchschnittlich begabt erschienen von 
den Verwahrlosten 47,6%, von den Nichtverwahrlosten 64,2%; leicht imbezill waren 
von den Verwahrlosten 24,4%, von Nichtverwahrlosten 10,2%; schwer imbezill von 
Verwahrlosten 7,9%, von Nichtverwahrlosten 2,9%. Wesentliche Differenzen ergaben 
sich zwischen den Anschauungen Gruhles und L.s in der Rolle, welche beide Autoren 
Anlage und Milieu beimessen. Die Größe des Materiales bildet natürlich einen Vorteil 
der L.schen Untersuchung. In der üblichen Darstellungsweise lauten seine Ergebnisse 


wie folgt: Gruppe Unter 445 
A 54 = 12,13%, 
A+m 40 = 8,99% 
A+M 53 = 11,91%, 
M+a 84 = 18,87% 
M 214 = 48,09% 


L. findet einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Anlage in dem Sinne, 
daß eine Abnahme der intellektuellen Minderwertigkeit von der A- nach der M-Gruppe 
stattfindet. Im Gegensatz zu Gruhle ergab seine Untersuchung für die A-Gruppe 
einen höheren Prozentsatz von Kriminalität in der Ascendenz als bei der M-Gruppe; 
so war bei ersterer der Vater in 20,29%, bei letzterer in 14,1% bestraft. Auch konnte 
er ermitteln, daß die A-Kinder bestrafter Eltern etwas mehr als doppelt so zahlreich 
sind wie die M-Kinder. Die erwähnten Ergebnisse über Ascendenz führen ohne weiteres 
vor die Frage nach Vererbung psychischer Eigenschaften. L. geht hier von den Unter- 
suchungen Raths aus, nach denen eine Vererbung von Anlagen, aus denen verbreche- 
rische Handlungen hervorgehen, im Sinne der Mendelschen Regel stattfindet. L. teilt 
die Familien der von ihm geprüften Fälle in 3 Gruppen ein, je nachdem beide oder 
eines der Eltern bestraft oder unbestraft sind. Die Nachkommenschaft innerhalb dieser 


3 Gruppen stellt sich wie folgt dar: 
Bestraft und 


Bestraft Psych. minderwertig Psych. minderwertig 
% % % 

männlich 86,7 31,1 17,8 

Gruppe { Weiblich 17,4 26,1 13,0 
i männlich 55,1 24,4 15,4 
Gruppe IT | weiblich 11.1 22,2 3,7 
G jr f männlich 44,6 16,3 9,7 
TUPPS weiblich 5,1 18,5 1,9 


Zu ähnlichen Schlüssen, wie sie Rath zog, zu gelangen, hält L. die Berücksich- 
tigung des Milieus ab, da seine Untersuchung ergab, daß die Familien, welche die 
größte Anzahl Bestrafter aufweisen, in qualitativer Hinsicht schlechter sind als die- 
jenigen mit geringer Kriminalität. Die genauere Sichtung des Materials führt L. aber 
doch zur Ansicht, daß die Ursache des asozialen Charakters in erblicher Disposition 
zu suchen ist. Der Autor versäumt es nicht, seine Erfahrungen auch für die Bekämpfung 
der jugendlichen Kriminalität zu verwerten. Die günstigen Erfolge der Anstalt Hall, 
die nur mit einer Rückfälligkeit von 7,1% ihrer Entlassenen zu rechnen hat, lassen 
ihn für das Mittel der Anstaltserziehung entschieden eintreten. Die Tatsache, daß 
Kriminalität trotz aller Maßnahmen doch zunimmt, läßt L. im Zusammenhang mit 
seinen Ergebnissen über erbliche Bedingtheit krimineller Anlage das Ziel der Bekämpfung 
in der Anwendung rassenhygienischer Mittel erkennen. Gregor (Flehingen i. Baden). 


© Ohrloff, Ernst: Weibliche Fürsorgezöglinge. Die Ursachen ihrer Verwahrlosung 
und Vorschläge ihr vorzubeugen. (Friedrich Manns pädag. Magazin. H. 935. Fortsehr. 
d. Jugendfürs. III. Reihe: Erziehung u. Berufsbildung. Hrsg. v. Chr. J. Klumker. H. 2.) 
Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1923. 56 S. G.Z. 2. 

Verf. hat sich mit den Fürsorgezöglingen des Greifswalder Mädchenheims beschäf- 
tigt. Wie andere Autoren fand er ungefähr zwei Drittel des Materials anomal. Auf- 


— 109 — 


fallend war das starke Überwiegen städtischer Bevölkerung in einer Provinz von mehr 
agrarischem als industriellem Charakter. Unter den kausalen Momenten scheint 
auch Tuberkulose eine Rolle zu spielen, vermutlich als ein das Milieu gestaltender 
Faktor. Besonderen Wert legt Verf. auf die Anhäufung belastender Momente, die er 
bei seinem Materiale verwertet hat. Eine Erscheinung, der nach seiner Auffassung 
bisher keine oder sehr selten in der Literatur Beachtung geschenkt wurde, freilich 
hat der Autor diese auch zu wenig berücksichtigt. Dann hätte ihm wohl die Bemerkung 
Birn ba ums zu denken gegeben, daß die großen Monographien das Fürsorgeerziehungs- 
material so weitgehend bearbeitet haben, daß weitere Veröffentlichungen ohne neu- 
artige Gesichtspunkte entbehrlich sind. Vielmehr ist psychologische Vertiefung in ein- 
zelne Gruppen zu empfehlen, wie sie etwa das schöne Buch von K. G. Peters ‚Um die 
Seele des Waisenkindes‘‘ (Auer-Donauwörth) bringt. Gregor (Flehingen i. Baden). 

Grabe, E. v.: Spätsehieksale von Fürsorgezöglingen und Prostituierten. Arch. f. 
Kriminol. Bd. 75, H. 3, S. 171—200. 1923. 

Das spätere Schicksal von Fürsorgezöglingen und Prostituierten — mit der Frage 
der weiblichen Fürsorgezöglinge steht die der Prostituierten in allerengstem Zusammen- 
hange — ist nur aus den Akten zu ersehen, die aber auch bei einem geeigneten Material 
ein sehr anschauliches Bild geben. Von 100 früheren weiblichen Hamburger Zöglingen 
hatten sich bei einer Untersuchung, die Grabe früher angestellt hatte, 56 dauernd 
einwandsfrei geführt, wobei die Bewährungsfrist 1—5 Jahre betrug. Die Zahl von 
65,1%, deckte sich genau mit der 1911 erstatteten Statistik des Preußischen Mini- 
steriums des Innern über die Erfolge der Fürsorgeerziehung bei früher der Unzucht 
verfallen gewesenen Mädchen. Sie galten als einwandfrei, wenn im Verlaufe der Jahre 
über sie aktenmäßig sich nichts Nachteiliges ergeben hatte. Nun war festzustellen, 
ob diese 100 Zöglinge in weiteren 8—10 Jahren gelernt hatten, sich sozial zu verhalten. 
14 von den Zöglingen, die schon früher Kontrollmädchen geworden waren, fallen unter 
die Besprechung der Prostituierten. 2 Mädchen waren in die Irrenanstalt gekommen, 
12 verschollen. Von 3 damals wegen Diebstahls bestraften Mädchen waren 2 verzogen, 
1l hatte sich gut geführt. Von 4 wegen Diebstahls und Unzucht bestraften Mädchen 
hatte 1 typisch gebummelt, 1 war Kontrollmädchen geworden, 2 waren verzogen. 
Die schlechteste Prognose war bei den Mädchen zu stellen, die gleich nach der Ent- 
lassung aus der Fürsorge wieder ihren alten Lebenswandel aufgenommen hatten: von 
8 Mädchen waren 4 der Kontrolle verfallen, 3 bummelten weiter, 1 wurde kriminell, 
l andere hielt sich gut. Von den 56 Mädchen, die sich seit Beendigung der Fürsorge- 
erziehung gut geführt hatten, war über 9 nichts bekannt, 2 waren verzogen und 3 hatten 
wieder angefangen zu bummeln. 33 jedoch hatten sich tadellos geführt. Zu den letz- 
teren kommt noch eine erhebliche Zahl von alten Zöglingen, die ganz geringfügige 
und harmlose Strafen erlitten hatten. Die früheren Zöglinge, die sich nach ihrer Ent- 
lassung gut geführt hatten, haben sich meist auch weiterhin gut gehalten. Nur ganz 
wenige waren nach längerer guter Führung rückfällig geworden, obgleich das allgemeine 
Niveau der Moral sich erheblich gesenkt hatte. Bei weiblichen Fürsorgezöglingen 
bahnt sich also im großen und ganzen sehr bald nach erreichter Volljährigkeit eine 
entgültige Scheidung der Geister an, entsprechend der ganzen Veranlagung der ein- 
zelnen Persönlichkeit. Die Zöglinge, die sich nach ihrer Entlassung aus der Fürsorge 
längere Zeit gut führen, sind voraussichtlich als dauernd ‚sozial geworden‘ anzusehen. 
Die Mädchen, die überhaupt verkommen, tun dies auch sehr schnell. Keine von den 
56 Mädchen ist wieder unter Kontrolle gekommen, nur 2, die als degenerativ Veranlagte 
den rücksichtslosesten Drang zur Prostitution besaßen, ergaben sich einem unsittlichen 
Lebenswandel. Der Einfluß des Milieus auf die spätere soziale Führung ist nicht 
genau abzugrenzen: der Ehe als rettenden Moment kann nur ein bedingter Wert zu- 
geschrieben werden. Ebenso ist der Einfluß der Fürsorgeerziehung hierbei nicht sicher 
zu bestimmen. Wahrscheinlich ist die gar nicht zu verkennende grundlegende Ände- 
rung der Lebensführung zahlreicher Fürsorgezöglinge mit einer Spätentwicklung 


— 110 — 


höherer psychischer Qualitäten in Zusammenhang zu bringen. Am schlechtesten muß 
man bei Fürsorgezöglingen die Prognose stellen, wenn sie schon in jungen Jahren 
zur Kontrolle drängen. Auch von den nicht in Fürsorge gewesenen Puellen sind nur 
wenige in späteren Semestern unter Kontrolle geraten: nur ausnahmsweise wird ein 
Mädchen im Alter von über 25 Jahren Puella. Zum Teil sind diese Spätprostituierten 
durch den Alkohol dazu gekommen, zum überwiegenden Teile haben sie in der Ehe 
Schiffbruch gelitten. Mönkemöller (Hildesheim). 
Voigtländer, Else: Kleinere Mitteilungen, Anregungen und Erörterungen. Weib- 
liche Fürsorgezöglinge. Zeitschr. f. Sexualwiss. Bd. 10, H. 6, S. 147—148. 1923. 
Auseinandersetzung mit Ohrloff über die Rolle der Pubertät in der Verwahr- 
losung, sie ist kein ‚„auslösender‘‘, sondern höchstens ein „begünstigender“ Faktor 
als eine Zeit der inneren Unsicherheit und Unausgeglichenheit. An Ohrloffs eigenem 
Material wird gezeigt, daß Eintritt der Menses und der Verwahrlosung in der Mehrzahl 
der Fälle mehrere Jahre auseinanderliegen. Der Eintritt ins Leben mit seinen Ver- 
suchungen und die Stärke und Richtung der moralischen Gesinnung, die nach Frau 
Voigtländer mit der sexuellen Entwicklung nichts zu tun hat, sollten gegenüber 
dem Vorgang der psychophysischen Veränderung nicht unterschätzt werden. Daß 
Diebstahl die wesentliche Verwahrlosungsform der Schwachsinnigen, Prostitution 
diejenige der intelligenteren Psychopathinnen sei, ist nur ein Zufall des Ohrloffschen 
Materials. So zweckmäßig der Ausbau der vorbeugenden offenen Fürsorge ist, wie 
Ohrloff sie mit Recht empfiehlt, eine Abnahme der Anstaltsfälle glaubt sich Frau V. 
davon nicht versprechen zu können. Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 


Psychosen : 


Benon, R.: La manie chronique infantile post-ene&phalopathique. (Die chronische 
postencephalopatische Manie bei Kindern.) Arch. de méd. des enfants Bd. 26, Nr. 10, 
S. 585—609. 1923. 

Zusammenstellung chronisch manischer Zustände bei Kindern im Anschluß an 
Encephalopathien unklarer Ätiologie im ersten, nur ausnahmsweise jenseits des zweiten 
Lebensjahres, die durch hypermetamorphotischen Bewegungsdrang, gegenstandslose 
Heiterkeit, gesteigerte Erregbarkeit und Ablenkbarkeit charakterisiert und gewöhnlich 
mit Störungen der Intelligenz und der Sprache verbunden sind. Es handelt sich nicht 
etwa um jene bekannten maniformen Bilder, wie man sie nach der epidemischen Ence- 
phalitis bei Kindern auftreten sieht. R. Thiele (Berlin). 

Alford, L. B.: Dementia precox as a type of progressive degeneration, (Die De- 
mentia praecox als eine Form der Heredodegeneration.) Journ. of nerv. a. ment. dis. 
Bd. 58, Nr. 2, S. 134—144. 1923. 

Verf. vergleicht die Dementia praecox mit den Heredodegenerationen des Nerven- 
systems und sieht in der Beschränkung auf ein bestimmtes Funktionssystem das Über- 
einstimmende. Für eine solche Analogie sprechen ihm weiterhin der anatomische 
Befund, die Vererbbarkeit und der chronische Verlauf. Um was für ein einheitliches 
Funktionssystem es sich bei der Dementia praecox handeln soll, darüber wird nichts 
Näheres ausgesagt. Das wesentliche psychische Symptom sieht er in der Spaltung, 
während die anderen mehr aktiven Symptome auf Folgezustände durch Störung anderer 
benachbarter Mechanismen zurückgehen sollen. Reiss (Tübingen)., 


Krankheiten des Kindesalters (einschi. allgemeine Pathologie und Therapie): 


© Bing, Robert: Gehirn und Auge. Kurzgefaßte Darstellung der physiopatho- 
logischen Zusammenhänge zwischen beiden Organen, sowie der Augensymptome bei 
Gehirnkrankheiten. 2. verm. u. BEnheaIn: Aufl. München: J. F. Bergmann 1923. 
X, 85 S. G.-M. 5.— 

Das im Titel genannte Büchlein, das soeben in neuer Auflage erschienen ist, und 
das dem Lernenden in mustergültiger Weise die Kenntnis der Beziehungen zwischen 





— 11 — 


Gehirn und Auge vermittelt, soll auch den Lesern dieser Zeitschrift zur Lektüre emp- 
fohlen werden. Die Hirnkrankheiten des Kindesalters, bei welchen okuläre Symptome 
vorkommen, haben eine eingehende Berücksichtigung erfahren. R. Hirschfeld. 


Yippö, Arvo: Über langanhaltende Sensibilitäts- und Intelligenzstörungen nach 
Intoxikationsstadium bei ernährungsgestörten Säuglingen. Ergebn. d. inn. Med. u. 
Kinderheilk. Bd. 24, S. 179—187. 1923, 

Auf Grund von 2 Beobachtungen spricht Verf. sich dahin aus, daß bei jungen, 
schwerernährungsgestörten Säuglingen, die einen sog. Intoxikationszustand glücklich 
überstanden haben, in seltenen Fällen nachträglich ein deutliches, langanhaltendes 
Zurückbleiben der Intelligenz und eine auffallende universelle Sensibilitätsstörung 
(Anästhesie — Hypästhesie) nachgewiesen werden kann. Diese Störungen in der 
Funktion des zentralen Nervensystems und der peripheren Nerven können im Verlauf 
von mehreren Monaten ganz ausgeglichen werden. Die Entstehung dieser Störungen 
wird durch Schädigungen des Nervensystems, teils durch Übersäuerung des Organismus 
(Intoxikationsacidose), teils durch Bakterientoxine während des akuten Intoxikations- 
stadiums, hervorgerufen. Schob (Dresden)., 


Homburger (Heidelberg): Über pyramidale und extrapyramidale Symptome bei 
Kindern und über den motorischen Infantilismus. Vortrag a. d. 48. Vers. südwestd. 


Neurol. u. Irrenärzte, Baden-Baden, Juni 1923. 

Die Fortsetzung der Untersuchungen von amyostatischen Symptomen bei schwach- 
sinnigen Kindern, über die ich vor 3 Jahren berichten konnte, hat zu einigen Feststellungen 
geführt, die geeignet erscheinen, eine funktionelle Bewertung sog. pyramidaler und extra- 
Dane Symptome im Kindesalter anzubahnen. Hierfür kann ich mich auf 20 Fälle 

ziehen, die demnächst von K. Jacob ausführlich veröffentlicht werden. Sie stammen 
zum Teil aus dem Material der psychiatrischen Poliklinik, zum Teil aus der ihr seit 5 Jahren 
angeschlossenen heilpädagogischen Beratungsstelle. Die Kinder wurden teils wegen geistiger 
Schwäche, teils aus sonstigen erzieherischen Gründen, und nur zum kleinsten Teil wegen ihrer 
Bewegungsstörungen selbst zur Untersuchung gebracht. So kommt es, daß sich im Laufe 
der Jahre eine Anzahl von Fällen zusammenfand, welche für die genaue Untersuchung faßBbare 
und wohlgekennzeichnete Bewegungsanomalien darbieten, die aber viel leichter sind als die- 
jenigen, welche den Untersuchungen Foersters und C. und O. Vogts zugrunde liegen. Gerade 
deshalb ermöglichen sie ganz bestimmte, bei diesen nicht mehr mögliche Feststellungen. Ein 
Teil unserer Fälle war einer oder mehreren Nachuntersuchungen in Abständen von Jahren 
zugänglich; die in dieser Zeit eingetretenen Änderungen sind besonders wichtig. Die eine 
Reihe der beobachteten Tatsachen umfaßt Erscheinungen überlangen Verharrens dem Säug- 
lingsalter und den ersten Lebensjahren angehöriger Bewegungsphänomene. Bisher sind die 
folgenden beobachtet worden: der Morosche Umklammerungsreflex, die Babinskische 
reflektorische Dorsalflexion der großen Zehe auf Strichreiz der Fußsohle; die Dorsalflexion 
der Großzehe beim Gehen nach Erlöschen des Reflexes auf Strichreiz, die Greifbewegungen 
der Zehen beim Gehen; ferner: die Bevorzugung der Einwärtswendung und Supinationsstellung 
der Füße bei im Sitzen herabhängenden und im Liegen gestreckten Beinen; der Säuglingsgriff 
mit volarflektierter Hand, die Säuglingsschlafstellung der Arme; das astatisch-atonische Ver- 
halten einzelner Muskelgruppen, z. B. das schlaffe Vorn- und Hintenüberhängen des Kopfes 
(Thomas - Köln), die losen Schultern, der hängende Unterkiefer; die Hyperflexibilität und 
Hyperextensibilität der Glieder; das Überdauern der frühkindlichen athetoiden und athetoid- 
choreiformen Mitbewegungen, Pulsionen und Dysmetrien ; schließlich das Wiederhervortreten der 
ganzen Säuglingsmotorik im heftigen Zornaffekt noch im 2. bis 3. Lebensjahr. Man kann diese 
Erscheinungen als motorische Infantilismen zusammenfassen. In einer zweiten Reihe 
finden sich Kombinationen sog. pyramidaler und extrapyramidaler Symptomen, die zum Teil 
ohne weiteres erkennbar sind, zum Teil erst unter besonderen Bedingungen offenbar werden. 
So kann sich einseitiger Babinski mit mimischer Ausdrucksstarre und einem beiderseitigen 
Ausfall von normalen Mitbewegungen beim Gehen und bei Positionsänderungen verbinden. 
Bei beschleunigtem Gehen offenbaren sich sonst nicht vorhandene athetoide Bewegungen der 
Finger; in einem anderen Falle, der im übrigen durch Dysmetrien gekennzeichnet ist, ruft 
schnelles Gehen regelmäßig eine sonst nicht erkennbare hemiplegische Verkürzungsstellung 
des einen Armes hervor, während der andere sich streckt; bei einem Kinde mit cerebellaren 
Defekten infolge einer Meningocele und ihrer Operation löst Hochheben der Arme im freien 
Sitzen Supinationsstellung der Füße mit Einwärtsrotation und Adductorenspannung aus, 
wie sie Foerster unter seinen 1913 beschriebenen Diplegien abgebildet hat. Fast alle Fälle 
mit kombinierten pyramidalen und extrapyramidalen Symptomen zeigen ein dem Spasmus 
mobilis nahestehendes Verhalten, d. h. plötzliches Einschießen tonischer Innervation in normo- 


— IR — 


und hypotonische, plötzliches oder allmählicheres Nachlassen des Tonus in hypertonischen 
Muskelgebieten. Diese Erscheinungen können sich in der mannigfachsten Weise mit einzelnen 
in der ersten Reihe genannten Infantilismen verbinden, so daß in der Tat kein Fall genau 
dem anderen gleicht. Wir stehen daher vor eigenartigen Bildern: einerseits gibt es Infantilismen, 
denen kein organischer Zerstörungsprozeß in der Pyramidenbahn oder dem extrapyramidalen 
System zugrunde liegt. Es sind reine Verzögerungen der motorischen Entwicklung, die nach 
einigen Jahren der normalen Motorik Platz machen. Zweitens gibt es sichere partielle hemi- 
plegische und diplegische Schädigungen der Pyramidenbahn, die sich mit Erscheinungen 
gleichfalls leichten Grades verbinden, die wir auf das extrapyramidale System beziehen. Hier 
zeigt der Verlauf in einem Teil der Fälle, daß diese Symptome verschwinden; es waren also 
Infantilismen. In einem anderen Teil verschwinden sie aber nicht oder nicht ganz; dann 
sind sie Äußerungen einer organischen Schädigung, die, wie unsere Beobachtungen zeigen, 
aber im gesamten motorischen Leistungsbilde einem gewissen funktionellen Ausgleich zugäng- 
lich sind, der im Ergebnis manchmal überraschend ist. Denkt man die Vielgestaltigkeit der 
Symptomenbilder durch, so kommt man um die Frage nicht herum, was denn eigentlich im 
strengen Sinne als pyramidales, was als extrapyramidales Symptom bezeichnet werden soll. 
Was wir Pyramidensymptome nennen, sind eigentlich bis auf die fokalen Krämpfe Pyramiden- 
ausfallssymptome. Frühkindliche Bewegungserscheinungen und phylogenetisch alte Synergis- 
men treten dabei wieder zutage als Leistungen des extrapyramidalen Systems. Der motorische 
Rest, der bei ausgedehnten pallidären, striären und striopallidären organischen Veränderungen 
bleibt, zeigt eine überraschende Ohnmacht der Pyramidenbahn, sobald sie isoliert ist. Als 
Überbau des extrapyramidalen Systems aber bewirkt sie die höchstmöglichen Bewegungs- 
leistungen. Ihr einziges reines funktionseigenes pathologisches Symptom, das wir bisher kennen, 
sind die fokalen Krämpfe. Was wir sonst an cerebralen motorischen Symptomen kennen, sind 
enau betrachtet extrapyramidale Hyper-, Hypo- und Parafunktionsleistungen. Die Mannig- 
altigkeit der Symptomatik rührt daher, daß das extrapyramidale System das in Gliederung 
und Funktion unvergleichlich viel komplexere ist; das pyramidale erscheint ihm gegenüber 
durch seine einheitliche Einfachheit grundsätzlich verschieden. Wie die beiden Systeme inein- 
andergreifen, wissen wir trotz der außerordentlichen reichen Einzelergebnisse der letzten Jahre 
noch nicht zur Genüge. Außer den bisher zunächst beschrittenen Wegen zeigen sich zwei andere, 
die Aussichten bieten, weiterzukommen: die genaue Beschreibung der motorischen Infantilis- 
men nebst der Verfolgung ihrer weiteren Entwicklung und die Analyse der leichten Kombina- 
tionsformen von Pyramidenschädigung mit den Herderscheinungen des extrapyramidalen 
Systems im Kindesalter. Denn hier sind Möglichkeiten der Entwicklung dem Funktions- 
ausgleich dienstbarer Mechanismen, denen wir beim Erwachsenen, wie es scheint, nicht mehr 
begegnen. Grundsätzlich liegen die bisherigen Ergebnisse in der Linie der von Foerster 
kürzlich vertretenen Ansichten. Hierüber eine Theorie aufzustellen, wäre noch verfrüht. 
Eigenbericht (durch Hauptmann).°° 


Rosenthal, Curt: Torsionsdystonie und Athetose double. (Psychiatr. u. Nervenklin., 
Univ. Breslau.) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 68, H. 1/2, S. 1—39. 1923. 

Verf. bespricht im Anschluß an 2 Fälle, die er ausführlich mitteilt, unter der Be- 
rücksichtigung der gesamten einschlägigen Literatur die Differentialdiagnose zwischen 
Torsionsdystonie und Athetose double. Er kommt dabei zu dem Resultat, daß die 
symptomatische Form der Athetose double, die als Folge frühzeitiger cerebraler 
Schädigung anzusehen ist, sich leicht von der Torsionsdystonie abtrennen läßt. Dies 
gilt jedoch nicht für die idiopathische Form der Athetose double. Diese bildet viel- 
mehr mit der der Athetose ähnlichen Form der Torsionsdystonie, von der sie nicht 
sicher abzugrenzen ist, eine gemeinsame Krankheitsgruppe, für welche Verf. den 
Namen Hypersynkinesia idipathica vorschlägt. Diese ist der Torsionsdystonie im 
engeren Sinne, der dysbatisch-dystatischen Form, nahe verwandt. Es handelt sich 
in beiden Fällen wahrscheinlich um einen ganz ähnlichen Krankheitsprozeß mit geringer 
Abweichung der pathologisch-anatomischen Vorgänge. Kramer (Berlin). 


Vedel, V., et G. Giraud: Le syndrome mésoceéphalique de torsion spasmodique 
du membre supérieur, aecident de décérébration, séquelle tardive des encéphalites de 
Penfance. (Torsionspasmus der oberen Extremität, ein mesocephales Syndrom, Begleit- 
erscheinung der Enthirnung, Spätfolge encephalitischer Prozesse im Kindesalter.) 
Rev. neurol. Jg. 30, Nr. 4, S. 358—373. 1923. 

Auf Grund von zwei Beobachtungen halten sich die Verff. für berechtigt, ein 
neues mesencephales Syndrom aufzustellen, das durch folgende Symptome charakte- 
risiert ist: dauernde Tendenz zu spastischer Torsion des Vorderarmes um seine Achse 


— 13 — 


im Sinne der Pronation, Adduktion und Hyperextension des ganzen Armes; der Spasmus 
ist tonisch, er wird in kurzen Intervallen durch Paroxysmen heftiger Krampfschmerzen 
unterbrochen. Das Fehlen der hauptsächlichsten Pyramidensymptome und das gleich- 
zeitige Nebeneinander von hypertonischen und hypotonischen (Finger) Erscheinungen 
in dem gelähmten Glied beweisen die striäre Genese des Syndroms. Die Beobachtungen 
sind folgende: 

1. 27 jähriger Mann mit infantiler, linksseitiger, cerebraler Hemiplegie. Nach einer akuten 
Infektion von typhoidem Charakter in der gelähmten linken Seite folgende Erscheinungen: 
Extreme Beugung des Beines mit Rigidität, Neigung des Vorderarmes zu spastischer Torsion 

xım seine Achse, unterbrochen durch heftige schmerzende Krampfzustände, Extension und 
“ Adduktion des ganzen Armes; energische Beugung des Handgelenks, Deformation der im 
übrigen hypotonischen Finger wie bei Athetose. Fehlen von Pyramidensymptomen. 2. 35jäh- 
riger Mann mit rechtsseitiger infantiler Kinderlähmung. Im Alter von 35 Jahren allmähliche 
Entwicklung eines Bildes, das im ganzen dem Symptomenkomplex des ersten Falles genau 
glich. Bemerkenswert ist, daß dieser Symptomenkomplex bereits einmal im Alter von 12 Jahren 
nach einer Infektion mit Scharlachpassage vorübergehend aufgetreten war. — Keine Änderung 
nach einer dekompressiven Operation. 

Die Verff. untersuchen besonders die Beziehungen zu anderweit beobachteten 
Arten von Torsionsspasmen und zu den Symptomen, wie sie nach Enthirnung ein- 
treten. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß die wichtigsten und besonders charak- 
teristischen Einzelsymptome des von ihnen beobachteten Syndroms übereinstimmen 
mit den Syndromen von Starre und Torsionstendenz nach Enthirnung, ‚genau wie 
bei diesen handelt es sich um Erscheinungen selbständiger Betätigung mesocephaler 
Zentren, die befreit sind von der physiologischen Zügelung durch übergeordnete Zentren“. 

Schob (Dresden). 


Les lésions de la ehor&e aiguë. (Die Schädigungen bei akuter Chorea.) Journ. 
des praticiens Jg. 37, Nr. 19, S. 317—318. 1923. 

Die in den letzten Jahren häufig beobachtete heilbare akute Chorea (der „akute 
Veitstanz‘‘) hat zur Encephalitis lethargica (‚‚Hirngrippe‘‘) Beziehungen, tritt gelegent- 
lich im Verlaufe einer Encephalitis auf und ist wohl als besondere Form derselben auf- 
zufassen. Nach René Moreau (Thèse de Paris 1921) ist in bezug auf die Erscheinungs- 
weisen zwischen der akuten Chorea und der Sydenhamschen Chorea (dem ‚‚klassi- 
schen‘‘ Veitstanz auf rheumatischer Grundlage) eine Unterscheidung nicht möglich, 
nur in bezug auf die Verursachung. — Die anatomische Untersuchung des Gehirns 
an der Krankheit Verstorbener zeigt, daß die akute Chorea diffuse Schädigungen in 
verschiedenen Teilen des Gehirns aufweist, daß aber Herde im Zwischenhirn (Schwanz- 
kern, Putamen) für das Auftreten veitstanzartiger Erscheinungen obligat sind. 

E. Feuchtwanger (München). 


Condat: Forme méningée de la maladie de Heine-Medin. (Meningitische Form der 
Heine-Medinschen Krankheit.) Arch. de med. des enfants Bd. 26, Nr. 5, S. 279 bis 


285. 1923. 

Fall 1. 11jähriger Knabe, Schwester an tuberkulöser Meningitis gestorben; 3 Tage vor 
Krankheitsausbruch torticollis-artige Schmerzen, Fieber, dann Kopfschmerz, Nackenschmerz 
mit Steifigkeit, Fieberabfall. Lumbalpunktion: Liquor klar, ca. 100 Zellen, leichte Hyper- 
albuminose. WaR. negativ. Allmähliche Besserung der meningitischen Symptome, leichte 
Parese der rechtsseitigen Unterextremität. Heilung der meningitischen Symptome wie der 
Lähmungserscheinungen. — Fall 2. 8jähriger Knabe; akuter Beginn mit gastrischen Erschei- 
nungen: Erbrechen, Durchfälle, Leibschmerzen. Dann Fieber, Nackenschmerz, Kernig positiv. 
Nach 2 Tagen Besserung der meningitischen Symptome, aber Lähmung des linken Beines mit 
Herabsetzung der Reflexe. Heilung. — Fall 3. 10!/,jähriger Knabe. Beginn mit gastrischen 
Erscheinungen, Fieber, heftige Kopfschmerzen, Lichtscheu, Nackenstarre. Schwinden der 
meningitischen Symptome, aber Lähmung der rechten unteren Extremitäten, die nicht ganz 
zurückging. 

Bemerkenswert war, daß in allen 3 Fällen vor der Lähmung Schmerzen in der 
befallenen Extremität aufgetreten waren. Meningitische Veränderungen finden sich 
bei Poliomyelitis konstant; die meningitischen Symptome stellen bisweilen die ein- 


zigen Symptome dar, der Verlauf ist meist gutartig. Schob (Dresden). 
Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 8 


— 114 — 


Biesalski, K.: Der physiologische Gedanke bei der Behandlung der Kinderlähmung. 
(Oscar Helene-Heim, Berlin-Dahlem.) Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 49, Nr.43, S. 1361 
bis 1363. 1923. 

„Die Contractur“ — sagt Biesalskı — „gehört so wenig zum Wesen der Kinder- 
lähmung, wie es zum Wesen des Knochenbruches gehört, daß er mit Verkürzung heilt“ 
Man kann sie durch Behandlung verhindern. Ist sie schon eingetreten, dann ist es die 
Hauptaufgabe der Behandlung, die Physiologie der Gelenksmechanik wiederherzustellen, 
am besten mit Hilfe der Quengelmethode. Tenotomien oder Sehnenverlängerungen 
kommen nur in äußersten Fällen in Betracht. — Bei der orthopädischen Behandlung 
der Kinderlähmung muß der ganze Körper als eine statische Einheit betrachtet und - 
nicht nur das einzelne Gelenk behandelt werden. Erst wenn alle unblutigen Methoden, 
vor allem auch Elektrotherapie, erschöpft sind, kommen Operationen in Betracht. 
Bei der Arthrodese des Fußgelenks macht der Autor, wenn beide Füße gelähmt sind, 
die Arthrodese beider Sprunggelenke, dagegen, wenn nur ein Fuß gelähmt ist, nur die 
des unteren. Bei der Technik der Sehnenverpflanzung muß ebenfalls der physiologische 
Gedanke maßgebend sein, um das freie Gleiten der Muskeln und Sehnen zu ermöglichen. 

Erwin Wexberg (Wien)., 

Sollier, Paul: Onanisme et épilepsie chez de jeunes garçons et ehez des blessés du 
cerveau. (Onanie und Epilepsie bei jungen Knaben und Gehirnverletzten.) Journ. 
de méd. de Paris Jg. 42, Nr. 36, S. 736—738. 1923. 

Auf Grund von Fällen aus der Literatur (Billod, Besson, Tissod u. a.) und eigener 
Beobachtungen vertritt Verf. die ursächliche Bedeutung der Onanie für die Epilepsie sowohl 
bei jungen Knaben im Alter der Pubertät wie bei erwachsenen Gehirnverletzten; die Onanie 
sei eine nicht zu vernachlässigende Ursache der Epilepsie, an die man auch dann denken 
müsse, wenn eine ausreichende ursächliche Begründung der epileptischen Anfälle bereits 
vorliege, sie gibt oft den Schlüssel zur Diagnose und Behandlung. Verf. beruft sich auf ein 
Dutzend von Fällen mit Epilepsie bei Knaben im Alter von 12—14 Jahren, bei denen als 
einzige Ursache der Anfälle Onanie in Betracht kam, führt dies in mehreren Beispielen näher 
aus, wobei er betont, daß, während die üblichen Epilepsiemittel (Brom u. a.) vollkommen 
versagten, das über Aufklärung des Arztes erfolgte Unterbleiben der Onanie tatsächlich zum 
völligen Aufhören der Anfälle führte. Analoge Beobachtungen bei Gehirnverletzten während 
des Krieges, von denen er 2 Fälle näher schildert, bestätigten ihm die bei den Knaben ge- 
machten Erfahrungen. G. Stiefler (Linz)., 

Pisani, Domenico: Sulla masturbazione infantile. (Masturbation bei Kindern.) 
(Clin. neuropsichiatr., univ., Roma.) Policlinico, sez. prat. Jg. 30, H. 31, S. 997 
bis 998. 1923. 

Die kindliche Masturbation, wovon Verf. 2 Fälle (ein 2- und ein Sjähriges Mädchen) 
mitteilt, kommt überwiegend bei Mädchen vor, manchmal in Begleitung einer vor- 
zeitigen körperlichen Entwicklung. Die Behandlung erfordert zunächst Beseitigung 
der mannigfachen Ursachen, welche die Aufmerksamkeit der Kinder auf ihre Geschlechts- 
teile hinlenken (Reizungen durch Pflegepersonen, Unreinlichkeit, Ausschläge, Wür- 
mer usw.). Entfernung der Klitoris ist nur bei Bestehen einer geistigen Störung oder 
bei organischen Rückenmarkserkrankungen berechtigt. Bei Versagen anderer Mittel 
müssen mechanische Hindernisse zum Abschlusse des Genitales oder zur Behinderung 
der Hände herangezogen werden. Zingerle (Graz). 


Courtin, Wolfgang: Die Beziehungen der Enuresis nocturna zum Sehlaf. (Uniwv.- 
Kinderklin., Freiburg ı. Br.) Arch. f. Kinderheilk. Bd. 73, H.1, S.40-50. 1923. 

Von einer Reihe von Autoren wird eine zu große Schlaftiefe für das Auftreten 
der Enuresis verantwortlich gemacht, von anderen bestritten. Zur Klärung dieser Frage 
hat Verf. an 56 Kindern im Alter von 3—13 Jahren — 15 derselben waren Bettnässer — 
Untersuchungen über die Schlaftiefe unter Verwendung verschiedenartig abgestufter 
Reize durchgeführt. Diese haben ergeben, daß die abnorme Schlaftiefe keine ursäch- 
liche Beziehung zur Enuresis hat und daß die an dieser Neurose leidenden Kinder 
nicht nur keineswegs immer einen tiefen Schlaf besitzen, sondern prozentuell ungefähr 
ebensoviele Tiefschläfer wie Leichtschläfer stellen. Es gibt auch eine Halbschlaf- 


— 15 — 


enuresis. Eine rein suggestive Behandlung des Leidens hat an der Freiburger Kinder- 
klinik sehr gute und langdauernde Erfolge erzielt. Hinsichtlich des Kinderschlafes 
im allgemeinen hat sich bestätigen lassen, daß der Schlaf des gesunden Kindes wesent- 
lich länger und tiefer ist als der der Erwachsenen, daß der Nachmittagsschlaf den Nacht- 
schlaf insofern beeinflußt, als keine so große Schlaftiefe erreicht und das Schlafbedürf- 
nis herabgesetzt wird und daß gewisse Krankheiten, wie z. B. Herzfehler, die Schlaf- 
tiefe vermindern. Zingerle (Graz)., 

Wagner-Jauregg: Vorbeugung des Kropfes. Wien. med. Wochenschr. Jg. 73, 
Nr. 47, S. 2089—2096. 1923. 

Die allgemein verbreitete Ansicht, daß im Wasser ein kropferzeugender Faktor 
enthalten sei, hat experimentellen Untersuchungen (an der hierfür geeigneten weißen 
Ratte) nicht standgehalten. Die in Wien vielfach geäußerte Meinung, daß daselbst 
die Steigerung der Kropffrequenz mit der Zuleitung der zweiten Hochquellenwasser- 
leitung zusammenhänge, ist schon deswegen unrichtig, weil eine Zunahme der Kröpfe 
auch in anderen Städten (z. B. Budapest), wo eine Änderung des Trinkwassers nicht 
eingetreten ist, nachweisbar ist. Wenn das Trinkwasser vielleicht doch bei der Kropf- 
entstehung eine Rolle spielt, so wäre dies nur in dem Sinne möglich, daß dessen Jod- 
gehalt in Binnengegenden geringer ist als etwa am Meere, wo auch die eingeatmete 
Seeluft Jod enthält und tatsächlich das Durchschnittsgewicht der Schilddrüse kleiner 
ist als in den Städten Zentraleuropas. Die verminderte Jodzufuhr bedinge nach der 
neueren Theorie Schweizer Ärzte eine gesteigerte Tätigkeit der jodhaltigen Schild- 
drüse und damit eine kompensatorische Hypertrophie; ist die Schilddrüse durch Krank- 
heit verhindert zu hypertrophieren, so komme es zu Hyperthyreoidismus und weiterhin 
zu Kretinismus und Myxödem. DaB kleine Joddosen heilend gegen den Kropf ein- 
wirken können, ist seit Jahren bekannt und wurde in der Schweiz an Massenexperi- 
menten bewiesen. So gelang es z.B. Roux, durch Aufstellung eines Gefäßes mit Jod 
in Schulzimmern die das verdunstende Jod einatmenden Schulkinder innerhalb einiger 
Monate kropffrei zumachen. Verf. hat bereits vor vielen Jahren den Vorschlag gemacht, 
das gewöhnliche Kochsalz mit kleinen Joddosen zu versetzen und damit nicht nur eine 
Heilung beginnender Kröpfe zu erzielen, sondern auch eine Entstehung von Kröpfen 
zu verhüten. Schweizer Ärzte haben dieses Verfahren aufgegriffen und gezeigt, daß 
minimalste Dosen von Jod bereits prophylaktisch wirken können. Es wurde daselbst 
in staatlichen Salinen einem Kilogramm Kochsalz 5 mg Jodkali zugesetzt, so daß bei 
einer Tagesmenge von 10 g Kochsalz die eingeführte Jodmenge täglich 0,00005 g 
betrug. Selbst dieses Jodquantum genügt zur Kropfprophylaxe, und Verf. war daher 
bemüht, auch in Österreich ein derartiges jodiertes Kochsalz einzuführen, was ihm 
nach längeren Bemühungen gelungen ist. Die allgemeine Verwendung dieses Salzes 
in Kropfgegenden wird allgemein empfohlen, um so mehr als die Befürchtungen, 
daß damit irgendwelche schädliche Wirkungen erzielt werden könnten, unberechtigt 
sind. : Zappert (Wien). 

Eekstein, A.: Zur Frage der Kropffürsorge im Kindesalter. (Univ.-Kinderklin., 
Freiburg i. Br.) Zeitschr. f. Säuglings- u. Kleinkinderschutz Jg. 15, H. 9, S. 345 
bis 348. 1923. 

Die Kropffrage steht heute im Vordergrund des medizinischen Interesses. Trotz- 
dem ist man von einer Erkennung der kropferzeugenden Faktoren weit entfernt, da 
sowohl die Bodentheorie als die Wasserhypothese als auch die Annahme eines infek- 
tiösen Virus nicht stichhaltig sind. Sicher ist, daß der Jodgehalt der Nahrung und 
Luft von großer Bedeutung für das Entstehen von Kröpfen ist. An der See, wo die Luft 
jodhaltig ist, fehlt der Kropf, während er in den Hochgebirgsgegenden aller Binnen- 
länder recht häufig vorkommt. Bei der Diagnose des kindlichen Kropfes darf man 
nicht das Auftreten des ‚„‚Pubertätskropfes‘‘ außer acht lassen, der vor und während 
der Entwicklung bei Kindern sich oft einstellt und meist wieder von selbst verschwindet. 
Manchmal allerdings treten in diesen Wachstumskröpfen kleine Knoten stärker hervor, 


gt 


— 16 — 


die dann zum Dauerkropf führen können. Die Kropffürsorge wird vielfach mit der 
Kretinenprophylaxe identifiziert, obwohl sich dagegen, daß der Kretinismus das letzte 
Glied in der Reihe der Kropferkrankungen sei, gewichtige Einwände erheben lassen. 
Man kann durch Zusatz von Jod zum Kochsalz oder durch regelmäßige Zuweisung 
von Jodtabletten (etwa in der Schule) auf den Kropf einzuwirken versuchen. Verf. 
hat bei 50 Kindern letztere Methode angewendet und hierbei in einem Drittel gute 
Erfolge, in zwei Dritteln keine wesentlichen Veränderungen vorgefunden., Oft 
sah man Schwankungen der Halsgröße bei verschiedenen Messungen, welche leicht. 
zu Irrtümern Anlaß geben können. Ob derzeit schon der Zeitpunkt gekommen ist. 
um Kropfprophylaxe im großen zu betreiben, hält Verf. für zweifelhaft, da es immer- 
hin noch der Klarheit darüber bedarf, wieviel bei der ‚„Kropfdiathese“ der Jod- 
mangel mitwirkt. Zappert (Wien.) 

Wolter, Leo: Über Prophylaxe und Therapie des Kropfes bei taubstummen Kindern. 
Wien. med. Wochenschr. Jg. 73, Nr. 38, S. 1658—1660. 1923. 

Da nach einigen Literaturangaben Taubstummbeit in Kropfgegenden besonders 
häufig ist, versuchte der Autor die Anwendung der Kropfprophylaxe und -therapie 
nach der Klingerschen Methode bei Taubstummen in Salzburg. 11 Kinder erhielten 
durch 8 Monate wöchentlich eine Jodostarintablette. Es ergab sich Zunahme des 
Längenwachstums, vor allem bei Mädchen, und zwar erfolgte es beim Eintritt der 
warmen Jahreszeit langsamer als im Herbst und Winter, umgekehrt als bei nicht- 
behandelten Kindern. Die Gewichtszunahme blieb, wieder vor allem bei Mädchen, 
hinter der unbehandelter Kinder zurück. 8 von den 11 Kindern zeigten deutliche 
Hebung ihrer geistigen Fähigkeiten. Erwin Wezberg (Wien)., 

Chauffard: Une famille goitreuse. (Mehrfaches Auftreten von Kropf in einer 
Familie.) Journ. des praticiens Jg. 37, Nr. 32, S. 515—517. 1923. 

Großeltern noch gesund; aber ein Bruder eines Großelters und sein Sohn mit Kropf be- 
haftet. Zahlreiche Nachkommen mit Kröpfen, die einen unter Jodtherapie geheilt, die anderen 
durch Therapie nicht beeinflußt. Verf., der Anhänger der Wassertheorie, weist darauf hin, daß 
alle Mitglieder der aus dem Gebirge stammenden Familie Wasser getrunken haben, das aus 
einer nicht weit vom Haus entspringenden Quelle stammte. Schob (Dresden). 

Thyroid enlargement among school ehildren of Grand Rapids, Mich. (Schild- 
drüsenvergrößerung unter den Schulkindern von Grand Rapids, Michigan.) Public 
health reports Bd. 38, Nr. 42, S. 2411—2412. 1923. 

Unter 26 215 untersuchten Schulkindern zeigten 30%, Schilddrüsenvergrößerung 
und waren davon 32,7 Knaben, 67,3%, Mädchen. Die leichteren Fälle betrafen vor- 
wiegend die Mädchen, während die stärkeren Formen bei den Knaben vorherrschten. 
Im Alter über 10 Jahre betrug das Verhältnis zwischen Mädchen und Knaben 21/,:1, 
unter 10 Jahren weniger als 2:1. In den höheren Schulen wurde 39—60% Schild- 
drüsenvergrößerung gefunden. Gleichzeitiger Exophthalmus konnte niemals beobachtet 
werden. Zur Verhütung des Kropfes wird wöchentlich 10 mg Jodine durch 40 Wochen 
verabreicht, und zwar in Form eines Schokoladekonfektes, das durch eine pharma- 
zeutische Firma hergestellt wird. H. Zingerle (Graz). 

Freeman, Rowland G.: A study of a group of symptoms, associated with large 
thymus in infants and ehildren. (Über einige mit Thymusvergrößerung einhergehende 
Krankheitserscheinungen im Kleinkindes- und Kindesalter.) (Americ. pediatr. soc., 
French Lick Springs, Indiana, 31. V.—2. VI. 1923.) Arch. of pediatr. Bd. 40, Nr.7, 
S. 456—458. 1923. 

Überblick über die Literatur zur Thymusfrage. Als Kennzeichen der Thymusvergrößerung 
gelten Stridor, d. h. eine bestimmte Art geräuschvollen Atmens, Blauwerden, Atmungskrämpfe 
mit nachfolgender Erschöpfung oder Bewußtlosigkeit. Über den Mechanismus bzw. Chemismus 
dieser Störung ist sicheres nicht bekannt. Einspritzungsversuche mit Thymussaft hatten kein 
eindeutiges Ergebnis. Röntgenologisch kann man bei der Durchleuchtung eine Vergrößerung 
der Drüse feststellen, die mit Ein- und Ausatmen ab- und zunimmt. Doch ist sie schwer von 
anderen schattengebenden Organen der gleichen Körpergegend zu unterscheiden. \Vährend 


man früher mit zweifelhaftem Erfolg und hoher Sterblichkeit die Thymusvergrößerung operativ 
angriff, hat neuerdings Röntgenbestrahlung Besserungs- und Heilerfolge erzielt. Fürstenheim. 


— 17 — 


Giovanni, Poggio: Sopra un easo di infantilismo da ipofunzione ipofisaria e da 
stenosi mitralica congenita. (Über einen Fall von Infantilismus mit Hyperfunktion der 
Hypophyse und angeborener Mitralstenose.) (Istit. di clin. med., univ., Genova.) Giorn. 
di clin. med., Parma Jg. 4, H. 1, S. 2—13. 1923. 

18 jähriger Jüngling, Körpergröße 1,42 m, Gewicht 33,9 kg. Starke Hypoplasie des 
Penis und beiderseitiger Kryptorchismus. Vollkommenes Fehlen des Sexualgefühls. Achseln 
und Genitalgegend fast unbehaart. Trophische Störungen des Wand- und Fußskeletts. Ver- 
minderung der roten Blutkörperchen. Punktierte Erythrocyten. Mitralstenose. 

Der Fall, der ausführlich geschildert wird, wird von dem Verf. angesehen als 
Infantilismus infolge Hypophysenstörung (wahrscheinlich Adenom), verbunden mit 
sekundärem pluriglandulären Syndrom, in das einbezogen sind: die Schilddrüse, der 
Hoden und die Nebennieren, schließlich mit Zeichen einer teilweisen Unterentwick- 
lung der Eingeweide. Empfohlen wird pluriglanduläre Organotherapie und Tiefen- 
bestrahlung. V. Kafka (Hamburg)., 

Foote, John A.: Infant mortality in the first month of life. Birth injuries, con- 
genital anomalies and hemorrhage. (Kindersterblichkeit im ersten Lebensmonat. 
Geburtsverletzungen, angeborene Fehler und Schädelblutungen.) Journ. of the Americ. 
med. assoc. Bd. 81, Nr. 16, S. 1349—1352. 1923. 

Die Zusammenstellung von mehreren amerikanischen Statistiken über die Häufigkeit 
von Geburtsverletzungen, angeborenen Fehlern (Mißbildungen) und Blutungen innerhalb der 
Schädelkapsel als Todesursachen der Säuglinge im ersten Monat, kommt zu folgenden inter- 
essanten Ergebnissen: Geburtsverletzungen verursachen den Tod in 6,7—15,5%, Schädel- 
blutungen in 5,1—20,7%, Mißbildungen in 7,5% der Fälle. Von den Mißbildungen stehen 
Herzfehler (offenes Foramen ovale und Pulmonalstenose) mit ?/ aller dieser Fälle an erster 
Stelle. Verf. ist der Ansicht, daß die Diagnose: offenes Foramen ovale zu häufig gestellt 
wird. Die von Dr. Bertillon aufgestellte internationale Liste der Todesursachen paßt für 
die Sterblichkeit innerhalb des ersten Monats nicht und bedarf der Revision. Yillinger. 


Jansen, Murk: Über ‚eine Statistik der Mißbildungen in Holland. (Niederländ. 
orthop. Ges., Leiden, Süzg. v. 8. X. 1922.) Nederlandsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 67, 


1. Hälfte, Nr. 24, S. 2705—2706. 1923. (Holländisch.) 

Bei der holländischen Volkszählung am 31. XII. 1920 wurden 44 832 Krüppel gezählt, 
davon waren 6359 Kinder unter 15 Jahren (3589 5', 2770 Q), also 0,9°/% der Gesamtbevölke- 
rung (in Deutschland 1,17°/%). Dies zu niedrige Zählergebnis ist wohl darauf zurückzuführen, 
daß die Zählkarten von Laien ausgefüllt sind. In Rotterdam betrug übrigens das Verhältnis 
1,26°/., in Enschede 1,2%/,,, in Nijmwegen 1,73°/,,, in Schiedam 1,5%, in Katwijk 2,3%/,9 
in Jesselstein und Kondekerk je 3°/,, der Bevölkerung. 848 Kinder (439 c’, 409 2) hatten 
Rückgratverkrümmung, 772 (442 „', 330 9) gelähmte Beine, 360 (215 5', 149 2) O-Beine, 
304 (219 c, 85 2) Klumpfuß, 269 (144 Z', 125 2) gelähmte Arme, 230 (152 5", 78 2) Finger- 
mißbildungen, 668 (206 c, 462 2) wurden als Krüppel, 405 (209 of, 296 2) als völlig gelähmt 
bezeichnet. Verf. stellt fest, daß von den ihm in Leyden bekannten 321 Fällen an Mißbildungen 
nur 25 bei der Volkszählung aufgeführt sind, und schließt daraus, daß wohl allgemein die oben 
angegebenen Zahlen zu klein sind. Creutzfeldt (Kiel). 


Normale Pädagogik : 


© Göttler, Joseph: Gesehiehte der Pädagogik in Grundlinien für Vorlesungen. 
2. umgearb. Aufl. Berlin: Ferd. Dümmler 1923. VIII, 215 S. G. Z. 2,50 

Das Buch des Münchener Ordinarius für katholische Pädagogik hat sich mir 
schon in seiner 1. Auflage beim Gebrauch als sehr nützlich erwiesen, besonders natur- 
gemäß für die Geschichte der katholischen Pädagogik und für die eigene Perspektive 
auf bestimmte pädagogische Erscheinungen, die sich von dort aus ergibt. Daß in der 
2. Auflage die getrennte Behandlung der bayrischen Verhältnisse aufgegeben wurde, 
was wohl aus praktischen Gründen geschah, bedauere ich, ein Eigenwert des Buches 
ist damit verlorengegangen. Der Abschnitt, der uns hier vor allem interessiert, nimmt 
in einen Paragraphen S. 192—197 „Schulhygiene und Heilerziehung, Jugendfürsorge 
und Jugendpflege‘‘ zusammen. Wenn auch der Text gerade dieses Abschnittes in der 
2. Auflage erweitert wurde, so scheint doch eine grundsätzlich selbständigere Behand- 
lung dieses für die bisherige Schulpädagogik so gut wie unbekannten Gebietes wünschens- 
wert zu sein. In ihm zeigt sich ja am deutlichsten, welche ganz neue geschichtliche 


— 118 — 


‚Wendung die pädagogische Arbeit in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat, die vor 
allem von hier aus erst ihre ganze Ausdehnung und Aufgabe erkannt hat. H. Nohl. 

@ Hartmann, Berthold: Die Analyse des kindlichen Gedankenkreises als die natur- 
gemäße Grundlage des Sehulunterrichts. Ein Beitrag zur Volksschulpraxis. 7.. dureh- 
ges. u. erg. Aufl. Frankfurt a. M. u. Leipzig: Kesselringsche Hofbuchhandlung (E. v. 
Mayer) 1923. VIII, 244 S. G. 2.4. 

Das bekannte Buch von Hartmann, dessen erste Auflage bereits im Jahre 
1885 erschien, hat durch alle Stadien der modernen ‚‚Kinderforschung‘ hindurch eine 
gewisse Aktualität behalten. Durch die ausführliche Schilderung älterer Untersuchungen, 
die sonst wohl längst vergessen wären, hat es gegenwärtig sogar einen besonderen Wert, 
indem es deutlich erkennen läßt, wie sich die Fragestellungen und Verfahrungsweisen 
der psychologischen Schülerbeobachtung allmählich entwickelt und verändert haben. 
Wenn auch manches in dem Buche etwas ‚‚altmodisch‘‘ anmutet, so wird es doch zweifel- 
los auch in dieser letzten Auflage (die vorige erschien 1912) vielen Lehrern, besonders 
solchen der Anfangsklasse, wertvolle Anregungen und Fingerzeige bieten. Neu hinzu- 
gekommen ist nur ein „Nachwort letzter Hand“, in dem sich H. kurz mit einigen 
neueren Beiträgen zum Problem ‚‚Erforschung des kindlichen Gedankenkreises“ aus- 
einandersetzt. Daß sich das Buch insbesondere zur praktischen Einführung in die 
Kinderpsychologie, etwa in Seminaren und Arbeitsgemeinschaften, eignet, darf auch 
an dieser Stelle wieder hervorgehoben werden. Bobertag (Berlin). 

@ Hönniger, Erieh: Das Problem im naturkundliehen Unterrieht. (Friedrieh 
Manns pädag. Magaz. H. 945.) Langensalza: H. Beyer & Söhne 1923. 27 S. G. Z. 0,85. 

Einen ‚‚neuen Weg‘ verkündet der Verf., der sicher ‚zur Bildung des Verstandes, 
zur Pflege des Gemüts und Willens hinführen, das spekulative Interesse in kaum zu 
überbietender Weise pflegen und durch Darbietung typischer Stoffe den Schüler 
befähigen werde, neue Fragen selbständig zu lösen“. Problem ist das neue Schlag- 
wort: man soll dem Schüler keine fertigen Ergebnisse bieten, sondern Probleme, d. h. 
Aufgaben und Fragen stellen, die ihn zur Selbsttätigkeit nötigen. Zweifellos sind auch 
bisher schon viele Lehrer so verfahren, besonders zur Vertiefung des Gegebenen und 
Beobachteten, aber dieses Prinzip hat doch eine beschränkte Anwendbarkeit, man 
kann nicht die Blüte vor den Wurzeln und Blättern verlangen. Um zu überzeugen, 
daß dieser Methode die Alleinherrschaft gebührt, hätte der Verf. statt der theoretischen 
Erörterungen ein beschränktes Gebiet, etwa aus der Zoologie oder Botanik, vollständig 
in Probleme auflösen müssen. Nohl (Berlin). 

@ Rein, Wilhelm: Bildende Kunst und Sehule. Eine Studie zur Innenseite der 
Sehulreform. 3. Aufl. (Friedrich Mann’s pädagog. Magaz. H. 949. Samml. pädagog. 
Studien. Hrsg. v. W. Rein. H. 29.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1923. 
104 S. G.Z. 2,60. 

Den Hauptgegenstand des Buches, auf den in einigen einleitenden Kapiteln all- 
gemeinen Charakters vorbereitet wird, bilden die „Wege der künstlerischen Beeinflus- 
sung der Jugend“. Es werden behandelt: 1. die Umgebung des Zöglings (Schulhaus, 
Ausschmückung der Innenräume, Wandbild), 2. die Behandlung der Werke der bilden- 
den Kunst, 3. der Zeichenunterricht, 4. der Modellierunterricht. In ‚Leitsätzen‘ werden 
die wichtigsten praktischen Forderungen zusammengefaßt. Von besonderem Wert 
für den Lehrer dürften die Beigaben im ‚Anhang‘ sein: I. Material für eine Auswahl 
von Kunstwerken für eine achtklassige Bürgerschule; II. Auswahl von Kunstblättern 
u.ä. zum Wandschmuck der Klassenzimmer in höheren Lehranstalten; III. ein kurzer 
Aufsatz von P. Hübschmann über ‚Das Lichtbild im Dienste der Kunsterziehung“. 

Bobertag (Berlin). 

Krogh-Jensen, Georg: Der Unterschied im männliehen und weiblichen Entwiek- 
lungstempo und seine Bedeutung für die moderne Koedukationsfrage. Arch. f. d. ges. 
Psychol. Bd. 45, H. 1/2, S. 1—82. 1923. 

Koedukation bedeutet zweierlei: 1. Es wird damit die eigentliche Koedu- 


— 19 — 


kation oder die gemeinsame Erziehung beider Geschlechter gemeint. Diese wird 
seit jeher in den Familien aller Völker betrieben. 2. Es wird das Wort gleichbedeutend 
gebraucht mit Koinstruktion, d. h. der gemeinsamen Unterrichtung beider 
Geschlechter im Lernstoff der modernen Schule. Die Schulkoeduktion, ursprünglich 
in den europäischen und amerikanischen Landvolksschulen gebräuchlich, hat in den 
letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts von Amerika aus auch in den städti- 
schen Volks- und Mittelschulen der europäischen Länder, insbesondere der protestan- 
tischen, unter dem mächtigen Auftrieb der modernen Frauenbewegung eine große 
Ausbreitung erfahren. Die Koedukationsbewegung hat schon eine Geschichte. Über 
Erfolg und Zweckmäßigkeit sind die Beurteiler in zwei Lager geteilt; und zwar finden 
sich unter den Anhängern der Koeduktion ebenso wie unter den Gegnern nicht nur 
Theoretiker, sondern auch praktisch an den (koedukationellen) „Gesamtschulen“ 
arbeitende Pädagogen, Verfechter der Frauenbewegung u. a. Die Entscheidung über 
die Alternative: Gesamtschule oder eingeschlechtliche Schule kann nicht aus öko- 
nomischen, politisch-konfessionellen Erwägungen, noch weniger aus moralischen 
Wert- und Vorurteilen heraus kommen, sondern nur aus der Erforschung der Biologie 
des Kindes, aus dem Studium der physischen und psychischen Entwicklung beider 
Geschlechter in ihren Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten. — Der Autor zieht 
zum Vergleich des Entwicklungstempos beider Geschlechter auf körperlichem 
Gebiete die am exaktesten feststellbaren Resultate, nämlich die der anthropometrischen 
Messungen von Länge und Gewicht im Altersfortschritte der Kinder an. Hierzu dienen 
weniger die Kurven der absoluten Maße als vielmehr die der Jahresfortschritte, 
d. h. die Differenzen der Zahlen von Jahr zu Jahr. Es zeigt sich, daß beispielsweise 
die Längenfortschrittskurven zweigipfelig sind, und zwar bei beiden Geschlechtern 
konform, in den ersten Lebensjahren die größten Werte zeigen, dann abfallen bis zu 
einem „Minimum“ hin gegen Ende des ersten Lebensjahrzehntes; dann folgt der 
„Pubertätsantrieb‘‘, der die Fortschrittskurve zu einem „Maximum“ führt, die dann 
aber während der Pubertätsentwicklung selbst allmählich bis zum „Abschlußpunkt‘“, 
dem Beginn des Erwachsenseins, auf Null abfällt. Trotz der gleichen Verlaufsform 
sind die Entwicklungskurven der beiden Geschlechter im Zeitfortschritt verschieden, 
dergestalt, daß die Entwicklungskurven der Mädchen von der Geburt 
bis zum Abschlußpunkt einen rascheren Verlauf zeigen (also nicht erst 
von der Schwelle der Pubertät an!). Die physiologische ‚Frühreife‘“ der weiblichen 
Individuen vor den männlichen ist in den ersten Lebensjahren sehr gering, wächst 
stetig, beträgt (in den Breiten von Amerika und Nordeuropa) um das 9. Lebensjahr 
(„Minimum‘‘) etwa 1—2, im 12. Lebensjahr etwa 3—4 Entwicklungsjahre. Die Mädchen 
sind am ‚‚Abschlußpunkt‘ (etwa 18. Lebensjahr) den gleichaltrigen Männern, deren 
Abschlußpunkt erst um das 23.—25. Lebensjahr erreicht ist, mithin um 5—7 Ent- 
wicklungsjahre voraus. Die Pubertät dauert bei den Mädchen um 2 Jahre kürzer, 
geht daher mit größerer Intensität und größerer Schwächung der Körperkräfte (Kränk- 
lichkeit!) einher. Für die psychischen Faktoren beider Geschlechter können frei- 
lich entsprechende Entwicklungslinien nicht hergestellt werden. Doch kommt bei 
Untersuchung der verschiedenartigen Seiten des psychischen Lebens die Frühreife 
der Mädchen (oder ebenso richtig die ‚„Spätreife der Knaben‘) zum Vorschein und 
gewinnt auch bei psychologischen und pädagogischen Autoren Ausdruck (W. Stern, 
O. Lipmann, Kerschensteiner, Giese u. a.). Dies ist in geringer Weise schon 
in den ersten Schuljahren erkannbar, wird in den folgenden Jahren zunehmend deut- 
lich. Es ist somit in Hinblick auf die weibliche Frühreife ein aus dem Vergleiche der 
Leistungen von Kindern der beiden Geschlechter gewonnenes Urteil, daß ‚das weib- 
liche Geschlecht dem männlichen geistig weit überlegen“ sei (Cyrene Macdonald- 
Brooklyn) als falsch zurückzuweisen. Es muß vielmehr auf psychischem Gebiete 
der Faktor des verschiedenen Entwicklungstempos eliminiert werden, 
damit die spezifischen Geschlechtseigenschaften hervortreten; dazu ist 


— 120 — 


noch ein Vergleich mit dem Erwachsenen notwendig. Auf die besondere Bedeutung 
der Pubertät als Bildungszeit für das geistige Individuum (insbesondere als Grenze 
für die Entwicklung des ‚Abstraktionsvermögens‘ — Meu mann, Edw. Lehmann —, 
wird kurz hingewiesen. — Der Tempounterschied der Geschlechter in physischer und 
psychischer Beziehung bildet auch den Grund zur Beurteilung der praktischen Seite 
des Koedukationsproblems und erklärt je nach der Fassung des Begriffs Koedu- 
kation die zunehmenden und ablehnenden Stellungnahmen. Wird in den Gesamt- 
schulen nur Koinstruktion getrieben (wie dies in den großen Klassen der Stadt- 
schulen mit Pensumzwang der Fall ist), so steht man, da ein Abgehen von der Unter- 
richtung Gleichaltriger technisch unausführbar ist, vor der Tatsache, daß bei gleichem 
Lebensalter zwei Gruppen von Kindern verschiedenen und immer verschiedener 
werdenden biologischen Alters vorwärtsgeführt werden müssen. Die Koinstruktion 
als Unterrichtsform stellt mithin ‚eine große Inkongruenz der modernen Pädagogik“ 
dar. Der Autor geht in dieser einen Beziehung gemeinsam mit Gegnern der Gesamt- 
schulen (Compayre, Schiötz-Kristiania, Tombo-Amerika u. a.). Ganz anders ist 
es dagegen, wenn sich die Schule die eigentliche Koedukation, die Erziehung 
des Charakters und der Persönlichkeit der Schüler, zur Aufgabe macht. Darin liegt 
der Erfolg von Gymnasien mit kleinen Klassen und sorgfältig ausgesuchten Lehrkräften 
wie die Schulen von Palmgreen (Stockholm) und Hannah Adler (Kopenhagen). 
Hier kommen die Vorteile einer an die Familienerziehung angelehnten Pädagogik 
zum Ausdruck und paralysieren die biologischen Entwicklungsunterschiede im Lernfort- 
schritt. Inmoralischer Beziehung erfolgt nicht Benachteiligung sondern Förderung. 
(Die durch den biologischen Altersunterschied an sich geringe Möglichkeit frühzeitiger 
Liebschaften ist gewiß niedriger zu bewerten als die „Gefahr“ homosexueller Neigungen 
bei der polymorph-sexuellen Anlage der Pubertät in den gleichgeschlechtlichen Schulen, 
Internaten usw.!) Die sexuelle Unbefangenheit der gemeinsam Erzogenen ist von 
Nutzen. Statt der gefürchteten Geschlechtsnivellierung tritt stärkere Ausprägung 
der Geschlechtseigenschaften auf (A. Fischer), die Knaben gewöhnen sich an Mann- 
haftigkeit und Ritterlichkeit, die Mädchen werden mehr ‚‚zu guten Frauen“ erzogen. 
Die verschiedenen Anlagen der Geschlechter können in solchen Schulen berücksichtigt 
werden, dabei können sich die Geschlechter gegenseitig günstig beeinflussen dadurch, 
daß die Knaben ‚‚größere Empfänglichkeit für Gefühlseindrücke“ erhalten und daß ihr 
Lernen durch den größeren Fleiß der Mädchen zum Wetteifern angetrieben wird; 
die Mädchen ‚‚lernen von den im abstrakten Denken überlegenen Knaben, erhalten 
mehr Sinn für Natur, mehr Freiheit im Auftreten“. Die Reaktion gegen die Koeduka- 
tionsschulen, wie sie in letzter Zeit in Amerika (dem Geburtsland der Bewegung) ein- 
setzt, stammt aus dem Vorherrschen des Koinstruktionsprinzips. Der Autor tritt 
für eine Kombination der Standpunkte in großen Schulen ein: Anfänglich gemein- 
samer Unterricht, mit fortschreitendem Lebensalter der Schüler allmähliche Trennung 
der Geschlechter in den Unterrichtsfächern, niemals aber vollkommene Aufhebung 
des Kontaktes der Geschlechter. — Krogh-Jensen hat das Problem in seinem Kern- 
punkt aufgegriffen und ist mit einer in diesen Fragen nicht immer üblichen Konsequenz 
seinen Weg gegangen. Er dürfte nicht nur der praktischen Pädagogik sondern auch 
der differentiellen Psychologie der Geschlechtsunterschiede damit einen großen Dienst 
erwiesen haben. Es ist zu hoffen, daß er damit auf diesem Gebiete viele der mündlichen 
und schriftlichen Diskussionen mit weniger klarer Fragestellung hat überflüssig machen 
können. E. Feuchtwanger (München). 


© Lochner, Rudolf: Gesehlechtertrennung und Gesehleehtervereinigung im deut- 
schen Schulwesen der Vergangenheit. (Friedrich Mann’s pädagog. Magaz. H.'956. Schriften 
z. Frauenbildg. Hrsg. v. Jakob Wyehgram. H. 5.) Langensalza: Hermann Beyer 


& Söhne 1923. 45 S. G.Z. 1,40. 
Die Schrift verfolgt einen lediglich historischen Zweck: sie zeigt in knapper und über- 
sichtlicher Darstellung, welche Auffassungen hinsichtlich der „Koinstruktion‘ in den ver- 


— 1I — 


schiedenen Zeitabschnitten der deutschen Schulgeschichte geherrscht haben. Als Quellen sind 
dabei hauptsächlich die behördlichen Schulordnungen benutzt. Die Ausführungen der Theore- 
tiker bleiben außer Betracht; Folgerungen für den Aufbau des gegenwärtigen deutschen Schul- 
wesens werden nicht gezogen. Bobertag (Berlin). 
Galloway, Thomas W.: Community edueation in soeial hygiene. (Gesellschafts- 
erziehung in sozialer Hygiene.) Journ. of soc. hyg. Bd. 9, Nr. 4, S. 216—226. 1923. 
Ein tiefes nationales Gefühl dafür, daß die geschlechtliche Erziehung gegründet 
ist in einem vorbildlichen Familienleben und in einer Gesellschaft mit gesunden, kraft- 
vollen Formen, daß jede ‚Aufklärung‘ nur Interpretation solchen vorhandenen Heim- 
und Gemeinschaftslebens sein kann. So fordert diese Erziehung vor allem die Schulung 
der Eltern. Dann spezifisch englisch und bei uns immer noch zu wenig verstanden: 
die große Bedeutung der Freizeit, von Spiel und Vergnügen. „Sie erziehen unsere 
Gewohnheiten und Ideale mehr als selbst die Arbeit“ — das versteht die deutsche 
Mentalität schwer. Lord Halda ne sagte mir einmal: ‚Das Problem der sozialen Frage 
sei die Mußezeit.‘‘ In den Anstalten wie in der offenen Erziehung ist die Freizeit bei 
uns, das Spiel, das Vergnügen immer noch nicht ganz in ihrer aufbauenden Kraft er- 
kannt, nehmen wir sie noch nicht ernst genug. Aber alles höhere Leben und alle höheren 
Gefühle gewinnen wir bei einer arbeitenden Jugend von heute nur durch eine richtige 
Erfüllung ihrer MuBezeit. H. Nohl (Göttingen). 


© Troll, Max: Das vierte Schuljahr der Grundschule. Theorie und Praxis der 
Einheitssehule als Erziehungs-, Heimats- und Arbeitssehule. 3. Aufl. Langensalza: 
Hermann Beyer & Söhne. (Beyer & Mann.) VIII, 427 S. G. 2.10. 

Das Hauptbestreben des Buches ist, das vierte Schuljahr, mit dem die Grund- 
schule abschließt, nach den Ideen der Arbeits-, Heimats- und Erziehungsschule aus- 
zugestalten, und das ist dem Verf. vorzüglich gelungen. Überall wird von der unmittel- 
baren Beobachtung und von dem Erleben des Kindes ausgegangen und versucht, ‚seine 
gesamte Tätigkeit als ein produktives Schaffen aus eigenen Kräften zu gestalten“. 
Besonderes Gewicht ist auf die Heimatkunde gelegt, was für den Schmalkaldener 
Kreis bei der Mannigfaltigkeit des Geländes eine große Ausführlichkeit verlangte; 
dadurch ist aber die Darstellung besonders instruktiv geworden und wird auch da, 
wo die Verhältnisse einfacher liegen, anregend wirken. Daß das Buch in 2 Jahren 
schon in 3. Auflage erscheinen konnte, zeigt die allgemeine Anerkennung, die es in 
Fachkreisen gefunden hat. Die Kinder sind zu beneiden, die von frischen Lehrern 
in dieser Weise unterrichtet werden. Nohl (Berlin). 


© Zulliger, Hans: Aus dem unbewußten Seelenleben unserer Schuljugend. (Schriften 
zur Seelenkunde und Erziehungskunst. Hrsg. v. Oskar Pfister. H. 9.) Bern: Ernst 
Bircher 1923. 110 S. Fr. 3.80. 

Der Verf., ein Lehrer, erzählt eine Reihe von Schulerlebnissen, bei denen er sich 
bemüht hat, einem auffallenden Verhalten der Schüler oder eigentümlichen Verände- 
rungen in ihrem Wesen durch ‚kleinere pädagogische Analysen“ auf den Grund zu 
kommen und dadurch eine Besserung hervorzurufen. Er versucht zu beweisen, daß 
der Pädagoge, „der die psychoanalytischen Errungenschaften kennt, seine Zöglinge 
anders beurteilen, anders behandeln und vor allem solche erzieherischen Hilfen ver- 
meiden wird, die einen Fehler nur noch verschlimmern“. Das Büchlein verdient in 
pädagogischen Kreisen große Beachtung, wenn auch wohl mancher Erzieher mit dem 
Verf. in vielem verschiedener Ansicht sein wird, besonders in der Bedeutung, die 
dem ‚‚Unbewußten“ und den Träumen beigelegt wird. Das Wertvolle und Anregende 
des Buches besteht einmal in der Art, wie der Verf. mit seinen Schülern verkehrt, 
die freilich bei der Bedeutung, die die Erklärung sexueller Entwicklungsvorgänge in 
seiner Methode einnimmt, außerordentlichen Takt verlangt — nicht jeder kann es 
ihm nachmachen —, besonders aber darin, daß er immer wieder zeigt, daß mit der 
Bestrafung dieser oder jener Verfehlung zwar die Wiederholung im besten Fall ver- 
hindert wird, daß aber eine Änderung des Kindes, ein Forträumen der Ursache nicht 


— 12 — 
stattgefunden hat. Wir sind in der täglichen Erziehungsarbeit, trotz allen Forderungen 
moderner Erziehungsmethoden, noch viel zu sehr daran gewöhnt, durch Ge- und 
Verbote und durch Strafen die Kinder zu veranlassen sich so zu verhalten wie wir 
sie sehen wollen, ohne uns auch bei den kleinen Schwierigkeiten zu fragen, warum 
das Kind sie macht. Das Buch hat mehreren Erziehern, denen ich es gab, diese Fragen 
lebendig gemacht. Lotte Nohl (Berlin). 


Heilpädagogik und Anomalen- Fürsorge: 


Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien : 


Heller, Richard: Über die Ausgestaltung der Hilfsschulen in Salzburg. Zeitschr. 
f. Kinderschutz, Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 2, S. 28—30. 1923. 

Der Landesschularzt berichtet über die Anfänge des Hilfsschulwesens im Lande 
Salzburg und über die Einrichtung der ersten dreiklassigen Hilfsschule in der Stadt 
Salzburg. Wenn als Erfolg der Neuordnung die Rückversetzung von 5 Schülern in die 
Normalschule verzeichnet wird, sokann man bedenklich werden, ob die Aufgabe der Hilfs- 
schule klar erkannt ist und die Aufnahme sorgfältig erfolgt. Die Zahlenangaben über 
den Umfang des Hilfsschulwesens im Lande lassen sich nicht werten, weil eine Bezug- 
nahme auf Einwohnerzahl oder Zahl der übrigen Volksschuljugend fehlt. Der Bericht 
erzählt von den beobachteten Ursachen des Schwachsinns, von dem angewandten 
Intelligenzprüfungsverfahren (Simon-Bobertag) und von dem körperlichen Zu- 
stande der Schüler. Eine Zusammenstellung zeigt die Ergebnisse einer einjährigen 
Beobachtung sämtlicher Schüler einer Klasse. Dreßler (Berlin). 


Decroly: Le traitement et l’&ducation des enfants irréguliers. (Behandlung und 
Erziehung abnormer Kinder.) (III. congr. de pediatr. de langue franç., Bruxelles, 
4.—7. X. 1923.) Paris med. Jg. 13, Nr. 44, S. XXXI—XXXI. 1923. 

Das Ziel der Erziehung abnormer Kinder ist die Anpassung ans Leben. Dieses 
Ziel wird verfolgt durch eine rein ärztliche Behandlung (Hebung des körperlichen 
Gesundheitszustandes) und durch pädagogische Behandlung. Die pädagogische Be- 
handlung umfaßt die Ausbildung der Sinne, der Motilität, der Sprache, des Intellekts, 
die Beeinflussung des Affektlebens, die spezielle Berufsausbildung. Diese Erziehungs- 
gebiete sind eng untereinander verknüpft. Es wird empfohlen, Kenntnisse und Fertig- 
keiten den Kleinen spielend zu übermitteln und bei den Größeren den Erwerb mit 
praktischen Zwecken zu verbinden, um Unterricht und Übungen für die Kinder an- 
regend zu gestalten. Bei Störungen, zu deren Bekämpfung der bewußte Wille des 
Patienten notwendig ist, soll man evtl. die Pubertät abwarten. — Bei der Behandlung 
affektiver Anomalien wird das Hauptgewicht auf ein geordnetes Milieu mit regelmäßiger 
Tageseinteillung und Vermeidung von Erschütterungen gelegt. Bei intelligenten und 
ethisch höher stehenden Kindern ist Persuasion angebracht. Um eine solche Behand- 
lung durchführen zu können, wird die Einrichtung von Anstalten für geistig abnorme 
Kinder gefordert. Solche Kinder, die keine groben Erziehungsschwierigkeiten machen 
und sich für die öffentliche Schule eignen, können in der Familie bleiben. Erna Lyon. 


Fernald, Walter E.: The salvage of the backward child. (Die Versorgung des 
zurückgebliebenen Kindes.) Boston med. a. surg. journ. Bd. 189, H.5, 8.161 bis 
165. 1923. 

Der auf einem Kongreß für Hygiene des Nerven- und Geisteslebens in Boston 
gehaltene Vortrag gibt in interessanter Weise Aufschluß über die seit 1912 im Staate 
Massachusetts gemachten Fortschritte auf dem Gebiete der Fürsorge und Erziehung 
schwachsinniger Kinder. Abgesehen von der Errichtung zahlreicher Sonderschulen 
und Hilfsklassen hat das sog. ‚„Schulklinikgesetz‘‘ von 1919 bestimmt, daß alle mehr 
als um 3 Jahre zurückgebliebenen Kinder staatlich untersucht und entsprechender 
Behandlung und Schulung überwiesen werden sollen. Dementsprechend ist der Staat 
in 13 Bezirke eingeteilt, deren jeder, meist im Anschluß an schon bestehende Kranken- 


— 123 — 


anstalten, eine klinische Abteilung für schwachsinnige und abnorme Kinder einzu- 
richten hatte. Zu jeder dieser Abteilungen gehört ein Jugendpsychiater, ein Experi- 
mentalpsychologe und ein „social worker“, d. h. ein Fürsorger, der insbesondere den 
häuslichen Verhältnissen der Kinder nachzugehen und sie gegebenenfalls zu regeln 
bzw. zu überwachen hat. Auf diese Weise: gelingt es, alle hergehörigen Kinder zu 
erfassen und sowohl die Pädagogen als die Angehörigen zu beraten. Dadurch werden 
dann auch die Lehrer, die Jugendpflegerinnen und andere mit der Schule zusammen- 
arbeitende Sozialbeamte instandgesetzt, an der Überwachung des Kindes außerhalb 
der Schule in geeignetster Weise mitzuwirken. In den ersten 2 Jahren wurden über 
8000 Kinder untersucht in diesen Schulkliniken. Dasselbe Gesetz hat auch noch be- 
stimmt, daß jede Gemeinde mit mehr als 10 zurückgebliebenen Schulkindern Sonder- 
klassen einzurichten hat. Bei der Durchführung, die sehr rasch vonstatten ging, wurde 
das Problem der Speziallehrer dadurch beschleunigt gelöst, daß staatliche Musterschulen 
für Schwachsinnige als Ausbildungsstätten ins Leben gerufen wurden. Schwachsinnige 
und psychopathische jugendliche Rechtsbrecher kommen einem anderen Gesetz (von 
1911) zufolge in langjährige (oder praktisch: in lebenslängliche) Bewachungsfürsorge 
in einer besonderen Abteilung. Ein Gesetz von 1921 stellt alle „Geistesschwachen“ 
unter das staatliche „Departement der psychischen Krankheiten“, und dieses hat zu 
verfügen, ob seine Schützlinge in Anstalten zu verbleiben haben oder, unter steter 
Kontrolle, in ihrer Gemeinde leben dürfen. Ein Gesetz von 1922 gestattet, daß die 
staatlichen Erziehungsanstalten geeignete Zöglinge gegen Ehrenwort entlassen und 
bei Bruch des Worts zurückholen dürfen. Weitgehende psychiatrische Überwachung 
außerhalb der Anstalten ermöglicht es, daß eine Anzahl Kranker selbständig im Leben 
stehen können. Große Summen wurden ausgeworfen für staatliche Erforschung und 
Vorbeugung der Psychopathie und des Schwachsinns. Die Stadt Boston allein hat 
80 Sonderklassen für abnorme Kinder, alle mit späterer Weiterbeobachtung bzw. Ver- 
sorgung der Kinder. — Die Unterbringung in Anstalten darf erst nach genauem Studium 
der sozialen Verhältnisse erfolgen. Je mehr Psychopathen unter guter fachlicher und 
ständiger Beaufsichtigung ohne Anstalt auskommen, desto besser; hier gilt es aus- 
zuprobieren und zu individualisieren. Der Sachverständige muß freie Hand haben. 
Das Problem der jugendlichen Schwachsinnigen und Psychopathen ist vielfach ein 
vorwiegend wirtschaftliches; der Abnorme, der arbeitet und seinen Unterhalt verdient, 
macht selten Schwierigkeiten. Der handwerklich Ausgebildete hat bessere Lebens- 
aussichten als der Unausgebildete. Der Erfolg der Anstaltsausbildung ist, daß die 
Jungen den Wert der Arbeit schätzen, die Autorität respektieren lernen und ins Leben 
treten ohne Gefühl der Unterlegenheit und Minderwertigkeit. Selbst die ganz Schwie- 
rigen bessern sich bemerkenswert in richtig geleiteten Anstalten. Wer irgendwie eine 
Bedrohung der Gemeinschaft darstellt, ist anstaltsbedürftig und wird so behandelt. 
Die offenkundig erblich Kranken dürfen sich nicht fortpflanzen. — Seine glänzenden 
Einrichtungen für die Abnormen verdankt der Staat Massachusetts der Einsicht 
seiner Bürger, die durch die seit 12 Jahren bestehende Society for Mental Hygiene 
planmäßig aufgeklärt wurden über alle einschlägigen Probleme. Villinger (Tübingen). 

Morphy, Arthur J.: An industrial school for epilepties and feeble-minded. (Eine 
Gewerbeschule für Epileptiker und Schwachsinnige.) Public health journ. Bd. 14, 
Nr. 10, S. 435—438. 1923. 

Die Schule wurde mit 4 Knaben und 2 Mädchen eröffnet, vergrößerte sich später 
beträchtlich. Anfangs bestand die Arbeit aus Schilfkorbflechten, später aus Maschinen- 
weberei, Buchbinderei und Holzschnitzarbeit. Das Weben wirkte reizvoll und erziehe- 
risch, das Buchbinden scheint sich nur für wenige zu eignen, ebenso die Holzschnitzerei, 
doch ließen sich gerade bei letzterer interessante Beobachtungen machen. Die Schule 
sieht ihre Aufgabe in folgendem: Möglichste Entwicklung der geistigen Kräfte durch 
Theorie und Praxis, Erziehung zum Arbeitsinteresse und zur regelmäßigen Arbeit 
und möglichste Verminderung der durch die Gebrechen bedingte Minderwertigkeit. 


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Das ganze Problem läßt sich aber nur dann lösen, wenn neben diesen Schulen, die nur 
für eine bestimmte Art von Epileptikern und Schwachsinnigen in Frage kommen, 
noch die Schaffung von großen Farmen bzw. Kolonien ins Auge gefaßt wird, auf denen 
dauernde Aufnahme geboten werden kann. Reiter (Berlin-Dahlem). 


Sinnendefekte, Sprachstörungen : 


Villiger, E.: Die Sehwerhörigenschule in Basel in den ersten sechs Jahren ihres 
Bestehens (1917—1923). Schweiz. Zeitschr. f. Gesundheitspfl. Bd. 4, H. 4, S. 519 
bis 535. 1923. 

Beginn mit 2 Klassen; allmählich enstand eine ganze Schule mit 4 Klassen, wobei 
freilich noch immer je 2 Stufen (1, 2; 3, 4; 5, 6; 7, 8) vereinigt sind. Wer auf mehr als 
1 m Flüstersprache hört, bleibt in der Normalschule. Etwa 2,5°/,, aller Schulpflichtigen 
hören schlechter. Unter den Hilfsschülern sind 7,5%, (!), die eine so geringe Hörschärfe 
besitzen. (Villiger empfiehlt eigene Schwerhörigkeitsklassen für sie.) Die Schul- 
rekruten können meist erst im 2. Quartal der Schwerhörigenklasse übergeben werden, 
da ihre Feststellung, die vom Lehrer ausgeht, nicht früher möglich ist. Auch in den 
höheren Klassen ist die erste Hörprüfung Sache des Lehrers, der sie am Ende des Schul- 
Jahres durchführt und die Verdächtigen dem Schularzte überweist. Er übergibt sie 
dem Schulohrenarzte, der genau feststellt, wie die Hörschärfe ist, und den Ohrbefund 
liefert. Er ist dafür maßgebend, ob ohrenärztliche Behandlung oder Zuweisung an die 
Schwerhörigenschule bzw. beides zugleich erfolgt. Die Schüler der Schwerhörigen- 
klasse werden 2mal jährlich vom Ohrenarzte nachuntersucht. Bei entsprechender 
Besserung Rückversetzung in die Normalschule. Der Lehrplan der Schwerhörigenschule 
ist der der Normalschule plus Absehunterricht und Artikulationsübungen. Diese sind, 
wie V. sagt, mit Hörübungen verbunden, doch dünkt dem Ref., daß die Hörübungen 
hier nicht genügend zu ihrem Rechte kommen! Die Zuweisung der Kinder in die 
Schwerhörigenklasse ist durch kein Gesetz erzwingbar, sondern von der Einwilligung 
der Eltern abhängig. Fröschels (Wien). 


Wotzilka, Gustav: Eine neue Art von Hörprüfung bei hochgradiger Schwer- 
hörigkeit und Taubstummheit. Bemerkungen zu der unter diesem Titel in der Österr. 
otologischen Gesellschaft am 25. Juni 1923 erfolgten vorläufigen Mitteilung des Herrn 
Dozenten Dr. Fröschels. Monatsschr. f.*Ohrenheilk. u. Laryngo-Rhinol. Jg. 57, H. 10, 
S. 880—882. 1923. 

Fröschels hat in einer vorläufigen Mitteilung eine neue Art der Hörprüfung 
stummer Kinder beschrieben, welche darin besteht, daß die Töne der Urbantschit- 
schen Harmonika mittels eines Hörschlauches direkt ins Ohr geleitet werden. Die unter- 
suchten Kinder, von denen viele als taub galten und keinen Lidreflex (Belinoff) . 
zeigten, reagierten bei zahlreichen Tönen mit starken Verziehungen des Gesichts, 
Ausweichen des Kopfes, ja einige mit Körperschwanken! Fröschels vermutete, daß 
diese Reflexe für Hören der Töne sprechen könnten. Wotzilka behauptet, auf diese 
Weise sei es unmöglich, Hören festzustellen, da auch das bloße Vibrationsgefühl genüge, 
um solche Reflexe auszulösen. (Fröschels aber hat gezeigt, daß manche der Unter- 
suchten gerade bei einzelnen Tönen keinen Reflex aufwiesen; das dürfte für seine 
Meinung sprechen. [Anm. d. Ref.]) Fröschels (Wien). 


Braucekmann: Das Wesen des Absehens. (3. Jahresvers. dtsch. Hals-, Nasen- u. 
Ohrenärzte, Kissingen, Sitzg. v. 17.—19. V. 1923.) Zeitschr. f. Hals-, Nasen- u. Ohren- 
heilk. Bd. 6, S. 152—156 u. 167—168. 1923. 

Brauckmann spricht sich gegen die übliche Ablesemethode aus, welche hoch- 
gradig Schwerhörigen und Taubsten beigebracht wird; er spricht von einer neuen 
Methode, die er aber nicht beschreibt, sondern nur psychologisch begründet. Der Ref. 
glaubt erschließen zu dürfen, daß es sich um das stille Mitreden des Patienten, ent- 
sprechend den gesehenen Bewegungen des Ansatzrohres des Sprechers, handelt. In 


— 125 — 


der Debatte weisen Nadoleczny und Alexander mit Recht auf die Notwendigkeit 
der Berücksichtigung der Sinnestypen hin (dürfte doch das Mitbewegen des Mundes 
steh nur für den kinästhetischen Sinnestypus empfehlen. Ref... Alexander tritt 
gegen die Ablehnung der Hörübungen durch den Vortr. ein und Stern warnt 
überhaupt davor, trotz der bisher erreichten guten Erfolge eine neue Methode ohne 
weiteres anzunehmen. Emil Fröschels (Wien). 


Benesi: Über Rhythmus bei taubstummen Kindern. (3. Jahresvers. dtsch. Hals-, 
Nasen- u. Ohrenärzte, Kissingen, Sitzg. v. 17.—19. V. 1923.) Zeitschr. f. Hals-, Nasen- 
u. Ohrenheilk. Bd. 6, S. 165—168. 1923. 

Rhythmisches Aufleuchten einer elektrischen Lampe und graphische Registrierung 
dieses (beliebig veränderlichen) Rhythmus; auf dasselbe Kymographion wird der 
Rhythmus aufgeschrieben, in welchem die Versuchsperson den gesehenen (Aufleuchten 
der Lampe) mittelst Schlusses eines elektrischen Kontaktes nachahmt. Normale 
Kinder treffen den gewünschten Rhythmus wesentlich besser als solche mit gestörter 
Labyrinthfunktion (Taubstumme). Benesi schreibt dieser Funktion eine wichtige 
Rolle für Rhythmusgefühl zu. In der Debatte empfiehlt Nadoleczny motorische 
statt optischer Reize, weil der Rhythmus mit motorischen Vorgängen zusammenhängt. 
Leidler weist auf die Notwendigkeit vorheriger Intelligenzprüfung hin. Benesi 
erwidert, er sei mit ähnlichen Untersuchungen mit motorischen Reizen beschäftigt. 
Die bisher geprüften Kinder waren laut Schulerfolgen einwandfrei intelligent. 

Emil Fröschels (Wien). 

Brunner und Frühwald: Untersuehungen über die Vokalbildung bei taubstummen 
Kindern. (3. Jahresvers. dtsch. Hals-, Nasen- u. Ohrenärzte, Kissingen, Sitzg. v. 17. bis 
19. V. 1923.) Zeitschr. f. Hals-, Nasen- u. Ohrenheilk. Bd. 6, S. 156—164 u. 167 
bis 168. 1923. 

Röntgenologische Untersuchungen der Form des Ansatzrohres Taubstummer 
während der Aussprache von Vokalen nach der Methode von Haudek - Fröschels. 
Der Vergleich mit den von diesen Autoren an Normalen gefundenen Resultaten ergibt, 
daß die Laute, welche mit Extremstellungen (Grützner) der Lippen oder der Zunge 
gesprochen werden, nämlich einerseits A und U, andererseits A und I richtig, 
die zwischen diesen „Extremen“ liegenden, nämlich O bzw. Ä und E unrichtig 
gesprochen wurden. Ö und Ü waren manchmal richtig, manchmal unrichtig. So 
empfehlenswert die röntgenologische Überprüfung der Lautbildung Taubstummer 
auch ist, nach Vergleich mit den Bildern von Haudek - Fröschels allein ist die Dia- 
gnose richtig oder falsch deswegen nicht einwandfrei, weil diese Bilder nur von einer 
Untersuchungsperson stammen und bekanntlich für die Lautbildung eine gewisse 
physiologische Breite gegeben ist. Emil Fröschels (Wien). 


Sehär, Alfred: Über den Tastsinn und seine Beziehungen zur Lautsprache. Vox 
Jg. 31, H. 1/2, S. 33—41. 1922. 

Das Tastgefühl Taubstummer ist feiner als das Normaler. Mittelst des Tastge- 
fühles bemühte man sich, Wohlklang, Modulation und Rhythmus der Sprache Taub- 
stummer zu verbessern (H. Gutzmann, Lindner, Feldt). Eine Arbeitsgemein- 
schaft Hamburger Taubstummenlehrer nahm folgende Versuche vor: Durch einen 
durch mehrere Zimmer führenden Gummischlauch drang, was im ersten Zimmer 
in den Schlauch gesprochen wurde, zum normalsinnigen Beobachter in das letzte 
Zimmer. Dieser versuchte durch bloßes Tasten festzustellen, ob der Laut stimmhaft 
oder stimmlos war. Diese Differentialdiagnose gelang selbst bei mäßiger Tonstärke. 
Jedoch war es selbst nach Übung unmöglich, den Laut selbst festzustellen; unsicher 
waren die Angaben über die Tenhöhe. Bei Lautkombinationen konnten die Elemente, 
die an isolierten Lauten auch erkannt wurden, nämlich Höhe und Lautstärke nicht 
mehr festgestellt werden. Nur die Dauer der Stimmhaftigkeit wurde noch ertastet. 

Emil Fröschels (Wien). 


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Carrie, W.: Stotternde Sehulkinder. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schul- 
gesundheitspfl. Jg. 86, Nr. 7, S. 214—219. 1923. 

Verf., seit Jahren als Sprachheillehrer im Hauptamt tätig, führt die unbefriedigen- 
den Ergebnisse der seitens der Schulverwaltungen in den meisten Städten eingerich- 
teten Heilkurse für stotternde Schüler auf die dabei angewendete ungeeignete didak- 
tische Therapie zurück, die sich meist darauf beschränkt habe, ‚das Stotterübel dort 
zu bekämpfen, wo es an den peripheren Stellen in die Erscheinung tritt, nicht aber 
da, wo es seinen eigentlichen Sitz hat, nämlich im Zentrum und den davon ausgehenden 
Bahnen“. Vor allem wird die Notwendigkeit einer schonenden psychischen Behandlung 
betont. Verf. berichtet kurz über eine Übungsmethodik, auf die im einzelnen hier 
nicht eingegangen werden kann; im wesentlichen besteht sie darin, daß er zunächst 
„bei möglichst lockerer Haltung der Sprachmuskulatur langsam, leise und tief mit 
gedehnten Vokalen sprechen läßt“. „Verhütung und Frühbehandlung sind die wirk- 
samsten .Mittel zur Bekämpfung des Stotterleidens“‘; der Deutsche Fröbel-Verband 
hat beschlossen, die Sprachheilkunde in den Ausbildungsplan der Kindergärtnerinnen 
aufzunehmen. Auf Grund eigener günstiger Erfahrungen tritt Verf. für die Vereinigung 
der schulpflichtigen sprachkranken Lernanfänger, der Stotterer sowie auch der hoch- 
gradigen Stammler, in Sonderklassen von nicht mehr als 20 Schülern ein, mit dem 
Lehrplan der Normalschule; ‚viele von diesen Schülern werden nach Ablauf des ersten 
Schuljahres diese Sonderklassen als geheilt verlassen können“, so daß schon für das 
zweite Schuljahr die Zahl dieser Sonderklassen sich bedeutend verringern wird. 

K. Berliner (Breslau). 


Tompkins, Ernest: Supplemental notes on the stammering problem. (Bemer- 
kungen zum Problem des Stotterns.) Journ. of abnorm. psychol. a. soc. psychol. 
Bd. 17, Nr. 2, S. 132—138. 1923. 

Gefühle der Minderwertigkeit und introvertierte Einstellung ist nicht Ursache 
sondern Folge des Stotterns. Jemand wird dadurch zum Stotterer, daß ihm im Anschluß 
an irgendein auslösendes Moment fließendes Sprechen mißlingt. Er kann nur geheilt 
werden, wenn er jede bewußte Anstrengung beim Sprechen unterläßt. Er soll in einer 
ihm zusagenden Umgebung von früh bis abend, oder wenigstens soviel als möglich, 
reden, ohne daß man ihn unterbricht oder ungeduldig wird. Dadurch gewinnt er an 
Sicherheit und wird geheilt. Campbell (Dresden). 


Aikins, Herbert Austin: Casting out a „stuttering devil“. (Hinauswurf eines 
„Stotterteufels‘“.) Journ. of abnorm. psychol. Bd. 18, Nr. 2, S. 137—152. 1923. 

Eine zahme Psychoanalyse eines 14jährigen ‚‚Stotterers“, welcher ohne Hypnose 
in bequemer Lage mit (meist) geschlossenen Augen seine Einfälle erzählt. Er erinnert 
sich, mit 5 Jahren von einem wütenden Hunde verfolgt worden zu sein, den der Vater 
endlich erschlug. Scheinbar führt er sein Sprachleiden auf diesen Schreck zurück. 
Er sieht in seinen Träumen sowohl als auch in den ‚‚Halbwachträumen‘“ bei seinem 
Therapeuten oft den Teufel, erinnert sich auch, daß seine Schwester ihm — nach 
Demosthenes Methode — Steinchen in den Mund gab, von denen er einen schluckte. 
Dieser Stein taucht immer wieder in Zusammenhang mit dem Hunde und dem Teufel 
in seinen phantastischen Einfällen auf. Allmählich erkennt er, daß der Teufel nichts 
anderes ist als ein Symbol des Hundes. Je öfter er von beiden zu dem Therapeuten 
spricht, um so deutlicher erkennt er, daß der Hund tot ist und der Teufel nicht existiert, 
zumal der Therapeut diese Erkenntnis mit geschickten Fragen fördert. Besserung 
nach 4 Sitzungen und allmähliche Zunahme der Besserung auf Grund der Einsicht, 
daß die nunmehr ihrer Schreckhaftigkeit beraubten Spukgestalten bzw. das Erlebnis 
mit dem Hunde seine Sprachstörung verursacht hatten. So schön der Erfolg ist, so 
wenig ist hier wie bei anderen Psychoanalysen der Beweis geglückt, daß die ‚‚abreagier- 
ten Komplexe“ wirklich Ursachen des Leidens waren. Denn der Glaube daran kann 
genügen, um — suggestiv! — günstig zu wirken. Fröschels (Wien). 


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Seripture, E. W.: The treatment of the stuttering. (Die Behandlung des Stotterns.) 
Lancet Bd. 204, Nr. 15, S. 749—750. 1923. 

Die Gutzmann-Kußmaul-Theorie von zentralen Läsionen als Ursache des 
Stotterns wird abgelehnt. Leider begnügt sich der Autor mit der Besprechung dieses 
geringen und alten Teiles der Literatur. Das Modernere erwähnt er nicht. Nach seiner 
Meinung ist das Stottern aus unbewußten Quellen zu erklären. Sein Sitz ist der Geist. 
Ein Weg zur Heilung führt über den Nachweis, daß der Stotterer immer (?), auch wenn 
er nicht stottert, mit abnormem Tonfall spricht, worauf man ihn überzeugt, daß er 
auch auf andere abnorme Art, etwa im Dialekt, gut sprechen kann. Endlich beweist 
man ihm, daß er auch mit richtigem Tonfall ohne Stottern zu reden fähig ist. Psycho- 
analyse ist überflüssig; eine leichte Besprechung den alltäglichen Verhältnisse ist oft 
notwendig. Sport und Atemübungen sind geeignet, das Selbstvertrauen zu kräftigen. 
Adrenalin in Kombination mit Thyreoidin und Pituitrin unterstützen die Behandlung. 
In Heilanstalten, denen selbstverständlich ein Arzt vorstehen muß, kann nur indi- 
viduelle Therapie Nutzen bringen. Fröschels (Wien). 


Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung: 
Allgemeines: 

@ Grotjahn, Alfred: Soziale Pathologie. Versuch einer Lehre von den sozialen 
Beziehungen der Krankheiten als Grundlage der sozialen Hygiene. Mit Beiträgen von 
C. Hamburger, R. Lewinsohn, A. Peyser, W. Salomon und G. Wolff. 3. neubearb. Aufl. 
Berlin: Julius Springer 1923. VIII, 536 S. G.-M. 18.50/$ 4.50. 

Das Erscheinen des Grotjahnschen Buches in 3. Auflage beweist die weite An- 
erkennung, die ihm zuteil wurde; es hat sie wesentlich der außerordentlichen Klar- 
heit und Sachlichkeit der Darstellung zu verdanken, die an jeder Stelle hervortritt 
und auch für den Fachkundigen anregend bleibt. Die tiefinnerlich soziale Einstellung 
des Verf.s läßt ihn in allen behandelten Fragen den Kern der Sache erfassen, soziale 
Schädigungen aufdecken, Mängel der Gesetzgebung feststellen, Mißbräuche unserer 
Kultur mit überlegener Ironie geißeln; so wenn er etwa das Mode gewordene Herum- 
ziehen in Sanatorien mit dem Vagabundentum in Parallele stellt. Es ist klar, daß bei 
dem weiten Umfang des behandelten Gebietes nicht alle Teile von einem Autor mit 
gleicher Vertiefung und Sachkenntnis behandelt werden können; und da sind es gerade 
die Nerven- und Geisteskrankheiten, deren Darstellung nicht dem heutigen Stande 
der Forschung entspricht. Manches ist hier mißverständlich, unvollständig, unrichtig 
gegeben. Dies ist um so auffälliger, als Grotjahn die sozialpathologische Bedeutung 
der Nerven- und Geisteskrankheiten durchaus gebührend einschätzt. Bemerkenswert 
bleibt jedenfalls, daß trotz unzureichender Detailkenntnis der Autor doch auch 
hier in der allgemeinen Darstellung das Wesentliche herausarbeitet und die sozialen 
Fragen in anregender Weise zu behandeln versteht. Der Leser dieser Zeitschrift wird 
stark eine eingehende Bearbeitung der Verwahrlosung und der mit der Jugendfürsorge 
zusammenhängenden Fragen vermissen. G. selbst hat aber schon in dieser Auflage 
den Weg gewiesen, auf dem hier Abhilfe geschaffen werden muß, indem er für einzelne 
Gebiete Hilfsarbeiter wählte, von denen wir namentlich Salomon eine treffliche 
Bearbeitung der Säuglings- und Kinderkrankheiten verdanken. Zu den wertvollsten 
Produkten des Buches gehört die am Ende gebrachte soziale Wertung der Krankheits- 
gruppen und die Ausführungen über ihre soziale Bedingtheit. Im Hinblick auf letztere 
unterzieht G. Wohnungsweise, Arbeitsverhältnisse, Ernährung einer kritischen Be- 
trachtung, die der gegenwärtigen Zeitlage in jeder Weise Rechnung trägt. Bedeutsam 
für unsere heutige Forschungsrichtung ist der Hinweis, daß ererbte Anlage den Ein- 
fluß der natürlichen und sozialen Umwelt an Wirksamkeit übertrifft. In der Er- 
kenntnis, daß gerade jene Krankheiten, welche die Menschen in ihren gesellschaft- 
lichen Beziehungen stark beeinflussen, nicht auf Wirkungen der Umwelt, sondern 
auf soziale Ursachen zurückzuführen sind, hat die soziale Pathologie ein lebhaftes 


— 128 — 


Interesse an der Erforschung der endogenen Krankheitsursachen. Um den Inten- 
tionen des Buches zu entsprechen, müssen wir noch besonders auf 2 vom Verf. ein- 
gehend entwickelte Probleme hinweisen. Die Betrachtung verschiedener Krank- 
heiten, die zu einem seelischen oder körperlichen Defekt führen, legt dem sozial Denken- 
den die Frage nahe, wie die Gesellschaft vor mittelbaren Übeln, welche von derartigen 
Individuen ausgehen (Ansteckung, materielle Schädigung) bewahrt werden könne, 
aber auch, wie eine indirekte Schädigung durch die erblich belastete Nachkommen- 
schaft vermieden werden soll. G. denkt an eine weitgehende Asylierung und man 
kann ihm darin nur zustimmen, daß auf diese Weise der sozial bedeutsame Zweck 
am besten erreicht werden kann, und daß sich auch unschwer Formen finden lassen, 
unter welchen den von dieser Maßnahme Betroffenen ein angenehmes Dasein zu bieten 
ist. Aber ist schon, wie wir kürzlich bei Besprechung des Verwahrungsparagraphen 
sahen, die gesetzliche Festlegung außerordentlich schwierig, so muß ein derartiges 
Unternehmen heute einfach an unserer finanziellen Lähmung scheitern. Da aber 
der tatsächliche Aufwand, der sich eben nur auf verschiedene Stellen verteilt, weitaus 
größer ist als die Kosten, welche eine rationelle Asylierung beanspruchen würde, so 
haben wir in ihr doch ein Ziel zu erkennen, das wir mit allen Mitteln anzustreben haben. 
Das eben dargestellte Problem, welches auch eine Reinigung der Gesellschaft von 
ungeeignetem Nachwuchs bezweckt, berührt sich mit der zweiten von G. angelegentlich 
und konsequent vertretenen Forderung einer quantitativen Rationalisierung der 
menschlichen Fortpflanzung. Die Erfüllung dieser Pflichten und Aufgaben, welche 
auf den nötigen Geburtenüberschuß abzielen, setzt allerdings eine Einsicht, ein National- 
gefühl und eine Schätzung idealer Werte voraus, die gerade im heutigen Deutschland 
nicht allenthalben zutage treten. Allein wir stehen damit vor einer Existenz- und 
Schicksalsfrage des deutschen Volkes und G.s Vorschläge, welche sich auf eine umfassende 
Kenntnis der Tatsachen und nüchterne Erwägung der Möglichkeiten gründen, haben ent- 
schiedenen Anspruch auf allgemeine Anerkennung. Gregor (Flehingen i. Baden). 

Steiger, Emma: Stellung und Aufgaben der Wohlfahrtspflege. Schweiz. Zeitschr. 
f. Gesundheitspfl. Bd. 3, H. 3, S. 411—429. 1923. 

Verf. setzt sich mit dem Begriff und den Aufgaben der Wohlfahrtspflege in ihren 
Beziehungen und im Vergleich mit den ihr verwandten Begriffen der Wohlfahrts- 
und Sozialpolitik auseinander. Unter Hinweis auf die einschlägige Literatur definiert 
sie die Wohlfahrtspflege als ‚planmäßige Förderung der Wohlfahrt der Bevölkerung 
oder einzelner Bevölkerungsteile in bezug auf diejenigen Bedürfnisse, welche diese 
nicht selbst auf dem Wege der Wirtschaft befriedigen können und für die auch nicht 
deren Familien oder der Staat durch allgemeine öffentliche Leistung sorgt“. Unter 
besonderer Berücksichtigung der Schweizerischen Verhältnisse werden die Gebiete 
„menschlicher Wohlfahrt“ besprochen, die nicht durch das Wirtschaftsleben geregelt 
werden und in denen weder die Familie noch ein öffentlicher Verband eintritt. Diese 
Gebiete fallen der Wahlfahrtspflege zu. Berufsberatung, Stipendiengewährung, Arbeits- 
vermittlung werden — als wichtige Zweige des Wirtschaftslebens — in der Schweiz 
zunehmend als öffentliche Aufgaben erkannt und durchgeführt. Die Wohlfahrtspflege 
hat ergänzend einzutreten. In stärkerem Maße greift sie auf dem Gebiete der Wohl- 
fahrt kinderreicher Familien ein durch Speisung und Bekleidung oder fürsorgerische 
Betreuung im Wege der öffentlichen oder privaten Armenpflege. Die Schäden un- 
zureichenden Verdienstes, die durch Arbeits ma ngel, Unselbständigkeit,Krank- 
heit usw. der Erwerbenden entstehen, werden teils durch das Versicherungswesen, 
teils durch gesetzlich festgelegte Verpflichtungen der Arbeitgeber (bei kürzerer Er- 
werbsbehinderung) ausgeglichen. Hervorzuheben ist die Versorgung von Kindern und 
erwachsenen Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen durch Familienangehörige 
und Freunde. Wo derartige Hilfsquellen nicht vorhanden sind, hat die Wohlfahrts- 
pflege einzugreifen. Bei den Einrichtungen der Erwerbslosenfürsorge handelt es sich 
teils um öffentliche Erwerbslosenunterstützung, die den Mitgliedern der Arbeitslosen- 


— 129 — 


kasse ohne Rücksicht auf die Einzelbedürftigkeit gezahlt wird, teils um Wohlfahrts- 
pflege; hier wird die Erwerbslosenunterstützung nur dem unverschuldet Erwerbs- 
losen gezahlt, der ohne sie in Not geraten würde. Für Greise wird eine zwangsweise 
Altersversicherung gefordert zur Entlastung der Wohlfahrtspflege. Für solche, die 
infolge geistiger oder körperlicher Anomalien kein geregeltes Arbeitsleben führen, 
wird die persönliche Fürsorge der Wohlfahrtspflege gefordert. Auf dem Gebiet der 
Gesundheitsfürsorge wird in Ergänzung der bestehenden Einrichtungen gefordert, 
Kinder- und Schüler-Krankenversicherung zu einer öffentlichen Pflichtleistung zu 
machen. Die Aufgaben der Wohlfahrtspflege werden in der Aufklärung zu gesunder 
Lebensführung des einzelnen gesehen. Erziehung und Bildung sollen möglichst 
weitgehend der Familie überlassen und nur, soweit notwendig, durch Einrichtungen der 
Schule und Jugendpflege ergänzt werden. Die Wohlfahrtspflege soll für geistig und körper- 
lich anomale Kinder und Jugendliche sowie für normale Jugendliche, die in abnormen 
Verhältnissen leben, ergänzend oder ersetzend eintreten. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Asehenheim: Einheitliche Familienfürsorge. Zeitschr. f. Säuglings- u. Klein- 
kinderschutz Jg. 15, H. 4, S. 144—147. 1923. 

In Remscheid, wo Verf. als Stadtmedizinalrat wirkt, ist einheitliche Familien- 
fürsorge eingeführt. Die Fürsorgerinnen betreiben demnach nicht nur die gesamte 
Gesundheitsfürsorge, sondern auch die soziale Familienfürsorge. Sie stehen also nicht 
nur den Stadtärzten zur Verfügung, denen sie in allen medizinischen Dingen unter- 
geordnet sind, sondern auch anderen Abteilungen des Wohlfahrtsamtes. Die Möglich- 
keit daraus entstehender Reibungen gibt Verf. zu; doch haben sich in Remscheid 
Schwierigkeiten bisher nicht ergeben. Wie die Fürsorgerinnenarbeit im einzelnen 
organisiert ist, wird leider nicht berichtet. Tugendreich (Berlin). 

Maßnahmen zur Unterstützung kinderreieher Familien in Frankreich. Zeitschr. 
f. Kindersch., Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 9, S. 163. 1923. 

Die Zeitschrift für Kinderforschung, Familien- und Berufsfürsorge vom September 
1923 bringt interessante Mitteilungen über die Fürsorge für bedürftige kinderreiche 
Familien in Frankreich. Solche Familien erhalten sowohl öffentliche als private Unter- 
stützungen, für die erhebliche Stiftungen zur Verfügung stehen. Ohne Rücksicht 
auf die Bedürftigkeit erhalten in 39 Departements Familien von jedem 3. Kind ab 
Prämien, die evtl. durch ‚„‚Vorsorgeprämien‘“ (Alters-, Lebens- oder Aussteuerversiche- 
rung) erhöht werden können. Staatsbedienstete erhalten; mit steigender Kinderzahl 
progressive Gehaltszuschläge. In bestimmten Verwaltungszweigen werden beamtete 
kinderreiche Familienväter im Dienstalter vordatiert. Auch Altersrenten der Staats- 
pensionäre werden bei kinderreichen Familien mit mehr als 4 Kindern gestaffelt. 
Es soll ein allgemeines Versicherungsgesetz für die sonstigen Gehaltsempfänger ge- 
plant sein, welches für jede Geburt Beiträge, ärztliche Hilfe vorsieht. Endlich ist 
noch die Möglichkeit gegeben, zugunsten kinderreicher Familien die Miete bedeutend 
herabzusetzen (leider gibt der kurze Auszug nicht an, wer den dadurch ausfallenden 
Betrag deckt). Käthe Mende (Berlin). 

Aubrun: La protection de la maternité en France. Les améliorations qu’elle 
eomporte. (Der Mutterschutz in Frankreich und seine Vorteile.) Ann. d’hyg. publ., 
industr. et soc. Bd. 1, Nr.9, S. 541—546. 1923. 

Zur Hebung der Bevölkerungszahl kommt neben der Steigerung der Geburtsziffer 
Verringerung der Kindersterblichkeit in Betracht. Der Sorge um die Kinder ist an 
die Seite zu stellen die Sorge um die Frau, insbesondere um die Mutter. Die früheren 
Bestrebungen auf diesem Gebiet waren in Frankreich durchaus unvollkommen und 
erst 1913 wurden wesentliche Fortschritte erzielt, die den staatlichen Schutz von 
Schwangerschaft und Geburt zur Folge hatten. Auf dem Kongreß zu Washington 
1919 wurde eine Ausdehnung der Schutzfrist auf 6 Wochen vor und nach der Geburt 
gefordert. Ein weiteres Einbegreifen der Stillzeit mit gleichzeitiger voller finanzieller 
Sicherung erscheint aber dringend wünschenswert. Eine besondere Hilfe muß den 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 9. 


— 130 — 


ledigen und verlassenen Müttern gesichert werden, wozu die Schaffung von Asylen, 
die über das ganze Land verstreut liegen müßten, und die Einrichtung einer Mutter- 
schaftsversicherung beitragen könnten. Reiter (Berlin-Dahlem). 

Thiele: Die Jugendlichen unserer Tage. Soz. Praxis Jg. 32, Nr. 33, S. 755 bis 
157. 1923. 

Ausgehend von der Behauptung eines Reichstagsabgeordneten, ‚mancher Jugend- 
liche geht zum Arzt — nicht, weil er zuviel, sondern weil er zu wenig gearbeitet hat“, 
wird dargelegt, von welch außerordentlicher Bedeutung die Berufsarbeit in ihrer 
Einwirkung auf die körperliche und seelische Entwicklung in der Reifezeit ist. Unsere 
Jugendlichen, die in diesem Alter an sich schon leicht Schädigungen ausgesetzt sind, 
erweisen sich unter dem Einfluß der in der Kriegszeit und noch mehr der Nachkriegs- 
zeit allgemein verbreiteten Unterernährung, der Wohnungsnot und des allgemeinen 
Elends nur noch in viel geringerem Maße berufsfähig und berufstüchtig. Aus den 
Schularztberichten der letzten Jahre ergibt sich, daß eine große Zahl unserer Jugend- 
lichen durchschnittlich kleiner und mindergewichtig sind als die gleichalterigen vor 
1914. Dazu kommt, daß den Jugendlichen unter dem Druck der wirtschaftlichen 
Not in immer steigenderem Maße versagt ist, einen Beruf wirklich richtig zu lernen. 
Sie sind gezwungen oder werden von ihren Eltern gezwungen, möglichst schnell etwas 
zu verdienen. Leider werde diese Entwicklung noch dadurch gefördert, daß die ver- 
hältnismäßig viel zu hohen tarifmäßigen Entlohnungen der jugendlichen ungelernten 
Arbeiter jeglichen Drang nach besonderer beruflicher Ausbildung hemmen. 

Richard Liebenberg (Berlin). 

Christian: Gedanken zu einem Reiehswohlfahrtsgesetz. Soz. Praxis Jg. 32, Nr. 34, 
S. 771—777. 1923. 

Der im August 1923 erschienene, auch heute noch aktuelle Aufsatz erörtert die 
Wege zu einem Reichswohlfahrtsgesetz. Der erste Weg ist die einheitliche gesetzliche 
Regelung des Gesamtstoffes der Wohlfahrtspflege. Diesen Weg hält der Verf. bei 
dem unfertigen Zustande des gegenwärtigen Wohlfahrtswesens für noch nicht gang- 
bar. Der zweite Weg ist die Schaffung von Krystallisationspunkten der Wohlfahrts- 
pflege durch Festlegung von Leistungen und Ausführungsorganen auf einem Teil- 
gebiet. Dieser Weg, den Sachsen in seinem Wohlfahrtsgesetz vom 30. Mai 1918 durch 
Herausgreifen dreier Aufgaben der sozialhygienischen Fürsorge (Tuberkulosebekämp- 
fung, gesundheitliche Kinderfürsorge, Wohnungspflege) mit Erfolg beschritten hat, 
erscheint dem Verf. für die Reichsgesetzgebung bei der Vielgestaltigkeit des Vorhan- 
denen als zu schwierig. Er empfiehlt daher den dritten Weg, Regelung der Organisation 
der bestehenden Wohlfahrtspflege durch ein kurzes Rahmengesetz, das die Errichtung 
von Wohlfahrtsämtern bei den unteren Verwaltungsbehörden mit wesentlich organi- 
satorischen Aufgaben vorschreibt, einen Oberbau von Landeswohlfahrtsämtern vor- 
sieht und die Kostenfrage regelt. Francke (Berlin). 

Moore, Edna L.: Venereal disease eontrol in Ontario. (Kontrolle der Geschlechts- 
kranken in Ontario.) Public health journ. Bd. 14, Nr. 2, S. 74—75. 1923. 

Die Gemeindeschwester berichtet über die großzügigen und umfassenden Maß- 
nahmen, welche in der Provinz Ontario (Brit. Kanada) zur Bekämpfung der Ge- 
schlechtskrankheiten getroffen sind. Abgesehen von einer großen Summe Geldes, 
die jährlich zur Verfügung steht, sind an mehreren Orten des Landes Kliniken für 
Geschlechtskrankheiten errichtet, die mit allen nötigen Einrichtungen versehen sind. 
Die an ihnen angestellten Schwestern müssen eine besondere Ausbildung haben. Wo 
keine Kliniken sind, wird nötigenfalls freie Behandlung und Arznei gewährt. In 
Gefängnissen, Besserungsanstalten, Fabriken usw. wird die Behandlung durch einen 
Arzt des Gesundheitsamtes durchgeführt, wobei das Amt die Arznei stellt. In den 
Irrenanstalten stellt die Gesundheitsbehörde die Arznei, die Ärzte der Anstalten über- 
nehmen die Behandlung. In den anderen Krankenhäusern Ontarios wird die Arznei 
von dem örtlichen Gesundheitsamt gestellt. Durch Merkblätter für die Ärzte, das 


— 1231 — 


Publikum, durch Filme für das letztere wird für die Aufklärung über das Wesen, die 
Gefahren und die Behandlung der Geschlechtskrankheiten gesorgt. Den armen Kranken 
wird „Phenarsenamin‘‘ unentgeltlich gewährt. Die Untersuchung auf Lues und 
Gonorrhöe wird in 9 Laboratorien, die über verschiedene Städte des Landes verteilt 
sind, vorgenommen. Gegen das Kurpfuschertum wird nötigenfalls vorgegangen. Die 
Gesundheitsbehörde arbeitet in engster Verbindung mit der benachbarten kanadischen 
Behörde. Lückerath (Euskirchen). 

Laignel-Lavastine, M.: L’&dueation prophylaetique eontre les toxiques. (Die vor- 
beugende Erziehung gegen die Gifte.) Progr. med. Jg. 51, Nr. 32, S. 397—398. 1923. 

Es werden in kurzen Umrissen Richtlinien aufgestellt, die die Erziehung des 
Volkes zur Enthaltsamkeit von den Genußgiften bezwecken. Dabei werden für Al- 
kohol, Kaffee, Tee, Tabak als halbe Nahrungsmittel die Grundsätze der Mäßigkeit 
gefordert. Dem Wein wird in Gegenden mit schlechter Wasserversorgung noch eine 
notwendige Rolle zugeschrieben. Außerdem werden psychologische Momente für diese 
Genußmittel angeführt. Opium und Cocain werden sehr gefürchtet. Es genügt nicht 
Aufklärung, sondern es wird das Beispiel und Bekämpfung der Gegenpropaganda 
gefordert. Gesetzliche Maßnahmen gegen das Cocain werden erwartet und begrüßt. 
Allgemein wird seelische und körperliche Ertüchtigung verlangt, nicht nur mit Hilfe 
von Religion und Moral, sondern auch von Sport und Hygiene. Den Jugendlichen, 
die im seelischen Gleichgewicht schwankend sind, und die daher der Gefahr der 
Genußgifte besonders leicht unterliegen, ist erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden. 

Isemann (Nordhausen). 

Fordyee, A. Dingwall: The care of ehoreie ehildren. (Die Fürsorge choreatischer 
Kinder.) Brit. med. journ. Nr. 8277, S. 700—702. 1923. 

Der Autor faßt unter den Begriff choreatisch nicht nur Kinder mit striären Er- 
krankungen, sondern auch neuropathische Kinder mit Bewegungsunruhe, Spasmo- 
philie, psychischer Übererregbarkeit. Er empfiehlt die Unterbringung in speziell für 
solche Kinder eingerichtete Landkrankenhäuser, wie es das Landkrankenhaus für 
Kinder in Heswall ist, welches gleichzeitig mit einer Schule verbunden ist. Dort könne 
man auch leicht kranke Kinder zur genauen Diagnose und zur monatelangen sorg- 
fältigen Behandlung behalten, schwere Patienten jahrelang bei Unterricht, der geeignet 
sei, sie trotz aller Schwierigkeiten zu sozial tauglichen Individuen zu machen. 


Walter Riese (Frankfurt a. M.). 


Säuglings- und Kleinkinderfürsorge : 


© Langstein, Leo: Ernährung und Pflege des älteren Kindes (nach dem Säuglings- 
alter). Ein Leitfaden für Mütter und Pflegerinnen. 3. erw. u. veränd. Aufl. (Max Hesses 
Handbücher Bd. 122.) Berlin: Max Hesse 1923. 96 S. 

Langsteins Wegweiser für die Gesundheitspflege des Kindes im Spiel- und 
Schulalter erscheint bereits in 3. Auflage, ein Beweis für dessen Beliebtheit in Kreisen 
der Eltern und Erzieher. Diese günstige Aufnahme des Werkes ist berechtigt, da es 
in gedrängter Form eine große Menge von Tatsachen bringt und eine eindringliche, 
verständliche Sprache spricht. Ref. möchte namentlich die vortreffliche Darstellung 
der Ernährung, der Sport- und Körperpflege, der Abhärtung, der Erziehung nervöser 
Kinder hervorheben. Einiges würde sich Ref. anders wünschen. So erscheint die 
Besprechung der Infektionskrankheiten (bei welcher Schafblattern und Mumps gar 
nicht erwähnt sind) zu kurz und zu allgemein und wohl deswegen nicht ganz zutreffend. 
So gibt der Hinweis auf die Tuberkulosemöglichkeit bei Kindern mit leichten Tem- 
peratursteigerungen ohne Erwähnung anderer in Betracht kommenden Ursachen 
Anlaß zu übertriebenen Befürchtungen, so ist die Anführung des „Wegbleibens‘ 
unter den nervösen Erscheinungen der Englischen Krankheit nicht gut gewählt, da 
gerade dieser Ausdruck in der Kinderneurologie für das sog. Verkeuchen und nicht, 
wie hier wohl gemeint ist, für Stimmritzenkrampf reserviert ist. DaB die Krätze zu 


gt 


— 132 — 


den „Schmierkrankheiten‘‘ Escherichs gehört, kann man wohl nicht behaupten, 
da diese Krankheit auf andere Weise übertragen wird, als die anderen Schmutz- 
infektionen und auch keineswegs dem Spielalter eigentümlich ist. Die Anführung 
dieser an und für sich belanglosen Ausstellungen erfolgt nicht, um den Wert des 
Büchleins herabzusetzen, sondern weil gerade bei knapp gehaltenen populären Schriften 
jedes Wort scharf präzisiert sein muß, eine Forderung, der der erfahrene Autör ja 
auch sonst durchaus gerecht wird. Zappert (Wien). 

Hecker, Rudolf: Studien über Sterbliehkeit, Todesursachen und Ernährung 
Münehener Säuglinge. Arch. f. Hyg. Bd. 93, S. 280—294. 1923. 

In München ist die Säuglingsfürsorge seit 1913 zentralisiert im Bezirksverband 
für Säuglings- und Kleinkinderfürsorge. Über jedes der Fürsorge zugewiesene Kind 
wird sorgfältig Kartothek geführt. Über das gesundheitliche Schicksal jedes Kindes 
gibt der von Arzt und Schwester der Fürsorgestelle geführte Bogen Auskunft, der bei 
der Einschulung dem Schulgesundheitsbogen angegliedert wird. Seit 1915 wird außer- 
dem noch eine Statistik über die Wirkung der Reichswochenhilfe geführt. Die Arbeit 
des Verf. stützt sich auf rund 30 000 Kinder der Jahre 1916—1922. Die Ergebnisse 
sind: Zur Fürsorge kommen von den Ehelichen 80—82%, von den Unehelichen etwa 
ebensoviel. Das Verhältnis der absoluten Zahlen von Ehelichen zu Unehelichen in 
der Fürsorge entsprach fast genau dem tatsächlich vorhandenen (l unehelich auf 
2,5 unehelich). Zur Beurteilung der Fürsorgeerfolge zieht Verf. die Sterblichkeit heran, 
trotzdem er die dagegen vorgebrachten Bedenken kennt. Die Sterblichkeit der Für- 
sorgekinder war erheblich niedriger als die der außerhalb der Fürsorge befindlichen. 
Von den übrigen Ergebnissen seien noch folgende hervorgehoben. Die Sterblichkeit 
ist im 1. Lebensmonate bekanntlich am höchsten, sinkt von da ab bis zum 10., steigt 
dann aber wieder im 11. und 12. Monate etwas an, besonders bei den gestillten. Die 
Übersterblichkeit der Flaschenkinder wird wieder bestätigt. Die Flaschenkinder haben 
die höchste Sterblichkeit in der 1. Hälfte des 1. Monats, die Brustkinder in der 2. Der 
Sommergipfel fehlt in den beiden hierfür betrachteten Jahren 1918 und 1922, im 
Gegenteil ist im Sommer die Sterblichkeitskurve niedrig. Verf. datiert diese Beseitigung 
des Sommergipfels vom Beginn der Fürsorgearbeit (1912) ab. Mit dem Verschwinden 
des Sommergipfels hat sich auch die Todesursachenstatistik grundlegend geändert. 
Nicht mehr die Ernährungsstörungen sind die Haupttodesursache, sondern die Er- 
krankungen der Atmungswege. Der eigentliche Würgengel der Säuglinge ist jetzt die 
Grippe. Die höchste Sterblichkeit bringt jetzt der Spätwinter (März). Die Stillziffer 
(auch eine schwer zu bestimmende Zahl — Ref.) beziffert Verf. auf 70% gegenüber 
25%, ums Jahr 1900. Tugendreich (Berlin). 

Riebesell: Die Säuglingssterbliehkeit in der Stadt Hamburg. Zeitschr. f. Säuglings- 
u. Kleinkinderschutz Jg. 15, H. 7, 8. 252—253. 1923. 

Tjaden: Bemerkung zu dem vorstehenden Aufsatz: „Die Säuglingssterblichkeit 
in der Stadt Hamburg.“ Zeitschr. f. Säuglings- u. Kleinkinderschutz Jg. 15, H. 7, 
S. 253—254. 1923. 

Tjaden, Obermedizinalrat in Bremen, hatte in einem Bericht über die Gesund- 
heitsverhältnisse in Bremen darauf hingewiesen, daß die Sterblichkeit der ehelichen 
Säuglinge heruntergegangen sei, nicht aber die der unehelichen. Er führte diese Unter- 
schiedlichkeit darauf zurück, daß die Überwachung der unehelichen Säuglinge dem 
Jugendamt unterstehe und daß diese nichtärztlich geleitete Behörde nicht in der 
Lage sei, die Ursachen der Sterblichkeit zu erkennen. In der Klarstellung der Ursachen 
aber liegt der Hebel der Fürsorge. Diese Begründung glaubt nun der Leiter des 
Hamburger Jugendamts, Riebesell, dadurch entkräften zu können, daß in Ham- 
burg die Sterblichkeit der ehelichen und unehelichen Säuglinge in gleichem Ausmaß 
gesunken sei, obwohl auch in Hamburg die Fürsorge für die Unehelichen dem Jugend- 
amt obliegt. In dieser Entgegnung ist nun Riebesell ein grober medizinalstatistischer 
Fehler passiert, und Tjaden benützt dies, um erneut auf die Notwendigkeit hinzu- 


— 133 — 


weisen, daß gesundheitliche Aufgaben, wie die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit, 
dem fachmännischen Organ, dem Gesundheitsamt, zu übertragen seien. Tüugendreich. 


Sehröder: Die Säuglingssterbliehkeit in der Stadt Essen 1911—1921. Zeitschr. f. 
Säuglings- u. Kleinkinderschutz Jg. 15, H.5, S. 169—181. 1923. 

Die Säuglingssterblichkeit der Ehelichen fiel in den betrachteten 11 Jahren von 15,9% 
auf 12,1, die der Unehelichen von 43,9 auf 26,5, zusammen von 16,9 auf 12,1%. Es fand sich, 
daß die Säuglingssterblichkeit im allgemeinen parallel der Siedlungsdichte der Stadtviertel geht. 
Der Sommergipfel ist in den letzten Jahren sehr niedrig gewesen. An 2 Stichtagen wurden 
77,4 bezw. 78,0%, gestillt. Hinsichtlich der Todesursachen kann Verf. einen günstigen Einfluß 
der Stillung auf die Sterblichkeit an Erkrankungen der Atmungsorgane nicht feststellen. 

Tugendreich (Berlin). 

Jull, Roberta H. M.: Some ehild welfare eentres in Great-Britain, their methods 
and results. (Einige Kinderwohlfahrtsbestrebungen in England, ihre Methoden und 
Erfolge.) Med. journ. of Australia Bd. 2, Nr. 7, S. 161—166. 1923. 

Der Bericht der australischen Medizinalbeamtin über eine Studienreise durch 
England erstreckt sich vor allen Dingen auf die sehr ausgedehnte Schwangeren-, 
Mütter- und Säuglingsfürsorge einzelner englischer und schottischer Großstädte in 
Industriebezirken. Nicht ohne Wehmut können wir derartige Berichte verfolgen, 
wenn wir vergleichen, mit wie riesigen Mitteln dort notwendige Kinderwohlfahrts- 
einrichtungen fortgeführt, ja zum Teil in größtem Stil neu gegründet werden — gegen- 
über den hart und schwer ringenden Einrichtungen unseres Vaterlandes. Mütter- 
und Säuglingsberatungsstellen, Krippen, Polikliniken und Kliniken jeder Art, eine 
Fülle von ausgebildetem Fachpersonal steht den englischen Organisationen zur Ver- 
fügung, aus deren Erfolgen z. B. berichtet sei: Die Säuglingssterblichkeit in Aberdeen 
ist von 141 pro Mille in den Jahren 1901—1903 herabgesunken auf 116 pro Mille in 
den Jahren 1919—1921. Die Gesamtzahlen für den Staat ergeben eine Säuglings- 
sterblichkeit auf je 1000 Geburten von 105 im Jahre 1914 und 83 im Jahre 1921, ein 
Zeichen dafür, wie die — allerdings auch stark gestiegenen — Ausgaben von 83 000 Pfd. 
1914—1915 auf 1 900 000 Pfd. im Jahre 1921—1922 beste Erfolge gezeitigt haben. 

Käthe Mende (Berlin). 

Langer, Hans: Grundsätzliches zur Fürsorgearbeit bei der Säuglingstuberkulose. 
Zeitschr. f. Säuglings- u. Kleinkinderschutz Jg. 15, H. 7, S. 249—251. 1923. 

Für die Begrenzung der Aufgaben, die die Fürsorgetätigkeit bei der Bekämpfung 
der Säuglingstuberkulose findet, empfiehlt sich die Gegenüberstellung der Säuglinge 
tuberkulöser Eltern (parentelle Gefährdung) und der Säuglinge nichttuberkulöser 
Eltern (nichtparentelle Gefährdung). Der Gegensatz beruht nicht auf der Örtlichkeit, 
an der sich die Infektion vollzieht — denn innerhalb der Wohngemeinschaft kann 
die Übertragung natürlich auch durch andere Personen als die Eltern stattfinden —, 
sondern auf der biologischen Tatsache, daß die Kinder tuberkulöser Eltern sich in 
ihrer Reaktionsform gegenüber der Tuberkuloseansteckung anders verhalten als die 
übrigen Säuglinge. Die Entstehung einer schweren Tuberkulose bei einem durch die 
Eltern gefährdeten Säugling, läßt sich nur durch völlige Isolierung verhüten. Im 
übrigen berechnet Verf., daß auf je 10 000 Lebende ein durch Tuberkulose gefährdeter 
Säugling entfällt (das wären für Deutschland gegenwärtig ca. 6000). Tugendreich. 


Carr, Walter Lester, and Bret Ratner: Ergebnisse von Weiterbeobachtungen an 
Kindern eines Mutterheims. (Americ. pediatr. soc., French Lick Springs, Indiana, 31. V. 
big 2. VI. 1923.) Arch. of pediatr. Bd. 40, Nr. 7, S. 489—491. 1923. 

Die Verff. beobachteten 410 Kinder, welche in einer Entbindungsanstalt geboren 
waren und von dort aus bis zu Jahresdauer überwacht wurden. Es handelt sich vor- 
wiegend um Kinder unerfahrener, erstgebärender Arbeiterfrauen. Die Beobachtung er- 
streckt sich auch auf solche Kinder, die in Spezialanstalten ärztlich behandelt werden 
mußten. Die Einrichtung versah die Aufgaben, welche bei uns etwa die Mütter- 
beratungsstellen haben. Die Feststellungen decken sich mit dem, was auch bei uns an 
solchen Stellen gesehen wird. Redepenning (Göttingen). 


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Schulkinderfürsorge : 

Baumann, E.: Schulgesundheitspflege in Frankreich. Schweiz. Zeitschr. f. Ge- 
sundheitspfl. Bd. 3, H. 3, S. 437—442. 1923. 

Die Schulgesundheitspflege in Frankreich, 1793 projektiert, mit bescheidenen 
Anfängen aber erst 1833 in die Wirklichkeit umgesetzt, eigentlich organisiert 1879 
und 1886, hat erst 1919, durch den Krieg zurückgedämmt, ihre moderne Ausgestaltung 
erfahren. Der Schularzt, früher nur Epidemiearzt, ist der eigentliche Träger der Schul- 
gesundheitspflege in unserem Sinne. Der Registrierung der Befunde dienen zwei 
Formulare: eins mit Aufzeichnungen über Gewicht, Umfang, Gehör und Sehschärfe 
zu Händen des Lehrers, das andere, der eigentliche Gesundheitsschein, als Unterlage 
für den Schularzt. Im einzelnen wird die Gesundheit der Kinder zu fördern versucht 
durch schwedische Gymnastik, Freiluftschulen (für inaktive Tuberkulosen), Freiluft- 
zimmerunterricht (in geeigneten Zeichensälen u. dgl.), Turnveranstaltungen, Schwimm- 
übungen und orthopädisches Turnen. — Die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und 
Schule ist noch nicht ideal. Schulschwestern sind noch nicht an allen Schulen tätig. 
Die sexuelle Aufklärung ist auch in Frankreich noch eine Streitfrage. Für die Berufs- 
wahl wird eine eingehende experimentelle und psychologische Untersuchung in Er- 
gänzung der ärztlichen Untersuchung gefordert. In 2—3 Jahren hofft man auf dieser 
Grundlage die Schulgesundheitspflege in Frankreich organisiert zu haben. 

| Brunthaler (Hildesheim). 


Bussière, Fr.: Ärztliehe Überwachung der Schulen und unentgeltliche Schul- 
kliniken. Ann. d’hyg. publ., industr. et soc. Bd. 1, Nr. 5, S. 260—284. 1923. 

Der Verf. schildert ausführlich, wie man in der kleinen Stadt Montluçon (35 000 Ein- 
wohner) zum schulärztlichen Überwachungsdienst zunächst Spezialisten zugezogen 
habe, Zahnärzte, Augenärzte und Spezialisten für Nasen-, Ohren-, Rachenkrankheiten. 
Die Erfahrungen zeigten dann, daß die hygienische Überwachung und Untersuchung der 
Schulkinder als wirksame Prophylaxe nicht ausreichte, weil die Eltern die Ratschläge der 
Ärzte in den seltensten Fällen befolgten. Die Einrichtung unentgeltlicher Schulkliniken 
(für die sog. „kleinen Leiden“) für alle Schulkinder schien mir eine unbedingt not- 
wendige Ergänzung der schulärztlichen Untersuchungen. Auf Grund 10jähriger 
Erfahrung mit solchen Kliniken in Montlugon schildert er eingehend die ausgezeich- 
neten Resultate dieser Organisation und widerlegt die 3 Einwände, die häufig dagegen 
erhoben werden: 1. Die Einrichtung unentgeltlicher Behandlung der Schulkinder nur 
für kleine Leiden, sei keine Beeinträchtigung der am Ort frei praktizierenden Ärzte, 
denn erfahrungsgemäß würden die Kinder wegen solch kleiner Leiden (Caries, leichte 
Drüsen, kleine Wucherungen, leichte Rückgratsverkrümmung u.ä.) ganz selten zum Arzt 
gebracht, so daß die frei praktizierenden Ärzte hierdurch keinen Verlust in ihrer bis- 
herigen Praxis erlitten. 2. Es sei sehr wohl möglich, die Organisation auch in ländlichen 
Bezirken durchzuführen, wenn man die in den kleinen Städten vorhandenen Spezial- 
ärzte mit heranziehe; ferner werde es möglich sein, durch eine solche Organisation 
Spezialisten in genügender Anzahl aus den Großstädten aufs Land zu ziehen. 3. Die 
finanziellen Ausgaben seien zwar nicht ganz gering (Bussiere berechnet pro Jahr 
und Schulkind nicht ganz 3 Fr.), aber sie machen sich in Zukunft reichlich bezahlt, 
da man hier eine weitsichtige Gesundheitspolitik treibe, die der Stadt zweifeNos hohe 
Krankenhauskosten erspare. Elisabet v. Harnack (Bln.-Grunewald). 


Sehnaubelt, Johann: Über die Schulfähigkeit von Kindern erster Volksschul- 
klassen in Graz im Schuljahre 1922/23. Zeitschr. f. Kindersch., Familien- u. Berufs- 
fürs. Jg. 15, Nr. 9, S. 161—162. 1923. 

Der Verf. (städtischer Schularzt am Jugendamt der Stadt Graz) berichtet über 
das Ergebnis seiner Untersuchung von 343 Schülern der ersten Volksschulklassen, 
führt den hohen Prozentsatz von nicht schulfähigen Kindern (20%) auf die Nach- 
wirkungen des Krieges zurück, weist auf die schlimmen Folgen der verfrühten Ein- 





— 135 — 


schulung solcher Kinder für die Schule und für die Kinder selbst hin und verlangt 
schließlich, daß dem Arzt eine gesetzliche Handhabe zur Verfügung stehe, um zum 


Wohl der Kinder Zurückstellung vom Schulbesuch zu veranlassen. 
Lotte Nohl (Berlin). 


Sundwall, John: Construetive health activities in publie schools. (Konstruktive 
Vorschläge zur aktiven Schulhygiene.) Journ. of the Americ. med. assoc. Bd. 81, 
Nr. 5, S. 378—382. 1923. 

Verf. unterzieht die derzeitigen schulhygienischen Maßnahmen und Einrichtungen 
in den Vereinigten Staaten einer genauen Durchsicht, die zu Reformideen führt und 
in einer Anzahl auf positiven Vorschlägen gipfelt. Von einer hohen Warte mit umfassen- 
dem Überblick über alle einschlägigen Fragen aus wird der Plan einer durchgreifenden 
Reorganisation entworfen, der auch für uns in Deutschland hohes Interesse haben 
dürfte. Die historische Entwicklung der einzelnen hygienischen Maßnahmen, Behörden 
und Funktionen hat ein ziemlich systemloses Neben- und Gegeneinander geschaffen, 
das unökonomisch ist. Die Grundforderung ist daher die nach Zusammenfassung 
und Eingliederung aller dieser Funktionen und Funktionäre in ein System, das behörd- 
lichen Charakter trägt und eine eigene Spitze hat. Turnlehrer, Sportlehrer, Schulärzte, 
Schulfürsorgerinnen und alles, was damit zusammenhängt und sonst noch zur Schul- 
hygiene im weitesten Sinne (z. B. auch der Unterricht über Hygiene) gehört, muß 
künftig diesem Departement unterstehen. Der Vorstand des Schulgesundheitsamtes 
muß ein Arzt von reichen Kenntnissen und Erfahrungen auf allen einschlägigen Ge- 
bieten: Hygiene, Sport, Kinderheilkunde, Seuchenlehre, Eugenik, psychische Hygiene, 
Orthopädie usw. sein, kurz er muß alles, was zur Gesundheitsförderung und zur Krank- 
heitsverhütung dient, völlig beherrschen. Daneben muß er Lehrtalent besitzen, ein 
guter Verwaltungsbeamter und persönlich sportlich befähigt und ausgebildet sein. 
Die Schulgesundheitsämter sind nicht dem Gesundheits-, sondern dem Erziehungs- 
ministerium zu unterstellen, da sie eng in den Rahmen der Aufgaben dieser Behörde 
hineingehören. Am zweckmäßigsten wäre ein besonderes 4jähriges Hochschulstudium 
(nebst den dazu gehörigen praktischen Übungen) für die Schulgesundheitsbeamten, 
für das Verf. detaillierte Vorschläge macht. Villinger (Tübingen). 


Hodgkins, A. F.: Reereation for women and girls. (Erholung für Frauen und 
Mädchen.) Public health journ. Bd. 14, Nr. 7, S. 314—317 u. Nr. 8, 370—372. 1923. 

Verf. sieht in zweckmäßig und nützlich angewandten Mußestunden ein Mittel 
zur Verhütung körperlicher und seelischer Übel. Die Anregung und Erziehung zu 
einer zweckmäßigen Erholung muß in der Kindheit und Jugend erfolgen. Zu diesem 
Zweck empfiehlt Verf. aufklärenden Unterricht und sportliche Ausbildung in der 
Schule, ärztliche Untersuchung der Schulkinder und Behandlung der geistig und 
körperlich Schwachen, Errichtung von Spielplätzen. Großes Gewicht legt Verf. darauf, 
daß die Fürsorge über die Pubertät hinaus auf alleinstehende junge arbeitende Mädchen 
ausgedehnt wird. Für diese sollen erträgliche Wohnungsmöglichkeiten und hygienisch 
einwandfreie Arbeitsstätten geschaffen werden, damit nicht die Unbehaglichkeit zu 
Hause und die Übermüdung von der Arbeit sie in ihrer freien Zeit in Tanzlokale und 
ähnliche Orte, wo es warm ist und aufreizende Unterhaltung geboten wird, treibt. 

Erna Lyon (Hamburg). 

Smith, Riehard M., and Helen J. Zillmer: Weitere gesundheitliche Untersuehungen 
in einer Knabensehule. (Americ. pediatr. soc., French Lick Springs, Indiana, 31. V. 
bis 2. VI. 1923.) Arch. of pediatr. Bd. 40, Nr. 7, S. 487—489. 1923. 

Nach den Erfahrungen, die durch die Untersuchung von 77 Schulknaben ge- 
wonnen sind, darf man sich bei der Beurteilung des Verhältnisses von Gesundheits- 
zustand zur Schulleistungsfähigkeit nicht auf die Feststellung von Größe und Gewicht 
beschränken. Es muß jedes Kind als Einzelwesen genau ärztlich untersucht werden. 

Redepenning (Göttingen). 


— 16 — 


Palmer, Joseph C.: Welfare work among school children. (Wohlfahrtsarbeit an 
Schulkindern.) New York state journ. of med. Bd. 28, Nr. 5, S. 195—200. 1923. 

Verf. berichtet über den Stand der Jugendwohlfahrt, sofern sie sich auf Schulkinder 
erstreckt, in dem Staat New York. Im wesentlichen liegt die Arbeit in den Händen 
der Gemeinden und privater Vereine. 2—10% aller Schulkinder haben körperliche 
Störungen, welche zugleich die Ursache für die schlechtere Leistung bilden. Vergrößerte 
oder erkrankte Mandeln, adenoide Wucherungen, cariöse Zähne mit ihren Folgeerschei- 
nungen — vor allem Verdauungsstörungen —, ferner Infektionen, Anämie usw., finden 
sich am häufigsten. Wiederholte schulärztliche Untersuchung, Aufstellung von Ge- 
wichtskurven, Aufklärung der Kinder und des Elternhauses sind notwendig und er- 
weisen sich als erfolgreich. Stern (Gießen). 


Berufsberatung : 


Rose, Heinrieh: Die Organisation der Berufsberatung. Prakt. Psychol. Jg. 4, 
H. 8, S. 241—246. 1923. 

Als Leiter des Berufsamtes der Stadt Breslau gibt der Verf. eine von graphischen 
Zeichnungen gut unterstützte Darstellung der Organisation dieses Amtes. Sie gleicht 
im wesentlichen auch der anderer Berufsämter in größeren Städten, wie beispielsweise 
Hamburg, München, Nürnberg, Berlin usw. Besonders das letztere zeigt fast denselben 
Aufbau und dürfte dieser in Anbetracht der augenblicklichen Zeitverhältnisse wohl 
das denkbar Erreichbare darstellen. Im Anschluß daran wird die Frage der allgemei- 
nen Organisation der Berufsberatungsstellen unter dem Gesichtspunkt des Beamten- 
abbaues behandelt, in Form von Vorschlägen, die sicherlich die Freude so manches 
städtischen Kämmerers erregen, im Kreise der Fachkundigen jedoch Bedenken 
auslösen dürften. Es läßt sich gar nichts sagen gegen den Vorschlag, gesonderte Spezial- 
sprechstunden einzurichten, und sicherlich wird auch in der Berufsberatung durch 
geeignete Organisation manche Ersparnis zu erzielen sein; diese selbst jedoch wieder 
von der hauptamtlichen zur nebenamtlichen Tätigkeit zurückzuführen, halte ich ge- 
rade in der Zeit der ungeheuren wirtschaftlichen Umwälzungen für wenig ratsam. 
Selbst einem tüchtigen Gewerbelehrer wird es bei seiner hauptamtlichen Tätigkeit 
kaum möglich sein, sich über die Grenzen seines eigenen Berufes hinaus so eingehend 
zu unterrichten, um allen Fragen der Berufsberatung einigermaßen gerecht werden 
zu können ganz abgesehen von der Gefahr, daß völlig ungeeignete Personen, dilettan- 
tenhaft die Berufsberatung zum Schaden der Allgemeinheit dann wieder im größeren 
Maßstab ausüben würden, wie es leider hin und wieder auch heute noch bei privaten 
Wohlfahrtsorganisationen geschieht. Es wäre sehr zu wünschen, wenn zu den Vor- 
schlägen des Dr. Rose weite Kreise der an dieser Frage Interessierten Stellung nehmen 
würden. Ziesler (Bln.-Lichtenberg). 

Münch, Hans: Berufsausbildung und Lehrwerkstätten. Zeitschr. f. Kindersch., 
Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 7/8, S. 141—144. 1923. 

Um den während des Kriegs nur mit Teilarbeiten zur Herstellung von Munition 
beschäftigten Jugendlichen die Möglichkeit einer vielseitigeren, vertieften und ab- 
gerundeten beruflichen Ausbildung zu geben, hatte die Stadt Nürnberg besondere 
gemeindliche Ausbildungsstätten geschaffen, die im Laufe der seitdem vergangenen 
Jahre und unter Benutzung der dort und anderswo erworbenen praktischen Erfah- 
rungen zu Lehrwerkstätten erster Ordnung ausgestaltet worden sind. Im ganzen hat 
Nürnberg jetzt drei solcher städtischen Lehrwerkstätten, und zwar eine für das gra- 
phische Kunstgewerbe, eine für das metallische Kunstgewerbe und eine für Mechaniker, 
Maschinenschlosser und Elektromechaniker. Der Verf. gibt zwar zu, daß Meister- 
lehren, die nur eine beschränkte, ausgewählte Gehilfenzahl beschäftigen, und in denen 
die Lehrlinge ausschließlich zu den für ihre Ausbildung notwendigen Arbeiten ver- 
wendet werden, zweifellos die besten Lehren sind, tritt aber, ausgehend von der Tat- 
sache, daß unter dem Einfluß der mit der fortschreitenden Industrialisierung eng 


— 1397 — 


verknüpften Arbeitsteilung derartige Meisterlehren nur noch selten vorkommen, mit 
besonderer Wärme für die Errichtung solcher städtischen Lehrwerkstätten als Ersatz 
der Meisterlehre ein. Er ist der Meinung, daß nur in solchen Lehrwerkstätten, die 
allerdings durch sachgemäßen theoretischen Fachunterricht, insbesondere durch 
Zeichnen, ergänzt werden müssen, die hochqualifizierten Facharbeiter ausgebildet 
werden können, deren wir in der Gegenwart und noch mehr in der Zukunft bedürfen, 
um auf dem Weltmarkt wieder wettbewerbsfähig zu werden und zu bleiben. 
Richard Liebenberg (Berlin). 

Dannenberg, Otto: Erfahrungen bei der Prüfung und Berufsberatung künstlerisch 
Begabter in Groß-Berlin. Prakt. Psychol. Jg. 4, H.8, S. 236—240. 1923. 

Verf. hat die Auslese der künstlerisch begabten Volksschulkinder Berlins organi- 
siert und geleitet. Er berichtet über die großen Schwierigkeiten einer richtigen Berufs- 
wahl und Berufsberatung, die bei Mädchen noch erheblicher sind als bei Knaben. 
Er weist auf die Notwendigkeit einer Mitarbeit der Schule hin. Die Begabungsprüfung 
selbst besteht aus 3 Aufgaben: Abzeichnen eines selbst gewählten Gegenstands, Zeichnen 
aus dem Gedächtnis, freies Phantasiezeichnen. Die Ergebnisse der Auslese waren 
bisher durchaus befriedigend. Erich Stern (Gießen). 

Sehubert, Karl: Kritische Bemerkungen über Psyehoteehnik und Berufsberatung. 
Neue Erziehung Jg. 5, H.9, S. 284—287. 1923. 

Psychotechnik und Berufsberatung werden abgelehnt, weil sie den Beruf und den 
Berufsanwärter nicht in der idealen Ganzheit erfassen können, die nach der Ansicht 
des Verf. aber eine notwendige Voraussetzung zur Durchführung der Berufsberatung 
ist. Er hält es auch nicht für besonders tragisch, seinen Beruf zu verfehlen, weil schließ- 
lich doch jeder Mensch gezwungen sei, in jahrelanger, vielleicht jahrzehntelanger harter 
Arbeit seine Fähigkeiten den Anforderungen des Berufs anzupassen. Durchführbar 
wäre die Berufsberatung erst nach Umstellung der gegenwärtig geltenden Berufs- 
und Wirtschaftsverhältnisse. Richard Liebenberg (Berlin). 


Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches : 

Francke, Herbert: Das Jugendgeriehtsgesetz vom 16. Februar 1923. München 
u. Berlin: H. W. Müller 1923. 88 S. G.Z. 0.75. 

Die Eigenart des Jugendgerichtsgesetzes, strafrechtliche und erzieherische Auf- 
gaben miteinander zu verbinden, verlangt eine vollkommen neue Einstellung für das 
Verständnis und die praktische Anwendung des Gesetzes. Der Kommentar von 
Francke ist der erste, der dieser Eigenart des Gesetzes Rechnung trägt, indem er sich 
nicht mit formal-juristischen Erläuterungen begnügt, sondern gleichzeitig die er- 
zieherischen Gesichtspunkte beleuchtet. Neben der praktischen Erfahrung des Verf. 
als Jugendrichter beim Amtsgericht Berlin-Mitte kommt seine genaue Kenntnis der 
pädagogischen und philosophischen Fachliteratur zur Geltung. Trotz der knappen 
Fassung sind alle wesentlichen Gesichtspunkte klar herausgearbeitet. Schon die Ein- 
leitung ist ein kleines Meisterstück und läßt merken, wie dem Verf. seine Aufgabe 
Herzenssache war. Jedenfalls wird der Jurist ebenso wie der Arzt und Erzieher viel 
Nutzen und Anregung aus dieser vortrefflichen Arbeit ziehen können. 

Walter Hoffmann (Leipzig). 

Liszt, E. v.: Berliner Jugendgeriehtshilfe 1921 und 1922. Zeitschr. f. d. ges. Straf- 
rechtswiss. Bd. 44, H. 4, S. 506—511. 1923. 

Die interessanten statistischen Tabellen, die den Kern des Aufsatzes bilden, be- 
handeln die Zahl der neu überwiesenen Fälle unter Hervorhebung des Anteils der Ge- 
schlechter und der Altersstufen, die Verteilung der Fälle auf die einzelnen Straftaten 
und der Straftatengruppen auf die Altersstufen sowie den Inhalt der Strafurteile. Die 
Ergebnisse der Statistik, die sich leider einer kurzen Wiedergabe entziehen, und die 
Bemerkungen, welche die erfahrene Leiterin der Berliner Jugendgerichtshilfe daran 
knüpft, verdienen im Originale nachgelesen zu werden. Francke (Berlin). 


— 138 — 


Roos, J. R. B. de, und G. L. Suermondt: Die Kriminalität in den Niederlanden 
während und nach dem Kriege. Monatsschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsreform 
Jg. 14, H. 4/7, 8. 113—135. 1923. 

Nach längeren Ausführungen, z. T. statistischen Angaben, kommen die Verff. 
zu dem Schluß, daß die Kriegskriminalität unstreitig den Einfluß der sozialen Um- 
stände auf die Kriminalität bewiesen hat; wohl niemals habe die Statistik eine so 
schlagende Parallele gezeigt, wie sie zwischen der Steigerung der ökonomischen Sch wie- 
rigkeiten und der Steigerung der Kriminalität festzustellen war. Nach dem Kriege 
gingen die Eigentumsdelikte zurück; dagegen nahmen die Sexualdelikte und die 
schweren Verbrechen gegen die Person zu; eine leichte Besserung ist im Jahre 1921 
zu verzeichnen, abgesehen von den Sittlichkeitsdelikten. Die Trunkenheitsdelikte 
stiegen von 1919—1920 erheblich und sanken 1921 ein wenig. Für Jugendliche lagen 
nur die Zahlen bis 1920 vor; leider war aus ihnen ersichtlich, daß auch bei den Jugend- 
lichen die schwere Kriminalität, auch die Sexualdelikte, zugenommen haben, während 
die Eigentumsvergehen bedeutend zurückgingen. Göring (Eilberfeld)., 

Wegner, Arthur: Englische Strafgesetze 1922. Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswiss. 
Bd. 24, H. 2, S. 193—195. 1923. 

Der Bericht befaßt sich zunächst mit der Criminal Law Amendement Act vom 
4. August 1922, einem Strafgesetze zum Schutze Jugendlicher unter 16 Jahren gegen 
unzüchtige Handlungen. Hervorzuheben ist, daß ein Irrtum des Täters über das Alter 
des Jugendlichen im allgemeinen unbeachtlich sein soll und die Strafen gegen Bordell- 
inhaber verschärft werden. Außerdem wird der Wortlaut der Infanticide Act vom 
20. Juli 1922 mitgeteilt, zu vergleichen dem § 217 des deutschen Strafgesetzbuches. 

Walter Hoffmann (Leipzig). 

Buerschaper: Der Besserungsgedanke im künftigen Strafvollzug. Zeitschr. f. d. 
ges. Strafrechtswiss. Bd. 44, H. 4, S. 443—454. 1923. 

Der Verf. ist ein sächsischer Staatsanwalt, der praktische Kenntnis des Gefängnis- 
wesens mit kriminalpsychologischem Interesse verbindet. In einem früheren, in der 
Deutschen Richterzeitung vom 1. V. 1922 erschienenen Aufsatze hat er seine Beobach- 
tungen in einer sächsischen Gefangenenanstalt über den Eindruck der Freiheitsstrafe 
auf die Gefangenen mitgeteilt. Im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes steht der 
Gedanke, daß der erziehende Strafvollzugindividualisieren muß. Der Verf. fordert 
daher zunächst eine sorgfältige kriminalpsychologische Erforschung des Gefangenen, 
für die er eine eingehende Anleitung gibt. An den Anfang der Erziehungsarbeit stellt 
er die Erziehung zur Selbsterkenntnis, die durch Aussprache mit dem Gefangenen 
in der Einzelhaft erreicht werden soll. Zur Durchführung des Erziehungsgedankens 
fordert er das Progressivsystem. Francke (Berlin). 

Briner, Robert: Verwahrlosung und Kriminalität der sehulentlassenen Jugend. 
Schweiz. Zeitschr. f. Gesundheitspfl. Bd. 4, H. 4, S. 505—516. 1923. 

Der Aufsatz gibt einen Vortrag wieder, den der Verf., ein Schweizer Jurist, im 
Kreise der Schweiz. Gesellschaft für Gesundheitspflege gehalten hat. Er geht aus von 
der Frage nach dem Begriff der sittlichen Verwahrlosung. Seine Antwort: Verwahr- 
losung ist ‚erhöhte Erziehungsbedürftigkeit‘‘ gibt freilich keine brauchbare Definition, 
sondern eher ein Programm der Jugendfürsorge. Der Hauptteil des Aufsatzes gibt 
sodann in flüssiger Darstellung einen gut orientierenden, auch für deutsche Verhält- 
nisse zutreffenden Überblick über die Ursachen der Jugendverwahrlosung. Eine sehr 
kurze, auf die Schweizer Verhältnisse zugeschnittene Erörterung der Mittel zu ihrer 
Bekämpfung bildet den Schluß. Francke (Berlin). 


Fürsorgeerziehung: 


@ Gröhl, Richard: Praktische Anleitung der Fürsorgezöglinge zur Selbsterziehung. 
Gedanken zum Einführungsunterricht. Grottkau: Richard Gröhl 1923. 40 S. G.Z. 0:30. 
Das in anspruchsloser Ausstattung erscheinende Büchlein bringt ın breiter Aus- 


— 19 — 


führung Erläuterungen über Zweck und Ziel der Anstaltserziehung und gipfelt in den 
religiösen Pflichten der katholischen Gläubigen. Verf. ist sich darüber klar, daß das 
gebotene Gedankengut nicht neu ist und daß die weiters entwickelten Ideen dem 
geistig höherstehenden und reiferen Menschen selbstverständlich sind, soweit er aller- 
dings den religiösen Standpunkt des Verf. teilt. Ich glaube nicht, daß das Büchlein 
wirklich einem Bedürfnis entspricht. Wer Fürsorgezöglinge ins Anstaltsleben einführt, 
wird wohl auch selbst die passenden Worte finden. Gregor (Flehingen i. Baden). 


Aiehhorn, August: Über die Erziehung in MESSSERDESSRSIANEN! Imago Bd. 9, 
H. 2, S. 189—221. 1923. 

Bericht über die Erziehung in den Wiener „Zwangserziehungsanstalten‘“ St. Andrä 
und Oberhollabrunn. In fesselnder und sehr ansprechender Form werden die Er- 
ziehungsgrundsätze und Behandlungsmethoden geschildert, die in freier Anlehnung 
an die Freudschen Anschauungen individualisierend ohne starres System oder Schema 
sich in der Praxis herausgebildet haben. Ein prinzipieller Unterschied zwischen diesem 
„heilpädagogischen“ Vorgehen und der psychiatrischen Methode — dabei kann von 
der Stellungnahme zu manchen Teilen der Freudschen Lehre ganz abgesehen wer- 
den — besteht überhaupt nicht. Die Anstalten sind übrigens fortlaufend psychiatrisch 
beraten. Der oberste Grundsatz allen ‚„Dissozialen‘‘ gegenüber war der, sie erleben 
zu lassen, daß im sozial gerichteten Leben ein höheres Gesamtergebnis an Lust zu 
finden ist als im asozialen. Dementsprechend galt es in erster Linie, Freude zu ver- 
breiten. „Je weniger das Milieu Anstaltscharakter trägt, und je mehr es sich dem 
einer freien Siedlung lebensbejahender Menschen nähert, desto weniger ist der Dis- 
soziale dem wirklichen Leben entzogen, desto sicherer ist seine Ausheilung, desto 
sicherer ist sein Wiedereintritt in die Gesellschaft zu erwarten.‘ Es hat keinen Sinn, 
die eintretenden Zöglinge durch Worte zu gewinnen zu suchen. Der Zögling muß 
vielmehr die echte Liebe des Erziehers von Anfang an zu spüren bekommen. Viel 
Bewegungsfreiheit, die dann zu Konflikten führt, ist notwendig; denn diese Konflikte 
geben die Möglichkeit, in den Zögling einzudringen, sich in ihn einzufühlen und ge- 
gebenenfalls seine unbewußten Motive herauszuholen. Durch zwei anschauliche 
Krankengeschichten wird diese Methode als erfolgreich bestätigt. „Der Geist, der die 
Besserungsanstalt erfüllt, soll von den Erziehern ausgehen, aus deren eigener posi- 
tiver Einstellung zum Leben, aus jener glücklichen Lebensauffassung, die Heiterkeit 
und Freude um sich verbreitet.“ Auch in der Erziehung des männlichen Jugendlichen 
ist wegen der besseren Einfühlungsfähigkeit des weiblichen Geschlechts die Frau 
nicht ganz zu entbehren, denn der Dissoziale verbirgt bewußt oder unbewußt sehr viel 
von seinem Erleben. Der Wiener Psychiater Dozent Dr. Lazar hat das Material 
der Anstalt nach Temperament und Führungsmöglichkeit zu gruppieren versucht. 
Bei den ganz schwer psychopathischen Unerziehbaren wurde durch „absolute Milde 
und Güte, fortwährende Beschäftigung und viel Spiel (um den Aggressionen vor- 
zubeugen) und durch fortgesetzte Aussprache mit jedem einzelnen Zögling‘‘ eine weitest- 
gehende Besserung erzielt. Dadurch konnte es vermieden werden, daß diese „Un- 
verbesserlichen‘‘ das ganze Anstaltsleben auf das nur zu bekannte sado-masochistische 
Niveau der Besserungsanstalten alter Prägung herabdrückten. Die Psychoanalyse 
wird ihren Platz in der Organisation der Anstalten haben. (In der Form wie Verf. 
sie anwendet, unbedenklich. Ref.) Aber: „Gegenwärtig müssen wir die größte Mühe 
aufwenden, um die aus der Begeisterung unter den Erziehern entstandene Epidemie 
des psychoanalytischen Dilettantismus in ernstes Studium überzuleiten.‘“ — Un- 
gewollt zeigt die Arbeit, wie sehr der Erziehungserfolg einer solchen Anstalt abhängig 
ist von der Persönlichkeit des Leiters, mag er nun pädagogischer oder psychiatrischer 
Züchtung sein. Villinger (Tübingen). 


Sehwartz: Auszug aus dem Bericht über die in den Jahren 1920—1922 vorge- 
nommene neurologisch-psychiatrisehe Untersuehung sämtlicher in Erziehungsanstalten 


— 10 — 


untergebraehten Fürsorgezöglinge der Provinz Sachsen. (Landesherlanst., Alt-Scherbitz.) 
Psychiatr.-neurol. Wochenschr. Jg. 25, Nr. 15/16, S. 96—99. 1923. 

Der Autor berichtet über das Ergebnis psychiatrischer Untersuchung an 30 Für- 
sorgeerziehungsanstalten mit zusammen 1535 Insassen. Bemerkenswerterweise fielen 
von ihnen 42% in den Altersabschnitt von 11—14 Jahren, der Abfall nach unten 
7—10 Jahre ist sehr bedeutend (11,2%), aber auch nach oben, 15—18 Jahren, sinkt 
die Kurve deutlich ab (31,7%). Die diagnostische Bewertung ist wie bei allen derartigen. 
praktisch natürlich außerordentlich wichtigen und nötigen Untersuchungen wissen- 
schaftlich nicht einwandfrei, da sie, wie der Autor selbst bemerkt, zum Teil auch von 
der wechselnden Beobachtungsgabe von Laien abhängt. Wichtig ist, daß er wie andere 
Beobachter 62,2%, für abnorm erklärt. Gregor (Flehingen i. Baden). 


Erzieher, Fürsorger, Ausblldungsfragen: 


Gründung einer erziehungswissenschaftliehen Abteilung innerhalb der philo- 
sophisehen Fakultät an der thüringischen Landesuniversität Jena. Deutsche Schule 
Jg. 27, H. 11/12, S. 467—468. 1923. 

Der Artikel gibt außer einer kurzen Vorbemerkung nur den Abdruck der Statuten 
der erziehungswissenschaftlichen Abteilung in der philosophischen Fakultät der Uni- 
versität Jena, die das thüringische Staatsministerium durch Beschluß vom 29. Oktober 
eingerichtet hat, neben der dann als weitere Abteilungen die philologisch-historische 
und die naturwissenschaftlich-mathematische in Aussicht genommen sind. Als Auf- 
gabe dieser Abteilung, der die Professoren und Privatdozenten Peters, Petersen, 
Vaerting, Scheibner, Siemsen, Strecker, Linke, Weiss, Flitner und Läm- 
mel zugeteilt werden, wird in dem Statut angegeben: ‚‚die Pädagogik und ihre Hilfs- 
wissenschaften in enger Wechselwirkung mit dem pädagogischen Leben durch For- 
schung und Lehre zu pflegen und so die Praxis der Erziehung und des Unterrichts 
zu befruchten“. Zu ihren Gebieten sollen insbesondere gehören: „Philosophie und 
Soziologie im Hinblick auf die Erziehung, systematische Pädagogik, Methodik der 
einzelnen Unterrichtsfächer und Schularten, Erwachsenenbildung, Geschichte der 
Erziehung und des Bildungswesens, allgemeine und angewandte, insbesondere päda- 
gogische Psychologie, Jugendkunde einschließlich der Lehre vom gefährdeten und 
abnormen Kinde, Jugendwohlfahrtswesen“. Der selbständigen Regelung durch die 
Abteilung wird zugewiesen: vor allem das Recht der Promotion, der Habilitation und 
der Vorschläge bei Berufungen. Der Dr., den sie verleiht, ist der Dr. phil., doch bleibt 
die Einrichtung einer erziehungswissenschaftlichen Promotion vorbehalten. Die Ab- 
teilung kann Männer und Frauen aus der Praxis zu ihren Beratungen zuziehen, kann 
an den Orten der praktischen Ausbildung künftiger Lehrer durch ihre Dozenten Vor- 
lesungen und Übungen abhalten lassen, und ihre Mitglieder haben das Recht, ‚nach 
vorausgegangener Verständigung mit den zuständigen Schulaufsichtsbeamten thürin- 
gische Erziehungsanstalten und Schulen mit ihren Studierenden zu besuchen, dem 
Unterricht beizuwohnen und wissenschaftliche Untersuchungen an den Erziehungs- 
anstalten und Schulen durchzuführen oder durchführen zu lassen“. — Die Redaktion 
der Deutschen Schule druckt die Statuten mit dem Bemerken ab, daß es sich hier um 
ein Ereignis von grundlegender Bedeutung handele, ‚denn die Erziehungswissenschaft, 
bisher das Aschenbrödel an den deutschen Universitäten, wird damit wenigstens an 
einer zu der Stelle erhoben, die ihr zukommt“. Wer die Vorgänge kennt, die dieser 
Einrichtung vorauslaufen, und die Umstände, unter denen sie vonstatten ging, wird 
sie skeptischer ansehen. Der Rektor und der große Senat der Universität Jena haben 
sich gemäß einem Schreiben vom 15. XII. 1923 an das Thüringische Staatsministerium 
mit allen gegen 2 Stimmen und 1 Stimmenthaltung entschieden, daß sie „der Ein- 
richtung der erziehungswissenschaftlichen Abteilung und dem Statut die Anerkennung 
versagen: aus formalen Gründen, weil dabei die Rechte der Fakultät und des Senats, 
die gar nicht gehört wurden, nicht gewahrt worden sind, aus sachlichen, weil durch 


— 141 — 


die Aufhebung bewährter Einrichtungen einerseits und andererseits durch die Auf- 
nahme von Sachen und Personen, die mit Universität und Wissenschaft gar nichts 
zu tun haben, Ruf und Ansehen der Universität schwer geschädigt werden‘. Um diese 
Stellungnahme der Universität zu verstehen, wird man am besten den Schriftwechsel 
über die Vorgänge, vor allem über die Ernennung der pädagogischen Professoren 
ohne Befragung oder gar gegen das Gutachten der Fakultät nachlesen, der in den Mit- 
teilungen des Verbandes der deutschen Hochschulen, Märzheft 1924, abgedruckt ist. 
Der gute Wille und die Aktivität der thüringischen Regierung in Ehren, aber der takt- 
lose Mißbrauch ihrer Macht und ihre Respektlosigkeit gegenüber einer Fakultät, die 
vielleicht nicht ganz leicht zu behandeln war, die aber die Vertretung der freien Macht 
der Wissenschaft ist und der niemand das volle Gefühl der Verantwortlichkeit abstreiten 
kann, muß von jedem, der weiß, was die Selbstverwaltung der Universität für die Ent- 
wicklung unseres Volkes und die Entwicklung der Wahrheit zu bedeuten hat, abgelehnt 
werden. Auf solche Weise wächst auch nichts Lebendiges, sondern nur ein Phantom, 
das mit dem nächsten Machtwechsel verschwindet. Über den sachlichen Wert der 
Einrichtung solcher pädagogischen Fakultät sind die Meinungen geteilt, wenn auch 
bei einer früheren Umfrage sich die Universitäten einstimmig gegen sie ausgesprochen 
haben. Auch der Referent hält eine solche Abtrennung der Pädagogik für falsch, 
denn dazu ist ihre Lebensbasis zu klein und ihre Verbindung mit der philosophischen 
Fakultät zu eng. Durch diese scheinbare Erhöhung wird die isolierte Pädagogik in 
Wahrheit herabgedrückt werden. Die gegebene Form für die Organisation der Lehrer- 
ausbildung an der Universität war eine Kommission aller an dem Erziehungswesen 
interessierten Fachvertreter, die von den Fakultäten gewählt wurde und für die die 
Regierung einen Vorsitzenden bestimmte, bis die Organisation durchgeführt war. 
Nohl (Göttingen). 
Allgemeines: 

Knack, A. V.: Die Ursachen besehränkter Arbeitsfähigkeit auf dem gegenwärtigen 
Arbeitsmarkte. (Ärztl. Untersuchungsstelle, Arbeitsamt Hamburg.) Dtsch. Zeitschr. f. 
d. ges. gerichtl. Med. Bd. 2, H. 5, S. 493—522. 1923. 

Zur qualitativen Sichtung der Arbeitsfähigkeit der Erwerbslosen von Hamburg 
wurde beim dortigen Arbeitsamt eine „Ärztliche Untersuchungsstelle‘“ geschaffen, 
in der in engster Verbindung mit den Vermittlungsstellen die Erwerbslosen nach zwei 
Hauptgesichtspunkten ärztlich untersucht werden: 1. Zu welcher Arbeit kann der 
Erwerbslose herangezogen werden? 2. Welcher Grad einer Erwerbsbeschränkung 
komnit in Frage, oder in welchem Grade ist der Erwerbslose arbeitsfähig? Zur Unter- 
suchung gelangen nur solche Erwerbslose, die vorher durch die Vermittlungsstelle 
eine vorläufige und vorschlagsweise Begutachtung auf ihre Arbeitsvermittlungsmög- 
lichkeit erhalten haben und die dem Vermittlungsbeamten krankheitsverdächtig 
erscheinen, die bis kurz vor der Anmeldung zur Erwerbslosenunterstützung nach- 
gewiesenerweise erkrankt waren und solche Erwerbslose, und dieses sind die zahl- 
reicheren Fälle, die angeben, eine ihnen angebotene Arbeit aus Krankheitsgründen nicht 
annehmen zu können. Aus der Praxis hat sich folgendes Verfahren für die Verstän- 
digung zwischen Arzt und Vermittlungsbeamten ergeben: ‚Die Arbeitsgebiete werden 
eingeteilt nach leichterer, mittelschwerer und schwerer Arbeit. Bei diesen drei Haupt- 
gruppen werden jeweils unterschieden die bedingungslose Eignung zur leichteren, 
mittelschweren oder schweren Arbeit und die bedingte Arbeit, die dann in Frage kommt, 
wenn durch eine gewisse körperliche Beschädigung gewisse Funktionen nicht aus- 
geübt: werden können. Diese bedingte Eignung wird durch einen Zusatz ausgedrückt, 
der angibt, welche Tätigskeitsgebiete nicht ausgeübt werden können, z. B. mittelschwere 
Arbeit ohne Beanspruchung der Sehschärfe, des Gehörs, der Stehfähigkeit u. dgl.“ 

Das ärztliche Gutachten über den Grad der Erwerbsbeschränktheit ist ausschlag- 
gebend für die Überweisung des Falles an die verschiedenen Abteilungen des Arbeits- 
amtes. Vollerwerbefähige werden durch die Abteilung, die für den betreffenden Beruf 


— 12 — 


zuständig ist, vermittelt, Erwerbslose mit einer Erwerbsbeschränkung von mehr als 
ein Drittel durch den Arbeitsnachweis für Erwerbsbeschränkte und Erwerbsbeschränkte 
von mehr als 50%, Beschränkung durch den Arbeitsnachweis für Schwerbeschädigte, 
da hier zur Erleichterung der Unterbringung das Schwerbeschädigtengesetz zu Hilfe 
genommen werden kann. Bei einer Erwerbsbeschränkung von mehr als 66?/,% scheiden 
die Erwerbslosen aus der Arbeitsvermittlung aus und werden den Wohlfahrtsämtern 
überwiesen, aber erst dann, wenn der in den Werkstätten des Arbeitsamtes gemachte 
Arbeitsversuch gescheitert ist. Erwerbslose, die auf Grund des Untersuchungsergeb- 
nisses für eine sofortige Arbeitsvermittlung nicht in Frage kommen, bleiben entweder 
in ärztlicher Behandlung der Untersuchungsstelle oder werden einem Krankenhaus 
oder einer besonderen Fürsorge überwiesen. Die Behandlung und ärztliche Beratung 
der schulentlassenen Jugendlichen wird von einem besonderen Arzt ausgeführt. Be- 
sonders betont wird die Häufigkeit von „geistiger Minderwertigkeit und psycho- 
pathischer Konstitution‘ bei den jugendlichen Erwerbslosen. „Hier sah man beson- 
ders deutlich, wie wenig auch durch die Hilfsschul- bzw. Fürsorgeerziehung für geistig 
minderwertige oder schwer erziehbare Personen getan werden kann, um eine Vermitt- 
lungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkte, sei es auch in einer noch so be- 
scheidenen Stellung, zu ermöglichen. Immer wieder drängt sich auf Grund der vielen 
erfolglosen Vermittlungsversuche solcher Personen der Wunsch auf, große staatliche 
Unterbringungs- und Beschäftigungsanstalten für solche geistig minderwertigen In- 
dividuen in einem weit ausgedehnteren Umfange einzurichten, als das bisher der Fall ist.“ 
„Deformitäten der Wirbelsäule“ auf rachitischer Grundlage wurden bei den jüngeren 
Erwerbslosen häufiger gefunden als bei den älteren. Diese Personen konnten nur 
durch den Schwerbeschädigtennachweis in Arbeit vermittelt werden. Sehr ausführ- 
lich geordnete Tabellen geben einen statistischen Überblick über die „Beziehungen 
von Krankheit und Arbeitsfähigkeit‘‘ der untersuchten Erwerbslosen in den ver- 
schiedenen Lebensjahrzehnten. Grimm (Bln.-Lichterfelde). 

@ Ferch, Joh.: Geburtenbeschränkung. Unter Benützung wissenschaltlichen Ma- 
terials v. J. Kurrein. Dresden-Weinböhla: Aurora-Verlag 1923. 103 S. 

Das Büchlein gehört zu den Schriften, vor denen nur dringend gewarnt werden 
kann. Es beweist wieder die Richtigkeit der Behauptung, daß volkstümliche Schriften 
nur von den besten Fachleuten geschrieben werden sollten, und daß gewöhnlich Unheil 
oder doch Unfug angerichtet wird, wenn, wie im vorliegenden Falle, der Laie „unter 
Benützung wissenschaftlichen Materials‘ schreibt. Gewiß ist das unüberlegte Kinder- 
zeugen, zumal in einem armen Lande wie Deutschland, zu bekämpfen. Hier aber 
wird unbegrenzte Geburtenbeschränkung gepredigt, ohne daß sich Verf. der Gefahren 
solcher Lehre auch nur im mindesten bewußt zu sein scheint. Wenn nicht an dem 
gesunden Sinn der Menschen solche Lehre scheitern würde, dann müßte sie zur Kein- 
und Einkinderehe führen. Die Gefahren, die damit für den Bestand von Staat und 
Familie entstehen, liegen offen. Für den Leserkreis dieser Zeitschrift möchte Ref. 
aber den einen Hinweis nicht unterdrücken, wie erzieherisch durch eine größere 
Zahl von Geschwistern auf das Kind eingewirkt wird, wie denn umgekehrt das ‚einzige 
Kind“ eine in der Psychopathenfürsorge nur allzubekannte Erscheinung ist. 

Tugendreich (Berlin). 

Hamza, František: Der soziale Arzt. Vestnik českých lékařů Jg. 35, Nr. 31, 
S. 457—459, Nr. 32, S. 463—470, Nr. 33, S. 477—479, Nr. 34, S. 487—488 u. Nr. 35, 
S. 497—500. 1923. (Tschechisch). 

In seinem groß angelegten Artikel bespricht Hamza von der Masaryk-Universität 
in Brünn die Aufgaben des sozialen Arztes. Zunächst stellt er den Begriff des sozialen 
Arztes fest. Die Wandlungen, die sich im Zusammenleben der Menschen vollzogen 
haben, haben eine ganze Menge krankheitserregender Quellen erzeugt, die er in na- 
türliche und soziale scheidet. Unter den natürlichen versteht er diejenigen, die aus der 
überstürzten Entwicklung des Zusammenlebens der Menschen in der Gesellschaft 


— 143 — 


und aus der Zivilisation hervorgegangen sind, während die sozialen an Aufenthalt, 
Beruf und Familienleben gebunden sind. Er meint, daß die sozialen Krankheitsquellen 
unendlich viel mörderischer sind, als die natürlichen und stellt fest, daß sie die Tuber- 
kulosesterblichkeit beispielsweise auf 40,5 von Hundert erhöhen, während sie unter 
dem Einfluß der natürlichen Krankheitsquellen nur 7 von Hundert beträgt. Daraus 
folgert er, daß die Gesamtheit Interesse an der Bekämpfung der sozialen Krankheits- 
quellen haben müsse, da sie die Volkswirtschaft ungünstig beeinflussen. In Böhmen be- 
trägt der Schaden, den die Volkswirtschaft durch die hohe Tuberkulosesterblichkeit 
erleidet, 100 Millionen, in Mähren 40 Millionen Kronen. Besonders notwendig sei daher 
die Fürsorge für besondere Gruppen von Menschen und insbesondere für die Jugend. 
Die Fürsorge habe daher rasch den Fortschritt von der medizinellen zur sozialen Heil- 
kunde gemacht. Der Arzt sei nicht der Träger der Heilung eingetretener Schäden, 
er sei nur der Ratgeber, Erzieher, führender Leiter in den größen öffentlichen Ver- 
bänden, denen diese Aufgabe obliegt. Eine fachliche Schulung der Ärzte sei daher un- 
erläßlich, damit sie der wichtigsten Aufgabe entsprechen könnten, der Erziehung der 
öffentlichen Meinung. Geld allein genüge nicht, die Mitarbeit der Gesamtheit, auch des 
Fürsorgebedürftigen selbst, sei zum Erfolg unerläßlich. H. verlangt daher, daß der Arzt, 
der Träger der sozialen Fürsorge ist, nach Ablegung des Doktorats noch eine besondere 
längere fachliche Ausbildung erhalte. Er tritt den Ärzten entgegen, die bei der Aus- 
gestaltung hygienischer Fürsorge um ihre Praxis fürchten und erwähnt 2 Entschließungen 
der Nationalversammlung, die die Errichtung einer Akademie für soziale Heilkunde 
verlangen, die indessen in den Hochschulen durchgeführt erscheinen. Ihre Aufgabe ist 
1. die soziologische Zergliederung und Entwicklung des gesellschaftlichen Organismus; 
2. die Erforschung der sozialbiologischen Zusammenhänge des Verbandes der einzelnen 
Menschengruppen, sowie der Ursachen der gesundheitlichen Störungen und der sozialen 
Erscheinungen, die sie herbeiführen; 3. die Ausgestaltung der sozialen Hygiene; 4. die 
Erforschung der sozialen Pathologie, die heute in ihren Anfängen sich befindet und 
insbesondere aus der Statistik schöpft; 5. die Feststellung der sozialen Therapie, die 
die große Aufgabe zu lösen hat, wie Verwaltung, öffentliche und private Fürsorge auf 
das gleiche Ziel zu richten sind. Der soziale Arzt ist Erzieher des Volkes. Seine Arbeit 
in der Erziehung des Volkes muß unterstützt werden durch das Wort, durch Vorträge, 
durch Flugblätter, durch die Presse und durch alle Behelfe, die der hygienischen Kultur 
dienstbar sein können. Die ärztliche Wissenschaft wird dadurch volkstümlich. Der 
Arzt allein reicht nicht aus zur Erziehung des Volkes, es müssen seine geistigen Führer 
zur Hilfe herangezogen werden; insbesondere müssen die Elemente hygienischer Kultur 
den Kindern eingepflanzt werden. H. weist dem sozialen Arzt die führende Rolle in 
allen privaten und öffentlichen Körperschaften zu, die auf die Erziehung des Volkes zur 
Hygiene Einfluß haben oder damit zusammenhängen. Demnach ist der soziale Arzt 
1. Lehrer der Gesundheitspflege an allen Schulen und muß ihrer Leitung angehören, 
2. Verwaltungsbeamter für Hygiene. Die Ärzte der politischen Verwaltung haben da- 
durch die wichtigste sozialhygienische Arbeit zu leisten. Doch muß der Verwaltungs- 
arzt richtig belehrt und erzogen sein, er muß über die Organisation des gesundheitlichen 
Dienstes unterrichtet sein, deren Bearbeitung ihm obliegt. Nicht nur bekämpfende, 
sondern auch vorbeugende Arbeit hat die Gesundheitspolizei zu leisten. Daher hat er 
an allen Bestrebungen teilzunehmen, denen sowohl die öffentlichen Verbände, als auch 
die private Fürsorge in dieser Richtung dienen. H. meint, daß die bisherigen Physi- 
katsprüfungen der Verwaltungsärzte bei weitem nicht mehr genügen und daß dem Arzte 
in der Sozialversicherung ein neues großes Arbeitsgebiet erschlossen wird. Er hat 
hier zu heilen, zu verwalten, zu raten und zu entscheiden. Bisher sei ihm jedoch noch 
nicht jene hervorragende Stellung in den gesetzgebenden Körperschaften eingeräumt, 
die ihm gebühre, und er meint, daß eine wohlorganisierte Sozialversicherung, in der 
ärztliche, gesundheitliche und wirtschaftliche Interessen eng verbunden sind, des sozial- 
hygienischen Verwaltungsdienstes nicht entraten könne. Auch in den Heilanstalten 


— 144 — 


gebühre dem Arzt die Verwaltungsarbeit, weil sie die Heilfürsorge erst sichert. 
Am wenigsten würde bisher die Arbeit des sozialen Arztes in Handel und Industrie 
gewürdigt, weil die gesundheitliche Komponente mit den großen Veränderungen der 
letzten Zeit auf diesem Gebiet nicht gleichen Schritt gehalten habe. H. beklagt es, 
daß bisher in der Tschechoslowakei kein Arzt zum Gewerbeinspektor bestellt worden ist, 
wie dies in Belgien, Baden und Bayern längst der Fall ist. Auch verlangt er für die 
gewerblichen Betriebe sozusagen soziale Hausärzte, denen insbesondere die Fürsorge 
für die Jugend und die jugendlichen Arbeiter zu obliegen hätte und nicht nur alle Ar- 
beiter, sondern auch deren Familien einer planmäßigen Gesundheitsfürsorge zu unter- 
werfen hätte. Ihre Erhebungen hätten sie in Gesundheitsmatrikeln der Betriebe, der 
Familien, sowie der Einzelpersonen einzutragen. Auch der Eisenbahnverkehrsdienst 
kann die Mitarbeit des sozialen Arztes nicht entbehren; er müßte hier als fachlicher 
Berater auf allen Gebieten des Verkehrswesens, der Fürsorge für die Angestellten und 
deren Familien eingreifen. Eine große Bedeutung mißt H. dem sozialen Arzt im Militär- 
wesen zu. Der Arzt hat hier nach ihm nicht bloß in der Heilfürsorge wichtige Aufgaben, 
er hätte auch in der Organisation des Dienstes, bei der Beurteilung von Unterkunft, 
Verpflegung, körperlicher und geistiger Erziehung mitzuwirken und hier besonders 
gegen soziale Krankheitserscheinungen anzukämpfen, Die wichtigste Arbeit aber fällt 
dem sozialen Arzt in der Kinderfürsorge zu. Hier müßten die Grundlagen hygienischer 
Kultur gelegt werden. Aufklärung über Familienhygiene, über gesundheitliche Er- 
ziehung der Mädchen und Frauen, schulärztliche Tätigkeit, Mitwirkung bei der körper- 
lichen und geistigen Erziehung, Überwachung und Organisation der planmäßigen 
Fürsorge für Mutter und Kind, Durchführung der sozialen Fürsorge sind seine Aufgaben 
auf diesem Gebiet. H. wünscht gesundheitliche Familienkataster, in die die Ergeb- 
nisse der Untersuchungen des sozialen Arztes einzutragen wären. Die folgenden Ab- 
schnitte des Aufsatzes H. beschäftigen sich nunmehr mit den Aufgaben des sozialen 
Arztes in der Kinderfürsorge im einzelnen. Nicht nur die Säuglingsfürsorge ist sein 
Arbeitsfeld, sondern ihm obliegt auch als Schularzt die Sorge für die Hygiene der Schul- 
gebäude, des Unterrichts, sowie die gesundheitliche Überwachung des einzelnen Kindes 
und seiner körperlichen Entwicklung. Hier fordert er insbesondere die Zusammenarbeit 
aller Faktoren, die auf die Erziehung des Kindes Einfluß nehmen. Insbesondere er- 
scheint ihm wieder die Jugendlichenfürsorge als besonders dringend. An die Seite des 
Arztes tritt in der offenen Fürsorge, die in Dispensarien, Beratungsstellen, Kliniken 
und Polikliniken geleistet wird, die soziale Arbeiterin. Sie ist nicht zu entbehren, 
weil auf diesem Gebiete besonders die Beeinflussung von Mensch zu Mensch entschei- 
dend ist, die der Arzt allein nicht zu leisten vermag. Als Werkstatt der offenen Für- 
sorge gilt nicht so sehr die Beratungsstelle, als vielmehr die Familien, das Volk selbst, 
und zwar überall dort, wo die Volksgesundheit bedroht ist. Dem sozialen Arzt gebührt 
also nach H. die Führung auf allen Gebieten, die mit hygienischer Kultur zusammen- 
hängen, und zwar nicht nur im einzelnen Fall, nicht nur dort, wo er bei Unfällen zur 
ersten Hilfeleistung herangezogen wird, sondern im gesamten Leben von Familie, Volk 
und Staat. Roller (Brünn). 


Referatenteil der Zeitschrift für Kinderforschung. 


29. Bd., H. 4 S. 145—208 





Normale Anatomie und Physiologie: 


Keene, M. F. Lucas, and Evelyn E. Hewer: Notes on one hundred human foetuses. 
(Bemerkungen über 100 menschliche Föten.) Lancet Bd. 204, Nr. 21, S. 1054—1055. 1923. 

Die Verff. haben 100 nicht macerierte, totgeborene menschliche Föten auf das 
Vorhandensein von Zerreißungen des Tentoriums und subduraler Blutungen hin unter- 
sucht. Von den 100 Föten waren 67 rechtzeitig und 33 vorzeitig geboren. Unter den 
67 ersteren zeigten 2 nur tentorielle Zerreißungen, 3 von subduraler Blutung begleitete 
Risse des Tentoriums und 7 ausschließlich subdurale Hämorrhagien. Von Interesse 
ist, daß das Durchschnittsalter der 12 in Frage kommenden Mütter relativ hoch war — 
es betrug 32,4 Jahre — und daß es sich in 6 Fällen um Erstgebärende handelte. Weiter- 
hin ist die Tatsache beachtenswert, daß nur bei 6 Geburten manuelle oder instrumen- 
telle Eingriffe vorgenommen worden waren, während die übrigen 6 spontan verlaufen 
waren. Weitere Beobachtungen ergaben, daß unter den 67 Föten 21 nicht spontan 
Geborene waren, bei denen weder tentorielle Beschädigungen noch Blutungen nach- 
weisbar waren. Unter den 33 vorzeitig Geborenen riefen 3 Zerreißungen des Tentoriums 
mit subduraler Blutung verbunden, und 4 lediglich die Spur der Blutung auf. 3 von 
den Müttern waren Erstgebärende im Durchschnittsalter von 28,2 Jahren. 2 von den 
T Geburten waren spontan verlaufen, 5 mal war ein Eingriff gemacht worden. Unter 
dem Material von 100 Föten fanden die Verff. also in 19%, der Fälle Zerreißungen des 
Tentoriums oder subdurale Blutungen oder beides; der Tod konnte diesen nach Meinung 
der Autoren nur in einem Falle von Hydrocephalus, bei dem ausgedehnte Risse und 
Hämorrhagien gefunden wurden, zugeschrieben werden. Die von Keene und Hewer 
mitgeteilten Zahlen bleiben weit zurück hinter denen von Eardly Holland (Report 
No. 7, Ministry of Health, on Causation of Foetal Death), der unter 167 untersuchten 
menschlichen Föten 81 = 48%, mit Zerreißungen des Tentoriums beobachtete. 

Többen (Münster). 

Hoeffel, Gerald Norton: A shadowgraph method of recording outlines of hands, 
(Eine Schattenbildmethode zur Darstellung der Umrisse der Hand.) (Childr. med. serv., 
Massachusetts gen. hosp., Boston.) Americ. journ. of dis. of childr. Bd. 26, Nr. 3, 
8. 280—284. 1923. 

Mittels eines einfachen Verfahrens wird auf einem lichtempfindlichen Papier eine 
Umrißaufnahme der kindlichen Hand gemacht, welche über Gestalt, Größe, Pro- 
portionen von Hand und Fingern verläßliche Bilder verschafft. Man kann dieses 
Verfahren zum Studium pathologischer Verhältnisse und zum Vergleiche für spätere 
Aufnahmen verwenden. Einige vom Verf. gebrachte Bilder (normale Hand, Kretinis- 
mus, Mongolismus, chronische Gelenkserkrankung) charakterisieren den Wert des 
Verfahrens. Zappert (Wien). 

Janet, Henri: Le métabolisme basal dans l’enfance. (Stoffwechsel in der Kindheit.) 
Journ. med. franç. Bd. 12, Nr. 6, S. 254—261. 1923. 

Der Lebensprozeß ist ein Verbrennungsvorgang; steigert sich die Intensität des 
Lebensprozesses, so wächst die Wärmebildung und umgekehrt. Schaltet man alle 
nicht unbedingt notwendigen Bewegungen aus, untersucht womöglich gleichzeitig 
im nüchternen Zustand und hält den Körper im Wärmegleichgewicht mit der Um- 
gebung, z. B. durch ein warmes Bad, so erhält man einen Mindestwert von Wärme- 
abgabe, der nach Calorien auf 1 gem Körperoberfläche ausgedrückt wird. So kann 
man z. B. Säuglinge in einer besonderen Wärmemeßkammer untersuchen; eine andere 
Methode ist die Untersuchung des Gaswechsels mit der sog. Tissotschen Maske, an 
deren Gebrauch sich die älteren Kinder schnell gewöhnen. Die Untersuchung an nor- 
malen Kindern ergibt ein schnelles Ansteigen des Mindestwertes der Wärmeabgabe 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 10 


— 16 — 


bis etwa zum 5. Lebensjahre hin, dann ein langsames Abfallen und schließlich einen 
Stillstand, bisweilen sogar ein leichtes Wiederansteigen zur Zeit des Pubertätswachs- 
tums. Klinisch wichtig ist die Methode besonders bei Kranken mit Schilddrüsen- 
veränderungen, denn bei starker Schilddrüsentätigkeit, z. B. bei der Basedowschen 
‚Krankheit, erfährt der Mindestwert eine starke Zunahme. Bei Myxödem und anderen 
Formen der herabgesetzten Schilddrüsentätigkeit sinkt der Mindestwert ab. So kann 
man bei Störungen, bei denen die Mitwirkung der Schilddrüse in Frage kommt, durch 
das Studium des Wärmewechsels klarer sehen und vor allem auch für die Behandlung 
einen Anhaltspunkt gewinnen, ob man nämlich mit der Darreichung von Schilddrüsen- 
substanz fortfahren oder stoppen bzw. eine solche Behandlung ganz unterlassen muß. 
In vielen Fällen, in denen die Mitwirkung der Schilddrüse bzw. die Art dieser Mit- 
wirkung zweifelhaft ist, kann das Studium des Wärmewechsels zur Aufklärung wesent- 
lich beitragen. Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 

Pavlov, I. P.: Inhibition, hypnosis, and sleep. (Hemmung, Hypnose und Schlaf.) 
(Internat. physiol. congress, Edinburgh, 24.—27. III. 1923.) Brit. med. journ. Nr. 3267, 
S. 256—257. 1923. 

Auf Grund seiner allgemein bekannten Forschungen auf dem Gebiet der Nerven- 
physiologie des Hundes kommt Pavlov zu dem Schluß, daß Hemmung und Schlaf 
identische Prozesse sind. Seine Untersuchungen ließen ihn erkennen, daß jeder be- 
dingte (also erworbene Reflexe hervorrufende) Reiz, wenn er allein ohne einen nicht- 
bedingten (angeborene Reflexe auslösenden) Reiz ausgeübt wird, früher oder später 
zu Schläfrigkeit und Schlaf führt und zwar kommt er um so rascher zustande, je länger 
der bedingte Reiz allein wirksam ist. — Die auch von ihm erwiesene Tatsache, daß 
Hemmung ein wesentliches Element des aktiven Zustandes der Hirnhemisphären, 
Schlaf aber ihr Ruhezustand ist, erklärt P. damit, daß Hemmung partieller Schlaf 
ist, — Schlaf aber die zusammenhängende, diffuse Hemmung der Hemisphären. — 
Beim Schlaf liegt eine das ganze Gebiet der motorischen Zone der großen Hemisphären 
umfassende Hemmung vor, die auch tieferliegende Teile einschließen kann, — sind 
aber besondere Gebiete des Gehirns gehemmt, dann entsteht die Hypnose. Eine weitere 
Frage von großer Bedeutung, ob die höchste, individuell erworbene nervöse Leistung 
erblich ist, suchte P. in Versuchen an weißen Mäusen zu lösen. Als bedingter Reiz 
diente eine elektrische Glocke, die beim Auslösen des Futterreflexes erklang. Bei der 
ersten Tierserie mußte der Versuch 300 mal wiederholt werden, bis er einen richtigen 
Reflex auslöste; die 2. Generation bildete den Reflex schon nach 100 Wiederholungen, 
die 3. nach 30, die 4. nach 10 und die 5. nach 5 Versuchen aus. Gregor (Flehingen). 

Stumpf, C.: Singen und Sprechen. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., 
I. Abt.: Zeitschr. f. Psychol. Bd. 94, H. 1/2, S. 1—37. 1924. 

Beim Sprechen verwenden wir außer sprunghaften auch stetige Tonveränderungen, 
beim Singen — prinzipiell — nur sprunghafte. Diese aus dem Altertum stammende 
Festellung wird auch heute noch als richtig anerkannt. Daneben gibt es Unterschiede 
der Klangfarbe zwischen gesungenen und gesprochenen Tönen. Die Formanten treten 
bei den gesprochenen deutlicher hervor. Von der psychologischen Seite her ist insbe- 
sondere die verschiedene Einstellung des Sängers bzw. Sprechers zu beachten; jenem 
schweben Tonhöhen, Intervalle und melodische Wendungen vor, diesem nur die Not- 
wendigkeit, seine Worte verständlich zu sprechen; nur in besonderen Fällen geht es dem 
Sprecher überhaupt um die Art der Ausführung der Laute (Schauspieler). Das Par- 
lando einerseits, das singende Sprechen andererseits sind Zwischenstufen zwischen 
Singen und Sprechen. Auch das Portamento als gleitende Tonhöhenfolge ist ein Grenz- 
fall. Beim singenden Sprechen treten Intervalle oft deutlich hervor (je nach der Ein- 
stellung des Hörers, aber auch des Sprechers). Köhler vertritt bekanntlich die Mei- 
nung, den Sprechlauten mangle im Gegensatze zu denen des Gesanges die musikalische 
Qualität, also jene Eigenschaft, welche Tönen von gleicher Buchstabenbezeichnung 
(z. B. allen D) zukommt. Aber wir sind ja doch hie und da in der Lage, etwa eine 


— 147 — 


Oktave Unterschied zwischen 2 gesprochenen Lauten wahrzunehmen! Der Sprache 
sind, wie erwähnt, gleitende Tonhöhen eigen. Stumpf ist der Meinung, daß man 
auch zwischen 2 solchen ‚„Tonbewegungen‘“ Intervallurteile machen kann. ‚Man 
erkennt den Anfangs- und den Schlußpunkt der Bewegung, obgleich sie nur punktuell, 
streng momentan, gegeben werden. Psychologisch hätte man das nicht wohl voraus- 
setzen können, da eine Erscheinung, die nicht eine gewisse endliche Zeit andauert, 
sonst nicht erkannt werden kann.“ Aber es gibt hier auch nicht nur ein Höhenempfin- 
den, sondern auch das einer musikalischen Qualität, d.h. man kann die gleichen musi- 
kalischen Qualitäten verschiedener Punkte der Reihe feststellen. Behält nun, eben 
wegen des Gleitens, der gesprochene Laut keinen Augenblick ein und dieselbe Höhe, 
so ergibt doch auch die phonographische Analyse gesungener Vokale ein ewiges, wenn 
auch geringes Schwanken im gleichen Sinne. Also handelt es sich nach allem nur um 
graduelle Differenz zwischen Sprache und Gesang und Köhlers Meinung, der Sprache 
fehlen die musikalischen Qualitäten überhaupt, ist nur in Köhlers milderer (neuerer) 
Fassung richtig, daß sie keine feste musikalische Qualität aufweise.  Fröschels. 


Biologie, Konstitution, Rasse, Vererbung : 


© Bauer, Julius: Vorlesungen über allgemeine Konstitutions- und Vererbungs- 
lehre für Studierende und Ärzte. 2. verm. u. verb. Aufl. Berlin: Julius Springer 1923. 
218 S. G.-M. 6.50 /$ 1.60. 

Das treffliche kleine Buch erscheint in 2. Auflage. Der Verf. hat versucht, vieles 
noch leichter verständlich zu machen. Weitgehend ergänzt sind vor allem die Vor- 
lesungen über Vererbungsgesetze. Auch in anderen Abschnitten sind kleine Erweite- 
rungen vorgenommen. Das Buch stellt nach wie vor eine gedrängte, gut disponierte 
und angenehm übersichtliche Orientierung über Konstitutions- und Vererbungsfragen 
dar, in der sowohl die Probleme wie die Einzeltatsachen zum Wort kommen. Eine 
etwas gleichmäßigere Berücksichtigung der einzelnen medizinischen Spezialgebiete 
dürfte sich vielleicht für künftige Bearbeitungen empfehlen. Kretschmer (Tübingen). 

Bayer, Heinrich: Über homologe und heterologe Vererbung. Zentralbl. f. allg. 
Pathol. u. pathol. Anat. Bd. 33, Sonderbd., 8. 42—54. 1923. 

Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis, daß die homologe Vererbung erworbener 
Eigenschaften nur als seltener Spezialfall möglich ist. Dagegen sind bestimmte allge- 
mein schädigende Momente, die im Organismus bestimmte Erscheinungen verursachen, 
imstande, einen Einfluß auf die Keimdrüsen auszuüben und auf diese Weise Mutation 
(d. h. plötzliche Änderungen der Keimsubstanz) und damit neue Eigenschaften hervor- 
zurufen. Die Frage, ob ein von den Eltern acquiriertes Merkmal in gleicher Form 
auf das Kind übertragen werden kann, muß im allgemeinen nach wie vor verneint 
werden. H. Hoffmann (Tübingen)., 

Sehalk, Hertha: Vererbung und Erziehung. Neue Erziehung Jg. 5, H. 12, S. 392 
bis 395. 1923. 

Das Thema wurde in einem in Berlin abgehaltenen öffentlichen Kursus über 
Sexualpädagogik behandelt. Es wurden auf Grund der Vererbungslehre Richtlinien 
für die Erziehung aufgestellt. 1. Es wird eine frühzeitige Belehrung der Jugend über 
die Vorgänge der Fortpflanzung gefordert, ferner die Vermittlung eines allgemeinen 
Begriffes von Infektion und Warnung vor Kurpfuschern. Durch eine solche nicht 
plötzlich einsetzende Aufklärung, sondern durch die Gesamterziehung bewirkte Be- 
lehrung soll späteren Mißständen im Sexualleben vorgebeugt werden. 2. Der Erzieher 
muß wissen, daß jedes Individuum ein Produkt aus Erbanlage und Umweltsbedingungen 
ist, und daß er nur die letzteren bis zu einem gewissen Grade willkürlich ändern kann, 
während er mit der Anlage als gegeben rechnen muß. Wie weit bei einem Kinde äußere 
Einflüsse wirksam sind, hängt auch wieder von seiner Anlage ab. Es ergibt sich daraus, 
daß der Erzieher die Eigenart der Anlage eines jeden Kindes kennen muß und wissen 
muß, welches Milieu und welche Erziehungsmaßnahmen die günstigsten für es sind. 


10* 


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Man soll daher möglichst ähnliche Kinder in eine Gruppe zusammenfassen und ein 
dem Durchschnitt angepaßtes Milieu schaffen. Die Kinder sollen nicht in eine bestimmte 
Berufsausbildung gedrängt werden, bevor man ihre Anlage erkannt hat. Die Ein- 
heitsschule soll nicht gleiche Bedingungen für alle, sondern für jeden die angemessenen 
bieten, sie soll nach der Art und nicht nach dem Grad der Begabung fragen. E. Lyon. 

Berze, Josef: Beiträge zur psychiatrischen Erblichkeits- und Konstitutionsforsehung 
I. Allgemeiner Teil. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 87, H. 1/2, S. 94 
bis 166. 1923. 

Allgemeine Betrachtungen über die moderne Entwicklung der psychiatrischen Konsti- 
tutions- und Erblichkeitsforschung, die sich im Ref. nicht wiedergeben lassen. Die geistreiche 
und gründlich durchdachte Arbeit ist jedem Konstitutionsforscher dringend zu empfehlen. 
Sie enthält eine Menge von grundsätzlich wichtigen Gedanken, die nicht nur für die psychia- 
trische Seite des Problems von Bedeutung sind. H. Hoffmann (Tübingen). 

Orth, Hermann: Zum Erbgang der konstitutionellen Taubstummheit. (Heil- u. 
Pflegeanst., Heppenheim a. d. B.) Arch. f. Ohren-, Nasen- u. Kehlkopfheilk. Bd. 111, 
H. 2, S. 84—101. 1923. 

Vorerst einige Erläuterungen der Mendelschen Regeln und der zu ihnen gehörigen 
Nomenklatur: Paart man 2 Eltern, dessen einer eine Eigenschaft A, der andere die 
klein a hat (z. B. verschiedene Farben), so entstehen 100%, Kinder mit der Mischeigen- 
schaft Aa. Paart man solche Kinder, so entstehen 50%, Enkel mit Aa, 25%, mit A und 
25% mita. Die eine Eigenschaft kann die andere decken (Dominanz der ersten), welche 
als „recessive“ erst in der späteren Generation zutage tritt, wenn sich 2 Individuen 
gatten, welche beide von einem Ahnen abstammen, der „heterozygot‘‘ war. Dieser 
Ausdruck bedeutet im Gegensatz zu „homozygot‘‘, daß dieser Ahne ein Elter mit der 
Eigenschaft hatte, welche eben ‚recessiv‘ sich erst in der 3. Generation wieder zeigt. 
Nun zu Orths Ausführungen. Das Ergebnis der Stammbaumbetrachtungen Taub- 
stummer zwingt zu der Annahme, daß die konstitutionelle Taubstummbheit eine reces- 
sive Anlage sei. Dafür spreche die von Weinberg propagierte Forschung an Vet- 
ternehen. „Während eine dominant gehende Anomalie ohne Rücksicht darauf, ob der 
gesunde Ehepart des Trägers dieser Eigenschaft mit ihm blutsverwandt ist oder nicht, 
sich in jedem Falle durchsetzen wird. ,., wird der Träger einer verdeckten recessiven 
Anlage beim Eingehen einer Vetternehe eine größere Wahrscheinlichkeit haben, mit 
einem Träger der gleichen Anlage zusammenzutreffen, als wenn er in die breite Be- 
völkerung hineinheiratet.‘“ Es ist auch notwendig, „durch Auszählung der kranken und 
gesunden Geschwister innerhalb genealogisch bestimmt gekennzeichneter Geschwister- 
serien den speziellen Erbgang zu erschließen“. Hammerschlags statistische Be- 
rechnungen haben dargetan, daß eine gewöhnliche Recessivität nicht in Frage komme, 
da von 38 Paaren kongenital Taubstummer etwa 23%, taubstumme und 77%, hörende 
Kinder stammen. Das veranlaßt O., daran zu denken, daß es verschiedene Idiotypen 
von Taubstummbeit gebe, die zusammenstoßend keine Taubstummheit ergeben müssen. 
Unter dieser Annahme spricht ein von ihm berechneter Prozentsatz von 22,42%, Taub- 
stummer unter den Kindern heterozygoter Eltern nicht gegen einen recessiven Ver- 
erbungstypus. Sind unter den verschiedenen Idiotypen einzelne ‚‚heteromer“, d. h. auf 
das Zusammentreffen verschiedensinnig wirkender Faktoren zurückzuführen, so müssen 
alle diese vereint sein, damit das Krankheitsmerkmal in Erscheinung tritt. Die ver- 
schiedene Idiotypie allein reicht zur Erklärung des Umstandes nicht aus, daß aus der 
Kreuzung je eines hörenden und eines tauben Elter mehr taubstumme Kinder hervor- 
gehen, als der allgemeinen Verbreitung des Leidens in der Bevölkerung entsprechen. 
Auch die Annahme von Heterozygie der Eltern wird durch die allzu große Häufigkeit 
der Abstanımung tauber Kinder aus solchen Ehen widerlegt. Deshalb ist nach O. die 
Hypothese der Polymerie notwendig. Fröschels (Wien)., 

Brandt, Paul: Das Schieksal der Frühgeburten. (Säuglingskrankenh., Barmen.) 
Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 27, H. 3, S. 209—221. 1923. 

Verf. versteht unter Frühgeburten solche unter 2500 g und 46 cm; sie machen unter 








— 19 — 


den 5—6000 Geburten des Barmer Säuglings-Krankenhauses in dem untersuchten 
Zeitabschnitt etwa 7%, aus. Ihr Schicksal hängt — abgesehen von den hier nicht 
berücksichtigten Ursachen der Frühgeburt — im wesentlichen von Länge und Gewicht 
zur Zeit der Geburt ab. Von den annähernd 300 Frühgeburten des Barmer Säuglings- 
Krankenhauses starben fast 43%, im ersten Lebensjahr; von diesen wieder annähernd 
47%, im ersten Lebensmonat. Die Überlebenden erwiesen sich an Länge und Gewicht 
mehr oder minder gegenüber den Ausgetragenen noch zurückstehend bis über das 
10. Lebensjahr hinaus. Fast alle hatten englische Krankheit durchgemacht; bis zu 
50%, machten nervösen Eindruck. — Von 57 weiteren Frühgeburten, die bald nach 
der Geburt zur Aufnahme gelangten, starben 5 mit Anfangsgewicht unter 1000. — 
Das bei der Aufnahme kleinste der Überlebenden hatte 1150 g und 42 cm bei 28,5° 
Aftertemperatur; es ist 7 Jahre und geistig minderwertig. Das Schicksal der Früh- 
geburten ist demnach nicht rosig, wenn auch die größere Hälfte die Mühe lohnt, am 
Leben bleibt und zu brauchbaren Menschen werden kann. Fürstenheim (Frankfurt). 

Wilsing, Adelheid: Das Sehieksal der Kinder minderjähriger Mütter. (Univ.- 
Kinderklin., Greifswald.) Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 49, Nr. 34, S. 1123—1127. 1923. 

Auf Grund der Erhebungen über 25 Kinder minderjähriger 13—16jähriger Mütter 
(allerdings entfallen auf die 16jährigen Mütter allein 14 Kinder) kommt Verf. zu dem 
Schlusse, daß diese Kinder in der Regel keine körperliche oder geistige Entwicklungs- 
schwäche zeigen. @. Tugendreich (Berlin). 

Levy, Julius: Maternal mortality and mortality in the first month of life in relation 
to attendant at birth. (Die mütterliche Sterblichkeit und die Sterblichkeit im 1. Lebens- 
monat in Beziehung zur Leitung der Geburt.) Americ. journ. of public health Bd. 13, 
Nr. 2, S. 88—95. 1923. 

Die mütterliche Sterblichkeit ist in den Vereinigten Staaten höher als in vielen anderen 
Ländern, und hat trotz aller sanitären Fortschritte in den vergangenen 25 Jahren keine merk- 
bare Abnahme erfahren. In manchen Staaten ist sie sogar noch im Ansteigen. Ebenso 
verhält sich die Sterblichkeit im 1. Lebensmonate, wogegen dieselbe im Alter von über 1 Monat 
und unter 1 Jahre in den letzten 10 Jahren einen Rückgang von 50% erfahren hat. — Von 
manchen ist diese Erscheinung auf die ansteigende Verwendung der Hebammen zurück- 
geführt worden und hat Verf. diesbezüglich Untersuchungen im Staate New Jersey durch- 
geführt, deren Ergebnisse mit ausführlichen Zahlenbelegen in der Arbeit niedergelegt sind. 
Aus diesen geht hervor, daß die Sterblichkeitsziffern sowohl der Mütter als der Kinder im 
1. Monat nicht ungünstig beeinflußt erscheinen vom Prozentsatz der von Hebammen ge- 
leiteten Geburten. Die niedersten Sterblichkeitsziffern wurden am häufigsten in Städten 
und Gegenden mit dem höchsten Prozentsatze von durch Hebammen geleiteten Geburten 
gefunden. Selbst unter Erstgebärenden und bei den verschiedenen Rassen ist der Tod im 
Wochenbettfieber seltener bei den von Hebammen entbundenen Frauen. Zingerle (Graz). 

Spalding, Alfred Baker: Neonatal mortality assoeiated with syphilis and other 
maternal infeetions. (Sterblichkeit der Neugeborenen in Verbindung mit Syphilis und 
anderen mütterlichen Infektionen.) Journ. of the Americ. med. assoc. Bd. 81, Nr. 16, 
S. 1345—1348. 1923. 

Die Arbeit gibt einen Überblick über den Anteil mütterlicher Infektionen an der 
Sterblichkeit der Früchte und der Neugeborenen. Es geht daraus hervor, daß in der 
Frauenklinik der Universität in San Francisco in den Jahren 1919—1923 durchschnitt- 
lich 3,7% der schwangeren Frauen einen positiven Wassermann aufweisen. Die fötale 
Sterblichkeit belief sich auf 17%. Die Syphilis steht unter den Todesursachen der 
Früchte weitaus an erster Stelle. In weitem Abstand folgen Nierenentzündungen 
(Eklampsie), Tuberkulose, Grippe und sonstige Infektionen der Mütter. Die Behand- 
lung syphilitisch infizierter Mütter hat immerhin einige Erfolge gezeitigt. Villinger. 

Dalmark, P. C. J.: Untersuehungen von Körpergewicht und -größe der Alumnen 
der Akademie in Sorø 1912—1921. Ugeskrift f. laeger Jg. 85, Nr. 44, S. 771—773. 
1923. (Dänisch.) 

Dalmark stellte unter den Zöglingen von Sorø im Alter von 12!/,—19!/, Jahren 
Messungen der Körpergröße wie des Gewichts innerhalb von 10 Jahren an und gibt 
die Durchschnittszahlen an für das Alter. Die Zöglinge wurden jedes halbe Jahr in 


— 10 — 


leichtester Kleidung gewogen (ca. 344). Das Gewicht verdoppelte sich ungefähr in 
diesen 7 Jahren, während die Höhe um ca. 20%, zunimmt. Im Alter von 121/,—14!/, 
Jahren ist das Wachstum absolut niedriger, doch relativ stärker als im Alter von 
141/,—17?/,, während es absolut und relativ geringer ist im Alter von 17—19!/, Jahren. 
Bei Mädchen scheint das Verhalten nach den Untersuchungen Westergaards und 
Jaegepris das gleiche zu sein. Amerikanische Knaben (nach den Untersuchungen 
von Stanley Hall) zeigen im 12. Lebensjahr eine Größe, die um 6 cm kleiner ist, 
während sie im 18. Jahr dieselbe Größe wie die dänischen zeigen. Sie wachsen dem- 
nach schneller und zwar 1 cm mehr jährlich. Das Körpergewicht steigt im allgemeinen 
gleichzeitig mit der Größe und zwar um 1 kg für jeden Zentimeter des Höhenwachstums. 
S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 

Kjerrulf, Harald: Untersuehung der im Herbst 1923 neu aufgenommenen Schüler 
der Adolf Friedrieh- Volksschule. Svenska läkartidningen Jg. 20, Nr. 44, S. 1033 — 10836. 
1923. (Schwedisch.) 

Kjerrulf stellte Untersuchungen (Gewicht und Größe) bei Schülern einer Volks- 
schule im Herbst 1923 an und konnte aus diesen feststellen, daß die Annahme nicht 
zutrifft, daß die in Stockholm während der Kriegsjahre geborenen Kinder weniger 
gut entwickelt waren oder seien, wie die als normal betrachteten. Dabei handelte es 
sich um die Kinder, die im Jahre 1916 geboren waren. Mittellänge für Knaben 144 bis 
122 cm, Gewicht 22,6 kg, für Mädchen 114—121 cm und 22,1 kg. Zum Vergleich sind 
die Zahlen bzw. Untersuchungen nur geeignet, die in derselben Jahreszeit (Herbst) 
vorgenommen sind (nicht April). Im März bis August ist das Maximum des Wachstums 
anzunehmen. S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 

Nicolaeff, Léon: Influence de P’inanition sur la morphologie des organes infantiles. 
(Einfluß des Hungers auf die Morphologie der kindlichen Organe.) Presse med. Jg. 31, 
Nr. 96, S. 1007—1009. 1923. 

Untersuchungen an verhungerten Kindern von 1—16 Jahren, die 1922 der Hungers- 
not in Rußland zum Opfer fielen (Anatom. Institut in Charkow). Ein Teil starb unter 
den Erscheinungen des Hungerödems. Die Gewichtsverluste betrugen 25—40% des 
Normalgewichts und stiegen relativ mit dem Alter. Das Gehirn war verhältnismäßig am 
wenigsten betroffen, zeigte demgemäß relative Gewichtserhöhungen z. B. bei 14jährigen 
Knaben statt 3,68%, des Gesamtgewichts 6,81%. Interessant ist die starke Gewichts- 
abnahme der Thymusdrüse auch bei kleinen Kindern bis auf !/,, des Grundgewichts 
und der Schilddrüse auf !/,; hingegen blieben die Nebennieren auf einem ziemlich guten 
Verhältnisgewicht und erwiesen sich in einzelnen Fällen hypertrophisch.. Homburger. 

Asehenheim, Erieh: Ergebnisse von Sehuluntersuchungen in Remseheid. Zeitschr. 
f. Kinderheilk. Bd. 37, H. 1/3, S. 109—118. 1924. 

Es handelt sich um Länge und Gewicht der Schulrekruten von 15/16 und 16/17, 
sowie der Schulabgänger des Jahrgangs 08/09. Trotzdem die Remscheider Bevölkerung 
ihrem wesentlichen westfälischen Einschlag nach groß ist, was auch an den Überlängen 
der Schulrekruten sich zeigt, waren die Schulentlassenen des Jahrgangs 08/09 der 
Länge nach vorwiegend unter durchschnittlich — verglichen an den Pirquetschen 
Zahlen. Trotz der verhältnismäßig guten Verdienst- und Ernährungsverhältnisse 
der Remscheider industriellen Bevölkerung war der weitaus größte Teil der unter- 
suchten Schuljugend untergewichtig. Der Jahrgang 15/16 schneidet dabei noch schlech- 
ter ab als derjenige 16/17, der sich zur schlimmsten Kriegszeit noch in der Foetalperiode 
befunden hat. Bei den Schulabgängern finden sich gerade bei den Unterlängen die 
Übergewichtigen. Die Mädchen schneiden an Gewicht durchweg besser ab als die 
Knaben. Die Schulneulinge zeigen in 20%, positive Tuberkulinsalbenreaktion, Mädchen 
überwiegen. 35%, der Untersuchten hatte Rhachitisleiden, vorwiegend Knaben, 
die Knaben des Jahrgangs 16/17 wiesen sogar 50,9%, auf. Facialisphänomen häufiger 
bei Mädchen; besonders oft bei Untergewichtigen. Starke Verschlechterung mit dem 
Ruhreinbruch; Urmaterial aus äußeren Gründen nicht veröffentlicht. Fürstenheim. 


— 151 — 


Sehauerte, Otto: Ein Fall von Hermaphroditismus verus beim Mensehen. Zeitschr. 
f. d. ges. Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutionslehre Bd. 9, H. 3/4, S. 373—384. 1923. 

16jähr. Individuum, Geschlecht von Geburt an unklar, als Mädchen aufgezogen, aber mit 
wildem, eigensinnigem, knabenhaftem Temperament; seit 15’/, Jahren regelmäßige, starke 
Menstruation. Körperbau im Gesamtbild weiblich, doch mit derber Muskelkraft. Sexuelle 
Neigung weder für männliches noch weibliches Geschlecht. Läßt sich operieren, um richtiges 
Mädchen zu werden. Nach der Operation ‚„mannstoll‘‘, vielfacher Sexualverkehr mit Männern. 
Befund: Normaler Uterus, nach l. normale Tube und Ovar mit hühnereigroßer Cyste; nach r. 
strangartiges Gebilde zum Leistenkanal. Statt der r. Labie Scrotum mit hodenförmiger Drüse. 
AeA (Rinne statt Harnröhre) und Vagina gleichzeitig ausgebildet. Die exstirpierte r. Drüse 

Hoden- und Eierstocksgewebe nebeneinander. — Der Fall ist dadurch wichtig, daß neben 
vol ausgereiftem Ovar sich eine weitgehende Differenzierung des Kanälchenepithels im Hoden- 
teil findet (Mitosen, mehrkernige Zellen, Spermiogonien, Spermiocyten, Spermiden). . 

Verf. stellt mit Einschluß vorliegender Beobachtung 8 sichere Fälle von Herm- 
aphroditismus verus beim Menschen fest. In allen Fällen besteht eine Vermischung von 
äußeren männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen. In den meisten Fällen sind 
Hoden und Ovar zu einer Zwitterdrüse vereinigt, meist ist der Hodenanteil größer als der 
Eierstocksanteil, dagegen der Ovarialanteil weiter. differenziert; der Hodenanteil zeigte 
in den meisten anderen Fällen keine Differenzierung des Epithels der Samenkanälchen. 

Kretschmer (Tübingen)., 
Psychologie: 
Allgemeine und spezielle Psychologie. — Methodisches : 
© Prantl, Rudolf: Kinderpsychologie. (Handbücherei d. Erziehungswiss. f. Lehrer 
u. Lehrerinnen u. ihre Arbeitsgemeinseh. Hrsg. v. Friedrich Schneider. Rd. 8.) Pader- 
born: Ferdinand Schöningh 1923. VIII, 159 S. G.Z. 1,80. 

Aus der bekannten katholischen Sammlung, die jedem Kapitel eine Anzahl Fragen 
anhängt, um zu selbständiger Weiterarbeit anzuregen, worauf der Verf. besonderen 
Wert gelegt hat. Die Psychopathologie ist leider kaum berücksichtigt, was den prak- 
tischen Wert des Buches doch beeinträchtigt; gerade von diesem Vermissen aus wird 
man den Schlußabschnitt über ‚Die Suggestibilität‘‘, den der Verf. mit einer gewissen 
Entschuldigung einführt, sehr begrüßen. H. Nohl (Göttingen). 

Foucault: Assertions d’enfants. (Kinderaussagen.) Journ. de psychol. Jg. 20, 
Nr. 1, S. 1—11. 1923. 

Verf. betont, daß zum Verständnis der Kinderlügen eine sorgfältige psychologische 
Analyse erforderlich ist. Es genügt nicht, sie zu korrigieren und mit mehr oder minder 
großer Strenge die Kinder von ihren falschen Aussagen abzubringen zu suchen. Nur 
wenn man die psychologische Genese kennt, kann man die richtigen erzieherischen 
Konsequenzen ziehen. Verf. legt seiner Betrachtung eine Reihe von praktischen 
Fällen zugrunde, die von einer Lehrerin gesammelt worden sind, und führt einige sehr 
instruktive Beispiele verschiedenartiger Genese an. Eine der Hauptursachen der 
falschen Behauptungen der Kinder ist ihre noch mangelhaft entwickelte Logik. Vor- 
eilige Verallgemeinerung von Einzelerlebnissen, Analogieschlüsse auf Grund von äußer- 
lichen Ähnlichkeiten, Mißdeutungen der Wahrnehmung infolge einseitiger Erfahrung 
lassen sich oft als Grundlage nachweisen. So z. B. wenn ein Kind erzählt, die Madonna 
habe ihm eine Frucht gegeben, weil sie sie von einem Mädchen erhalten hatte, die ein 
ähnliches Kleid trug, wie eine Madonnenstatue u.a. Die falschen Schlüsse werden dann 
auch besonders hartnäckig festgehalten, wenn Affektmomente, z. B. Furcht, dabei eine 
Rolle spielen. Die angeführten Beispiele zeigen in lehrreicher Weise, daß oft dort, 
wo man zunächst Lügen vermutet, nichts anderes als eine falsch angewandte Induktion 
vorliegt. Kramer (Berlin)., 

® Ingenieros, José: Prinzipien der biologischen Psychologie. Übersetzt von Julius 
Reinking. Mit einer Einführung von Wilhelm Oswald. Felix Meiner: Leipzig 1922. 
XII, 391 8. 

Jose Ingenieros, Professor an der Universität Buenos Aires in Argentinien, 
will uns in seinem Buche die Grundlagen einer solchen Psychologie bieten, welche 





— 152 — 


statt spekulativer und metaphysischer Hypothesen uns zu wahrer, wirklich prakti- 
scher Menschenkenntnis verhilft. Er nennt diese Psychologie biologisch, weil .die 
Seelenerscheinungen durch natürliche Prozesse erklärt werden. Es ist eine biologische 
Tatsache, daß jedes Lebewesen, von den einfachsten angefangen, auf die Reize der 
Umwelt reagiert: die psychischen Funktionen. Sie sind Anpassungen an die Umwelt, 
welche im Laufe der Entwicklung sich differenzieren, mannigfaltiger und komplizierter 
werden; sie werden in ihrer Struktur durch diese Anpassungen verändert, und den 
Veränderungen der Formen entsprechen die Veränderungen der Funktion. Diese 
Entwicklung verläuft in drei Reihen der menschlichen Erfahrung: in der phylogene- 
tischen, in der ontogenetischen und in der soziogenetischen Entwicklung; die beiden 
letzten sind verkürzte Rekapitulationen der ersten. Das Kind, der Mensch der Urzeit, 
der primitive Mensch der Gegenwart haben gleichgebaute seelische Strukturen. Dieser 
Weg der natürlichen Entwicklung entfaltet im Menschen die bewußte Persönlichkeit, 
das Ichbewußtsein, welche eine ausgedehnte und unkörperliche Wesenheit ist, kein 
den psychologischen Phänomenen übergeordnetes Epiphänomen, keine Richtkraft oder 
schöpferische Kraft der psychischen Tätigkeit. Die bewußte Persönlichkeit ist eine 
fortschreitende Erwerbung im Laufe der individuellen Erfahrung; sie ist Produkt 
einer höheren Entwicklung, hat ihre Keime aber in den primitivsten Funktionen. 
Die individuelle Persönlichkeit ist das Resultat der Variationen der Vererbung durch 
die Erziehung. Sie bildet den Charakter und äußert sich durch das Verhalten: die 
Gesamtheit der Akte, mittels welcher das Individuum sich den der Umwelt eigentüm- 
lichen Existenzbedingungen anpaßt. I. illustriert diese Theorie mit sehr lebendigen 
erhebenden Schilderungen des menschlichen Verhaltens, seine Beobachtungen sind 
sehr wertvoll für den psychologisch gebildeten Erzieher. Er fordert für diese gene- 
tische Psychologie und ihre extrospektive Beobachtungsmethode eine führende Rolle 
neben den Methoden der Introspektion und der experimentellen Psychologie. Es ist 
wirklich sehr erwünscht, daß unsere Erzieher mit dieser genetischen Richtung der 
Forschung sich eingehender befassen, denn wie eben aus diesem schönen Buche erhellt, 
können viele pathologische und moralisch mangelhafte Verhaltungsweisen der Kinder 
durch diese genetische Betrachtung aufgeklärt werden, die heute unbegreiflich und 
unerklärbar erscheinen. E. v. Kármán (Budapest). 

Kantor, J. R.: The problem of instinets and its relation to social psychology. 
(Das Instinktproblem und seine Beziehung zur Sozialpsychologie.) Journ. of abnorm. 
psychol. Bd. 18, Nr. 1, S. 50—77. 1923. 

Die Abhandlung ist eine kurze kritische Darstellung der in Amerika herrschenden 
Meinungen und Theorien über die Instinkte. Aus der Fülle der mißverständlichen 
und zum Teil falschen Bezeichnungen , Instinkt“ für verschiedene Verhaltungsweisen, 
werden die strittigen Punkte herausgegriffen und kritisch betrachtet. Zum Schluß 
wird in einem sehr kurzen Abschnitt das Vorhandensein einer Beziehuug zwischen 
Instinkt und Sozialpsychologie in Abrede gestellt. Verf. stellt anfangs die Frage: 
Sind Instinkte geistige Kräfte, metaphysische Hypothesen oder wirkliche Reaktionen ? 
Die verbreitetsten Ansichten darüber sind: 1. Instinkte sind Triebfedern für 
Handlungen; nach dieser Theorie wären Instinkte Kräfte irgendwelcher Art, die das 
tierische und menschliche Verhalten bestimmen. Solche Instinkte sind zweckbe- 
stimmende Prozesse psychischer Art, welche selbständig auf das Körperliche wirken, 
sich des körperlichen und neurologischen Mechanismus bedienen, um Ziele zu erreichen. 
In seiner letzten Darstellung vertritt Mc Dougall diese animistische Theorie und lehnt 
seine frühere (Instinkt als neurologischer Mechanismus) ab. Auch meint Mc Dougall 
Instinkte seien nicht immer beobachtbare Tatsachen, sondern Erklärungshypothesen. 
Verf. sieht den Prozeß durch diesen Vitalismus oder durch andere metaphysische Theorien 
nicht geklärt; auch beachte diese Theorie zu wenig die Situation außerhalb des Indi- 
viduums, die stimulierend oder verändernd auf eine Handlung wirkt, oft entgegen den 
Instinkten. 2.InstinktesindauslösendeKräftebestimmterEinrichtungen 


= II se 


und Mechanismen (Driving adjustments and mechanisms), Wood worth in seiner 
Psychologie (1921) und Tolman sagen: Instinkte sind undeterminierte aber zweck- 
volle Antworten oder Ketten von Antworten auf gewisse Reize, die durch einen Faktor 
hervorgerufen werden, der nicht aus der äußeren Situation stammt, sondern physio- 
logisch bedingt ist: „sie sind Förderer, d. i. eigenartige Kräfte, welche bestimmte 
Reihen von Zufallshandlungen auslösen“. Verf. sieht die Schwierigkeit in dem un- 
geklärten Ausdruck ‚Förderer von Mechanismen‘; ferner wisse man nicht, welcher 
Art diese Kräfte seien, auch käme trotz einiger Erklärungsversuche diese Theorie 
doch nur einer Beschreibung des Betragens (behavior) nahe. 3. Instinkte sind 
bestimmende Faktoren für das augenblickliche Verhalten (Thorndike). 
Instinkte bestimmen die ganze Entwicklung aller vorhandenen Tendenzen im Indivi- 
duum und sind die bedingenden Faktoren zu seinem Charakter. Diese Tendenzen 
sind dem Individuum angeboren und im „neurologischen Apparat‘ gelegen; Um- 
gebung und Außenwelt bilden bloß Gelegenheiten, die angeborenen Tendenzen zu 
Fertigkeiten weiter zu entwickeln. (1. Hier fehlt der animistische Beweggrund, 2. Teleo- 
logie tritt hinter den Augenblickserfolg; 3. Tendenzen (Dispositionen) gehen in spezi- 
fische Akte über; 4. der ganze Mechanismus ist eine Funktion des neurologischen 
Apparates); dagegen spreche die Entwicklung der menschlichen Handlungen, 
die zu einer gewissen Starrheit und Abhängigkeit von der physiologischen Wirksamkeit 
verurteilt wäre. 4. Instinkte sind charakteristische Züge, Elemente der 
jeweiligen natürlichen Gestalt des biologischen und physiologischen Organismus; 
sie erklären die Handlungen der verschiedenen Gruppen von Individuen. Sie sind keine 
Reaktionen, sondern reine angeborene Kräfte und Prozesse. Diese Theorie, die noch 
weiter ausgeführt wird, vermenge anatomische Charakteristicae mit Handlungen, 
einfache Reflexe mit komplexen Handlungen und entspreche speziell für die mensch- 
liche Gruppe von Individuen nicht den Tatsachen. 5. Instinktesind Fundamente 
für Handlungen. Diese Fundamente bestehen aus einfachen Reflexen, die durch 
die Nervenstruktur bedingt sind und die Basis für komplexe Handlungen abgeben. 
Verf. steht dieser Theorie am nächsten, lehnt aber eine mosaikartige Zusammenstellung 
der einfachen Reflexe zu komplexen Handlungen ab. 6.Instinktesind Zielhand- 
lungen (Instincts as Ends) im praktischen Sinn; Handlungen werden ausgelöst um 
Ziele zu erreichen. Ebenso wie die menschlichen Organe bestimmte Funktionen zu 
erfüllen haben, so Neuronen und Muskeln, durch ‚stimuli‘ bewegt, bestimmte Ziel- 
handlungen. Hier werden teleologische Prozesse mit Funktionen verwechselt und 
gleichgesetzt. 7. Instinkte sind angeborene Handlungen. Sofern die an- 
geborenen Handlungen auf einfachen Mechanismen beruhen, könne Verf. in manchen 
Punkten zustimmen, aber wie sollte Zorn, Angst, Kampflust, Selbstbehauptung, Neu- 
gierde, Mutterliebe, Sexualität u. v. a. als angeborene Handlung erklärt werden? 
8. Instinkte sind ererbte Handlungen (inherited actions), d. i. ererbte Faktoren 
psychischer Aktivıtät (Prof. Wells). Äußeres Verhalten kann nicht vererbt sein, 
Reaktion auch nicht; daher sind diese Faktoren Tendenzen und Neigungen innerhalb 
des Individuums. 9. Instinkte sind Gewohnheiten. Im Gegensatz zu jenen An- 
schauungen, die in den Instinkten nichts Erlerntes sehen, wird hier die Behauptung 
aufgestellt, daß Gewohnheiten entwickelte Instinkte seien. Gegen die letzten zwei 
Theorien werden mehrere Bedenken vorgebracht. Die kritischen Einwände, die Verf. 
äußert, sind um so berechtigter, als der oft allzu weitgehende Begriff Instinkt in der 
amerikanischen Psychologie weit über die Grenzen der bloßen ‚Disposition‘ geht 
und vielfach Instinkt und Instinkthandlung gleichgesetzt wird. Die eigene Theorie 
des Verf. ergibt sich aus der kritischen Stellungnahme. Die anfangs gestellten Fragen 
(die auch die Problemstellung nicht erschöpfend umgrenzen), werden jedoch nicht 
entscheidend beantwortet. (Über: Reflex und Instinkt siehe Kafka: Tierpsychologie 
im Handbuch d. vergleichenden Psychol. 1922; und Müller - Freienfels: Gemüts- 
und Willensleben, 1924.) v. Kuenburg (München). 


— 154 — 


Jaenseh, E. R.: Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre Struktur im 
Jugendalter. Über Gegenwartsaufgaben der Jugendpsychologie (als Sehlußwort). 
Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., I. Abt.: Zeitschr. f. Psychol. Bd. 94, 
H. 1/2, S. 38—53. 1924. 


Der Aufsatz will nicht nur den Schluß, sondern auch den zusammenfassenden 
Rahmen abgeben für die Reihe von Arbeiten, die aus dem Jaenschschen Kreise 
über die Wahrnehmungsstruktur der Jugendlichen der Öffentlichkeit übergeben worden 
sind. J. stellt noch einmal heraus, wie die auf seiner Forschungsgrundlage sich auf- 
bauende Jugendpsychologie, die von ihm und seinen Schülern fundiert und in jahre- 
langen systematischen Untersuchungen gefördert worden ist, als besonders günstiges 
zentrales Gebiet unter den ‚Wissenschaften vom Leben‘ die einzelwissenschaftlichen 
und philosophischen Fragen in einem bestimmten, für unsere Zeit charakteristischen 
Gesichtswinkel sehen läßt; wie sie ferner in ihrer Anwendung auf die praktische Päda- 
gogik ein „Konzentrationsfach für Lehrerbildung“ sein, eine belebende Wirkung 
auf das Hochschulstudium hervorrufen kann, namentlich im Hinblick auf die gärende 
geistige Bewegung in der heutigen Jugend. Kann die Jugendpsychologie auf diese 
Weise ihre Bewährungsprobe im Praktischen leisten, so gilt dies nicht nur für die Päda- 
gogik, sondern ebenso sehr für die Bewährung in der Medizin. (J. weist in diesem Zu- 
sammenhang auf die Arbeiten seines Bruders W .Jaensch hin.) Weiterhin sieht J. 
in der Klärung der Probleme der Jugendpsychologie ein Mittel, um das „Echte und 
Bleibende‘“ von dem ‚„Vorübergehenden und Vergänglichen“ in der Psychologie zu 
unterscheiden, wobei er nochmal mit polemischer Schärfe gegen die sog. „Gestalt- 
psychologie“ auftritt. Zum Schluß lädt er die erwachsenen Eidetiker ein, sich nach 
Möglichkeit seinem Institut zu weiterer Forschung zur Verfügung zu stellen. 

E. Feuchtwanger (München). 


Fiseher, Siegfried, und Harry Hirsehberg: Die Verbreitung der eidetischen Anlage 
im Jugendalter und ihre Beziehungen zu körperlichen Merkmalen. (Psychiatr. u. Nerven- 
klin., Univ. Breslau.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 88, H. 1/3, S. 241 
bis 295. 1924. 

Die Verff. gehen daran, die Verbreitung der eidetischen Anlage [d. h. der 
Fähigkeit zur Erzeugung von Anschauungsbildern (AB) im Sinne von Urbantschitsch 
und E. R. Jaensch] im Kindes- und Jugendalter an einem Material von 70 Knaben 
und 70 Mädchen im Alter von 9—18 Jahren zu untersuchen und die von W. Jaensch 
aufgestellte Korrelation von bestimmten Arten von AB und einem basedowoiden (B) 
oder tetanoiden (T) Typus unter den Vpn. nachzuprüfen. Sie bedienen sich zur Fest- 
stellung der eidetischen Phänomene der Methoden von Jaensch, Paula Busse, 
Edith Gottheilu.a. und suchen die B- und T-Typen durch Untersuchung auf körper- 
liche Zeichen (Graefes, Moebius’ Phänomen, elektrische Erregbarkeit der Nerven- 
stämme, Pulsfrequenz, Chvosteksches und Trousseauxsches Zeichen usw.) zu bestim- 
men. Es findet sich eine latente oder manifeste eidetische Anlage so gut wie bei allen 
Prüflingen. Die Häufigkeit ist am größten zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr, 
nimmt gegen das Erwachsenenalter hin ab. Die weiblichen Individuen scheinen mehr 
die Fähigkeit zur Produktion (unabhängig von der Fixation der Vorlage) und zur 
willkürlichen Erzeugung der AB zu haben als die männlichen. — Was die körperliche 
Untersuchung betrifft, so ließ sich allgemeine Übererregbarkeit bei sehr vielen Prüf- 
lingen nachweisen. Die von W. Jaensch aufgestellte Korrelation zwischen Art der 
AB und dem B- oder T-Typus der Prüflinge hat sich jedoch nicht feststellen lassen. 

E. Feuchtwanger (München). 


@Kroh, Oswald: Subjektive Ansehauungsbilder bei Jugendlichen. Eine psychologiseh- 
pädagogische Untersuehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1923. VIII, 196 S. 
G.-M. 4.80. 

Es gibt Individuen, die Vorlagen. die sie kurze Zeit betrachtet haben, nach 


= 7155. — 


Fortnahme derselben mit allen Einzelheiten wirklich wieder vor sich sehen, er- 
leben. Diese so gesehenen Bilder, die sich von Vorstellungen und Nachbildern 
ganz charakteristisch unterscheiden, bezeichnet man als „subjektive optische An- 
schauungsbilder“ (s. o. A.-B.). Diese s. o. A.-B., die in den letzten Jahren die 
psychologischen Forscher besonders fesselten, sind es, die für die Jugendkunde 
— Pädagogik überhaupt — neue Deutungsweisen ermöglichen, die zweifellos um- 
gestaltend mitwirken werden. E. R. Jaensch, Marburg, war es, der diese s. o. A.-B., 
wie sie zuerst vom Wiener Ohrenarzt V. Urbantschitsch beschrieben wurden und 
auch von anderen Psychologen in verschiedener Form beschrieben und unter- 
sucht wurden, systematisch und konsequent experimentell erforschte und vor allem die 
Analyse der s. o. A.-B. zu einem hervorragenden Mittel der Untersuchung wichtiger 
Wahrnehmungs- und Denkvorgänge ausbaute. Die Untersuchungen, die E. R. Jaensch 
ım Marburger Institut anstellte, sind in der Zeitschrift für Psychologie, Band 84 ver- 
öffentlicht. Die vorliegende Studie von Kroh, die aus Untersuchungen, die sich über 
2 Jahre erstrecken, hervorging, legt vor allem den Hauptwert auf die Folgerungen, 
die sich aus der Psychologie der s. o. A.-B. für die Pädagogik ergeben. Damit ist ein 
wertvoller Schritt getan, und jeder Pädagog muß sich mit diesen neuen Erkenntnissen 
vertraut machen. So manches „Problem der Schulstube‘‘ wird ihm gedeutet oder er- 
scheint ihm nicht mehr als pädagogischer Fehler oder findet er dazu eine andere Er- 
klärung als bisher. Vor allem auch wird dem Pädagogen die von Kinderpsychologen 
immer wieder betonte Wahrheit erneut begründet, daß das Kind kein kleiner Er- 
wachsener ist und wir die Deutung seiner seelischen Erlebnisse selbständig vom Kinde 
aus vornehmen müssen. K. bringt 3 Kapitel, von denen das 1. das Psychologische 
im weitaus größten Umfange enthält. Und das ist zu begrüßen, da die Form, wie K. 
seine Versuche beschreibt, die psychologische Deutungen vornimmt, die Phänomen- 
ologie der s. o. B.-A. gibt und Beziehungen zu anderen verwandten psychischen Er- 
scheinungen zeigt, so anschaulich und auch für Fernstehende verständlich ist, daß jeder 
Pädagoge erfolgreich das Studium dieser Arbeit durchführen wird. Die wertvollen päda- 
gogischen Anwendungen und Deutungen der psychologischen Erkenntnisse füllen das 
2. Kapitel. Und im 3., kürzesten, zeigt der Verf., daß die s. o. A.-B. ein Indicator 
von besonderer Feinheit sind, typische psychopathische Dispositionen und Auswir- 
kungen festzustellen. E. Jaensch stellte ja fest, daß die s. o. A.-B. besondere Kenn- 
zeichen bestimmter Konstitutionstypen darstellen und K. zeigt an einigen Eidetikern, 
daß die Diagnose gewisser psychischer Anomalien erleichtert wurde durch die Analyse 
der A.-B. So erscheintesKroh — mit Recht —, daß die Analyse der A.-B. in ihrer Ent- 
wicklung sehr wohl ein Hilfsmittel zu einer Analyse der Persönlichkeit überhaupt werden 
muß. Wie die Psychologie des s. o. A.-B. auch in die Deutung so mancher seelischer 
Erlebnisse der frühen Kindheit sicherere Deutungen ermöglicht, kann ich aus eigener 
Arbeit dem Verf. bestätigen und findet er zu seinen Ausführungen Seite 120ff. die ver- 
schiedensten Beobachtungsvorfälle in meiner Psychologie der frühen Kindheit (Verlag 
E. Wunderlich, Leipzig 1911—1924). Kurt Walther Dix (Meißen). 

Fischer, Arthur: Über Zahlsynopsien. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. 
Jg. 24, H. 5/6, S. 152—156. 1923. 

3 Fälle von Jugendlichen mit Zahlensynopsien, d. h. mit eigenartigen Anschau- 
ungsbildern, in denen in besonderer Weise Zahlenreihen unseres Zahlensystems zu 
übersichtlicher Veranschaulichung gebracht werden. 2 davon bedienen sich der Form 
dreidimensional gesehener Kurven, während das Bild des 3. aus einem eigenartigen 
System von sehr regelmäßigen Achtecken mit gemeinschaftlichem Mittelpunkt 
besteht. Diese sowie eine der in Kurvenform dargestellten Synopsien sind durch 
Farbenzuteilungen ausgezeichnet. Alle 3 sind mathematisch hervorragend begabt. 
Leider fehlt die Darstellung der sicher sehr interessanten sonstigen psychischen 
Struktur in der etwas summarischen und rein deskriptiven Mitteilung. 

Villinger (Tübingen). 


— 16 — 


Wittmann, J.: Über das Gedächtnis und den Aufbau der Funktionen. Eine experi- 
mentelle Untersuchung über das An- und Abklingen der Reproduktionen taktiler, aku- 
stischer und optischer Eindrücke. (Physiol. Inst., Univ. Kiel.) Arch. f. d. ges. Psychol. 
Bd. 45, H. 3/4, S. 203—265. 1923. 

Aus einer ablehnenden Stellungnahme zu W. Köhlers naturphilosophischer 
Untersuchung ‚Die physischen Gestalten in Ruhe und stationärem Zustand“ versucht 
Wittmann auf dem Wege einer Untersuchung der im Titel genannten Phänomene 
zu einer neuen Auffassung der Beziehungen von Leib und Seele zu gelangen. Aus- 
gehend von den Studien E. und W. Jaenschs an Eidetikern prüfte er an einer Anzahl 
nervöser und gesunder, ärztlich größtenteils nicht untersuchter Kinder und Jugend- 
licher das Verhalten sinnlicher Reproduktionen der verschiedenen Gebiete bei wechseln- 
der Anordnung der Reize in qualitativer, numerischer und zeitlicher Hinsicht. Er 
kam dabei zu einigen Gesetzmäßigkeiten bei der Reproduktion einfacher und der 
additiven Reproduktion mehrfacher und verschiedener frischer und wiederbelebter 
älterer Reize und stellte durchgängig eine wesentliche Beteiligung der Aufmerksamkeit 
bei allen Arten und Vorbedingungen der Reproduktion fest. Hieraus zieht er sehr weit- 
gehende Schlußfolgerungen: Die zeitlich gesetzliche Ordnung, in der die Eindrücke 
überhaupt, einfache und additive, an- und abklingen, die Abhängigkeit der primären 
sinnlichen Anschauungsbilder und der Wiederbelebung abgeklungener Eindrücke 
von den Reizverhältnissen wird durch die Annahme erklärt, daß den primären Reizen 
bzw. Eindrücken eine bestimmte nervöse physiologische Erregung entspricht. Die 
Reproduktion dieser zentralen Erregung liegt den produzierten sinnlichen Anschauungs- 
bildern zugrunde. Die Gesetzmäßigkeiten der Abläufe sprechen für ‚eine besondere 
Lebendigkeit des nervösen Geschehens“. Die Abhängigkeit der Reproduktion von der 
Aufmerksamkeit rückt für den Verf. die Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt 
seiner Anschauungen über den Aufbau der Funktionen, wobei unter Funktionen 
„Formen des geordneten Ablaufes der seelisch-körperlichen Prozesse‘ verstanden 
werden, die auch besonders geartete, von der allgemeinen Psychologie aufgewiesene 
Entwicklungsprozesse gebildet bzw. gestiftet sind‘. Die Aufmerksamkeit aber definiert 
W. als „eine allgemeine Reaktionsweise, eine Einstellung (willensmäßige? Ref.) des 
Organismus auf Eindrücke“, welcher physiologisch ‚ein ausgebreitetes nervöses Ge- 
schehen zuzuordnen ist, gleich den Affekten, zu denen sie prinzipiell zu rechnen ist, das 
selbst vor allem einen hohen Grad von Lebendigkeit besitzt‘‘. Sie organisiert die Er- 
regungen zu Funktionen. Diese organisierende Funktion der Aufmerksamkeit meint 
W. dadurch zu begreifen, „daß man sie in physiologischer Hinsicht in der besagten 
Lebendigkeit und Plastizität des nervösen Geschehens begründet ansieht“. So wird 
ihm die Aufmerksamkeit ‚zum einigenden Band zwischen Leib und Seele, ihres funk- 
tionellen Aneinandergebundenseins“ ; in ihrer Doppelfunktion „haben wir die ursprüng- 
liche Äußerung des Lebens, wie es sich in dem fortgesetzten Streben nach höheren 
funktionellen Lebensformen kundgibt, zu sehen“. Nach W. Ausführungen würde also 
die Aufmerksamkeit in sich annähernd die Gesamtheit aller Voraussetzungen zu dem 
Aufbau einer geistigen Ordnung in sich vereinigen. Dadurch wird, was wir unter Auf- 
merksamkeit verstehen sollen, nur immer umfassender, weil die Vielheit der Bedeu- 
tungen des Ausdrucks durch eine übergeordnete Begriffsbestimmung überwunden 
werden soll; schärfer und klarer wird der Begriff aber nicht; wenn W. ihr dann ein 
physiologisches Korrelat zuordnen oder sie von der physiologischen Seite her be- 
stimmen will, so kann er natürlich nur zu den allgemeinsten Eigenschaften alles orga- 
nischen Lebens, Lebendigkeit und organisierende Funktion gelangen. Dementsprechend 
sind für W. „die Tatsachen des Gedächtnisses aus einer auf der Lebendigkeit und 
Plastizität beruhenden konservierenden und organisierenden Funktion des 
Nervensystems zu verstehen‘. Die konservierende macht allein das Wesen des Ge- 
dächtnisses nicht aus, wie Hering und Semon annahmen, weil die Art des Reprodu- 
zierens von der Organisation der Erregungen selbst abhängt. Homburger (Heidelberg). 


— 157 — 


Wohlgemuth, A.: The influenee of feeling on memory. (Der Einfluß der Gefühls- 
betonung auf die Merkfähigkeit.) Brit. journ. of psychol. Bd. 13, H. 4, S. 405—416. 1923. 

Nach einer Besprechung der bisher in der Literatur vorliegenden Studien über 
den Einfluß der Gefühlsbetonung auf die Merkfähigkeit teilt Verf. eigene Experimente 
mit, die sich an die Methode von A. Kowalewski anschließen. Es ergibt sich nur ein 
sehr geringer Unterschied zu ungunsten der lustbetonten Erinnerungen (bei 687 Kindern 
zwischen 11 und 16 Jahren). Gruhle (Heidelberg). 

Brown, Warner: To what extent is memory measured by a single recall? (Inwieweit 
ist Gedächtnismessung durch eine einzige Prüfung möglich?) (Psychol. laborat., univ. 
of California, Berkeley.) Journ. of exp. psychol. Bd. 6, Nr. 5, S. 377—382. 1923. 

Verf. stellt auf Grund experimenteller Untersuchungen fest, daß 2 Gedächtnis- 
tests nie ganz übereinstimmende Resultate ergeben. Bei jedem Test sprechen Zufalls- 
faktoren mit. Eine einzige Prüfung kann nie entscheidend sein. Erich Stern. 

Eliasberg, Wladimir: Die Sehwierigkeit intellektueller Vorgänge; ihre Psychologie, 
Psyehopathologie und ihre Bedeutung für die Intelligenz- und Demenziorscehung. 
(Fachlazar. f. Hirnverl., München.) Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 12, 
H. 1, S. 136—144 u. H. 2, S. 201—226. 1923. 

Die wissenschaftliche Intelligenzforschung geht aus von der Annahme einer all- 
gemeinen Intelligenz als einem dauernden, alle Einzelbeanlagungen umfassenden Merk- 
mal an Individuen. Sie setzt sich das Ziel, die Individuen danach zu gruppieren. 
Dieses Merkmal ist empirisch zu bestimmen. Innerhalb dieses Merkmals können 
verschiedene Untergruppierungen angewandt werden: normal — abnorm, gut beanlagt 
— weniger gut beanlagt, für eine bestimmte Aufgabe geeignet und nicht geeignet. 
Da das Verfahren nicht von Einzelfällen ausgeht, um zu Gruppen zu gelangen, sondern 
mit Gruppierungen beginnt, um den Einzelfall zu erforschen, so kann es nicht als 
statistisch bezeichnet werden. Der Einzeltest ist eine unhistorische, quantitative 
und indirekte Methode zur messenden Prüfung der Intelligenz, ohne Rücksicht auf 
deren phänomenologische Beschaffenheit. Der phänomenologische Intelligenzbegriff 
versucht auf die Frage zu antworten: Wie sind die Funktionen beschaffen, die wir 
im Begriff der Intelligenz zusammenfassen? Das Testexperiment bedarf der Vorarbeit 
und Ergänzung durch die direkte und die entwicklungspsychologische Methode der 
Selbstbeobachtung und des Vergleichs. Die relative Messung der Intelligenz durch 
den Test bestimmt die Rangordnung der Individuen einer Gruppe. Die Heranziehung 
der Selbstbeobachtung des reifen Bewußtseins ist eine neue direkte Methode zur 
Eichung der Tests. Die Kriterien der Schwierigkeit können nur richtig verwendet 
werden, wenn man aus Erfahrung weiß, worauf sie deuten. In pathologischen Fällen 
zeigt sich häufig eine falsche Deutung der Schwierigkeitskriterien und damit auch eine 
falsche Beurteilung der Schwere des eigenen Defekts und der Grenzen des eigenen 
Könnens. Bei Aphasien, Apraxien, Agnosien ist die richtige Beurteilung des eigenen 
Defekts ein Kriterium, das für Unversehrtheit der eigenen Intelligenz spricht. Es 
ist einleuchtend, daß derartige Stellungnahmen eine Grundlage unseres gesamten 
geistigen Lebens bilden und in ihrem gegliederten Zusammenhang das Wesen dessen 
ausmachen, das wir als Intelligenz bezeichnen. Dementsprechend versteht Verf. 
unter Demenz die Einbuße an Stellungnahme der Persönlichkeit. Die Arbeit ist nicht 
leicht zu lesen, enthält aber eine Fülle wertvoller Ergebnisse. Többen (Münster). 

© Lipmann, 0., und H. Bogen: Naive Physik. Theoretische und experimentelle Unter- 
suchungen über die Fähigkeit zu intelligentem Handeln. Leipzig: J. A. Barth. 1923. 
IV, 154 S. G.Z. 5.35. 

Das bisher von der Psychologie vernachlässigte intelligente Handeln ist nach 
Lipmann nicht im reinen Denkversuch oder an Zeichnungen, sondern im Verkehr 
des Prüflings mit den Dingen selbst zu erforschen. Einer allgemeinen Übersicht über 
die Möglichkeit einer solchen Prüfung folgt eine von Bogen ausgeführte Versuchs- 
reihe: „Prüfungen des physischen Handelns von Kindern.“ Ein Ball liegt in einem 


— 158 — 


komplizierten Käfig und soll von dem Kinde mit irgendeinem der ihm zu Gebote 
stehenden Hilfsmittel ohne Anleitung herausgebracht werden. Das Verhalten der 
Kinder wird genau beschrieben. Ein Vergleich mit den Schulleistungen ergibt, daß 
die praktische Intelligenz nicht immer der in der Schule bewährten parallel geht. 
Leider erfahren wir aus diesen Versuchen nichts, wodurch die beiden Denkweisen sich 
unterscheiden. Das herauszustellen wird die Aufgabe neuer Versuche mit systema- 
tischer Selbstbeobachtung sein. Eine sehr dankenswerte Vorarbeit hierzu bietet der 
dritte Teil des Buches: ‚Referat über Methoden und Ergebnisse von Prüfungen 
des physischen Handelns von Tieren und von normalen und schwachsinnigen Kindern 
und Erwachsenen.“ Daß statt allgemein verständlicher und theoriefreier Wendungen 
so oft die Worte ‚optische‘ und ‚physikalische Struktur‘ auftreten, auch wenn dadurch 
die Sachlage sehr verdunkelt wird, ist wohl eine Huldigung an den genius loci, dem 
allerdings manch kräftiger Anstoß zu diesen für die Kinderforschung aussichtsreichen 
Studien zu verdanken ist. Lindworsky (Köln). 

Hermann, Imre, und Alice Hermann-Cziner: Zur Entwieklungspsyehologie des 
Umgehens mit Gegenständen. Eine experimentell-psychologische Untersuchung zum 
Hebelprinzip. Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 22, H. 5/6, S. 337—386. 1923. 

Die Autoren setzten sich das Problem, das Verhalten von Kindern bei statischen 
Aufgaben zu studieren. Ein Lineal, das in manchen Fällen asymmetrisch belastet 
war, sollte auf die schmale Schnittfläche eines Dreikants gesetzt werden, dem die obere 
Spitze weggeschnitten war. Die Maßverhältnisse waren so, daB eine gewisse Geschick- 
lichkeit zum Ausbalancieren erforderlich war. In einer Reihe von Versuchen wurde 
mit verdecktem Auge gearbeitet. Es wurden normale Kinder im Alter von 3—10 Jahren, 
ferner Hilfsschüler und schwachsinnige Kinder herangezogen. Durch Nebenversuche 
wurde festgestellt, daß die jugendlichen Versuchspersonen kein theoretisches Wissen, 
keine Einsicht zur Lösung der Aufgabe verwenden. Ein bemerkenswertes Resultat 
war, daß den jüngsten Versuchspersonen die Lösung der Aufgabe bei verdecktem 
Auge besser gelang als wenn sie hinschauten. Zur Erklärung zieht Hermann-Cziner 
seine in der älteren Arbeit über formale Wahltendenzen, Zeitschr. f. Psych. 87 ent- 
wickelte Theorie heran. Die formalen Wahltendenzen beruhen darauf, daß 1. bestimmte 
motorische Einstellungen vorhanden sind; 2. daß von dem Reiz bis zu einem bestimmten 
Lebensalter gewisse primitive unmittelbare Einstellungen ausgehen. Auf den letzteren 
beruht es, daß die Randzonen bevorzugt werden. Wenn nun keine Einsicht mitwirkt, 
so war zu erklären, warum die Aufgabelösung gelingt, wenn die beschriebenen Tendenzen 
ihr eigentlich entgegenwirken. Warum also, konkret gesprochen, die jungen Kinder 
mit Randwahltendenz trotzdem dazu kommen, die Lösungsmitte zu finden und warum 
andererseits die Kinder etwa jenseits des 5. Jahres mit Mittelwahltendenz trotzdem 
die Randlösungen finden. H. erklärt das durch ‚„sinnhaltige Peripherprozesse‘‘, worunter 
er wohl selbständige sinnvolle Leistungen des motorischen Systems der Hand versteht. 
Es ist nicht ganz klar, ob er sich wirklich nur auf eine Art Eigenmotorik der Hand fest- 
legen will, und es ist erst recht nicht klar, wie denn aus solchen Bewegungsempfin- 
dungen und Bewegungsvorstellungen Gedanken entstehen sollen. Richtig ist aber, 
daß es in der Abfolge der Entwicklung Stadien gibt, wie sie H. zeichnet, daß also auf 
ein Stadium, in dem die Bewegung eine große Rolle spielt, und mit ihr und in ihr wohl 
überhaupt die anschauliche Gegebenheit, ein Stadium folgt, in dem die anschaulichen 
Prozesse, das eigentliche Denken vorwiegen. Hier sieht H. eine Parallele der Onto- 
genese zur Phylogenese und auch zu den primitiven Stufen des Denkens der Natur- 
völker, wie sie namentlich Levy - Brühl in seinem berühmten Buch: „Les fonctions 
mentales dans les sociétés inferieures‘‘ beschrieben hat. Der Klärung der peripheren 
Prozesse sollten die Untersuchungen an Schwachsinnigen dienen. Da diese Schüler 
sich aber schon in einem Alter befanden, wo die Peripherprozesse zurückgebildet sind, 
konnte als Grund für die Minderleistung doch nur die Unterwertigkeit des Zentral- 
prozesses, also der allgemeinen Intelligenz gefunden werden. Die Autoren haben dann 





— 19 — 


auch Verhaltungsweisen der Kinder unter der Aufgabe geschildert. Es ergaben sich 
ihnen wiederum entwicklungspsychologische Stufen, die sie bezeichnen 1. als die der 
passiv-fatalistischen Hinnahme; 2. die aktiv-magische Stufe: der bloße Wunsch muß 
genügen, um die Lösung herbeizuführen und 3. das aktive Verhalten in Anpassung 
an die Realität. Es erscheint dem Referenten auf Grund eigener Erfahrung und auf 
Grund des Studiums der Protokolle von H. sehr fraglich, ob namentlich das zweite 
Stadium richtig gedeutet ist. Ref. hat bei Kindern gerade derartige starke Wunsch- 
einstellungen, wo der Wunsch kausal wirkt, vermißt im Gegensatz zum erwachsenen 
Schwachsinnigen. Bewegungen und Handlungen, wie sie H. sah, Anpressen des Lineals 
an die Unterlage, dürften doch wohl eher Entladungen des Unlustaffektes sein. Für 
das Problem, das H. ganz richtig aufwirft, wie bei entgegenstehenden Tendenzen die 
richtige Lösung zustande kommt, hätte wohl gleichfalls an die Wirkung der Aufgabe 
gedacht werden müssen. H. nimmt mehrfach Bezug auf die Angaben von Köhler 
(Intelligenzuntersuchungen an Anthropoiden), der an seinen, auf Teneriffa untersuchten 
Schimpansen eine auffallende Schwäche des „statischen Sinnes“ fand. H. glaubt auch 
hier seine Randwahltendenzen zur Erklärung heranziehen zu sollen. Eliasberg. (München). 

Poffenberger, A. T., and Florenee L. Carpenter: Character traits in school success. 
(Charaktereigenschaften und Erfolge in den Schulleistungen.) Journ. of exp. psychol. 
Bd. 7, Nr. 1, S. 67—74. 1924. 

Die Verff. stellen die Frage: welche Charaktereigenschaften bewirken, daß die 
Schulleistungen mancher Kinder nicht ihrem Intelligenzniveau entsprechen? In 3 
Klassen wurden die Kinder rangiert 1. nach den Schulleistungen (auf Grund des Lehrer- 
urteils); 2. nach dem Ergebnis einer Prüfung mit dem ‚National-Intelligenz-Test‘“; 
3. nach dem Intelligenzquotienten. Diejenigen Kinder, deren Schulleistungen ihren 
Rangplätzen in den Rangierungen 2. und 3. nicht entspreachen, wurden noch einmal 
mit Downeys ‚Will Temperament Test“ geprüft. Dabei stellte sich heraus, daß beson- 
dere Erfolge und Mißerfolge in den Schulleistungen auf Rechnung bestimmter Kom- 
binationen von Charaktereigenschaften zu setzen sind. Als Ursache des Mißerfolges 
z. B. ergaben sich im allgemeinen: Mangel an Sorgfalt im Kleinen, Mangel an moto- 
rischen Impulsen, motorische Hemmung, Mangel an Lenkbarkeit. Bobertag (Berlin). 

Dawson, Shepherd: Variation in the mental efficieney of children during school 
hours. (Schwankungen im geistigen Wirkungsgrad bei Kindern während der Schul- 
stunden.) Internat. record of child. welfare Jg. 1923, Okt.-H. 1923. 

Auf Grund von Studien mit Hilfe einer kleinen Rechenoperation, die er Schul- 
kindern über und unter 9 Jahren zu verschiedenen Stunden des Schultages ausführen 
läßt, kommt der Berichterstatter zu dem Schluß, daß sich bei den Kindern über 9 
Jahren während des Schultages keine Verminderung des geistigen Wirkungsgrades 
feststellen läßt, daß aber ein Abfallen nach 5 Stunden Schularbeit bei Kindern unter 
9 Jahren eintritt. E. Feuchtwanger (München). 

Malseh, Fritz: Das Interesse für die Unterrichtsfächer an höheren Knabensehulen. 
Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 22, H. 5/6, S. 393—441. 1923. 

Während es über das Interesse des Kindes an den Schulfächern, so weit die Volks- 
schule in Betracht kommt, eine große Reihe von Untersuchungen gibt, sind unsere 
Kenntnisse über die Jugend der höheren Schulen bisher noch dürftig. Die Arbeit 
des Verf.s, fußend auf einem umfassenden Material, bedeutet daher einen wertvollen 
Beitrag zu dieser Frage. Er findet, daß die Sprachen auf der Unterstufe großes, nach 
oben stark abnehmendes Interesse finden, das vielfach in schroffe Ablehnung über- 
geht, besonders bei alten Sprachen. Das Interesse für Deutsch ist ziemlich rege, auf 
der Mittelstufe weniger, am meisten auf der Oberstufe. Geschichte ist auf allen Stufen 
beliebt, Erdkunde auf der Unterstufe nicht, später gleichgültig. Die mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Fächer fihden großes, vorwiegend positives Interesse, werden 
aber doch immer von einer beträchtlichen Anzahl von Schülern abgelehnt. Technischen 
Fächern und der Religion gegenüber verhalten sich die Schüler gleichgültig. E. Stern. 


— 10 — 


© Busse, Hans Hr.: Das literarische Verständnis der werktätigen Jugend zwischen 
14 und 18. Eine entwieklungs- und sozialpsyehologisehe Studie. Mit Geleitworten von 
C. Mosterts und Chr. Klumker. (Beihefte zur Zeitschr. f. angewandte Psychol. Hrsg. v. 
William Stern und Otto Lipmann. Beihelt 32.) Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1923. 
VIII, 289 S. G.2.8. 

Die Untersuchungen des Verf. gründen sich in erster Linie auf Beobachtungen, 
Befragungen und Erhebungen in einem katholischen Jünglingsverein einer industrie- 
armen süddeutschen Mittelstadt, und nur gelegentlich sind andere Schichten zum Ver- 
gleich herangezogen. Es ergibt sich so eine gewisse Einseitigkeit, die auch durch die 
ganzen Untersuchungen des Verf. deutlich wird. Innerhalb der dadurch gezogenen 
Grenzen bringt aber die Arbeit einen wertvollen Beitrag zur Psychologie und Pädagogik 
des Jugendalters. Vor allem zeichnet sie sich durch ein tieferes Eingehen auf die 
einzelnen Probleme aus, wie es eben nur für den möglich ist, der in der Jugendbewegung 
oder Jugendpflege arbeitet und hier enge Berührung mit den Jugendlichen hat. Frei- 
lich merkt man dem vorgelegten Material auch allzuoft das Beeinflußtsein durch den 
Verf. und die Richtung des Vereins an. Verf. behandelt in 3 Abschnitten das auffassende 
oder Sprachverständnis, die literarischen Interessen und das höhere Kunstverständnis. 
Ein näheres Eingehen auf die interessanten Ergebnisse ist ohne ausführlichere Belege 
nicht möglich. Der Anhang gibt Beispiele von Dichtungen Jugendlicher. E. Stern. 

Jewett, Stephen Perham, and Phyllis Blanchard: Diagnostie significance of intelli- 
genee tests. (Die diagnostische Bedeutung der Intelligenzprüfungen.) New York state 
journ. of med. Bd. 23, Nr. 5, S. 202—205. 1923. 

Als das Mittel, die verschiedenen angeborenen Anlagen der Intelligenz möglichst 
unabhängig von dem Erfahrungsschatz, der von den Prüflingen durch Unterricht und 
Milieu erworben wird, zu erfassen, werden die Testserien nach Binet in der Barbeitung 
von Terman an der Stanford - Universität (die sog. Binet -Stanford - Tests) 
angegeben. Die Prüfungen, nach denen wie in anderen derartigen Untersuchungen das 
Lebensalter (chronological age) mit dem ‚‚Intelligenzalter“‘ (mental age) verglichen wird, 
sind abhängig von der Fertigkeit des Prüflings im sprachlichen Ausdruck. (Testserien, die 
die vollkommene Kenntnis der Sprache nicht voraussetzen, sind die Tests von Pintner 
und Patterson, die auch für den Gebrauch in der amerikanischen Armee bearbeitet 
sind.) Dem Psychiater kann die Verwendung der Testserien von Nutzen sein zunächst zur 
Feststellung, inwieweit an dem Versagen in der Schule und im Leben bei Kindern und 
Jugendlichen Intelligenzdefekte die Ursache sind. Die richtige Anwendung der Methode 
ermöglicht nach Ansicht der Autoren eine Abscheidung der wirklichen intellektuellen 
Defekte (Schwachsinn, Demenz) von der physiologischen Dummheit, wenn man eine 
Herabminderung des Intelligenzalters noch nicht im defektiven Sinne deutet, Inkon- 
gruenzen in den verschiedenen Einzeltests zur Beurteilung heranzieht und die intellek- 
tuelle Entwicklung mitbeachtet. Wichtig ist die Darlegung, daß die Feststellung 
eines geringeren Intelligenzalters noch keineswegs erlaubt, eine Herab- 
setzung derintellektuellen Anlage zu diagnostizieren. Es müssen vielmehr 
auch andere Faktoren, die (nach Äußerung der Autoren) die Aufmerksamkeit und das 
assoziative Geschehen beeinträchtigen können, genau abgewogen werden, insbesondere 
emotive Einflüsse, Veränderungen des körperlichen Befundes, des allgemeinen Bewußt- 
seinszustandes usw. Aus angeführten Beispielen läßt sich ersehen, wie z. B. bei Psycho- 
pathien eine Minderung des Intelligenzalters sehr rasch (unter Umständen in Jahresfrist) 
eingeholt wird, welchen hemmenden Einfluß Gemütsstörungen bei Zirkulären auf die 
- intellektuelle Leistung haben, wie unter der Wirkung von Medikamenten und in der 
dadurch erzeugten Hebung des Allgemeinzustandes Leistungen und ‚Intelligenzalter‘ 
sich zunehmend und rasch bessern. Unter vorsichtiger Ausschaltung solcher Fehler- 
quellen leistet aber die Testprüfung dem Arzt gute Dienste, wenn er sich bewußt bleibt, 
daß die Prüfung nur eine von vielen psychiatrisch-diagnostischen Methoden sein kann. 

E. Feuchtwanger (München). 


— 161l — 


Wells, George R.: The application of the Binet-Simon tests to groups of white 
and colored school ehildren. (Die Anwendung der Binet-Simon-Tests auf Gruppen 
weißer und schwarzer Schulkinder.) Psychol. monogr. Bd. 32, Nr. 3, S. 52—58. 1923. 

Verf. prüft unter Anwendung der erforderlichen Vorsicht und Kritik Gruppen 
weißer und farbiger Kinder in den Schulen von Oberlin. Es ergibt sich im allgemeinen, 
daß die weißen Kinder etwas besser abschneiden. Im einzelnen zeigt sich, daß die 
Ergebnisse für das 6.—8. Lebensjahr für beide Gruppen gleich sind; auch mit 9, 10 und 
11 Jahren ist die Differenz zwischen weißen und farbigen Kindern nicht sehr groß; 
erst von 12. Lebensjahr ab zeigen sich erhebliche Unterschiede, die ihr Maximum 
zwischen 14 und 15 Jahren erreichen. Im Anfang zeigen also weiße und schwarze Kinder 
die gleiche Intelligenzhöhe, dann bleiben die schwarzen allmählich in der Entwicklung 
- zurück. Diese Unterschiede auf Vererbung bzw. auf eine Minderwertigkeit der schwarzen 
Rasse zurückzuführen, geht nach Auffassung des Verf. nicht an; vielmehr spielen 
soziale Faktoren die Hauptrolle. Die wirtschaftliche Lage der Negerbevölkerung ist 
schlecht; die Gesundheit läßt zu wünschen übrig, die Beteiligung am Verbrechertum 
ist eine relativ große. Die Negerkinder versäumen öfter den Unterricht, verlassen die 
Schule früher. Erich Stern (Gießen). 

Bappert, Jakob: Zur qualitativen Bewertung des Zeichentests von Binet-Simon. 
Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 21, H. 4/6, S. 259—282. 1923. 

Bei dem Zeichentest der Binet-Simon-Prüfung ist es nicht selten, daß ein Kind 
zwar das Quadrat, aber nicht den Rhombus abzeichnen kann. Verf. hat eingehende 
Untersuchungen darüber angestellt, worauf die größere Schwierigkeit der Rhombus- 
zeichnung beruht. Er fand, daß der größte Teil der Kinder die Zeichnung des Rhombus 
von oben beginnt, daß meist die Zeichnung der oberen Hälfte gelingt, die der unteren 
dagegen Schwierigkeiten bereitet und mangelhaft ausfällt. Der Grund hierfür kann 
entweder darin liegen, daß es die untere Hälfte, oder darin, daß es die zu zweit gezeich- 
nete Hälfte ist, Verf. meint, daß beide Momente dabei eine Rolle spielen. Beginn der 
Zeichnung von unten her bewirkte in einem Teil der Fälle, aber nicht immer, ein besseres 
Gelingen. In besonderen Versuchen prüfte Verf. das Verhalten, wenn Winkel und 
Dreiecke mit der Spitze nach oben und nach unten abgezeichnet wurden. Auch hier 
machte die Zeichnung mit der Spitze nach unten größere Schwierigkeiten. Das Zeichnen 
der zweiten Rhombushälfte ist insofern schwieriger, als das Kind für die Anordnung 
und Richtung der Linien nicht mehr die gleiche Freiheit hat wie bei der ersten Hälfte. 
Die größere Schwierigkeit in der Zeichnung der unteren Hälfte führt Verf. auf die 
motorische Unzulänglichkeit des Kindes zurück. Die motorischen Richtungen im Raum 
sind nicht gleichwertig. Sie sind einander an Schwierigkeit ungleich und entwickeln 
sich in bestimmter Gesetzmäßigkeit nacheinander. Die bessere Leistung bei der 
Zeichnung des Quadrates beruht darauf, daß rechte Winkel, vertikale und horizontale 
Richtungen in der motorischen Entwicklung bevorzugt werden. Kramer (Berlin)., 


‘Nyssen, R.: Intelligenzprüfung mit Hilfe von Tests. Vlaamsch geneesk. tijdschr. 
Jg. 4, Nr. 18, S. 455—462. 1923. (Flämisch.) 

Wesentlich referierender Bericht über die Untersuchungsmethode nach Binet- Simon 
u. a. Tests, wobei auf die Unbestimmtheit des Begriffes „Intelligenzniveau‘ und die Not- 
wendigkeiten, nicht auf Grund einzelner Tests, sondern deren Synthese zu urteilen, Gewicht 
gelegt wird. Rudolf Allers (Wien)., 

Tueh: Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe. Prakt. Psychol. Jg. 4, H. 9, 
S. 272—279. 1923. 

Verf. untersucht die Dreiwortmethode in ihrer Brauchbarkeit zur Kombinationsprüfung; 
als Testworte benutzte er in den zwei Versuchsreihen: Flüchtling — Wasser — Rettung, und: 
Kaufmann — Sturm — Schaden. Im ersten Falle ist die Instruktion ganz allgemein, die 3 Worte 
sollen auf möglichst viele verschiedene Weise verbunden werden. Im zweiten Falle sollte es 
darauf ankommen, daß die innere logische Verbindung da sei, knapp und sachlich ohne phan- 
tastische Ausschmückung. In beiden Fällen sollen möglichst viel verschiedene Lösungen 

ebracht werden. Die erste Art der Instruktion erwies sich als nicht zweckmäßig, da sie der 
hantasie zu viel Spielraum gibt und die kombinatorische Leistung nicht genügend klar her- 


Zeitschrift für Kinderforschung. 2%, Ref. il 


— 162 — 


vortreten läßt. Die phantastischen Lösungen sind dagegen zum Feststellen des Typus der 
Versuchsperson brauchbar Die Untersuchung beschāftigt sich vor allem mit den Fehlleistun- 
gen und den aus ihnen zu ziehenden Schlüssen. Verf. kommt bezüglich der Wahl der Worte 
zu folgenden Schlüssen: die Worte müssen eindeutig sein, die Begriffe müssen in einen ohne 
Zwischenglieder herstellbaren kausalen Zusammenhang gebracht werden können. Der Test 
darf nicht zu viel Lösungen zulassen. Die Instruktion muß lauten: es sollen zwischen je zwei 
der gegebenen Worte derartige Beziehungen hergestellt werden, daß sich aus ihnen unmittelbar, 
d.h. ohne Mittelglieder das dritte ergibt. Symbolische oder bildliche Auffassung der Begriffe 
ist ausgeschlossen. Die Reihenfolge der Begriffe ist so zu wählen, daß sich stets eine geschlossene . 
Kausalkette ergibt. Es sind möglichst viele Lösungen zu finden. Bei der Verwertung sind 
phantastische Lösungen als Fehlleistungen anzusehen und bei der Rangordnung in herab- 
setzendem Sinne in Anrechnung zu bringen. Kramer (Berlin)., 
Duff, James F., and Godfrey H. Thomson: The soeial and geographieal distribution 
of intelligenee in Northumberland. (Soziale und geographische Verteilung der Intelligenz 
in Northumberland.) (Dep. of education, Armstrong coll., Newecastleon- Tyne.) Brit. journ. 


of psychol., gen. sect. Bd. 14, H. 2, S. 192—198. 1923. 


An Kindern zwischen 11 und 13 Jahren (6930 Knaben und 6695 Mädchen) wurden 
Intelligenzprüfungen mit den ‚Northumberland Mental Tests“ vorgenommen, deren Art 
und Anordnung schon früher veröffentlicht waren und die in der vorliegenden Arbeit 
nicht mehr beschrieben sind. (Der Interessent findet eine kurze Darstellung dieser 
Tests durch O. Lipmann im Zentrlbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 84, 402f, Arbeit 
Thomson.) Es werden die Intelligenzquotienten (I.Q.) berechnet; als „Intelligenz‘“ 
gelten ausdrücklich nur die Qualitäten, die durch die Tests erfaßt werden. Die Verff. 
stellen sich zunächst die Aufgabe, den durchschnittlichen I.Q. für Gruppen von Kindern 
aufzustellen, die nach dem Beruf der Eltern zusammengefaßt sind. Den höchsten durch- 
schnittlichen I.Q. bei ihren Kindern haben die freien Berufe (I.Q. = 112,2), es folgen 
Direktoren und Betriebsleiter (110), höhere Klassen des Handels (109,3), Heer, Flotte, 
Polizei, Post (105,5), Ladeninhaber (105,0), Ingenieure (102,9), Werkmeister (102,7), 
Baugewerbe (102), Metallarbeiter, Schiffsbauer (100,9), Industriearbeiter verschiedener 
Art (100,6), Kohlenarbeiter (97,6), Landwirte aller Art (97,6), niedere Beschäftigungs- 
stufen, Taglöhner (96,0). Der Durchschnitt der Kinder von Kopfarbeitern ist I.Q. 
= 106,6, von Handarbeitern = 98,6. — Nach der Herkunft aus verschiedenen geographi- 
schen Bezirken zeigen die Kinder aus den Städten höhere Durchschnittsquotienten als 
die vom Lande, die aus den Kohlenbezirken Northumberlands höhere als die aus den 
landwirtschaftlichen Kreisen. Diese Gruppenkorrelation erlaubt keinen Schluß auf 
die Individualkorrelation, die bei Anwendung der Pearsonschen Berechnung nur 
K.K. = 0,28 beträgt. — Ein Schluß wird aus den Ergebnissen von den Autoren nicht 
gezogen. Die Parallelität zwischen ‚‚Intelligenz“ der Kinder und Bildungsgrad bzw. 
wahrscheinlicher freier Zeit der Eltern für die Erziehung scheint aber zu zeigen, daß 
durch die angewandten Prüfungsmethoden weniger angeborene Dispositionen und 
Anlagen, als vielmehr durch Milieu und Unterweisung erworbene Leistungsfaktoren 
untersucht werden; auch wenn man vorhandene Auslese- und Erbfaktoren mit ein- 
rechnet. E. Feuchtwanger (München). 


Marouzeau, J.: Langage affectif et langage intellectuel. (Affektive und intellek- 
tuelle Sprache.) (Soc. d. psychol., Paris, 8. II. 1923.) Journ. de psychol. norm. et 
pathol. Jg. 20, Nr. 6, S. 560—578. 1923. 


Die Sprache hat nicht nur die Aufgabe, die Gedanken zu übersetzen, sondern auch 
einen Eindruck zu machen, eine Handlung zu verwirklichen. Die Mittel der ,Affek- 
tivation‘ sind verschieden. Verf. zeigt an der französischen und lateinischen Sprache 
drei Mittel des Gefühlseindrucks. Synonyme Worte: das eine hat die gewöhnliche, 
physikalische, das andere eine übertragene, affektive Bedeutung, z. B. im Lateinischen 
niger und ater oder albus und candidus. Zweitens kann durch die Stellung des Ad- 
jektivums und die verschiedene Betonung der Worte der Unterschied zwischen affek- 
tiver und intellektueller Sprache zum Ausdruck kommen. Sittig (Prag). 


— 163 — 


Bübler, Karl: Über den Begriff der sprachlichen Darstellung. Psychol. Forsch. 
Bd. 3, H. 3, S. 282—294. 1923. 

Verf. unterscheidet 3 Richtungen, in denen ein Sprachzeichen Bedeutungsträger 
sein kann, die Richtungen auf den Hörer, den Sprecher und auf Gegenstände oder 
Sachverhalte. Er nennt diese 3 Dimensionen des Sprachsinnes Auslösung, Kundgabe 
und Darstellung. Die Worte enthalten nicht nur außer der begrifflichen Wortbedeutung 
Gefühlswerte, subjektive Beurteilungen des Sprechenden, sondern auch der Vorgang 
des Verstehens ist zweifach: es werden sowohl die Gegenstände und Sachverhalte 
erfaßt, auf die die Worte abzielen, als auch die Stellungnahme und sonstige seelische 
Verfassung des Sprechers. An Beispielen wird gezeigt, was Darstellung bedeutet, z. B. 
ein Photogramm, eine Fieberkurve, ein Schauspieler. Sie alle bringen etwas zur Dar- 
stellung, d. h. ein Teil ihrer wahrnehmbaren Eigenschaften oder Tätigkeiten ist diesem . 
Etwas derart zugeordnet, daß man es ergreifen, erfassen kann. Darstellung ist Ver- 
tretung in einem Erkenntniszusammenhang, aber auch da muß noch differenziert 
werden, wie die 3 Beispiele lehren. Man muß eine unvermittelte und eine vermittelte 
Darstellung unterscheiden. Unvermittelt ist sie z. B. beim Bild; es entsteht hier ein 
merkwürdiges Ineinander von Wahrnehmung und Vorstellung, eine Bildillusion. Bei 
der Sprache ist die Zuordnung vermittelt. Verf. hält weiter Zusammenhangszeichen 
und Ördnungszeichen auseinander. Zusammenhangszeichen sind Anzeichen, Sym- 
ptome, und als Symptome fungieren die Sprachzeichen im Verständnis der sprach- 
lichen Kundgaben. Ordnungszeichen sind Platzzeichen, wie Signaturen, Etiketten, 
sind Hilfsmittel der Platzanweisung. Die Wörter unserer Sprache fungieren in der 
Darstellung als Symbole und Ordnungszeichen. Die Worte weisen im Satzverbande 
kraft der an sie geknüpften Bedeutungen hin und geben Anweisungen, wie an diesen 
Gegenständen der Sachverhalt zu konstituieren sei. Diesen Anweisungen entspricht 
im Satze das, was man syntaktische Hilfsmittel nennt. Beim Sprachverständnis geht 
man entweder vom Was? aus und fragt weiter: In welcher Form? Oder man geht von 
der Form aus und fragt: Aus was? Verf. schlägt dafür die Ausdrücke Erfüllung und 
Prägung vor. Das leere syntaktische Schema des Satzsinnes wird erfüllt durch das 
von den Wörtern Genannte oder an dem Genannten wird der Sachverhalt zur Aus- 
prägung gebracht. Sittig (Prag). 

Deseoeudres, Alice: La mesure du langage de Penfant. (Feststellung des kindlichen 
Sprachschatzes) (Schweiz. Ver. f. Psychiatrie, Genf, Süzg. v. 2. VI. 1923.) Schweiz. 
Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 14, H.1, S. 120—122. 1924. 

Das Vokabularium von Kindern wurde mit 3 Methoden festzustellen versucht: 
1. Ausfragen von 3 Kindern (2?/,, 5 und 7 Jahren) nach allen möglichen Gegenständen 
und Erlebnissen. Resultate: Mit 23/, J. 639, mit 5 J. 1950, mit 7 J. 2900 Worte. 2. Mit 
kompletten Tests, angewendet an 60 normalen Kindern zwischen 2 und 7 Jahren. 
Es konnten mit zunehmendem Alter regelmäßige Fortschritte verzeichnet werden. 
3. Mit partiellen, einen Teil der vorherigen bildenden Tests, angewendet an 300 Kin- 
dern der gleichen Altersklassen wie in Nr. 2. Hier kam es darauf an, Gegenteile von 
Adjektiven, Farbennuancen, Lücken in einem Texte, Namen von Beschäftigungen, 
Gegenständen usw. zu finden. Die Erfahrung zeigt, daß es genügt, die richtigen Ant- 
worten mit 40 zu multiplizieren, um annähernd den gesamten Wortschatz des Versuchs- 
kindes festzustellen (Genaues in der Monographie der Verf.: Le Développement de 
l’enfant de 2 à 7 ans. Delachaux, Neuchâtel). Fröschels (Wien). 

Fildes, Luey G.: Experiments on the problem of mirror-writing. (Versuche über 
das Problem der Spiegelschrift.) Brit. journ. of psychol., gen. sect. Bd. 14, H.1, 
S. 57—67. 1923. 

Man findet häufig bei Kindern, daß sie sowohl beim spontanen Schreiben wie beim 
Abschreiben Buchstaben in Spiegelschrift hinsetzen. Verf. untersucht diesen Vorgang 
näher und findet, daß es sich hier nur um einen Sonderfall eines viel allgemeineren 
Vorgangs handelt, daß Kinder Formen überhaupt in einer anderen räumlichen Lage 


11* 


— 164 — 


abzeichnen, als sie ihnen dargeboten werden. Die Ursachen sind verschiedenartig; 
z. B. handelt es sich um eine Verwechslung mit ähnlichen, bereits vertrauten Formen, 
oder mit gleichzeitig dargebotenen. Es kommt hinzu, daß Kinder Bewegungen, die 
sie mit einer Hand ausführen sollen, gewöhnlich mit der anderen mitmachen und eine 
mit der rechten Hand gelernte und geübte Bewegung auch mit der linken reprodu- 
zieren. Erich Stern (Gießen). 

Kraepelin, Ina: Ermüdungsmessungen an einem jährigen Kinde. Psychol. Arb. 
Bd. 8, H. 2, S. 186—203. 1923. 

Kraepelin, Emil: Fortsetzung der Ermüdungsmessungen bei einem Kinde. Psychol. 
Arb. Bd. 8, H. 2, S. 204—216. 1923. 

Leistung, Ermüdung, Übungsfortschritt, Gewinn in der Arbeitsleistung durch ein- 
geschobene Pausen, Einfluß innerer und äußerer Einwirkungen, Schwankungen der 
Leistung an den verschiedenen Versuchstagen und innerhalb desselben Versuchs 
werden durch ein relativ einfaches Verfahren (Lautlesen und Auffassen von Buchstaben) 
an einem vorschulpflichtigen Kinde untersucht. Dasselbe Kind wird 1 Jahr später 
durch E. Kraepelin mit denselben Versuchsreihen nachgeprüft. Während bei der 
ersten Untersuchung die Wirkung eingeschobener Pausen deutlich zum Ausdruck 
kommt und starke Schwankungen in der Leistung, durch die große Beeinflußbarkeit 
bedingt auftreten, wird bei der zweiten Untersuchung eine Abnahme dieser Schwan- 
kungen und eine Abnahme der Ermüdbarkeit festgestellt; auch zeigt sich, „dass bei 
dem Fortschreiten vom 5. zum 6. Lebensjahr bei unserem Knaben nicht so sehr die 
Merkfähigkeit und die Übungsfähigkeit als die Arbeitsfähigkeit zugenommen 
hat, insofern die Herrschaft über die Aufmerksamkeit sicherer, die Beeinflußbarkeit 
durch zufällige Störungen und die Ermüdbarkeit geringer geworden ist.“ Diese Wand- 
lung in der Entwicklung vom 5. zum 6. Lebensjahr ist für K. Anlaß, eine gewisse 
Ähnlichkeit mit den Abstufungen der psychopathischen zur seelisch gesunden Per- 
sönlichkeit zu finden. Wie beim 5jährigen findet sich ‚‚die Herabsetzung der Arbeits- 
fähigkeit bei guter Merk- und Übungsfähigkeit, die Abhängigkeit von äußeren und 
inneren Störungen, die Ablenkbarkeit und Ungleichmäßigkeit der Aufmerksamkeits- 
spannung, die große Ermüdbarkeit.‘‘ Die weitere normale Entwicklung machen jene 
Persönlichkeiten nicht mit; die psychopathischen Unzulänglichkeiten sind somit für 
K. Entwicklungshemmungen und Infantilismen. von Kuenburg (München). 

Lange, Johannes: Zur Messung der persönliehen Grundeigenschaften. Psychol. 
Arb. Bd. 8, H. 2, S..129—180. 1923. 

Kraepelin nennt „Übungsfähigkeit, Übungsfestigkeit, Ermüdbarkeit, Ablenk- 
barkeit, Gewöhnungsfähigkeit, Erholungsfähigkeit die wichtigsten seelischen Grund- 
eigenschaften des Menschen.“ 1892 ersann er eine Methode zur Erforschung derselben 
und Ende der 90er Jahre wurde sie an verschiedenen Vpn. erprobt; 1923 (!) sind die 
bisher unberührten Protokolle hervorgeholt und von J. Lange, besonders für die 
„Ermüdungsfähigkeit und Erholungsfähigkeit‘‘, bearbeitet worden. Verf. verkennt 
nicht die Schwierigkeit, fremde Protokolle ohne Wortaufschreibungen zu verwerten, 
nennt Fehlerquellen, betont die geringen Werte, steht den Widersprüchen und der 
Unzulänglichkeit der Versuchsanordnung kritisch gegenüber. Zahlreiche Tabellen ver- 
anschaulichen die Resultate. Wiewohl die bekannten Kraepelinschen Arbeitsver- 
suche in einem bestimmt umgrenzten Anwendungskreis Verdienstvolles leisten, 
bringen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit der heutigen Psychologie keine erheb- 
lich neuen Erkenntnisse. von Kuenburg (München). 

Kraepelin, Emil: Bemerkungen zu der vorstehenden Arbeit. Psychol. Arb. Bd. 8, 
H. 2, S. 181—185. 1923. 

Einem besonderen Wunsche Kraepelins folgend, sind die oben genannten 
Versuche bearbeitet worden. Erläuterungen über das Ziel der Untersuchung und die 
Anwendung der von Kr. ersonnenen Methode dienen als Geleitworte. Kr. gesteht aber 
(S. 185) zu, daß „die vorstehenden Überlegungen zeigen, daß die von Lange besproche- 





— 165 — 


nen Versuche ihr Ziel mit durchaus untauglichen Mitteln zu erreichen suchten.“ Und 
weiter unten: „Wir werden es daher heute, wo wir so manche neue Einblicke in die 
Zusammensetzung der Arbeitskurve gewonnen haben, ganz gut begreifen, daß die Er- 
gebnisse jener Versuche unbefriedigend waren.“ von Kuenburg (München). 

© Dehn, Günther: Die religiöse Gedankenwelt der Proletarierjugend in Selbst- 
zeugnissen dargestellt. Berlin: Furche-Verlag 1923. 75 S. G.Z. 1. 

In der ansprechenden, unvoreingenommenen und natürlichen Art, in der G. Dehn 
uns seine „Großstadtjugend‘‘ erleben läßt, gibt er uns im vorliegenden Buch ein Bild 
der religiösen Welt der Berliner Proletarierjugend. Es überrascht zunächst zu hören, 
daß dieses lebendige Bild durch Anwendung der Dreiwortmethode — die Jugendlichen 
erhielten drei Worte wie ‚‚Gott, Hilfe, Tod‘, „Gott, Andacht, Natur‘, zweimal auch 
eigentliche Themen wie ‚Meine Gedanken über Gott und Religion‘ und sollten dazu 
schreiben, was ihnen einfiel — gewonnen werden konnte, selbst wenn zuvor in Ge- 
sprächen eine Art Sympathie und Vertrauensverhältnis hergestellt war. Rein metho- 
disch bliebe hier ja noch mancherlei zu fragen, zum Beispiel, wieviel von den späteren 
Aufsatzgedanken schon in den Gesprächen vorher womöglich zum Ausdruck gekommen 
und übertragen worden war, wie der Verf. selbst sich in den Gesprächen mit Fragen, 
Meinungsäußerungen usw. verhielt. Wie eine genaue Übersicht über das Methodische, 
dessen Handhabung Resultate doch mitunter entscheidend mitbestimmt, so würde man 
bei den Resultaten selbst gelegentlich auch eine genaue zahlenmäßige Übersicht wün- 
schen. Verf. zitiert offenbar stets die charakteristischen Aussprüche nach verschie- 
denen Richtungen hin und wägt dann nach Gesamteindrücken ab, wo das Übergewicht 
liegt usw. Dadurch wird der Überblick aber nicht so zwingend und klar, wie er sein 
könnte. Rein qualitativ betrachtet ist die Analyse außerordentlich interessant und 
lehrreich. Das Gesamtresultat ist, daß die überlieferte Religion sich bei der prole- 
tarischen Jugend in einem Auflösungs- und Zerstörungsprozeß befindet. Es gibt zwar 
religiöse Neuansätze aus dem proletarischen Bewußtsein der Jugend heraus, aber sie 
stecken noch in den Anfängen, sind noch nicht klar zu erkennen. Aus dem Religions- 
unterricht, dem Konfirmandenunterricht, der Einsegnung sind nur unbestimmte 
Gesamteindrücke, unwesentliche Einzelheiten oder formelhafter Besitz in Bruch- 
stücken zurückgeblieben. Geht man auf die eigentliche Stellungnahme der Jugend- 
lichen selbst zur Religion ein, so treten eine Reihe von Fragen als die markantesten 
hervor: ‚Was für einen Zweck hat überhaupt Religion? Gibt es einen Gott? Was 
tut Gott, hilft er den Menschen? Was verlangt Gott von uns? Was hat der Mensch 
vom Gottesglauben? Gibt es ein Leben nach dem Tode?“ Und zwar steht im Mittel- 
punkt dieses Fragenkreises vor allem das Existentialproblem und die theoretische Be- 
gründung der Existenz oder Nichtexistenz Gottes und die Zweckbetrachtung der 
Religion. Während das letztere mir charakteristisch für den praktischen Sinnn des 
Jugendkreises, aus dem D. seine Antworten hergeholt hat, zu sein scheint, glaube ich, 
daß in dem Existentialproblem in der Tat der Kern der religiösen Problematik des 
Jugendlichen hervorgetreten ist, ich wies schon auf Grund meiner Tagebuchanalyse 
darauf hin (vgl. Seelenleben des Jugendlichen, 2. Aufl., S. 184ff.). Und ebenso allge- 
meingültig scheint mir, wenn D. darauf hinweist, daß, wo überhaupt ein Gott ange- 
nommen wird, er vom Jugendlichen nur als persönlich wirkende Kraft gedacht werden 
kann, hier liegt für den Jugendlichen kein Problem, sondern eine Selbstverständlichkeit 
vor (vgl. Seelenleben S. 188). Es ist richtig, wenn D. folgert, daß die spezifisch christ- 
lichen Probleme und Gesichtspunkte für diese Jugend ganz verschwunden sind und nur 
allgemeine religiöse Probleme sie beschäftigen. Interessant waren mir die Belege für 
die proletarische Auffassung von der Kirche als einer bürgerlichen Institution. D. glie- 
dert seine Jugendlichen ihrer religiösen Einstellung nach im wesentlichen in 4 Gruppen: 
Freireligiöse, proletarisch gesinnte Antireligiöse, christlich Gesinnte, normal kirchlich 
Denkende und schließlich christlich gesinnte Sektierer. Einen zahlenmäßigen Über- 
blick vermißt man leider. Es scheint, daß die erste Gruppe bei weitem überwiegt. 


— 16 — 


Die dritte Gruppe ist bei den Knaben überhaupt nicht mehr, bei den Mädchen noch 
vereinzelt anzutreffen. Im ganzen scheint aber mehr als religiöse Gleichgültigkeit 
das Bedürfnis, sich mit den religiösen Fragen auseinanderzusetzen, vorzuherrschen, 
wenn auch diese Auseinandersetzung durch die populär wissenschaftliche Aufklärung 
übermäßig intellektualisiert ist. Es berührt den Psychologen angenehm, daß der 
Verf. sich ohne Bewertung und Ratschläge auf die sachliche Darstellung der Tatsachen 
beschränkt, wie auch wir uns die pädagogische und sonstige Stellungnahme zu dem 
Tatbestand für eine andere Gelegenheit vorbehalten. Charlotte Bühler (Wien). 


Shand, Alexander F.: Suspieion. (Argwohn.) Brit. journ. of psychol., gen. sect. 
Bd. 13, H. 2, S. 195—214. 1922. 


Alexander F. Shand ist ein Bahnbrecher der Forschung auf dem Gebiete der 
Gefühlspsychologie. Er betrachtet die Gefühle als Grundlage des emotionellen Seelen- 
lebens, und faßt sie für organische Wesenheiten auf, analysiert sie und sucht ihre Ent- 
wicklung und Funktionen auf Grund organischer Gesetze zu erklären. Er hatte zuerst 
im 16. Kapitel von Stouts „Grondwork of Psychology“ eine Theorie des Gefühls der 
Zuneigung ‚tender emotion‘ entworfen und bewiesen, daß dieses höhere Gefühl aus 
primären Emotionen organisiert ist. In seinem, im ersten Kriegsjahre 1914 erschienenen 
umfangreichen Werke: ‚The foundations of character‘ gab er dann eine exakt ausge- 
arbeitete Lehre von den emotionellen Grundlagen des Seelenlebens. Er fordert statt 
der Gesetze der Assoziation die Gesetze der Organisation für die Erklärung des Seelen- 
lebens und sein Grundgesetz lautet folgendermaßen: ‚Die geistige Tätigkeit strebt, 
zuerst unbewußt, später bewußt, System und Organisation hervorrufen und aufhalten.“ 
Auf Grund dieser Gesetze unterscheidet er im Charakter niedere, primäre Systeme 
der Gefühle, Emotions, wie Freude, Kummer, Furcht, Zorn, und größere Systeme, 
Sentiments, welche den Charakter auf Grund der niederen Systeme organisieren, wie 
Liebe, Widerwille (repugnance), Neugierde, Überraschung (surprise) usw. und beschreibt 
die Tätigkeiten dieser Gefühle, und sucht die Gesetze ihrer Wirkungen festzustellen. 
Die Erkennung des Charakters, die Erziehung und Behandlung der Charaktereigen- 
schaften stellt S. auf die Grundlage dieser organischen Gefühlstheorie, welche er mit 
feinen Beobachtungen aus dem Leben und der Literatur reichlich beleuchtet. In der 
obigen Abhandlung nimmt nun 8. ein während der Kriegszeiten sehr wichtig gewordenes 
Gefühl, den Verdacht, Suspicion, zum Gegenstande der Untersuchung. Er analysiert 
zuerst die Entstehung des Verdachtes aus dem Gefühle des Zweifels, welcher aus zweifel- 
haften Gedanken über eine bestimmte Person sich erweckt. Die Tendenz des Verdachtes 
ist, den socialen Umgang zu zerstören, das Vertrauen der Mitglieder der Gesell- 
schaft zueinander lähmen. Dann legt er das Verhältnis dieses Gefühls zu den anderen 
Geistestätigkeiten und die emotionelle Konstitution dieses Gefühls klar; beschreibt 
das instinktive Verhalten, welches aus diesem Gefühl entspringt, die Abstammung 
des Gefühls aus den primären Trieben der Furcht, Zorn und Neugierde und seine 
Zusammenhänge zu anderen Gefühlen. Die ganze Arbeit ist ein sehr lehrreiches Beispiel 
seiner Methode, und zeigt, daß es sehr erwünscht wäre, wenn die Lehren und Arbeiten 
S.’s in breiten Kreisen der Kinderforschung und Heilerziehung sich verbreiten; viel- 
leicht muß ich den Lesern dieser Zeitschrift nicht weiter beweisen, daß die Beschäftigung 
mit psychopathischen Kindern eine gewissenhaft exakte Analyse des Gefühlslebens 
erfordert, denn die meisten dieser Kinder haben weniger Intelligenzdefekte, und gerade 
das emotionelle Leben gibt für die Erzieher schwere Sorgen. von Kármán. 


Klein, Melanie: Zur Frühanalyse. Imago Bd. 9, H. 2, S. 222—259. 1923. 


Mitteilung zweier Psychoanalysen von Kindern. Die Bedeutung der sogenannten ana- 
lytischen Erziehung ist nicht allzu hoch zu veranschlagen, denn die Entstehung von Hemmun- 
gen und neurotischen Zügen ist dadurch nicht zu verhindern. Möglich allerdings könnte es 
sein, daß die Frühanalyse Nutzen brächte, indem sie an Stelle von Verdrängung Sublimierung 
setzt und so die Entwicklung statt zu neurotischen Erscheinungen in der Richtung auf Fähig- 
keiten ablenkt. Villinger (Tübingen). 


— 167? — 


Klein, Melanie: Die Rolle der Sehule in der libidinösen Entwicklung des Kindes. 
Internat. Zeitschr. f. Psychoanal. Jg. 9, H. 3, S. 323—344. 1923. 

Die Bedeutung der Schule ist darin begründet, daß sie und das Lernen für jeden libidinös 
determiniert sind, da die Anforderungen zur Sublimierung libidinöser Triebkräfte nötigen; 
an den verschiedenen Lerntätigkeiten hat die Sublimierung der genitalen Aktivität einen 
ausschlaggebenden Anteil, während die Hemmung entsprechend durch die Kastrationsangst 
erfolgt. Dieser Gedanke wird durch Beispiele belegt. Rudolf Allers (Wien).°° 

"Mühl, Anita M.: The use of automatic writing in determining conflicts and early 
ehildhood impressions. (Die Anwendung des automatischen Schreibens zur Bestimmung 
von Konflikten und frühen Kindheitseindrücken.) Journ. of abnorm. psychol. Bd.18, 
Nr. 1, S. 1—32. 1923. | 

An 3 Fällen wird gezeigt, daß automatisches Schreiben, vom Arzt überwacht 
und geleitet, nicht nur nicht schädlich, sondern eine gute Ergänzung der Psycho- - 
analyse ist, um ernstliche Konflikte, unbewußte Prozesse und verdrängte Kindheits- 
eindrücke ins Bewußtsein zu rufen; das Material wird dann sofort mit dem Patienten 
besprochen, die Probleme, die sich bieten, ausgearbeitet, bis der Patient ein aus- 
gesprochenes Gefühl der Befreiung erfährt. Es kommt (in einem beschriebenen Fall) 
sogar dazu, ein unbewußt verborgenes Talent zu wecken, die Hemmungen, die es ver- 
hindert haben das Talent auszuwerten, zu beseitigen und das Talent zu einem Bestand- 
teil des bewußten Lebens zu erheben. Verf. gibt zu, daß automatisches Schreiben 
ein ‚außerordentlich gefährliches Vergnügen“ ist und Patient davor gewarnt werden 
müsse, es ohne die Anwesenheit und Kontrolle einer kompetenten Persönlichkeit 
zu tun, die imstande ist, diese automatischen Bestrebungen zu leiten und das gewon- 
nene Material sachgemäß zu behandeln. v. Kuenburg (München). 


Freyd, Max: Introverts and extroverts. (Introvertierte und Extrovertierte.) Psychol. 
review Bd. 31, Nr. 1, S. 74-87. 1924. l 

Jung und nach ihm diè psychoanalytische Schule bezeichnen zwei Persönlichkeits- 
typen mit diesem Namen. Amerikanische Gelehrte (Nicoll, Tansley, Hinkle, 
Kempf, White, Wells, Downey, Mac Dougall, Allport) diskutierten mehr- 
fach diese Begriffe, bis sie in neuester Zeit in Laienkreise weite Verbreitung fanden. 
Deshalb fühlt Max Freyd das Bedürfnis, diese Begriffe nach ihrem Sinn und ihrer 
psychologischen Berechtigung zu prüfen. Er gibt eine kurze Darstellung der Theorie, 
wie sie von obengenannten Autoren gefaßt wurde. Der introvertierte und der extro- 
vertierte Typus wird zwar von ihnen genau beschrieben, niemals aber eine Definition 
des Begriffes gegeben. M. F. vermißt vor allem die experimentelle Erforschung des 
Problems und erwartet sich erst volle Klärung der vielfachen Widersprüche innerhalb 
der Theorie, wenn experimentelle Untersuchung ihre Evidenz beweisen. 

von Kuenburg (München). 

Angewandte Psychologie : 


© Kronfeld, Arthur: Psyehotherapie. Charakterlehre, Psyehoanalyse, Hypnose, 
Psyehagogik. Berlin: Julius Springer 1924. XI, 260 S. G.-M. 9.—/$ 2.20. 

Das Buch bedeutet eine Bereicherung der medizinischen Literatur. Mit umfassenden 
Wissen und selbständigen Denken setzt Kronfeld an einer Stelle ein, an der ober- 
flächliche Empirie sich viel zu sehr breit machte. Mit gleicher Geistesschärfe wie in 
seinem „Wesen der psychiatrischen Erkenntnis‘ schafft er einen Unterbau für die 
Psychotherapie, der zu den besten Leistungen einer dynamischen Charakterlehre 
gehört. Im speziellen Teil wird zunächst das Verfahren der Persuasion auf das ihm 
zukommende Maß reduziert, in der Darstellung der Psychoanalyse die überragende 
Bedeutung Freuds gebührend zur Geltung gebracht, aber mit seiner sterilen und im 
Schematismus erstarrenden Schule abgerechnet. Mit allem Nachdruck weist K. auf 
die Mängel der Methode hin, welche subjektiven Deutungen zu weiten Spielraum läßt, 
wodurch es zu Konstruktionen von Tatbeständen kommt, die in der frühkindlichen 
Seele niemals direkt beobachtbar sind. So sicher die von Freud entdeckten, psycho- 


— 168 — 


dynamischen Verhältnisse existieren, so wenig darf man im einzelnen Falle durch sie 
die Tatsachen vergewaltigen und das Besondere und der Erklärung Bedürftige in den 
Schematismus typischer Komplexe pressen. K. empfiehlt, bei allen komplizierten Cha- 
rakteren, besonders in der noch bildsamen Jugend, an die therapeutische Fühlungnahme 
den Versuch mit einer Psychoanalyse in einem freien Sinne zu schließen. Geistig tiefer 
stehende, übersuggestible Personen, ferner erotische Naturen, vor allem aber Kinder, 
sind davon auszuschließen. In klarer und sachlicher Weise wird auch das Gebiet 
der Suggestion und Hypnose erörtert, Technik und Indikationsbereich aufgestellt. 
Verf. warnt vor der Hypnose von Kindern vor dem vollendeten 12. Jahre, ausgenommen 
bei Tics und Enuresis. Den Gipfel des psychotherapeutischen Systems bildet die Psycha- 
gogik. Sie stellt die positive Ergänzung der im gewissen Sinne doch mehr diagno- 
stischen Psychoanalyse vor. Damit stehen wir aber vor dem Verfahren, das jeder 
humane Arzt oder Heilpädagoge instinktiv übt. Dieses instinktive Handeln in ein 
zielbewußtes und auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhendes zu steigern, dazu scheint 
K.’s Buch im hohen Maße berufen. Gregor (Flehingen). 

Good: Psyehotherapeutische Methoden, ihre Wertigkeit und ihre Schwächen. 
Zeitschr. f. d. Behandl. Schwachsinniger Jg. 43, Nr.7, S. 97—106, Nr. 8, S. 113 bis 
122 u. Nr. 9, S. 129—141. 1923. 

Verf. setzt seine Aufgabe nicht darin, eine der wichtigeren Methoden der Psycho- 
therapie erschöpfend zu behandeln, er will vielmehr die Arbeiten der Psychotherapeuten 
„im Laufe der Jahrhunderte in Form einer Skizze von oben her mit kritischen Augen 
betrachten, die Methoden in ihrer Entwickelung und Wirkung miteinander vergleichen 
und sich so ein richtigeres, weitblickenderes Bild und Urteil schaffen, als wenn man 
drunten in der suggestiven Atmosphäre einer einzelnen Methode stände“. Im Verfolg 
dieser Aufgabe spricht Verf. zunächst von den: psychotherapeutischen Maßnahmen 
im frühesten Altertum, wo die Heilkunst in den Händen der Priester lag, von den 
ekstatischen Ergüssen der Pythia, die unter priesterlichem Einflusse stand, vom Orakel- 
wesen überhaupt, von der dämonologischen Medizin des Mittelalters, die teils auf der 
„Wissenschaft“ der Astrologie fußte, teils zu Engeln, Geistern, Zauberern, Alchimisten 
ihre Zuflucht nahm. Eine Fortsetzung dieser Art Medizin habe sich bis heute in den 
Wunderkuren von Fecamp, von Einsiedeln, von Lourdes erhalten, deren Erfolge zu 
bestreiten dem Verf. entschieden fernliegt. Nach einer kurzen Würdigung der Methoden 
der alten Dreckapotheke kommt er auf den Mesmerismus zu sprechen, dessen Theorie 
er etwas eingehender beschreibt, geht dann kurz auf die 1892 entstandene Osteopathie 
und schließlich etwas genauer auf die Homöopathie ein, um dann aus dieser Übersicht 
die Erkenntnis zu gewinnen, daß die Bedingungen der Psychotherapie im Laufe der 
Jahrtausende im Prinzip sich gleich geblieben seien, ebenso die Nachteile: ‚Alle Methoden 
seien unsicher, launenhaft, man kann ihr Gelingen nicht mit Sicherheit voraussagen 
und muß weiter gestehen, daß sehr viele Heilungen nicht von Dauer sind.“ Die Kraft, 
die in allen psychotherapeutischen Methoden wirke, sei die Suggestion. Verf. gibt 
eine Definition dieses Begriffes, führt Beispiele von Massensuggestion an und hebt 
als besonders charakteristisch für die Suggestion gegenüber der logischen Überredung 
hervor, daß erstere, wo sie wirke, stetsschnellundsicher zum Ziele führe. Suggestion 
sei auch die Kraft, der die Christian science ihre Erfolge verdanke. Nach kurzer 
Erwähnung der in der Schweiz eine Zeitlang zu großer Blüte gelangten Lehre des Pfar- 
rers Künzli kommt der Autor auf die Hypnotherapie zu sprechen, bei der er beson- 
ders hervorhebt, daß die sie anwendenden Ärzte die Stellung einer exakten Diagnose 
und die wissenschaftlich gestellte Indikation zur Voraussetzung ihrer Anwendung 
machten. Damit unterscheide sich diese Methode der Psychotherapie im Prinzip ganz 
wesentlich von den bisher geschilderten. Verf. glaubt wahrgenommen zu haben, daß 
die Hypnose in neuerer Zeit in Mißkredit gekommen sei. Er bedauert dies. Auf die 
„modernen‘‘ psychotherapeutischen Methoden übergehend, beschreibt er zunächst die 
Persuasionsmethode Dubois’. Er hebt dabei deutlich hervor, wie viele suggestive 


— 169 — 


Momente auch in dieser Methode enthalten sind — trotz der gegenteiligen Anschauungen 
ihres Verfechters. Er beschreibt ferner die Methode Alfred Adlers und geht dann 
ganz ausführlich auf die Psychanalyse Freuds ein, die er für viele Fälle als brauch- 
bar erkennt, deren Gefahren und Übertreibungen er aber auch deutlich hervorhebt. 
Er erkennt an, daß viele der anfänglichen Übertreibungen heute bereits aufgegeben 
sind, warnt aber vor unkritischem Anwenden dieser Methode insbesondere durch Nicht- 
ärzte und sieht eine große Gefahr für die Wirksamkeit der Lehre in ihrer Vulgarisierung. 
Den Lehrern, an die sich Verf. in der Hauptsache in seinen Ausführungen wendet, rät er, 
sich wohl die Kraft der Suggestion zu pädagogischen Zwecken nutzbar zu machen, 
warnt aber vor irgendwelcher Anwendung von psychotherapeutischen Methoden — 
etwa der Hypnose. Letztere sollten vielmehr ausschließlich dem Arzte vorbehalten 
bleiben. ° A. Isserlin (München). 

Winslow, Yvonne E.: The relation of psyehology to edueation. (Die Beziehungen 
der Psychologie zur Erziehung.) Internat. Zeitschr. f. Individualpsychol. Jg. 2, Nr. 1, 
S. 11—14. 1923. 

Kurzer populärer Aufsatz über die praktische Verwendung psychologischer Er- 
kenntnisse für die Erziehung besonders nervöser Kinder. Einige in Amerika übliche 
Methoden und Erfahrungen werden kurz erörtert. Gruhle (Heidelberg). 

Winch, W. H.: The transfer of improvement in reasoning in sehool-children, 
(Die Anwendung einer Methode der Verbesserung des Denkvermögens bei Schul- 
kindern.) Brit. journ. of psychol., Bd. 13, H. 4, S. 370—381. 1923. 

Der Verf. bespricht das Problem der Wechselbeziehungen zwischen dem logischen 
Denken und dem arithmetisch-problematischen Denken. Von den beiden Wegen, die 
seiner Ansicht nach möglich sind, zur Lösung des Problems zu gelangen, einmal auf 
dem Wege der analytischen Psychologie oder durch experimentelle Psychologie, wählt 
er den letzteren. Es fragt sich, ob wir durch Aufstellung arithmetischer Probleme 
den Schülern nur helfen, die arithmetischen zu lösen, die ihnen im Leben begegnen, 
oder ob wir nicht dadurch den Verstand überhaupt schärfen. Der Versuch wurde an 
2 Jahrgängen einer Mädchenschule gemacht, die zu einer Klasse vereinigt waren. Um 
den Grad der Fassungskraft hinsichtlich des logischen und arithmetischen Denkens 
herzustellen, wurden an 6 durch Zeiträume von einer halben Woche voneinander 
getrennten Tagen je 4 logische Aufgaben gestellt und an den jeweils darauf folgenden 
Tagen je 4 arithmetische Aufgaben. Die Lösungen der Aufgaben wurden einmal je 
nachdem, ob sie richtig oder falsch waren, dann aber nochmals nach dem Grade der 
Schwierigkeit, mit der sie gelöst wurden, mit Punkten bewertet. Darauf wurde die 
Klasse in 2 der Zahl und Fähigkeiten der Kinder nach gleiche Teile geteilt. Eine dieser 
Gruppen wurde abweichend vom Stundenplan im arithmetischen Denken 10 Wochen 
lang nach einem ganz bestimmten System weiter geschult, während der andere Teil 
den bisherigen Stundenplan beibehielt. Die erste Gruppe wird als geschult (practised), 
die andere als ungeschult (non-practised) bezeichnet. Jetzt wurden wie bei den ein- 
leitenden Versuchen je sechsmal 4 arithmetische und logische Aufgaben gestellt und 
die Lösungen nach Art der früheren bewertet. 


Früheres Resultat der geschulten Gruppe . . . a 2.2 222.2... 35,0 Punkte. 
Jetziges Resultat der geschulten Gruppe. . . . 2 22 22020. 49,5 5 
Früheres Resultat der ungeschulten Gruppe . .. .: 2.2 2.22... 34,8 3 
Jetziges Resultat der ungeschulten Gruppe . . . .. 22222... 38,8 Ir 


Durchschnittliches Resultat: 
a) beim Lösen der logischen Aufgaben: 


1. Geschulte Gruppe 2. Ungeschulte Gruppe 
Anfangsversuch — Endversuch Anfangsversuch — Endversuch 
145 : 5 — 203:2 146 : 7 — 160:7 
b) beim Lösen der arithmetischen Aufgaben: 
l. Geschulte Gruppe 2. Ungeschulte Gruppe 
Anfangsversuch — Endversuch Anfangsversuch — Endversuch 


67 : 0 — 186:6 62 : 8 — 86:5 


— 10 — 


Eine Verbesserung um 150% bei der Lösung der arithmetischen Aufgaben ist 

begleitet von einer Verbesserung der Lösungen der logischen Aufgaben um 30%. 
Többen (Münster). 

Eliasberg, Wladimir: Natürliche (aufgabefreie) Beachtungsvorgänge bei Kindern, 
normalen und schwachsinnigen Halberwachsenen, normalen Erwachsenen, Aphatikern, 
Dementen und sonstigen pathologischen Fällen. Jahresvers. d. dtsch. Ver. f. Psy- 
chiatrie, Jena, Sitzg. v. 20. u. 21. IX. 1923. 

Es sollten die Beobachtungsvorgänge untersucht werden. Die experimentelle Unter- 
suchung der Abstraktionsvorgänge wurde durch Külpe und seine Schule, namentlich Grün- 
baum, gefördert. Doch gingen die Autoren dieser Schule von bestimmten, der Untersuchung 
vorhergehenden Annahmen über das Wesen der Abstraktionsvorgänge aus und richteten dem- 
gemäß die Aufgaben ein. Es handelte sich fast immer um die Herauslösung unselbständiger, 
und zwar gleicher Teilinhalte, aus mehreren Objekten. In diesen Untersuchungen wurde 
eine Anordnung gewählt, um etwa vorhandene Beachtungsvorgänge ohne jede, namentlich 
sprachlich vermittelte Aufgabe ablaufen zu lassen. Zu diesem Zweck wurden bunte, auf der 
Rückseite weiße Blätter mit einem Merkmal, einer Zigarette, auf der Rückseite, beklebt. Die 
Farben wurden zu Paaren geordnet, so daß immer die eine Farbe das Merkmal zeigte und 
die andere nicht. Es wurden bald bunte, bald unbunte Farben gewählt, von solchem Ab- 
stand, daß die Bildung von Strukturen (Köhler) nicht zu erwarten war. Die Blätter wurden 
in einigen Versuchen in einer Reihe (lineär), in anderen über die Fläche verteilt angeordnet. 
Aufeinanderfolge der Blätter wechselte in jedem Versuch. Außer der Veränderung der räum- 
lichen Anordnung wurden noch folgende Änderungen in den aufeinanderfolgenden Einzel- 
versuchen vorgenommen. 1. Neue, mit dem Merkmal versehene Farbe (neue Plus-Farbe). 
2. Neue Minusfarbe. 3. Neues Farbenpaar. 4. Umkehrung. 5. Störungsversuch. 6. An- 
zahländerung. Die Art der Versuchspersonen ergibt sich aus der Überschrift, die Anzahl 
der vorschulpflichtigen Kinder betrug 21, die der schulpflichtigen 4, die der Aphatiker 10, 
die der Dementen 8, die der sonstigen pathologischen Fälle 5. Wir müssen vom Verhalten der 
dreijährigen Kinder ausgehen. Es wird an die fertige Versuchsanordnung herangeführt. 
Seine Aufmerksamkeit wird mit einer Geste auf die Blätter gelenkt. Sobald die erste Fremd- 
heit überwunden ist, nimmt es die Blätter zur Hand. Wenn es eine Zigarette auf der Rück- 
seite entdeckt hat, so wählt es nur noch die Blätter dieser Farbe, und zwar unter Überspringen 
der anderen Farbe. Die andere Farbe wird zunächst nicht beachtet. Sie ist negativ abstrahiert. 
Aus dieser bloßen Nichtbeachtung wird allmählich im Laufe der Versuche die Beachtung des 
Nichtvorhandenseins der Zigarette. Aus der negativen Abstraktion wird der Nonzusammen- 
hang. Die oben aufgeführten Änderungen haben beim Dreijährigen folgende typische Wir- 
kung: das neue Farbenpaar stört das Kind, wenn es in einer Reihe vorhergehender Versuche, 
in der Regel etwa 9, auch des Nonzusammenhanges ganz sicher geworden war, nicht. Die 
Übertragung auf das neue Farbenpaar gelingt entweder sofort oder doch mit sehr großer Er- 
sparnis für den Nonzusammenhang. (9: 2.) Eine erheblichere Wirkung hat die Umkehr. 
Die Wirkung des Störungsversuches hängt beim Dreijährigen von der Zeitstelle ab, in der er 
erfolgt. Legt man ihn früh genug, so kann man geradezu eine Förderung in der Gewinnung 
des N. Z. beobachten. Das dreijährige Kind ist also in der Lage, ohne besondere Aufforderung 
eine Regel zu gewinnen, die man so formulieren müßte: von diesem bestimmten Farbenpaar 
trägt immer die eine Farbe das Merkmal, und die andere nicht. Es ist in der Lage, diese Er- 
fahrung mit großer Ersparnis auf ein neues Farbenpaar zu übertragen. Die Umkehrung der 
erlernten Relationsträger stört die Regel nicht mehr, die man dann also formulieren müßte: 
wenn in irgendeinem Farbenpaar die eine Farbe das Merkmal hat, dann hat es die andere 
nicht. Zu einer Zeit, wo sich das Kind seiner Sprachentwicklung nach im Substanzstadium 
(W. und Cl. Stern) befindet, verfügt es, wenn ihm nur dazu Gelegenheit gegeben wird, über 
die Fähigkeit, kompliziertere Relationen zu erfassen und sie unabhängig von den konkreten 
Relationsträgern, unabhängig also von den anschaulichen Begebenheiten, geistig zu ver- 
arbeiten. Hier interessiert, daß diese Leistung auch dann gelingt, wenn die Kinder, aus unteren 
Volksschichten, in ihrer Spontansprache noch sehr weit zurück sind, wenn sie anscheinend 
noch gar keinen Zahlenbesitz und nur sehr primitive Mengenauffassung haben. Die Leistung 
ist auch unabhängig von dem Besitz an Farbbezeichnungen. Für die pathologischen Fälle 
von Wichtigkeit ist das Verhalten der Aufmerksamkeit. Das Kind unterbricht seine Tätig- 
keit durch Zwischenspiele der verschiedensten Art, ohne daß die Lösung der Aufgabe irgendwie 
darunter leidet. Auch die äußere Unterbrechung stört die geistige Entwicklung in der Reihe 
der Versuche nicht. Gelegentlich treten sprachliche Zwischenspiele, Klangassoziationen usw. 
auf. Der normale Erwachsene vollbringt die Leistung, die das Kind im ersten Versuch 
hat, nämlich die positive Zuordnung, in der Regel überhaupt nicht. Und zwar um so weniger, 
je höher sein Bildungsgrad ist. Der natürliche Beachtungsvorgang tritt nur gelegentlich 
hervor. Er ist vollständig überlagert durch die subjektiv reflektierte Einstellung des Er- 
wachsenen. Zwei Komponenten dieser Einstellung treten hervor. Die personale auf die 


=: I = 


Person des Versuchsleiters, und die theoretische auf die Gewinnung einer einsichtigen Regel. 
Während das Kind ohne weiteres das Merkmal der Farbe nur Unterscheidung heranzieht, 
vermag der Erwachsene keines unter den zahlreichen möglichen Merkmalen, wie Farbe, Form, 
Anzahl, optisch-mechanische Beschaffenheit der Oberfläche und des Buges zu wählen. Die 
Fülle der Merkmale verwirrt ihn. Es ist ohne weiteres möglich, den Erwachsenen wieder 
zum Kinde zu machen, wenn man ihm die Instruktion gibt, „möglichst schnell zu 
arbeiten‘. Der Vergleich mit den Ergebnissen beim Dreijährigen zeigt, daß die bloße 
Leistungsprüfung, ohne Analyse der Bedingungen der Leistung keinen brauchbaren 
Intelligenzbestand ergibt. Man wird das dreijährige Kind doch wohl nicht durchschnittlich 
intelligenter nennen als den Erwachsenen. (Vgl. a. Eliasberg, diese Zeitschr. 29, 157.) 
Wenn bei den Kindern eine große Unabhängigkeit der Leistung vom Stadium der Sprach- 
entwicklung hervortrat, so hätte man bei den Ahatikern, sofern ihre Intelligenz nicht 
gestört war, ein ähnliches Verhalten erwarten müssen. Das ist auch in der Tat der Fall, und 
zwar bei motorisch wie bei sensorisch Aphasischen, sofern sie in ihrem sonstigen Wesen un- 
gefähr dem des Kindes entsprachen. Untersucht wurden jüngere hirnverletzte Männer, die 
schon seit einigen Jahren die Hirninvalidenschule München besuchen. Es muß bedacht 
werden, daß der jahrelang fortgesetzte Schulbesuch überhaupt eine kindgemäße Einstellung 
erzeugt. Unterschiede gegen das Verhalten des Kindes traten hervor, insofern die Über- 
tragung auf neue Relationsträger und namentlich die Umkehrung des erlernten Farbenpaares 
weit schwieriger gelang als beim Dreijährigen. Diese Tatsache ist daraus zu verstehen, daß 
die Aphatiker im heilpädagogischen Unterricht als allgemeine Methode eine Bevorzugung 
der Anschauungshilfen erlernt hatten. Das Ergebnis zeigt, daß die starke Veranschaulichungs- 
tendenz eine Gefahr für die Entwicklung des gedanklichen Zusammenhanges in sich birgt. 
Wir haben darum neben der sprachlichen heilpädagogischen Ausbildung in neuerer Zeit auch 
die abstrakt gedankliche allgemeine Schulung herangezogen. Hierzu bewährt sich ganz 
vorzüglich der Rechenunterricht und bei den Gebildeteren Physik und Mechanik. Bei De- 
menten war in typischer Weise der Beachtungsvorgang als solcher geschwächt. Es lag 
eine originäre Beachtungsschwäche vor. Man konnte das sehr gut erkennen, auch 
wenn sie die Tatbestände sprachlich formulierten. Bei jedem neuen Versuch waren sie zu- 
nächst ratlos, wußten nicht, was sie eigentlich tun sollten. Der Störungsversuch (s. o.) hatte 
nicht wie bei den Aphatikern und den Kindern nach einer primären Hemmung eine fördernde 
Wirkung im Sinne der Ablösung der allgemeinen Regel von den anschaulichen Relations- 
trägern. Bei den Erwachsenen trat hierzu eine besonders starke personale Einstellung. Die 
gesamte Kausalität wurde im Versuchsleiter gesucht, „der alles machen kann“. Daher eine 
ausgeprägte „Foppsituation“ in viel stärkerem Maße, als das bei den Aphatikern der Fall 
war. Bei einem Fall von traumatischer Demenz, den ich mit Feuchtwanger (Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, Bd. 75. 1922) beschrieben habe, trat dieser ‚ Animismus“ wie bei 
allen anderen Untersuchungen, so auch bei diesem Versuch deutlich hervor. Charakteristisch 
für den Dementen im Gegensatz zum Kinde und zum Aphatiker ist, wie die Hilfen verwandt 
werden. Sie werden meist nicht spontan gefunden, sie zeigen keine Beziehung zum Defekt 
wie beim nichtdementen Hirnkranken, wo sie typisch den Defekt ausgleichen. Sie werden, 
einmal gegeben, mechanisch festgehalten, auch wenn sie sich als unzweckmäßig erweisen. 
Auch bei schweren Graden der Demenz werden im Gegensatz zum Kinde verhältnismäßig 
hochstehende Kriterien benutzt. So der Schluß aus der optisch-mechanischen Beschaffen- 
heit der Oberfläche auf das Vorhandensein der Zigarette auf der Rückseite. Dies gibt einen 
wichtigen Einblick in die Struktur der erworbenen Demenz. Verhältnismäßig komplizierte 
Inhalte können noch erhalten sein, aber sie können von der Persönlichkeit nicht mehr be- 
nutzt werden. Die bisher aufgeführten Kriterien, namentlich aber die Art, wie Hilfen zum 
Ausgleich des Defektes herangezogen und verwandt werden, gestatteten nun auch patholo- 
gische Fälle genauer zu analysieren, die sonst als Demenzen imponierten. So zeigte sich 
namentlich bei Fällen mit ‚„Verlangsamung“ aller psychischen Abläufe (nach Hirnverletzung) 
bei sehr erheblicher Lernzahl, daß doch die Hilfe zweckmäßig verwandt wurde und schließlich 
die Leistung unter stärkster Affektspannung gelang. So konnten wir zeigen, daß der zen- 
trale Faktor der Intelligenz erhalten und sogar recht gut entwickelt war. — in Über- 
einstimmung mit Schulzeugnissen aus früherer Zeit. Die Ergebnisse über das Verhalten der 
Aufmerksamkeit bei Kindern ließen sich bestätigen bei einem Fall, der während der Unter- 
suchung einen ideenflüchtigen Rededrang darbot und in typischer Weise auf interkurrente 
Reize ideeflüchtig reagierte. Auch hier kam die Leistung einwandfrei zustande. Übertragung 
auf neues Farbenpaar, Umkehrung usw. gelangen sofort. Soviel ich sehe, ist damit ein ge- 
wisser Einblick in den Gedankenablauf bei der Ideenflucht gewonnen. Frühere experimen- 
telle Untersuchungen nach der Methode der Assoziationsexperimente konnten solche Ergeb- 
nisse nicht leicht gewinnen, weil die verlangte sprachliche Leistung mit der ideenflüchtigen 
Sprachproduktion interferierte. Neuere psychologische Untersuchungen über die Bedeutung 
der Ablenkung, der Pause für das produktive Denken (vgl. namentlich Selz: Über den Irrtum 
und das produktive Denken, Bonn 1922) finden hierdurch ihre Bestätigung. Die psycholo- 
gische Theorie der Beachtungsvorgänge soll hier nicht entwickelt werden. Nur soviel mag 


"E = 


gesagt werden: Die Lösungsmethoden zeigen sich in pathologischen Fällen deutlich abhängig 
von der Art des Defektes, d. h. von der Subjektivität. Das Interesse liegt also im Differenziell- 
psychologischen. Dagegen ist der Beachtungsvorgang als solcher, durch den neue objektive 
Gegenstände gegeben werden (die Objektivationsfunktion des Denkens) von der besonderen 
Instrumentierung unabhängig oder mindestens nicht mit ihr identisch. Dafür spricht auch 
die Tatsache, daß sich bei den jüngsten Kindern Übergangsstufen nicht haben nachweisen 
lassen. Die Beachtung ist entweder vorhanden oder nicht vorhanden. 
Eigenbericht, durch Kronfeld (Berlin)., 

© Kronfeld, Arthur: Das seelisch Abnorme und die Gemeinschaft. (Kleine Schriften 
zur Seelenforschung. Hrsg. v. Arthur Kronfeld. H. 6.) Stuttgart: Julius Püttmann 
1923. 21 S. G.-M. —.55. 

Wiedergabe eines im Mai 1923 für das ärztliche Fortbildungswesen in Berlin ge- 
haltenen Vortrags. Es werden 2 Grundprobleme behandelt. 1. Wie wirkt das Gemein- 
schaftsleben auf den Einzelnen, insbesondere liegen in den sozialen Formen abnormi- 
sierende Wirkungen ? Es ergibt sich, daß eine Abnormisierung in der sozialen Gebunden- 
heit als solcher liegen kann, und daß sie überall dort pathologische Phänomene schafft, 
wo sie entweder einen besonders günstigen individuellen Boden findet, oder wo der 
Druck sozialer Bedingungen das Maß der Anpassungskraft übersteigt. Bei dieser Ab- 
normisierung werden vorgebildete Mechanismen, die in Tiefenschichten ruhen, aktua- 
lisiert und neu geweckt. Im Einzelnen wird gezeigt, wie aus der Erlebnisgrundlage 
der Ohnmacht gegenüber der sozialen Umwelt an Stelle gefügiger Einordnung, Um- 
wegseinstellungen zu künstlicher Selbsterhöhung erwachsen (die Reaktionsformen 
des Hysterikers, Schwindlers, Intriganten), wie beruflicher Druck in bestimmten Neu- 
rosen umgangen wird, wie aus der Ohnmacht gegenüber Sitten und Konventionen 
Überkompensationen des gesellschaftlichen Verhaltens hervorgehen, wie aus der Span- 
nung zwischen Ohnmacht und den religiösen und staatlichen Milieuforderungen uto- 
pische Wunsch- und Scheinwelten entstehen (Apostel und Sektierer). Die 2Grundfrage: 
Wie wirken seelische Krankheit und Abartigkeit in die Formen des Gemeinschafts- 
lebens hinein? läßt sich dahin beantworten, daß sich psychopathologische Einflüsse 
in allen Gemeinschaftsformen auswirken und daß eine besondere Affinität des abnorm 
Veranlagten zum Massengeschehen und zur unbedingten radikalen Gemeinschafts- 
verwirklichung von Ideen besteht. Die abnormen Einwirkungen produktiver Art 
auf die Gemeinschaftsbildung, die einer Zeit ihren besonderen Stil verleihen, werden 
besonders gewürdigt, so die erotischen. In diesem Sinne wird vom masochistischen 
(= Troubadourepoche), von sadistischen und homoerotischen Kulturen gesprochen. 
Die besondere Dynamik psychopathologischer Sektenbildung wird erörtert. Hervor- 
gehoben wird ganz besonders, daß aus der psychopathologischen Genese niemals ein 
Einwand gegen den Wert einer Idee oder Gemeinschaftsform entnommen werden 
kann. Der geistvollen Schrift ist eine weite Verbreitung, nicht nur in der Ärztewelt, 
sondern in allen für Kulturfragen ernstlich interessierten Kreisen zu wünschen. 

Storch (Tübingen). 

© Lools, Friedrich: Die Willensfreiheit beim Rechtsbrecher. Zugleich 39. Jahrbuch 
der Gelängnisgesellschaft für die Provinz Sachsen und Anhalt. Halle a. S.: Selbstverlag 
der Gesellschaft 1923. 48 S. G.Z. —.25. 

Der berühmte Theologe der Hallenser Universität versucht in dem vorliegenden 
Vortrag, den er auf der Jahresversammlung der Gefängnisgesellschaft am 6. VI. 1923 
gehalten hat, die Frage, ob die Annahme eines sittlich verantwortlichen Ich gegenüber 
den Lehren einer atomisierenden physiologischen Psychologie noch aufrechterhalten 
werden kann, in gemeinverständlicher Weise vor einem größeren Hörerkreise auszu- 
breiten. In der sittlichen Anlage, der sittlichen Energie, „die uns befähigt, das sittliche 
Sollen zu verstehen in dem Maße, in dem es uns nahetritt‘‘, findet er den Schlüssel 
zum Verständnis für „die Möglichkeit sittlich freier Entscheidung trotz der ursäch- 
lichen Zusammenhänge in unserem Vorstellungsverlauf‘“ und damit die Grundlage 
für die Vorstellungen von Schuld und Vergeltung. — Der dem Vortrage vorgedruckte, 


— 173 — 


von Pastor Jacobi (Halle) erstattete Jahresbericht für 1922 enthält auf S. 12—18 
„Erfahrungen aus dem ersten Arbeitsjahre der Hallenser Gerichtshilfe für Erwachsene‘, 
auf die nachdrücklich hingewiesen sei. Francke (Berlin). 

@ Giese, Fritz: Berufspsyehologische Beobachtungen im Reichstelegraphendienst 
(Telephonie und Siemensbetrieb). (Schriften zur Psychologie der Berufseignung und 
des Wirtschaltslebens. Hrsg. v. Otto Lipmann und William Stern. H. 24.) Leipzig: 
Johann Ambrosius Barth 1923. 74 S. G.Z. 2,5. 

Den Hauptinhalt bilden Arbeitsbeobachtungen im Fernsprechwesen. Es werden 
zunächst die berufskundlichen Unterlagen zusammengestellt, dann wird die „Psycho- 
logie des Diensturteils‘‘ erörtert, zuletzt diagnostische Versuche an Telephonistinnen 
beschrieben; unter diesen verdienen die „Alternativproben für ethisch-erotische Dia- 
gnosen“ als originell hervorgehoben zu werden. Anhangsweise wird sodann über Ver- 
versuche am Siemensschnelltelegraphen berichtet. Die zahlreichen Einzelergebnisse 
dieser interessanten Arbeit können hier nicht mitgeteilt werden. Bobertag (Berlin). 

Valentiner, Theodor: Erfahrungen bei den Eignungsprüfungen industrieller Lehr- 
linge im Bremer Institut für Jugendkunde. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. 
Jg. 24, H. 5/6, S. 169—176 u. H. 7/8 S. 238—244. 1923. 

Die Prüfungen erstreckten sich auf Intelligenz, technisches Verständnis, Hand- 
gebrauch, Augenmaß und Willenseigenschaften. Methoden und Ergebnisse, die durchaus 
zufriedenstellend waren, werden mitgeteilt. Zum Schluß wird mit Recht ein lebhafter 
Austausch der Erfahrungen psychotechnischer Prüfstellen befürwortet. Der Aufsatz 
ist beachtenswert. Bobertag (Berlin). 


Genetische und vergleichende Psychologie : 


© Handbuch der vergleichenden Psychologie. Hrsg. v. Gustav Kafka. Bd. 1, 
Abt. 3: Giese, Fritz: Kinderpsyehologie. München: Ernst Reinhardt 1923. 206 S. 
G.Z. 4,50. 

Gieses Kinderpsychologie gibt eine gute gemeinverständliche Übersicht über das 
wichtige Gebiet. Das Buch möchte aber nicht nur eine weitere Kinderpsychologie 
neben vıelen anderen darstellen. Es hat den Wunsch, neue und besondere Lichter 
auf das Vorhandene aufzusetzen. Dieses Streben kommt in der Einhaltung der beiden 
Richtlinien: „Vergleich der kindlich-jugendlichen Psyche in sich‘, ferner ‚Vergleich 
der Kinderseele als Ganzes mit der Seelenstruktur anderer Individualitäten‘“ zur 
Geltung. Ein kurzer Abriß „Zur Methodik“, in welchem eine psychotechnische Ein- 
stellung stark hervortritt, geht den beiden Hauptteilen: „Allgemeine Kinderpsycho- 
logie“ und „Pädagogische Psychologie“ voraus. Vererbungsproblemen und Rassen- 
fragen wird ebenso entsprechende Rücksicht gewidmet wie Problemen der Periodizität 
und geopsychischer Einflüsse. Den Entwicklungsregeln, der Organisation der Er- 
wachsenen im Vergleich zu der des Kindes, dem Primitivgeiste im Vergleich zum kind- 
lichen Geist, wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In dem Kapitel: „Die Puber- 
tät und der Jugendliche‘, ebenso denen über „Landschaft“ (Wandervögel) und ‚Vom 
bildenden Eros‘ hätte die Gefahr der planmäßigen homosexuellen Infektion unserer 
Jugend ernster gewertet werden müssen. In dem Abschnitt „Pädagogische Psycho- 
logie“ wird auch zu aktuellen Fragen wie: Einheitsschule und Intelligenzprüfung; 
Frühbegabung und Hochbegabung; Ausdruckskultur und geistige Entwicklung Stel- 
lung genommen. Die Wertung des Praktischen (Psychotechnik) und der Wirtschafts- 
psychologie geben dem Buch eine besondere Note. M. Isserlin (München). 

Jones, Ernest: Some problems of adolescenee. (Beiträge zur en) Brit. 
journ. of psychol., gen. sect. Bd. 13, H. 1, S. 31—47. 1922. 

Verf. liefert in seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag zur lisenschatiiälien 
Erforschung der Jugendpsychologie, bei der seiner — gewiß berechtigten — Meinung 
nach das Geschlechtsleben des heranreifenden Kindes weitgehend berücksichtigt 
werden muß. Verf. erörtert zunächst die Frage, worin das Reifwerden besteht, worin 


— 174 — 


sich also das Kind vom Erwachsenen unterscheidet und widmet den ihm wesentlich 
erscheinenden Punkten eine gesonderte Besprechung. Insbesondere werden erwähnt: 
der geistige Fortschritt, die Entwicklung bewußter Hemmungen, die Umbildung des 
Gemütslebens und der Phantasie, das schwindende kindliche Abhängigkeitsgefühl 
sowie die Ausbildung der geschlechtlichen Reife. Jones, der den Freudschen Theorien 
nahesteht, kennt fünf verschiedene Stufen der kindlichen Geschlechtsgeschichte, 
von der verworrensten unbewußten Autoerotik des Säuglings über die heteroerotische 
Ödipusphase der liebebedürftigen Kindheit hinweg bis zu dem Punkte der fremden 
Objektfindung, der ausgeprägten Heteroerotik des herangereiften Jugendlichen oder 
Erwachsenen. Abschließend geht Verf. auf die biologische Bedeutung der Pubertät ein. 
Többen (Münster). 

MeGrath, Marie Cecelia: A study of the moral development of ehildren. (Eine 
Studie über die moralische Entwicklung von Kindern.) Psychol. monogr. Bd. 32, Nr. 2, 
S. 1—190. 1923. 

Die Untersuchung, die sich zum Thema setzt, die moralische Entwicklung der 
Kinder zu studieren, ist einerseits veranlaßt durch die Erkenntnis der Schwierigkeit, 
die ein Psychiater hat, wenn er ein moralisch defektes oder gestörtes Individuum 
zu beurteilen hat (was es wünschenswert machen kann, eine Klassifizierung mit Hilfe 
von Testmethoden vorzunehmen), andererseits durch das Interesse der pädagogischen 
Praxis an der Erfahrung, in welchem Alter die Kinder überhaupt empfänglich werden 
für Fragen, die menschliche Tugenden und Fehler betreffen. Die Verf. sucht auf diesem 
schwierigen Gebiete Boden zu gewinnen, indem sie das „moralische Wissen‘ (moral 
knowledge) der Kinder und Jugendlichen in den verschiedenen Altersstufen betrachtet 
nach den Resultaten verschiedenartiger Fragen bzw. Fragegruppen, die so gestellt 
sind, daß die Ergebnisse eine statistische Aufspaltung erlauben zu dem speziellen Zwecke 
der Standardisierung und Herstellung von Prüfungstestreihen. An Schülern von katho- 
lischen Schulen (catholic parochial schools) und Gemeindeschulen (public schools) 
verschiedener Distrikte, Knaben und Mädchen im Alter von 6 bis 18 Jahren, und einer 
Erwachsenengruppe, wurden die Prüfungsaufgaben erprobt. Die Resultate erscheinen 
in zahlreichen Tabellen und werden nach den verschiedensten Richtungen hin ausge- 
wertet. Aus diesem Material will die Verf. eine Grundlage für die Aufstellung von 
Etappen in der Entwicklung des „moralischen Wissens“ der Kinder und eine Basis 
für den Moralunterricht in der Schule finden. Ferner sollen daraus Testfragen für die. 
Aufstellung von Prüfungstestreihen gewonnen werden. — Der erste Teil der Untersuchung 
der Entwicklung des moralischen Wissens der Kinder besteht darin, daß der Prüfling 
vor „moralische Situationen‘ gesetzt wird, die er in Aufgabenlösungen zu klären 
hat. Es werden zunächst 16 verschiedene kurze Geschichten vorgelegt. Beispiele: ‚Der 
8jährigen Mary ist es verboten, ihr 3!/,jähriges Brüderchen aufzuheben, weil es zu schwer 
ist. Es trifft sich, daß das Brüderchen in der Richtung auf ein dahersausendes Auto 
läuft. Mary hebt den Knaben auf und rettet ihn so. War sie ungehorsam? Warum?“ 
(Antwort „Nein“ als richtig angesehen.) „Eine schlecht gekleidete Frau fährt ihren 
Äpfelwagen durch die Straße. Zwei gutangezogene Mädchen gehen vorüber; die eine 
sagt zur andern: ‚Ist sie nicht garstig, was hat sie für Kleider an!‘ Ist das recht von 
den Mädchen? Warum?‘ (Begründung in der Richtung des Respektes der Jugend 
gegen das Alter, der Rücksicht des Reichen gegen den Unvermögenden usw. verlangt.) 
„Im Kriegsjahre 1917 hört ein Junge, daß sein Vater als Deutschenfreund einem Unter- 
seebootführer die Abfahrt eines Dampfers verraten hat. Was muß der Junge tun?“ 
(„Richtige‘“ Antwort: Seine Pflicht gegen das Vaterland, wenn möglich unter Schonung, 
wenn nicht möglich, unter Opferung des Vaters.) ‚In den meisten großen Städten 
gibt es sog. ‚Burleskentheater‘; an den Hauptvorstellungen haben nur Männer Zutritt. 
Warum besteht wohl die Beschränkung?“ (Sexuelle Situation.) Ein Teil dieser Auf- 
gaben ist dadurch interessant, daß hier wirkliche Entscheidungen intellektueller Art 
auf Grund moralischer Wertbestimmtheiten vorgenommen werden müssen. Freilich 


— 15 — 


sind diese Situationen häufig nicht weit genug ausgebaut, die Richtigkeit der Lösungen 
keineswegs eindeutig. Die Aufspaltung nach Alters-, Geschlechts- und Gesellschafts- 
gruppierung bringt manche bemerkenswerte Einzelheit. — Der zweite Teil der Unter- 
suchung durch ‚moralische Situationen‘ besteht in der Vorlage von Bildern von Lagen 
und Handlungen mit moralischer Bewertung (Szenen von Diebstahl, Mordanschlag 
und Verteidigung, Flirt, Kirchenversäumnis, ehelicher Untreue, Klatsch usw. in Einzel- 
und Serienbildern). Dieser Abschnitt scheint mir fast nicht brauchbar, weil ein großer 
Teil der bildlichen Darstellung so schlecht gelungen ist, daß das Lösen oder Versagen 
vielmehr auf das Verstehen oder Nichtverstehen der Bildbedeutung selbst, nicht aber 
des moralischen Inhalts des Bildes zu beziehen ist. — Die folgenden Aufgabengruppen 
dienen der Untersuchung über den Besitz von moralischen Begriffen und der 
Sicherheit ihrerer kenntnismäßigen Anwendung. „Ist es eine Sünde, Sonntags nicht in 
die Kirche zu gehen; sich für Wohltaten nicht zu bedanken; in der Schule zu schwätzen; 
zu betrügen; Schneeballen zu werfen; zu flirten; zu fluchen, wenn niemand dabei ist; 
usw. ?‘ Weitere Fragen: „Was würdest du tun, wenn dein Spielkamerad dein Schlagholz 
zerbrochen hat; wenn du einen Knaben hörst, der sagt, es gibt keinen Gott usw. ?“ 
Eine Untersuchung über die Wertung von moralischen Einzelbegriffen soll da- 
durch erreicht werden, daß 48 verschiedene Eigenschaftsbegriffe (niedrig, freundlich, 
faul, höflich usw.) dargeboten werden und der Prüfling aufgefordert wird, die Wörter 
von Eigenschaften zu unterstreichen, die ihm wünschenswert erscheinen; oder aus 
10 Reihen von je 5 verschiedenen Eigenschaftsbegriffen in jeder Reihe den besten und 
den schlechtesten herauszusuchen. Weiterhin werden 50 Begriffe moralischen Inhalts 
dargeboten und von jedem eine Definition verlangt (Gott, Liebe, Hölle, Demut, Selbst- 
mord, Sadismus usw.). Die Begriffe sind allen möglichen Gebieten entnommen, auch 
das sexuelle Gebiet wird nicht ausgelassen, wenngleich hier Vorsicht obwalten muß. 
Eine letzte Gruppe sollte erkunden, welche Gegenstände den Kindern der verschiedenen 
Alter und Kategorien als „moralische Probleme“, als „Pflicht“ erscheinen. 
Es wurden die Aufgaben gegeben: ‚Nenne 3 Dinge, deren Ausführung gut, 3 Dinge, 
deren Ausführung unrecht ist.“ „Welche Handlung, glaubst du, ist die beste, die einer 
in seinem Leben vollbringen kann; welche die schlechteste?“ Die Antworten wurden 
eingeteilt in Pflichten „gegen Gott‘, „gegen soziale Gruppen‘, „gegen die Familie“, 
„gegen Vorgesetzte und Freunde“, „gegen jeden Mitmenschen‘, „Pflichten zur Aufrecht- 
erhaltung der persönlichen Integrität‘, „gegen Tiere“, „Kombination von Pflichten“ 
und „falsche Begriffsbestimmungen“. Endlich wird von den Kindern verlangt, sich 
selbst einzuschätzen, indem aus der Reihe: Selbstsucht, Lüge, Betrug, Hartnäckig- 
keit, Diebstahl, Fluchen, Ungehorsam, Ungezogenheit, jedes seinen Hauptfehler selbst 
bestimmen sollte. Die Ergebnisse wurden mit den Lehrerzensuren, die nach dem gleichen 
Prinzip angelegt waren, verglichen und ergaben einen wesentlichen Unterschied 
zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung. Aus den Resultaten ist zu ersehen, daß in 
bezug auf die Sicherheit der Anwendung von Begriffen religiösen Inhaltes die Kinder 
katholischer Schulen einen weiten Vorsprung haben, daß weiterhin ältere Kinder 
moralische Begriffe anders fassen als die der Jüngeren (gegebenenfalls z. B. sexuell), 
daß Erkenntnis und Interesse für moralische Begriffe in den Altersreihen nicht nur 
eine untere, sondern auch eine obere Grenze haben, jenseits deren die Begriffe als solche 
für die Prüfungen als ‚‚Probleme‘‘ nicht mehr in Betracht kommen, mithin auch (nach 
Ansicht der Verf.) nicht mehr Mittel moralischer Unterweisung sein können. — Für 
die Beurteilung der Arbeit muß man sich klar sein, daß es sich dabei nicht um eine 
psychologische Analyse des moralischen Verhaltens der Kinder und Jugendlichen und 
seiner Entwicklung handelt — man wird vergeblich eine eingehende Betrachtung 
von Gefühls-, Wertungs-, Willens-, Motivationsfaktoren usw. suchen —, sondern um 
eine statistische Aufstellung der Leistungen im Erkennen und Wissen von moralischen 
Dingen und ihrem objektiven Fortschritt mit dem Lebensalter. (Wie ja auch ein 
großer Teil der sog. „‚Intelligenzprüfungen‘“ keine eigentliche psychologische Analyse, 


— 116 — 


sondern die Resultate aus statistischen Bearbeitungen intellektueller Leistungsprü- 
fungen sind!) Es hat ja überhaupt etwas Mißliches, in einem Gebiete wie dem der Moral 
(eine Unterscheidung zwischen ‚ethisch‘ und ‚moralisch‘ wird in der Schrift nicht 
vorgenommen) zu quantifizieren; der Untersucher ist da gezwungen, um eine statisti- 
sche Grundlage zu bekommen, bei „Richtigem‘“ und ‚‚Falschem‘‘, bei ‚Recht‘ und 
„Unrecht“ stark dogmatisch vorzugehen. Hier kommt ihm freilich die kluge Beschrän- 
kung auf den Wissensanteil in der moralischen Handlung zu Hilfe, mit dem allein man 
ja wohl auf diesem Gebiete zu Testprüfungen kommen kann. Das Erfahrungs- 
moment kommt in der Untersuchung wesentlich zu kurz. Für die Brauchbarkeit 
dieser Tests für den Psychologen, Psychiater und Heilpädagogen, denen es bei der 
Untersuchung des moralischen Verhaltens ganz wesentlich auch auf das Gefühls- 
und Willensmäßige ankommt, gilt das, was bei anderen Arbeiten über Prüfung des 
moralischen und kriminellen Verhaltens (z. B. den Arbeiten von Fernald und Jacob- 
sohn) von der Kritik hervorgehoben worden ist. Immerhin macht die Arbeit Mc- 
Graths im ganzen, wenn man sie mit der herangezogenen Literatur vergleicht, einen 
großen Schritt nach vorwärts und bietet im einzelnen vieles, was als Voruntersuchung 
für das Studium des sittlichen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen wertvoll 
sein kann. E. Feuchtwanger (München). 

Bohne, Gerhard: Das religiöse Erleben in der Pubertät. Zeitschr. f. Sexualwiss. 
Bd. 10, H. 1, S. 9—16. 1923. 

Verf. tritt auf Grund seiner Untersuchungen von Jugendentwicklungen an der Hand 
von Autobiographien der traditionellen Anschauung, daß die religiöse Entwicklung erst 
mit der Pubertätszeit beginnt, entgegen und zieht auch die Verwandtschaft des reli- 
giösen und sexuellen Lebens in Zweifel. Seine Ausführungen basieren auf dem metho- 
dischen Grundsatz, die Entwicklung jedes Lebensgebietes — im besonderen des reli- 
giösen — zunächst ganz aus sich und seinem Wesen zu verstehen und erst dann, wo 
das zur Erklärung der einzelnen Erklärungsformen nicht mehr genügt, die Ursachen 
solcher Erscheinungen in einem anderen Lebensgebiet — etwa dem sexuellen — zu 
suchen. Überzeugend erscheint der Nachweis, daß bereits das Kind fähig zu echtem 
religiösen Leben ist. Dieses beginnt also nicht erst mit der Pubertätszeit, in der Kind- 
heit empfangene Gotteserlebnisse behalten auch für später Wert. Verf. gliedert die 
spätere Jugendentwicklung in 3 Perioden — In der ersten, beim Wachwerden der Per- 
sönlichkeit handelt es sich um ein gleichzeitiges religiöses und sexuelles Erwachen. 
Es kommt teils zu Erlebnissen, in denen beide Gebiete in engere Beziehung treten, 
aber das religiöse Erleben nimmt doch in keiner Weise seine Ursachen aus der erwachten 
Sexualität. In einer zweiten Periode erfolgt mit entschiedener Abkehr von der Religion, 
welche die in sie gesetzten Hoffnungen nicht zu erfüllen vermochte, mit dem erwachen- 
den Geschlechtstriebe eine Hinwendung zur Welt und den verschiedenen Geistesgebieten. 
Der sexuelle Drang zwingt jetzt die Gesamtheit der übrigen Lebensgebiete die ‚Welt‘ 
in ihrer Ganzheit und in ihrer spezifisch nichtreligiösen Färbung zu erleben und zu 
werten. Sind auf diese Weise alle Wertgebiete durchlaufen, dann tritt neuerdings 
die Frage nach dem höchsten Wert heran, die durch Werturteile zu lösen ist. Beim 
religiösen Menschen werden alle übrigen Wertgebiete, auch das der Erotik und der 
Sexualität vom religiösen Zentrum durchdrungen. Diese Beziehungen dürfen aber 
nicht ohne weiteres in die Jugend oder Kindheit verlegt und weitgehende Schlüsse auf 
eine gegenseitige Abhängigkeit der beiden Gebiete voneinander gezogen werden. 

Gregor (Flehingen). 

Friedjung, Josef K.: Zur Kenntnis kindlicher Milieutypen. Zeitschr. f. Kinder- 
heilk. Bd. 37, H. 1/3, S. 125—144. 1924. 

Der durch seine psychologisch-psychiatrische Einstellung bekannte Wiener 
Kinderarzt bespricht hier eine Anzahl milieubedingter Psychopathien bezw. psycho- 
neurotischer Erscheinungen unter Beifügung kurzer — allzu kurzer — Krankenge- 
schichten: die bekannten Typen des einzigen, des Lieblingskindes, des ungeliebten, 


— 17 — 


des umkämpften, des mittleren Kindes. Verf. unterschätzt aber doch wohl seine engeren 
Fachgenossen, wenn er glaubt, ihnen ganz Neues zu bringen (vgl. die Arbeiten von 
Czerny, Pototzky u.a.). Die Jugendpsychiatrie (Scholz -Gregor, Strohmayer 
u. a. m.) hat längst ihr Augenmerk auf diese Dinge gerichtet und begrüßt es mit Freuden, 
wenn zwischen Pädiater und Psychiater ein fruchtbarer Gedankenaustausch zustande- 
kommt. Übrigens wäre noch zu bedenken, ob nicht bei den geschilderten Typen neben 
den besonderen Umwelteinflüssen, die ihrer jeweiligen Situation (als „einziger“ usw. 
Kinder) entspringen, noch in manchen Fällen andere ursächliche Momente (Vererbung, 
Konstitution) hereinspielen. Villinger (Tübingen). 

Tournay, Auguste: Remarques sur le développement sensitivo-moteur de Penfant. 
(Résumé pr&lim.) (Bemerkungen über die sensitivo-motorische Entwicklung des Kindes.) 
[Vorläufige Mitteilung.]) Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 20, Nr. 8, S. 759 
bis 763. 1923. | 

Bei dem vom Verf. beobachteten Kind ging der Plantarreflex von der normaler- 
weise in den ersten Monaten nachweisbaren Dorsalflexion der Großzehe in die für den 
normalen Erwachsenen charakteristische Plantarflexion über R. am 181., L. am 
192. Tage. Ebenso war die Entwicklung anderer Erschemungen rechts und links 
verschieden. Hatte das Kind bis zum 115. Tage beiderseits mit bei den oberen Extremi- 
täten lediglich symmetrisch ungeordnete Bewegungen ausgeführt, so schien das Kind 
an diesem Tage länger und angespannt seine rechte Hand zu betrachten, während die 
linke seine Aufmerksamkeit nicht erregte. Dieses Verhalten des Kindes war nicht 
etwa zufällig, wie die Beobachtung der nächsten Tage bewies. Erst am 141. Tage 
verhielt sich das Kind auch der linken Hand gegenüber in gleicher Weise. Erst am 
126. Tage konnte man feststellen, daß das Kind rechts differenzierte, unsymmetrische 
Bewegungen ausführte. Man kann diese Beobachtung nicht allein auf die Entwicklung 
der motorischen Bahn beziehen, aber auch nicht auf die Entwicklung einer einzelnen 
Sensibilitätsqualität, muß vielmehr annehmen, daß dieses Erwachen der Aufmerk- 
samkeit nur durch assoziaitive Verknüpfung mehrerer Empfindungen bedingt ist. 
Dazu drängt die Tatsache, daß, obwohl die visuelle Perzeption für die rechte und 
linke Hand gleich war, die linke nicht die Aufmerksamkeit erregte. Man darf an- 
nehmen, daß erst die Assoziation von visuellen und kinästhetischen Eindrücken die 
rechte Hand mit dem Bewußtsein des Kindes in differenzierter Form verband. 

Diskussion: Pi6ron. Die kinästhetischen Eindrücke sind viel wichtiger als die Schmerz- 
empfindung, die sich früher entwickelt. Wallon: Die Erklärung für das Erwachen der Auf- 
merksamkeit für die R. Hand vor dem Eintritt der Dorsalflexion der gleichseitigen Großzehe 
könnte bedingt sein durch frühzeitigere Myelinosation der Bahnen für die obere Extremität. 
Der Moment der ersten Aufmerksamkeit und die mit der Markreifung gegebene Möglichkeit, 
sich im Raum zu orientieren, fallen möglicherweise zusammen. Schob (Dresden). 

Neiholis, Edith E.: Pernormances in eertain mental tests of children classified as 
underweit and normal. (Ergebnisse einiger Testprüfungen bei normalen, unterge- 
wichtigen Kindern.) (Physiol. laborat., Johns Hopkins univ., Baltimore.) Journ. 
of comp. psychol. Bd. 3, Nr. 3, 8. 147—179. 1923. 

Psychisch normale Kinder von normalem oder übernormalem Körpergewicht 
wurden in Testprüfungen verglichen mit psychisch normalen unterernährten Kindern, 
deren Gewicht 9%, und mehr unter dem Soll lag. Zunächst wurde an Hand der National- 
tests das Intelligenzalter sämtlicher Kinder festgelegt und die Auswahl so getroffen, 
daß sich gleich viel Kinder gleicher Intelligenzaltersstufen, aber verschiedener Lebens- 
alter und der oben genannten Gewichtsunterschiede gegenüberstanden. Da der Inhalt 
der einzelnen Aufgaben (Tests) nicht genau angegeben ist, so ist die Beurteilung schwie- 
rig. Immerhin geht aus der Arbeit hervor, daß in motorischer Koordination, in körper- 
licher Ausdauer, Kraft und Geschicklichkeit die normalgewichtigen Kinder den unter- 
ernährten überlegen sind. Vor allem trat bei den letzteren viel rascher die Ermüdung 
und damit Minderleistung ein. — Etwas anderes war je auch nicht zu erwarten. 

Villinger (Tübingen). 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 12 


— 178 — 


athologie und Psychlatrie: 
Geistige Defektzustände : 

Kaufman, Iren: Lues und Sehwachsinn. Börgyögyäszati urol. és venerol. szedte 
Jg. 1, Nr. 4/5, 8. 77—82 u. Nr. 6, 8. 103—107. 1923. (Ungarisch.) 

Verf. untersuchte 93 debile (leichteste Form der Oligophrenie) Zöglinge einer 
Hilfsschule, alle im Schulalter (7—17 Jahre). Da einer antiluetischen Kur bloß ein ein- 
ziger davon einst unterzogen wurde, luetische Erkrankung aber bei keinem nachzu- 
weisen war, so wählte die Untersuchung die Aufgabe, eine diagnostische Methode aus- 
zuarbeiten, um die sichere luetische Belastung, wenigstens aber den Wahrscheinlich- 
keitsgrad eines Luesverdachts feststellen zu können. Die Anamnese konnte in 20 Fällen 
Lues der Eltern sicherstellen, häufiger beim Vater (85%) wie bei der Mutter (25%). 
Verdacht auf Lues lag dagegen häufiger auf der mütterlichen Seite vor. 11% der Ge- 
schwister von luetischen Kindern war debil, von den nichtluetischen nur 2,9%; 7%, der 
früher genannten litt an irgendeiner Ohrenkrankheit, bei letzteren kam dagegen Ohren- 
erkrankung nicht vor. Die mit vieler Vorsicht verwertete WaR. im Serum war in 44%, 
+-++-+—++, dazu kommen noch 16 Fälle +. Schädelumfang zeigt keinen Unter- 
schied zwischen luetischen und nichtluetischen Debilen, nur waren die Extremwerte 
bei luetischen häufiger. Hinsichtlich Körperlänge und Gewicht kamen die ‚‚luetisch 
Belasteten‘‘ besser davon. Das Syndrom von Graves (1. Scapula scaphoidea, 2. Rigi- 
dität der Gefäße, 3. vergrößerte Lymphknoten, 4. vergrößerte Thyreoidea, 5. Adenoiden, 
6. Enuresis noct., 7. langdauernde Katarrhe, 8. Pupillenanomalien, 9. psychische Alte- 
rationen) war in seinem Gesamtbild bei luetischen Debilen häufiger, doch kommen 
einzelne Glieder des Syndroms bei allen der Untersuchten vor; allerdings sprechen 
Scapula scaphoidea, Enuresis noct. und Pupilleneigentümlichkeiten ganz besonders 
für Lues. Von dem Fournierschen Syndrom fallen einzelne Glieder als ganz unspezifisch 
weg (Habitus, Stirndifformität, Nase), andere (Knochen, Haut) sind unverwertbar, 
der Rest aber — Verf. nennt ihn ‚‚reduziertes Fourniersyndrom‘“ — besitzt entschieden 
diagnostischen Wert. Zwar kommen Hyperreflexe, Tics, Hemiparese, Hemiplegie, 
Athetose, Petit mal und Sacererkrankungen bei Debilen öfters vor, sind solche neuro- 
logische Erkrankungen im Schulalter, die eine Lues bedeuten würden, selten. Verf. 
fand bei 1/, der untersuchten Kinder von luetischen Eltern Pupillenträgheit oder -starre, 
Hypo- und Areflexie (alles nur nach längerem Bestehen verwertet), nie aber Tabes 
oder Paralyse. Nach alledem besitzen die untersuchten Symptome einen in Prozenten 
ausdrückbaren Verdachtswert für die Luesdiagnose, auf Grund dessen zerfallen 
die 93 Untersuchten in folgende Gruppen: 1. kaum oder gar nicht verdächtig sind 54,8% ; 
2. mäßig verdächtig 18,3%; 3. mittelstark verdächtig 3,2%; 4. schwerverdächtig 9,7%; 
5. sicher luetisch sind 13,9%. Die Wichtigkeit der Anamnese wird betont. Die psycho- 
logische Untersuchung ergab, daß die Leistungen der luetischen Debilen hinter denen 
der sonstigen Debilen im allgemeinen zurückbleiben, Ausnahme bildet jedoch die Ge- 
dächtnisreduktion des einmal richtig erfaßten und Leistungen, welche keine eigentliche 
intellektuelle Arbeit erfordern (körperliche Arbeit, grobe Geschicklichkeit, Zeichnen). 
Die Arbeit der Verf. leidet an einem fühlbaren Manko: Liquor wurde (aus äußeren 
Gründen) niemals untersucht. Die Bildung von Schlußfolgerungen und ein Überblick 
der Details wird leider auch versäumt. Kluge (Budapest). 

Barnes, Noble P.: Mongolism — Importanee of early reeognition and treatment. 
(Mongolismus — die Bedeutung der frühzeitigen Erkennung und Behandlung.) Ann. 
of clin. med: Bd. 1, Nr. 5, S 302—312. 1923. 

Verf. gibt einen Überblick über unsere Kenntnisse von der mongoloiden Idiotie. 
Unter den Insassen der Schwachsinnigenanstalten befinden sich 2—5%, Mongoloide. 
Der Gesamtprozentsatz ist wahrscheinlich höher, da sie wegen ihrer geringen Wider- 
standsfähigkeit gegen Infektion oft früh sterben. Es handelt sich meist um spätere 
Sprößlinge der Familien, wenn die Gebärfähigkeit der Mutter ihrem Ende entgegen- 


— 179 — 


geht. Von mehreren Geschwistern ist meist nur eins betroffen; auch bei Zwillings- 
geburten. Verf. meint, daß endokrine Insuffizienz die Ursache des Mongolismus ist. 
Diese kann das Kind ererbt haben; auch spielt die Beeinflussung des embryonalen 
Stoffwechsels infolge endokriner Störungen bei der Mutter eine Rolle. Verf. zieht 
dabei vor allem .die Thymus in Betracht. Therapeutische Versuche mit Thymusfütte- 
rung haben — allerdings erst an einem kleinen Material von ihm versucht — ermutigende 
Resultate ergeben. . Kramer (Berlin)., 

Lind, W. A. T.: Observations on mongolian idiocy. (Über mongoloide Idiotie.) 
Med. journ. of Australia Bd. 2, Nr. 11, S. 272—278. 1923. 

Verf. berichtet über seine eigenen Beobachtungen. Alle Mongoloiden sind ein- 
ander ähnlich wie Glieder einer Familie. Sie zeigen folgende Merkmale: Schräger Ver- 
lauf der Lidspalte infolge Vorhandensein der Epicanthusfalte, flache Glabella, kleiner 
Kopf, flaches Occiput, flaches rotes Gesicht, Nasenwurzel tiefliegend, Nase kurz, 
Nasenlöcher nach vorn gerichtet, kleine runde Ohren, Hände breit mit dicken Stum- 
melfingern, Daumen und kleiner Finger kurz, letzterer abnorm gekrümmt; Haut 
faltig-derb, rot; Zunge groß und rissig; geringe Körpergröße, Thorax, Knie, Füße 
häufig deformiert; Anlage zu Leistenbrüchen. Sie sind meist gutmütig, haben einen 
starken Nachahmungstrieb, sind bis zu einem gewissen Grade erziehbar, je nach der 
Schwere des psychischen Defekts. Unter den Fällen von angeborenem Schwachsinn 
machen sie unter dem Material des Verf. 3%, aus. Beide Geschlechter sind ungefähr 
gleich häufig befallen. Epilepsie ist bei ihnen selten, wenn sie aber unter Epileptischen 
gehalten werden, suchen sie bisweilen epileptische Anfälle zu simulieren. Von 14 
starben 3 unter 10 Jahren, 5 zwischen 10 und 20, 6 älter. Der älteste wurde 53 Jahre 
alt. Ein Mädchen wurde schwanger, mußte aber wegen ihres Zwergwuchses durch 
Sectio caesarea entbunden werden. Am Gehirn findet man abnormen Verlauf der 
Windungen. Mikroskopisch nichts Spezifisches.. Bei den 14 Verstorbenen wurde 
12 mal Sklerose der Nieren, Leber und Milz, 7 mal Atrophie der Schilddrüse gefunden. 
Familiäres Auftreten wurde nicht beobachtet. Jeder Mongoloide war der einzige 
seiner Art in den einzelnen Familien. In 5 Familien mit 5, 2, 4, 4, 3 Kindern war das 
mongoloide das erstgeborene. In einer Familie mit 9 Kindern war es das fünfte. In 
7 Familien mit 3, 5, 5, 6, 9, 12, 13 Kindern war es das vorletzte. In 5 Familien mit 5, 
11, 6, 4, 13 Kindern war es das letzte Kind. Die Ursache, daß es so häufig das letzte ist, 
liegt vielleicht darin, daß die Eltern auf weitere Nachkommenschaft verzichten, 
wenn ein mongoloides Kind geboren ist. Manchmal ist aber die Mutter bereits wieder 
schwanger, ehe die Abnormität bemerkt wird, so daß noch ein Kind auf das kranke 
folgt. Die Zahl der Geschwister ist nicht größer als in anderen Familien der dortigen 
Gegend. Höheres Alter der Mutter bei der Geburt kam nicht als Ursache in Betracht. 
Alkohol, Syphilis, Tuberkulose, Neuropathie der Eltern war nicht häufiger als bei 
anderen Idiotieformen. Ebenso verhielt es sich mit der Häufigkeit der Fehlgeburten 
bei der Mutter. Vorausgehende Krankheit der Mutter ließ sich oft feststellen. Die 
auf das mongoloide Kind folgenden waren gesund. Die Theorie der Abnahme der 
reproduktiven Funktionen infolge häufiger Geburten ist abzulehnen. Die Annahme 
Stoeltzners, daß Hypothyreoidismus der Mutter die Ursache ist, gründet sich auf 
zu wenig Fälle. Dagegen spricht das sporadische Auftreten unter gesunden Geschwi- 
stern. Hierin unterscheidet sich der Mongolismus von anderen Idiotieformen. Kombi- 
nationen von Mongolismus und Kretinismus scheinen vorzukommen. Nach erfolg- 
reicher Behandlung von Kretinismus bleibt bisweilen ein mongoloider Rest zurück. 

Campbell (Dresden). 

Sherman, Mandel, and Bert I. Beverly: The factor of deterioration in ehildren 
showing behavior diffieulties after epidemie encephalitis. (Intelligenzverminderung bei 
Kindern mit postencephalitischen Charakterstörungen.) Arch. of neurol. a. psychiatry 
Bd. 10, Nr. 3, S. 329—343. 1923. 

Im Gegensatz zu anderen Forschern, die bei Kindern im Anschluß an epidemische 

12% 


— 10 — 


Encephalitis oft Demenzprozesse beobachtet haben wollen, konnten die Verff., die 
‚bei 20 Kindern eingehende Untersuchungen mit dem Stanford-Binettest und anderen 
Methoden ausführten, feststellen, daß wohl 4 Kinder als intellektuelle Grenzfälle 
anzusehen, 6 stumpf und träg waren, aber ein eigentlicher Intelligenzdefekt infolge 
der Encephalitis nicht festgestellt werden konnte. Auch das Gedächtnis für Schulwissen 
und das Retentionsvermögen waren nicht wesentlich gestört. Aufmerksamkeitsstörungen 
kamen periodisch vor, entsprechend den emotionellen Attacken, in der Zwischenzeit 
keine Aufmerksamkeitsstörung. Während der leichten emotionellen Erregungen wurde 
auch Hemmung der Antworten bemerkt. Kein enger Konnex zwischen Schwere der 
psychischen und körperlichen Krankheitserscheinungen. 7 Kinder mußten aus der 
Schule genommen werden; von 10 anderen wurden 7 versetzt. 10 Kinder zeigten 
Verschlechterung oder Gleichbleiben der Charakteranomalie (Beobachtungszeit durch- 
schnittlich 3 Jahre), 6 leichte, 3 wesentliche Besserung. In der Diskussion meint 
Krumholz, daß sowohl intellektuelle als affektive Defekte der Krankheit folgen 
können. Ä F. Stern (Göttingen)., 

Staehelin, J. E.: Die postencephalitischen Affektstörungen. (Schweiz. Ver. f. 
Psychiatrie, Genf, Sitzg. v. 2. VI. 1923.) Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie 
Bd. 14, H. 1, S. 131—134. 1924. 

Die Charakterveränderungen der ,Postencephalitiker“ sind, wie Verf. in seinem 
kurzen Vortragsbericht zusammenfaßt, von denen organisch Kranker mit Hirnrinden- 
erkrankung verschieden; sie ähneln denen, die man auch sonst bei Patienten mit Stamm- 
ganglionerkrankung findet. Unterschieden werden: Jugendliche Postencephalitiker 
mit innersekretorisch-vegetativen Störungen; dabei leicht ansprechbare, oft kurze 
Affekte, geringe Ablenkbarkeit, Unberechenbarkeit, zwangsartige Impulse, Dämmer- 
zustände. 2. Hyperkinetiker mit intakter Intelligenz, gehäuften Impulsen, Beschäf- 
tigungsdrang, Neigung zu antisozialen Handlungen. 3. Jugendliche Parkinsonismus- 
kranke mit depressiven Verstimmungen und mortatischer Heiterkeit, Verlust der 
sozialen Gefühle usw. Bei Jugendlichen moralische Defekte, darum allein auftretend, 
weil die meisten dieser Kranken auch mit Parkinsonerscheinungen Hyperkinesen 
zeigen, weiter wegen der Labilität der Affekte beim Jugendlichen und der geringeren 
Entwicklung der intellektuellen Führung; außerdem sind fast alle moralisch Defekt- 
gewordenen psychopathisch veranlagt. 4. endlich bei erwachsenen Amyostatikern 
Mangel affektiver Erregbarkeit, der sekundär zu Denkstörungen und Apathie führt, 
bei anderen Depressionen oder hypomanische Zustände. F. Stern (Göttingen). 

Lermann, Hugo: Über Charakterveränderungen bei Jugendlichen im Sinne der 
Psychopathie naeh Eneephalitis epidemica. Ein kasuistischer Beitrag. (Städt. Nerven- 
heilanst., Chemnitz.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 86, H. 1/2, S. 148 
bis 159. 1923. 

2 Fälle von Charakterveränderung bei Jugendlichen im Sinne schwerer Psychopathie bei 
einem 9- und einem 13jährigen Jungen. Beide Fälle stammen aus dem Frühjahr 1920, zeigen 
die ersten, in die Augen fallenden psychischen Veränderungen erst 1 Jahr später und befinden 
sich seitdem in jenem bekannten eigenartigen Zustand subcortical bedingter Psychopathie, 
vorwiegend impulsiver, asozialer Art. Die Gesamterscheinung steht dem Bilde jugendlicher 
Schizophrener in mancher Beziehung nahe. Verf. fordert besondere Erziehungsmaßnahmen 
für diese Kranken, die nur in geeigneten Heilerziehungsheimen und in ganz schweren Fällen 
in Irrenanstalten auf die Dauer unterzubringen sind. Villinger (Tübingen). °° 

Fiseher, Josef: Über eine eigentümliche Störung im Schreiben und Zeichnen 
— Spiegelsehrift und Inversion — bei einem taubstummen Kinde. (Ohrenabt., allg. 
Poliklin., Wien.) Zeitschr. f. Hals-, Nasen- u. Ohrenheilk. Bd. 5, H. 3/4, S. 254 bis 
261. 1923. 

Ein 8jähriger taubstummer Knabe mit normaler kalorischer und Drehreaktion beider 
Labyrinthe schrieb mit der r. Hand alle Buchstaben in Spiegelschrift und auf den Kopf gestellt 
und zeichnete aus dem Gedächtnis Gegenstände um 180° in der Vertikalen gedreht. Nach Vor- 
lagen zeichnete er richtig, aus dem Gedächtnis aber wieder verkehrt. Nach kurzer Exposition 
schreibt und zeichnet er verkehrt, nach 2—3 Sekunden währender teilweiserichtig. In diesem 
Falle kann nicht Picks Erklärung einer labyrinthären Störung und ebensowenig die eines 





— 181 — 


Erweichungsherdes oder Aplasie (weil keinerlei andere Symptome dafür sprechen) oder Druck- 
steigerung im Gehirn gelten. Es ist an eine funktionelle Störung zu denken. Fröschels (Wien). °° 

Lowe, Gladys M.: Mental changes after removing tonsils and adenoids. (Geistige 
Veränderungen nach Entfernung der Tonsillen und adenoider Vegetationen.) Psychol. 
clin. Bd. 15, Nr. 3/4, 8. 92—100. 1923. 

Bei den tonsillektomierten Kindern ließ sich ein Anstieg des Intelligenzalters 
(gemessen nach Binet) um durchschnittlich 3 Monate feststellen. Dieser Vorteil war 
1 Jahr nach der Operation wieder verschwunden. Ein Einfluß der Operation auf andere 
psychische Qualitäten war nicht zu konstatieren. R. Thiele (Berlin). 

Vermeylen, G.: Debilit& motrice et déficience mentale. (Motorische Debilität und 
Schwachsinn.) Encéphale Jg. 18, Nr. 10, S. 625—647. 1923. 

Verf. hat an 127 Knaben der Abteilung für anormale Kinder der Kolonie Gheel 
Untersuchungen darüber angestellt, in welchem gegenseitigen Verhältnis motorische 
Debilität im Sinne von Du pr é, die nicht nur bei geistesschwachen Individuen zu finden 
ist, und Schwachsinnszustände stehen. Nach der Definition von Dupré handelt es 
sich bei der motorischen Debilität um einen angeborenen, oft hereditär und familiär 
auftretenden Zustand der Motilität, der charakterisiert ist durch eine verbreitete 
Muskelhypertonie, Steigerung der Sehnenreflexe, Störung des Plantarreflexes, Mit- 
bewegungen und Ungeschick in der Ausführung von Willkürbewegungen. Auf Grund 
seiner Untersuchungen, die sich nicht lediglich auf die Dupr &schen Punkte beschränk- 
ten, kommt Vermeylen zu folgenden Schlüssen: 1. Die Steigerung der Reflexe 
ist stärker an den unteren als an den oberen Extremitäten, sie betrifft besonders den 
Patellarreflex; sie ist um so stärker je schwerer der Grad des Schwachsinns ist; Steige- 
rung der Sehnenreflexe an den Armen wurde lediglich bei ausgesprochen Imbezillen 
gefunden; Steigerung des Patellarsehnenreflexes war in mehr als 50%, der Fälle vor- 
handen, häufiger bei Imbezillen als bei Debilen. Andererseits ist aber auch das (an 
sich seltene) Fehlen der Sehnenreflexe der unteren Extremitäten bei Imbezillen häufiger 
als bei Debilen. 2. Im Gegensatz zu den Sehnenreflexen zeigen Haut- und Schleimhaut- 
reflexe eine gewisse Neigung zum Fehlen oder zu Abschwächung; Imbezille und Debile 
verhalten sich gleich. 3. Mitbewegungen wurden in 50—75% der Fälle festgestellt, 
häufiger bei Imbezillen als bei Debilen; außerdem waren sie bei Versuchen am Dynamo- 
meter bei den Imbezillen über weitere Muskelgruppen ausgedehnt als bei den Debilen. 
4. Hypotonie und Paratonie (d. i. nach Dupr & die Unfähigkeit die Muskulatur völlig 
erschlaffen zu lassen) fanden sich in mehr als 25%, ebenfalls häufiger bei Imbezillen 
als bei Debilen; beide nebeneinander, was sehr selten ist, fanden sich fast ausschließ- 
lich bei Imbezillen. Ebenso verhält es sich mit der Neigung zur Beibehaltung von 
gegebenen Stellungen der Glieder, wobei die Suggestion die Hauptrolle spielt. 5. Die 
Handgeschicklichkeit ist ganz im allgemeinen schlechter als bei normalen Kindern, 
sie nimmt um so mehr ab, je tiefer die Intelligenzstufe ist; die Unterschiede zwischen 
Debilen und Imbezillen sind hier bei gewissen Proben ganz beträchtlich. Ähnliche 
Resultate liefern auch Versuche am Spirometer und am Dynamometer. Schob. 

Deseoeudres, Aliee: Die pädagogische Begabung abnormer Kinder. Neue Er- 
ziehung Jg. 5, H.8, S. 104—109. 1923. 

Die Verf. — Leiterin einer Klasse für Schwachsinnige — stellt an vielen kleinen 
Zügen die Beobachtungsgabe und Nächstenhilfe ihrer Schüler dar. Sie meint, man 
solle die natürliche pädagogische Begabung, besonders der normalen Kinder, besser 
ausnutzen und bewußt fördern, um eine Generation weniger unzulänglicher Eltern 
zu erziehen. Lotte Nohl (Berlin). 

Cristoffel, Hans, und Emanuel Grossmann: Über die expressionistisehe Kompo- 
nente in Bildnereien geistig minderwertiger Knaben. (Vorläufige Mitteilung nach einem 
Demonstrationsvortrag in der Frühjahrsversammlung 1923 des Schweizer Vereins für 
Psyehiatrie.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 87, H. 3, S. 372—376. 1923. 

In dem Unterricht einer Baseler Sonderklasse von debilen und nicht debilen 


— 12 — 


Psychopathen von 10—14 Jahren wurde den Schülern Gelegenheit gegeben, in der 
Wiedergabe verschiedenster einfacher Vorwürfe (Bäume, Zweige, Blumen, Gebrauchs- 
gegenstände) frei mit den ihnen zur Verfügung gestellten Grundfarben Gelb, Blau, 
Rot und deren selbst hergestellten Gemischen, später noch mit Braun, Weiß und 
Schwarz nach eigenem Empfinden zu schalten. Dabei stellte sich heraus, daß jedes 
Kind bestimmte Farben und Farbgemische bevorzugte, die weitgehendst unabhängig 
von den Farben der Vorlage bei den verschiedensten Gegenständen immer wieder ver- 
wendet wurden. Diese individuelle, völlig subjektive Farbenwahl, in der sich nach 
Ansicht der Verff. eine Seite der Wesenheit des Kindes ausdrückt, und die auch durch 
andere Vorbilder und suggestive Beeinflussungsversuche des Lehrers nicht geändert 
wird, gilt den Verff. als expressionistische Komponente. Bei dem einen Kinde herrschen 
helle und zarte, bei anderen tiefe und dunkle Töne vor; Einheitlichkeit und Abgeklärt- 
heit, Schwelgen in Farbenpracht werden als kennzeichnend angeführt. Ein verwahr- 
lostes Kind, das später Einbruchdiebstähle beging, malte in Grauviolett, ein kleiner 
lebhafter Italiener in kräftigem Gelb, Blau und Rot, ein verkommener Junge mit Nei- 
gung zu phantastischen Entgleisungen in „aufgewühltem‘“ Braunrot. Die Farbe wird 
als Ausdrucksmittel mit der Handschrift in bezug auf ihre Verwendung zu charakter- 
typologischen Zwecken verglichen. Weitere Versuche sollen dieser Fragestellung nach- 
gehen. Homburger (Heidelberg)., 


Psychopathie, Verwahrlosung : 


Cameron, H. C.: The nervous ehild. (Das nervöse Kind.) (Brit. med. assoc., 
sect. of neurol. a. psychol. med., Portsmouth, 25. VII. 1923.) Lancet Bd. 205, Nr. 9, 
S. 457—459. 1923. 

Die Arbeit stellt den gedrängten Auszug aus einem Kongreßbericht über das 
obige Thema nebst ausgedehnter Diskussion dar. Es können aus der Fülle der Ge- 
danken und Anregungen nur die wichtigsten angedeutet werden: Die meisten nervösen 
Kinder zeigen einen auffallenden Mangel an Tonus der Skelettmuskulatur. Die kleinen 
Muskeln des Gesichts und der Hand sind in steter Bewegung, oder aber das Gesicht ist 
apathisch-unbewegt. Haltung und Bewegungen allein geben schon ein ganz gutes 
Bild des Grades der Nervosität. Nicht selten sind Herzmuskelschwäche, Vasomotoren- 
schwäche, Albuminurie und Cyanose. Dazu kommt noch häufig Enteroptose und ein 
ausgesprochener Mangel an Widerstandsfähigkeit gegen alle exogenen Schädigungen. 
Psychisch sind diese Kinder sehr abhängig vom Milieu. Die Mehrzahl ihrer Beschwer- 
den ist psychogen. Nahrungsverweigerung hat ihren Grund oft in zu großem Drängen 
der Mutter. Unstillbarer Durst ist in den allerseltensten Fällen die Folge von Diabetes 
insipidus, gewöhnlich dagegen die Reaktion auf ungeschicktes Verhalten der Um- 
gebung (Ca meron). Die Psychoanalyse an 40 Kindern ergab, daß die Kompensation 
(im Adlerschen Sinn) den Kindern regelmäßig psychisch vorwärtshalf, einerlei ob 
die Kompensation in sozialem Sinne gerichtet war oder nicht (Boyle). Die Wichtigkeit 
der Erziehung der Eltern muß noch mehr Allgemeingut werden. In London besteht 
eine „Nationale Gesellschaft für Elternerziehung““ (Armstrong - Jones). Psycho- 
analyse eignet sich wenig für Kinder (Gordon). Schielen, Stottern, Linkshändigkeit 
spielen beim nervösen Kind eine große Rolle (Herford und Zeman). Der zweite Tag 
galt den Folgen der Encephalitis lethargica: Die psychischen Folgen bestehen 
in der Hauptsache in Energielosigkeit, Depression, Schlafstörungen und in einzelnen 
Fällen in tiefgreifenden Charakterveränderungen. Psychotherapie und körperlich- 
seelische Nach- bzw. Weitererziehung müssen die Basis der Behandlung bilden (B uz- 
zard). Bei Kindern unter 6 Jahren wirkt sich die Krankheit psychisch am verhängnis- 
vollsten aus. Hier kommt es zu schweren Persönlichkeitsveränderungen. Diese müssen 
jedoch nicht notwendig mit Intelligenzstörungen einhergehen. Parkinsonismus ist 
eine der häufigsten Folgen. Choreatisch-athetotische Bewegungen zeigen eine gewisse 
Tendenz, chronisch zu werden. Die Prognose ist mit der größten Zurückhaltung 





— 188 — 


zu stellen. Bei den Zitterbewegungen und den Parkinsontypen bewährte sich Hyoscin 
(Riddoch). Von 34 akuten Fällen sind 6 gestorben und 11 völlig genesen, der Rest 
ist unter den verschiedenen bekannten Folgezustandsbildern erkrankt geblieben. 
Bei den Kindern ist die Umkehrung des Schlaftyps die gewöhnlichste Form der Schlaf- 
störung. Die Prognose der psychischen Störungen ist infaust (Howell). Augenmuskel- 
lähmungen und Pupillenstörungen sind nächst dem Parkinsonsyndrom die häufigste 
Spätfolge. Von der echten Paralysis agitans unterscheidet sich der Parkinsonismus 
postencephaliticus durch das Auftreten in Lebensaltern, in denen die Paralysis agitans 
unbekannt ist, durch das häufige Fehlen des Tremors, durch nur teilweise auftretende 
Rigidität und durch den Speichelfluß. Die Prognose ist um so ungünstiger, je länger 
das störungsfreie Intervall nach dem akuten Stadium dauerte (Feiling). Globus 
pallidus und Mittelhirn zeigten in einem Fall perivasculäre Entzündungsherde und 
Veränderungen in den Pigmentzellen der Substantia nigra. In einem anderen Fall 
war die Substantia nigra normal, es bestanden Entzündungsherde im Mittelhirn und 
eine Blutung in den rechtsseitigen Basalganglien (Mc Alpine). Die Spätfolgen stehen 
in gar keinem Verhältnis zu der Schwere des akuten Bildes. Ganz leichte, kaum be- 
merkbare Grippen bringen oft die schwersten Folgezustände (Symonds). Villinger. 


Betke: Das nervöse Kind. Zeitschr. f. Säuglings- u. Kleinkinderschutz Jg. 15, 
H. 12, S. 449—455. 1923. 

Durch den fortschreitenden Ausbau des Schularztwesens ist eine umfangreiche Erfassung 
der nervösen Kinder möglich geworden. Das Bild der Nervosität läßt sich. jedoch nicht scharf 
umgrenzen. Häufig bestand schon im Säuglingsalter eine abnorme Erschöpfbarkeit und Er- 
regbarkeit des Nervensystems. Als Gesichtspunkte bei der Beschreibung des Falles sind folgende 
Fragen zu beachten: 1. Wodurch fällt das Kind auf? 2. Worauf ist der Zustand zurückzu- 
führen ? 3. Wie muß das Kind behandelt werden ? 4. Ist Aussicht auf Besserung oder Heilung 
vorhanden. Als Haupttypen der nervenkranken Kinder gelten die Epileptiker, oft mit psy- 
chischen Aquivalenten und Intelligenzdefekten, die Choreatiker und die sog. nervösen Kinder 
mit Beschwerden allgemeiner Art. Die Behandlung der neuropathischen Zustände muß eine 
heilpädagogische sein, sie muß Schädigungen durch den Schulunterricht fernzuhalten suchen 
und körperliche Ertüchtigung anstreben. Familie, Schule und Arzt müssen zusammen 
wirken, um die große Aufgabe des Erkennens, Verstehens und der Behandlung des nervösen 
Kindes zu lösen. B. Harms (Berlin). 

- Miller, H. Criehton: The nervous ehild. (Das nervöse Kind.) Brit. med. journ. 
Nr. 3284, S..1098—1099. 1923. 

Diskussionsbericht einer Sitzung der Medizinalbeamten der englischen Schul- 
vereinigungen. Miller, der das Referat erstattete, steht auf dem Boden einer psycho- 
logisch-psychiatrischen Grundeinstellung mit ausgewählten Stücken aus Freud und 
Adler. Viele spätere Psychoneurosen, die dann oft der Behandlung hartnäckig trotzen, 
könnten in der Jugend durch ganz einfaches Verstehen der Kinderseele und entsprechen- 
des Behandeln vermieden werden. Sehr wichtig ist immer die rechtzeitige Befreiung 
aus der Vater- bzw. Mutterbindung. Zwischen 7 und 8 muß das Kind die stärksten 
Fesseln dieser Art abstreifen, und die Eltern müssen ihm notfalls dazu helfen. Das 
Bettnässen führt Verf. auf eine Störung im endokrinen Gleichgewicht zurück, daneben 
spielen psychische Faktoren, hauptsächlich auch die Autosuggestion, eine Rolle. Ver- 
ständnisvolles Entgegenkommen von seiten der Umgebung ist außer der psycho- 
analytischen und der organotherapeutischen Behandlung das wichtigste Heilmittel. 
Die Frage der Onanie wird erörtert ohne neue Gesichtspunkte. Bezüglich der Homo- 
sexualität steht Verf. auf dem Standpunkt, daß man die im allerweitesten Sinne homo- 
sexuellen Beziehungen von Kindern und Jugendlichen mit einem ganz anderen Maß- 
stab zu messen habe als die der Erwachsenen. Homosexualität in diesem Sinne sei 
nichts als eine Durchgangsphase, die fast von allen Kindern einmal durchschritten werde. 
Cameron trat für Drill in den jungen Jahren, für Gymnastik (womöglich mit unbe- 
kleidetem Körper) ein, ebenso für Tanz und Massage. In der weiteren Diskussion 
wurde besonders noch die medikamentöse Behandlung des Bettnässens (Belladonna, 


Thyreoidin, Hypophyse?) besprochen. | Villinger (Tübingen). 


— 184 — 


De Sanetis, Sante: Hystero-psychopathische Kinder. Monatsschr. f. Kriminalpsychol. 
u. Strafrechtsreform Jg. 14, H. 8/12, S. 269—286. 1924. 

Nach einer Auseinandersetzung der verschiedenen Ansichten der verschiedenen 
Schulen und nach Mitteilung einer Reihe von recht interessanten Eigenbeobachtungen 
kommt De Sanctis zu folgenden Schlüssen: Er schickt ihnen eine sehr beachtens- 
werte Bemerkung voraus (S. 285): Ich möchte die Ärzte auf die Wichtigkeit der frühen 
Differentialdiagnose zwischen hysterischer Psychose und Hebephrenie oder Heboid 
hinweisen. Die praktischen Ärzte und auch manche Psychiater täuschen sich zu gunsten 
der hysterischen Psychose.. Unter den Hebephrenien (zwischen 12. und 17. Lebensjahr), 
die in den letzten 15 Jahren in meine Klinik kamen, warnichteine der Diagnose „Hy- 
sterie‘‘ entgangen, wenigstens keiner der initialen Fälle. Die beginnende Hebephrenie 
bietet sehr häufig ein ähnliches Bild wie die depressiven Formen der Hysterie. Zu- 
sammenfassung: Hysterische Psychosen gibt es auch in der frühen Kindheit; hier 
kommen sie aber seltener vor als im späteren Alter und in der Jugendzeit. Bei ganz 
kleinen Kindern habe ich nie echte hysterische Psychosen gesehen, da kommen aber, und 
zwar nicht ganz selten, hysterische Einzelsymptome vor. Die hysterischen Psychosen, 
die bei den Kindern und bei den Heranwachsenden vorkommen, sind meiner Erfahrung 
folgende: 1. Der hysterische Charakter, als reine Darstellung der allgemeinen neuro- 
psychopathischen Konstitution, von einigen (Weygardt) hysterische Entartung 
genannt, der hysterische Charakter allein oder in Begleitung von episodischen de- 
pressivenSyndromen. Individuen mit rein hereditär degenerativem Carak- 
ter gehören nicht zu dieser Gruppe, sondern sind unserer Meinung nach zur Psycho- 
degeneration zu rechnen, mit oder ohne hysterischen Nebenerscheinungen. 2. Der 
hysterische Charakter, besser: delirante Form der verschiedensten Art, in Form 
eines einfachen hysterischen Deliriums, hysterischer Delirien mit somnambalen Ein- 
schlägen, Dämmer- oder halbklarer Traumzustände, von längerer oder kürzerer Dauer 
usw. 3. Der hysterische Stupor bei Individuen mit hysterischem Charakter. 4. Hyste- 
rische Phänomene verbunden mit anderen nervösen oder Geisteskrankheiten, aber 
immer bei Individuen mit hysterischem Charakter. Der Unterschied zwischen hyste- 
rischer Psychose der Erwachsenen und hysterischen Psychosen der Jugendlichen 
liegt demnach: a) in dem einen Fall in der Anwesenheit von Zeichen neuro-psycho- 
pathischer Konstitution, mehr oder weniger differenziert beim sog. „hysterischen 
Charakter‘. b) In der Tatsache, daß die hysterischen Psychosen der Kinder einförmiger 
sind und sich, nach meiner Erfahrung, auf die wenigen oben genannten Formen zurück- 
führen lassen. v. Düring (Frankfurt a. M.). 

Ferrari, G. C.: I minorati psiehiei giovani. (Norme pratiche di profilassi soeiale.) 
(Die jugendlichen psychisch Minderwertigen. [Praktische Normen der sozialen Prophy- 
laxe.]) Riv. di psicol. Jg. 19, Nr. 3/4, S. 113—123. 1923. 

Die jugendlichen Hilfsbedürftigen sind zu teilen in physisch und psychisch Minder- 
wertige. Zu den ersteren gehören die Blinden und Taubstummen. Die zweiten zerfallen 
in die Spätentwickelten, Schwachsinnigen und Idioten einerseits, in die jugendlichen 
Verbrecher andererseits. Verf. berichtet über seine Erfahrungen in der Erziehungs- 
anstalt für Schwachsinnige in Bertalia aus den Jahren 1903—1907. Von 616 starben 
137, entlassen wurden 110. Von diesen wurden 37, davon 9 Ẹ vorzeitig und ungebessert 
nach Hause genommen; 33, davon 2 2 kehrten gebessert in die Familie zurück, 13, 
darunter 8 2 (Spätentwickelte, Status adenoideus, psychopathische Zustände von 
beschränkter Dauer) wurden geheilt, 13 Epileptiker und 6 Schwachsinnige kamen in 
andere Anstalten, 5 kehrten zurück. Von den 33 Gebesserten konnten über 24 später 
Nachrichten eingezogen werden. Von 3 Mädchen war eine Haarflechterin geworden, 
eine gestorben und eine der Prostitution verfallen. Von 21 Knaben kamen 3 bald ins 
Gefängnis, 13 hatten einen Beruf gefunden, 4 waren in eine Anstalt und 1 in eine Nor- 
malschule gekommen. Es waren also von 616 Pfleglingen 19 als geheilt und 14 als in 
bescheidenem Maße berufsfähig anzusehen. Die Zahl der Idioten und Schwachsinnigen 





— 185 — 


Italiens wird heute auf 18 000 geschätzt. Für die Zurückgebliebenen wird behördlicher- 
seits gesorgt in Rom, Mailand, durch private Stiftungen in Bergamo und Bologna, der 
Idioten und Schwachsinnigen nehmen sich einige Orden und die Jugendabteilungen 
der Irrenanstalten von Mailand, Bologna, Reggio Emilia und Ancona an. Dazu kommen 
einige Privatanstalten. Alle diese Einrichtungen gewähren aber nur Unterkunft 
für etwa 200—300 Minderwertige, für die Zwangszöglinge und Korrigenden sorgen 
3 Seemannsasyle in Genua, Venedig und Neapel, ein Erziehungsheim in Mailand und 
die Kolonie von Arese, dazu kommt die Jugendabteilung des Bologneser Irrenhauses. 
Des Verf. Besserungsvorschläge für die geistig Minderwertigen sehen vor: 1. Lokale 
Einrichtungen für die Taubstummen und Blinden. 2. Hilfsschulen für Zurückgebliebene. 
3. Ein natioales Erziehungswesen für Hilfsbedürftige: Dieses hat die Aufgabe, den 
religiösen Orden die Anlage von Kolonien für Minderwertige aufzuerlegen und anderer- 
seits landwirtschaftlich-industrielle Kolonien für jugendliche Psychopathen in der 
Nähe von Städten anzulegen. Doch ist es zweckmäßig, die Behörde nicht als staatliche 
einzurichten, sondern als eine Art Liga, die nur staatlicher Unterstützung und Beauf- 
sichtigung bedarf. Diese Aufsicht wird zweckmäßig von geeigneten staatlich ange- 
stellten Pädagogen ausgeübt. Creutzfeldt (Kiel). 

Lurie, Lewis A.: The problem of the sub-normal and psychopathie ehild. (Das 
Problem des unternormalen und psychopathischen Kindes.) Ohio state med. journ. 
Jg. 1923, Dez.-H. 1923. 

Nach einer kritischen Untersuchung von 150 der Psychopathenabteilung des 
Jüdischen Krankenhauses in Cincinnati-Ohio zugewiesenen Kindern kommt der Be- 
richterstatter zu dem Schluß, daß Schwachsinn nicht eine klinische Einheit ist, sondern 
ein Zeichen von verschiedenen schweren Anlagestörungen, die ihm zugrunde liegen und 
deren Behebung oft zu einer bemerkenswerten Einsicht in den geistigen Zustand des 
Kranken gibt und so große wissenschaftliche Aussichten eröffnet. Etwas eigentümlich 
mutet die Definition des Verf. an, die er der Psychiatrie gibt als der Wissenschaft 
„von den Leitreaktionen (,‚conduct reactions‘‘) des Individuums bei dem Versuch, 
sich der Umgebung anzupassen‘. E. Feuchtwanger (München). 

e Többen, Heinrich: Die Jugendverwahrlosung und ihre Bekämpfung. Münster 
1.W.: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung 1922. VI, 245 8. 

Többen tritt an sein Material als Arzt und Gutachter heran, der die psychische 
Konstitution Verwahrloster feststellt und die Zusammenhänge der Verwahrlosung 
mit äußeren und inneren Ursachen klarlegt und Wege zur Bekämpfung weist. Psychia- 
trisches Wissen und umfassende forensische Erfahrung lassen ihn dazu berufen er- 
scheinen, und bei seiner klaren und überzeugenden Darstellung wird er jedem, der in 
dieser Richtung Aufschlüsse wünscht, ein guter Führer sein. Dagegen wird derjenige 
etwas enttäuscht werden, der sich in die Psychologie des Fürsorgezöglings, in die Wand- 
lungen eines Jugendlichen im Verlauf der Fürsorgeerziehung vertiefen will, und die 
Mittel und Wege, auf welchen die Anstaltserziehung ihre Erfolge erreicht, kennen- 
lernen möchte. T. kann hier nur Spärliches und nur aus zweiter Hand bieten. Die Män- 
gel sind empfindlicher als bei Gruhle, der sich auf einen engeren Fragenkomplex 
begrenzt und in dessen Buch nur da und dort die Folgen einer ungenügenden Beob- 
achtung der Zöglinge zutage treten. Wieviel mehr hätten hier die Praktiker der evan- 
gelischen Anstaltserziehung bieten können, wenn sie sich nicht auf ihnen fremdes Gebiet 
verloren hätten. Gregor (Flehingen). 

Smith, Stevenson, and Edwin Guthrie: Exhibitionism. (Exhibitionismus.) Journ. 
of abnorm. psychol. a. soc. psychol. Bd. 17, Nr. 2, S. 206—209. 1923. 

Exhibitionismus ist nicht wie Freud annimmt, eine angeborene natürliche mensch- 
liche Neigung, sondern eine erworbene Eigenschaft, ein Produkt des Milieus. Ihr Ziel ist 
die Aufmerksamkeit anderer Menschen zu erregen und sie entwickelt sich deswegen nur 
in einer Umgebung, in der dieses Ziel durch exhibitionistische Handlungen erreicht wird. 
Eine sexuelle Grundlage ist bei Kindern dabei meist gar nicht vorhanden. Campbell. 


— 16 — 


© Ellis, Haveloek: Die Homosexualität (sexuelle Inversion). Autoris. Übersetzung 
nach der 3. englischen Original- Aufl. besorgt von Helmut Müller. (Sexual-psychologische 
Studien. Bd. 8.) 2. vollständig umgearb. Aufl. Leipzig: Curt Kabitzsch 1924. VI, 

469 S. G.Z. 5. 

Monographische Darstellung nach historischen, biologischen, anthropologischen, 
psychologischen und kriminologischen Gesichtspunkten an Hand der gesamten ein- 
schlägigen Literatur mit einer umfangreichen Kasuistik. Auf den Anhang B: „Die 
Schulfreundschaften der Mädchen‘ sei hier besonders hingewiesen. K. Berliner. 

Liszt, Eduard von: Sehulmädehen und Exhibitionismus. Monatsschr. f. Kriminal- 
psychol. u. Strafrechtsreform Jg. 14, H. 8/12, S. 286—290. 1924. 

Mitteilung eines Falles von — vielleicht gutgläubiger — Beschuldigung des Exhibitionis- 
mus durch ein 10jähriges Mädchen. Er endete mit Freisprechung. Die Einzelheiten des nicht 
besonders eigenartigen Falles, die Erklärung und die Gründe zur Freisprechung müssen im 
Original eingesehen werden. Düring (Frankfurt a. M.). 

Behm, Karl: Bettnässertypen und ihre Behandlung. Zeitschr. f. Gesundheits- 
fürs. u. Schulgesundheitspfl. Jg. 36, Nr. 11, S. 321—329. 1923. 

Unter den zahlreichen Bettnässern, die Verf. zu sehen Gelegenheit hatte, ließen 
sich 3 Typen klinisch und therapeutisch voneinander trennen. 1. Die Entarteten 
(Typ. degenerat.), bei denen geistige Minderwertigkeit bis zum Schwachsinn besteht 
und die Blasenstörung wohl auch auf einer angeborenen Minderwertigkeit der Harn- 
wege beruht. Therapeutisch ist Übung des Blasenschließmuskels bei Tage, Fara- 
disation oder anderweitige Einwirkung des elektrischen Stromes (mittels eines ange- 
gebenen Apparates) zum Zwecke der Beeinflussung des Miktionsaktes angezeigt. 
2. Die Dickfelligen (Typ. phlegmaticus). Zum großen Teile indolente, schlecht- 
erzogene Kinder, ferner solche mit abnormer Schlaftiefe. Hier wirken psychisch- 
erziehliche Einwirkungen, Adenotomie, Strychnininjektionen. 3. Die Aufgeregten 
(Typ. neuropath.), die Mehrzahl der Bettnässer. Psychische Beruhigung wirkt sehr 
gut, zu der auch die Anwendung von Harnfängern während der Nacht gehört (Wota- 
Apparat der Firma Gebhard Müller in München). Ferner kommen Camphora mono- 
bromata und mit besonders gutem Erfolg Afenilinjektionen (10proz. Lösung von 
Calciumchloridharnstoff) in Betracht. Bei allen Enuresisfällen ist die Willensbeein- 
flussung von ausschlaggebender Bedeutung. Das Kind muß Vertrauen in sich und 
in die Heilmittel erlangen, sich jeden Abend laut vorsagen: Ich will aufwachen und 
will den Topf benutzen. Ebenso müssen Eltern und Erzieher an der Willensweckung 
mitwirken: Zappert (Wien). 

Behm, Karl: Die soziale Seite der Beitnäßfrage. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs, 
u. Schulgesundheitspfl. Jg. 36, Nr. 11, S. 329—334. 1923. 

Bei der großen Zahl der bettnässenden Kinder ist die Frage der Behandlung des 
Leidens von sozialer Bedeutung. Ist auch die spontane Heilung in vielen Fällen voraus- 
zusehen, so sind doch ärztliche Behandlung und psychische Beeinflussung des Kindes 
unerläßlich. Verf. ist nicht für die vom Ref. seinerzeit (und' trotz der Gegenargumente 
des Verf. auch weiterhin) vorgeschlagenen Bettnässerheime, sondern für ärztliche 
Beratungsstellen, die evtl. vom Schularzte abzuhalten sind. Für jedes Kind soll ein 
Merkblatt mit ausführlicher Anamnese und Beschreibung ausgefüllt werden und dazu 
der Mutter eine Anweisung zur erziehlichen Beeinflussung des Leidens übergeben wer- 
den, für welche Verf. ein ausführliches Muster beibringt. Zappert (Wien). 


Krankheiten des Kindesalters (einschl. allgemeine Pathologie und Therapie): 


© Feer, E.: Diagnostik der Kinderkrankheiten mit besonderer Berücksichtigung des 
Säuglings. Eine Wegleitung für praktische Ärzte und Studierende. (Enzyklopädie der 
klinischen Medizin. Hrsg. v. L. Langstein, C. von Noorden, C. Pirquet u. A. Sehitten- 
heim. Spez. Teil). 3. verm. u. verb. Aufl. Berlin: Julius Springer 1924. XII, 340 S. 
Geb. G.-M. 18.— / $ 4.35. 

Das ausgezeichnete Lehrbuch liegt nunmehr — 1 Jahr nach Erscheinen der 2. — 


— 187 — 


in 3. Auflage vor. Die Zahl der Abbildungen ist erheblich, zum Teil in farbiger Aus- 
führung, vermehrt. Auch sonst sind mannigfache Ergänzungen und Verbesserungen 
festzustellen. Das Buch gehört zu dem unentbehrlichen Rüstzeug des Arztes. Die durch 
den Zweck des Buches gesetzte Abgrenzung des Stoffes ist vortrefflich durchgeführt. 
Besonders gelungen ist die Darstellung der verschiedenen zu diagnostischen Zwecken 
erforderlichen Techniken (z. B. Tuberkulin-Diagnostik, Lumbalpunktion usw.). Das 
Buch sei hiermit angelegentlich empfohlen. G. Tugendreich (Berlin). 


Bremen, J. van: Sport und Nervenkrankheiten. Psychiatr. en neurol. bladen 
Beiheft Jg. 1923, Nr. 6, S. 89—99. 1923. (Holländisch.) 

In der Einleitung wird in ausgezeichneter Weise das Wesen des Sports und der 
Gymnastik beleuchtet und gegeneinander abgegrenzt. Während dem Sport durch 
die Entwicklung von Wetteifer, von Streben nach Sieg (,„Rekord‘‘) die Herausbildung 
körperlicher, vor allem aber auch wichtiger seelischer Qualitäten möglich ist, liegt der 
Vorzug der Gymnastik in der allseitigen gleichmäßigen, nach Harmonie und Ebenmaß 
trachtenden Körperausbildung. Ein gutes System der Körperbildung für ein Volk 
muß stets Sport und Gymnastik in sich vereinen. Die Medizin, die sich lange Zeit 
hindurch zu wenig mit dem Sport und seinen körperlichen und seelischen Wirkungen 
befaßt hat, ist nunmehr im Begriff, das Versäumte nachzuholen. Denn abgesehen von 
seinen sonstigen Vorzügen hat der Sport auch ein ausgedehntes medizinisch-thera- 
peutisches Interesse. In dieser Hinsicht ist sein Anwendungsgebiet ein dreifaches: 
1. Zur Behebung von Koordinationsstörungen; 2. zur Verbesserung des körperlichen 
Gesamtzustandes; 3. zur Hebung der psychisch-nervösen Gesamtverfassung. Bei ge- 
wissen Koordinationsstörungen, so z. B. nach Nervenentzündung, bei bestimmten 
Rückenmarkserkrankungen, auch bei chronischen Neuralgien, kann, nach genügender 
gymnastischer Vorübung, zur entsprechenden, sorgfältig ausgesuchten sportlichen 
Betätigung übergegangen werden. Was der Sport hinsichtlich der Hebung der Körper- 
kraft, der Geschicklichkeit und Ausdauer zu leisten vermag, ist bekannt. Übertrei- 
bungen können den Vorteil ins Gegenteil verführen; doch war man früher ärztlicherseits 
in diesem Punkt oft übertrieben ängstlich. Neuerdings wird der Sport auch zur Behand- 
lung von Neurosen herangezogen, und zwar mit gutem Erfolg. Allerdings müssen 
körperlich Erschöpfte sorgfältig davon ausgeschlossen werden. Die Gefahren sport- 
licher Übertreibungen für Nervöse sind groß. Wichtig ist, daß die Ärzte, insbesondere 
auch die Nervenärzte, sich selber irgendwie sportlich betätigen, um sich ein richtiges 
Urteil über die therapeutische Verwendbarkeit des Sports bilden zu können. 

Vellinger (Tübingen). 

Lefebvre: La mort subite dans la première enfance. (Plötzliche Todesfälle in der 
ersten Kindheit.) Arch. med. belges Jg. 76, Nr. 8, S. 609—617. 1923. 

Im wesentlichen kritische Arbeit. Die Kompressionstheorie, die anaphylaktische, 
die rachitische, die spasmophile Theorie des plötzlichen Thymustodes wird abgelehnt. 
Verf. glaubt, daß Lues congenita die Ursache sein könnte, da sie eine Minderwertigkeit 
sämtlicher drüsiger Organe hervorrufe. Wenn auch bisher nur selten bei plötzlichem 
Tod Syphilis nachgewiesen sei, so würde sie doch bei Untersuchung in jedem einzelnen 
FaH öfter festgestellt werden. Auch das familiäre Auftreten würde durch Syphilis 
erklärlich werden. Fast immer besteht bei. plötzlichem Tod eine große Thymus- 
drüse. Diese Hypertrophie der Thymus sei der Ausdruck einer Schädigung des endo- 
krinen Systems vielleicht auf luetischer Grundlage (!?). Thomas (Köln). °° 


Gumpert, Martin: Die Zunahme erworbener Geschlechtskrankheiten bei Kindern. 
(Rudolf-Virchow-Krankenh., Berlin.) Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 50, Nr. 7, 8. 206 
bis 207. 1924. 

Ein erschütterndes Bild. Innerhalb von 3 Monaten sind auf der Dermatologischen 
Abteilung des Virchowkrankenhauses 14 Fälle von erworbener (nicht vererbter!) 
Syphilis oder Gonorrhoe bei Kindern von 2(!)—16 Jahren aufgenommen worden. 


— 188 — 


In 8 Fällen lag Stuprum (Unzucht mit Vater oder Bruder) vor, in den übrigen Fällen 
erfolgte die Übertragung der Krankheit durch Zusammenschlafen oder sonstige enge 
Berührung mit erkrankten Familienangehörigen. Mit Recht nennt Verf. dies ein Zeichen 
unserer „grenzenlosen wirtschaftlichen Not“. Wenn man bedenkt, daß dem Kranken- 
hause nur solche Fälle zugeführt werden, die erkrankt sind, daß eine große Zahl Er- 
krankter ambulant behandelt wird, schließlich daß nicht jedes Stuprum zur Ansteckung 
führt, so geben die mitgeteilten Zahlen in der Tat ein furchtbares Bild von den sitt- 
lichen Zuständen unserer Stadt, unserer Zeit. G. Tugendreich (Berlin). 


Jeans, Philip C., and Sidney I. Schwab: Hereditary neurosyphilis. (Hereditäre Neuro- 
syphilis.) (Americ. pediatr. soc., French Lick Springs, Indiana, 31. V.—2. VI. 1923.) 
Arch. of pediatr. Bd. 40, Nr. 7, S. 462—463. 1923. 

Die Schädigung des Nervensystems durch kongenitale Syphilis kann durch Sym- 
ptome der nervösen Sphäre oder durch Veränderungen des Liquors erkannt werden. 
Die Liquorveränderungen können in Lymphocytenvermehrung, positiver Wasser- 
mannreaktion, Globulinbefund und Kolloidalgoldreaktion in schwacher Lösung be- 
stehen. Bisher wurden von den Verff. 470 Spinalflüssigkeiten von Heredosyphilitikern 
untersucht, die bis auf 2 positiven Wassermann des Serums ergaben. Die WaR. des 
Liquors war von 206 in 137 Fällen unter 2 Jahren negativ, von 269 Kindern über 
2 Jahren in 202 Fällen negativ, für die ganze Zahl ergab sich ein Prozentsatz von 23,4 
positive Reaktion. Von 56 Kindern unter 2 Jahren mit positiver WaR. hatten 11 
klinische Symptome seitens des Nervensystems, von 54 über 2 Jahre waren 13 frei 
von Nervensymptomen, 9 andere hatten Pupillarsymptome, 32 manifeste Zeichen 
einer Infektion des Nervensystems. Die wichtigsten Zeichen in den ersten 2 Jahren 
waren Meningitis (9 Fälle), Hydrocephalus (5), Epilepsie (5), Hemiplegie (4), Quadri- 
plegie (1), geistige Rückständigkeit (5); in der älteren Gruppe Hydrocephalus (1), 
Meningitis (1), Epilepsie (8), Paraplegie (2), Hemiplegie (5), diffuse cerebrospinale 
Lues (3), Opticusatrophie (4), Tabes (1), Lähmungen (5), progressive geistige Defekte (4). 

Neurath (Wien)., 

Carle: Sur la syphilis héréditaire. Essai de délimitation clinique. (Deux. mém.) 
(Zur hereditären Syphilis. Versuche einer klinischen Abgrenzung. 2. Mitteilung.) Journ. 
de méd. de Lyon Jg. 4, Nr. 92, S. 645—653. 1923. 

Die Einteilung in Spirochätenprodukte und Dystrophien läßt sich nicht auf- 
recht erhalten, denn auch die Dystrophien sind zum größten Teil auf Spirochäten- 
wirkung ursächlich zurückzuführen. Die Verschiedenheit der syphilitischen Erschei- 
nungen ist durch ihr zeitlich verschiedenes Auftreten bedingt. Besser unterscheidet 
man: sichere syphilitische Symptome und wahrscheinliche. Es folgt eine Auf- 
zählung aller syphilitischen Organerkrankungen in chronologischer Einteilung. Erste 
Gruppe: Von der Geburt bis zum 3. Monat. Zweite Gruppe: Bis zum 3. Lebens- 
jahr. Dritte Gruppe: Bis zur Jugend. Der zweite Teil der Arbeit ist einzelnen be- 
sonderen Fragen gewidmet, wie z. B.: Syphilis in der 2. Generation, die Bedeutung 
der WaR. im Blut und Liquor bei Kindern, der Einfluß intercurrenter Krankheiten 
auf das Manifestwerden bisher latenter angeborener Syphilis, die Beziehung syphili- 
tischer Dystrophien zu endokrinen Störungen. Früz Lesser (Berlin)., 


Nobécourt: Syphilis et hypotrophies de l’enfance. (Syphilis und Zustände von 
Hypotrophie im Kindesalter.) Journ. des praticiens Jg. 37, Nr. 25, S. 401—408. 1923. 

Bei heredosyphilitischen Kindern kann man zwei Formen von Hypotrophie unter- 
scheiden: 1. die einfache Hypotrophie mit allgemeinem, gleichmäßigem Zurückbleiben 
in Wachstum und Gewicht bei leidlichem Erhaltenbleiben der normalen Proportionen 
und ohne Störungen der Ossification. Neben der Hypotrophie finden sich oft noch 
Störungen des Nervensystems (intellektuelle oder moralische Schwäche, Epilepsie, 
Lähmungen in Gestalt von Hemiplegien oder Diplegien; Mongolismus; Erscheinungen 
von Hirnlues u. a.), des kardiovasculären Apparates, der Leber (Gummen, Sklerose), 


— 189 — 


der Nieren (chronische interstitielle Nephritis), bisweilen auch Diabetes insipidus; 
2. Hypotrophien endokrinen Ursprungs, bei denen die endokrinen Symptome bald 
in vollem Umfange, bald nur andeutungsweise vorhanden sind (Symptome von Hypo- 
oder Hyperthyreoidismus, hypophysäres Syndrom, pluriglanduläre Syndrome). Beide 
Formen finden sich bisweilen noch in der zweiten Generation. Beiden Formen gemein- 
sam ist die Insuffizienz der sexuellen Entwicklung, die beim Eintritt in die Pubertät 
hervortritt. — Die Hypotrophien können entweder direkte Folge der Syphilis (syphi- 
litische Septicämie) oder sekundär durch Schädigung für das Wachstum wichtiger 
Organe bedingt sein. Die Hypotrophien der zweiten Generation sind nicht durch 
Vererbung der Syphilis selbst bedingt, sondern durch Organschwäche der Erzeuger, 
die durch Syphilis verursacht ist. Die durch Syphilis bedingten Hypotrophien gleichen 
völlig denen, die durch andere Schädlichkeiten erzeugt werden. Die Therapie muß ein- 
mal etwa noch vorhandene Erscheinungen aktiver Syphilis, zum anderen die Hypo- 
trophie selbst in Rücksicht ziehen; für erstere kommen die üblichen Syphilismittel, 
für die letztere neben allgemein kräftigenden Mitteln besonders die Opotherapie in 
Betracht. l Schob (Dresden). 


Tezner, Otto: Weitere Liquoruntersuchungen bei kongenital-luetischen Kindern. 
(Karolinen- Kinderspit., Wien.) Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 26, H. 1, S. 49—56. 1923. 

Positiver Liquorbefund fand sich bei 36 von 83 (= 43,3%,) der untersuchten 
kongenital-luetischen Kinder, unter denen 41 Säuglinge waren, die in 56,1%, der 
Fälle pathologischen Liquor boten. Positive WaR. im Liquor fand sich 11 mal, 6 mal 
als einzige Reaktion. Von den 42 älteren Kindern boten 13 (= 30,2%) positiven Be- 
fund der Spinalflüssigkeit, doch litten von diesen 9 an Lues des Zentralnervensystems 
oder Paralyse. Es ist ein spontanes Schwinden der Liquorveränderungen beim Heran- 
wachsen anzunehmen; ein prognostischer Schluß aus dem Liquorbefund im Säuglings- 
alter auf eine spätere Erkrankung ist nicht möglich. V. Kafka (Hamburg)., 


Covisa, J. S., und J. B&jarano: Ein Fall juveniler Tabes bei Heredolues. Actas 
dermo-sifiliogr. Jg. 15, Nr. 2, S. 53—56. 1923. (Spanisch.) 

Die auf hereditärer Syphilis beruhende juvenile Tabes gehört zu den Seltenheiten. 
Im Gegensatz zur Tabes, wie sie bei Erwachsenen im Gefolge der erworbenen Syphilis 
auftritt, bietet die juvenile Tabes einige Besonderheiten; so fehlen bei ihr manche bei 
dem Erwachsenen vorkommenden Symptome. Der Fall, den Verf. beobachtet hat, ist 
dadurch interessant, daß er, ein junger Mann von 20 Jahren, fast alle Symptome der 
Tabes der Erwachsenen zeigte. So war die Ataxie besonders ausgeprägt. Dagegen 
wurde der Augenhintergrund vollkommen normal befunden. Bemerkenswert ist ferner 
der Umstand, daß zugleich aktive syphilitische Erscheinungen vorhanden waren 
(Orchitis und Epididymitis, Hoden vergrößert, schmerzlos, hart und glatt, Ulceration 
der linken Mandel, Schwellung der Inguinal- und Submaxillardrüsen). Der Fall kann 
auch als Gegenbeweis gegen die Lehre von der Dualität des spezifischen Virus ver- 
wendet werden, denn man müßte sonst zur Erklärung der verschiedenen Affektionen 
2 Arten von Virus annehmen, ein neurotropisches und ein dermotropisches. Der Fall 
ist weiter ein Beleg für die Wichtigkeit der Erhebung der Familiengeschichte. Die 
Mutter des Kranken litt an nervösen Zufällen. Von den 3 Brüdern starben 2 klein, ein 
Bruder lebt und bietet einige nervöse Symptome (leichte Reflexsteigerung, Ungleich- 
heit und träge Reaktion der Pupillen, positive Wassermannsche Reaktion). 

Ganter (Wormditt). 

Steinlin: Stand der Kropfbekämpfung in der Schweiz. Schweiz. Zeitschr. f. Gesund- 
heitspfl. Bd. 4, H. 4, S. 456—464. 1923. 

Das ausführliche Referat über den derzeitigen Stand der Kropfbekämpfung in der 
Schweiz gibt eine Reihe wichtiger und interessanter Tatsachen und Erfahrungen: Die 
am leichtesten und sichersten durchzuführende Maßnahme zur kausalen Kropfbekämp- 
fung ist die Beigabe eines gewissen Quantums von Jod zum Kochsalz, nachdem sich 


— 19 — 


einwandfrei hat nachweisen lassen, daß der Kropf auf einer zu geringen Beimengung 
des Jods sowohl zur Atmungsluft als vor allem zur Nahrung in den Kropfgegenden 
beruht. Die französische Kropfprophylaxe der Mitte des letzten Jahrhunderts schei- 
terte an den dem Kochsalz beigefügten zu großen Jodmengen, die dann zu Gesundheits- 
schädigungen, meist im Sinne der Basedowschen Krankheit, führten. Es hat sich 
herausgestellt, daß schon der Zusatz von 5 mg Jod auf 1 kg Kochsalz genügt, um das 
Auftreten von Kröpfen zu verhindern und weiche Kröpfe zum Verschwinden zu bringen. 
Eggenberger hat die früher geübte trockene Zumischung in eine feuchte umgewandelt 
mit dem Erfolg, daß hierdurch eine engere Verbindung des Jods mit den Kochsalz- 
krystallen und eine gleichmäßigere Verteilung des Jods erzielt wurde. Man hat diesen 
geringen Jodzusatz, der die unterste Grenze der Wirksamkeit ungefähr darstellt, ge- 
wählt, weil sich die Erfahrungstatsache ergeben hatte, daß unter der nervösen Bevöl- 
kerung der Städte eine Jodempfindlichkeit auch gegenüber relativ niederen Dosen be- 
steht. Der oben angeführte, in der Schweiz allgemein für das ‚‚jodierte Kochsalz“ (in 
einzelnen Bezirken auch „Vollsalz‘‘ genannt) eingeführte Mischungssatz ist bedeutend 
niedriger als der Jodgehalt des in Bordeaux von sämtlichen Einwohnern von jeher 
gebrauchten Kochsalzes. Trotzdem hat man mit Rücksicht auf die bei einzelnen Ärzten 
und im Publikum herrschende Jodfurcht das von Staats wegen hergestellte Jodsalz 
nicht allgemein und obligatorisch eingeführt, sondern seinen Gebrauch dem freien 
Willen des Einzelnen überlassen. Dadurch wird aber die Wirkung bedeutend ein- 
geschränkt, da das so schwach jodierte Salz nur dann zur vollen Wirkung kommen kann, 
wenn es in allen Speisen, also auch im Brot, Fleisch und Käse, enthalten ist. Das Kilo 
jodiertes Salz kommt um 1—2 Rappen teurer als das gewöhnliche. Der Kanton Zürich 
hat den Verkauf des jodierten Salzes von sich aus dem des gewöhnlichen Salzes gleich- 
gesetzt. Andere Kantone, die weniger leistungsfähig sind, mußten darauf verzichten. 
Die Propaganda wurde überall von Ärzten, Geistlichen und Lehrern aufgenommen 
und hat sich teilweise gut durchgesetzt. Im ganzen sind bis jetzt 10 Kantone und 5 Halb- 
kantone an der Kropfprophylaxe durch jodiertes Salz beteiligt; es fehlen aber noch 
9 Kantone und 1 Halbkanton, von denen nur etwa 3 als kropfarm zu bezeichnen sind. 
Die Berichtszeit ist noch zu kurz — etwa 3 Monate — um Endgültiges über die Erfolge 
mitteilen zu können. Professor Roux hebt hervor, daß mindestens 20 Jahre dieser 
Kropfprophylaxe notwendig seien, ehe man die vollen Ergebnisse beurteilen könne. 
Die zweite Methode der Kropfbekämpfung besteht in der Schülerbehandlung durch 
Darreichung von Tabletten ganz geringen Jodgehaltes. Diese Joddosis, welche die 
Schüler im ersten Jahr wöchentlich einmal, im folgenden Jahr monatlich einmal zu sich 
nehmen, genügt, um schon vorhandene Kropfbildungen, sofern sie nicht knotig ent- 
artet sind, zum Verschwinden zu bringen. Wird daneben das Vollsalz benützt, so muß 
auf diese Weise im Lauf einer Generation sich die Kropffreiheit des Schweizer Volkes 
erzielen lassen. Bei einer Untersuchung von 44 500 Schülern des Kantons St. Gallen 
ergab sich, daß nur 6,4% keinen Kropf hatten, 31,7% zeigten beginnende, der Rest 
ausgebildete, Schilddrüsenschwellungen. Der kropfreichste Bezirk ergab nur 1,1% 
vollständig normaler Schilddrüsen. Die Möglichkeit, daß nach Besiegung der Kropf- 
krankheit als einer Volksseuche die Zahl der Basedowkranken in geringem Maße zu- 
nehmen wird, läßt sich gern in Kauf nehmen für den großen Gewinn, der darin besteht, 
daß all das Elend, welches die Hypothyreose, der Kretinismus, die endemische Taub- 
stummheit, die Kropfherzen und mannigfache andere Übel über das Schweizer Volk 
gebracht haben, in Zukunft in Wegfall kommen wird. Die Kropfbekämpfungspropa- 
ganda hat in Laienkreisen durch den Hinweis auf die Kropfgefahren eine wilde Jagd 
nach Jodpräparaten entstehen lassen, die nicht selten infolge der unbeschränkten 
Abgabe dieser Mittel zu Jodschädigungen geführt haben. Im Interesse der Verhütung 
einer Diskreditierung der Kropfbekämpfung muß verlangt werden, daß Jodpräparate 
ohne ärztliches Rezept nicht verabreicht werden dürfen. Die entsprechende gesetz- 
geberische Maßnahme ist in die Wege geleitet. Vıllinger (Tübingen). 


— 191 — 


Lämel, Carl: Über das gehäufte Auftreten von Schilddrüsensehwellungen unter der 
Sehuljugend. (Städt. Fürs.- Amt, Berndorf.) Med. Klinik Jg. 20, Nr. 4, S. 112—113. 1924. 

Der sehr erfahrene langjährige Schularzt in dem kleinen niederösterreichischen 
Fabrikstädtchen Berndorf hatte in früheren Jahren 1,5—3% Kröpfe bei Knaben und 
2—6%, solcher bei Mädchen festgestellt. Im Schuljahre 1923/24 betrug die Zahl der 
Schilddrüsenvergrößerungen bei Knaben 35%, bei Mädchen 57%. Von den 1384 
Schülern hatte nahezu jedes zweite Kind einen Kropf. In den oberen Schulklassen 
nimmt die Kropfhäufigkeit zu. Eine Ursache läßt sich hierfür nicht angeben. Für alle 
landläufigen Kropftheorien liegt nicht der geringste Beweisgrund vor, da geographische 
Lage, Trinkwasserverhältnisse, Heredität, Infektionsmöglichkeiten sich in dem kleinen 
Örtchen während der 17jährigen schulärztlichen Tätigkeit des Verf. nicht geändert 
haben. Vielleicht spielt die Ernährung eine Rolle, die jetzt anders ist als in der Vor- 
kriegszeit und namentlich des jodreichen Fleisches entbehrt. Die Strumen gehörten 
fast durchwegs in die Gruppe der parenchymatösen Schwellungen, leichte Herzer- 
scheinungen wurden nicht selten beobachtet, Kretinismus ist in der Gegend nicht en- 
demisch, doch erwiesen sich junge Kinder mit großen Strumen oft als geistig minder- 
wertig. Als Prophylaxe und Therapie kommt die Jodzufuhr durch das jodierte 
Kochsalz in Betracht, wofür gerade die gut zu überblickenden Verhältnisse der unter 
einer ärztlichen Aufsicht stehenden Schuljugend eines kleinen Städtchens gute Ver- 
suchsbedingungen darbietet. Zappert (Wien). 


Naville, F.: Les diplegies cong£nitales et les troubles dysthyrofdiens dans les elasses 
d'enfants anormaux de Genève. Etude elinique et statistique. (Kongenitale Diplegien 
und dysthyreoide Störungen in den Genfer Hilfsschulklassen. Klinische und statitische 
Studie.) Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 13, H. 1/2, S. 559—567. 1923. 

Im Gegensatz zu anderen, namentlich englischen Autoren, ist Verf. auf Grund 
ausgedehnter Untersuchungen an schwachsinnigen Kindern der Meinung, daß Störungen 
der Schilddrüsenfunktion in der Ätiologie der kongenitalen spastischen Diplegien keine 
große Rolle spielen. Unter 1700 Kindern von 5—8 Jahren, die betreffs Aufnahme 
in die Hilfsschule untersucht wurden, fand Naville nur 12 Fälle mit cerebralen Stö- 
rungen, in denen Schilddrüsenaffektionen wahrscheinlich von ätiologischer Bedeutung 
waren; in diesen 12 Fällen handelte es sich aber nicht um wahre Diplegien — und nur 
4 Fälle, in denen dysthyreoide Störungen mit wahren kongenitalen Diplegien verbunden 
waren. — In den Fällen dysthyreoider cerebraler Störungen ist es dem Verf., wie eng- 
lischen Autoren, erschienen, als ob die dysthyreoide Heredität eine vorwiegende Rolle 
spielt, während die Symptome des Myxödems viel weniger ausgeprägt waren als in 
echten Fällen infantilen Myxödems. Es scheint also, daß die dysthyreoide Noxe ihren 
schädigenden Einfluß in diesen Fällen bereits in der Fötalperiode und nicht postnatal 
ausübt. Infolgedessen sind diese Fälle auch der Schilddrüsentherapie viel weniger 
zugänglich. Schob (Dresden). °° 


Johannsen, Nicolai: Beiträge zur Frage der Ätiologie der Spasmophilie. (Med. 
Abt., Kinderkrankenh., Gotenburg.) Acta paediatr. Bd. 3, H.2, 8. 168—212. 1924. 

Wenn auch die innige Beziehung des Kalkstoffwechsels zur Spasmophilie auf 
Grund chemischer, anatomischer und therapeutischer Untersuchungen sicher steht, 
so liegt darin nicht die vollständige Lösung des Spasmophilieproblems. Molkenversuche 
mit genau dosierten Salzbeimischungen haben gezeigt, daß Kalium und Natrium be- 
sonderen und zwar entgegengesetzten Einfluß auf die Übererregbarkeit des Nerven- 
systems besitzen und eigene Versuche des Verf. haben ergeben, daß Zusatz yon Soda 
(Natriumkarbonat) zur Nahrung eine starke Steigerung der elektrischen Erregbarkeit 
zu erzielen vermag. Dies bezieht sich nicht nur auf Kinder mit spasmophilen Sympto- 
men, sondern auch auf solche obne vorherige Übererregbarkeit. Ist auf Grund dieser 
und anderer Versuche die Bedeutung des Na-Ion für das Zustandekommen einer spas- 
mophilen Übererregbarkeit recht wahrscheinlich, so ist doch die Art der Zuführung des 


— 19 — 


Natriums nicht gleichgültig. Die vom Verf. durchgeführte Einverleibung des Natrium in 
Form des Sodas dürfte wegen der alkalischen Beschaffenheit dieser Zusammensetzung 
eine größere Wirksamkeit besitzen als das Kochsalz. Durch diese Beeinflussung der 
Erregbarkeit mittels chemischer Reize ist eine ätiologische Klärung der Spasmophilie 
nicht gegeben. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um eine auf innersekretorischem 
Wege hervorgerufene ‚Stoffwechselumstimmung‘‘, welche einen günstigen Boden für 
die Einwirkung gewisser Salze schafft. Vielleicht liegen die Dinge ähnlich wie beim 
Diabetes, wo auch zugeführte Stoffe Krankheitserscheinungen hervorrufen können, 
während die Grundlage des Leidens in innersekretorischen Störungen gelegen sein 
dürfte. Zappert (Wien). 

Ukai, Satoru: Über echte Nanosomie. (Pathol. Inst., Univ. Sendai.) Mitt. über 
allg. Pathol. u. pathol. Anat. Bd.2, H.1, S. 107—190. 1923. 

23jähriger männlicher Zwerg. Wahrscheinlich schon bei Geburt sehr klein. Körper- 
gewicht zur Zeit des Todes 7,5 kg, hochgradige Macies, Körpergröße 87 cm, Schädelumfang 
39 cm. Epiphysen 3 Jahre vor dem Tode noch vollkommen offen, zur Zeit des Todes 
geschlossen. Muskulatur sehr schwächlich, Gang leicht spastisch; geringe Schambehaa- 
rung; beiderseitiger Kryptorchismus; intensive Pigmentierung der äußeren Haut, 
vermischt mit vitilogoartigen weißen Flecken. Idiotie. Tod unter Erscheinungen von 
Urämie. Sektion: Schrumpfniere, Atheromatose der Aorta, fettige Degeneration des 
relativ großen Herzens. Hirngewicht 660 g (normal 1387). In den Samenblasen keine 
Spermatozoen. Bei genauer Messung der Körperteile auffallende, an den Erwachsenen 
erinnernde Proportionen (harmonische Reduktion des normalen erwachsenen Japaners). 
Schilddrüse, Nebennieren, Hoden samt Nebenhoden viel kleiner als dem Alter ent- 
sprechend, aber nur wenig kleiner als der Statur entsprechend. Hypophyse fast der 
Größe entsprechend. Histologisch: Hypophyse, Schilddrüse, Nebennieren ohne nennens- 
werte Veränderungen; Epithelkörperchen normaler Bau; nur Verhalten der eosinophilen 
Elemente und der Kolloidmasse noch auf kindlicher Stufe; auch Thymus ohne wesent- 
liche Veränderungen; Hoden nicht atrophisch; die. Ausdifferenzierung der spezifischen 
Zellen entsprach beinahe einem 14jährigen japanischen Knaben; auffällig kleine und 
große Anhäufungen massenhafter, hypotrophischer Zwischenzellen, deren Bedeutung 
unklar war. Aus den Befunden ergeben sich keine Anhaltspunkte für die Annahme 
von Zwergwuchs durch Thymusschädigung, auch keine Anhaltspunkte für eine pluri- 
glanduläre Genese; das Kleinbleiben des ganzen endokrinen Systems ist vielmehr als 
Teilerscheinung des Zwergwuchses aufzufassen. Auch Hypophysenschädigung kommt 
als Ursache nicht in Betracht, wofür auch das Fehlen der für hypophysären Zwerg- 
wuchs typischen Hoden- und Schilddrüsenveränderungen spricht; ebensowenig kann 
der Zwergwuchs auf Veränderungen der Thyreoidea zurückgeführt werden. — Wenn 
der Fall in wichtigen Merkmalen der Nanosomia primordialis von Hansemann ent- 
spricht, so besteht doch keine völlige Übereinstimmung. Tritt man der Ansicht Gil- 
fords bei, so kann man den Fall der Ateleiosis mit Senium praecox, und zwar der vom 
Autor als möglich angegebenen Übergangsform zwischen sexueller und asexueller 
Ateleiosis zurechnen. Einige Befunde fallen auch mit Progeria zusammen. Legt man 
das Hauptgewicht nicht auf die sekundären senilen Veränderungen (Nieren, Aorta, 
Haut usw.), so ist der Fall in Parallele zu der Nanosomia hypoplastica Sternberg zu 
setzen, es handelt sich um eine Hypoplasie des ganzen Organismus. Schob (Dresden). 

Quirin: Die Rachitis. Ihr Krankheitsbild, ihre Diagnose und Behandlung. Zeit- 
schr. f. ärztl. Fortbild. Jg. 20, Nr. 10, 8. 295—301. 1923. 

Kurzes Übersichtsreferat, das betont, daß es sich um eine Allgemeinerkrankung 
handelt, deren Ätiologie noch ganz unklar ist, die aber durch die verschiedensten 
Schädigungen, vor allem durch ungünstige Wohnungsverhältnisse, gefördert wird. 
Alle wesentlichen Erscheinungsformen werden angeführt und zu möglichst frühzeitiger 
Behandlung ermahnt, da dann die therapeutischen Erfolge mit geeigneter Ernährung 
(Lebertran und Kalkpräparaten) sehr gute seien. Reiss (Tübingen). 


— 19 — 


Heilpädagogik und Anomalen- Fürsorge : 


Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien: 


Heller, Theodor: Über Anstalts- und Familienerziehung bei minderwertigen Kin- 
dern. Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 11, S. 201 —202. 1923. 

Verf. wünscht Einschränkung der Anstaltsunterbringung Schwachsinniger: Für 
leichtere Fälle reiche Familienerziehung verbunden mit der vielfach zum Tagesheim 
ausgestalteten Hilfsschule aus, es sei denn, daß aus materiellen oder sozialen Gründen 
dieses undurchführbar sei, oder daß der Erziehungswille der eigenen Familie nicht aus- 
reicht. Idioten seien besser in Pflege- und Versorgungshäusern untergebracht. In 
den hierdurch freiwerdenden Anstalten will Verf. — der Not der Zeit gehorchend — 
psychopathische Kinder unterbringen, da für sie Erziehung in der eigenen Familie 
schwerer durchführbar sei, sie aber andererseits durch geeignete Erziehung, lebens- 
kräftiger als Schwachsinnige gemacht werden könnten. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Riehtlinien zur Aufnahme in die Hilfsschule. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. 
exp. Pädag. Jg. 24, Nr. 7/8, S. 244—249. 1923. 

Vom Hilfsschulverband Köln ausgearbeitet bringen die Richtlinien vorbildliche 
Anweisungen zum Erfassen der in die Hilfsschule gehörenden bildungsfähigen Schwach- 
sinnigen und Aussondern der nicht Hingehörenden, der bildungsunfähigen, verwahr- 
losten, psychopathischen oder mit Sinnesdefekten behafteten Kinder. (Nachahmens- 
wert: Sonderklassen für stark schwerhörige Hilfsschulkinder!) Die in der Regel 
2jährige Beobachtung in der Volksschule kann auf 1 Jahr herabgesetzt werden, 
ja offenkundig Schwachsinnige sollen sogleich der Hilfsschule zugeführt werden. 
Zurückstellung wegen geistiger Unreife ist unnütz. Ausschlaggebend ist die Mit- 
wirkung des Hilfsschullehrers schon bei der Beobachtung der Kinder in der Volks- 
schule. Erst danach erfolgt Anmeldung für die Hilfsschule und ärztliche Untersuchung. 
Sodann die eingehende Prüfung der Kinder in der Hilfsschule, für die ohne schematische 
Bindung eingehende Vorschriften gegeben werden. Interessenten seien auf sie be- 
sonders hingewiesen, im Referat lassen sie sich nicht wiedergeben, "ebenso auf die 
Anweisungen zur zweckentsprechenden Eintragung der Befunde in die Beobachtungs- 
bücher. Die Prüfung erstreckt sich auf die allgemeine Auffassung und Orientierung, 
Kenntnisse und eine Testprüfung nach Binet. Erst nach dieser Beobachtung wird 
endgültig über das Kind befunden, je nachdem der Hilfsschullehrer sein Urteil abge- 
geben hat, ob das Kind hilfsschulbedürftig ist oder nicht, ob es ein weiteres Jahr in der 
Volksschule zu beobachten oder ob die Behörde entscheiden soll. Auf Antrag kann 
das Kind auch in die Volksschule zurückversetzt werden, und bei gegensätzlicher Be- 
urteilung durch Volksschule, Schularzt und Hilfsschule kann es die Behörde einer be- 
sonderen Kommission zur Prüfung überweisen. Auch die Mindestanforderungen an 
die Hilfsschulkinder, bei deren Nichterfüllung sie als bildungsunfähig von der Hilfs- 
schule auszuschließen und Hilfsschulkindergärten zu überweisen sind, werden aus- 
führlich mitgeteilt. Chotzen (Breslau). 

Löwy, Ida: Über die Beratungsstelle Dr. Alfred Adlers für sehwer erziehbare Kinder. 
Internat. Zeitschr. f. Individualpsychol. Jg. 2, Nr. 2, S. 43—44. 1923. 

Es wird kurz von 4 Fällen berichtet, in denen durch aufmunternde und ver- 
stehende Beratung sich die Erziehungsschwierigkeiten der vorgestellten Kinder 
besserten. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Bertolani del Rio, Maria: La „eolonia-seuola Antonio Marro“ nell’istituto psichia- 
trieo di Reggio Emilia. (Die „Schulkolonie Antonio Marro‘‘ der Psychiatrischen Anstalt 
von Reggio Emilia.) Riv. di psicol. Jg. 19, Nr. 3/4, 8. 154—161. 1923. 

Bericht über Entstehung, Organisation, Zweck, klinisches Material und Betrieb 
der seit 2 Jahren bestehenden in dem Titel bezeichneten und der Klinik angegliederten 
Erziehungsanstalt für pyschopathische und leicht geisteskranke Kinder vom 5. bis 
16. Lebensjahre. Aufgenommen werden grundsätzlich nur besserungsfähige Kinder 


Zeitschrift für Kinderforschung. 29, Ref. 13 


— 194 — 


beiderlei Geschlechts, wobei darauf geachtet wird, daß möglichst nicht zu heterogene 
Elemente zusammen erzogen werden. Ausgeschlossen sind solche mit häufigen epi- 
leptischen Anfällen, mit schweren psychischen Störungen im Gefolge der epidemischen 
Encephalitis, taubstumme Idioten und schwerere Formen von Geistesstörung. Die 
Neubegründung derartiger sozial so segensreich wirkender Anstalten im Ausland 
stimmt besonders traurig gegenüber der Mitteilung in unseren Tageszeitungen, wonach 
die Schließung entsprechender Abteilungen mangels der den Bezirksverwaltungen in 
Preußen zur Verfügung stehenden Mittel erwogen wird. Max Meyer (Köppern i. T.), 

Mourgue, R.: Classes spéciales pour débiles mentaux au Japon. (Sonderklassen 
für Schwachsinnige in Japan.) Informateur des alien. et des neurol. Jg. 18, Nr. 10, 
S. 239. 1923. 

Auf Grund einer Umfrage des Unterrichtsministeriums werden in Japan Neben- 
klassen .für Hilfsschüler eingerichtet. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Maier, Hans W.: Über die Errichtung einer Anstalt für postencephalitisch ge- 
sehädigte Kinder. (Schweiz. Ver. f. Psychiatrie, Genf, Sitzg. v. 2. VI. 1923.) Schweiz. 
Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 14, H. 1, S. 130—131. 1924. 

Hier wird die Schaffung einer Anstalt für die an psychischen Spätfolgen der Ge- 
hirngrippe leidenden Kinder vorgeschlagen auf Grund der vielen Schwierigkeiten, 
die sich der häuslichen Erziehung dieser Kinder bieten, und ihrer Ungeeignetheit für 
Irrenanstalten. Sollte die Encephalitisepidemie erlöschen, so könnte die Anstalt später 
als heilpädagogisches Institut für die Erziehung und Behandlung heilbarer psycho- 
pathischer Kinder gebraucht werden. Gegen die Anhäufung der zum Teil hoffnungslos 
asozialen und nach den verschiedensten Richtungen (besonders auch sexuell) hemmungs- 
losen Kindern und Jugendlichen bestehen gewichtige Bedenken, die Steck und Ref. 
in der Diskussion zum Ausdruck brachten. Eine möglichste Dezentralisation, evtl. 
unter Heranziehung der Familienpflege, erscheint zweckmäßiger. Vıllinger. 

Wallin, J. E. Wallace: A study of the industrial record of children assigned to publie 
sehool elasses for mental defectives, and legislation in the interest of defectives. (Unter- 
suchung über die gewerbliche Arbeit von früheren Schülern der öffentlichen Hilfs- 
schulen und über die Gesetzgebung im Interesse der geistig Defekten.) Journ. of 
abnorm. psychol. a. soc. psychol. Bd. 17, Nr. 2, S. 120—131. 1923. 

Verf. hat die späteren Schicksale von früheren Hilfsschülern verfolgt, so weit 
dies bei der mangelhaften Organisation der Beaufsichtigung der schulentlassenen 
Hilfsschüler bisher möglich war. Die überwiegende Mehrzahl verdienten ihren Unter- 
halt als ungelernte Arbeiter, nur eine ganz geringe Zahl waren in Handwerke herein- 
gekommen. Von einer ganzen Anzahl der Mädchen wurde berichtet, daß sie gar nichts 
täten. Hinsichtlich 436 Schülern blieben die Nachforschungen ohne Ergebnis. Die 
Zahl der Kriminellen ist gering. Die Hilfsschule hat aber ihre Zöglinge wenig auf 
diese späteren Berufe vorbereitet. Die Frage verdient volle Beachtung: Sollen die 
Hilfsschulen nicht eine speziellere Ausbildung geben, durch welche die Kinder auf ihre 
spätere Berufsarbeit vorbereitet werden? Verf. hat weiterhin den Versuch angestellt, 
in einer Rundfrage durch die Hilfsschullehrer den Grad der Leistungsfähigkeit voraus- 
bestimmen zu lassen, den die Kinder nach der Schulentlassung im Daseinskampf 
hinsichtlich des Erwerbs ıhres Lebensunterhaltes erreichen würden. Der Prozentsatz 
der Kinder, die nach diesem Lehrerurteil sich vollständig über Wasser halten könnten, 
betrug 7%. Von rund 20% (bei den Knaben 17%, bei den Mädchen 24%) wurde 
völlige Erwerbsunfähigkeit angenommen. Diese Urteile trafen durchaus nicht voll- 
ständig mit den Ergebnissen der an denselben Kindern angestellten Intelligenzprüfungen 
zusammen. Dies beruht teils auf Fehlurteilen der Lehrer, häufiger aber darauf, daß 
die relativ leistungsfähige Intelligenz gewisser Hilfsschulkinder aufgehoben wird 
durch körperliche oder nervöse Defekte, welche in dem Lehrerurteil berücksichtigt 
sind, während sie sich bei den Intelligenzprüfungen nicht richtig zur Darstellung 
bringen lassen. Die psychologisch-pädagogische Klinik in Missourie hat einen starken 


— 195 — 


Einfluß auf die Gestaltung der Gesetzgebung im Interesse der defekten Kinder ge- 
wonnen, der sich im großen und ganzen in ähnlichen Linien auswirkte, wie sie durch 
unser neues Jugendwohlfahrtsgesetz gezogen wurden. Nach den Gesetzen von 1919 
und 1921 sind überall Sonderklassen für blinde, taube, schwachsinnige und verkrüppelte 
Kinder einzurichten, wenn mehr als 10 jedes Typs in dem betreffenden Schuldistrikt 
vorhanden sind. Sprachstörungen werden gleichfalls in Sonderklassen behandelt. 
Für die Zulassung zu solchen Klassen sind exakte ärztliche und psychiatrisch-psycho- 
logische Untersuchungen erforderlich. Villinger (Tübingen). 

Gohde, G.: Sehwer schwachsinnige Kinder. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. 
Schulgesundheitspfl. Jg. 36, Nr. 10, S. 308—310. 1923. 

In dem vorliegenden kurzen Aufsatz wird die Tätigkeit der Berliner Sammel- 
klassen für schwer schwachsinnige Kinder geschildert; wenigstens ist anzunehmen, 
daß dies die Absicht der Arbeit ist. Da sie aber weder ein unterhaltendes Feuilleton, 
noch ein sachlicher Bericht, noch eine wissenschaftliche Studie ist, ein geringes Ver- 
ständnis für das Wesen des Schwachsinns und seine Behandlung zeigt und keine neuen 
Gesichtspunkte, dagegen eine ganze Anzahl von Schiefheiten und Unrichtigkeiten 
bringt, so erübrigt sich eine Besprechung. l Villinger (Tübingen). 

Gnerlieh: Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, Jugendgerichtsgesetz und Hilfsschule. 
‚Hilfsschule Jg. 16, H. 8, S. 113—118. 1923. 

Der Autor entwickelt ein glänzendes Programm für soziale Arbeitsleistung der 
Hilfsschullehrer im Sinne des Jugendwohlfahrts- und Jugendgerichtsgesetzes. Es wäre 
nur zu wünschen, daß sein Aufruf in Lehrerkreisen lebhaftesten Nachball findet, und 
daß andere Berufssphären, die zur sozialen Arbeit berufen sind, Ärzte, Juristen und 
Theologen, in gleich uneigennütziger Weise an die Arbeit herantreten. Gregor., 

Klein: Zur Personalbogenfrage. Hilfsschule Jg. 16, H. 10/12, S. 146—147. 1923. 

Nicht auf den Bogen kommt es an — nur kein beengendes Schema! — sondern 
auf die Art der Eintragung. Es sollen keine Werturteile halbjährlich eingeschrieben 
werden, sondern aktuelles, charakteristisches Beobachtungsmaterial als Unterlage für 
eine wissenschaftliche Beurteilung. Chotzen (Breslau). 

Hoffmann: Zur Personalbogenfrage. Hilfsschule Jg. 16, H..10/12, S. 147 bis 
150. 1923. 

Hoffmann verteidigt gegen Martini, Berlin, zwei von ihm in der Zeitschr.. 
f. d. Behandl. Geistesschwacher gemachte Vorschläge: 1. empfiehlt er das Personalheft 
aus einzelnen Bogen zusammenzusetzen (Schülerbogen, Elternfragebogen, Gesundheits- 
bogen), weil der Gebrauch sich so den verschiedenen Zwecken besser anpassen kann; 
2. fordert er die Prüfung der Kinder vor ihrer Überführung in die Hilfsschule nach den 
anerkannten psychologischen Methoden behufs richtigerer Auswahl der wirklichen 
Hilfsschüler. Die Testprüfung nach Binet erleichtere die Entscheidung sehr. 

Chotzen (Breslau). 
Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung: 
Allgemeines : | 

© Reichs-Jugendwohlfahrtsgesetz und ländliehe Wohlfahrtspflege. Berieht über 
den von der Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M. vom 25. bis 29. September 
1922 auf der „Wegscheide“ veranstalteten Kursus. (Friedrich Manns pädag. Magaz. 
H. 928. Fortsehritte der Jugendfürsorge. Untersuchung und Entwicklung des gesamten 
Jugendsehutzes. II. Reihe: Recht und Verwaltung. Hrsg. v. Chr. J. Klumker. H. 2.) 
Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1923. 99 S. G. Z. 3,20. 

Die organisatorischen und praktischen Aufgaben, die das RJWG. gerade in länd- 
lichen Kreisen erfordern wird, ihre Gliederung, die Besiegung der damit verbundenen 
Schwierigkeiten haben diesen Kursus (dem bereits einer über „RJWG und Schule“ 
vorangegangen war) veranlaßt. Die starke Beteiligung erwies, wie brennend die ver- 
handelten Fragen zur Zeit sind. Das Heft enthält die Referate und die Diskussionen 


13* 


— 16 — 


in gekürzter, aber sehr klarer Darbietung. Aus dem Themenkreis „Arbeitsgebiete 
des ländlichen Jugendamtes“ gelangten vor allem Referate über die dringend not- 
wendige Fürsorge für das uneheliche Kind auf dem Lande zum Vortrag, — Amts- 
vormundschaft, Einzelvormundschaft, Säuglingsfürsorge, Pflegestellenwesen, das be- 
sonders große Schwierigkeiten bietet. Aber auch die Fürsorge für andere gefährdete 
Kinder und Jugendliche wird kurz besprochen. Die zweite Gruppe von Referaten 
befaßt sich mit der Organisation, bei der u. a. eingehend die Ausbildung der amt- 
lichen Mitarbeiter, sowie die Gewinnung weiterer Kräfte (Ärzte, Lehrer usw.) be- 
sprochen wird. Zum Schluß werden die Finanzfragen erörtert. K. Mende. 

© Wohlfahrtspflege in Thüringen. Einzelfragen zum Thüringer Wohlfahrtspflege- 
gesetz und Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt erörtert in der Arbeitsgemeinschaft des 
Thüringer Wirtschaftsministeriums (Wohlfahrtsabteilung) und der Wohlfahrtsämter 
am 16. u. 17. XII. 1923 auf der Leuchtenburg. Jena: Thüringer Verlagsanst. u. 
Druckerei G. m. b. H. 1923. 32 8. 

Die kleine Schrift enthält die gekürzten Referate, die auf der Tagung der 
Arbeitsgemeinschaft des Thüring. Wirtschaftsministeriums und der Wohlfahrtsämter 
im Dezember 1923 gehalten worden sind. Sie beziehen sich natürlich insbesondere 
auf thüringische Verhältnisse (Organisation der Wohlfahrtspflege, Fürsorgeerziehungs- 
wesen — mit Übersicht über die neugeschaffenen oder umgestalteten Heime, unter 
ihnen mehrere Beobachtungsheime und mehrere für Psychopathen — Kinderspeisung, 
Landesauskunftstelle für Jugendwohlfahrt); auch einige Referate allgemeinen Inhalte, 
z. B. über die Aufgabe des Jugendamts im Vormundschaftswesen — sind dabei. Andere 
sind durch die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht jetzt schon überholt. Mende. 

Die Tätigkeit der Deutschen Landeskommission für Kinderschutz und Jugend- 
fürsorge in Mähren im Jahre 1922. Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- u. Berufsfürs. 
Jg. 15, Nr. 11, S. 198—199. 1923. 

Die Jugendfürsorgearbeit in Mähren verdient besonderes Interesse, weil sie eine 
der wichtigsten Grundlagen für den Ausbau deutscher Kultur inmitten des tschecho- 
slowakischen Landes bildet. Ausgehend von der Berufsvormundschaft werden, unter 
Berücksichtigung der jeweils dringendsten Aufgaben, alle Gebiete der gesundheit- 
lichen, wirtschaftlichen und erzieherischen Jugendfürsorge bearbeitet. Auf gesund- 
heitlichem Gebiet sind als besonders erfolgreich Säuglings- und Erholungsfürsorge — 
letztere vorwiegend für Kinder arbeitsloser Familien zu nennen. Auf dem Gebiet 
der Erziehungsfürsorge verdient hier ausdrückliche Erwähnung die Art der Unter- 
bringung gefährdeter Kinder — die Betonung der Familienpflege. Von 360 Kindern 
wurden 118 in Familienpflege untergebracht, 168 in Heilanstalten, nur je 40 und 34 
in Erziehungsanstalten und Waisenhäusern, 20 in Schwachsinnigenanstalten. Aus- 
bildungskurse und Lehrgänge fanden unter Anleitung der Geschäftsführerin Fräulein 
Dr. Roller in allen Teilen des Landes statt. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

© Kinderheime und Arbeitsschulen in Sowjetrußland,. Bericht der Internationalen 
Arbeiterhilfe über ihre Tätigkeit in Rußland. Berlin: Verlag der I. A. H. 1923. 32 8. 

Während der Hungersnot in Rußland hat die I. A. H. eine Hilfsaktion zugunsten 
der hungernden Kinder eingeleitet und mit Erfolg durchgeführt. Wie aus der kleinen 
Broschüre ersichtlich, wurden über 10 000 Kinder in die 88 Kinderheime der I. A. H. 
aufgenommen, ernährt und erzogen. Übrigens fehlen in der Broschüre, die nur Propa- 
gandazwecken dienen soll, jede statistischen Angaben über Organisation und Ein- 
richtung der Stiftung. Es sind hauptsächlich ‚‚menschliche Dokumente“ wieder- 
gegeben in Form von Briefen der Zöglinge und Erzieherinnen. Aus denselben ist er- 
sichtlich, mit welchem Eifer in Rußland gearbeitet wird, der Pädagogik neuen Geist 
einzuflößen. In den Kinderheimen namentlich ist man bestrebt, einen schematischen 
Schulunterricht durch den lebendigen Quell der Natur zu ersetzen, aus dem die Kinder 
das Wissen schöpfen müssen. In den Arbeitsschulen und Lehrwerkstätten werden die 
elementaren Lehrbegriffe an der Hand von Arbeitsprozessen den Kindern beigebracht. 








— 197 — 


Die Verff. erkennen an, daß in den meisten Kinderheimen mit Lehrwerkstätten die 
Ausbildung noch lange nicht „auch nur annähernd vollkommen zu nennen ist“. Es 
fehlt sowohl an Lehrkräften als auch an Material und Werkzeugen. Doch ist der gute 
Wille und das Bestreben, neue pädagogische Prinzipien zu finden, die die Kinder zu 
aktiven Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft erziehen sollen, nichtabzuleugnen. M. Kroll. 

Rutishauser: Landeserziehungsheime für nervöse Kinder. (Schweiz. Ver. f. Psych- 
satrie, Genf, Sitzg. v. 2. VI. 1923.) Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 14, 
H. 1, 8.116—118. 1924. 

Auf der Genfer Tagung wurde auf Veranlassung des Ver. f. Psychiatrie die Kinder- 
psychopathologie als Diskussionsthema behandelt. Dr. Rutishauser begrüßt diesen 
Schritt und meint, daß damit vor allem auf die wichtige Frage der Prophylaxe das 
Augenmerk gerichtet werde. Er gibt einen kurzen historischen Überblick über die 
pädagogischen Strömungen und zieht Vergleiche zwischen früher und heute; die heutige 
Zeit vernachlässige die Gefühlswerte und überschätze den Intellektualismus. Er spricht 
dann über die Landeserziehungsheime in Frankreich, England, Deutschland und der 
Schweiz. Auf Grund einer Umfrage bei schweizerischen Erziehungsheimen stellte er 
fest, daß in diesen Heimen eine ganze Reihe Neurotiker erzogen worden sind, die ohne 
die naturgemäße Lebensweise und psychologische Erziehung im Heim im Leben ge- 
scheitert wären. Im Augustheft 1920 der „Schweiz. Zeitschr. f. Jugenfürsorge u. Jugend- 
pflege‘‘ hatte er schon die Gründung von Erziehungsheimen für nervöse Kinder vor- 
geschlagen. R., der selbst seit 1906 Leiter eines ärztlichen Landerziehungsheimes ist, 
berichtet über seine Erfahrungen und hält die Grundideen der Landerziehungsheime 
auch für die heilpädagogische Behandlung neurotischer Kinder für wertvoll. Die über- 
ragende Bedeutung der Vorbeugung der Neurosen werde nicht nur von Ärzten, sondern 
auch immer mehr von den Laien eingesehen. Többen (Münster). 

Redeker, Franz: Ideologie und Formen der industriellen Wohlfahrtspflege. Zeitschr. 
f. Gesundheitsfürs. u. Schulgesundheitspfl. Jg. 36, Nr. 10, S. 300—307. 1923. 

Das Bild der industriellen Wohlfahrtspflege ist uneinheitlich. Das gilt für ihre 
Ideologie und Zielsetzung, wie für ihre praktischen Betätigungsformen. Die christlich-- 
karitative und die auf dem Gedanken der Berufssolidarität beruhende Wohlfahrts- 
pflege haben für die Industrie nur mehr historische Bedeutung. Der Hauptgedanke 
war seit der Aufklärungszeit der Humanitätsgedanke. Er ist in die Industrie 
von außen hineingetragen und vermag in ihr nicht Wurzel zu schlagen. In diese Rich- 
tung gehören die Bestrebungen nach Einführung der Fabrikspflegerin, die während 
des Krieges auf Grund des Hilfsdienstgesetzes versucht worden ist. Auch die Arbeiter 
lehnen diese Art der Wohlfahrtspflege als eine Bevormundung ab, sie ist immer mehr 
genötigt, zu unidealen und profanisierenden Lockmitteln zu greifen. Die Wohlfahrts- 
pflege muß ideologisch und praktisch im Wirtschaftsprozeß selbst begründet sein. 
Sie muß nach Ansicht des Verf. utilitaristisch sein und bedarf neben der Fürsorge- 
arbeit auch einer deren Erfolge nachweisenden Statistik. Ihr Grundargument ist: 
Die mit der Industrialisierung verbundene Gestaltung der Lebensform der Arbeiter- 
bevölkerung bedingt eine geistige und körperliche Degeneration, die die Leistungs- 
fähigkeit der Bevölkerung in wenigen Generationen so tief zu drücken droht, daß diese 
wirtschaftlich nicht mehr tragfähig wird. Die Verhütung dieser Degeneration ist darum 
für die Industrie von vitaler Bedeutung. Diese Gedankenrichtung bedarf eines doppelten 
Beweises durch die Statistik, des Nachweises der degenerativen Wirkung durch die 
Industrialisierung, und den der paralysierenden Wirkung der Fürsorge. Beispiele 
liefern statistische Arbeiten des Verf. aus Mülheim a. d. Ruhr, die dartun, daß die dege- 
nerative Wirkung nicht an die industrielle Berufsarbeit an sich, sondern an die Lebens- 
bedingungen der Familie gebunden sind. Diese utilitaristische Ideologie sucht ihre Ver- 
wirklichung in einer besonderen Arbeitsorganisation, deren Grundgedanke die mög- 
lichste Vereinigung aller fürsorgeärztlichen Aufgaben mit der werksärztlichen Tätigkeit 
ist, namentlich die ganze ärztliche Tätigkeit für die Sozialversicherungseinrichtungen 


— 198 — 


soll dem Werksarzt übertragen werden. Die industrielle Fürsorgeorganisation soll 
nach den Worten des Verf. nicht gegen die kommunale arbeiten, von der sie sich durch 
ihre Freiheit von parteipolitischen Rücksichten auszeichnet, aber sie nimmt der kom- 
munalen Fürsorgeorganisation doch wobl einen Großteil ihrer Arbeit ab, da die Werks- 
fürsorgestelle die Zentrale bilden soll für alle die Arbeiterschaft des Betriebes betreffen- 
den Untersuchungen, für das ganze Unterstützungwesen, für alle Stillgeldbestätigungen, 
alle Bestrahlungen und Durchleuchtungen und für alle Heilverfahren, sowohl in eigenen 
Anstalten wie für die sonstigen vom Werk oder von einer Versicherungskasse bezahlten 
Kuren. R. Bartsch (Wien). 

© Duhr, Bernhard: Das große Kindersterben und Kinderelend in Deutschland. 
(Flugschriften der „Stimmen der Zeit“. Hrsg. v. d. Sehriftleitung. H. 25). Freiburg i. Br.: 
Herder & Co. 1923. 40 S. G.Z. —.50. 

Eine Zusammenstellung der erschütternden Bilder von dem Kinderelend in Deutsch- 
land, ein warmherziger Aufruf, besonders an die katholische Geistlichkeit, zur tätigen 
Abwehr. Tugendreich (Berlin). 

Lauener, Paul: Die körperliche und geistige Gesundheit der schulentlassenen 
Jugend. Schweiz. Zeitschr. f. Gesundheitspfl. Bd. 4, H. 4, S. 473—489. 1923. 

Wie irrig es ist, den Niederbruch der gesellschaftlichen Lagen ausschließlich auf 
Deutschland beschränkt anzusehen, weil wir das furchtbare Unglück des verlorenen 
Krieges zu tragen haben, lehrt rein symptomatisch der Inhalt des in der schweizerischen 
Gesellschaft für Gesundheitspflege gehaltenen Referats. Genau die gleichen Klagen, 
die gleichen betrübenden Feststellungen wie bei uns. Starke Gefährdung der schul- 
entlassenen Jugend durch Tuberkulose, Geschlechtsverirrungen, Geschlechtskrankheiten, 
geistige, nervöse und moralische Störungen. Der Berner Schularzt bespricht den 
Einfluß der wirtschaftlichen Verhältnisse, des Konkurrenzkampfes, der äußeren Lebens- 
bedingungen, der Vererbung, der degenerativen Momente in den Familien. Alles uns 
leider sehr bekannte Dinge. Er erhofft eine Abhilfe von der Bekämpfung schlechter 
Lebensbedingungen, schlechter Wohnverhältnisse, der Tuberkulose, der Geschlechts- 
‚krankheiten, des Alkoholismus und positiv von der Förderung von Sport allerlei Art 
und von Pflege der Kunst und der Naturfreude. Der deutsche Fachkollege kann da 
nur zustimmen. Wann wird ein Retter kommen unseren Landen? Lewandowski. 

@ Schulz, Heinrich: Die Mutter als Erzieherin. Ratschläge für die Erziehung im 
Hause. 8. verb. u. verm. Aufl. Berlin: I. H. W. Dietz Nachf. 1923. 72 S. G.Z. —.75. 

„Die kleine Schrift soll als eine Art Mutterbrevier zum gelegentlichen Nach- 
schlagen und zum Herumblättern in einer nachdenklichen Stunde dienen, und der 
proletarischen Mutter in ihren erzieherischen Nöten Ratgeberin werden.“ In schlichter 
Form sind ohne jede Systematik ganz kurz die wichtigsten Erziehungsmaßnahmen 
behandelt, belehrend und warnend. So wird das Büchlein, das 1907 zum erstenmal 
erschien, auch weiterhin seinen Zweck vortrefflich erfüllen. Lotte Nohl (Berlin). 

Brossmer: Das Kind als Kamerad. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schulgesund- 
heitspfl. Jg. 36, Nr. 10, S. 289—300. 1923. 

Verf. gibt eine Reihe von Anweisungen für die Leiterin von Ferienkolonien: 
Sie muß sich, ehe die Kinder zu ihr kommen, um das bisherige körperliche und seelische 
Schicksal ihrer Zöglinge kümmern, aus dem Verhalten der Kinder ihre Charakter- 
anlage und Temperamente erkennen. Unter ihren Schützlingen muß sie ein Gemein- 
schaftsgefühl anbahnen, damit keine von ihnen beiseite steht. Bei den Spielen dürfen 
nicht immer dieselben Kinder an führender Stelle stehen, nervöse sind zu innerer 
Ruhe zu leiten. Das Vorbild der Leiterin muß suggestiv wirken, aber auch die Kinder 
beeinflussen sich gegenseitig im Guten und im Schlechten, dieser Einfluß muß genau 
beobachtet und geleitet werden. — Wenn erst so glänzend arbeitende Leiterinnen für 
Ferienkolonien zu bekommen sind, die neben dem Ziel der körperlichen Kräftigung 
der Kinder sich der pädagogischen Aufgabe, die sie zu leisten haben, bewußt sind 
und die Kinder dadurch auch erzieherisch fördern, kann man auch psychisch zarten 


— 19 — 


und schwierige Kinder öfter und mit besserem Erfolg in allgemeine Erholungsstätten 
schicken als bisher. Der Aufsatz sollte den Leiterinnen von Ferienkolonien zur An- 
regung mitgegeben werden. Lotte Nohl (Berlin). 

MacPhee, E. D.: Research on mental hygiene. (Forschung auf dem Gebiet der 
seelischen Hygiene.) Public health journ. Bd. 14, Nr. 8, S. 339—346. 1923. 

Einige besonders wichtige Aufgaben der seelischen Hygiene werden kurz skizziert: 
Die Therapie mit Produkten der endokrinen Drüsen ist bisher zwar erfolglos gewesen, 
bleibt aber eine Aufgabe der Zukunft. Die Frage, ob Alkoholismus die Nachkommen- 
schaft schädigt, ist noch nicht geklärt, auch neuere Untersuchungen sprechen aber 
dafür. Durch eugenische Maßnahmen, muß die Fortpflanzung sozialer Schädlinge ver- 
hütet werden; die in einem Teil der Vereinigten Staaten eingeführte Sterilisation ist 
auf Widerstand gestoßen, ist auch noch nicht genügend wissenschaftlich fundiert. 
Die Bedeutung der Rasse für die Geisteskrankheiten und für den Selbstmord ist zu 
untersuchen. Zum Schluß werden die von der Universität der Provinz Alberta (Canada) 
ergriffenen Maßnahmen zur Förderung der seelischen Hygiene aufgeführt (Kurse, 
Beratung des Gesundheitsamtes, poliklinische Sprechstunden, Aufklärungsarbeit, 
wissenschaftliche Untersuchungen). Müller (Dösen)., 

Rosenthal, 0.: Über die Ergebnisse, die bei der Bekämpfung der Erbsyphilis durch 
stationäre Behandlung in sogenannten Welanderheimen bisher erzielt worden sind. 
Klin. Wochenschr. Jg. 3, Nr. 8, S. 326—329. 1924. 

Durch Welander, den Stockholmer Arzt, wurden vornehmlich in Schweden, 
dann aber auch in Norwegen und Dänemark, Heime für erbsyphilitische Kinder errichtet, 
in denen diese mehrere — mindestens 2 — Jahre verweilen müssen, um in dieser Zeit 
einer sorgfältigen antisyphilitischen Kur bei guter Verpflegung unterzogen zu werden. 
Die Erfolge waren und sind gut, jedenfalls besser als in poliklinischer Behandlung. 
Rosenthal hat vor 15 Jahren bei Berlin ein solches Heim ins Leben gerufen, das vor 
2 Jahren aus finanziellen Gründen geschlossen werden mußte. Zweck der vorliegenden 
Arbeit ist es, die Notwendigkeit dieser Heime zu betonen. Ref. kann sich den Dar- 
legungen des Verf. nicht anschließen. Daß die Heilerfolge in den Heimen gut sind, 
soll nicht bestritten werden. Wohl aber, daß nicht gleich gute Erfolge auch mit ambu- 
lanter Behandlung zu erzielen wären, die den Vorteil hat, erheblich billiger zu sein, 
und allein imstande ist, die große Zahl erbsyphilitischer Kinder zu betreuen. Zwar 
eine Poliklinik üblichen Stils wird die erforderliche sorgfältige mehrjährige Über- 
wachung der Kinder nicht durchführen können, weil es ihr an Organen der nach- 
gehenden Fürsorge fehlt. Berufen für diese Aufgabe sind die Säuglings- und Klein- 
‘ kinderfürsorgestellen, die denn auch in Berlin seit einigen Jahren mit bestem Erfolg 
auf diesem Gebiet tätig sind. @. Tugendreich (Berlin). 


Schulkinderfürsorge : 


Newman, George: The health of the sehool ehild. (Die Gesundheit des Schul- 
kindes.) Brit. med. journ. Nr. 3279, S. 828. 1923. 

Sir George Neumann, oberster Medizinalbeamter der Erziehungsbehörde, 
berichtet über die Erfahrungen des Jahres 1922. Es war kein Jahr des Rückschritts. 
Noch vor 10 Jahren gab es nur ärztliche Besichtigungen der Elementarschüler und eine 
besondere Erziehung für Blinde und Taube. Eine Behandlung war gelegentlich, 
ebenso die Fürsorge für geistig und körperlich Gebrechliche. Jetzt sind diese Dinge 
obligatorisch, wenn auch noch manche Gegenden und Behörden im Rückstand sind 
und durch die hohen Kosten behindert sind: Der körperlichen Erziehung wird großer 
Wert beigelegt. Die Ernährungsverhältnisse der Schulkinder waren nicht schlechter 
als vor dem Kriege, hier und da besser. Auch dem Kleinkinderalter fängt man an sich 
zuzuwenden. Zahnpflege und Unterricht in Hygiene und Körpererziehung sind als 
wichtige Zweige erkannt. Danach ist die bisher in England etwas vernachlässigte 
Schulhygiene im Aufblühen. Lewandowski (Berlin). 


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Barney, Edna L.: Health supervision in sehools. (Gesundheitliche Überwachung 
in Schulen.) California state journ. of med. Bd. 21, Nr. 12, S. 515—517. 1923. 


Auf einer Wohlfahrtskonferenz — Mai 1923 — von Kalifornien wurde vom Verf. 
berichtet, daß die Schulgesundheitspflege ihren wirklichen Wert erst erreicht, wenn die 
Eltern und Angehörigen in nachdrücklicher Weise an ihre Pflicht gemahnt werden. 
Formular-Benachrichtigungen genügen dazu nicht. Ständiger mündlicher Verkehr 
durch die Schulschwester bleibt das Wichtigste. Nicht das kranke oder erkrankte 
Kind, nein auch das gesunde Kind bedarf gesundheitlicher Fürsorge. Von 22 Millionen 
amerikanischer Schulkinder werden 6?/, Million als nicht ausreichend ernährt angesehen. 
15 000 000 bedürfen einer Zahnbehandlung. Für die Gesundheit der 22 Millionen 
Kinder stehen 3500 Schulschwestern zur Verfügung. Eine große Zahl von Kindern 
= entbehren noch jeder gesundheitlichen Überwachung. In San Francisko untersuchten 
5 Schulärzte 1922 19 897, also einer etwa 4000. In Alt-Berlin besteht das gleiche Ver- 
hältnis. Dagegen standen 21 Schulschwestern zur Verfügung. In Alt-Berlin soll eine 
Schwester 8—9000 Kinder betreuen. Lewandowski (Berlin). 


Dealey, C. Elizabeth: Problem ehildren in the early school grades. (Anomale in 
Kindergärten und Vorschulen.) Journ. of abnorm. psychol. Bd. 18, Nr. 2, S. 125 
bis 136. 1923. 


Die Verf. untersuchte 33 Kinder aus dem Kindergarten und den beiden untersten 
Klassen, die von den Lehrern als ‚‚Problemkinder‘‘ ausgewählt waren (zurückgebliebene, 
nervöse und scheue), indem sie zunächst von den Lehrern und Eltern eine Liste von 
18 Eigenschaften ausfüllen ließ, dann eine Intelligenzprüfung nach Standford- 
Binet vornahm und durch Hausbesuche die Umwelt des Kindes kennenlernte. Sie 
legt dabei großes Gewicht darauf, ob ein Kind einziges oder ältestes oder jüngstes ist. 
(Die eınzigen würden oft verdörben, den jüngsten würde zu viel Aufmerksamkeit 
geschenkt, den ältesten zu wenig Liebe!) Sehr oft fand sie bei den Eltern große Un- 
wissenheit in den einfachsten Regeln der Hygiene und Erziehung und Mangel an Ver- 
ständnis für die Kinder. Auch bei den Lehrerinnen glaubt sie mangelhaftes Urteil 
und Voreingenommenheit feststellen zu können, weil deren Urteil oft nicht mit den 
Ergebnissen der Intelligenzprüfung übereinstimmt. Auf Grund ihrer Untersuchungen 
verlangt sie dreierlei: Für jede Schule einen pyschologisch und sozial vorgebildeten 
Hausbesucher (home visitor), ebenso eine Schulschwester (school nurse), die die ganze 
Schulzeit hindurch für die körperliche Gesundheit der Kinder sorgt, und drittens eine 
Erziehung der jungen Leute zur Elternschaft, bevor sie heiraten. — Eine wirkliche Lösung 
der Frage bringt die Arbeit nicht, aber es ist erfreulich, daß die Verf. im Gegensatz 
zu der bisher in Amerika üblıchen Typisierung (group studies) die Notwendigkeit der 
Individualisierung (individual study) anerkennt und durch ihre Untersuchungen 
weitere Anregungen gibt. Ihr Material ist zu beschränkt, vor allem müßte notwendig 
als Gegenprobe eine entsprechende Anzahl von normalen Kindern ebenso durchgeprüft 
werden. Dann wird alles auf äußeres Versagen und Erziehungsfehler zurückgeführt 
und infolge dessen werden auch nur äußerliche Schlüsse gezogen. ‚Die Lehrer sollen 
in den ersten Schuljahren versuchen, die Kinder gründlich zu verstehen, damit die 
üblen Gewohnheiten ausgerottet werden, bevor sie eingewurzelt sind.“ Die Anlagen 
des Kindes und die abnormen Reaktionen auf eine ungeeignete Umgebung werden nie 
mit in Betracht gezogen und doch werden nur psychopathische Kinder ernstliche 
Schwierigkeiten machen, wenn ‚die Erwachsenen aus Dummheit oder Verständnis- 
losigkeit die Grundregeln der Erziehung vernachlässigen“. Man müßte die Forderung 
der Verf. nach dem psychologisch-sozial vorgebildeten Home visitor dahin erweitern, 
. daß dieser genaue Kenntnis der psychopathologischen Zustände des Kindes und deren 
Reaktionen haben müßte. Alsdann könnte auch die Forderung nach besserer Beobach- 
tung durch die Lehrer — unter Anweisung eines wirklich Sachverständigen — von 
Erfolg sein. Lotte Nohl (Berlin). 


— 201 — 


Brunn, v.: Von der künftigen Entwieklung in der Gesundheitsfürsorge und über 
die Rolle der Waldschulen dabei. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schulgesundheitspfl. 
Jg. 36, Nr. 11, S. 335—339. 1923. 

Der verdienstvolle Rostocker Schularzt berichtet über günstige Beobachtungen 
und Erfahrungen in der Rostocker Waldschule. In ein- oder mehrmaligen sechs- 
wöchigen Kursen wurden — nur im Tagbetrieb — gute Ergebnisse erzielt. Besonders 
blutarme Kinder zeigten erhebliche Besserungen. Auf gute und ausreichende Ver- 
pflegung wurde großer Wert gelegt. Das gesamte Material aus den Jahren 1920, 1921, 
1922 (insgesamt fast 1000 Kinder) hat v. Brunn durch Karl Müller in einer Disser- 
tation verarbeiten lassen. Um notwendige Ersparnisse zu machen, wird vorgeschlagen, 
Waldschulkurse als Ersatz für wesentlich kostspieligere Erholungskuren, Seeaufenthalte 
einzurichten. Auch berichtet Verf. über gute Erfolge von Schulsolbädern bei skrofu- 
lösen Kindern. (Erfahrungen bei 1000 skrofulösen Kindern in den letzten 4 Jahren.) 
Die Zahl erscheint dem Ref. erstaunlich hoch. Verf. befürwortet Schulsolbäder als 
Ersatz für teure Kuren in Solbadeorten. Allerdings müssen die Kinder für die Schul- 
solbäder mit aller erdenklichen Sorgfalt, besonders auf Gonorrhöe untersucht werden. 
Ferner ist jedes Kind vor jedem Bade auf ansteckende Krankheiten anzusehen. Eine 
gründliche Reinigung ist ebenfalls vorher notwendig. Trotzdem konnte durch Nicht- 
beachtung der Vorschriften Übertragung von Gonorrhöe nicht absolut vermieden werden. 
Für Beibehaltung der Mittagsspeisung wird dann als 3. Forderung warm eingetreten. 

Lewandowski (Berlin). 

Greenleaf, Clarenee A.: Open air care of school children. (Freiluftbehandlung 
von Schulkindern.) New York state journ. of med. Bd. 23, Nr. 5, S. 200—202. 1923. 

Verf. schildert die Einrichtung einer Freiluftschule und die Behandlungsweise. 
Die wesentlichste Ergänzung der Luftkur hat die Ernährung zu bilden. Die Erfolge 
waren so ausgezeichnet, daß in den letzten 3 Jahren eine Reihe weiterer Anstalten 
eingerichtet wurden. Verf. berichtet ferner über die Aufbringung der Kosten zum 
Unterhalt der Schulen. Erich Stern (Gießen). 

Loir, A., et Legangneux: Suggestions tirées de l’inspeetion me&dieale des écoles. 
(Anregungen auf Grund von Schüleruntersuchungen.) Bull. de l’acad. de med. Bd. 91, 
Nr. 1, 8.14—16. 1924. 

17 Schulen der Stadt Havre, und zwar Mädchenschulen wurden einer Shader 
und sorgfältigen Untersuchung unterzogen. Dabei fiel die große Zahl von schlechten 
Haltungen bis zu leichten Rückgratsverkrümmungen auf. Zum großen Teil machen die 
Untersucher die unzweckmäßige Kleidung für diese Schädigungen verantwortlich. 
Und zwar wird die Übung zahlreicher Familien getadelt, die Kleider aus Sparsamkeits- 
gründen bis zum Engwerden auftragen zu lassen, so daß Brust und Ärmellöcher ge- 
drückt werden. Der Thorax wird in seiner Entwicklung behindert, die Atmung er- 
schwert. Die Schulpflegerinnen werden aufgefordert, auf diese Dinge zu achten, auch 
auf die Eltern einzuwirken. Bei den Knaben wirken zu hoch gekreuzte Hosenträger im 
selben beengenden Sinne auf die Atmung. Lewandowski (Berlin). 

Stangenberg, E.: Die Dringlichkeit der sehulärztlichen Untersuchung und Be- 
handlung von Ohrenkrankheiten. Svenska läkartidningen Jg. 21, Nr. 3, S. 49—52. 
1924. (Schwedisch.) 

Stangenberg tritt hier dafür ein, daß gesetzmäßig in den Schulen eine fachmäßige Unter- 
suchung und, wo es angebracht ist, eine kostenfreie Behandlung von Hals-, Nasen-, Ohrenleiden 


in den ersten Schuljahren stattfindet und verweist auf die entsprechenden Gebräuche in den 
Schulen Schwedens. S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 


Legislazione nuova. (Neue Gesetzgebung.) Infanzia anorm. Jg. 16, Nr. 5, S. 97 
bis 103. 1923. 

In Italien sind durch kgl. Dekret Bestimmungen über die Schulpflicht, über Schul- 
fürsorge und Schulgesundheitsdienst getroffen worden. Der vorliegende Artikel bringt 
Auszüge aus dem Bericht des Ministers, der dem Dekret beigegeben ist und aus dem 
Text des Dekrets und seiner Beilagen. Die Hauptsache ist die Ausdehnung der Schul- 


— 202 — 


pflicht auf blinde und taubstumme Kinder. Im Zusammenhange damit werden Vor- 
sorgen für die Ausbildung von Lehrern für solche Kinder getroffen und es wird im Staats- 
vorschlag ein Kredit für die Errichtung und Erhaltung von Schulen und Kindergärten 
für nicht vollsinnige Kinder eröffnet. Ferner wird an einer medizinischen Fakultät 
ein Institut zum Studium der Psychologie, Morphologie und Physiologie anormaler 
Kinder errichtet, das die Aufgabe hat, nicht nur wissenschaftliche Studien zu betreiben, 
sondern auch der Regierung Vorschläge für didaktische Normen und für die Organi- 
sation des Unterrichts solcher Kinder zu erstatten. Endlich werden Schulgesundheits- 
ämter (Ufficio sanitario scolastico) unter Leitung eines Arztes, in der Regel eines 
Amtsarztes errichtet, denen im Verein mit den Schulen und der freiwilligen Fürsorge 
die Bekämpfung von Tuberkulose, Malaria, Trachom usw. die Verbreitung hygienischer 
Kenntnisse besonders bei der Lehrerschaft und die gesundheitliche Schulfürsorge obliegt. 
R. Bartsch (Wien). 
Berufsberatung : 


@ Handbuch der ärztlichen Berufsberatung. Hrsg. v. H. Lauber. Berlin u. Wien: 
Urban & Schwarzenberg 1923. XXIV, 586 S. G.2.15. 

„Das Handbuch hat den Zweck, dem Arzte, der sich mit der Berufsberatung, sei 
es beim Abgang der Kinder aus der Schule, sei es innerhalb des gewöhnlichen Lebens 
bei auftretender Notwendigkeit eines Berufswechsels, befaßt, die notwendigen Anbhalts- 
punkte zu bieten, um den Ratsuchenden auf den richtigen Weg zu führen“ (Lauber). 
Es bezwecke nicht, dem Arzt die Verfahren der Untersuchung mitzuteilen, da ihm diese 
mit Ausnahme weniger Gebiete geläufig seien, sondern wolle die Schlußfolgerungen 
aus dem Befunde in bezug auf die Berufsberatung erleichtern. Es darf gesagt werden, 
daß die Lösung der wichtigen Aufgaben, welche sich das Buch setzt, durch diesen — 
soweit mir bekannt ersten — Versuch sehr wesentlich gefördert werden wird. Das 
Werk vereinigt eine Unsumme von Wissen und bringt dieses in einer für die praktische 
Verwendung sehr zweckmäßigen Form. Über „psychologische Berufsberatung“ 
berichtet R. Allers. Die schwierige Aufgabe über die Psychologie der Psychotechnik 
zu unterrichten und zugleich praktisch brauchbare Hinweise zu geben, ist hier ganz 
vorzüglich gelöst worden. Ich hätte es nicht für überflüssig gehalten, einige wichtigste 
Verfahren für den täglichen Gebrauch etwas genauer zu schildern. Diese Bemerkung 
wäre auch bei einigen anderen Kapiteln zu machen. Der oben zitierte dem entgegen- 
stehende Grundsatz des Herausgebers könnte zugunsten der praktischen Verwert- 
barkeit des Buches einige Einschränkung erfahren. Die Abhandlung E. Lazars 
„Berufsberatung für psychisch defekte Jugendliche‘ legt sich in dem Teil, 
welcher die intellektuellen Defekte behandelt, etwas zu sehr auf ‚Testpsychologie‘' 
fest, ein — in der Pathologie immer — etwas heikles Beginnen. E. Stransky handelt 
geistvoll und erfahren über „Berufsberatung vom Standpunkt der Psychia- 
trie‘; ihm hätte gut etwas mehr Raum gegeben werden können. Ludwig Jehle und 
W. Lauber bringen in gedrängter Darstellung das Notwendige vom Standpunkt 
des Kinderarztes (Internisten) bzw. Augenarztes. Vortrefflich ist die Ab- 
handlung G. Alexanders über „Ohrenärztliche Berufsberatung“. Die an sich 
recht lesenswerten Ausführungen von Hermann Marschik über die Berufsberatung 
vom Standpunkt der Laryngo-Rhinologie könnten zugunsten anderer Kapitel vielleicht 
etwas knapper gehalten werden. Über das aus der Dermatologie Einschlägige 
referiert O. Kren. Ausgezeichnete chirurgische und orthopädische Winke 
gibt H. Spitzy. Vorzüglich ist auch das Kapitel: Berufsberatung vom Stand- 
punkt der Neurologie (Ludwig Dimitz), in welchem die neueren Erfahrungen 
(z. B. an Hirnverletzten, Encephalitikern usw.) entsprechende Berückichtigung ge- 
funden haben. Ein alphabetisches Verzeichnis der Berufe mit Anführung von Gegen- 
anzeigen und Anzeigen, welchem kleinere Zusammenstellungen in einzelnen Kapiteln 
vorausgehen, erhöht die praktische Brauchbarkeit des sehr empfehlenswerten Werkes. 

A. Isserlin (München). 


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© Moll, Albert: Berufswahl. Ein Wegweiser. (Zellenbücherei Nr. 72.) Berlin: 
Dürr & Weber 1924. 94 S. G. Z. 1,20. 

Unter der allgemeinen Überschrift Berufswahl behandelt der Verf. eine Reihe 
von Sonderfragen, die teils Voraussetzungen, teils Auswirkungen der Berufsberatung 
sind. Er geht aus von den verschiedenen Anlässen in der wirtschaftlichen und gesell- 
schaftlichen Entwicklung, die zur notwendigen Einführung der Berufsberatung ge- 
drängt haben, und setzt sich dabei mit der durch Tradition oder Berechtigungswesen 
in den Vorkriegszeiten und teilweise auch heute noch bedingten Beschränkung der 
Berufswahl auseinander. Nach Klarlegung einiger bei der Berufsberatung und der 
Berufseignungsprüfung gebräuchlichen Fachausdrücke und nach einem Versuch, 
zwecks besserer Übersicht eine Einteilung und Gliederung der Berufe und Berufs- 
möglichkeiten vorzunehmen, kommt Moll zu der für ihn als Arzt besonders wichtigen 
Frage nach der Mitwirkung des Arztes bei der Berufsberatung. An der Hand zahl- 
reicher Beispiele aus eigener Erfahrung und aus der Literatur weist er nach, daß die 
körperliche und gesundheitliche Eignungsbegutachtung durch den Arzt eine unerläß- 
liche Vorbedingung für eine wirksame Berufsberatung ist. Etwas zurückhaltender 
stellt er sich hinsichtlich der Mitwirkung des Psychotechnikers bei der Berufsberatung; 
aber auch hier zeigt er an Beispielen aus der Praxis, unter denen die gemeinsam mit 
Dr. Piorkowski vorgenommene Eignungsprüfung von Angehörigen der Berliner 
Kriminalpolizeit sehr ausführlich behandelt ist, wie fruchtbar die Arbeit des Psycho- 
logen für die Feststellung der Eignung des Berufsanwärters sein kann. Dann wird 
kurz die wirtschaftliche Versorgung durch den Beruf gestreift, über die bei der gegen- 
wärtigen Lage der Wirtschaft nichts Bestimmtes gesagt werden kann. Auch auf die 
Wichtigkeit einer besonders eindringlichen Beratung für das weibliche Geschlecht 
wird kurz hingewiesen und schließlich die Frage erörtert, wer der geeignetste Berufs- 
berater sei. M. kommt hierbei zu dem Ergebnis, daß weder der Arzt oder Psychologe 
noch der Volkswirtschaftler für sich allein imstande sei, eine zuverlässige und erfolg- 
reiche Berufsberatung auszuüben; nur in dem durch wechselseitige Ergänzung be- 
dingten Zusammenwirken aller drei wäre eine Gewähr für die rechte Berufsberatung 
gegeben. | Richard Liebenberg (Berlin). 

Friedrieh, Otto: Amtliehe oder private Berufsberatung? Neue Erziehung Jg. 5, 
H. 12, S. 398—401. 1923. 

Ausgehend von der Kritik, die zuweilen an der Tätigkeit der öffentlichen Berufs- 
ämter geübt wird, untersucht Friedrich die Frage, ob es bei dem gegenwärtigen Stand 
der Berufs- und Arbeitsteilung möglich und zweckmäßig wäre, die vor der Berufswahl 
stehenden Jugendlichen und deren Eltern durch private Stellen, d. h. durch Inter- 
essentengruppen wie Innungen, Gewerkschaften u. a. beraten zu lassen. Das würde 
bei der Vielzahl der vorhandenen Interessentengruppen eine Zersplitterung der Berufs- 
beratung zur Folge haben. Jede dieser privaten Berufsberatungsstellen würde wahr- 
scheinlich nur die Ungeeignetheit des Ratsuchenden für den in Frage kommenden 
Spezialberuf feststellen, nicht aber weiter beraten können, welcher andere Beruf nun 
in Betracht käme. Außerdem wäre es fraglich, ob die Beratungsstellen der Interessenten- 
gruppen bei’der Prüfung auch neutral genug vorgehen würden. So kommt F. zu dem 
unwiderleglichen Schluß, daß die Interessen der Ratsuchenden sowohl als auch der 
Volksgemeinschaft am besten von den öffentlichen, gemeinnützigen Berufsberatungs- 
stellen (Berufsämtern) gewahrt werden. Richard Liebenberg (Berlin). 

Giese, Fritz: Neuere Forsehungen zur pädagogiseh-psyehologischen Berufsberatung. 
Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 10, S. 184—186 u. Nr. 11, 
8. 204—207. 1923. 

An der Hand einer großen Reihe neuerer Veröffentlichungen bespricht Giese 
die jüngsten Forschungen auf dem Gebiet der pädagogisch-psychologischenBerufs- 
beratung. Er geht aus von dem gegenwärtig die Meinungen noch stark beschäftigenden 
theoretischen Kampf um die Grundlagen der psychologischen Forschung. Im Gegen- 


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satz zu der älteren Auffassung, die das Seelenleben des einzelnen in eine Reihe von 
Funktionen zerlegte und das Ergebnis additiv zu erfassen versuchte, bemüht sich die 
neue Gestaltlehre, das Seelische als etwas Ganzes hinzunehmen. Sodann wendet sich 
G. in seiner Besprechung einigen Sonderfragen der theoretischen Forschung, insbe- 
sondere der Psychologie der Jugendlichen im Pubertätsalter zu. Die Berufswahl und 
Berufsberatung fallen ja bedauerlicherweise gerade in diese Entwicklungskrise der 
Jugendlichen, und es wird von dem praktischen Berufsberater durchaus dankbar 
begrüßt, durch wissenschaftliche Forschungsergebnisse bei der Beratung der im Puber- 
tätsalter sich befindlichen Jugendlichen unterstützt zu werden. Im Zusammenhang 
mit dieser Frage behandelt G. dann auch die wichtigste Literatur über einige päda- 
gogische Fragen (Arbeitsschule, Grundschule), die für den Berufsberater im Hinblick 
auf das notwendige Zusammenwirken von Schule und Berufsamt von Bedeutung sind. 
Den Abschluß bildet eine eingehende Besprechung der neuesten Veröffentlichungen 
auf dem Gebiet der psychologischen Eignungsprüfung im Dienste der Berufsberatung, 
die in ganz erfreulicher Weise davon Zeugnis legt, wie Forschung und Praxis in erfolg- 
reicher Wechselwirkung sich bemühen, der Berufsberatung durch sachgerechte Aus- 
gestaltung der Eignungsprüfung die zweckmäßigste Grundlage zu geben. 
Richard Liebenberg (Berlin). 
Bogen, Hellmuth: Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berulsamtes. 
(Landesberufsanst., Berlin.) Prakt. Psychol. Jg. 4, H. 10, S. 303—308. 1923. 
Ausgangspunkt für die Berufsberatung sind in der Regel die Lehrergutachten. 
Wenn Lehrerbeobachtung und Berufswunsch voneinander abweichen, braucht der 
Berufsberater für einen stichhaltigen Vorschlag psychologisch wohlbegündete Grund- 
lagen. Die der psychologischen Abteilung vorgelegte Frage lautet zumeist: Ist X für 
den Beruf A oder B geeignet, und in welchem Grade oder in welcher Richtung? Wenn 
es sich um körperlich, geistig oder moralisch Minderwertige handelt, wird weniger 
nach Berufs- als nach Arbeitseignung gefragt. Verf. berichtet, wie das Gutachten 
gewonnen wird. Zuerst genaue (etwa 5stündige) Gruppenprüfung zur Feststellung 
des Intelligenzstandpunkts, später Einzelprüfungen — analytische Funktionsprüfung, 
Schema- und Arbeitsproben —, daraus Deutung des psychologischen Profils. Nun 
Zusammenarbeitung mit den vermerkten Beobachtungen, Vergleich mit den Lehrer- 
angaben. Ergebnis kurzes Gutachten auf dem Prüfungszeugnis. Die meisten Prüflinge 
werden unmittelbar vom Berufsamt überwiesen; aber auch Unternehmer, Innungen, 
Berufsverbände, Behörden und Fürsorgeeinrichtungen bedienen sich der psycholo- 
gischen Abteilung. Verf. bietet Zahlenangaben über die Arbeitsgrundlagen und den 
Umfang des bisher Geleisteten und zeigt an einem Beispiel die Herausarbeitung des 
Eignungsprofils. Dreßler (Berlin). 
© Lämmel, Rudolf: Intelligenzprüfung und psychologische Berufsberatung. 2. verm. 
u. verb. Aufl. München u. Berlin: R. Oldenbourg 1923. IX, 193 S. G.-M. 4.20. 
Das weitverbreitete Interesse für psychologische Berufsberatung und das Be- 
dürfnis nach erprobten Untersuchungsmethoden lassen eine 2. Auflage des vorliegen- 
den Werkchens begreiflich erscheinen. Verf. will in einer 100 Test-Serie nicht nur 
„die Intelligenz‘ sondern die Gesamtheit aller psychischen ‚Qualitäten‘“ nebst dem 
körperlichen Entwicklungsstand bestimmen, um die Geprüften, nicht nach Prinzipien 
der Berufsvermittlung, sondern gemäß einer Beratung auf Grund psychischer 
Eigenschaften, in Berufe unterzubringen. Die Sammlung bietet, bei kritischer 
Einstellung, mancherlei Anregung; die einzelnen Aufgaben können als Variation 
oder Ergänzung schon bekannter Tests dienen; einige Bereicherung bieten die Auf- 
gaben zur Prüfung des rechnerischen oder mathematischen Geschicks. Verf. sucht 
die gewonnenen Resultate in einem ‚„Ingenogramm‘“‘ festzulegen; dieses soll für den 
Prüfling die Entscheidung über seinen Beruf und seine soziale Eingliederung abgeben. 
Bei all diesen Methoden der Bewertung und Verwertung (Ingenogramm, Psychogramm 
und ähnliches mehr) darf man sich nicht verhehlen, daß sie kein absolutes Maß für 





— 205 — 


das Psychische sind, daß sie stark von den subjektiven Anschauungen des Prüfenden 
abhängig sind und daher auch niemals die weitgehenden Forderungen des Verfassers 
werden erfüllen können. von Kuenburg (München). 

Kauer, Robert: Eine Zentralstelle für Berufsberatung. Zeitschr. f. Kindersch., 
Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 9, S. 163—164. 1923. 

Die schon seit längerem geforderte Zentralstelle für Berufsberatung in Österreich 
ist nunmehr im Einvernehmen mit den zuständigen Verwaltungsbehörden (insbesondere 
dem .-Bundesministerium für soziale Verwaltung) und den Interessentenkreisen errichtet 
worden. Sie hat ihren Sitz in den Räumen der Zentralstelle für Kinderschutz und 
Jugendfürsorge (Wien I, Hofgartenstraße 3). Als erstes will die Zentralstelle folgende 
Aufgaben in Angriff nehmen: 1. Sammlung und Verarbeitung der Berufsberatungs- 
literatur des In- und Auslandes und deren Verwertung für die praktische Berufs- 
beratungsarbeit; 2. Werbetätigkeit (Abhaltung von Vorträgen in Elternvereinigungen, 
Veranstaltungen von Lehrgängen über Berufsberatung für Lehrer und sonstige an der 
Jugendfürsorge beteiligte Personen, Heranbildung von Berufsberatern); 3. Förderung 
wissenschaftlicher Forschung auf dem Gebiet der Berufsberatung; 4. Erteilung von 
Auskünften und Ratschlägen in besonderen Fällen. Zur Durchführung dieser Aufgaben 
soll noch eine besondere Arbeitsgemeinschaft gebildet werden. (Vgl. auch nachfolgende 
Notiz.) ‚ Richard Liebenberg (Berlin). 

Zentralstelle für Berufsberatung. Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- u. Berufs- 
fürs. Jg. 15, Nr. 11, S. 208—209. 1923. 

Die von der deutsch-österreichischen Zentrale für Berufsberatung in Aussicht 
genommene Arbeitsgemeinschaft für Berufsberatung wurde Anfang November ins 
Leben gerufen. Sie setzt sich aus folgenden Arbeitsgruppen zusammen: 1. für die 
Aufstellung statistischer, für die Berufsberatung unmittelbar verwendbarer Aus- 
kunftstabellen; 2. für die Fortsetzung der von Lazar und Tremel begonnenen be- 
rufskundlichen Untersuchungen; 3. für die Veranstaltung eines psychologischen Lehr- 
gangs; 4. für die ärztliche Berufsberatung; 5. für die Zusammenarbeit von Schule und 
Berufsberatung. Auch die in Aussicht genommenen Vorträge über Berufsberatung 
haben in den Räumen der Universität Wien Mitte November ihren Anfang genommen. 

Richard Liebenberg (Berlin). 

Eaton, T. H.: Teaching for the sake of voeational choice in rural eommunities. 
(Berufsberatung in Landschulen,) School review Bd. 31, Nr. 3, S. 191—203. 1923. 

In der Erkenntnis, daß eine sehr wichtige Voraussetzung für die wirtschaftliche 
Bedeutung eines Landes in der zweckmäßigen und zuverlässigen Auslese des beruf- 
lichen Nachwuchses vorliegt, untersucht der Verf. die Möglichkeiten, die der Schule 
bei der Lösung dieser Aufgabe, vor allem durch die Erziehung zur rechten Berufswahl, 
gegeben sind. Er berücksichtigt dabei in erster Linie die ländlichen Gemeinden (in den 
Vereinigten Staaten von Nordamerika), weil er diese für besonders geeignet hält, der 
heranwachsenden Jugend die Augen und den Sinn für die vorhandenen Berufsmög- 
lichkeiten und Berufsverrichtungen zu öffnen. Die allgemeine Anschauung gehe zwar 
dahin, daß die Berufe auf den Farmen und in den ländlichen Gemeinden weniger zahl- 
reich und nicht besonders spezialisiert sind; dafür haben diese aber den nicht hoch 
genug zu bewertenden Vorteil, die Jugendlichen in engste Berührung mit der Atmo- 
sphäre und den Verrichtungen der einzelnen Berufsarten zu bringen, sei es, daß die 
Söhne und Töchter ihren Eltern unmittelbar bei der Arbeit helfen oder gegen Bezahlung 
- bei Fremden selber Arbeit verrichten. Die Zahl der letzteren ist verhältnismäßig recht 
groß; sie beträgt bei den Knaben 82%, und bei den Mädchen 59%. Durch diese un- 
mittelbare Beteiligung an den verschiedenen beruflichen Arbeiten gewinnen die Jugend- 
lichen am schnellsten Erfahrungen über die ihnen offenstehenden Berufsmöglichkeiten. 
Was ihnen darüber hinaus fehlt, kann die Schule durch besonders dafür gestalteten 
Unterricht und durch Führungen ohne Schwierigkeiten ergänzen. Gewiß wird die 
Zahl der den Kindern der Landschulen vorzuführenden Berufstätigkeiten naturgemäß 


— 206 — 


beschränkt sein; dafür sind aber diese Tätigkeiten der Ursprung und die typischen 
Formen für viele der anderen Berufsarten, die außerhalb des Wirtschaftskreises der 
Farm oder der ländlichen Gemeinde liegen. Hauptsache ist, wie immer bei derartigen 
pädagogischen Aufgaben, die geeignete Lehrerpersönlichkeit zu ihrer Durchführung 
zu finden. Richard Liebenberg (Berlin). 


Vormundschaftswesen : 


Behrend: Die „Gelährdeten- Fürsorge“ im deutschen Reichsjugendwohlfahrts- 
gesetze und die Stellung des Vormundsehaftsriehters dazu. Zentralbl. f. Vormund- 
schaftswesen, Jugendger. u. Fürsorgeerziehg. Jg. 15, Nr. 2, S. 32—38. 1923. 

Behrend erblickt das Wesen der Gefährdeten-Fürsorge in derjenigen Betreuung 
unserer Jugend und der Arbeit an ihr, welche darauf bedacht ist, jede Abweichung 
von der normalen wünschenswerten Entwicklung derjenigen, die (allein) zu dem Ziel 
der „leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit‘‘ ($ 1 Abs. 1) führen kann, 
möglichst an der Wurzel zu fassen und mit dieser zu beseitigen, also, schon im ersten 
Keime zu bekämpfen. Er vermißt im Gegensatz zu anderen im RJWG. die Erfassung 
der Gefährdeten-Fürsorge und hält einen Ausbau des Gesetzes an dieser Stelle für nötig. 
Seiner Ansicht nach ist die Schutzaufsicht noch keine ‚„Gefährdeten-Fürsorge‘‘, hätte 
aber dazu werden können, wenn die Voraussetzungen zu ihrer Anordnung genügend 
weit gefaßt worden wären; wenn das Gesetz die ‚„‚Schutzaufsicht‘ nicht an den Tat- 
bestand der Verwahrlosung gekettet hätte und vor allem nicht vorgeschrieben hätte, 
zu einer Abwendung dieser (Gefahr) müsse jene (Aufsicht) ‚geboten‘ erscheinen. 
Der Begriff und die Anwendung der Schutzaufsicht ist ihm zu eng gefaßt. Ihr vor- 
beugender Charakter kommt ihm nicht genügend zum Ausdruck. Er hat Recht, 
wenn engherzig mit der Anwendung der „Schutzaufsicht‘ verfahren wird. In der Praxis 
wird es auf eine großzügige Auslegung und Anwendung ankommen. Wie kann diese 
seiner Ansicht nach vorhandene Lücke im Gesetz ausgefüllt werden! Fingerzeige 
hierfür gibt das Gesetz in der Erwähnung der „Mitarbeit freiwilliger Tätigkeit‘ 
und in dem Hinweis auf „Vereinigung für Jugendhilfe“ ($ 11) und ‚einzelne in der 
Jugendwohlfahrt erfahrene und bewährte Männer und Frauen“. Gerade für die 
„Gefährdeten-Fürsorge‘“ könnten diese Kräfte fruchtbar gemacht werden. Aus diesem 
kargen Metall müsse erst das Edelmetall für die betreuende Obhut für die gefährdete 
Jugend herausgeschlagen werden. B. weist darauf hin, daß Frankreich und England 
uns in dieser Beziehung, besonders durch die Arbeitsschulen, die ‚‚industrial-schools“ 
und ‚‚ecoles industrielles‘‘, weit voraus seien, die für sittlich gefährdete im Gegensatz 
zu den bereits bestraften bestimmt seien. Je eher die Erziehung ‘zur Arbeit und die 
Liebe zu ihr einsetze, desto besser sei es für die strauchelnde Jugend. B. weist darauf 
hin, daß auch in Deutschland an einigen Orten Einrichtungen geschaffen seien, welche 
im Ergebnis auf eine Gefährdeten-Fürsorge herauskämen, besonders in Lübeck, wo 
sie auf der freien Mitarbeit aus allen Bevölkerungsschichten beruhten. Ärztliche Tätig- 
keit besonders des Jugendpsychiaters sei in hervorragendem Maße dort beterligt. 
Die Einrichtung wirke ganz besonders prophylaktisch und daher besser als der $ 56 
des Gesetzes es könne. So habe sich dort auf diesem Boden ‚‚die freiwillige Fürsorge- 
erziehung‘‘ angegliedert, auf freies Betreiben von beteiligten Angehörigen. Diese sei 
jetzt für Lübeck und andere Teile des Reiches „gesetzlich geregelt“. (Ist es denn noch 
eine freiwillige?) Der Mechanismus in Lübeck macht nicht unerhebliche Kosten 
(und wird darum wohl bei den heutigen Zeitverhältnissen nicht allgemein werden!). 
Es kommt B. auf drei Punkte an 1. freiwillige Mitarbeit aller Bevölkerungskreise; 
2. jeder Gefährdung möglichst frühzeitig entgegen zu treten; 3. den Begriff der Ge- 
fährdung universell zu fassen, auf jede Gefährdung zu erstrecken. Aufbau der Jugend 
auf dem Lande und Aufklärung spielten eine wichtige Rolle. Die Vormundschafts- 
richter sind nach B. dazu besonders berufen; dadurch daß sie Vertrauenspersonen zu 
Verweisterminen zuziehen, bei Strafaussetzung zuziehen können sie die Autorität 


— 207 — 


der Vertrauenspersonen stärken. B. schließt, es gebe also jetzt schon Mittel und Wege 
zum Aufbau und Ausbau der Gefährdeten-Fürsorge. Es bedarf m. E. nach keiner 
Ausfüllung dieser Lücke, sondern nur einer weitherzigen Auslegung des Gesetzes, 
das seinem ganzen Charakter nach doch wohl zum großen Teil als „Gefährdeten- 
Fürsorge“ aufzufassen ist. Zustimmen muß man B., daß Aufklärung besonders auf 
dem Lande eine wesentliche Rolle spielt. Das Gesetz muß gewissermaßen erst populär 
werden. Dann wird es auch im Sinne B. ‚„Gefährdeten-Fürsorge‘“ sein. Nebenbei ge- 
sagt, ist die Lektüre der Abhandlung durch außerordentlich lange Sätze und zahlreiche 
Einschachtelungen für den Leser recht erschwert. Liickerath (Euskirchen). 


Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches : 


© Engelmann: Die Ausübung der Jugendgeriehtshilfe nach dem Jugendgerichts- 
gesetz vom 6. Februar 1923. Eine kurze Anleitung für die Praxis. (Wegweiser der Jugend- 
hilfe H. 2.) Freiburg i. Br.: Caritasverlag 1923. 16 8. G.Z. —.15. 

Die Anleitung wird praktischen Mitarbeitern der Jugendgerichtshilfe eine wert- 
volle Unterstützung sein. In Format und Anordnung lehnt sie sich an die seit 1909 
von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge herausgegebenen bekannten „Grund- 
sätze und Winke für Helfer der Berliner Jugendgerichtshilfe‘‘ an. Wir bedauern, daß 
es dem Helfer nicht ausdrücklich empfohlen wird, gemäß $ 31 JGG. den Psychiater 
zuzuziehen. Die „Abkunft von Geisteskranken, Epileptischen, Trinkern, Verbrechern“ 
allein (vgl. S. 12) läßt weder den Helfer noch den Richter stets gültige Schlüsse für ' 
die Persönlichkeit des Angeklagten ziehen. Es erscheint — angesichts der Notwendig- 
keit einer psychologisch immer zu vertiefenden Berichterstattung des Helfers — 
auch nicht ganz zweckmäßig, daß der Helfer durch die Anleitung zur Berichterstattung 
darauf hingewiesen wird, auf „mutmaßliche Ursachen der Straftat‘ (S. 12), „Er- 
ziehungsmängel, Verführung, Gelegenheit, Leichtsinn, Unerfahrenheit, Not“ (über 
die etwa vorliegende „verbrecherische Neigung‘ mußte sich der Helfer schon bei der 
Persönlichkeit des Beklagten äußern) im Bericht einzugehen. Eine lange Praxis hat 
gelehrt, daß das Verlangen nach solchen Angaben den ungeschulten Helfer allzu leicht 
zur Oberflächlichkeit verleitet, die in der Beurteilung des Jugendlichen durch den 
Richter schwere Folgen zeitigen kann. Ruth v. der Leyen (Berlin). 

Naegele, Otto: Richter und Jugendlicher. Internat. Zeitschr. f. Individualpsychol. 
Jg. 2, Nr. 2, S. 39—40. 1923. 

Der moderne, individualpsychologisch gebildete Richter muß seine Aufgabe darin 
sehen, die jugendlichen Gesellschaftsfeinde in ihrer psychologischen Struktur zu ver- 
stehen. Er soll versuchen mit Ruhe, Güte und Sachlichkeit ihr Vertrauen zu gewinnen 
und ihnen durch verständnisvolle Aufklärung den Rückweg zur Gemeinschaft zu 
erleichtern. Alle gewaltsamen Erziehungsmittel, die Erziehungsmotive der Vergeltung 
und Abschreckung dürfen nach Ansicht des Verf. keine Verwendung finden, da sie 
nur den Protest gegen die Zwangsautorität des Erziehers hervorrufen und so eine 
Entwicklung zum ‚Guten‘ unterbinden. Notwendige Vorbedingung ist eine Gesamt- 
persönlichkeit des Richters, die in jeder Beziehung für eine solche objektive, überlegene, 
von affektiven Eigentendenzen freie Behandlung disponiert. H. Hoffmann (Tübingen). 

Aus den Landesorganisationen und Jugendschutzvereinen. Die Wiener Jugend- 
geriehtshilfe. Zeitschr. f. Kindersch., Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 7/8, S. 129 
bis 131. 1923. i 

Der Bericht (nach Angabe der Geschäftsleiterin Frl. Grete Löhr) gibt ein Bild 
von der Tätigkeit der Wiener Jugendgerichtshilfe (J.G.H.) im Jahre 1922. Über 
8600 Fälle passierten die Organisation, davon über 2600 straffällige Kinder und Jugend- 
liche (darunter etwa 2100 Knaben). Unter den inkriminierten Handlungen der Kinder 
und Jugendlichen, wegen deren von seiten der J.G.H. Voruntersuchungen und 
Fürsorgemaßnahmen vorgenommen wurden, standen die Eigentumsdelikte 
[über 1700) an der Spitze, wofür die zunehmende Arbeitslosigkeit und der Mangel an 


— 208 — 


Verantwortungsgefühl der Erwachsenen mit eine Schuld trägt. An 300 Fällen geheimer 
Prostitution von Mädchen unter 18 Jahren (darunter 13 unter 14 Jahren) wurde der 
J.G.H. bekannt oder zugeführt. Die Zahl der Schulkinder unter den Straffälligen 
ist im Zunehmen bgriffen. Günstige Ergebnisse hatte die Schutzaufsicht von be- 
dingt verurteilten Jugendlichen: unter 870 wurden nur 55 (6,3%) rückfällig. Eine inten- 
sive Einflußnahme auf die Jugendlichen, an der sich viele sozial interessierte Personen 
beteiligten, konnte an Jugendlichenabenden in den 3 bestehenden Jugendlichen- 
klubs (2 weitere waren im Entstehen) erzielt werden. Als zweckmäßige Fürsorgeein- 
richtung für Schutzbefohlene, die durch Mißhandlung durch die Eltern oder durch die 
in letzten Jahren überhand nehmenden Ehescheidungen gefährdet sind, erwies sich die 
im Jugendgerichtsgebäude untergebrachte Kinder- und Jugendlichenherberge. 
Zu den weiteren Aufgaben der J.G.H. gehörten die Sorge für die Beschäftigung jugend- 
licher Häftlinge, die Bekleidungsausstattung haftentlassener, in den Beruf eintretender 
Jugendlicher, die Aufklärung der Öffentlichkeit durch Vorträge usw. Das vorbildliche 
Wirken der J.G.H., das in Zusammenarbeit mit zahlreichen karitativen Organisationen 
erfolgt, genießt das Interesse weiter Kreise insbesondere auch des Auslandes bis weit 
über die Grenzen Europas hinaus. E. Feuchtwanger (München). 

Vandervelde, E.: Les anormaux et la défense sociale. (Die Anomalen und die 
soziale Abwehr.) Arch. di antropol. crim. psichiatr. e med. leg. Bd. 43, H. 5, 
S. 417—420. 1923. 

Vanderveldes kurzer Aufsatz ist im Grunde nur eine Selbstanzeige einer von 
ihm veröffentlichten Arbeit: Réalisations socialistes. Bruxelles, Maison nationale 
d’edition. 1923. Aber schon aus dieser kurzen Anzeige erkennt man die, ich möchte 
sagen, epochemachende Bedeutung der Arbeit. Sie kann Epoche machen, denn V. 
hat als Justizminister seine Ideen wenigstens zur Geltung bringen, die Durchführung 
derselben anbahnen können. Die Wiedergabe einiger Sätze zeigt die ganze Bedeutung 
der Grundsätze V. ‚Unter der Mitarbeit der mit der Geistesuntersuchung der Schul- 
digen beauftragten Ärzte hat man ersehen müssen, daß es zwischen ‚verantwortlich 
und unverantwortlich‘ die ungeheure Menge der Zwischenstufen gibt: die Anomalen, 
die Desequilibrierten, die Schwachsinnigen, die Epileptischen; kurz ‚die Halbirren‘; . 
für diese Unglücklichen hat man die Anerkennung einer verminderten Zurechnungs- 
fähigkeit, einer nur teilweisen Verantwortlichkeit zugestehen müssen. Aber gerade 
hier tritt die ganze Absurdität unserer gegenwärtigen Strafgesetze zutage. Diese 
Anomalen, Schwachsinnigen sind schließlich Kranke, aber Kranke oder Schwächlinge, 
die durchschnittlich gefährlicher sind als die Gelegenheitsverbrecher, die normal und 
geistesgesund sind. Man müßte sie also behandeln, ihre Erziehung wieder aufnehmen: 
in ihrem und im Interesse des sozialen Schutzes müßte man sie bewachen, unterbringen, 
bis sie geheilt oder wenigstens unschädlich sind. Was tut man aber an Stelle dessen? 
Man behandelt sie genau wie die anderen Gefangenen; aus Mitleid legt man manchen, 
zum Unterschied, Strafen von kürzerer Dauer auf. Nach Verbüßung dieser Strafen 
läßt man sie wieder frei herumlaufen, man überläßt sie sich selbst, ohne Heilung, ohne 
Schutz, ihren krankhaften Trieben ausgesetzt, die sie sicher zu Rückfällen bringen ... 
Seit wir in allen unseren Hauptgefängnissen einen psychiatrischen Dienst eingeführt 
haben, hat sich gezeigt, daß sie vollgestopft (regorgent) sind von Anomalen und von 
Kranken: Epileptische, Schwachsinnige usw. usw.... Gegenwärtig ist man dabei, 
diese Anomalen auszusuchen und einzuteilen; sie kommen in Spezialgefängnisse ... <“ 
Die außerordentliche Bedeutung dieser praktischen Ausführung ist klar. Belgien 
ist das einzige Land, in dem das „‚Vorbestraft‘ (seit 1912) gestrichen, dafür aber eine 
fürsorgende Verwahrung eingeführt ist, die bis zu 20 Jahren gehen kann. V. schließt, 
wieder sehr bedeutsam: ‚Vielleicht, zweifellos kommt die Zeit, wo man begreifen wird, 
daß mit Ausnahme einiger Gelegenheitsverbrecher in großem Maße alle Gesetzes- 
übertreter Anomale sind!“ — Das ist auch meine Ansicht. Düring (Frankfurt a. M.). 


Autorenregister. 


(Bei den halbfett gedruckten Seitenzahlen handelt es sich um Originalarbeiten.) 


Abramson, J. (Psychologie und 
Schwachsinn) 101. 

Adler, Alfred (Isolierung) 44. 
Ahlenstiel, Heinz (Psychologie, 
Dimension ihrer Grundbe- 

griffe) 10. 

Aichhorn, August (Erziehung in 
Besserungsanstalten) 139. . 
Aikins, Herbert Austin (Stottern) 

126. 

Alford, L. B. (Dementia praecox) 
110. 

Altmann (Blindenbildung) 55. 

Ammann (Weibliche Erziehungs- 
hilfe) 77. 

Anderson, V. V. (Geistige Hy- 
giene) 72. 

Aaron, Hans (Schlaf im Kindes- 
alter) 3. 

Aronowitsch, G. (Anomalien des 
Hodendescensus) 29; (Jugend- 
liche Verbrecher) 29. 

Aschenheim (Familienfürsorge) 
129. 

— Erich (Schuluntersuchungen) 
150. 

Aubrun (Mutterschutz) 129. 


Bacher, G. (Hilfsschüler) 349. 

Bachmann, W., s. Bürgers, Th. J. 
87. 

Balfour, Andrew (Akklimatisa- 
tion) 5. 

Bappert, Jakob (Zeichentest) 
161 


ee nn nn 


Barnes, Noble P. (Mongolismus) 
178. 

Barney, Edna L. (Schulgesund- 
heitspflege) 200. 

Bartsch, Karl (Hilfsschule) 138. 

Bauer, Julius (Konstitutions- 
und Vererbungslehre) 147. 

Baumann, E. (Schulgesundheits- 
pflege) 134. 

Bavin, J. T. (Musikalische Erzie- 
hung) 43. 

Bayer, Heinrich (Vererbung) 147. 

Bean, R. Bennett, and Carl Cas- 
key Speidel (Kopfform) 6. 

3ehm, Karl (Enuresis) 186. 

3ehrend (Gefährdeten-Fürsorge) 
206. 

Bejarano, J., 8. Covisa, J. S. 189. | 


Bennett, H. S., and B. R. Jones 
(Führerschaft und Intelligenz) 
101. 

Benon, R. (Postencephalopa- 
tische Manie) 110. 

Berger, J. (Körperliche Entwick- 
lung) 86. 

Bergmann, E., und R. Koch- 
mann (Lungenentzündung und 
neuropathische Konstitution) 


40. 
Bernfeld, Siegfried (Pubertät) 
24 


Bertolani del Rio, Maria (Schul- 
kolonie für Psychopathen) 193. 

Berze, Josef (Erblichkeits- und 
Konstitutionsforschung) 148. 

Betke (Nervöse Kinder) 183. 

Beverly, Bert J., s. Sherman, 
Mandel 179. 

Biesalski, K. (Kinderlähmung) 
114; (Krüppelfürsorge) 55. 
Bing, Robert (Gehirn und Auge) 

110. 
Blanchard, Phyllis, s. Jewett, 
Stephen Perham 160. 


Brunner und Frühwald (Vokal- 
bildung bei Taubstummen) 
125. 

Brustmann, Martin (Sexualität 
und Leibesübungen) 19. 

Bühler, Charlotte (Kinderlüge) 


113. 
— Karl (Sprachliche Darstel- 
lung) 163. 


Bürgers, Th. J., und W. Bach- 
mann (Anthropologische Mes- 
sungen) 87. 

Bürklen, K. (Blindenfürsorge) 
54 


Buerschaper (Besserungsgedanke 
im Strafvollzug) 138. 

Bunsen, Victoria de (Jugend- 
wohlfahrt) 58. 

Burt, Cyril (Kriminalität und 
geistiger Defekt) 104. 

Busse, Hans Hr. (Literarisches 
Verständnis der werktätigen 
Jugend) 160. 

Bussiere, Fr. (Schulgesundheits- 
pflege) 134. 


Boas, Harald (Syphilis bei Blin- ' Caille, Augustus (Linkshändig- 


den und Taubstummen) 54. 


keit) 7. 


Böhmig, Wolfgang (Psychische | Calkins, Mary Whiton (Psychi- 


Veränderung nach epidemi- 
scher Encephalitis) 103. 


sche Erfahrung bei McDou- 
gall) 11. 


Bogen, H., s. Lipmann, O. 157. | Cameron, H. C. (Nervöse Kinder) 


— Hellmuth (Berufsamt) 204. 

Bohne, Gerhard (Religion und 
Pubertät) 176. 

Bowie, S. (Intelligenzprüfung) 
21. 

Brandt, Paul (Frühgeburt) 148. 

Brauckmann (Absehen) 124. 


Brednow (Reproduktionsver- 
suche bei Pseudolagischen) 
416. 


Bretet, M. (Diabetes) 37. 

Bremen, J. van (Sport und Ner- 
venkrankheiten) 187. 

Bridgman, Olga (Psychologie des 
normalen Kindes) 92. 

Briner, Robert (Verwahrlosung 
und Kriminalität) 138. 

Brossmer (Kind als Kamerad) 
198. 

Brown, Warner (Gedächtnis- 
messung) 157. 


Beloff, N. A. (Organe und Ge- | — — and Florence Whittell 


webe) 84. 
Benesi (Rhythmus bei Taub- 
stummen) 129. 


(Methode der vielfältigen Wahl) 
101. 
Brunn, v. (Waldschulen) 201. 


Zeitschr. f. Kinderforschung. Bd. 29. 


182. 

— Hector Charles, and A. A. 
Osman (Meningeale Blutun- 
gen) 28. 

Campbell, C. Macfie (Schwach- 
sinnige) 51. 

Carle (Syphilis congenita) 188. 

Carpenter, Florence L., s. Pof- 
fenberger, A. T. 159. 

Carr, Walter Lester, and Bret 
Ratner(Mütterberatungsstelle) 
133. 

Carrie, W. (Stotternde Schukkin- 
der) 126. 

Chadwick, Mary (Kind und Fa- 
milie) 89; (Neurotische Kin- 
der) 30. 

Chauffard 
116. 

Christian (Reichswohlfahrtsge- 
setz) 130. 

Clarke, C. K. (Psychische Hy- 
giene) 60. 

— Eric Kent (Psychische Hy- 
giene) 52. 


(Familiärer Kropf) 


14 


Clay, Homer T. (Charakterver- 
änderung nach Encephalitis) 
103. 


(lemenz, Bruno (Individualität): 
2] 


(‘ohen. Martin 
Idiotie) 29. 


Collin, Andre, et Jeanne Requin ' 


(Encephalitis epidemica) 33. 
Condat (Heine-Medinsche Krank- 
heit) 113. 


Cornell, Ethel L., and Gladys L. 


Lowden (Intelligenzprüfungen) | 


96. 


Corvey (Schulgesundheitspflege) 
66 | 


Courtin, 
114. 
Covisa, J. S., und J. Bejarano 
(Juvenile Tabes) 189. 

Cristoffel, 
Grossmann (Bildnereien gei- 
stig minderwertiger Knaben) 
181. 


Wolfgang 


Erblichkeit) 83. 


Dalmark, P. C. J. (Körperge- 
wicht und -größe) 149. 
Dannenberg, A. (Kleinkinder- 


fürsorge) 22 

— Otto (Berufsberatung künst- 
lerisch Begabter) 137. 

Dawson, Shepherd (Schwankun- 
gen in Schulleistungen) 159. 

Dealev, 
in Kindergärten) 200. 

Decroly (Erziehung abnormer 
Kinder) 122. 

Dehn, Günther (Religiöse 
dankenwelt) 165. 

De Sanctis. Sante (Hvystero- 
psychopathische Kinder) 184; 
(Neuropsvchiatrie) 79. 

Descoeudres, Alice (Pädagogische 
Begabung abnormer Kinder) 
181; (Kindlicher Sprachschatz) 
163. 

Devine, Henry (Geistig Minder- 
wertige) 64. 

Dirr. Hans Robert (Schwerhöri- 


Ge- 


gen- und Sprachheilschulen):! 
311. 
Doerr, Fr. (Jugendgerichtsge- 


setz) 75. 
Dresel, E. G., und Fr. Fries (Ge- 
burtenzahl und Sterblichkeit) 
Dublin, Louis I. (Kindersterblich- 
keit) 7. 
Duff, James F., 
Thomson (Intelligenzprüfung) | 
162. 
Dufourt. A., 
Duhr, Bernhard 
lichkeit) 198. 


s. Weill, E. 35. 
(Kindersterb- 


(Amaurotische ' 





(Enuresis) | 
| wicklung im 1. und 2. Lebens- 


Hans, und Emanuel | | 





C. Elizabeth (Anomale | Ferch, Joh. 
| Fernald, Walter E. 





210 


ı Eaton, T. H. (Berufsberatung) 
205. 
: Ebel, H. (Psvchotechnik) 100. 


Eckstein. A. (Kropffürsorge) 115. 

| Eliasberg, W. (Natürliche Beeb- 
achtungsvorgänge) 187. 

— Wladimir (Intellektuelle Vor- 
gänge) 157. 

ı Ellis. Havelock (Homosexuali- 
tät) 186. 

Elster. A. (Alkoholismus) 4. 

| Eltes-Ellenbach, M. (Heilpäda- 
gogik in Ungarn) 346. 

Emmerig, Ernst (Religiöse Un- 
terweisung Taubstummer und 
Schwachsinniger) 326. 

Engel, St., und Ella Runge (Ent- 





jahre) 4. 

: Engelmann (Jugendgerichtshilfe) 
207. 

Entres, L. (Taubstummen- 
Sprechunterricht) 350. 


i Fales, Helen L., s. Holt, L. Em- 
Dahlberg, Gunnar (Zwillinge und | 
| — W. T., s. Hiscock, Ira V. 66. 


mett 6l. 


Feer, E. (Diagnostik der Kinder- 
krankheiten) 186; (Neurose 
des vegetativen Systems) 40. | 

ı Fein, A. (Zirbeldrüse und Hypo- | 
physe) 37. 

Feldman, W. M. (Physiologische 
Eigentümlichkeiten der Kind- 
heit) 2 

(Geburtenbeschrän- 

kung) 142. 

(Schwach- 
sinnigen-Fürsorge) 122. 

Ferrari, G. C. (Psychisch-Minder- 
wertige) 184. 

Fick. Rudolf (Vererbung erwor- : 
bener Eigenschaften) 83. 

Filbig. Josef (Zahlvorstellung) | 
102. 

Fildes, Lucy G. (Gedächtnis bei 
Schwachsinnigen) 102; (Spie- 
gelschrift) 163. 


Fischer, Aloys (Emotionale Bil- 


Bi 16. 


- Arthur (Zahlsynopsien) 155. | 


— Josef (Schreib- und Zeichen- 
störung) 180. 
— S.. s. Kehrer, F. 33. 


— Siegfried, und Harry Hirsch- | 


berg (Eidetische Anlage) 154. 
Foote, John A. (Kindersterblich- 
keit) 117. 
Fordyce, 
choreatischer 


Kinder) 131. 


and Godfrey H. ! | Foucault (Kinderaussagen) 151. 
| Greene, James Sonnett (Sprac} 


Francke (Jugendstrafrecht) 443. 

— Herbert (Jugendgerichts- 
gesetz) 137; (Jugendrichter) 14. 

Franken, August (Tachistosko- 
pische Zahlbildversuche) 20. 


A. Dingwall (Fürsorge 
: Gray, P. L., and R. E. 


Freeman, Rowland G. (Thymus. 
vergrößerung I. II. III.) 116. 
Freiling, H. (Eidetische Ent- 
wicklungsphase) 13. 
Freudenthal. Gunnar (Pädago- 
gik der fremden Sprachen) 42. 
Freyd, Max (Introvertierte und 
Extrovertierte) 167. 

Friedjung, Josef K. 
pen) 176. 

Friedrich, Otto (Berufsberatuny ; 
203. 

Fries, Fr., s. Dresel, E. G. 7 

Fröbes, Joseph (Experimentelle 
Psychologie) 19. 

Frühwald s. Brunner 125. 

Fürst. Th. (Fortbildungsschul- 
jugend) 88. 

Fürstenheim (Geisteswissen- 
schaftliche und naturwissen- 
schaftliche Jugendsichtung) 
117. 

Fukuda, Tonan (Intelligenz japa- 
nischer Kinder) 94. 


(Milieutv- 


Galloway, Thomas W. 
schaftserziehung in 
Hygiene) 121. 

| Gellatly, Jessie H. (Encephaliti~ 
lethargica) 33. 

Re Eugene (Unzuchtsdelikt« ' 

Gnani Cesare (Soziale Ver- 
sorge) 60. 

Gibbons, R. A. (Geistig Minder- 


(Gesell- 
sozialer 


'  wertige) 64. 
| Giese, Fritz (Berufsberatur: 
| 203; (Berufspsychologische 


| Beobachtungen) 173; (Kinder- 

i psychologie) 173. 

| Gigon, Alfred (Konstitution) $3. 

‘Giovanni, Poggio (Infantilismu: 

| infolge Hypophysenstörung! 
117. 

! Giraud, G., s. Vedel, V. 112. 

; Gnerlich (Gesetz und Hilfsschulr) 

ı 195. 

. Goepfert, Hans Pl. Kongreß fur 

; Heilpädagogik) 46. 

| Göttler. Joseph (Geschichte der 
Pädagogik) 117. 

| 

‚ Gohde, G. 

nige) 195. 

‚ Good (Psychotherapeutische Me- 
en 168. 

' Gordon, R . G. (Nervöse Kinder! 
106. 


(Schwer Schwachsir.- 


| Grabe, E. v. (Fürsorgezöglins: 


und Prostituierte) 109. 
Marsde: 
(Intelligenzquotient) 94. 


störungen) 55. 

Greenleaf, Clarence A. (Freiluf: 
behandlung von Schulkinder 
201. 


Gregor, A. 
sorge) 353. 

— Adalbert (Anstaltsfürsorge- 
erziehung) 24; (Fürsorgeerzie- 
hung 404. 

Gröhl, Richard 
linge) 138. 

Grossmann, Emanuel, s. Cristof- 
fel, Hans 181. 

Grotjahn, Alfred (Soziale Patho- 
logie) 127. 

Guillery jr., H. (Encephalitis 
interstitialis neonatorum) 1. 
Gumpert, Martin (Erworbene 
Geschlechtskrankheiten) 187. 
(urewitsch, M. (Charakterver- 
änderung bei Hirnerkrankun- 

gen) 103. 
Guthrie, Edwin, s. Smith, Ste- 
venson 185. 


Häberlin, P. (Kinderfehler) 45. 

Haegi, Max (Erholungshaus 
Adetswil) 58. 

Hagemann (Gefängniswesen) 74. 

Halbertsma, T. (Mongoloide 
Idiotie) 29. 

Haloua-Dorange 
fürsorgerin) 78. 

Hamza, František (Sozialer Arzt) 
142. 

Hart, Carl (Status 
Iymphaticus) 90. 


(Gesundheits- 


thymico- 


Hartmann, Berthold (Kindlicher 


Gedankenkreis) 118. 
— E., s. Lantuejoul, P. 3. 
Hecker, Rudolf (Säuglingssterb- 
lichkeit) 132. 
Hegge, Thorleif G. (Komplex- 
bildung und Gedächtnis) 99. 
Heller, Richard (Hilfsschule) 122. ! 
— Th. (Motorische Rückstän- 
digkeit) 348. 
- Theodor (Anstaltserziehung 
Schwachsinniger) 193. 
Tellwig, A., s. Klose, H. 36. 
lenderson, D. K. (Pubertäts- 
psychose) 34. 
Iermann, Imre, und Alice Her- 
mann-C'ziner (Handeln) 158. 


- -Cziner, Alice s. Hermann, 
Imre 158. 

lerrmann, Walter (Strafvoll- 
zugsbeamte an Jugendge- 


fängnissen) 30. 

[esselbarth (Landeserziehungs- 
anstalt Bräunsdorf) 131. 
leupel, P. (Syndaktylie) 6. 
ewer, Evelyn E., s. Keene, M. 
F. Lucas 145. 

ilscher, Karl (Hilfsschüler) 53. 
irschberg, Harry, s. Fischer, 
Siegfried 154. 


iscock, Ira V., and W. T. Fales | 
auen 


(Schulgesundheitspflege) 66. 
odann, Max (Eugenik) 4. 


(Psychopathenfür- In A. F. (Erholung) 135. 


(Fürsorgezög- ! Hoffmann (Personalbogen) 195. 


211 


Kaufman, Iren (Syphilis und 
Schwachsinn) 178. 

Keene, M. F. Lucas, and Evelyn 
E. Hewer (Föten) 145. 

i Kehrer, F., und S. Fischer (Kli- 
nisch-experimentelle Patho- 

— Walter (Entwicklung) 85. i __ graphie) 33. 

Hohlfeld, Martin (Schularzt) 68. | Kelley, C. M. (Rechenstab für 

Holt, L. Emmett, and Helen L.! Ernährungszustand und In- 
Fales (Gesundheitszustand in | telligenzquotient) 91. 
einem Kinderheim) 61. Kjerrulf, Harald (Schülerunter- 

Homburger (Pyramidale und suchung) 150. 


Hoeffel, Gerald Norton (Hand- 

Umrißaufnahme) 145. 
Hönniger, Erich (Naturkund- 

licher Unterricht) 118. 





extrapyramidale Symptome) | Kistler, Helene (Pubertätswachs- 
111. tum) 85. 

— August (Heilpädagogische | Klatt, Fritz (Entwicklungspause) 
Beratungsstelle in Heidelberg) | 24. 


261. 
Hornek, Rudolf (Städtische Ju- 
gendfürsorge) 56: | wicklung) 167; (Psychanalyse) 
Hug-Hellmuth, Hermine (Fa- 166. 
milie und Entwicklung des | Kleinschmidt, H. (Habitus asthe- 


Klein (Personalbogen) 195. 
— Melanie (Libidinöse Ent- 





Kindes) 22. | nicus) 4; (Nervensystem und 
Hutt, R. B. W. (Schulpsychologe) | Pathologie des Kindesalters) 
45. 34 


Klose, H., und A. Hellwig (Schild- 
Jacobitz, E. (Sterblichkeit in | drüsenhyperplasie) 36. 
Oberschlesien) 8. Klotz, Max (Rachitis) 37. 
Jaensch, E.R. (Aufbau derWahr- |Knack, A. V. (Arbeitsfähigkeit 
nehmungswelt XII. XIV.) 96, ı der Erwerbslosen) 141. 


98, 154. .Knoop, Jeanne (Sexuelle Erzie- 
: Janet, Henri (Stoffwechsel) 145. | hung) 44. 
Jansen, Murk (Mißbildungen in ! Kochmann, R., s. Bergmann, E. 
Holland) 117. 40. 


Jeans, Philip C., and Sidney I. ! Kraepelin, Emil (Ermüdungs- 
Schwab (Neurosyphilis) 188. messung) 164; (Persönliche 

Jewett, Stephen Perham, and! Grundeigenschaften) 164. 
Phyllis Blanchard (Intelligenz- !— Ina (Ermüdungsmessung) 
prüfung) 160. 164 


Kramer, Franz (Psychopatholo- 
gie des Kindes- und Jugend- 
alters) 12. 

Krasnogorski, N. 
Hemmung) 3. 

— — I. (Konzentration in der 
Großhirnrinde) 18. 


Ingenieros, José (Biologische 
Psychologie) 151. 

Inhoven, W. (Sprech- und Lese- 
unterricht) 42. 

Johannessen, Christen (Ollier- 
sche Wachstumsstörung) 38. 

Johannsen, Nicolai (Spasmophi- 


(Schlaf und 


lie) 191. Kretzschmar, Johannes (Erzie- 
Jones, Alice M. (Begabte Kin- | hungswissenschaft) 41. 
der) 94. Krogh-Jensen, Georg (Koedu- 


— B. R., s. Bennet, H. S. 101. kation) 118. 


— Ernest (Jugendpsychologie) | Kroh, O. (Eidetische Anlage) 
173; (Sexualleben des Kindes) 63. 
18. — Oswald (Subjektive Anschau- 
— Robert (Krüppelpflege) 55. ungsbilder) 154. 
Isserlin (Heilpädagoigsche Aus- |Kroiß, K. (Bewegungsempfin- 
bildung) 346, 363. dung und Willenshandlung) 
Jull, Roberta H. M. (Kinder- 352. 


wohlfahrt in England) 133. Kronfeld, Arthur (Psychothera- 
pie) 167; (Seelisch Abnorme) 
172. 

| Kuenburg, M. Gräfin von (Hirn- 
geschädigte) 26. 

| Kurz, E. (Heilpädagogische Aus- 
bildung) 346. 

Kutzner, Oskar (Freiheit, Ver. 
antwortlichkeit und Strafe) 


Kafka, Gustav (Vergleichende 
Psychologie) 173. 

Kammel, Willibald (Berufsbera- 
tung) 70. 

Kantor, J. R. (Sozialpsychologie) 
152. 

Robert (Berufsberatung) | an 

205. 


14* 


Lämel, Carl 
schwellung) 191. 

Lämmel, Rudolf (Berufsbera- 
tung) 204. 

Laignel-Lavastine, M. 
hung gegen Gifte) 131. 

Lange, Cornelia de (Neuropathie) 
40. 

— Johannes (Familienforschung 
9; (Persönliche Grundeigen- 
schaften) 164. 

Langer, Hans (Säuglingstuber- 
kulose) 133. 

Langstein, Leo (Ernährung und 
Pflege) 131. 

Lantuejoul, P., et E. Hartmann 
(Plantalreflex) 3. 

Lauber, H. (Ärztliche Berufsbe- 
ratung) 202. 

Lauener, Paul (Gesundheit der 
Schulentlassenen) 198. 

Leaming, Rebecca E. (Irisch- 
amerikanische Kinder) 22. 

Leegaard, Frithjof (Schwerhörig- 
keit) 55. 

Leemann, Lydia (Sittliche Ent- 
wicklung) 23. 

Lefebvre (Tod 
Kindheit) 187. 

Legangneux s. Loir, A. 201. 

Lemaire, Henri (Geistesstörung 
bei Tetanie) 34. 

Lereboullet, P. (Hypophysäre 
Dystrophie) 36. 

Lenz, Fritz (Knaben-Übersterb- 
lichkeit) 82. 

Lermann, Hugo (Charakterver- 
änderung nach Encephalitis 
epidemica) 180. 

Lesemann, Gustav (Hilfsschule) 
53. 

Levy, Julius (Sterblichkeit und 
Geburtsleitung) 149. 

Leyen, Ruth v. der (Psychopa- 
thenfürsorge und Jugendwohl- 
fahrtspflegerinnen) 17; (Ver- 
wahrlosung) 376. 

Liertz, Rhaban (Psychoneurose) 
106. 

Lind, W. A. T. (Mongoloide Idio- 
tie) 179. 

Lipmann, 0., und H. Bogen (In- 
telligentes Handeln) 157. 

Lisser, Hans, and Charles E. 
Nixon (Geistiger Defekt und 
endokrine Dystrophie) 103. 

Liszt. E. v. (Berliner Jugendge- 
richtshilfe) 138. 

— Eduard von (Exhibitionismus) 
186. 

Lochner, Rudolf (Koinstruktion) 
120. 

Lochte (Gerichtliche und soziale 
Medizin) 79. 

Löwy, Ida (Schwer erziehbare 
Kinder) 193. 


(Schilddrüsen- 


(Erzie- 


in der ersten 


| 


212 


Loir, A., et Legangneux (Schüler- 
untersuchungen) 201. 

Loofs, Friedrich (Willensfreiheit 
beim Rechtsbrecher) 172. 

Looft, Carl (Rachitische Früh- 
geburt) 29. 

Lowden. Gladys L., s. Cornell, 
Ethel L. 96. 

Lowe, Gladys M. (Veränderungen 
nach Tonsillektomie) 181. 
Lund, David (Jugendasozialität) 

106. 
Lurie, Lewis A. (Psychopathen) 
185. 

— Louis A. (Anomale und psy- 
chopathische Kinder) 108. 
Lust, F. (Kinderkrankheiten) 40. 
Lyon, Erna (Heilpädagogisches 

Erholungsheim) 73. 


Maas, Otto (Zwergwuchs II.) 90. 
Macauley, Ella H. (Amerikani- 
sches Kinderwohlfahrtsamt) 

61. 

McCaulley, Selinda (Kinder, die 
Schulanforderungen nicht ge- 
nügen) 25. 

McCready, E. Bosworth (Konsti- 
tutionelle Minderwertigkeit) 6. 

McGrath, Marie Cecelia (Mora- 
lische Entwicklung) 174. 

Machaček, Johann (Erfindungs- 
versuche) 292. 

MacPhee, E. D. (Seelische Hy- 
giene) 199. 

Maier, Hans W. (Postencephali- 
tisch Geschädigte) 194; (Psy- 
chische Störungen) 33. 

Malischh K. (Taubstummen- 
Schreibleseunterricht) 351. 

Malsch, Fritz (Interesse für die 
Unterrichtsfächer) 159. 

Marouzeau, J. (Sprache) 162. | 

Marsden, R. E., s. Gray, P. L. 94. | 

Martini (Personalbogenfrage) 50. 

Michael, Joseph C. (Muskelatro- 
phie) 39. 

Miller, H. Crichton (Nervöse Kin- 
der) 183. 

Mino, P. (Erbliche Krankheiten) 
8 


Moede,W. (Psychologische Frage- 
und Beobachtungsbogen) 20. 

Moll, Albert (Berufswahl) 203. 

Montessori, Maria (Selbsterzie- 
hung) 44. 

Moore, Edna L. (Geschlechts- 
krankheiten-Bekämpfung) 130 

Morphy, Arthur J. (Gewerbe- 
schule für Epileptiker und 
Schwachsinnige) 123. 

Moses, J. (Soziale Anpassung) 


354. 
Mosse, Karl (Hypnose) 41. 
Mott, Frederick (Schwachsin- 


nige) 51. 


Mourgue, R. (Sonderklassen für 
Schwachsinnige) 194. 

Mouriquand, C., s. Weill, E. 35. 

Mühl, Anita M. (Automatisches 
Schreiben) 167. 

Münch, Hans (Berufsbildung und 
Lehrwerkstätten) 136. 


Naegele, Otto (Richter und Ju- 
gendlicher) 207. 

Naito, Inosaburo (Kleinhirn- 
Myelinisation) 1. 

Naville, F. (Diplegie und dys- 
thyreoide Störung) 191. 

Newman, George (Gesundheit 
des Schulkindes) 199. 

— Ruth (Amerikanisches Kin- 
derwohlfahrtsamt) 6l. 

Nicholls, Edith E. (Intelligenz 
urd Unterernährung) 177. 

Nicolaeff, Léon (Hunger und Or- 
gane) 150. 

Nissen, Karl (Thomsensche 
Krankheit) 38. 

Nixon, Charles E., s. Lisser, Hans 
103. 

Nobecourt (Syphilis und Hypo- 
trophie) 188. 

Nobel. Edmund (Anthropome- 
trische Untersuchungen) 7. 
— — und Alexander Rosen- 
blüth (Schilddrüsenvergröße- 

rung) 36. 

Nohl, Herm. (Sozialpädagogen) 5. 
Nony, Camille (Körperliche Be- 
gleiterscheinungen der Ge- 

mütsbewegungen) 17. 
Nyssen, R. (Intelligenzprüfung) 
161. 


Ohrloff,Ernst (Fürsorgezöglinge 
108. 

Orth, Hermann (Taubstumm- 
heit) 148. 

Osgood, Robert B. (Hauspflege- 
verein) 78. 

Osman, A. A., s. Cameron, Hec- 
tor Charles 28. 

Oxenius, R. (Kommunalarzt) 67. 


Palmer, Joseph C. (Jugendwohl- 
fahrt) 136. 

Pavlov, I. P. (Hemmung, Hv- 
pnose und Schlaf) 146. 

Pehu, M. (Mongolismus) 29. 

Peiper, Albrecht (Turmschädel) 
6 


Penon; K. (Pubertät) 85. 
Pestalozza, A. Graf v. (Wunder- 


kind) 93. 
Pfister, Oskar (Psychanalyse) 21. 
Pfuhl, Wilhelm (Rassen- und 
Konstitutionsforschung) 5. 


Piaget, Jean (Symbolisches und 
kindliches Denken) 14. 

Pinsent, Ellen F. (Geistige Min- 
derwertigkeit) 63. 


213 


Pirquet, C. (Anthropometrische | Rosenthal, O. (Welanderheime) 
199. 


Untersuchungen) 86. 

Pisani, Domenico (Masturbation) 
114. 

Poffenberger, A. T., and Flo- 
rence L. Carpenter (Charakter- 
eigenschaften und Schullei- 
stungen) 159. 

Poggiolini, Oreste (Blindheit) 53. 

en (Verwahrungsgesetz) 


Pophal, R. (Moral insanity) 30. 

Potts, William A. (Geistige Min- 
derwertigkeit) 62. 

Powlison, Charles F. (Seelische 
Hygiene) 59. 

Prantl, Rudolf (Kinderpsycholo- 
gie) 101. 

Preyer, W. (Seele des Kindes) 91. 


Quirin (Rachitis) 192. 


Raatz (Schwachsinnige in der 
Hilfsschule) 454. 

Radl, Hans (Dissozialität Ver- 
krüppelter) 275. 

Raecke (Psychopathien und De- 
fektpsychosen) 27. 

Ranschburg, P. (Psychopatholo- 
gie des Rechnens, Lesens und 
chreibens) 351. 

Ratner, Bret, s. Carr, Walter 
Lester 133. 

Redeker, Franz (Industrielle 
Wohlfahrtspflege) 197. 

Rehberg (Schularzt) 69. 

Rehm (Verwahrlosung) 47. 

Reiche, A. (Neuralgie) 39. 

Reichel, H. (Gesundheit) 64. 

Reichenbach, E. (Sprachfehler) 
350. 


Reijs, J. H. O. (Körperliche Er- 
Are 43. 

Rein, Wilhelm (Kunst und Schu- 
le) 118. 

Reinfelder, D. 
schule) 348. 

Reinhold, Maurice (Panasthenie) 
106. 

Réquin, Jeanne, s. Collin, André 


33. 
Riebesell (Säuglingssterblichkeit) 
132. 


Roesle, E. (Gesundheitsministe- 
rien) 79. 

Rössle, Robert (Wachstum und 
Altern) 84. 

Rombouts, J. M. (Männlichkeits- 
komplex) 31. 

Rondoni, P. (Konstitution) 84. 

Roos, J. R. B. de, und G. L. 
Suermondt (Kriegskriminali- 
tät) 138. 

Rose, Heinrich (Berufsberatung) 
71, 136. 

Rosenblüth, Alexander, s. Nobel, 
Edmund 36. 


(Schwerhörigen- 


aeae, a a. e eE e R TE e e EEE EEE 


— Curt (Torsionsdystonie und 
Athetose double) 112. 

Rott (Säuglings- und Kleinkin- 
derpflegeanstalten) 65. 

Rowell, Hugh Grant (Schulpfle- 
gerin) 70. 

Runge, Ella, s. Engel, St. 4. 

Rupp, Hans (Optische Analyse) 
100 


Rutishauser (Landeserziehungs- 
heime) 197. 


Saer, D. J. (Zweisprachigkeit und 
Intelligenz) 96. 

Sand, Knud (Hermaphrodismus) 
91. 

Schacht, Luise(Mütterabende) 78. 

Schär, Alfred (Tastsinn und 
Lautsprache) 125. 

Schalk, Hertha (Vererbung und 
Erziehung) 147. 

Schauerte, Otto (Hermaphrodi- 
tismus) 151. 
Scheiblauer, M. (Rhythmische 

Gymnastik) 44 

Scherb, Richard (Orthopädische 
Leiden) 56. 

Schmitt, Erich (Fürsorgearzt) 65. 

Schnaubelt, Johann (Schulfähig- 
keit) 134. 

Schnitzer, H. (Seelisch Abnorme 
und Gesetzgebung) 354. 

Schröder (Säuglingssterblich- 
keit) 133. 

Schubert, Karl (Psychotechnik 
und Berufsberatung) 137. 
Schulte, Rob. Werner (Psycholo- 
gischer Personalbogen) 20. 
Schulz, Heinrich (Mutter als Er- 

zieherin) 198. 

Schwab, Sidney J., 8. 
Philip C. 188. 

Schwartz (Fürsorgezöglinge) 139, 
314. 

Scripture, E. W. (Stottern) 127. 

Shand, Alexander F. (Argwohn) 
166. 

Sherman, Mandel, and Bert I. 
Beverly (Intelligenzverminde- 
rung nach Encephalitis) 179. 

Shrubsall, F. C. (Kriminalität 
und geistiger Defekt) 104. 

Siegmund-Schultze, F. (Psycho- 
pathenfürsorge) 1. 

Siemens, Hermann Werner (Ver- 
erbungspathologie) 81. 

Skerrett, Helen Squier (Erzieh- 


Jeans, 


22. 


Smith, Frank (Zweisprachigkeit) | | 
42. 
— Richard M., and Helen J. | Többen, 


Zillmer (Schulgesundheits- 
pflege) 135. 


barkeit eines Zweijährigen) | Tjaden 
132. 


Smith, Stevenson, and Edwin 
Guthrie (Exhibitionismus) 185. 

Sollier, Paul (Onanie und Epi- 
lepsie) 114. 

Spalding, Alfred Baker (Neuge- 
borenensterblichkeit und müt- 
terliche Infektion) 149. 

Speidel, Carl Caskey, s. Bean, R. 
Bennett 6. 

Spielrein, Sabine (Kindliches 
Denken) 15. 

Spitzy, Hans (Krüppelpflege) 55. 

Staehelin, J. E. (Postencephaliti- 
sche Affektstörung) 180. 

Stalnaker, Elizabeth M. (Anthro- 
pometrische Untersuchungen) 


86. 

Stangenberg, E. (Schulärztliche 
Untersuchung) 201. 

Stefko, W. H. (Hungern und 
Wachstum) 87. 

Steiger, Emma (Wohlfahrtspfle- 
ge) 128. 

Steinlin (Kropfbekämpfung) 189. 

Stephani (Schülergesundheitsbo- 
gen) 70. 

Stern, Erich (Intelligenzprüfung) 
17; (Jugendpsychologie) 10; 
(Soziales Verhalten des Kin- 
des) 22. 

— F. (Encephalitis epidemica) 
28. 


— William (Psychoanalyse) 102. 

Stoddart, W. H. B. (Kriminalität 
und geistiger Defekt) 104. 

Strohmayer, Wilhelm (Psycho- 
pathologie des Kindesalters) 
25. 

Stumpf, C. (Singen und Sprechen) 

146. 


Suermondt, G. L., s. Roos, J. R. 
B. de 138. 

Sundwall, John (Schulhygiene) 
135 


Szondi, L. (Schwachsinn und 
innere Sekretion) 26. 


Talbot, Fritz B. (Senilität) 37. 

Tezner, Otto (Liquor bei Syphilis 
congenita) 189. 

Theissen, A. (Gedächtnis bei 
Schwachsinnigen) 198. 

Thiele (Beruf und Entwicklung) 
130 

Thomson, Godfrey H., s. Duft, 
James F. 162. 

Thumm, M. (Psychiatrische Be- 
ratungsstelle beim Jugendamt) 
99. 

(Säuglingssterblichkeit) 

Tigerstedt, Robert 

Schüler) 93. 

Heinrich 

sung) 185. 


(Begabte 


(Verwahrlo- 


| Tompkins, Ernest (Stottern) 126. 


— 214 — 


Tonina, Teodoro A. (Ernährung | Voorthuysen, A. van (Unterricht | Wilker, Karl (Gefängniswesen) 





des Schulkindes) 64. für Schwachsinnige) 52. 74. 

Tournay, Auguste (Sensitivo- | Vossen (Bewahrungsgesetz für | Willich, Ernst (Schwachsinnigen- 
motorische Entwicklung) 177. | Fürsorgeerziehung) 73. Erziehung) 53. 

Trigueros, G. (Kinderschutz) Wilsing, Adelheid (Kinder min- 


66. Wagner. Julius (Psychische | derjähriger Mütter) 149. 
Troll, Max (Einheitsschule) 121. Strukturen) 12. Wimmenauer (Rachitis) 38. 
Tuch (Dreiwortmethode) 161. |— -Jauregg (Kropf) 115. Winch, W. H. (Denkvermögen 
Tugendreich, G. (Säuglingstur- | Wallin, J. E. Wallace (Gewerb- | bei Schulkindern) 169. 

nen) 151. liche Arbeit von Hilfsschülern) | Winslow, Yvonne E. (Psvcholo- 

194. | gie und Erziehung) 169. 


Uhlirz, Rudolf (Jugendfürsorge | W e (Schülerpersön- | W Te a a nn und 

on ei 192. | \Vegner, Arthur (Englische Straf- | Wohlgemuth, A. (Gefühlsbeto- 
i j gesetze) 138. ‚ nung) 15%. 

Wehrlin, Kurt (Eugenetik) 84. | | Wolfer, Leo (Körperliche Ent- 

Valentiner, Theodor (Eignungs- | Weigl, Fr. (Anstalten für) wicklung) 86; (Kropf bei Taub- 





prüfungen industrieller Lehr- | Schwachsinnige) 347. stummen) 116. 

linge) 173. Weil, Arthur (Innere Sekretion) | Wotzilka, Gustav (Hörprüfung) 
Vandervelde, E. (Anomale und ! 90. 124. 

Gesetzgebung) 208. Weill, E., C. Mouriquand et A. | Wynne. Fred E. (Säuglingssterb- 


Vedel, V., et G. Giraud (Torsion- Dufourt (Infantile Dystrophie) lichkeit) 65. 
spasmus nach Encephalitis) | 35. 


112. Weiß, Georg (Volkserneuerung) | Ylppö, Arvo (Intelligenzstörung 
Vermeylen, G. (Motorische Debili- | 45. ; nach Intoxikation) 111. 
tät und Schwachsinn) 181. Weisser, Richard (Rechenunter- | 
Villiger,E. (Schwerhörigenschule) | richt) 43. ' Zade, Martin (Blindenfürsorge' 
124. Welde (Schularzt und Verer- 163. 
Villinger (Psychopathie und Epi- ! bungslehre) 8, 69. Zawjaloff, E. N. (Experimentelle 
lepsie) 354. ; Wells, George R. (Intelligenzprü- Psychologie) 19. 
Vipond, A. E. (Blutdruck und ' fung) 161. Zappert, J. (Neurosen\ 30. 
Pubertät) 3. Wheatley, James (Kindersterb- | Ziehen, Th. (Wesen der Bean- 
Vliet, W. C. van (Handswerksun- | lichkeit) 89. lagung) 92. 
terricht) 43. Wheeler, Olive A. (Literarisches | Zillmer, Helen J., s. Smith, Ri- 
Voigtländer, E. (Fürsorgezög- ' Werten) 15. chard M. 135. 
linge) 353. 'Whittell, Florence, s. Brown, | Zulliger, Hans (Scelenleben der 


— Else (Fürsorgezöglinge) 110.. Warner 101. Schuljugend) 121. 


Sachregister. 
(Bei den halbfett gedruckten Seitenzahlen handelt es sich um Originalarbeiten.) 


Abnorme, Erziehung (Decroly) 122. 

--, Reichsverband der katholischen Anstalten 
Deutschlands für 465. 

-—-, seelisch, und Gesetzgebung (Schnitzer) 354. 

—. soziale Anpassung bei (Moses) 354. 

Absehen bei Schwerhörigen (Brauckmann) 124. 

Abstraktionsproblem (Gräfin v. Kuenburg) 26. 

Ärztliche Untersuchung und Beobachtung des 
Jugendlichen nach dem Reichsjugend wohl- 
fahrtsgesetz 460. 

Affektstörung nach Encephalitis epidemica (Stae- 
helin) 180. 

Akklimatisation (Balfour) 5. 

Akromegalie (Weill, Mouriquand u. Dufourt) 35. 

Alkoholismus und Familie (Elster) 4. 

Altern und Wachstum (Rössle) 84. 

Angst, kindliche, Ursprung (Rombouts) 31. 

Anlage und Bildungsmöglichkeit beim Hilfsschü- 
ler (Bacher) 349. 

Anomale, Behandlung (Lurie) 105. 

-- und Gesetzgebung (Vandervelde) 208. 

— in Kindergärten und Vorschulen (Dealey) 200. 

Anpassung, soziale, bei Abnormen (Moses) 354. 

Anschauungsbilder bei Jugendlichen (Kroh) 154. 

Anstalt-Erziehung bei Schwachsinnigen (Heller) 
193. 

— -Fürsorgeerziehung, Ausbildung zur (Gregor) 
24. 


— für postencephalitisch Geschädigte (Maier) 194. | 


-— für Schwachsinnige (Weigl) 347. 

Anthropologische Messungen an Jugendlichen 
(Bürgers u. Bachmann) 87; (Pirquet) 86; 
(Stalnaker) 86. 

-— Untersuchungen an Wiener Jugendlichen (No- 
bel) 7. 

Aphasie, Beobachtungsvorgänge bei (Eliasberg) 
187. 

—, Denken bei (Gräfin v. Kuenburg) 26. 

Arbeitsfähigkeit, beschränkte (Knack) 141. 

Arbeitsgemeinschaft des Thüringer Wirtschafts- 
ministeriums und Reichsjugendwohlfahrts- 
gesetz 196. 

Arbeitskolonien für Anomale (Mark-Bergli) 48. 

Arbeitsschulen in Sowjetrußland 196. 

Argwohn (Shand) 166. 

Asozialität, Ursachen (Lund) 106. 

Asthenie (Kleinschmidt) 4. 

Athetose double und Torsionsdystonie, Differen- 
tialdiagnose (Rosenthal) 112. 

Auge und Gehirn (Bing) 110. 

Ausbildung zur Anstaltsfürsorgeerziehung (Gre- 
gor) 24. 

--, heilpädagogische (Isserlin) 346, 363. 

--, heilpädagogische, von Theologen (Kurz) 346. 

--, heilpädagogische, in Ungarn (Eltes-Ellenbach) 
346. 

— in Jugendkunde und pädagogischer Psycho- 
logie für Lehrkräfte 460. 


Ausbildung der Jugendrichter (Francke) M. 

— für Jugendwohlfahrt (Siegmund-Schultze) 1. 
der Jugendwohlfahrtspflegerinnen undPsycho- 
pathenfürsorge (v. d. Leyen) 17. 

‚ Kursus über Jugendfürsorge und Gefängnis- 
wesen 460. 
für Neuropsychiatrie (De Sanctis) 79. 
in Psychopathenfürsorge Hamburg 256. 
für Psychopathologie (Kramer) 12. 
der Sozialpädagogen (Nohl) 5. 

-— von Strafvollzugsbeamten an Jugendgefäng- 

nissen (Herrmann) 30. 
Auskunftsstelle und Beratungsstelle für Schwach- 
sinnige in der Tschechoslowakei (Roller) 53. 
Aussagen, Kinder- (Foucault) 151. 


Babinski Reflex nach Geburt (Lantugjol u. Hart- 
mann) 3. 

Beanlagung, Wesen der (Ziehen) 92. 

Begabte, Auslese und Beobachtungsbogen 
(Schulte) 20. 

—, künstlerisch, Berufsberatung (Dannenberg) 
137. 

— Schüler, spätere Entwicklung (Tigerstedt) 93. 

—, Untersuchungen (Jones) 94. 

Begabung, pädagogische, bei Schwachsinnigen 
(Descoeudres) 181. 

Beobachtungsbogen und Begabtenar:slese (Schulte) 
20. 


— und Fragebogen in der Psychologie (Moede) 
20 


Beobachtungsvorgang, natürlicher, bei Kindern, 
Erwachsenen, Aphatikern und Dementen 
(Eliasberg) 18%. 

Beratungsstelle, heilpädagogische, in Heidelberg 
(Homburger) 261. 

— für schwererziehbare Kinder (Löwy) 193. 

—, psychiatrische, beim Jugendamt (Thumm) 99. 

Berufsamt, psychologische Abteilung (Bogen) 204. 

Berufsarbeit und Entwicklung (Thiele) 130. 

Berufsausbildung und Lehrwerkstätten (Münch) 
136. 

Berufsberatung, ärztliche (Lauber) 202. 

—, amtliche oder private (Friedrich) 203. 

künstlerisch Begabter (Dannenberg) 137. 

‚in Landschulen (Eaton) 205. 

Organisation (Rose) 136. 

Organisation in Österreich (Kammel) 70. 

pädagogisch-psychologische (Giese) 203. 

psychologische, und Intelligenzprüfung (Läm- 

mel) 204. 

und Psychotechnik (Schubert) 137. 

und Selbstbericht (Rose) 71. 

‚ Zentralstelle in Österreich für 205; (Kauer) 

205. 

Berufspsychologische Beobachtungen (Giese) 173. 

Berufswahl (Moll) 203. 

Besserungsanstalten, Erziehung in (Aichhorn) 139. 


+ “ + -+ 


Bewahrungsgesetz für Fürsorge-Erziehung (Vos- 
sen) 73. 

Bewegungsempfindung und -Vorstellung und Wil- 
lenshandlung (Kroiß) 352. 

Bildung, emotionale (Fischer) 16. 

Bildungsmöglichkeit und Anlage beim Hilfsschüler 
(Bacher) 349. 

Biologie und Wahrnehmungslehre (Jaensch) 96, 
98. 

Blinde, Fürsorge (Bürklen) 54. 

— -Fürsorge und Blindenwesen (Zade) 163. 

—, staatliches Bildungswesen für (Altmann) 55. 

—, Unterricht 55. 

—, Wassermannsche Reaktion bei (Boas) 54. 

Blindheit (Poggiolini) 53. 

—, Verhütung 53. 

Blutdruck und Pubertät (Vipond) 3. 


Charakter-Störung und Intelligenzverminderung 
nach Encephalitis epidemica (Sherman u. Be- 
verly) 179. 

— -Veränderung nach Encephalitis epidemica 
(Gellatly) 33; (Clay) 103; (Lermann) 180. 

— -Veränderung nach Gehirnerkrankung (Gure- 
witsch) 103. 

— weiblicher Fürsorgezöglinge (Voigtländer) 353. 

Charaktereigenschaften und Schulleistungen (Pof- 
fenberger u. Carpenter) 159. 

Charakterlehre (Kronfeld) 167. 

Chorea, akute, Schädigungen bei 113. 

—, Fürsorge bei (Fordyce) 131. 


Darstellung, sprachliche (Bühler) 163. 

Debile, psychologische Untersuchungen (Zawja- 
loff) 19. 

Debilität, motorische, und Schwachsinn (Vermey- 
len) 181. 

Defekt, ethischer, nach Encephalitis epidemica 
(Böhmig) 103. 

—, geistiger, und endokrine Dystrophie (Lisser 
u. Nixon) 103. 

—, geistiger, Gesetzgebung für (Wallin) 194. 

—, geistiger, und Kriminalität 104; (Burt) 104; 
(Shrubsall) 104; (Stoddart) 104. 

—, geistiger, soziales Problem 105. 

— -Heilung bei Encephalitis epidemica (Stern) 28. 

— -Psychose und Psychopathie (Raecke) 27. 

Degeneration, Heredo-, und Dementia praecox 
(Alford) 110. 

Dementia, Beobachtungsvorgänge bei (Eliasberg) 
186. 

— -Forschung und intellektuelle Vorgänge (Elias- 
berg) 157. 

— praecox und Heredodegeneration (Alford) 110. 

Denken, kindliches, und bei Sprachstörungen 
(Spielrein) 15. 

—, symbolisches und kindliches (Piaget) 14. 

Denkvermögen bei Schulkindern, Methode der 
Verbesserung (Winch) 169. 

Diabetes (Brelet) 37. 

Diplegie, kongenitale, und dysthyreoide Störung 
bei Hilfsschülern (Naville) 191. 

Disposition, Begriffserklärung (Siemens) 81. 

Dissozialität Verkrüppelter (Radl) 275. 


216 


Dystrophie, endokrine, und konstitutionelle Min- 
derwertigkeit (Mc Cready) 6. 
—, infantile ( Weill, Mouriquand u. Dufourt) 35. 


Eidetische Anlage (Kroh) 64. 

— Anlage bei Jugendlichen (Fischer u. Hirsch- 
berg) 154. 

Eignungsprüfung industrieller Lehrlinge (Valen- 
tiner) 173. 

Einheitsschule als Erziehungs-, Heimats- und Ar- 
beitsschule (Troll) 121. 

Elternhygiene (Hodann) 4. 

Emotionale Bildung (Fischer) 16. 

Encephalitis, chronische Manie nach (Benon) 110. 

epidemica, Affektstörung nach (Staehelin) 

180. 

epidemica, Charakterveränderung nach (Gel- 

latly) 33; (Clay) 103. 

epidemica, Defektheilung bei (Stern) 28. 

epidemica, ethische Defekte nach (Böhmig) 

103. 

epidemica-Geschädigte, Anstalt für (Maier) 

194. 

epidemica und Heilpädagogik (Isemann) 46. 

epidemica, Intelligenz- und Charakterstörung 

nach (Sherman u. Beverly) 179. 

epidemica, psychische Folgeerscheinungen 

nach (Collin u. Requin) 33. 

epidemica, Psychopathie nach (Lermann) 180. 

interstitialis neonatorum (Guillery jr.) 1. 

—, Torsionsspasmus nach (Vedel u. Giraud) 112. 

Endokrine Drüsen und geistiger Defekt (Lisser 
u. Nixon) 103. 

— Dystrophie und konstitutionelle Minderwertig- 
keit (Mc Cready) 6. 

Entwicklung, geistige, in den ersten Lebensjahren 
(Preyer) 91. 

—, geistige, und Zweisprachigkeit (Smith) 42. 

— und Hungern (Stefko) 87. 

— des Kindes in der Familie (Hug-Hellmuth) 
22. 

—, körperliche und geistige, im 1. und 2. Lebens- 
jahr (Engel u. Runge) 4. 

—, körperliche, Gesetze (Berger) 86. 

—, körperliche, bei Schulkindern (Wolfer) 86. 

—, libidinöse, und Schule (Klein) 167. 

—, moralische (Mc Grath) 174. 

— und Pathologie (Hoffmann) 85. 

— -Pause und Erziehung (Klatt) 24. 

—, sensitivo-motorische (Tournay) 177. 

—, sittliche, beim Schulkind (Leemann) 23. 

Entwicklungsphase, eidetische, räumliche Wahr- 
nehmung in (Freiling) 13. 

Entwicklungspsychologie (Busse) 160. 

— beim Handeln (Hermann u. Hermann-Cziner) 
158. 

Enuresis, Behandlung (Behm) 186. 

— und Schlaf (Courtin) 114. 


— 


—— 


! —, soziale Seite der (Behm) 1886. 





Epilepsie und Onanie (Sollier) 114. 
— und Psychopathie (Villinger) 354. 


' Epileptiker, Gewerbeschule für (Morphy) 123. 


Erblichkeit s. Vererbung. 


! Erblindung, Verhütung 49. 


Dreiwortmethode als Kombinationsprobe (Tuch) | Erfahrung, psychische, bei Mc Dougall (Calkins) 
11 


161. 





217 


Erfindungsversuche von Knaben, psychologische | Fürsorge für Abnorme, Resolution des Reichs- 


Studie über (Machatek) 292. 

Erholung für Frauen (Hodgkins) 135. 

— -Fürsorge, Kinder-, Beiträge zur 465. 

Erholungshaus Adetswil, Kurerfolge (Haegi) 58. 

Ermüdungsmessung beim Kinde (Kraepelin) 164. 

Ernährung und Pflege des älteren Kindes (Lang- 
stein) 131. 

— des Schulkindes (Tonina) 64. 

Erziehbarkeit des Zweijährigen (Skerrett) 22. 

Erziehung abnormer Kinder (Decroly) 122. 

— in Besserungsanstalten (Aichhorn) 139. 

Blinder (Zade) 179. 

und Entwicklungspause (Klatt) 24. 

in der Jugendfürsorge 55. 

—, körperliche (Reijs) 43. 

—, mütterliche (Schulz) 198. 

—, musikalische, und Grammophon (Bavin) 43. 

— und Psychologie (Winslow) 169. 

—, Schul-, und Dichtung (Fischer) 16. 

— Schwachsinniger (Fernald) 122. 

—, Selbst-, des Kindes (Montessori) 44. 

—, sexuelle (Knoop) 44. 

— und Vererbung (Schalk) 147. 

— und Volkserneuerung (Weiß) 45 

Erziehungsanstalten, sächsische, neurologisch- 
psychiatrische Untersuchung an Fürsorge- 
zöglingen (Schwartz) 314. 

Erziehungshilfe, weibliche, für männliche Zög- 
linge (Ammann) 77. 

Erziehungsvereinigung, Weltbund der 45. 

Erziehungswissenschaft (Kretzschmar) 4l. 


Erziehungswissenschaftliche Abteilung an der| —, Krüppel-, 


Universität Jena 140. 

Eugenetik, praktische Anwendung (Wehrlin) 84. 

Exhibitionismus (Smith u. Guthrie) 185; (v. 
Liszt) 186. 

Expressionistische Komponente in Bildnereien 
von Psychopathen (Cristoffel u. Großmann) 
181. 

Extrovertierte (Freyd) 167. 


Familien, Entwicklung des Kindes in (Hug-Hell- 
muth) 22. 

— -Erziehung bei Schwachsinnigen (Heller) 193. 

— -Fürsorge (Aschenheim) 129. 

—, kinderreiche, Fürsorge in Frankreich 129. 

—, Stellung des Kindes in (Chadwick) 89. 

Fernsprechwesen, berufspsychologische 
achtungen (Giese) 173. 

Foetus, Untersuchungen an (Keene u. Hewer) 145. 


me a e a \ 


verbandes der katholischen Anstalten Deutsch- 
lands betr. 465. 

—, Blinden- (Bürklen) 54; (Zade) 163. 

— bei Chorea (Fordyce) 131. 

— -Erziehung, Anordnung durch das Jugend- 
gericht 462. 

— -Erziehung, ärztliche Untersuchung der Zög- 
linge 59. 

— -Erziehung, Bewahrungsgesetz für (Vossen) 
73. 

— -Erziehung, Organisation (Gregor) 47. 

— -Erziehung, Probleme und Aufgaben (Gregor) 
404. 

— -Erziehung für Psychopathen (Gregor) 353. 

—, Familien- (Aschenheim) 129. 

—, Gefährdeten-, im Reichsjugendwohlfahrts- 
gesetz (Behrend) 206. 

—, Gesundheits-, Berufsschulung der Wohlfahrts- 
pflegerin in 257. 

—, Gesundheits-, und Planwirtschaft 56. 

—, Gesundheits-, und Waldschulen (v. 
201. 

—. Jugend-, gesundheitliche, auf dem Lande 
(Uhlirz) 57. 

—, Pe Gesundheitspflege und Erziehung in 


Brunn) 


—, ee , städtische (Hornek) 56. 

—, Jugend-, in der Tschechoslowakei (Roller) 54. 

—, Kindererholungs-, Beiträge zur 465. 

— kınderreicher Familien in Frankreich 129. 

—, Krüppel- (Scherb) 56. 

in Deutschland (Biesalski) 55. 

—, Krüppel-, Gesetz betreffend 336. 

—, Krüppel-, Gesetz betreffend Anstaltsbehand- 
lung 77. 

—, Krüppel-, in Großbritannien (Jones) 55. 

—, Krüppel-, in Wien (Spitzy) 55. 

— in Preußen 80. 

—, Psychopathen- (Lurie) 105. 

—, Psychopathen-, Ausbildung zur (Siegmund- 
(Schultze) 1. 

—, Psychopathen-, Ausbildung in Hamburg 256. 
—, Psychopathen-, und Ausbildung der Jugend- 
wohlfahrtspflegerinnen (v. d. Leyen) 17. 

—, Psychopathen-, vom Jugendamt Berlin 58. 
—, Psychopathen-, Kursus in Münster für 159. 
—, Psychopathen-, in Mannheim (Moses) 155. 


Beob- | —, Psychopathen-, 3. Tagung 251. 


—, Psychopathen-, Tagung in Heidelberg 339. 
—, Psychopathen-, in Wohlfahrtsschulen 43. 


Fortbildungsschuljugend nach dem Kriege (Fürst) | — bei Säuglingstuberkulose (Langer) 133. 


88. 

Fragebogen und Beobachtungsbogen in der Psy- 
chologie (Moede) 20. | 

—, individualpsychologischer 251. 

Frauenschule, soziale, ErlaßB über Wohlfahrts- 
pflegerinnen 38. 

Freiluftbehandlung von Schulkindern (Greenleaf) | | 
201. 

Freiheit, Verantwortlichkeit und Strafe (Kutzner) | 
71. 

Frühgeburt und Rachitis (Looft) 29 

—, Schicksal (Brandt) 148. 

Führereigenschaften und Intelligenz (Bennett u. 
Jones) 101. 








. —, sächsischer 


—, Schulkinder- (Corvey) 66. 

— für Schwachsinnige (Fernald) 122. 

Fürsorgearzt, Aufgabe und Grenzen (Oxenius) 67. 

—, erzieherische Aufgaben (Schmitt) 65. 

Fürsorgepflicht, Lehrgang 159. 

Fürsorgewesen, Vorlesungen und Übungen 36. 

| Fürsorgezöglinge, psychiatrischer Facharzt für 
42. 


—, psychiatrische Untersuchung (Schwartz) 139. 
Erziehungsanstalten, neurolo- 
gisch-psychiatrische Untersuchung (Schwartz) 
314. 


i —, späteres Schicksal (v. Grabe) 109. 


—, Selbsterziehung der (Gröhl) 138. 


Fürsorgezöglinge, Verwahrlosung bei (Ohrloff) 
108; (Voigtländer) 110. 

—, weibliche, Psychologie und Charakter (Voigt- 
länder) 353. 

Funktion- Aufbau und Gedächtnis (Wittmann) 156. 


Geburt-Beschränkung (Ferch) 142. 

— -Rückgang in Preußen 80. 

— -Verletzung, Säuglingssterblichkeit 
(Foote) 117. 

— -Zahl und soziale Lage (Dresel u. Fries) 7. 

Gedächtnis und Funktionsaufbau (Wittmann) 156. 

— und Komplexbildung (Hegge) 99. 

-Mehrleistung bei Schwachsinn (Theissen) 198. 

-Messung (Brown) 157. 

bei Schwachsinnigen (Fildes) 102. 

Gedankenkreis, kindlicher, Analyse (Hartmann) 
118. 

Gefährdeten- Fürsorge im Reichsjugendwohlfahrts- 
gesetz (Behrend) 206. 

Gefängnisbeamte, pädagogische Ausbildung (Herr- 
mann) 30. 

Gefängniswesen 

(Wilker) 74. 
. Kursus über 460. 


infolge 


in England (Hagemann) 74; 





Gefühlsbetonung und Merkfähigkeit (Wohlge- 
muth) 157. 

Gehirn und Auge (Bing) 110. 

— -Erkrankung, Charakterveränderung nach 


(Gurewitsch) 103. 
— -Verletzung, Denken bei (Gräfin v. Kuenburg) 
26. 

Gieisteswissenschaftliche und naturwissenschaft- 
liche Jugendsichtung (Fürstenheim) 117. 
Geistige Veränderung nach Tonsillektomie (Lowe) 

181. 
Gemeinschaft und seelisch Abnorme(Kronfeld)172. i 
(Gemütsbewegung, körperliche Begleiterscheinun- ı 
gen (Nony) 17. 
Genealogische Studie (Lange) 9. 
Geschlechtertrennung und -Vereinigung in der! 
Schule (Lochner) 120. 
Geschlechtskrankheiten, Bekämpfung in Ontario: 
(Moore) 130. 
— -Bekämpfung, Reichsgesetz zur 61. 
—, erworbene, Zunahme (Gumpert) 187. | 
Gesellschaftserziehung in sozialer Hygiene (Gallo- 
way) 121. 
Gesetz und Anomale (Vandervelde) 208. 
— betreffend Anstaltsbehandlung der Krüppel 
ii. 
betreffs Berufsschulung der Wohlfahrtspflege- 
rin in Gesundheitsfürsorge 257. 
‚ Bewahrungs-, für Fürsorgeerziehung (Vossen) 
73. 
für geistig Defekte (Wallin) 194. 
. Jugendgerichts- (Doerr) 75; (Francke) 137. 
Jugendgerichts-, Anordnung der Fürsorge- 
erziehung 462. 
‚ Jugendgerichts-, und Jugendgerichtshilfe ( En- | 
gelmann) 207. 
‚ Jugendstrafrecht, neue Bestimmungen ' 
(Francke) 443. 
‚ Krüppelfürsorge- 336. 
betreffs Personalabbau in der Wohlfahrtspflege 
232. 





218 


Gesetz, Reichs-, zur Bekämpfung der Geschlechts- 
krankheiten 61. 
Reichs-, für Jugendwohlfahrt 74. 


bd 


—, Reichsjugendgerichts- und Reichsjugend- 
wohlfahrts-, seelisch Abnorme im (Schnitzer: 
354. 


. Reichsjugendwohlfahrts-, ärztliche Unter- 
suchung und Beobachtung des Jugendlichen 
460. 

‚ Reichsjugendwohlfahrts-, Gefährdeten-Für- 

sorge im (Behrend) 206. 

Reichsjugendwohlfahrts- und Jugendge- 

richts-, und Hilfsschule (Gnerlich) 195. 

Reichsjugendwohlfahrts-, und ländliche Wohl- 

fahrtspflege 195. 

Reichswohlfahrts- (Christian) 130. 

—, Säuglingspflegerinnen-, oldenburgisches 463. 

—, Schul-, in Italien 201. 

—, Straf-, englisches (Wegner) 138. 

—, Verwahrungs- (Polligkeit) 75. 

Gesichtswahrnehmungen, Lehre von (Jaensch) 96. 

Gestalt. scheinbare, eidetisches Phänomen (Frei- 

ling) 13. 

Gesundheit, Katechismus (Reichel) 64. 

— der Schulentlassenen (Lauener) 198. 

— der Schulkinder (Newman) 199. 

— und Wachstum in einem Kinderheim (Holt u. 

Fales) 61. 
Gesundheitsbogen in der Schule (Stephani) 70. 
Gesundheitsfürsorge, Berufsschulung der Wohl- 
fahrtspflegerin in 257. 

— und Planwirtschaft 56. 

— und Waldschulen (v. Brunn) 201. 

Gesundheitsfürsorgerin, Ausbildung (Haloua- Io- 

range) 78. 
Gesundheitsministerium, Organisation (Roesle) 79. 
Gesundheitspflege in der Jugendfürsorge 33. 
—, Schul- (Corvey) 66; (Hiscock u. Fales) 66: 
(Barney) 200. 

Gesundheitswesen in Preußen 80. 

Gesundheitszustand, Untersuchung in der Schule 
(Smith u. Zillmer) 135. 

Gewerbeschule für Epileptiker und Schwachsinnige 
(Morphy) 123. 

Gewerbliche Arbeit von Hilfsschülern (Wallin) 19%. 

Gift, GenußB-, Erziehung gegen (Laignel-Lavastine) 
131. 

Grammophon und musikalische Erziehung (Bavin) 


Größe, scheinbare, eidetisches Phänomen (Frei- 
ling) 13. 

Großhirnrinde, Konzentration in (Krasnogorsky') 
18. 

(srundeigenschaften, Messung (Lange) 164; 
(Kraepelin) 164. 

Gruppe irisch-amerikanischer Kinder (Leaming) 
22: 

—, Verhalten des Kindes in (Stern) 22. 

Gymnastik, rhythmische, und Kleinkind (Schei- 
blauer) 44. 


Habitus asthenicus (Kleinschmidt) 4. 

Hand-Umrißaufnahme mit Schattenbildmethode 
(Hoeffel) 145. 

Handeln, Entwicklungspsychologie beim (Her- 
mann u. Hermann-Cziner) 158. 


Handwerksunterricht und Volksschulgesetz (van 
Vliet) 43. 
Hauspflegeverein (Osgood) 78. 
Heilpädagoge, Ausbildung (Egenberger) 49. 
Heilpädagogik, Ausbildung 
(Kurz) 346. 
—, Ausbildungsfragen (Isserlin) 346, 363. 
‚ Beratungsstelle in Heidelberg (Homburger) 
261. 
. Entwicklung (Heller) 49. 
‚ Gesellschaft für, Mitgliederverzeichnis 356. 
‚„ Hochschulen in Rußland (Schneerson) 50. 
, I. Kongreß für (Göpfert) 46. 
‚ II. Kongreß für 46; (Isserlin) 259; 341. 
, Kursus in Münster für 159. 
‚ Lasten und Kosten (Cron) 48. 
‚ Professur für (Göpfert) 49. 
für Psychopathen (v. d. Leyen) 48. 
bei Schwachsinn (Abramson) 101. 
‚ Seminar in Zürich für 157. 
in der Tschechoslowakei (Roller) 52. 
in Ungarn (Eltes-Ellenbach) 346. 
, zwanglose Vereinigung für 48. 
—, Vorlesungen und Übungen 36. 
Heilpädagogische Gesellschaft in Ungarn 48. 
— Unterrichtsanstalt, Hilfsschule als (Bartsch) 
138. 
Heilpädagogisches Erholungsheim für jugendliche 
Psychopathen (Lyon) 75. 
Heim für Jugendliche in Bremen (Rehm) 47. 
Heine-Medinsche Krankheit, meningitische Form 
(Condat) 113. 
Hemmung, Hypnose und Schlaf (Pavlov) 146. 
Hereditäre Krankheiten, Ätiologie (Mino) 8. 
Hermaphroditismus, echter (Sand) 91; (Schauerte) 
151. 


Hilfsklassen an Schwerhörigen- und Sprachheil- 


schulen (Dirr) 311. 
Hilfsschüler, Anlage und Bildungsmöglichkeit 
(Bacher) 349. 
. Biologie (Fürstenheim) 46. 
, kongenitale Diplegie und dysthyreoide Störung 
bei (Naville) 191. 
. gewerbliche Arbeit von (Wallin) 194. 
. moralische Erziehung (Hilscher) 53. 
. Untersuchungen an (Schmidt-Kraepelin) 47; 
(Rüdin) 47. 
Hilfsschule, deutsche, Verbandstag 463. 
—, geistig- -orthopädische Übungen in (Lesemann) 
53. 
als heilpädagogische 
( Bartsch) 138. 
—, Reichsjugendwohlfahrtsgesetz 
gerichtsgesetz (Gnerlich) 195. 
—, Richtlinien zur Aufnahme 193. 
in Salzburg (Heller) 122. 
und Schulentlassene (Campbell) 51. 
—, Schwachsinnigenerziehung in (Raatz) 454. 
— in der Tschechoslowakei (Roller) 53. 
Hirn s. Gehirn. 
Hoden, Descensus-Anomalie bei Zurückgebliebe- 
nen (Aronowitsch) 29. 
Hörprüfung bei Schwerhörigen und Taubstummen 
(Wotzilka) 124. 
Homosexualität (Ellis) 186. 
Hunger und kindliche Organe (Nicolaeff) 150. 


Unterrichtsanstalt 


und Jugend- 


219 


Hunger, Wachstum und Entwicklung (Stefko) 87. 

Hygiene, seelische (MacPhee) 199. 

—, soziale, Gesellschaftserziehung in (Galloway) 
121. 


von Theologen in | —, soziale, und Pathologie (Grotjahn) 127. 


Hypnose (Kronfeld) 167. 

—, Hemmung und Schlaf (Pavlov) 146. 

—, Kinder- (Mosse) 41. 

Hypophysäre Dystrophie (Lereboullet) 36. 

Hypophyse, Erkrankung (Fein) 37. 

Hypotrophie und Syphilis congenita (Nobécourt) 
188. 

Hysterie bei Psychopathen (De Sanctis) 184. 


Idiotie, amaurotische familiäre (Cohen) 29. 
—, mongoloide (Lind) 179. 
—, mongoloide, Ätiologie (Halbertsma) 29. 
—, mongoloide, Erkennung und Behandlung 
(Barnes) 178. 
—, mongoloide, leichte Formen (Pehu) 29. 
Individualität (Clemenz) 21. 
Industrielle Lehrlinge, Eignungsprüfung im Bre- 
mer Institut für Jugendkunde (Valentiner) 
173. 
Infantilismus (Weill, Mouriquand u. Dufourt) 35. 
— infolge Hypophysenstörung (Giovanni) 117. 
—, motorischer (Homburger) 111. 
Infektion, mütterliche, und Neugeborenen-Sterb- 
lichkeit (Spalding) 149. 
Innere Sekretion, Einführung (Weil) 90. 
— Sekretion und Schwachsinn (Szondi) 26. 
Instinkt und Sozialpsychologie (Kantor) 152. 
Instinktleben, krankhaftes (Gött) 46. 
Intellektuelle Vorgänge und Intelligenz- und De- 
menzforschung (Eliasberg) 157. 
Intelligentes Handeln, experimentelle Untersu- 
chungen (Lipmann u. Bogen) 157. 
Intelligenz und Führereigenschaft (Bennett u. 
Jones) 101. 
— -Verminderung bei postencephalitischen Cha- 
rakterstörungen (Sherman u. Beverly) 179. 
— und Zweisprachigkeit (Saer) 96. 
Intelligenzprüfung (Bowie) 21. 
— nach Binet-Simon an weißen und farbigen 
Kindern (Wells) 161. 
—, diagnostische Bedeutung (Jewett u. Blan- 
chard) 160. 

‚ Dreiwortmethode 
(Tuch) 161. 
und intellektuelle Vorgänge (Eliasberg) 157. 

—, Methode (Stern) 17. 

mit Northumberland Mental Tests (Duff u. 

Thomson) 162. 

und psychologische Berufsberatung (Lämmel) 

204 


als Kombinationsprobe 


$ Stanford- und Porteustest (Cornell u. Lowden) 
96. 
, Testpsychologie (Pauli) 49. 
mit Tests (Nyssen) 161. 
bei unterernährten Kindern (Nicholls) 177. 
—, Zeichentest nach Binet-Simon (Bappert) 
161. 
Intelligenzquotient bei japanischen Kindern 
(Fukuda) 94. 
—, Rechenstab für (Kelley) 91. 


= Unveränderlichkeit (Gray u. Marsden) 94, 


— 220 — 


Intelligenzstörung nach Intoxikation bei ernäh- | Kind als Kamerad (Brossmer) 198. 


rungsgestörtem Säugling (Ylppö) 111. —, erste Lebensjahre (Dannenberg) 22. 
Interesse des Kindes an Unterrichtsfächern | — minderjähriger Mütter (Wilsing) 149. 

(Malsch) 159. —, vorschulpflichtiges, Beobachtungsvorgänge an 
Intoxikation bei ernährungsgestörtem Säugling, (Eliasberg) 186. 

Sensibilitäts-- und Intelligenzstörung nach | Kinderfehler (Häberlin) 45. 

(Ylppö) 111. —, Beobachtungsstation für (Mauer) 50. 
Introvertierte (Freyd) 167. Kindergarten, Anomale in (Dealey) 200. 
Inversion bei Taubstummen (Fischer) 180. —, Beobachtungen im (Stern) 22. 

Isolierung, Gefahren der (Adler) 44. Kinderheime in Sowjetrußland 196. 
Jugendamt, psychiatrische Beratungsstelle beim | Kinderkrankheiten, Diagnostik (Feer) 186. 

(Thumm) 98. —, Diagnostik und Therapie (Lust) 40. 
Jugendbewegung, moderne (Jaensch) 98. Kinderlähmung, Behandlung (Biesalski) 114. 
Jugendfürsorge, Gesundheitspflege und Erziehung | Kinderschutz (Trigueros) 66. 

55. — inMähren, deutsche Landeskommission für 196. 
—, deutsche, in Mähren 196. Kleinhirn, Myelonisation (Naito) 1. 

—, gesundheitliche, auf dem Lande (Uhlirz) 57. | Kleinkinder-Hygiene (oan 4. 
—, Kursus über 460. — -Pflegeanstalten (Rott) 65 
—, städtische (Hornek) 56. — und rhythmische Gymnastik (Scheiblauer) 4. 
— in der Tschechoslowakei (Roller) 54. Koedukation (Krogh-Jensen) 118. 
Jugendgerichtsgesetz (Doerr) 75; (Francke) 137. | Körpergewicht und -größe bei Knaben (Dalmark) 
—, Reichs-, seelisch Abnorme im (Schnitzer) 149. 

354. —, Rechenstab für (Kelley) 91. 
—, Reichsjugendwc hlfahrtsgesetz und Hilfsschule Kombinationsprobe, Dreiwortmethode als (Tuch) 

(Gneriich) 185. 161. 

Jugendgerichtshilfe. Berliner (v. Liszt) 137. Komplexbildung und Gedächtnis (Hegge) 99. 

— und Jugendgeri’htsgesetz (Engelmann) 207. | Konstitution, Begriffserklärung (Siemens) 81. 
—, psychiatrischer Facharzt für 47. — -Definition und -Merkmale (Gigon) 83. 

—, Wiener 207. —, äußere Faktoren (Rondoni) 84. 
Jugendgerichtstag, 6. deutscher 251. —, Organe-Aufbau und -Veränderlichkeit (Be- 
Jugendkunde, Eignungsprüfungen im Bremer loff) 84. 

Institut für (Valentiner) 173. — und Rasse (Pfuhl) 5. 

‚ Institut in Bremen 56. — und Status thymicolymphaticus (Hart) 90. 
—, , Lehrgang für Lehrkräfte 460. — und Vererbung (Berze) 148. 

--, Vorträge über 333. | Konstitutionslehre u. Vererbungslehre (Bauer) 147. 
Jugendliche, ärztliche Untersuchung und Beob- ! Konzentration in der Großhirnrinde (Krasno- 

achtung nach dem Reichsjugendwohlfahrts- | gorsky) 18. 

gesetz 460. | Kopffor m, abgeflachtes Hinterhaupt (Bean u. 
— Arbeiter, Gesundheitsprüfung (Fürst) 88. | Speidel) 6. 

—, Polizeiverordnung zum Schutz von 75. | Krankheit, Begriffserklärung (Siemens) 81. 
Jugendpsychologie (Stern) 10. Kriminalität und geistiger Defekt 104; (Burt) 1%: 
Jugendrichter 52. | (Shrubsall) 104; (Stoddart) 104. 

-—, Ausbildung (Francke) 14. —, Kriegs-, in den Niederlanden (de Roos u. 
Jugendrichtung, geisteswissenschaftliche und na- | Suermondt) 137. 

turwissenschaftliche (Fürstenheim) 117. | —, Verhütung 51. 

Jugendschutzverein und Landesorganisation ini — und Verwahrlosung (Briner) 138. 

Österreich 207. ' Kropf-Bekämpfung in der Schweiz (Steinlin) 189. 
‚Jugendstrafrecht, neue Bestimmungen (Francke) | — -Fürsorge (Eckstein) 115. 

443. —, mehrfacher, in einer Familie (Chauffard) 116. 
Jugendwohlfahrt in Amerika (Palmer) 136. —, Prophylaxe (Wagner-Jauregg) 115. 

—, deutsches Archiv für 258. — bei Taubstummen, Prophylaxe und Therapie 
—, Ausbildungsfragen (Siegmund-Schultze) 1. (Wolfer) 116. 

—, Freiheitsbrief des Kindes (de Bunsen) 58. | Krüppel, Dissozialität (Radl) 235. 

—, Reichsgesetz für 74, 161. | Krüppelfürsorge (Scherb) 56. 

—, Reichs-, und Arbeitsgemeinschaft des Thü-| — in Deutschland (Biesalski) 55. 

ringer Wirtschaftsministeriums 196. —, Gesetz betreffend 336. 

—, Reichs-, Geführdeten-Fürsorge im (Behrend)! —, Gesetz betreffend Anstaltsbehandlung 7‘. 

206. — in Großbritannien (Jones) 55. 

—, Reichs-, Jugendgerichtsgesetz und Hilfsschule : — in Wien (Spitzy) 55. 

(Gnerlich) 195. Krüppeltum, Verhütung 49. 
-—, Reichs-, und ländliche Wohlfahrtspflege 195.' Kunst und Schule (Rein) 118. 
nr, seichsn, seelisch Abnorme im (Schnitzer) 

354. "Laboratorium, psychologisch-pädagogisches, in 
—, Seminar in Berlin für 256. Amsterdam 334. 





Jugendwohlfahrtspflegerin-Ausbildung und Psy- | Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf, 100 jähr. 
chopathenfürsorge (v. d. Leyen) N. | Bestehen (Hesselbarth) 131. 


Landeserziehungsheim für nervöse Kinder (Rutis- 
hauser) 197. 

Landschulen, Berufsberatung in (Eaton) 205. 

Lautsprache und Tastsinn (Schär) 125. 

Lehrerbildung und Heilpädagogik (Mauer) 50; 
(Ruttmann) 50; (Weigl) 50. 

Lehrwerkstätten für Anomale (Mark-Bergli) 48. 

— und Berufsausbildung (Münch) 136. 

Leibesübungen und Sexualität (Brustmann) 19. 

Lesen, Psychopathologie (Ranschburg) 351. 

— , Unterricht auf phonetischer Grundlage (In- 
hoven) 42. 

—, Unterricht für Taubstumme (Malisch) 351. 

Linkshändigkeit (Caille) 7. 

Liquor bei Syphilis congenita (Tezner) 189. 

Lüge, Kinder- (Bühler) 183. 


Männlichkeitskomplex (Rombouts) 31. 

Manie, chronische, nach Encephalitis (Benon) 110. 

Masturbation s. Onanie. 

Meningen-Blutung bei Neugeborenen (Cameron u. 
Osman) 28. 

Merkfähigkeit und Gefühlsbetonung (Wohlge- 
muth) 157. 

Messungen, anthropologische, an Jugendlichen 
(Bürgers u. Bachmann) 87. 

—, anthropometrische, an Jugendlichen (Pirquet) 
86; (Stalnaker) 86. 

— während Pubertätswachstum (Kistler) 85. 

Milieutypen (Friedjung) 176. 

Minderwertigkeit, geistige (Potts) 62; (Pinsent) 
63; (Devine) 64. 

—, geistige, Sterilisation bei (Gibbons) 64. 

—, konstitutionelle, und endokrine Dystropbie 
(McCready) 6. 

—, physische und psychische, soziale Prophylaxe 
(Ferrari) 184. 

—, Verhütung 48. 

Mißbildung, Statistik in Holland (Jansen) 117. 

—, Säuglingssterblichkeit infolge (Foote) 117. 

Mißverstandene Kinder (Chadwick) 30. 

Mongolismus s. Idiotie, mongoloide. 

Moral insanity und exogene Charakterverände- 
rung (Pophal) 30. 

Motorische Rückständigkeit (Heller) 348. 

Muskel-Atrophie, progressive (Michael) 39. 

Mütterabende (Schacht) 78. 

Mütterberatungsstelle (Carr u. Ratner) 133. 

Mutter als Erzieherin (Schulz) 198. 

—, minderjährige, Kind von (Wilsing) 149. 

Mutterheim, Beobachtungen an Kindern eines 
(Carr u. Ratner) 133. 

Mutterschutz in Frankreich (Aubrun) 129. 


Nanosomie (Ukai) 192. 
Naturkunde-Unterricht, neue Methode (Hönniger) 
118. 
Naturwissenschaftliche und geisteswissenschaft- 
liche Jugendsichtung (Fürstenheim) 117. 
Nervenkrankheiten und Sport (van Bremen) 
187. 

Nervensyphilis, angeborene (Jeans u. Schwab) 
188. 

Nervensystem und Pathologie des Kindesalters 
(Kleinschmidt) 34. 

—, vegetatives, Neurose des (Feer) 40. 


221 


Nervöse Kinder (Betke) 183; (Cameron) 182; 
(Gordon) 106; (Miller) 183. 

— Kinder, Landeserziehungsheim für (Rutis- 
hauser) 197. 

Neugeborene, Sterblichkeit und mütterliche In- 
fektion (Spalding) 149. 

Neuralgie beim Kind (Reiche) 39. 

Neurologisch-psychiatrischa Untersuchung an 
Fürsorgezöglingen sächsicher Erziehungsan- 
stalten (Schwartz) 314. 

Neuropathie beim Säugling (de Lange) 40. 

Neuropathische Konstitution und Pneumonie 
(Bergmann u. Kochmann) 40. 

Neuropsychiatrie, Ausbildung für (De Sanctis) 79. 

Neurose, Einteilung (Zappert) 30. 

—, Ursprung (Adler) 254. 

— des vegetativen Nervensystems (Feer) 40. 

Neurotische Kinder (Chadwick) 30. 

Normales, schwer erziehbares und zurückgebliebe- 
nes Kind (McCaulley) 25. 


Ohrenkrankheiten, schulärztliche Untersuchung 
(Stangenberg) 201. 

Olliersche Wachstumsstörung (Johannessen) 38. 

Onanie (Pisani) 114. 

— und Epilepsie (Sollier) 114. 

Optische Analyse (Rupp) 100. 

Organe-Aufbau und -Veränderlichkeit (Beloff) 
84 


—, kindliche, und Hunger (Nicolaeff) 150. 
Ort, scheinbarer, eidetisches Phänomen (Freiling) 
13. 


Pädagogik fremder Sprachen (Freudenthal) 42. 

—, Geschichte der (Göttler) 117. 

—, wissenschaftliche, Institut in Münster für 
(Többen) 333. 

Pädagogische Begabung Schwachsinniger (Des- 
coeudres) 181. 

Pädagogisches Institut in Wien 41. 

Panasthenie (Reinhold) 106. 

Pathographie, klinisch-experimentelle (Kehrer u. 
Fischer) 33. 

Pathologie und Entwicklung (Hoffmann) 85. 

—, soziale, und Hygiene (Grotjahn) 127. 

Personalbogen (Klein) 195; (Hoffmann) 195. 

— in der Hilfsschule (Martini) 50. 

Pflege und Ernährung des älteren Kindes (Lang- 
stein) 131. 

Physik, naive (Lipmann u. Bogen) 157. 

Physiologische Eigentümlichkeiten beim Kinde 
(Feldman) 2. 

Planwirtschaft und Gesundheitsfürsorge 56. 

Polizei, Kinder- 51, 52. 

Polizeiverordnung zum Schutz der Jugendlichen 
75. 

Proletarierjugend, religiöse Gedankenwelt in 
Selbstzeugnissen (Dehn) 165. 

Prostituierte, späteres Schicksal (Grabe) 109. 

Pseudologie, Reproduktionsversuche bei (Bred- 
now) 416. 

Psychagogik (Kronfeld) 167. 

Psychanalyse (Kronfeld) 167. 

— und Erziehung (Pfister) 

—, Frühanalyse (Klein) 166. 

— und Psychologie (Stern) 102. 


21. 


222 


Psychisch Abnorme und Gemeinschaft (Kronfeld)! Psychopathie und Heilpädagogik (Weiskopf) 49. 


172. 
Psychische Folgeerscheinungen nach Encephalitis 
epidemica (Collin u. Requin) 33. 
Hygiene (Powlison) 59; (Clarke) 60; 
son) 72 
Hygiene in der Schule (Clarke) 52. 
Störungen beim Kleinkind (Maier) 33. 
Störungen bei Tetanie (Lemaire) 34. 
Psychologie, biologische (Ingenieros) 151. 
—, Entwicklungs-, beim Handeln (Hermann u. 
Hermann-Cziner) 158. 
—, Entwicklungs- und Sozial- (Busse) 160. 
und Erziehung (Winslow) 169. 
—, experimentelle, Lehrbuch (Fröbes) 19. 
—, experimentelle, bei Schwachsinnigen (Abram- 
son) 101. 
—, Frage- und Beobachtungsbogen (Moede) 20. 
weiblicher Fürsorgezöglinge (Voigtländer) 353. 
‚ Jugend-, Aufgaben (Jaensch) 154. 
—, Jugend-, und Geschlechtsleben (Jones) 173. 


— (Ander- 


Kinder- (Prantl) 151. 
Kinder-, vergleichende (Giese) 173. 
des Lesens und Schreibens (Malisch) 351. 
—, Normal-, und Willensdefekte (Lindworsky) 
48. 
beim normalen Kinde (Bridgman) 92. 

‚ pädagogische, Lehrgang für Lehrkräfte 460. 
und Psychanalyse (Stern) 102. 

‚ Sozial-, und Instinkt (Kantor) 152. 

—, Stellung im Stammbaum der Wissenschaften 
und Dimension ihrer Grundbegriffe (Ahlen- 
stiel) 10. 

Psychologisch - pädagogisches Laboratorium in 
Amsterdam 334. 

Psychologische Beobachtungen im Fernsprech- 
dienst (Giese) 173. 

— Schülerbeobachtung, Lehrgänge für 159. 

— Untersuchungen an Debilen (Zawjaloff) 19. 

Psychoneurosen, Einführung (Liertz) 106. 

Psychopädagogisches Institut in Buenos Aires 159. 

Psychopathen (Lurie) 185. 

—, Beratungsämter für 47. 
—, expressionistische Komponente in Bildnereien 
von (Cristoffel u. Grossmann) 181. 

. Fürsorgeerziehung (Gregor) 353. 

—, Heilpädagogik für (v. d. Leyen) 48. 

—, heilpädagogisches Erholungsheim für (Lyon) 
15. 

—, Hysterie bei (De Sanctis) 184. 

-—, Schulkolonie für (Bertolani del Rio) 193. 

—, Vorlesungen über 58. 

Psychopathenfürsorge (Lurie) 105. 

—, Ausbildung zur (Siegmund-Schultze) 

— Ausbildung in Hamburg 256. 

— und Ausbildung der Jugendwohlfahrtspflege- 
rinnen (v. d. Leyen) 17. 

— vom ugendamt Berlin 58. 

-—, Kursus in Münster für 159. 

-— in Mannheim (Moses) 155. 

- -, 3. Tagung 251. 

—-, Tagung in Heidelberg 339. 

-— in Wohlfahrtsschulen 43. 

Psychopathie und Defektpsychose (Raecke) 27. 

nach Encephalitis epidemica (Lermann) 180. ; 

-—— und Epilepsie (Villinger) 354. 


— und Verwahrlosung (Gruhle) 47. 

Psychopathologie, Ausbildung (Kramer) 12. 

— des Kindesalters (Strohmayer) 25. 

— des Rechnens, Lesens und Schreibens (Ransch- 
burg) 351. 

Psychosen, Pubertäts- (Henderson) 34. 

Psychotechnik und Berufsberatung (Schubert) 
137. 

—, ÖOrganisationsformen (Ebel) 100. 

Psychotherapie (Kronfeld) 167. 

—, Methoden (Good) 168. 

Pubertät bei Mädchen (Penon) 85. 

—, männliche (Bernfeld) 24. 

— -Psychosen (Henderson) 34. 

—, religiöses Erleben in (Bohne) 176. 

— -Wachstum, Messungen während (Kistler) 85. 

Pyramidale und extrapyramidale Symptome 
(Homburger) 111. 


Bachitis (Klotz) 37. 

—, Diagnose und Behandlung (Quirin) 192. 

— und Frühgeburt (Looft) 29. 

—, Statistik (Wimmenauer) 38. 

Rasse und Konstitution (Pfuhl) 5. 

Rechenstab für Ernährungszustand und Intelli- 
genzquotient (Kelley) 91. 

Rechenunterricht in Volks- und Hilfsschule ( Weis- 
ser) 43. 

Rechnen, Psychopathologie (Ranschburg) 351. 

Rechtsbrecher, Willensfreiheit bei (Loofs) 172. 

Reflex, Babinski-, nach Geburt (Lautuejoul u 
Hartmann) 3. 

Religiöse Gedankenwelt der Proletarierjugend, 
Selbstzeugnisse (Dehn) 165. 

Religiöses Erleben in der Pubertät (Bohne) 176. 

Religion-Unterricht, gemeinsamer, für Taub- 
stumme und Schwachsinnige (Emmerig) 326. 

Reproduktion, An- und Abklingen (Wittmann) 
156. 

Reproduktionsversuche bei Pseudologie (Brednow) 
416. 

Richter und Jugendlicher (Naegele) 207. 

Riesenwuchs (Weill, Mouriquand u. Dufourt) 35. 

Rückgratsverkrümmung bei Schulkindern durch 
Kleidung (Loir) 201. 

Rückständigkeit, motorische (Heller) 348. 


Säugling-Krankheiten, Diagnostik (Feer) 186. 

— -Pflegeanstalten (Rott) 65. 

—, Turnen (Tugendreich) 1351. 

Säuglingspflegerin-Prüfung, oldenburgisches Ge- 
setz 463. 

Schädelblutung, Säuglingssterblichkeit infolge 
(Foote) 117. 

Schattenbildmethode zur Hand-Unrißaufnahme 
(Hoeffel) 145. 

Schilddrüse s. Thyreoidea. 

Schlaf und Hemmung (Krasnogorski) 3. 

—, Hypnose und Hemmung (Pavlov) 146. 


'— im Kindesalter (Aron) 3. 


Schreiben, automatisches, zur Bestimmung von 
Konflikten und Kindheitseindrücken (Mühl) 
167. 

:—, Psychopathologie (Ranschburg) 331. 

—, Unterricht für Taubstumme (Malisch) 351. 


Schreibstörung (Spiegelschrift) bei Taubstummen 
(Fischer) 180. 

Schularzt, Aufgaben und Grenzen (Oxenius) 67. 

— in Preußen (Rehberg) 69. 

—, Tätigkeit (Hohlfeld) 68. 

—, Untersuchung von Ohrenkrankheiten durch 
(Stangenberg) 201. 

— und Vererbung (Welde) 8, 69. 

Schule, Arbeits-, in Sowjetrußland 196. 


223 
| Schulkinder, Wohlfahrtspflege in Amerika (Pal- 


mer) 136. 

Schulklinik, unentgeltliche, in Frankreich (Bus- 
siere) 134. 

Schulkolonie für Psychopathen (Bertolani del Rio) 
193. 

Schulleistungen und Charaktereigenschaften (Pof- 
fenberger u. Carpenter) 159. 


! —, Schwankungen (Dawson) 159. 


—, Einheits-, als Erziehungs-, Heimats- und Ar- | Schulpflegerin, Aufgaben (Rowell) 70. 


beitsschule (Troll) 121. 

—, Erziehung und Dichtung (Fischer) 16. 

—, Frauen., soziale, Erlaß betreffend Wohlfahrts- 
pflegerinnen 58. 

— -Gesetze in Italien (Vandervelde) 208. 

—, Gesundheitspflege (Barney) 200; (Corvey) 66; 
(Hiscock u. Fales) 66. 


—, Gewerbe-, für Epileptiker und Schwachsinnige | —, 


(Morphy) 123. 

—, Hilfs-, geistig-orthopädische Übungen in 
(Lesemann) 53. 

—, Hilfs-, als heilpädagogische Unterrichtsan- | 
stalt (Bartsch) 138. 

—, Hilfs-, Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und Ju- 
gendgerichtsgesetz (Gnerlich) 195. 

-—, Hilfs-, Richtlinien zur Aufnahme 193. 

—, Hilfs-, in Salzburg (Heller) 122. 

—, Hilfs-, und Schulentlassene (Campbell) 51. 

—, Hilfs-, für Schwachsinnige (Raatz) 434. 

—, Hilfs-, in der Tschechoslowakei (Roller) 53. 

— und Kunst (Rein) 118. 

—, Land-, Berufsberatung in (Eaton) 205. 

— und libidinöse Entwicklung (Klein) 167. 

—, Schwerhörigen- (Reinfelder) 348. 

—, Schwerhörigen-, Hilfsklassen an (Dirr) 311. 

—, Sonder-, Unterrichtsbestimmungen 334. 

—, Sprachheil-, Hilfsklassen an (Dirr) 311. 

—, Vor-, Anomale in (Dealey) 200. 

-—, Wald-, undGesundheitsfürsorge (v.Brunn) 201. 

-—, Wohlfahrts-, ErlaßB über Wohlfahrtspflege- 
rinnen 58. 

—, Wohlfahrts-, Psychopathenfürsorge in 43. 

Schulentlassene, Gesundheit (Lauener) 198. 

Schulfähigkeit in den ersten Volksschulklassen 

= (Schnaubelt) 134. 

Schulgesetzgebung in Italien 201. 

Schulgesundheitspflege (Burney) 200. 

— in Frankreich (Baumann) 134; (Bussière) 134. 

Schulhygiene, Vorschläge (Sundwall) 135. 

Schulkinder, Ernährung (Tonina) 64. 

—, Denkvermögen bei (Winch) 169. 

—, Freiluftbehandlung (Greenleaf) 201. 

-— “ „Fürsorge (Corvey) 66. 

-— Gesundheit (Newman) 199. 

--, körperliche Entwicklung (Wolfer) 86. 

--, Persönlichkeit (Wankmüller) 349. 

— -Pflege, Deutscher Verband für (Mende) 337. 

—, Rückgratsverkrümmung durch Kleidung bei 
(Loir) 201. 

—, Seelenleben bei (Zulliger) 121. 

—, sehschwache, Sonderklasse für 156. 

—, Stottern bei, Behandlung (Carrie) 126. 


aze -Untersuchung (Aschenheim) 150; (Kjerrulf) 
Intelligenzprüfung an | Spiegelschrift bei Taubstummem (Fischer) 180. 


a ie und farbige, 
(Wells) 161. 


Schulpsychologe (Hutt) 45. 

Schwachsinn, Gedächtnis-Mehrleistung bei (Theis- 

sen) 198. 

und innere Sekretion (Szondi) 26. 

und motorische Debilität (Vermeylen) 181. 

experimentelle Psychologie bei (Abramson) 

101. 

schwerer (Gohde) 195. 

in sozialer Hinsicht 50, 51. 

und Syphilis (Kaufman) 178. 

und jugendliche Verbrecher (Aronowitsch) 29. 

Schwachsinnige; Anstalten für (Weigl) 347. 

—, Anstalts- und Familienerziehung bei (Heller) 
193. 

—, Ausbildung 51. 

—, Fürsorge und Erziehung (Fernald) 122. 

—, Gedächtnis bei (Fildes) 102. 

—, Gewerbeschule für (Morphy) 123. 

—, häusliche Einzelerziehung (Willich) 53. 

—, Hilfsschulerziehung für (Raatz) 454. 

—, pädagogische Begabung (Descoeudres) 181. 

—, schulentlassene, Fürsorge in der Tschechoslo- 
wakei (Roller) 53. 

—, Sonderklassen für (Mourgue) 194. 

—, Spezialunterricht (von Voorthuysen) 52. 

— und Taubstumme, gemeinsamer religiöser Un- 
terricht (Emmerig) 326. 

Schwererziehbares Kind 61. 

— Kind, Beratungsstelle für (Löwy) 193. 

—, normales und zurückgebliebenes Kind (Me 
Caulley) 25. 

Schwerhörige, Hörprüfung (Wotzilka) 124. 

—, Schule für (Reinfelder) 348. 

—, Schule in Basel für (Villiger) 124. 

— -Schule, Hilfsklassen an (Dirr) 311. 

—, Untersuchungen an (Wanner) 47. 

Schwerhörigkeit bei Schulkindern (Leegaard) 55. 

Seelenleben beim Schulkind (Zulliger) 121. 

Sehschwache Schulkinder, Sonderklasse für 156. 

Seminar für Jugendwohlfahrt in Berlin 256. 

Senilität, vorzeitige, Stoffwechsel bei (Talbot) 37. 

Sensibilitätsstörung nach Intoxikation bei ernäh- 
rungsgestörtem Säugling (Ylppö) 111. 

Sexualität und Leibesübungen (Brustmann) 19. 

Sexualleben beim Kinde (Jones) 18. 

Singen und Sprechen (Stumpf) 146. 

Sonderklassen für Schwachsinnige (Mourgue) 194. 

Sonderschule, Unterrichtsbestimmungen 334. 

Soziale und gerichtliche Medizin (Lochte) 79. 

= Hygiene in Preußen 80. 

i — Vorsorge (Giannini) 60. 

Sozialer Arzt (Hamza) 142. 

Sozialpädagogen. Ausbildung (Nohl) 5 

Spasmophilie, Ätiologie (Johannsen) 191. 


i —, Untersuchungen über (Fildes) 163. 


Sport und Nervenkrankheiten (van Bremen) 187. 

Sprachbegriffe und Pädagogik fremder Sprachen 
(Freudenthal) 42. 

Sprache, affektive und intellektuelle (Marouzeau) 
162. 

Sprachfehler, Verhütung 50. 

— bei Zischlauten, Behandlung (Reichenbach) 
350. 

Sprachgewinnung, phonetische und psychologische 
Grundlagen (Entres) 350. 

Sprachheilschule, Hilfsklassen an (Dirr) 311. 

Sprachliche Darstellung (Bühler) 163. 

Sprachschatz, kindlicher (Descoeudres) 163. 

Sprachstörung, Denken bei, und kindliches Denken 
(Spielrein) 15. 

—, Therapie (Greene) 55. 

Sprechen und Singen (Stumpf) 146. 

Sprechunterricht auf phonetischer Grundlage (In- 
hoven) 42. 

— bei Taubstummen (Entres) 350. 

Stätten des Leids (Wilker) 74. 

Status thymico-Iymphaticus und Konstitution 
(Hart) 90. Š 
Sterblichkeit und Elend, Kinder-, in Deutschland 

(Duhr) 198. 

—, Kinder-, in England (Wheatley) 89. 

—, Kinder-, in Oberschlesien (Jacobitz) 8. 

—, Kinder-, und soziale Lage (Dresel u. Fries) 7. 
beim Kleinkind (Dublin) 7. 
bei Mutter und Kind und Leitung der Geburt 
(Levy) 149. 

‚ Neugeborenen-, und mütterliche Infektion 
(Spalding) 149. 

‚ Säuglings- (Wynne) 65. 

—, Säuglings-, in Essen (Schröder) 133. 

—, Säuglings-, infolge Geburtsverletzung, Schä- 
delblutung und Mißbildung (Foote) 117. 
—, Säuglings-, in Hamburg (Riebesell) 132; (Tje- 

den) 132. | 
Säuglings-, Ursachen (Hecker) 132. 
—, Über-, der Knaben und Vererbung (Lenz) 82. 
Sterilisation bei geistiger Minderwertigkeit (Gib- 
bons) 64. 
Stoffwechsel, Untersuchungen (Janet) 145. 
Stottern, Behandlung (Scripture) 127. 
—, Heilung durch Psychanalyse (Aikins) 126. 
—, Problem des (Tompkins) 126. 
— bei Schulkindern, Behandlung (Carrie) 126. 
—, Verhütung 50. 
Strafe, Freiheit und Verantwortlichkeit (Kutzner) 
71. 
Strafgesetz, englisches (Wegner) 138. 
Strafvollzug, Besserungsgedanke im (Buerscha- 
per) 138. 
Strukturpsychologie (Wagner) 12. 
Syndaktylie (Heupel) 6. 
Syphilis congenita (Carle) 188. 
— congenita, Behandlung in Welanderheimen 
(Rosenthal) 199. 
congenita und Hypotrophie (Nobecourt) 188. 
congenita, Liquor bei (Tezner) 189. 
eongenita der Nerven (Jeans u. Schwab) 188. 
und Neugeborenen-Sterblichkeit(Spalding)149. 
congenita, juvenile Tabes bei (Covisa u. Beja- 
rano) 189. 
und Schwachsinn (Kaufmann) 178. 


een 


| 


224 


Tabes, juvenile, bei Syphilis congenita (Covisa u. 
Béjarano) 189. 

Tachistoskopische Zahlbildversuche (Franken) 20. 

Tastsinn und Lautsprache (Schär) 125. 

Taubheit, Verhütung 49. 

Taubstumme, Hörprüfung (Wotzilka) 124. 

—, Kropf bei, Prophylaxe und Therapie (Wolfer) 
116. 

—, Lese- und Schreibunterricht bei (Malisch) 351. 

—, Rhythmus bei (Benesi) 125. 

und Schwachsinnige, gemeinsamer religiöser 

Unterricht (Emmerig) 326. 

—, Sprechunterricht (Entres) 350. 

—, Tastgefühl bei (Schär) 125. 

‚ Untersuchungen an (Wanner) 47. 

—, Vokalbildung bei (Brunner u. Frühwald) 125. 

—, Wassermannsche Reaktion bei (Boas) 54. 

Taubstummheit, konstitutionelle, und Vererbung 
(Orth) 148. 

—, Schreib- und Zeichenstörung bei (Fischer) 180. 

—, Verhütung 30. 

Test s. Intelligenzprüfung. 

Tetanie, psychische Störungen bei (Lemaire) 34. 

Theologen, heilpädagogische Ausbildung (Kurz) 
346. 

Thomsensche Krankheit und Vererbung (Nissen) 
38 


Thymus-Vergrößerung, Krankheitserscheinungen 
bei (Freeman) 116. 

Thyreoidea-Funktion-Störung und kongenitale Di- 

plegie in der Hilfsschule (Naville) 191. 

-Hyperplasie, Bau und Funktion (Klose u. 

Hellwig) 36. 

-Vergrößerung 116. 

-Vergrößerung, Bekämpfung (Nobel u. Rosen- 

blüth) 36. 

Tod, plötzlicher, in der ersten Kindheit (Lefebvre) 
187. 

Tonsillektomie, geistige Veränderung nach (Lowe) 
181. 

Torsionsdystonie und Athetose double, Differen- 
tialdiagnose (Rosenthal) 112. 

Torsionsspasmus nach Encephalitis (Vedel u. Gi- 
raud) 112. 

Tuberkulose, Säuglings-, Fürsorge (Langer) 133. 

Turmschädel (Peiper) 6. 

Turnen, Säuglings- (Tugendreich) 151. 


Überwachung, schulärztliche (Bussiere) 134. 

Unterernährung, Intelligenzprüfung bei (Nicholls) 
177. 

Unternormale (Lurie) 185. 

Unterricht-Bestimmungen in Sonderschulen 334. 

— Blinder (Zade) 179. 

—, Schreiblese-, für Taubstumme (Malisch) 351. 

Unterrichtsfächer, Interesse des Kindes an 
(Malsch) 159. 

Unzuchtsdelikte (Gelma) 72. 


Verantwortlichkeit, Freiheit und Strafe (Kutzner): 
71. 

Verbrecher, jugendliche, und Schwachsinn (Aro- 
nowitsch) 29. 

Vererbung erworbener Eigenschaften (Fick) 83. 

— und Erziehung (Schalk) 147. 

— bei Geisteskrankheiten (Kehrer u. Fischer) 3: 


Vererbung, homologe und heterologe (Bayer) 147. 

— und Konstitution (Berze) 148. 

und konstitutionelle Taubstummheit (Orth) 

148. 

und Schularzt (Welde) 8, 69. 

bei Schwachsinnigen (Mott) 51. 

und Thomsensche Krankheit (Nissen) 38. 

und Übersterblichkeit der Posten (Lenz) 82. 

und Zwillinge (Dahlberg) 83 

Vererbungslehre und Konstitutionslehre (Bauer) 
147. 

Vererbungspathologie, allgemeine und spezielle, 
des Menschen (Siemens) 81. 

Verständnis, literarisches, bei Jugendlichen ( Busse) 
160. 

Verwahrlosung, Bekämpfung (Többen) 185. 

—, Fälle (v. d. Leyen) 376. 

bei Fürsorgerögliugen (Ohrloff) 108; (Voigt- 

fanden) 110. 

der Großstadtjugend (Rehm) 4%. 

und Kriminalität (Briner) 138. 

und Psychopathie (Gruhle) 47. 

Verwahrungsgesetz (Polligkeit) 75. 

Volkserneuerung und Erziehung (Weiß) 45. 

Volksschulgesetz und Handwerksunterricht (van 
Vliet) 43. 

Vormundschaftsrichter und Gefährdeten- Fürsorge 
im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (Behrend) 
206 


LIII 


Vorschule, Anomale in (Dealey) 200. 


Wachstum und Altern (Rössle) 84. 

— und Hungern (Stefko) 87. 

—, Pubertäts-, Messungen während (Kistler) 85. 

— -Störung, Olliersche (Johannessen) 38. 

Wahl, vielfältige, Yerkes Methode (Brown u. 

Whittell) 101. 

Wahrnehmung bei Jugendlichen (Jaensch) 154. 

—, räumliche, in der eidetischen Entwicklungs- 
phase (Freiling) 13. 

Wahrnehmungslehre und Biologie (Jaensch) 96, 98. 

Waldschule und Gesundheitsfürsorge (v. Brunn) 
201. 

Welanderheime, Behandlung der Syphilis congeni- 
ta in (Rosenthal) 199. 

Werten, literarisches, Analyse (Wheeler) 15. 

Willensdefekte und Normalpsychologie (Lind- 
worsky) 48. 


Zeitschrift für Kinderforschung. Bd. 29. 


225 


Willensfreiheit beim Rechtsbrecher (Loofs) 172. 
Willenshandlung und Bewegungsempfindung und 
-vorstellung (Kroiß) 352. 
Wohlfahrt, Jugend-, Vorlesungen und Übungen 
36. 


Wohlfahrtsamt, Kinder-, in Amerika (Newman) 
61; (Macauley) 61. 

Wohlfahrtsgesetz, Reichs- (Christian) 130. 

Wohlfahrtspflege, Aufgaben (Steiger) 128. 

—, industrielle (Redeker) 197. 

— bei Instichlassen der Familie durch den Fa- 
milienvater 59. 

—, Kinder-, in England (Jull) 133. 

—, ländliche, und Reichsjugendwohlfahrtsgesetz 
196. 

—, Personalabbau in 257. 

—, Schulgesundheitspflege (Corvey) 66. 

— für Schulkinder in Amerika (Palmer) 136. 

— in Thüringen 196. 

Wohlfahrtspflegerin, Berufsschulung in Gesund- 
heitsfürsorge 257. 

—, staatlich anerkannte 59. 

Wohlfahrtsschule, Erlaß über Wohlfahrtspflege- 
rinnen 58. 

—, Psychopathenfürsorge in 43. 

Wunderkind, Psychologie (Graf v. Pestalozza) 93. 


Z.ahlbilder, tachistoskopischeUntersuchung(Fran- 
ken) 20. 

Zahlenpforte, geöffnete (Weisser) 43. 

Zahlsynopsien (Fischer) 158. 

Zahlvorstellung, Entwicklung (Filbig) 102. 

Zeichenstörung (Inversion) bei Taubstummen 
(Fischer) 180. 

Zeichentest von Binet-Simon (Bappert) 161. 

Zentralstelle für Berufsberatung in Österreich 
205; (Kauer) 205. 

Zirbeldrüse, Erkrankung (Fein) 37. 

Zurückgebliebene, Anomalie des Hoden-Descen- 
sus bei (Aronowitsch) 29. 

—, schwer erziehbare und normale Kinder (Mc 

Caulley) 25. 

Zweisprachigkeit und geistige Entwicklung(Smith) 
42 


— und Intelligenz (Saer) 96. 

Zwergwuchs (Weill, Mouriquand u. Dufourt) 35; 
(Maas) 90. 

Zwillinge und Vererbung (Dahlberg) 83. 


- ZEITSCHRIFT FÜR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDETVONJTRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E.V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN 1. B., TH. HELLER- 
WIEN -GRINZING, E. MARTINAK-ORAZ, H. NOHL - GÖTTINGEN, 
F. WEIGL- AMBERO 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN. BERLIN. BERLIN. 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURO, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN. MÜNCHEN. MÜNCHEN. 
ORIGINALIEN 


DREISSIGSTER BAND 
MIT 33 TEXTABBILDUNGEN 





BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1925 


Inhaltsverzeichnis. 


Heller, Theodor, Über motorische Rückständigkeiten bei Kindern . 
Homburger, August. Die seelische Differenziertheit als beilpädagngische 
Frage und Aufgabe woi ; 

Lückerath. Die Erziehung männlic hör B schopathien in ‚den Analt 

Rehm, Otto. Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. (Mit 7 Ab- 
bildungen im Text) . 

Kuenburg, M. Gräfin von Über methodische Thtersuching edb orenei 
und erworbener psychischer Defekte im Hinblick auf den Hilfsschulbogen 

Malisch, K. Wie kommen die taubstummen Schüler zum geläufigen Lesen 
und richtigen Schreiben? T ; ER 

Würtz, Hans. Die Idee der kei pelbadieonischen Bene 

Gumpert, Martin. Die erworbenen Geschlechtskrankheiten der Kinder, ihre 
Ursachen und ihre Bekämpfung 

Stier, Ewald. Das Einschmutzen der kader ia seine Berena zum 
Einnässen . 

Rothe, Karl Cornelius. Die Firsaige dër Sahile für Sprarhgesörte Kinder 

Bechtold, Eduard Über das unmittelbare Behalten bei blinden und sehenden 
Schulkinden . . . sei 

Nohi, Hilde. Ziele und Woke des Schulkindergartens 

Seelig, P. Über den Bau von Anstalten für psychopathische Fürsorgezüglinge 

Francke, Herbert. Soziale und politische Einstellung in der Jugendwohlfahrt 

Schilder, Paul. Die Grundgedanken der Psychoanalyse Be 

Lindworsky, J. Die Psychoanalyse vom Standpunkt der Peschelosie i 

Wexberg, Erwin. Alfred Adlers sn und ihre Bedeutung 
für die Kinderforschung . ee a le Ar ee 

Isserlin, Max. Zur Psychoanalyse . 

Rehm, Otto. Jugendliche Kotspieler 

Simonic, Anton. Der Umfang des Beachtens bei einem n Schwachbefähigten. 
(Mit 26 Textabbildungen‘ 

Oseretzky, N.J Eine metrische Stufenleiter zur t nlosuchung der holoriichen 
Begabung bei Kindern f 

Gregor, Adalbert. Psychologie ad Snziulpadagasık Schwer eriehbafer Für- 
sorgezöglinge 

Bottermann. Zu den Pr eben, Ausiras besti mindig zum Grund- 
schulgesetz E E O E E E O S E a 

Tagungen 2222.49, 116, 200, : 

Gesetzgebung. . . : : : 2m a nn nn ne. 65, 120, 200, 

Ausbildung. . . ie o er 08 121, 201, 

Heilpädagogische Bestrebungen BE TE 0. 7. 122, 

Erklärung Rn are er A ae de a are er ae er ee 

Drackteplerberichtigung ; 

Verschiedenes . 


Autorenverzeichnis 


CAT ROOM FEB 3 ı 
E LIBRARY 1925 


x UNITY- QE MICH, 


ZEITSCHRIFT FÜR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDET VONJ. TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN I. B, TH. HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN 
F. WE IGL- AMBERG 


i HERAUSGEGEBEN VON 
F. KRAMER, RUTHV.DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 


BERLIN BERLIN BERLIN _ 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 


DREISSIGSTER BAND, HEFT I 
(AUSGEGEBEN AM 10. DEZEMBER 1924) 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1924 


JI TONN für Kinderforschung. 80. Band, 1. Heft. 














Die Zeitschrift für Kinderforschung 


erscheint in zwanglosen, einzeln berechneten Heften, die zu Bänden von etwa 50 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 


Manuskripte werden erbeten an: 
| Herrn Professor Dr. M. Isserlin, München, Krankenhaus Schwabing 
oder 
Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, Bayerische Str. 9. 


Redaktionelle Anfragen sind zu richten 


für den Öriginalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9, 


für den Referatenteilan Dr.R. Hirschfeld, Berlin W 9, Linkstr. 23/24. 


Die Verfasser erhalten von jeder Arbeit 50 Sonderdrucke unentgeltlich, weitere 
gegen Berechnung. 


Mit Rücksicht auf die außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung gestellten Anzahl zu begnügen, und falls mehr 
Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom Verlage zu erfragen, 
um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 








30. Band. Inhaltsverzeichnis. 1. Heft. 

Originalienteil. Seite 

Heller, Theodor. Über motorische Rückständigkeiten bei Kindern . ...... 1 
Homburger, August. Die seelische Differenziertheit als heilpädagogische Frage 

VRR UIDERE. a ie ER er ra 11 

Lückerath. Die Erziehung männlicher Psychopathen in den Anstalten... . . 23 


Rehm, Otto. Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. (Mit 7 Ab- 


RERAN EI EBEN ur a ee E re a er de A A a 35 
iY TA Tu E E a E T ee Dee 49 
SEATA AAL oc a er ee er 65. 
rR AEAT A a ee re ee er a 68 
Heilbtdagogiseha DORERSHRDERD u er er a E: 


Referateteil. 


Normale Anatomie und Physiologie . 1 Heilpädagogik u. Anomalen-Fürsorge 50 


i è r diis En Ya. Schwachsinn, geistige und seelische 
Biologie, Konstitution, Rasse, Ver (Gefühls- und Willens) Anomallen 51 


DIE eier 4 Sinnendefekte, Sprachstörungen „ . 52 
Psychologie . ..... E 14 BIRD M E r r re 59 
Aligemeine und spezielle Paychölogie. Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung . . 60 

— Methodische . . . 2 2... 14 RIESE 2: ae 60 
Angewandte Psychologie . . . 24 Säuglings- und Kleinkinderfürsorge „ 66 
Genetische und vergleichende Psy- Berufsberatung . . . 2.2... 67 
aa O E E 27 Unehelichenfürsorge . . . 2... 69 
Psychopathologie und Psychiatrie . . 31 ge N 71 
Geistige Defektzustände. . . . . 33 Fürsorgeerziehung . . . . 2... 72 
Psychopathie, Verwahrlosung . . . 35 | Gesetzgebung. . . . 2 2 2 2 2.02. 73 
Krankheiten des Kindesalters (einschl. Erzieher, Fürsorger, Ausbildungsfragen 75 
allgemeine Pathologie und Therapie) 38 | Tagesnotizen . . . .. 2 2 2 202. 80 


Autorenverzeichnis siehe III. Umschlagseitel 


Über motorische Rückständigkeiten bei Kindern.') 
Von 
Prof. Dr. phil. Theodor Heller, 
Direktor der heilpädagogischen Anstalt in Wien-Grinzing. 


Die motorischen Eigentümlichkeiten der Schwachsinnigen sind so 
auffällig, daß sie der bekannten und heute noch gebräuchlichen Ein- 
teilung der Oligophrenen zugrunde liegen. Man unterscheidet die 
letzteren in Erethische oder Versatile und in Apathische oder Torpide. 
Insoweit sich diese Einteilung auf die schwersten Formen des Schwach- 
sinns, die Idiotie, bezieht, ist gegen diese Gegenüberstellung wohl kein 
Einwand zu erheben. Tatsächlich dürfte es keinen Idioten geben, 
den man nicht dem einen oder dem andern Bewegungstypus zuzählen 
kann. Normale Bewegungsfähigkeit, entsprechend dem motorischen 
Verhalten gleichaltriger gesunder Kinder, kommt bei Idioten nie vor. 
Treffend hat Homburger in seiner Arbeit über amyostatische Symptome 
bei schwachsinnigen Kindern auf diese Eigentümlichkeiten hingewiesen, 
die nicht bloß in Erschwerung und Unbeholfenheit der Bewegungen 
bestehen, sondern auch in spezifischen Störungen der Statik, der 
Rhythmik, des Tempo, der Dynamik und der Metrik, auf die er in 
seiner interessanten Abhandlung näher eingeht. Das Gesetz der Aus- 
lese des Zweckmäßigen durch Erfolg und Mißerfolg, das nach Bühler 
für die Vervollkommnung der Körperbewegungen beim Kinde und 
für die Erwerbung zweckmäßiger Handlungen überhaupt von großer 
Bedeutung ist, trifft bei Schwachsinnigen nicht zu, da keineswegs 
zweckwidrige Handlungen ausgemerzt und zweckmäßige erhalten bleiben. 
Der Idiot wird auch durch Schaden nicht klug und kommt zu ein- 
fachen Verrichtungen des täglichen Lebens oft auf merkwürdigen Um- 
wegen, die uns als sinnlose Kraftvergeudung erscheinen. Schon die 
Körperhaltung der Idioten zeigt ihre motorische Rückständigkeit. Von 
kindlicher Grazie sind die Bewegungen der Idioten weit entfernt und 








1) Vortrag, gehalten auf dem II. Kongreß für Heilpädagogik in München am 
30. Juli 1924. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. l 


2 Th. Heller: 


ku 


Homburger kennzeichnet die Haltungs- und Bewegungsanomalien 
als pithekoid, als affenartig. 

Frau Dr. Schmidt-Kraepelin hat uns auf dem I. Kongreß für 
Heilpädagogik die Bewegungen erethischer Idioten im Film vorgeführt. 
Es entsteht bei Beobachtung dieser bizarren und verworrenen Be- 
wegungen zunächst das Bild großer Mannigfaltigkeit, da die Bewegungs- 
abläufe kaum übersehen werden können. Bei näherer Betrachtung 
zeigt sich aber auch bei den erethischen Idioten große Bewegungs- 
armut. Zwei oder drei Bewegungsformen laufen ab, setzen aber zu 
verschiedenen Zeiten ein, kombinieren und überlagern sich, und der- 
gestalt entsteht das irreführende Bild der Mannigfaltigkeit. Bei diesen 
Bewegungen fällt die äußere Ähnlichkeit mit Bewegungen der frühesten 
Kindheit auf. Einen Großteil dieser motorischen Reaktionen betrachten 
wir als impulsive Bewegungen, die nach Preyer ihre Ursache in 
Reizvorgängen im Zentralorgan haben. Eine zweite Kategorie von 
Bewegungen erinnert an krampfartige Zustände; es sind klonisch- 
tonische Zuckungen, die zumeist die oberen Extremitäten, oft auch 
in Form von Schüttelbewegungen den ganzen Körper betreffen. Für 
diese Bewegungen haben die mit der Idiotenpflege befaßten Personen 
den charakteristischen Ausdruck: „Krampfen“ eingeführt. Es handelt 
sich hier auch bisweilen um Ausdrucksbewegungen, veranlaßt durch 
Affekte freudiger oder unangenehmer Natur. Eine dritte Art von Be- 
wegungen wird vielfach als Tik bezeichnet. Die Entstehung dieser 
gleichsam erstarrten Zweckhandlungen ist oft dunkel, und es erscheint 
unerfindlich, warum gerade eine derartige Bewegungsform dem Ge- 
dächtnis eingeprägt bleibt, während andere, dem Kinde weitaus näher 
liegende, häufiger ausgeführte, lebensnotwendigere, spurlos verloren 
gehen. Am sonderbarsten ist die Sucht mancher Idioten, sich selbst 
zu schlagen oder offenbar schmerzvolle Handlungen immer wieder aus- 
zuführen. 

Bei torpiden Idioten liegt der mangelnden Bewegungsfähigkeit oft 
ein zentraler oder peripherer Defekt zugrunde, der unmittelbar die 
Ausführung der Bewegungen erschwert, aber nicht schon bei ober- 
flächlicher Betrachtung, sondern erst bei genauer ärztlicher Unter- 
suchung konstatiert werden kann. Bei anderen Idioten scheint die 
Ausführung von Bewegungen von starken Unlustgefühlen begleitet zu 
sein, was aus deren Verhalten bei passiven Übungen entnommen werden 
kann. Sehr eigentümliech sind Fälle von Bewegungsparadoxie, die man 
bei manchen torpiden Idioten zu beobachten Gelegenheit hat. Wenn 
man bei solchen Idioten passiv zu bewegen beginnt und diese Übungen 
eine Zeitlang fortsetzt, gelangt plötzlich die gesamte Muskulatur in 


Über motorische Rückständigkeiten bei Kindern. 3 


Aufruhr, es ergeben sich Zuckungen, Mitbewegungen der mannigfachsten 
Art, Grimmassieren, Hände und Füße bewegen sich in unregelmäßigem 
Rhythmus. Diese Bewegungen klingen dann langsam ab und machen 
schließlich der gewohnten starren Ruhe Platz. 

Bei Darstellung des motorischen Verhaltens der Imbezillen und 
Debilen müssen wir zunächst von allen jenen Fällen absehen, bei 
denen Lähmungen oder Kontrakturen vorliegen, die passive Beweg- 
lichkeit erschwert erscheint oder sich sonstige Anomalien ergeben, 
welche als krankhaft bezeichnet werden müssen. Wir finden bei 
Kindern, die keinerlei derartige Symptome aufweisen, bisweilen eine 
Rückständigkeit des motorischen Verhaltens, die in einem schroffen 
Gegensatz steht zur Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten. Ich 
habe im Jahre 1912 unter dem Namen „motorische Idiotie“ Fälle zu- 
sammengefaßt, bei welchen die Sprache, das Gehen, die Ausführung 
einfacher Verrichtungen schwer beeinträchtigt erschien, während die 
intellektuelle Entwicklung sich in durchaus befriedigender Weise voll- 
zog. Die Übungsfähigkeit in motorischer Hinsicht war eine sehr 
geringe, es gelang trotz aller Bemühungen nicht, die Geschicklichkeit 
der Kinder nennenswert zu heben, und die Unterrichtserfolge im Zeichnen, 
Turnen und in den Handfertigkeiten blieben weit unter dem Durch- 
schnitt. Die motorischen Rückständigkeiten der leicht schwachsinnigen 
Kinder lassen sich nach zwei Gesichtspunkten einteilen: Zunächst 
handelt es sich um solche, deren gesamte Motorik zurückbleibt, die 
im Gehen, Sprechen, in ihrer manuellen Geschicklichkeit Rückständig- 
keiten aufweisen, die sie stigmatisieren, ihnen den Stempel der Minder- 
wertigkeit aufdrücken und sie als weitaus defekter erscheinen lassen, 
als sie es in Wirklichkeit sind. Solche Kinder werden nicht selten 
von ihren Angehörigen sehr ungünstig beurteilt, in der Schule zurück- 
gesetzt, sie bleiben vom Verkehr und vom Spiel mit anderen Kindern 
nahezu ausgeschlossen, wodurch ihnen das wichtigste Mittel zur Ver- 
vollkommnung ihrer motorischen Komplexe fehlt. Vielfach lösen die 
üblen Erfahrungen solcher Kinder depressive Affekte aus, sie sind 
mürrisch, übelwollend, mißtrauisch, quälen in dunklem Vergeltungs- 
trieb Eltern und Geschwister und befestigen dadurch das Urteil, das 
ihre motorische Rückständigkeit nahegelegt hat. 

Auch bei intellektuell vollständig normalen Kindern sind motorische 
Rückständigkeiten auffallender Art beobachtet worden. Bei der Nach- 
prüfung der Binet-Simonschen Methode hat Chotzen bei manchen 
Kindern ein Versagen aller jener Tests feststellen können, die au die 
motorische Geschicklichkeit Anforderungen stellten (Ordnen von Gec- 
wichten, Zusammensetzspiel, Abzeichnen usw.), ohne daß Lähmungen 

| 


4 Th. Heller: 


oder andere Bewegungsstörungen im engeren Sinne vorlagen. Die ver- 
standesmäßig zu lösenden Tests bereiteten nicht die mindesten Schwierig- 
keiten. Bestätigt wird diese interessante Beobachtung von Franz 
Kramer, der hinzufügt, daß die nähere Erforschung dieser Kinder 
auch sonst die mangelnde Befähigung zu motorischen Leistungen ergab. 

Hinsichtlich der allgemeinen motorischen Rückständigkeit bei 
Kindern sind jedoch zweierlei Fälle scharf zu unterscheiden: 

Die einen sind dadurch charakterisiert, daß die motorische Rück- 
ständigkeit bleibt und der Unterschied zwischen ihrer motorischen 
und intellektuellen Leistungsfähigkeit im Laufe der Zeit sogar immer 
größer wird. In anderen Fällen zeigen die motorischen Fähigkeiten 
jedoch die Tendenz, sich fortschreitend zu bessern, und auf einer ge- 
wissen Altersstufe, jedenfalls vor Eintritt der Pubertät, ist die gröbere 
Motorik, die sich in den Leistungen des Alltags kundgibt. ungefähr 
auf der Höhe des Normalen, während die feinere Motorik, die sich 
in der Erwerbung von Geschicklichkeiten der verschiedensten Art 
zeigt, immerhin rückständig bleibt. Diese Fälle, die ich mit Jacob 
als motorischen Infantilismus bezeichnen möchte, erscheinen demnach 
späterhin nicht im allgemeinen, sondern nur hinsichtlich besonderer 
Fertigkeiten benachteiligt, was häufig für die Berufswahl von Be- 
deutung wird. 

Es sei mir gestattet, hier kurz auf eine andere Kategorie motorisch 
rückständiger Kinder hinzuweisen, die neben mehr oder minder großen 
Lücken in ihrer motorischen Entwicklung ethische Defekte oft recht 
bedenklicher Art zeigen und überdies durch ihre Unreinlichkeit Eltern 
und Angehörigen sehr lästig werden. Diese Kinder wachsen in der 
Regel unter sehr ungünstigen äußeren Verhältnissen auf, ihre Erziehung 
beschränkt sich gewöhnlich nur auf die Anwendung von Strafmitteln, 
gegen welche die Kinder bald abgestumpft sind. Bei entsprechen- 
der pädagogischer Behandlung ändert sich das Verhalten in oft über- 
raschender Weise, die motorischen Fähigkeiten nehmen rasch zu, die 
ethischen Defekte schwinden, die Kinder gewöhnen sich an Ordnung 
und Reinlichkeit, werden anschmiegsam und erscheinen oft in un- 
verhältnismäßig kurzer Zeit derart gebessert, daß man von einer völligen 
Wesensänderung zu sprechen berechtigt ist. Derartige Fälle hat auch 
Professor Kramer in Berlin beobachtet, und ich freue mich, mit ihm 
hinsichtlich der günstigen Prognose, die er diesen Kindern stellt, über- 
einstimmen zu können. 

Der allgemeinen motorischen Rückständigkeit stelle ich die partiellen 
Rückständigkeiten gegenüber, die sich bald in einzelnen, bald in kom- 
plexen Leistungen zeigen, bald auf eng begrenzte motorische Funktionen, 


Über motorische Rückständigkeiten bei Kindern. 5 


bald auf Fertigkeiten höherer Art beziehen, die Gegenstände des Unter- 
richtes bilden. Bezüglich der Erschwerung einzelner Leistungen be- 
steht die größte Mannigfaltigkeit: Es gibt Kinder, die laufen, aber‘ 
nicht springen können, die das Schulterheben nicht zustande bringen, 
das Binden von Schleifen nicht erlernen, Finger der Reihe nach 
einzeln nicht ausstrecken können, das Auffangen zugeworfener Gegen- 
stände nicht zuwege bringen usw. Daß in diesen Fällen bisweilen 
psychische Momente mitspielen, z. B. Unlust — oder Angstgefühle, 
die sich irgendwie assoziativ mit der aufgetragenen Leistung verbinden 
und diese daher erschweren oder verhindern, steht außer Zweifel. Bei 
Kindern, die z. B. bei den ersten Versuchen, zu springen, zu Schaden 
gekommen sind, wird bei jedem folgenden Versuch in gleicher Richtung 
das analoge Unlustgefühl assoziativ gehoben, obzwar dessen veranlassende 
Ursache vielleicht längst dem Gedächtnis gänzlich entschwunden ist. 
Bei hochbegabten, grüblerisch veranlagten Kindern besteht manchmal 
eine eigenartige Zerstreutheit, die man als konzentrative bezeichnet, 
die mit einer Abkehr von allen praktischen Dingen verbunden ist und 
eine Ungeschicklichkeit vortäuscht, die erklärt werden kann durch den 
Mangel an Aufmerksamkeit für die kleinen Verrichtungen des Alltags. 
Von dem jungen Pascal wird erzählt, daß er oft mangelhaft bekleidet 
herumging und an Hindernisse auf seinem Weg stieß. Aber solche 
Gründe für motorische Rückständigkeiten dürften im Kindesalter nur 
selten geltend zu machen sein. 

Was die schulmäßige Aneignung von Fertigkeiten anbelangt, die 
durch die motorischen Rückständigkeiten erschwert oder behindert 
werden, so ist über die Schreibstörungen bei Kindern eine Anzahl 
instruktiver Arbeiten veröffentlicht worden, von denen ich hier nur 
die schöne Arbeit von Egenberger über psychische Fehlleistungen 
erwähnen will. Mit dem Ausdruck Agraphie, der oft auf das mangel- 
hafte Erlernen des Schreibens bei Kindern angewendet wird, sollte man 
einigermaßen vorsichtig sein, weil hiermit der Verlust in einem ent- 
wickelten Bewußtsein bereits vorhanden gewesener Schreibbewegungs- 
vorstellungen durch krankhafte Prozesse bezeichnet wird, während es sich 
bei Kindern um die Unfähigkeit zur Fixierung von Schreibbewegungs- 
vorstellungen handelt, welche die verschiedensten Ursachen haben kann. 

Viel weniger erforscht sind die Störungen des Zeichnens, die 
um so bemerkenswerter erscheinen, als das Zeichnen nicht selten schon 
im frühen Kindesalter vor jeder Belehrung und sachgemäßen Unter- 
weisung auftritt und bei manchen jungen Kindern die unvollkommene 
sprachliche Ausdrucksmöglichkeit ergänzt. Es gibt drei- bis vierjährige 
Kinder, die mit wenigen Strichen das Charakteristische eines Gegen- 


6 Tb. Heller: 


standes wiedergeben können, während sie sprachlich noch nicht im- 
stande sind, den Gegenstand etwa in analoger Weise zu beschreiben. 
Es ist nun merkwürdig, daß bei einer Anzahl solcher Kinder die 
zeichnerische Begabung späterhin verloren geht und die Leistungen 
im Zeichnen das Mittelmaß nicht überschreiten, offenbar darum, weil 
die zunehmende sprachliche Gewandtheit ein anderes, weniger un- 
mittelbares Ausdrucksmittel nicht mehr nötig macht und mit dem 
Mangel an Übung auch die Zeichenfertigkeit zurückgeht. Bisweilen 
hat es allerdings den Anschein, als ob ein methodischer Zeichenunter- 
richt in der Schule diesen elementaren, fast triebhaften Zeichenkünsten 
der Kinder nicht förderlich wäre und diese gleichsam auslöschte. Inter- 
essant ist hier eine Mitteilung von Levinstein, die ich dem Werke 
von Karl Bühler entnehme, nach welcher ein Schüler im Zeichen- 
unterricht nicht das mindeste leistete, während er im freien Zeichnen 
daheim Bildchen von entzückender Originalität anfertigte, die auf aus- 
gesprochene Begabung hinwiesen. Zeichnen scheint ein Talent zu sein, 
das Zwang und Einspannung in eine starre Schablone am wenigsten 
verträgt, was auch die Geschichte mancher großen Maler beweist. 

Normale Kinder zeichnen im allgemeinen sehr gern, namentlich 
wenn man sie soweit als möglich frei gewähren läßt. Es erscheint 
mir daher als ein nicht zu unterschätzender Defekt, wenn ein normales 
Kind ungern zeichnet oder überhaupt nicht zu zeichnen imstande ist. 
Die Unfähigkeit zu zeichnen weist verschiedene Grade auf: Es gibt 
Kinder, die wohl Vorlagen einfacher Art abzeichnen können, aber zum 
darstellenden Zeichnen nicht die mindeste Eignung besitzen, andere, 
die auch nicht abzeichnen können und über die elementarsten Formen 
des Zeichnens, das Gekritzel und das Reproduzieren einiger eingelernter 
Schemata, nicht hinauskommen. Aber auch beim Abzeichnen nach 
Vorlagen gibt es zwei Stufen, deren erste darin besteht, daß Strich 
für Strich übertragen wird, ohne daß die Auffassung der Gesamtform 
irgendwie zustande käme, während auf der höheren Stufe doch ein. 
wenn auch primitives Formgedächtnis das Nachzeichnen leitet. 

Bei den Kindern, die ich im Auge habe, war die Unfähigkeit zu 
zeichnen derart ausgesprochen, daß man hierfür die Lehrer, die ihr 
Bestes aufgeboten hatten, in keiner Weise verantwortlich machen konnte. 
Es handelte sich um zweifellos intelligente Kinder, die im Aufsatz 
tadellos beschrieben, was sie in der Zeichnung nicht einmal andeuten 
konnten. Die Unfähigkeit zu zeichnen ist wie keine andere motorische 
Kückständigkeit aufs engste auf das betreffende Gebiet beschränkt. 
Es ist wohl möglich, daß schlechte Zeichner es zu einer durchaus 
leserlichen Handschrift bringen, vielleicht sogar in Handarbeiten Be- 





Über motorische Rückständigkeiten bei Kindern. 7 


friedigendes leisten und sonst keine wie immer geartete motorische 
Rückständigkeit aufweisen. Leider gestattet es die Zeit nicht, auf dieses 
Thema näher einzugehen, so verlockend es auch wäre, hier eine ge- 
nauere Analyse der betreffenden Fälle zu geben. Es muß aber kurz 
gesagt werden, daß für die Unfähigkeit zu zeichnen zweifellos auch 
psychische Beweggründe in Betracht kommen, Mängel der optischen 
Auffassung, insbesondere des analysierenden Sehens. 

Psychische Momente sind gleichfalls oft für die geringe Leistungs- 
fähigkeit der Kinder hinsichtlich körperlicher Übungen verant- 
wortlich zu machen. Nicht selten sind es Angstgefühle, die sich an 
unangenehme eigene Erfahrungen, Erzählungen von Unfällen Anderer 
oder an gutgemeinte Warnungen Erwachsener anschließen, die sich 
späterhin in psychomotorische Hemmungen umsetzen, dann aber auch 
Willensdefekte, welche sich im Mangel kraftvollen, raschen, zielbewußten 
Wollens geltend machen, ohne das keine turnerische oder sportliche 
Leistung möglich ist. In diesen Fällen hat es schon frühzeitig an 
dem natürlichen Bewegungsdrang gefehlt, an Spielfreudigkeit auf diesem 
Gebiete, das allen normalen Kindern eigentümlich ist, und dem der 
erwachsene Mensch, wie Bühler und Groos des Näheren ausführen, 
seine ganze motorische Geschicklichkeit verdankt. Wir haben es hier, 
wenn auch keine Defekte vorliegen, die dem Schwachsinn zuzuzählen 
sind, sicherlich mit psychopathischen Konstitutionen zu tun, die Fehl- 
leistungen auch auf anderen Gebieten des Seelenlebens aufweisen. 
Die krankhafte Veranlagung bezieht sich zweifellos auch auf deren 
Motorik, die schon in früher Kindheit zurückbleibt:e Wenn wir be- 
denken, daß normalen Kindern eine Bewegung immer nur solange 
Spielfreude gewährt, als sie ihm noch einige Schwierigkeiten bereitet 
und daß eben das Schwierige es immer einen Schritt weiter lockt, 
wie Bühler überzeugend ausführt, so kann man das ablehnende Ver- 
halten der Kinder in den oben erwähnten Fällen nicht mit der Be- 
zeichnung „Faulheit* abtun, sondern muß hier mit einem konstitu- 
tionellen Defekt schwerer Art rechnen, der wohl kaum durch Hilfe 
von außen jemals ausgeglichen werden kann. 

In anderen Fällen fehlt es nicht an Bewegungs- und Spielfreude, 
die Kinder drängen sich sogar heran, wenn Altersgenossen ihre 
motorischen Funktionen spielend üben, aber der motorische Apparat 
gehorcht den Willensimpulsen nicht, die Ausführung der Übungen ist 
mangelhaft, die Kinder kommen mit ihren Bewegungen zu spät oder zu 
früh, ihre Mitwirkung macht sich überall als Störung geltend, besonders 
beim gemeinsamen Turnunterricht, wo sie nicht bloß wegen ihrer Un- 
geschicklichkeit, sondern auch wegen ihrer stockenden, häßlichen. 


g Th. Heller: 


unharmonischen Bewegungen auffallen, die in krassem Gegensatz 
stehen zu den fließenden, weichen, anmutigen Bewegungen normaler 
Kinder, die ja die größten Meister (Rubens, Botticelli, Donatello, 
Luca della Robbia u. a. m.) zur Darstellung sich frei bewegender 
Kindergruppen veranlaßt haben. Besonders auffallend sind hier die 
Mängel in Takt und Rhythmus. Schon bei einfachen Marschier- 
übungen tritt diese Anomalie scharf hervor, und die „Nachstampfer“ 
bleiben jedem Turnlehrer in unangenehmer Erinnerung, zumal sich 
bei den meisten derartigen Kindern der Defekt nicht beheben läßt. 
Musikalische Begleitung der Übungen macht das Übel oft noch 
wesentlich schlimmer, da ja auch für musikalische Darbietungen keın 
rhythmisches Gefühl vorhanden ist und die betreffenden Kinder nicht 
imstande sind, taktmäßig zu singen. Dies ist in jenen Fällen besonders 
merkwürdig, in denen gutes Melodiengedächtnis besteht und die Kinder 
richtig intonieren können. Auch hier scheint es sich um einen Defekt 
zu handeln, der in manchen Fällen kaum behebbar ist und noch in 
reifen Jahren beobachtet wird, worauf Billroth in seiner bekannten 
Abhandlung: „Wer ist musikalisch?“ hinweist. Für den Tanz, in 
dem musikalische und körperliche Rhythmik in einander fließen, sind 
derartige Kinder völlig unbegabt. 

Es gibt Kinder, die mit ihrer motorischen Energie nicht haus- 
zuhalten verstehen. Wohl gelingen die gewollten Bewegungskoordina- 
tionen bis zu einem gewissen Grade, aber sie genügen in intensiver 
Hinsicht nicht, sind das einemal schwach und kraftlos, das andere- 
mal übermäßig derb, so daß manches zerstört wird, was zur Aus- 
führung der Bewegungen dienen soll. Ein derartiges Verhalten treffen 
wir nicht bloß bei Schwachsinnigen an, sondern auch bei intellektuell 
normalen Kindern, die man gewöhnlich als hochgradig ungeschickt 
bezeichnet, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen, daß hier ein 
schwerer Defekt auf motorischem Gebiet vorliegt. 

Über Beeinträchtigung der Sprache bei motorisch rückständigen 
Kindern wäre manches zu sagen. Ich kann nur andeuten, daß es 
sich hier in der Mehrzahl der Fälle nicht um Sprachstörungen in 
engerem Sinne handelt, sondern um Sprachentstellungen, die haupt- 
sächlich dem ästhetischen Gefühl der Zuhörer zuwiderlaufen und 
zumeist in Abweichungen hinsichtlich des Sprechtempos und der 
Wortmelodie, sowie in undeutlicher, verwaschener Artikulation be- 
stehen. Solche Anomalien der Sprache werden oft irrtümlich auf 
geistige Minderwertigkeit des Sprechenden bezogen, wie denn überhaupt 
wenige motorische Rückständigkeiten so häufig zu Fehlbeurteilungen 
Veranlassung geben, wie die auf dem Gebiete des Sprechens. 


Über motorische Rückständigkeiten bei Kindern. Q 


Wie auf der einen Seite motorische Rückständigkeiten bei Indivi- 
duen angetroffen werden, deren intellektuelle Fähigkeiten überhaupt 
nicht oder nur wenig geschädigt sind, so verfügen wir auf der andern 
Seite über ein reiches Material, das uns lehrt, daß auch bei intellektuell 
schwer geschädigten Individuen nennenswerte motorische Geschicklich- 
keiten vorkommen können. Man spricht in diesem Sinne sogar von 
talentierten Idioten, wenn auch die Talente zumeist in motorischen 
Begabungen bestehen, die auf höchst sonderbaren Nebengebieten zur 
Auswirkung gelangen und wenig praktischen Nutzen gewähren. ‚Aus 
diesen Erfahrungen könnte man folgern, daß motorische und intellek- 
tuelle Begabung voneinander unabhängig und einander nur koordiniert 
sind in der Weise, daß ihre Entwicklungsmöglichkeiten in keinem 
Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Nur dadurch, daß Er- 
ziehung und Unterricht beide Komplexe zusammenfasse, in einheitlicher 
Weise verbinde und in enger Verknüpfung und Verschmelzung ihren 
Aufgaben dienstbar mache, komme der Schein zustande, als ob der 
motorische und der intellektuelle Komplex einander ursächlich be- 
dingten. In Wirklichkeit steht aber die Sache wesentlich anders. 
Wenn wir keine Grenzfälle unserer Betrachtung zugrundelegen, sondern 
Fälle der durchschnittlichen Erfahrung, so sehen wir, daß eine hohe 
Intelligenz wohl imstande ist, aus geringen motorischen Fähigkeiten 
große Vorteile zu ziehen, sie gleichsam zu durchgeistigen und sie 
ihren Zwecken dienstbar zu machen. Ganz besonders aber ist es der 
Wille, der nicht bloß mit geringen motorischen Mitteln erstaunlich 
viel anzufangen weiß und auf motorischem (Gebiet oft geradezu 
schöpferisch auftritt, indem er sich latenter, gleichsam brachliegender 
Anlagen bemächtigt und sie selbst höheren Zielen entgegenführt. Was 
Willenskraft vermag, haben wir vielfach in Krüppel- und in Invaliden- 
schulen staunend gesehen. 

Aber auch motorische Betätigungen wirken zweifellos fördernd 
auf die Verstandesentwicklung ein, namentlich in der Kindheit. Sicherlich 
ist bei motorisch begabten Kindern die Art ihres Handelns, das Er- 
wachen von Geschicklichkeiten, wie es uns etwa im „Erfinden“ ent- 
gegentritt, nicht so sehr von verstandesmäßigen Erwägungen geleitet, 
als von Leistungen des Assoziationsmechanismus.. Karl Bühler 
betont ausdrücklich, daß der Einfall im prägnanten Sinne des Wortes 
zunächst eine blinde, d. h. uneinsichtige Leistung des Assoziations- 
mechanismus ist. Bei kleinen Kindern kommen die manchmal er- 
staunlichen Leistungen motorischer Art sicherlich nur auf dieser Basis 
zustande. Aber wir haben in den primitiven Assoziationen zweifellos 
ein Erbgut in uns, eine Niederschrift dessen, was Generationen vor 


10 Th. Heller: Über motorische Rückständigkeiten bei Kındern. 


uns einsichtig, d. h. auf dem Wege verstandesmäßiger Erfahrung, zu- 
stande gebracht haben. Jede Überlegung, die das auf assoziativer 
Basis, durch Einfälle Zustandegekommene sich vergegenwärtigt, hebt 
nun das mechanisch Vollbrachte auf eine höhere Stufe des Bewußtseins, 
bringt den Ablauf in das Verhältnis von Ursache und Wirkung, erfaßt 
ihn nach seiner logischen Seite und übt somit die Denktätigkeit an 
Stoffen, die umso wertvoller sind, als sie der eigenen Erfahrung ent- 
stammen. Wir verstehen somit die Bedeutung jener Bildungsstoffe, die 
der Schüler nicht rezeptiv aufnimmt, sondern erarbeitet. 

Wir sehen demnach, daß Einwirkungen auf Verstand und Willen 
auch der Motorik der Kinder zustatten kommen, wie umgekehrt jede 
Vervollkommnung der Motorik und hier besonders der manuellen 
Geschicklichkeit die Denktätigkeit der Schüler zu fördern imstande ist. 
Aufgabe des Lehrers muß es sein, diese gegenseitige Unterstützung 
und Anregung nach besten Kräften zu fördern und sich vor jeder Ein- 
seitigkeit zu hüten. Da aber das Verhältnis zwischen motorischen 
und intellektuellen Triebkräften beinahe bei jedem Kind ein anderes 
ist, so wird der Lehrer, wenn er seine Schüler wirklich zu höher 
qualifizierten Menschen zu machen beabsichtigt, dieses Verhältnis 
jeweils zu ergründen suchen und darnach sein pädagogisches Vorgehen 
orientieren müssen. Manche unbegreifliche Schwierigkeit in Erziehung 
und Unterricht würde mit einer solchen Feststellung ihre Lösung 
finden. Der Lehrer wird sich aber auch vor Augen halten müssen; 
daß es Fälle gibt, in denen tatsächlich ein krankhaftes, unbehebbares 
oder einer Besserung nur in geringem Maß zugängliches motorisches 
Verhalten vorliegt, das allen methodischen Künsten Trotz bietet. Wie 
wir längst gelernt haben, intellektuellen Minderwertigkeiten in Unter- 
richt und Erziehung Rechnung zu tragen, so müßten wir auch Fällen 
motorischer Rückständigkeit pädagogisch gerecht zu werden suchen 
und nicht Anforderungen aufrecht erhalten, die unerfüllbar sind. 
Verfehlt wäre es allerdings, bei intellektuell normalen, aber motorisch 
rückständigen Schülern durch Reduzierung der Anforderungen in vielen 
(segenständen die Ansprüche hinsichtlich der allgemeinen Arbeits- 
leistung auf ein Minimum herabzusetzen. Hier wäre ein Ausweg zu 
finden durch Anwendung des Kompensationsprinzips von Raschke, 
nach dem ermäßigte Anforderungen auf einem Gebiet durch erhöhte 
Anforderungen auf anderen Gebieten ausgeglichen werden. Jedenfalls 
erfordert die richtige Behandlung motorisch rückständiger Schüler 
besonders feinen pädagogischen Takt auch in Rücksicht auf die anderen 
Schüler, denen motorische Rückständigkeit nicht als begehrenswertes 
Ziel erscheinen darf, um Mühe und Arbeit zu sparen. 





Die seelische Differenziertheit 
als heilpädagogische Frage und Aufgabe.') 


Von 
Prof. Dr. med. August Homburger, Heidelberg. 


Die Gesamtheit des Fortschreitens in der Entwicklung des geistig- 
seelischen Lebens vom Einfachen, Einfältigen, Einförmigen zum Viel- 
fachen, Mannigfaltigen, Vielgestaltigen und vom oberflächlichen Er- 
fassen zum beziehungsreichen und vertieften Erfassen nennen wir in 
Übereinstimmung mit Jaspers Differenzierung, den Grad, und die 
Stufe, die der Einzelne in all diesen Hinsichten auf Grund seiner 
Anlage besitzt und erreicht seine Differenziertheit. In ihr bekundet 
sich seelischer Reichtum, geistiger Rang und Verfeinerung der Er- 
lebnisweisen und -möglichkeiten. In den erzieherischen Anschauungen 
auf das Wesentliche der Lebensgestaltung sich besinnender Geister 
galt es stets als eine Hauptaufgabe, diesen Differenzierungsprozeß 
zunächst auf seine natürlichen Voraussetzungen, die Anlagen, sorgsam 
zu prüfen, um ibn fernerhin mit den Mitteln der intellektuellen, sitt- 
lichen und ästhetischen Bildung überzeugend aber zwanglos, aus über- 
legenem Abstand und mit Verständnis für die Eigenart und die 
Gaben des Einzelnen zu fördern. Aus der Hand des Erziehers sollte 
dann nicht nur eine an geistigem Besitz möglichst reiche sondern 
auch eine möglichst harmonische Persönlichkeit ins Leben treten, 
mochte dieses Ziel auch erst unter ernsten und schweren inneren 
und äußeren Auseinandersetzungen erreicht werden. Ich erinnere 
an die Pädagogische Provinz in Goethes „Wilhelm Meister“ und an 
Stifters „Nachsommer“. Hier geht von vorneherein alles auf Qualität 
und Tiefe, Gründlichkeit und Ernst, Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung 
und Verantwortungsgefühl, jedenfalls also auf das Kernhafte der 
Persönlichkeit und dann erst auf die Erweiterung des Interessen-, 
Wissens-, Erlebnis- und Wirkungsbereiches. Der Wert solcher 


1) Vortrag gehalten auf dem 2. heilpädagogischen Kongreß in München am 
1. August 1924. 


12 A. Homburger: 


programmatischer Darlegungen lag in der werbenden Verkündigung 
eines Bildungs- und Persönlichkeitsideals einschließlich seiner mo- 
tivischen Grundlegung. Zwar können jene Zeiten weder an Kompliziert- 
heit des durchschnittlichen Einzellebens noch an psycho- 
logischer Einsicht in die Besonderbeiten nicht durchschnitt- 
licher und regelwidriger Persönlichkeitsstrukturen mit der beutigen 
verglichen werden. Es hat aber .gleichwohl einen guten Sinn, daß 
eine Betrachtung der Differenziertheit als heilpädagogische Frage und 
Aufgabe auf sie zurückschaut. 

Wichtig muß uns aber die Feststellung sein, daß die Difterenziert- 
heit nicht ein Sondergut der Abkömmlinge der sogenannten Bildungs- 
schicht ist. Ein Wesentliches an ibr wird gerade da erkannt, wo 
diese Voraussetzung nicht gegeben ist. Uns begegnet gelegentlich 
ein Mann, eine Frau, aus schlichten äußeren Verhältnissen, vom Lande 
aus entlegener Gegend, an denen uns ein nicht erwarteter seelischer 
Reichtum entgegentritt, der nicht auf Erlerntem und auf formaler 
Bildung, sondern auf der Weise und dem Maße des Wissens um sich 
selbst beruht. Das Maß: die Gegenwärtigkeit der Fülle des Einzelnen 
aus dem eigenen Werdegang; die Weise: die Einsicht in dessen Zu- 
sammenhänge, das Bewußtsein vom einheitlichen Ganzen, die Treue 
und ÜUnparteilichkeit, die Schlichtbeit und Gründlichkeit der Be- 
mühung; ein nachdenklicher Zug, eine gewisse Weltanschaulichkeit 
der Lebensauffassung bei ungelehrten, doch in ihrer Art selbst- 
besinnlich und betrachtend denkgeübten, von unverkennbarem Lebens- 
ernst getragenen, lebenstüchtigen Menschen. Sie waren schon als 
Kinder anders als der Durchschnitt, eben differenzierter, von höherem 
geistigem Rang. 

Als fast selbstverständlich nehmen wir eine höhere Differenziert- 
heit hin bei Abkömmlingen einer höheren Bildungsschicht, deren 
Geistigkeit schon früh durch Familienüberlieferung und Umgang 
Richtung und Gepräge erhielt. In unserer Zeit hat aber die Diffe- 
renziertheit von Kindern und Jugendlichen dieser Kreise einen be- 
sonderen Anstrich bekommen, der uns heilpädagogisch aus zwei 
Gründen interessiert: erstens wegen des Hinüberspielens in das Psycho- 
pathisch-Übersteigerte; zweitens, weil in der Tat ein guter Teil der 
auffällig differenzierten jugendlichen Psychopathen dieser Herkunft ist. 

Ich werfe die Kennworte „altklug“ und „frühreif“ in die Er- 
örterung, und es stehen sofort einzelne lebendige Beispiele einer be- 
stimmten Untergruppe der Typen, die ich meine, vor unseren Augen. 
Beides, Altklugheit und Frübhreife sind komplizierte Tatbestände, auf 
die man eigentlich ausführlicher eingehen müßte, die hier aber nur 


Die seelische Differenziertheit als heilpädagogische Frage und Aufgabe. 13 


kurz gekennzeichnet werden können. Beides sind Vorwegnahmen 
aus späteren Entwicklungsabschnitten, aber in ganz verschiedenem 
Sinne: Das altkluge Kind übernimmt von Älteren Urteile, Meinungen, 
Beobachtungen, mit dem Anspruch auf eine Geltung, die es nicht 
begründen kann, und trägt sie auf eine Weise vor, die komisch und 
peinlich zugleich wirkt. Die Altklugheit entspringt einem un- 
angemessenen (eltungsstreben, dessen intellektuelle Äußerungsform 
sie ist, dessen affektive uns oft am gleichen Kinde als vorlautes 
Wesen, als Aufdringlichkeit begegnet. Frübreif hingegen ist, von 
der sexuellen Sphäre ganz abgesehen, ein Kind, dessen geistige Rich- 
tungen, dessen Interessen, dessen Einblicke in das Leben der Er- 
wachsenen über seine Altersstufe in der Tat hinausreichen. Dieser 
Verlust der Unbefangenheit gegenüber dem motivischen Getriebe der 
Erwachsenen bedeutet eine Vertrauenseinbuße und damit eine seelische 
Komplizierung, die endgültig ist, einen Schritt, der ebensowenig zu-. 
rückgetan werden kann, wie der in der sexuellen Sphäre. Altklug- 
beit ist Scheindifferenziertheit niederster Stufe, Frühreife schon eine 
Art echter Differenziertheit. Dies Vorauseilen besagt aber nichts für 
den Grad und die Art der späterhin erfolgenden Differenzierung 
Sie braucht durchaus den Durchschnitt nicht zu übersteigen. Alt- 
klugkeit und Frühreife vereinigen nicht selten gewisse jugendliche 
Psychopathen, die durch eine ungewöhnliche geistige Beweglich- 
keit und namentlich dadurch auffallen, daß sie alles Mögliche anzieht, 
was aus den verschiedensten Interessenkreisen Erwachsener, aus 
Wissenschaft, Kunst, Literatur, Politik, Wirtschaftsieben und Technik 
an sie herangebracht wird. Sich die zum Verständnis erforderlichen 
Kenntnisse und die geistige Schulung selbst zu erurbeiten, fühlen sie 
nicht das Bedürfnis; aber die Mannigfaltigkeit dieser geistigen Welt 
hat es ihnen angetan, besonders das in ihr mögliche Gedankenspiel, 
der Streit und der Wettstreit der Meinungen. Im Dabeisein genießen 
sie eine Erhöhung des eigenen Selbstgefühls und sind auf rede- 
gewandte Zuspitzung und Schlagwort besonders begierig. Dann be- 
rauschen sie sich an dem Gehörten und Aufgefangenen und blenden 
damit, und man hört aus ihrem Munde immer das, was von der 
herrschenden geistigen Mode in irgend eine feste Prägung gebracht 
wurde, gelte es der Ablehnung des Alten oder der Verherrlichung 
des Neuen oder umgekehrt, je nach der in ihrem Kreise herrschenden 
Strömung. 

Sehen wir davon ab, daß wir als Erwachsene diesen Hergang 
durchschauen und wie wir ihn beurteilen, so bleibt als Ergebnis doch 
eine gewisse Zunahme der Differenziertheit übrig. Sie besteht in 


14 A. Homburger. 


einer Vermehrung des Stoffes, im, Kennenlernen von Menschen, An- 
sichten und Gesichtspunkten, vor allem von Möglichkeiten, sich durch 
geistige Mittel zur Geltung zu bringen. Freilich ist eine solche 
Differenziertheit rein äußerlich, nur leere Form und ohne Beziehung 
zum Kern der Persönlichkeit. Sie ist ein innerlich unechtes Neben- 
einander auch des miteinander Unverträglichen und Unvereinbaren, 
ein Schwimmen in geistreichelnd-dialektischer Verantwortungslosigkeit. 


Diese Art von Differenziertbeit der Oberfläche auf Grund guter 
Auffassung, geistiger Beweglichkeit und formaler Begabung verbindet 
sich auffallend häufig mit sonstiger Geltungssucht, Hämischkeit, Spott- 
lust, mangelnder Achtung vor fremdem geistigem Eigentum, vor andern 
Menschen .überhaupt, ferner mit Zuchtlosigkeit und Schwererziehbarkeit 
von jeher. 


Ein solcher 16jähriger z. B. ist noch Bettnässer, hält seine Kleidung unordent- 
lich und beschmutzt sie bei jeder Gelegenheit, er tyrannisiert seine Umgebung und 
ist gegen ihre berechtigten Wünsche auf Anpassung an die selbstverständlichsten 
geselligen Rücksichten völlig gleichgültig. Man hat ihm stets eine große Freiheit 
gelassen, ihn in keiner Weise beengt oder. ihm sonst zu einem Protest gegen fremden 
Willen Veranlassung gegeben. Einem andern fehlt der Sinn für die Reinhaltung 
des eigenen Körpers, sein Benehmen ist anmaßend und brutal. Gemütliche Kalte 
ist ihm eigen. Intellektuell versteht er sich vorzüglich in Szene zu setzen. Lebens- 
ziele haben beide nicht; sie sind krasse Egoisten und versuchen das Dasein als 
intellektuelle Genußmenschen unter Beherrschung ihrer Umgebung und auf deren 
Kosten möglichst lange fortzusetzen. 


Zum Vergleich skizziere ich noch einen 5jährigen Knaben aus einem alten 
Patrizierbause: mit 3 Jahren sagte er, als die Urgroßmutter zu Besuch bei seinen 
Eltern war: „Die Urahne muß bald in den Urahnensaal, da braucht sie mir nicht 
mehr zu sagen, daß ich ruhig sein soll; da kann sie recht gut schlafen; aber jetzt 
wird sie gerade geweckt". Als der Vater einmal laut und nachdrücklich, entgegen 
seiner sonstigen ruhigen Art mit der Mutter sprach, sagte der Junge, indem er sich 
gebieterisch aufrichtete: „Vater, so spricht man nicht mit. einem Fräulein!“ Es ist 
die klare, unmittelbare Situationserfassung, auf die es mir dabei ankommt. Sie zeigte 
sich auch bei der Betrachtung ihm ganz unbekannter Bilder in meinem Sprech- 
zimmer, des Angelus von Millet („da stehen sie und beten‘), eines Blattes aus 
Dürers Holzschnittpassion („das ist der Heiland“), des Bildes eines durchs Feld 
wandernden Mädchens mit der Sonnenblume von Hans Thoma. Der Junge ist alt- 
klug und vorlaut, als wäre er ein einziges Kind; er war sehr viel krank und ist 
daher verwöhnt. Er hat das herrische Auftreten seines Großvaters und die liebens- 
würdigen äußeren Formen seiner Mutter. der er außerordentlich äbnlich sieht. Damit 
setzt er sich durch. Er kann zutraulich und einschmeichelnd zärtlich, sanft und 
neckisch sein. Sehr ausgesprochen ist sein Sinn für Form und Farbe. Farbtöne, 
die nicht zueinander stimmen, duldet er nicht an seiner Kleidung, trägt lieber einen 
ihn in dieser Hinsicht befriedigenden alten, als einen ihn darin in etwas störenden 
neuen Anzug. In der Art, wie er Menschen begegnet, stuft er sehr genau ab. Das 
Kind hat eine ganze Reihe psychopatbischer Züge: es stottert seit einem Schrecken 
über einen neben ihm durch sein Verschulden herabstürzenden Spiegel, wobei ihm 


Die seelische Differenziertheit als heilpädagogische Frage und Aufgabe. 15 


das Kinderfräulein durch Anschreien das Weinen verbot und die Erregung nicht 
zum Abreagieren kommen ließ. Er leidet an Nachtschrecken, an dessen Entstehung 
die Herbeiführung sexueller Erregungen durch das gleiche Kinderfräulein eine be- 
stimmende Rolle gespielt haben dürfte. 

Sind die beiden ersten Fälle und die dabei gekennzeichnete Form 
der Differenziertheit Beispiele für die Verkleidung eines kernlosen 
Persönlichkeitsgerüsts, so herrscht bei dem dritten doch schon ein 
Beziehungsreichtum von echter innerer Zusammengehörigkeit vor. Es 
ist also nicht das Alter, das ausschlaggebend ist, sondern die innere 
Anlagestruktur und die Breite der unmittelbaren Ansprechbarkeit. 


Bei anderen Typen wird das Bild vorwiegend nicht von in- 
tellektuellen Faktoren beherrscht, sondern von der Differenziertheit 
der affektiven Erlebnisweisen. Ibre Grundlage ist das Unter- 
scheidungsvermögen für feine Abschattungen der Gefühle, der eigenen 
sowohl wie der Anderer. Überwiegt dabei die egozentrische Grund- 
einstellung und die Unlustqualität, so sprechen wir von Verletzlich- 
keit und Empfindlichkeit, sonst von Feinfühligkeit und Empfindsam- 
keit. Von der ersten Gruppe sehen wir ab; sie ist im Ganzen 
und in ihren Beziehungen zu Erziehungsschwierigkeiten durchsichtig 
und bekannt genug. 

Wir erwähnen sie nur als Durchgangspunkt zahlreicher Kompli- 
kationen im Spiele der Zu- und Abneigungen zu anderen Personen 
von der frühen Kindheit an und als Quelle ungezählter, die Naivität 
früh untergrabender Konflikte. Die Enge differenzierter Erlebnisweisen 
dieser Art verhindert die Differenzierung der Gesamtpersönlichkeit, 
sie drückt von vornherein nicht nur ihre Ausdehnung, sondern auch 
ihren Rang herab. Ein Seitenweg führt von der Feinfühligkeit über 
die Empfindsamkeit zur kränklichen Sentimentalität, der Leidens- 
seligkeit im Erfülltsein von Gefühlen. 

Die Feinfübligkeit gründet in einer eigenartigen letzten, zum 
Kern der Persönlichkeit gehörigen, an das Wissen um sich selbst ge- 
bundenen, unmittelbaren Gewißheit von der Unterschiedenheit der 
gefühlsmäßigen Wirkung von Worten, Handlungen, Eindrücken und 
Erlebnissen der mannigfachsten Art auf die verschiedenartigsten 
Menschen, wobei die Gewißheit um so größer ist, je mehr die Art des 
eigenen Wesens der Einfühlung in das fremde zu Hilfe kommt. Da 
die Feinfühligkeit die Grundlage des klugen Abwägens, der Rücksicht, 
des verständnisvollen und des wohlwollenden Hinblickens auf fremde 
Wünsche, Gesinnungen, Rechte, Bedürfnisse und Schwächen ist, findet 
sie ein — von früher Kindheit an mitzunehmender Kenntnis der mensch- 
lichen Beziehungen — wachsendes Feld der Beanspruchung. Sie kommt 


16 A. Homburger: 


eigentlich nie zur Ruhe, auch nicht als Quelle der Antriebe zum 
Handeln. Aber Rücksicht und Schwäche wohnen dicht beieinander. 

Der Empfindsame lebt schon selbstgefällig in seiner Feinfühligkeit 
und entwertet sie dadurch. Auch dies begegnet uns bereits beim 
Kinde. Solche mehr mädchenhafte Richtungen haben bei Knaben 
schon die Bedeutung des Abnormen. ‘Knaben von hochentwickelter 
Feinfühligkeit sind gewöhnlich krankhaft verletzlich, launenhaft, ver- 
stimmbar, zu pathologischen Reaktionen geneigt und kraftlos Da die 
Feinfühligkeit angenehm macht, wird sie oft hochgezüchtet und dem 
durch sie ausgezeichneten Kinde werden Reibungen und Konflikte, 
Härten und Kämpfe ferngehalten. Es wird zur Feinsinnigkeit er- 
zogen, d. h. seine gemütliche Differenziertheit wird fruchtbar gemacht 
auf intellektuellem, insbesondere aber auf ästhetischem Gebiete. Interesse 
für schöne Literatur, für Kunst, insbesondere für Kleinkunst und Kunst- 
gewerbe wird einseitig gepflegt. So entsteht gewiß Qualität, aber die 
Qualität der Treibhauspflanze. Sie ist gekennzeichnet durch künstliche 
Überfeinerung, die mit den Anforderungen der Wirklichkeit dauernd 
in Widerstreit geraten muß, weil aus ihr wie aus der Einseitigkeit 
weltfremde Maßstäbe und Ansprüche abgeleitet werden. 

Ein reger Intellekt wird bei differenziertem Gefühlsleben schon 
früh den Unterschieden zwischen eigenem und fremden Wesen nach- 
spüren und an ihm Kritik üben und Stellung nehmen. Dies kann zu 
starker Zurückhaltung, auch zu vornehm-tuerischer Exklusivität führen, 
wenn aus diesen Vergleichen sich eine besondere Hochbewertung der 
eigenen Person ergibt; ein hochnäsig-verstiegener, mit seinen „Schätzen“ 
geizender, in seiner Abschließung sich gefallender Charakter kann sich 
daraus entwickeln. Man findet diesen Typ vorwiegend bei Mädchen 
aber auch bei Jungen mit geziert femininem Einschlag. 


Die dritte uns heilpädagogisch belangvolle Art der Differenziert- 
heit vereinigt intellektuelle und affektive Differenzierungen in mannig- 
fachen Mischungen und Unterarten, unter denen die disharmonischen 
uns vornehmlich beschäftigen. Beginnen wir wieder mit einem Beispiel. 


Ein 14jähriger Junge aus einer alten Familie, in der die Männer von jeher 
neben der Verwaltung des großen Besitzes in öffentlichen Ämtern standen, zeigt ein 
ungewöhnliches historisches Interesse. Er liest geschichtliche Werke nicht wie ein 
Kind als eine Sammlung von Geschichten, merkwürdigen und durch den zeitlichen 
Abstand anziehenden Ereignissen, sondern etwa wie ein Primaner, das heißt mit 
Sinn für das Wesentliche, für den engeren und weiteren Zusammenhang, mit dem 
Bedürfnisse des Vergleichens. Besonders interessiert ihn das deutsche Mittel- 
alter, und es ist für die Art dieses Interesses charakteristisch, daß er sich dabei 
des historischen Atlasses bedient, um sich die Einzelheiten z. B. Wechsels der terri- 
torialen Herrschaften. der Feldzüge usf. gegenwärtig zu halten. Er macht sich aus 


Die seelische Differenziertheit als heilpädagogische Frage und Aufgabe. 17 


seiner Lektüre Auszüge, die zeigen, daß er nach Gesichtspunkten ordnet, daß er 
Zeiträume vergleicht, Persönlichkeiten zu erfassen sucht. Sein Interesse am Ge- 
schichtlichen ist äußerst lebhaft; er erwärmt und begeistert sich dafür, wird davon 
so gefesselt, daß er sich nur schwer losmachen kann. Die anderen Schulfächer sind 
ihm langweilig, d. h. in der Art, wie sie ihm dargeboten werden. Man kann ihn 
aber auch für Latein und Griechisch interessieren, wenn man auf das Sprachpsyoho- 
logische, die Ausdrucksweisen, die Wortgebilde, eingeht, und für Botanik und Zoologie 
durch Hinweis auf die Lebensvorgänge. Die intellektuelle Differenziertheit zeigt sich 
in dem Sinne für das Allgemeine, für Einsichten und zusammenfassende Gesichts- 
punkte. Der Aneignungswille zum Erwerb des hierzu erforderlichen Wissensstoffes 
ist aber auf ein einziges Gebiet beschränkt, auf diesem aber ernst und eindringlich. 
Im übrigen ist er noch durchaus ein Kind; ja er ist in vieler Hinsicht noch geradezu 
spielerisch. Geschichtliche Vorbilder machen auf ihn Eindruck, das Wirken lebender 
Menschen viel weniger. Tätige Menschen, wie z. B. sein Vater, bedrücken ihn; er sieht 
in ihnen die Verkörperung eines „Muß“, auch die Verkörperung einer gegen ihn 
und seinen Hang zur körperlichen Trägheit gerichteten Macht. Mit der Wahrheit 
nimmt er es wenig genau; er lügt sich gerne aus irgend einer Klemme heraus. 
Auch der Versuchung zu Entwendungen, die bei dem Lebenszuschnitt der Familie 
gar keinen Sinn haben, sondern nur um des Verbotenen willen reizvoll sind, verfällt 
er. Infolgedessen beherrscht ihn sehr häufig Angst vor Entdeckung, wobei eme 
gewisse Sensation als Lustmoment mitspielt. In seinem Gemütsleben ist er im 
Grunde freundlich, zart, weichen Regungen zugänglich, auch dankbar und für offene, 
klare und ruhige Führung durchaus empfänglich, andererseits ist er mißtrauisch und 
verschlossen und bat nur ein geringes Selbstvertrauen. Charakteristisch ist, daß er 
gar keine Menschenkenntnis besitzt; ar hat seinen Altersgenossen gegenüber nicht 
das sichere knabeuhafte „ja“ und „nein“ der Bewertung ibrer Art und ihres Charakters; 
er bat weder den Mut dazu noch auch die subjektive Sicherheit der Meinung. Des 
Vaters scharfe Kritik fürchtet er, kennt aber kein größeres Glück, als wenn der 
Vater sich mit ihm abgibt; die Mutter, die ihn genau kennt und richtig beurteilt, 
nicht schwach gegen ihn ist, ihm aber mit natürlicher Wärme und gesunder Frische 
begegnet, ist der einzige Mensch, zu dem er ein klares inneres Verhältnis hat. 


Eine sehr wichtige Untergruppe sind die künstlerisch Veranlagter, 
die, sei es zeichnerisch, malerisch, bildnerisch, dichterisch oder repro- 
duktiv musikalisch und schauspielerisch, erzählend und vortragend oder 
schließlich pantomimisch und im Tauze ihrer intellektuellen und affek- 
tiven Differenziertheit Ausdruck geben. 


Sie heben sich, insofern sie sich vor anderen und für andere 
betätigen, ohne weiteres aus ihrer Umgebung heraus und gewinnen 
eine Menge von Beziehungen persönlicher und sachlicher Art, die 
eine Ausgestaltung ihres seelischen Lebens mit sich bringen: sie er- 
fahren Kritik, Beifall, Bewunderung, Schmeichelei, Neid und Eifer- 
sucht; füblen in sich Stolz, Eitelkeit, Aneiferung, Streben, Ver- 
tiefung; viele von ihnen verlieren mit der Geborgenheit in einem 
kindlichen Lebenskreise zugleich die Einheitlichkeit des Zugehörigkeits- 
gefübls, indem es sie bald zu ihren Altersgenossen bald zu den Er- 

Zeitschrift für Kinderforschung. Bd. 30. 2 


18 j A. Homburger: 


wachsenen hinzieht, je nachdem sie ihren naiven oder ihren unnaiven 
Tendenzen Gehör schenken. Für diejenigen unter den künstlerisch 
Veranlagten, die ihrer Anlage im stillen, also nur für sich und aus 
dem Gestaltungsdrange heraus, Ausdruck geben, liegen die Kom- 
plikationen in den Wirkungen dieser Verhaltung. Sie leben bewußt 
in zwei Welten, von denen die eine ausschließlich ihnen gehört, 
während sie die andere mit allen übrigen teilen. Der Anteil aber, den 
sie daran nehmen, und die Art, wie sie es tun, ist äußerst verschieden: 
die einen verbältnismäßig schlicht und natürlich, andere aus einer 
geringschätzigen Entfernung und wieder andere mit einer schmerzlich 
empfundenen Unfähigkeit, sich frei, gesund und kräftig unter die 
Kameraden und ihr Treiben zu mischen. Ihre Besonderheit führt zur 
Abseitigkeit. Unter diesen Kindern sind Reizbare, Unverträgliche, 
Bewegungsunruhige, Schreckhafte und Stotterer keine Seltenheit. 

Wir wollen unsere Hinweise auf Abarten der seelischen Diffe- 
renziertheit im Kindesalter, die ein heilpädagogisches Interesse haben, 
damit schließen und nun fragen, welchen Nutzen es hat, den Gesichts- 
punkt der Differenziertheit überhaupt so in den Vordergrund zu stellen. 
Zunächst einmal den einen, daß wir einsehen: es gibt eine Differen- 
ziertheit in der intellektuellen und der affektiven Sphäre, die teils aus 
der Anlage, teils aus kulturellen Einflüssen stammt, die echt sein und 
den Kern der Persönlichkeit ergreifen, die aber auch unecht sein und 
die Oberfläche betreffen kann. Es gibt aber keine Differenziertheit 
des Willens. Der Wille ist nur quantitativ verschieden, stark oder 
schwach, zäh und ausdauernd oder leicht erlahmend, fest oder be- 
einflußbar. Differenziert sind die Beweggründe und die Ziele, die in 
Intellekt, Affektivität und Triebhaftigkeit ihren letzten Ursprung haben. 
Uns interessierte bei unserer Betrachtung nicht, welchem Typus der 
Psychopathie der einzelne Fall angehört. Daß Hysterische, Stimmungs- 
labile, Reizbare, Ängstliche usw. darunter sind, ist Ihnen nicht ent- 
gangen. 

Um der Differenziertheit willen allein kommt kein Kind zum 
Heilpädagogen, sondern deshalb, weil es zugleich in irgend einem 
Sinne unsozial, besonders häufig, weil es willenschwach, haltlos. abnorm 
beeinflußbar, energielos und schlaff ist und den Erfordernissen des 
praktischen Lebens sich nicht anpassen will oder kann. Während 
der harmonischen mit normalem und normalgerichtetem Willen aus- 
gestatteten Persönlichkeit ihre Differenziertheit die Fülle von lust- 
betonten Erlebnissen und von wachsenden Leistungen bedeutet, schafft 
sie dem Psychopathen je nach ihrer und seiner Art große Qualen, 
Konflikte und Mißerfolge, die in ihrer Gesamtheit über das Positive 


Die seelische Differenziertheit als heilpädagogische Frage und Aufgabe. 19 


weit überwiegen können. Trotz seines Reichtums bleibt er oft arm, 
und sein Leben zeigt keinen Aufstieg und keine klare Linie. Er 
meistert es nicht, sondern wird das Opfer seiner Differenziertheit. In 
einer harmonischen Persönlichkeit ist das Gegenwicht der Differen- 
zıertheit die Zucht, die Erziehung zu klaren Entscheidungen, zur 
Übernahme von Pflichten, zur Setzung. von Zielen und Zwecken und 
die planmäßige und harte Schule des Willens zur Erfüllung. Das 
gilt wie auf geistigem so auch auf körperlichem Gebiet. Denn es 
gibt keine Zucht ohne Beherrschung des Körpers. Die Differenziertheit 
eines Kindes verleitet aber den Erzieher leicht zur falschen Nachsicht, 
zur Gewährung einer Sonderstellung, zu einer zuweitgehenden Indi- 
vidualisierung, zu einseitiger Pflege der besonderen Begabungen und 
zur Befreiung von selbstverständlichen Leistungen und Pflichten 
namentlich auch von körperlichen Arbeiten. Hieran und an dem 
Gefühl solcher Kinder, ihren Eltern an geistiger und gemütlicher 
Beweglichkeit und Empfänglichkeit überlegen zu sein, zerbricht das 
erzieherische Ansehen und der Einfluß des Elternhauses. In vermeint- 
licher Notwehr zur Verteidigung seiner Eigenart, also in kämpferischer 
oder ausgesprochen feindseliger Gesinnung steht das Kind ihm 
schließlich gegenüber, so daß nur die Übergabe in andere Erzieher- 
hände übrig bleibt. Bedenklich ist dabei ganz besonders noch ein 
Punkt, den wir bisher noch nicht erwähnt haben. Die gesunde und 
ursprüngliche Liebeswelt des Kindes ist zerstört, sein natürliches 
Zuneigungsverlangen bleibt unbefriedigt und entgleist infolgedessen, 
sei es in autoerotischem Sinne, sei es in allerlei mehr oder minder 
abnormen Richtungen sadistischer, masochistischer, homosexueller Art 
oder auf dem Wege der Kontrastreaktion in die Gegenrichtung des 
Hasses, der sich gegen einzelne Personen namentlich die Eltern und 
Geschwister oder gegen die Menschen im allgemeinen als Menschen- 
und Gesellschaftsfeindlichkeit richten kann. Dies sind die Richtungen 
der Entgleisung; im Einzelnen ist der Hergang selbst oft unendlich 
verwickelt; doch ist hier nicht der Ort, darauf einzugehen. 

Aber für alles weitere, für die Aufgabe, vor die der Erzieher 
dieser Kinder nunmehr gestellt ist, ist die Einsicht gerade in diese 
Zusammenhänge besonders wichtig. Er wird sich, so sagten wir, vor 
zu weitgehender Individualisierung hüten müssen, weil er das Kind 
ja sozialisieren und zu diesem Zwecke in einem noch zu erläuternden 
Sinne entdifferenzieren soll. Aber individuell erfassen muß er es zu- 
vor und zwar in einer Weise, daß das Kind sich auch erfaßt und 
verstanden und trotzdem gezwungen fühlt, Abstand zum Erzieher zu 

9* 


20 A. Homburger: 


halten. Hier muß der erste Schritt zur Entdifferenzierung getan 
werden. Die zur Sucht gewordene Geltendmachung persönlicher 
Finessen, ausgeklügelter Bedürfnisse, zur Gewohnheit gewordener An- 
sprüche muß der Bestimmtheit und Klarheit des erzieherischen Willens, 
der sich im Geiste des Hauses schon als Stil, als geprägte Lebensform 
durchgesetzt hat, geradezu automatisch weichen. Die sozusagen kom- 
pakte Majorität der Gesinnungseinheit der Anderen wird meist bier 
selbsttätig wirken und sie tut es erfahrungsgemäß in vielen auch 
schwierigen Fällen sofort. Damit entledigt sich das Kind unwesent- 
licher Nebenerzeugnisse seines bisherigen überdifferenzierten Ver- 
haltens und wird freier. Aber es achtet noch nicht im Geiste der 
Anstalt, des Hauses, der neuen Lebensgemeinschaft die Persönlichkeit 
des Erziehers, wenn gleich es sie durchfüblt und sich ihr fügt. Daß 
es überhaupt jemanden achten lernt, daß es Abstand wahren und zu- 
gleich furchtlos aufblicken lernt, darin gerade muß seine Umorieutierung 
bestehen. Sie begegnet oft einer sehr großen Schwierigkeit. Gewohnt, 
entweder zu lieben oder zu hassen oder in gleichgültiger bezw. über- 
heblicher Nichtachtung zu verharren, knüpft es an die Person, die 
es im genannten Sinne zu achten beginnt, auch sein Liebesbedürfnis. 
Die Stürmischkeit der Entfaltung dieser bisher eingedämmten oder ver- 
drängten erotischen Strömung läßt sich nicht leicht auf Verehrung 
aus der Entfernung beschränken und die mit ihr verbundene 
Schwärmerei sich nicht leicht von dem Verlangen nach einer Vorzugs- 
stellung reinigen. Beides zu erreichen durch Veredelung, so muß 
man Freuds Sublimierung im erzieherischen Sinne übersetzen, strebt 
ein erzieherisches Bemühen, das auf den Kern der Persönlichkeit ohne 
Weichheit und Schwäche eingeht, das wirklich führt und für den 
Geführten gesanıt-psychisch und nicht nur erotisch zwingend ist. 
Wirkliche Führung setzt Wertungsmaßstäbe und zwingt zum Verzicht 
auf Minderwertiges und Äußerliches, auf Zuspitzung und Übertreibung. 
Die Mitwirkung des erotischen Momentes in Form der verehrenden 
Zuneigung ist sicher nirgends zu entbehren, wo auf äußeren Zwang 
verzichtet werden soll, aber die Gefahr des Mißbrauchs von beiden 
Seiten ist nicht zu unterschätzen. Ich brauche nur den Namen 
Blühers zu nennen, um zu zeigen, was ich meine. Eine gute erste 
Grundlage zur Erreichung von körperlicher und geistiger Zucht, zur 
Selbstbeherrschung gegenüber weichlichen Regungen jeder Art ist sicher 
ım Kinde das Bewußtsein, wem zu Liebe sie geübt wird. Solange 
diese Bindung erhalten bleibt, ist die Zucht aber nur Scheinzucht. 
Sie von der persönlichen Verknüpfung wieder zu lösen, so daß sie 
den, Zögling frei zu eigen wird, ist der viel schwierigere Teil dieses 


Die seelische Differenziertheit als heilpädagogische Frage und Aufgabe. 21 


Entwicklungsprozesses. Von der Lösung dieser persönlichen Bindung 
ist die Gewinnung der Achtung vor fremder Eigenart überhaupt, 
nicht nur vor der des Erziehers abhängig und zum großen Teil die 
spätere Bewährung im praktischen Leben. 

Fassen wir zusammen, so ergeben sich die heilpädagogischen Auf- 
gaben gegenüber den seelisch differenzierten Psychopathen aus den 
Gefahren, welche die verschiedenen Arten der Differenziertheit mit 
sich bringen. Wir haben sie erkannt als: Zerplitterung der Inter- 
essen, Zerrissenheit des Gemütslebens, Widersprüchlichkeit der Stellung- 
nahmen, übertriebene Zuspitzung des Verhältnisses zu einzelnen Menschen 
in der Richtung der Gegensätze von Zuneigung und Abneigung. Das 
vermehrte und verfeinerte Wissen um sich selbst führt zur Überfeinerung 
des Gefühlslebens, die einseitige Beschäftigung mit sich selbst, sei 
es im Sinne der Selbstzerfaserung, sei es in dem der Selbstüberschätzung 
zu Verwicklungen, Konflikten und Entgleisungen in allen persönlichen 
Beziehungen. | 

‚ Diesen Gefahren begegnet die Heilerziehung durch Schaffung von 
Gegengewichten. Deren vornehmstes ist bei voller Anerkennung der 
individuellen Eigenart und besonderer Begabungen die Zucht, die Dis- 


ziplinierung des Willens, der an sich jenseits der Differenziertheit steht _ 


und nur quantitativen Abwandlungen unterliegt. Sie weist den Zög- 
ling auf erreichbare Ziele und sinnvolle, den Fähigkeiten gemäße 
Zwecke. Besonderen Wert legt sie auch auf die Wirkung des Leistungs- 
ehrgeizes, des Wirklichkeitssinnes und des Verantwortungsgefühls für 
Tun und Reden. Der Neigung zu weiterer individualistischer Diffe- 
renzierung setzt sie die Einstellung auf überindividuelle, allgemein- 
verbindliche Werte und Normen ethischer und sozialer Art entgegen. 
Sie erstrebt die Erkennung und Anerkennung fremder Eigenart. Sie 
verlangt vom Einzelnen die Ausbildung der produktiven Anlagen mit 
seiner ganzen Kraft, zeitweise mit betonter Einseitigkeit, um beste 
Leistungen und damit einen eigenen Maßstab zu erreichen. Die gleich- 
zeitige Darbietung vielseitigen geistigen Materials weicht besser einer 
einsichtig bestimmten Folge, damit statt Verbreiterung Vertiefung er- 
reicht wird. In der Durchführung ist Rücksichtslosigkeit oft nicht 
zu entbehren, wenn bei solchen Kindern und Jugendlichen der Sinn 
für Güte und Echtheit einerseits, der für innere Straffheit und Ge- 
schlossenheit andererseits entwickelt werden soll. Von Psycho- 
patbie und Abnormität darf ihnen gegenüber nie die Rede sein, 
sondern nur vom persönlichen Wesen. 


22 | A. Homburger: Die seelische Differenziertheit usw. 


Letzten Endes steht die Heilpädagogik den differenzierten Psycho- 
pathen gegenüber stets vor einer Doppelaufgabe: Wohl wissend, daß 
in gar manchen von ihnen ein kostbares Gut liegt, muß sie sie geistig 
so führen, daß sie das Maß geistiger Freiheit und den Rang geistiger 
Leistungen erreichen, zu dem ihre Differenziertheit sie befähigt, und 
sie sozial zu einer Lebensführung erziehen, in der sie die Gefahren 
bewußt vermeiden, die mit ihrer Wesensart verbunden sind, und so 
jeden nach seiner Art rechtzeitig dem richtigen Berufe zuführen und 
ihn so früh als möglich einstellen in ein tätiges Leben. 


Die Erziehung männlicher Psychopathen 
in den Anstalten.!) 


Von 


Sanitätsrat Dr. Lückerath, 
Direktor der Rheinischen Provinzial-Fürsorgeerziehungsanstalt Euskirchen. 


Die Erziehung der männlichen und auch der weiblichen Psycho- 
pathen muß von dem Gedanken ausgehen, daß die Psychopathen 
erziehungsfähig sind, daß sie für das Leben brauchbar sind bezw. 
gemacht werden können. Psychopathen, die nicht mehr erziehungsfähig 
sind, können nicht mehr Objekt der Fürsorgeerziehung sein und 
müssen aus ihr ausgemerzt werden. Zu diesen letzteren gehört ein 
Teil der Psychopathen, bei welchen wir eine organische Erkrankung 
des Gehirns voraussetzen müssen, wie bei den nach Gehirnverletzung 
oder Gehirnentzündung (Encephalitis) auftretenden psychopathischen 
Zuständen. Ich denke hier besonders an die nach „Schlafkrankheit“ 
oder „Schlafgrippe* sich entwickelnden Wesensänderungen im Sinne 
einer Psychopathie. 

Die Erziehung hat dann aber der Tatsache Rechnung zu tragen, 
daß die psychopathischen Zöglinge anders sind wie andere Menschen, 
daß wir es bei ihnen mit abnormen Menschen zu tun haben, daß in- 
fulgedessen die Erziehung nicht in allen Punkten nach den Grund- 
sätzen erfolgen kann, wie bei geistig gesunden Zöglingen. Die Er- 
ziehung der Psychopathen muß demgemäß modifiziert sein, sie muß 
einen psychiatrischen Einschlag haben, sie muß von psychiatrischen 
Gesichtspunkten getragen sein. 

Es ist zu unterscheiden, wie im einzelnen Falle die psychopathische 
Persönlichkeit beschaffen ist; es gibt sozusagen leichte und schwere 
Psychopathen. Die Psychopathen stellen umgrenzte Entwicklungs- 
hemmungen dar; sie sind in ihrer Gemüts-, Willens- und Charakter- 
bildung auf einer früheren Stufe der Entwicklung stehen geblieben 


1) Vortrag gehalten auf dem 2. heilpädagogischen Kongreß zu München am 
1. August 1924. 


24 Lückerath: 


als ihrem Alter entspricht, auf der Stufe der Kindheit oder auf einer 
noch tieferen Stufe, wogegen die Intelligenz normal ist oder sein kann. 
Es ist für ihre Beurteilung, Behandlung und Erziehung, von der größten 
Bedeutung, auf welcher Stufe der Psychopath stehen geblieben ist, ob 
z. B. auf der Stufe eines 9—10jährigen oder 3—4jährigen Kindes usw. 
Je nachdem haben wir es mit einem” leichten oder schweren zu tun 
und das ist natürlich von großem Einfluß auf die Erziehung. Die 
Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit, auf der die 
Psychopathen sich bewegen, ist kein schmaler Pfad, sondern eine breite 
sehr begangene Straße; der schwere Psychopath bewegt sich auf der 
Grenze nach der Krankheit, der leichte auf der nach der Gesundheit. 
Es ist also verständlich, daß sie je nach ihrer Stellung, nach ihrem 
geistigen Gesundheitszustand eine verschiedene Behandlung und Er- 
ziehung nötig haben. 

Auf alle Fälle ist vom Grundsatz auszugehen, daß der Psychopath 
an sich nicht geisteskrank im eigentlichen Sinne ist, daß er also auch 
nicht unzurechnungsfähig, sondern für sein Tun verantwortlich ist. 

Wir können von den uns zu Gebote stehenden Erziehungsmitteln 
Gebrauch machen, werden nur im einzelnen Falle individualisieren, 
sie modifizieren müssen. 

Die Zahl der Psychopathen ist in den Anstalten verhältnismäßig 
groß, die der normalen Zöglinge gering; von den 158 Neuaufnahmen 
in unserer Anstalt vom 1. Januar bis 1. Juli 1924 sind nur 47 als 
normal zu bezeichnen, 65 als Psychopathen und 50 als debil; unter 
diesen letzteren befinden sich auch noch einige Psychopathen. Man 
kann schon aus diesem Grunde, aus der großen Zahl, die Forderung 
aufstellen, daß die Erziehungsgrundsätze für die Psychopathen in den 
Anstalten die vorherrschenden, maßgebenden sein müssen. Auf der 
II. Tagung für Psychopathenfürsorge in Köln hat der Vorsitzende des 
allgemeinen Fürsorgeerziehungstages, Pastor Backhausen erklärt, daß 
die pädagogische Methode, welche den Psychopathen zu helfen imstande 
ist, in der Fürsorgeerziehung die Durchschnittsmethode werden müsse, 
und Direktor Mönkemöller hat ebenda erklärt, daß die Fürsorge- 
erziehung wie sie jetzt sei, in ihrem wichtigsten Teile eine Erziehung 
der Psychopathen sei und daß jede Anstalt dazu berufen sei an diesem 
Werke mitzuarbeiten. 

Das ist richtig; die Zahl der Psychopathen überwiegt; jede An- 
stalt hat eine ganze Anzahl. Mit diesen muß sie nicht nur fertig werden, 
sondern sie muß sie auch zum Leben erziehen können. Das wird ihr 
nur mit cinem geringen Teil, den schwer erziehbaren, nicht gelingen; 
für diese sind besondere Anstalten bezw. Abteilungen nötig, wo sie 


Die Erziehung männlicher Psychopathen in den Anstalten. 25 


ihre besondere Erziehung erhalten, teils ihrer selbst willen, teils der 
anderen willen. 


Eine solche Abteilung habe ich in Euskirchen. 


Wenn ich die Grundsätze nennen soll, nach welchen ich in meiner 
Anstalt die Psychopathen erziehe, so möchte ich sagen, daß ich ver- 
suche sie unter Berücksichtigung ihrer psychischen Abnormität an 
Zucht und Ordnung, Gehorsam und Arbeit zu gewöhnen, und daß ich 
versuche, ihnen die seelischen Hemmungen beizubringen, die ihnen 
bis dahin gefehlt haben, und sie an Unlustgefühle zu gewöhnen. 


Wir wollen für das Leben erziehen. Es ist nicht schwer ohne 
besondere Konflikte mit diesen schwierigen Individuen in der Anstalt 
auszukommen, wenn man zu sehr individualisiert und ihrer Sonderart 
zu viele Konzessionen macht. Das würde aber nur zur geistigen Ver- 
weichlichung führen und den späteren Lebenskampf erschweren. Wir 
müssen die Zöglinge dahin erziehen, daß sie lernen ihren Trieben 
und Impulsen nicht haltlos nachzugeben, daß sie bei Ablehnung einer 
Bitte, eines Wunsches nicht auftrotzen, daß sie auf unangenehme Vor- 
fälle nicht mit einer psychopathischen Reaktion antworten; sie müssen 
ihren Trieben Hemmungen anlegen lernen, sie müssen sich an Unlust- 
gefühle gewöhnen, unlusterregende Ereignisse hinnehmen lernen wie 
das Leben das von allen erwachsenen Menschen verlangt; sonst können 
sie später nicht bestehen, werden glatt versagen. Alles was zur Hebung 
des geistigen Niveaus geschehen kann, muß geschehen, der Gesichts- 
kreis soll möglichst erweitert werden; alles was zur Ausgleichung der 
Gemütsstimmung, zur Hervorrufung einer möglichst gleichmäßigen 
Gemütsstimmung dienen kann, alles, was regelmäßige, gleichmäßige 
auf einen Fortschritt zielende Handlungen herbeiführen kann und da- 
durch der Willensschulung dient, muß zur Erziehung verwertet werden. 
Die drei Forderungen der Erziehung normaler junger Menschen, Er- 
ziehung zum Gehorsam, Erziehung zur Arbeit und Erziehung zu sitt- 
lichen Lebensanschauungen, gelten auch für die Psychopathenerziehung. 


Der erste und jedenfalls ein sehr wichtiger Schritt dieser Erziehung 
ist die Entfernung aus der bisherigen Umgebung und die Unterbringung 
in der Anstalt. Ein guter Teil der Psychopathen sind Milieu-Psycho- 
pathen, insofern als die ungünstige Umgebung die Entfaltung ihrer 
psychopathischen Eigenschaften begünstigt, ja diese überhaupt oft erst 
in Erscheinung treten läßt. Eine gut geleitete Anstalt mit ihren 
hygienischen Einrichtungen, ihrer guten Ernährung und Körperpflege, 
mit ihrer Ordnung und Disziplin, mit ihren sittlichen Grundsätzen ist 
für die Behandlung und Erziehung nicht nur normaler jugendlicher 


26 Lückerath; 


Menschen, sondern ganz besonders von psychopathischen Persönlich- 
keiten von der allergrößten Bedeutung. 

Der psychopathische Zögling muß gehorchen lernen, er muß sich 
der Anstaltsordnung unterwerfen und eine Autorität über sich er- 
kennen; er muß lernen, seine eigenen Wünsche und Strebungen, seine 
Triebe unterdrücken; er kann es auch. 

Es ist eine große Seltenheit, daß in meiner Anstalt ein Psychopath 
einem Erzieher den Gehorsam verweigert; wo es einmal vorkommt, 
genügt meine Autorität als Direktor, um den Gehorsam schnell herbei- 
zuführen, dabei bedarf es keiner schroffen Mittel, eine kurze Unter- 
weisung, Besprechung genügt. 

Der Psychopath muß arbeiten lernen; seine Arbeit muß einen 
Zweck haben; sie muß dem Zögling einen Nutzen bringen; sie soll, 
wenn eben möglich, Arbeit für einen Beruf oder in seinem Berufe 
sein. Dieser Arbeit unterwerfen sich die Psychopathen gern. Es ist 
freilich nicht immer möglich, jemand in seinem Beruf zu beschäftigen. 
Wenn mir einer erklärt, er wolle Kellner werden, kann ich ihn natür- 
lich in seinem Berufe nicht beschäftigen; er bekommt dann eine 
Arbeit, die ihn gesundheitlich möglichst fördert. Die Ausbildungs- 
möglichkeiten sind natürlich in einer Anstalt beschränkt, immerhin 
können wir in unserer Anstalt die Zöglinge im Handwerk (Schreinerei, 
Schlosserei, Schuhmacherei, Schneiderei, Korbmacherei, Mattenflechterei 
und Bürstenmacherei) und in einer großen Landwirtschaft beschäftigen, 
im geringen Maße auch mit schriftlichen Büroarbeiten. Der psycho- 
pathische Zögling muß zu sittlichen Lebensanschauungen erzogen werden. 
Eine gut geleitete Anstalt, ein geschultes gutes Erzieherpersonal wirkt 
durch sein Beispiel täglich und stündlich; die Gewöhnung, in Ver- 
bindung mit einem geschickten, nicht aufdringlichen Religionsunterricht, 
gute Lektüre, die geeignet ist, die Seele mit guten Bildern zu erfüllen 
und die Phantasie von unsittlichen Gedanken abzuleiten, das sind 
wohl die besten Mittel. 

Der Nachahmungstrieb der Kinder und Jugendlichen und die 
Gewöhnung muß zur Erziehung herangezogen werden. Überhaupt 
muß man bei der Erziehung der abnormen den Hebel an den ge- 
sunden Eigenschaften ansetzen, von diesen läßt sich auf die psycho- 
pathischen Eigenschaften einwirken. In der Praxis geschieht das, 
bewußt oder unbewußt, ganz von selbst. 

Das wichtigste Moment ist die Willensschulung. Wissen be- 
deutet Macht, aber Wille bedeutet auch Macht. Die zielbewußte Ar- 
beit stärkt den Willen, besonders die Arbeit im Handwerk, in welchem 
der Junge sozusagen täglich einen Schritt vorwärts macht und sich 


Die Erziehung männlicher Psychopathen in den Anstalten. 27 


daran freuen kann. Aber auch die Beschäftigung in der Landwirt- 
schaft und mit dem Tier ist geeignet. 

Ein anderes wichtiges Mittel zur Stärkung des Willens sind 
systematische körperliche Bewegungen, wie sie das Turnen, der Sport 
und auch das Wandern mit sich bringt. Die körperlichen Übungen, 
die planmäßig im Turnunterricht ausgeübt werden sollen und die 
sich, eine auf der andern aufbauend, planmäßig von leichteren zu 
schwierigeren gestalten müssen, das Geräteturnen, das die Entschlossen- 
heit, Geistesgegenwart, das Selbstvertrauen übt und hebt, das sind 
für einen großen Teil psychopathischer Jungen vorzügliche Übungen 
zur Willensschulung, zur Bekämpfung von Unlustgefühlen und zur 
Förderung körperlicher und sittlicher Hemmungen. Zum Turnen ge- 
sellt sich der Sport, Fußball, Handball, Leichtathlethik; alles stählt 
den Körper, setzt dem Willen ein Ziel und fördert das Gemeinschafts- 
gefühl, das bei vielen psychopathischen Zöglingen mangelhaft ent- 
wickelt ist. Hat der Psychopath durch seine Berufsarbeit und die 
Betätigung beim Turnen, Spiel und Sport eine Beschäftigung, die ihm 
lieb ist und ein Ziel, dem er näher kommt, ein Ziel, von dem er 
weiß, daß es nicht über seine Kraft geht, lebt er in Ordnung und in 
Regelmäßigkeit bei guter Ernährung, ohne größere Beschränkung der 
Bewegung als das gemeinsame Leben sie in der Anstalt nun einmal 
mit sich bringt, so führt das zu einer ruhigen, gleichmäßigen und 
frohen Stimmung, die auf seinen Zustand günstig einwirkt und die 
Erziehung fördert. Es finden sich dabei zahlreiche Gelegenheiten, 
in welchen er eigene Wünsche unterdrücken, sich in Ordnung, Spiel- 
regel usw. fügen muß, seine Affekte meistern, sich selbst überwinden 
und auf diese Weise sich an Unlustgefühle gewöhnen muß und seine 
Willenskraft stärkt. 

Ein Wort über die Anwendung von Strafen bei Psychopathen. 

Zur Erziehung gehört auch die Strafe. Ohne diese kommt bis 
jetzt noch keine Erziehung aus. Da der Psychopath verantwortlich 
ist, dürfen seine Übertretungen oder Vergehen nicht unbestraft bleiben. 
Wenn man nun schen bei normalen Zöglingen zunächst reiflich über- 
legt, ob und welche Strafe einer verdient hat, so muß dies noch viel- 
mehr bei den abnormen der Fall sein. Verständnis für die Straf- 
barkeit seiner Handlung oder für das Verbot ist erste Voraussetzung 
der Strafe. Dann sind die Motive seines Tuns besonders zu berück- 
sichtigen (ob Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit, Kameradschaftlichkeit, 
Trotz, böser Wille usw); Schonung des Ehrgefühls ist nötig; schwere 
Strafen sollen nicht angewandt werden, wenn man mit leichten aus- 
kommt. Grade bei Psychopathen wird man den (Gründen seiner 


9R Lückerath : 


Handlungsweise nachgehen müssen, um nicht ungerecht zu sein. Es 
sieht manches wie Trotz, böser Wille aus, wie Frechheit und ist doch 
nur eine Entladung einer periodischen krankhaften Verstimmung 
oder einer hochgradigen Affektentspannung. Ungehorsam kann durch 
unbekannte körperliche insbesondere‘ nervöse Beschwerden bedingt sein 
usw. Mit Milde und Schonung wird man mehr erreichen als mit Strenge 
und Härte. Wirksamer als die schweren positiven Strafen, Arrest oder 
körperliche Züchtigung sind die Entziehungen von Vergünstigungen. 
Eine körperliche Züchtigung könnte in einem Falle angebracht sein, 
im anderen Falle eine große Schädigung hedeuten, einen krankhaften 
Erregungszustand, eine Tobsucht oder einen Selbtmordversuch aus- 
lösen; das hängt ganz vom Falle ab und wird in vielen Fällen nicht 
vorher zu beurteilen sein, wenigstens nicht von dem Erzieher; sie 
wird daher am besten ganz unterbleiben. Ich wende in meiner An- 
stalt eine körperliche Züchtigung überhaupt nicht an und mache 
auch von der Arreststrafe nur wenig Gebrauch; ich habe damit nur 
gute Resultate erzielt. Nach meinen Erfahrungen ist es das beste, 
wenn sich bei psychopathischen Zöglingen der Direktor die Verhängung 
und Ausübung der Strafe selbst vorbehält; dann wird die körperliche 
Züchtigung wohl von selbst fortfallen. Bei der Autorität des Direktors 
genügt in der Regel eine leichte Strafe, ein Blick, ein. mahnendes 
Wort, ein Verweis, die Entziehung einer Vergünstigung. Zweckmäßig 
sind auch Belohnungen für gutes Verhalten. 

Die körperliche Beschaffenheit der Psychopathen erfordert 
eine besondere Betrachtung. Neben körperlich gesunden und robusten 
haben wir auch schwächliche; viele, auch äußerlich robuste, leiden 
an nervösen Beschwerden, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Schwindel 
und Ohnmachtsgefühlen, Anfällen, nervösen Herzbeschwerden, Kälte- 
gefühlen usw. Diese müssen natürlich behandelt werden und zwar 
ärztlich; diese körperlichen Beschwerden sind oft die Ursachen für 
das anscheinend ungehörige Verhalten, das die Psychopathen zu 
so schwer erziehbaren Zöglingen macht. Die Entfernung oder Linde- 
rung der nervösen Zustände beseitigt oft viele Reize zu Konflikten ; 
dabei ist Wert zu legen auf möglichst schnelle Beseitigung. In dieser 
Beziehung ist eine Anstalt wie die meinige dnrch die Anwesenheit 
des in der Anstalt wohnenden Arztdirektors denen voraus, welche 
einen außerhalb der Anstalt wohnenden Hausarzt haben, der durch- 
aus nicht immer auf Anruf erscheinen kann. 

Wir können die Jungen nicht ordentlich erziehen, wenn sie nicht 
gut ernährt werden. Die Erziehung geht wie die Liebe durch den 
Magen. Wir wissen, daß in den Entwicklungsjahren das Nahrungs- 


Die Erziehung männlicher Psychopathen in den Anstalten. 29 


bedürfnis ein sehr großes ist. Es müssen daher alle Zöglinge reich- 
lich und gut genährt werden, und mit Zulagen, wie sie mancher nötig 
hat — darunter sind viele Psychopathen — sollte nicht gespart 
werden. 

Zur körperlichen Erziehung gehört auch die Erziehung zur Rein- 
lichkeit. Wer an seinem Körper reinlich ist, gewöhnt sich auch 
leichter an seelische Reinlichkeit. Körperliche und seelische Ver- 
wahrlosung gehen bekanntlich nicht selten Hand in Hand. 

Die Gewöhnung, die bei der Erziehung des Kindes eine große 
Rolle spielt, macht auch bei den Psychopathen, die übrigens gewisser- 
maßen große Kinder sind, die halbe Erziehung. 

Ein Kreuz der Anstalten sind die Bettnässer. vielfach haltlose 
willensschwache, oft auch debile Zöglinge. Nach meiner Erfahrung 
ist die systematische Behandlung auf einem Wachsaal noch immer 
das beste Mittel dagegen. Man muß dabei streng individualisieren. 
Die Bettnässer werden in Euskirchen in den ersten Nächten genau 
beobachtet und dann systematisch aufgehoben, wobei die Pausen, in 
denen dies geschieht, nach meinen genauen Anweisungen immer 
größer werden. Dazu kommen die üblichen Mittel wie zeitiges Abend- 
essen, evtl. bestehend in Trockenkost, ferner eine Verbalsuggestion 
und ein am Tage streng durchgeführtes Training. Ich habe die Zahl 
der Bettnässer, die infolge eines Schubes aus einer anderen An- 
stalt bei mir einige Zeit 25 betrug, auf ein bis zwei herabgedrückt. 
Ist das Bettnässen behoben, so kommt der Zögling auf eine andere 
Abteilung, um zu erproben bei normaler Kost und ohne besondere 
Maßnahmen, ob er geheilt ist, sodaß er aus der Anstalt entlassen 
werden kann. 

Jedes Anstaltsleben trägt einen Fehler in sich; wir wollen den 
Willen unserer Zöglinge stärken und wir töten die Selbständigkeit. 
Die Anstalt denkt, der Zögling hat nur die Ausführung. Lange 
dauernder Anstaltsaufenthalt vernichtet daher leicht die Initiative und 
das selbständige Denken und Handeln. Es ist daher gerade bei den 
willensschwachen Zöglingen wünschenswert, ja notwendig, sie soweit 
eben möglich heranzuziehen und sie bei der Arbeit und namentlich 
in Spiel und Sport selbständig walten zu lassen und die sogenannte 
Selbstverwaltung einzuführen. Unsere Zöglinge leiten z. B. den Sport 
selbst, haben sich Stubenälteste gewählt usw. Wie weit man gehen 
will, wird von der persönlichen Anschauung und Einstellung des 
Direktors abhängen. 

Wie sollen wir die Psychopathen unterbringen, wie die leichten 
von den schweren trennen, welche sollen in besonderen Abteilungen 


30 Ä Lückerath: 


untergebracht werden? Die meisten können in den Abteilungen für 
die normalen Zöglinge bleiben; die ganze Erziehung soll ja auf sie 
zugeschnitten werden; die bis jetzt geschilderte Erziehungsmethode 
paßt ja auch für die normalen Zöglinge. In eine besondere Abteilung 
gehören, wie Mönkemöller schon betont hat, die schwer erziehbaren 
erregbaren Affektmenschen, die gewissermaßen dauernd auf einem 
Pulverfaß sitzen, und die moralisch minderwertigen sehr aktiven Psycho- 
pathen mit antisozialen Tendenzen. Die übrigen wie die depressiven, 
haltlosen, besonders die passiven können zum größten Teil und fast 
immer unter den anderen verweilen. 

Nur erwähnen will ich als selbstverständlich, daß zur Erziehung 
der Psychopathen, wenigstens der schweren, ein psychiatrisch gut ge- 
schultes, ideal eingestelltes Personal gehört. Ist dies nicht vorhanden, 
so werden an den Direktor jedenfalls sehr große Anforderungen 
gestellt. | 

Ich möchte Ihnen nun in aller Kürze die mir unterstellte An- 
stalt Euskirchen in ihrem Betriebe schildern. Die Anstalt Euskirchen 
ist eine Erziehungsanstalt wie die anderen rheinischen Anstalten. Sie 
unterscheidet sich von ihnen durch die Angliederung eines Beob- 
achtungshauses und eines Hauses für schwer erziehbare abnorme 
Zöglinge. Der Leiter ist ein Psychiater. Nicht nur in den beiden 
genannten Abteilungen sondern auch in der übrigen Anstalt häufen 
sich infolgedessen die abnormen Elemente. Die Anstalt hat 320 Plätze; 
es befinden sich in ihr etwa 75—80 °/ mehr oder weniger abnormer 
Zöglinge (schulentlassene). In das Beobachtungshaus werden die Zög- 
linge eingeliefert, bei welchen sich im Überweisungsbeschluß irgend 
ein Hinweis auf Abnormität findet, oder die während der bisherigen 
Fürsorgeerziehung in einer Familie oder in einer anderen Anstalt den 
Verdacht auf schwere Abnormität erweckt haben, auch schulpflichtige. 
Sie bleiben nur kurze Zeit bis zum Abschluß der Beobachtung. Das 
Beobachtungshaus besteht in der Hauptsache aus einem Weachsaal 
und einem Tagesraum und den üblichen Nebenräumen und hat 20 Plätze. 
Es ist Tag und Nacht Wache dort. Nach Abschluß der Beobachtung 
mache ich dem Landeshauptmann Vorschläge über die weitere Unter- 
bringung; ein Teil der Zöglinge bleibt dann in der Anstalt. Dieses 
Haus dient mir auch als Aufnahmehaus der Anstalt; alle Neuaufnahmen 
gehen durch (dieses Haus hindurch. Diese Maßnahme hat sich als 
sehr zweckmäßig erwiesen. Abgesehen von anderen Gründen ist da- 
durch ohne weiteres den Zöglingen der ganzen Anstalt gezeigt, daß 
kein Unterschied zwischen den Zöglingen gemacht wird, ob normal 
oder abnorm. 


Die Erziehung männlicher Psychopathen in den Anstalten. 31 


Der Psychopath kommt nicht auf den Gedanken, er sei etwas 
besonderes und die übrigen Zöglinge halten ihn auch nicht dafür. 
Während der Beobachtungszeit gehen die Zöglinge auch zur Arbeit 
— nach einigen Tagen rein ärztlicher Beobachtung — und zwar mit 
den anderen Zöglingen; es wird im allgemeinen kein Unterschied 
gemacht. Die Art der Arbeit bestimmt der Direktor unter Berück- 
sichtigung der körperlichen und geistigen Eignung, der Wünsche, des 
früheren Berufes der Jungen. 

Das Psychopathenhaus dient zur Aufnahme schwer erziehbarer 
abnormer Zöglinge. Hier bleiben diese während des ganzen Anstalts- 
aufenthaltes oder wenigstens während des größten Teiles dieser Zeit. 
Gelegentlich nehme ich den einen oder anderen auf eine andere Ab- 
teilung. Dies Haus besteht aus einem Tagesraum und einer größeren 
Zahl Einzelzimmer, für 25 Personen. 8 von diesen Zimmern sind so 
groß, daß sie als Raum für Tag und Nacht dienen können. Dort 
sind gelegentlich Psychopathen untergebracht, die infolge ihrer großen 
Reizbarkeit oder aus einem anderen Grunde nicht mit den anderen 
zusammen sein können, die dies übrigens vielfach auch nicht wollen. 
Sie arbeiten dort allein. So habe ich z. B. dort einen mit Schneider- 
arbeit, einen mit Buchbinderei, einen mit Kerbschnitzerei, einen mit 
kaufmännischen Arbeiten beschäftigt. Die übrigen Zöglinge dieses 
Hauses haben keinen gemeinsamen Schlafsaal, sondern schlafen allein 
für sich im Einzelzimmer — divide et impera — zur Verhütung von 
gröberen Allotria und Komplotten. Die Erzieher sind psychiatrisch 
geschult, wissen mit Abnormen umzugehen, so daß Konflikten meist 
schon vorgebeugt wird. Es herrscht dort natürlich auch Anstalts- 
disziplin, Verstöße werden im ganzen etwas milder beurteilt und 
werden eventuell ärztlich behandelt. Zur Arbeit gehen diese Zöglinge 
mit den übrigen Jungen der Anstalt, in der Landwirtschaft und in 
den Handwerkstätten. Für einen kleinen Teil, für welchen diese Be- 
schäftigungen nicht geeignet sind, die ich nicht herausschicken kann, 
ist eine Mattenflechterei im Souterrain eingerichtet. Bedarf der Psycho- 
path besonderer Behandlung, ist er z. B. selbstmordverdächtig, hat er 
einen heftigen Erregungszustand, einen Tobanfall oder dergleichen, 
ist er sehr fluchtverdächtig, so wird er auf den Wachsaal des Be- 
obachtunghauses gelegt und ärztlich behandelt. Gelegentlich wird er 
auch vorübergehend in eine Art Besinnungszimmer gebracht. Das 
Beobachtungs- und das Psychopathenhaus gehören zusammen in Be- 
ziehung auf den Wachsaal. Eine Anstalt, welche nur ein Psycho- 
pathenhaus, aber kein Beobachtungshaus hat, muß unter allen Un- 
ständen in diesem Psychopathenhaus einen Wachsaal haben. Der Be- 


32 Lückerath: 


trieb wickelt sich glatt ab, er läuft ohne besondere Schwierigkeiten 
von selbst. Es ist allerdings nicht zu vergessen, daß in Euskirchen 
der Direktor Arzt und Psychiater ist und in der Anstalt wohnt; er 
ist also, wenn nötig, immer zu haben, da er in der Anstalt wohnt. 
Ich schreibe es dieser Tatsache zu, daß die Erziehung und Behand- 
lung der abnormen Zöglinge so leicht vonstatten geht. In einer 
anderen Anstalt, deren Hausarzt nicht in der Anstalt wohnt, der seinem 
Beruf nachgeht und nur periodisch erscheint oder wenn er gerufen 
wird, kann von einer Psychopathenbehandlung und Erziehung — von 
schweren Psychopathen — eigentlich nicht die Rede sein; da wäre eine 
Psychopathenabteilung nur ein Notbehelf. Gerade, wenn er notwendig 
ist, wird hier der Hausarzt oft nicht zu haben sein. 

Am Anstaltsleben, Festlichkeiten, Spiel und Sport beteiligen sich 
die Psychopathen wie die anderen Zöglinge auch; das hat nie zu 
Unzuträglichkeiten geführt. 

Es gehört zur Erledigung meiner Aufgabe, daß ich ihnen schil- 
dere, wie ich mich bei den Schwierigkeiten verhalte, welche von den 
Psychopathen hier und da bereitet werden. Es muß oft ärztlich 
psychiatrisch eingegriffen werden. Ich habe schon erwähnt, daß 
nervöse Beschwerden ärztlich behandelt werden müssen und daß da- 
durch häufig Konflikte vermieden werden können. 

Hierhin gehört der nervöse Kopfschmerz, die Migräne, Schwindel- 
gefühle, Kältegefühle an Händen und Füßen, nervöse Herzbeschwerden, 
Neigung zu Ohnmachten und Erbrechen usw. Wer seine abnormen 
Zöglinge genau beobachtet, wird den Zusammenhang dieser Zustände 
mit ihrem psychischen Verhalten unschwer erkennen. So habe ich 
einen solchen Jungen, der sich recht gut führt, von Zeit zu Zeit 
kommt er zu mir und klagt über Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit; ich 
weiß, daß dann sehr gut auf ihn aufgepaßt werden muß, weil er in 
diesen Zeiten, die eine seelische Verstimmung einleiten, Dummheiten 
macht, zu entweichen sucht und Diebstähle begeht; er wird von mir 
behandelt, ist auch schon einige Tage auf dem Wachsaal gewesen; 
nach einigen Tagen ist er wieder der Alte. Ich möchte namentlich 
auf Kopfschmerzen, nervöse Herztätigkeit und Schlafstörungen hier 
aufmerksam machen. 

Besonderer heilpädagogischer Erziehung bedürfen die Ab- 
weichungen auf psychischem Gebiet, die wie gesagt, sich oft zu- 
erst in körperlichen Beschwerden kund tun. Die schnelle geistige 
Ermüdbarkeit, welche sich bei manchen unsererer Abnormen findet, 
führt zum Versagen bei der Arbeit und erweckt dem Unkundigen 
oft den Eindruck der Faulheit und Unlust zur Arbeit Man findet 


Die Erziebung männlicher Psychopathen in den Anstalten. 33 


dies Symptom oft periodisch. Psychischer Zuspruch, Wechsel in 
der Arbeit, evtl. einige Zeit Ruhe sind die besten Mittel hiergegen. 
Bei manchen treten Abends Sinnestäuschungen auf; diese darf man 
nicht allein schlafen lassen. Bei vielen kommt es zum Überwuchern 
der Phantasie, zu krankhaften Lügen, zu pathologischen Träumereien, 
sexuellen Unarten usw. Regelmäßige Beschäftigung bis zu gesunder 
Ermüdung, ein bestimmter genau innezuhaltender Tagesplan, körper- 
liche Beschäftigung wie Turnen, Sport, evtl. eine Beschäftigung, durch 
welche die Phantasie in gesunde Bahnen gelenkt wird, sind hier 
angebracht. Ausgesprochene Zwangsvorstellungen sind selten. Eine 
das Anstaltsleben sehr störende Abnormität, die recht häufig ist, 
stellt die krankhafte Affekterregbarkeit dar, die sich nach der 
expansiven Seite in Wut oder Tobanfällen, in leichteren Fällen in 
großer Reizbarkeit, nach der depressiven Seite in Angstanfällen 
und Selbstmordversuchen äußern kann. Das Mißverhältniß zwischen 
Reiz und Reaktion ist dabei oft sehr auffallend. In diesen Zuständen 
ist ärztliche Behandlung meist nicht zu umgehen. Psychische Be- 
handlung führt oft schon zum Ziele, oft aber ist Bettruhe oder Bäder- 
behandlung oder Verabreichung von Narkotika erforderlich. 

Schwierig ist die Behandlung der Haltlosigkeit, Unstetheit 
vıeler Psychopathen. Hier hilft nur konsequente energische zweck- 
und zielbewußte Arbeit und Gewöhnung; man muß auch auf die 
Nachreife hoffen, die bei vielen sich gegen Ende der Pubertät an- 
bahnt. Die immer wieder sich wiederholenden Entweichungen wird 
man in der ver:chiedensten Weise angreifen müssen; bald hilft Ver- 
trauen und größere Freiheit die man gewährt, bald wird Strenge 
und scharfe Beaufsichtigung nötig sein. Das ganze Milieu der An- 
stalt spielt bei all diesen Problemen eine große Rolle. In manchem 
Falle wird man sich auch einmal nicht zu helfen wissen. 

Sexuelle Perversitäten sind nicht oft Gegenstand unserer Behand- 
lung. Abgesehen von psychischer Therapie, eventuell sogar in Hypnose 
bestehend, ist scharfe Überwachung nötig, um wenigstens die Mit- 
zöglinge nicht zu infizieren. Eventuell würde ich zur rücksichtslosen 
Absperrung übergehen. 

Ich will auf weitere Erscheinungen nicht eingehen, zumal viele 
ja nur durch den Psychiater behandelt werden können. Wenn schon 
die Erziehung der schweren Psychopathen nicht ganz leicht ist, so 
wird sie recht schwer und wohl auch manchmal eine undankbare Auf- 
gabe, wenn sich die Psychopathie mit einer Debilität verbindet. Man 
wird in solchen Fällen seine Ansprüche heruntersetzen, den intellektuellen 

Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 3 


34 Lückerath: Die Erziehung männlicher Psychopathen in den Anstalten. 


Fähigkeiten anpassen müssen. Ich halte diese Jugendlichen für die, 
welche so oft als die Unerziehbaren bezeichnet werden. 

Was für die schulentlassenen Zöglinge gilt, trifft auch für die 
schulpflichtigen Psychopathen zu; die Schwierigkeiten sind bei ihnen 
in der Regel ihrem jüngeren Alter entsprechend geringer. Für die 
schwierigen unter ihnen dürfte ein Wachsaal für die Nacht und 
dauernde genaue Aufsicht am Tage außerhalb der Schulzeit von großem 
Wert sein. 

Sie werden aus meinen Ausführungen ersehen haben, daß auch 
ich als Psychiater die Behandlung der Psychopathen in der Haupt- 
sache in der Erziehung sehe, daß für die schwer Erziehbaren der 
Psychiater unumgänglich erforderlich ist; am besten wird die Frage 
der Erziehung der Psychopathen gelöst werden durch die Zusammen- 
arbeit von Pädagogen und Psychiater, also durch eine heilpädagogische 
Behandlung. 


Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. 
(Aus dem Heim für Jugendliche in Bremen.) 


Von 


Dr. med. Otto Rehm, Bremen. 
(Mit 7 Abbildungen im Text.) 


Die im folgenden behandelten Untersuchungen betreffen die 
Jugendlichen, welche in den Jahren 1921—23 in dem staatlichen 
Heim für Jugendliche aufgenommen worden sind. Die Anstalt, 
welche jetzt leider ihrer Auflösung entgegengeht, weil wirtschaftliche 
Gründe ihre Weiterführung nicht mehr möglich erscheinen lassen, 
dient der vorläufigen Unterbringung all der Jugendlichen, welche aus 
Gründen der Verwahrlosung ihrer Umwelt entzogen werden mußten. 
Die Verwahrlosung war zum weitaus größten Teil eine aktive, indem 
die Sprengung des sittlichen bezw. sozialen Haltes auf der psychischen 
Eigenart der jugendlichen Persönlichkeit beruhte; nur vereinzelt 
war die Verwahrlosung passiv, indem die Faktoren der Umwelt das 
sittliche bezw. soziale Gleichgewicht störten. 

Die Untersuchungen konnten in einem ersprießlichen Maße nur 
dadurch zustande kommen, daß die Unterstützung durch das Jugend- 
amt eine weitgehende war, und durch die ausgezeichnete Mithilfe der 
in den genannten drei Jahren das Heim pädagogisch und verwaltungs- 
technisch leitenden Herren Klüsing und Mannier, denen ich an 
dieser Stelle den herzlichsten Dank für ihre Mühewaltung aus- 
sprechen möchte. 

In den drei in Betracht kommenden Jahren wurden im Heim 
411 Jugendliche aufgenommen, von denen 250 Knaben und 
161 Mädchen waren. Einer fachärztlichen Untersuchung wurden 
358 Zöglinge unterzogen, worunter sich 207 Knaben und 151 Mädchen 
befanden. Das Material entstammt zum weitaus größten Teil der 
Stadt Bremen, ein kleiner Teil kam aus Bremerhaven; ländliches und 
kleinstädtisches Material war der beinahe rein städtischen Orientierung 
des Staates Bremen entsprechend fast gar nicht darunter. Den ent- 
scheidenden Charakter gab das Milieu der Industriebevölkerung und 

3* 


36 O Rehm: 


die Eigenart der Hafenviertel. Der Hafenverkehr in Bremerhaven, 
das ja im Verein mit den Nachbarstädten Geestemünde und Lehe an 
sich schon eine Großstadt bildet, gibt besonders der jugendlichen 
Prostitution in den dortigen Hafenvierteln einen besonderen Anstrich, 
wobei in der Zeit der Inflation der Überfluß an Geldmitteln bei der 
Mannschaft einkommender Schiffe von größter Bedeutung war. 

Was die Zahl der jugendlichen Verwahrlosten überhaupt betrifft, 
so muß man, um ein annähernd richtiges Resultat zu bekommen, die 
Zahl der Verwahrlosten mit der Zahl der in demselben Alter stehenden 
Jugendlichen in der Gesamtbevölkerung vergleichen. Dabei hat sich 
herausgestellt, daß die in Betracht kommenden Altersstufen vom 
10. bis 18. Lebensjahr aus der ortsanwesenden Bevölkerung der Stadt 
Bremen nach Angaben des statistischen Landesamts in Bremen im 
Jahre 1910 17700 männliche und 17900 weibliche Jugendliche umfaßte. 
Die in den Jahren 1921 bis 1923 durch das Heim für Jugendliche ge- 
gangenen Zöglinge betrugen, wie oben angeführt, 250 Knaben und 161 
Mädchen. Werden diese Zahlen in ein prozentuales Verhältnis zu den oben- 
genannten Zahlen der Jugendlichen in Bremen überhaupt gebracht. 
so bekommen wir 4,7°/,, verwahrloste Knaben und 3,5°,, Mädchen. 
Die Bevölkerungszahl Bremens ist seit 1910 im wesentlichen dieselbe 
geblieben. Die Zahlen stimmen aber insofern nicht für die Gesamt- 
zahl der Verwahrlosten, als in das Heim nur die schwersten Fälle 
der Verwahrlosung kommen, so daß schätzungsweise gegen 10°/,. ver- 
wahrloste Jugendliche unter den Jugendlichen derselben Altersstufeu 
sich finden dürften. Zu bemerken ist dabei noch, daß erfahrungs- 
gemäß die Kinder besser gestellter Bevölkerungsschichten nur selten 
durch die behördlichen Stellen gehen. 

Bei Betrachtung der Altersstufen (siehe Tabelle 1 und 2) zeigt 
sich sofort, daß weitaus die Mehrzahl der Jugendlichen nach dem 
14. Lebensjahr, d. h. also nach der Schulentlassung, zur Beobachtung 
kam. Es erfolgte bis znm 16. Lebensjahr ein langsames Ansteigen, 
vom 17. Lebensjahre ab ein rasches Absinken der Zahl, Das letztere 
ist die Folge des üblichen Verfahrens, nach dem vom 18. Lebens- 
jahre ab ein behördliches Einschreiten vermieden wird. 

Mit Recht wird den Faktoren, welche die Umwelt zeitigt, ein 
sehr wesentlicher Einfluß bei der jugendlichen Verwahrlosung zu- 
geschrieben (Tab. 3). Dieser Einfluß zeigt sich in unserem Material sehr 
deutlich. 30°/, der Fälle läßt eine soziale Entgleisung von seiten der 
Eltern bezw. des Vaters oder der Mutter ersehen. Unter dieser 
sozialen Entgleisung ist im wesentlichen Kriminalität, aber auch auf- 
fallendes Herabsinken von einer höheren sozialen Stufe in eine 


Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. 37 


niedrigere verstanden. Verhältnismäßig sehr häufig fand sich Trennung 
bezw. Scheidung der Ehe, nämlich in 15°/, der Fälle. Das sind zweifellos 
Zahlen, die über den Durchschnitt in der Bevölkerung ganz erheblich 
hinausgehen und beweisen, von welch ausschlaggebender Bedeutung 


Tabelle 1. 
Lebensjahr 





um. m Knaben, — — — Mädchen, Gesamtzahl. 





für die Erziehung der Kinder das sittliche Verhalten der Eltern und 
die Unversehrtheit der Ehe sind. Ähnliche Folgen, wie den oben- 
genannten Umständen entspringen, zeitigt der Tod eines Teiles oder 
beider Eltern. 26®/, der Jugendlichen waren verwaist. Auch hier- 
über fehlt ein zahlenmäßiger Vergleich mit Tabelle 2. 

der Gesamtbevölkerung, aber es besteht kein 
Zweifel, daß es vollkommen ausgeschlossen ist, 9 
daß in der übrigen Bevölkerung jedes 4. Kind a 
beide Eltern entbehren muß. So können wir 
mit Recht auch diesen Faktor als einen wesent- 
lichen Bestandteil der schädigenden Umwelt- 
einflüsse betrachten. 


S 


Unter den untersuchten Jugendlichen be- 
fanden sich 12°), unehelich geborene, eine 
Zahl, welche mit der anderer großstädtischer 
Untersucher ungefähr übereinstimmt. Die Zahl 
ist im Verhältnis zu der in den Jahren 1902 
bis 1907 in Bremen Geborenen erheblich zu 
hoch. Nach der Bremer Statistik sind ungefähr 
8°/, unehelich geboren. Wenn wir nun an- 
nehmen, was wohl allgemein richtig sein 
dürfte, daß die Sterblichkeit der unehelichen Kinder in den ersten 
Lebensjahren eine verhältnismäßig sehr große ist, so erhöht sich die 
Bedeutung unserer Zahl. Nach Boltes Untersuchungen ist der 
Prozentsatz der Unehelichen umso größer, je tiefer das soziale Niveau 
ist; bei geschlechtskranken Patienten der Armenpflege fand er 13°/, 
uneheliche, eine Zahl, die mit der von uns gefundenen beinahe über- 





>o SS £ 8 2 


Bezeichnung wie bei 1. 


38 O. Rehm: 


einstimmt. Wir werden also nicht mit Unrecht behaupten können, 
daß das Schicksal des Unehelichgeborenseins auch als ein Bestandteil 
schädigender Umwelteinflüsse zu betrachten ist, umsomehr, als einen 
weiteren schädigenden Faktor fast in allen Fällen das Fehlen des 
leiblichen Vaters darstellt. Merkwürdig ist, daß unter den unehelich 
Geborenen die Mehrzahl Mädchen sind, während doch sonst unter 
den Jugendlichen überhaupt, in Bremen nach den oben angeführten 
Zahlen, Knaben und Mädchen fast mit der gleichen Zahl vertreten 
sind. Dieser auffällige Umstand ist nicht etwa das Produkt des zu- 
fälligen Ergebnisses eines Jahres, sondern fand sich in jedem Jahre 
in einem annähernd gleichen Maße. Es erscheint die Annahme nicht 


Tabelle 3. 


Soziale Entgleisung Erbiiche 





ıterliche Ehe 
Unebelich 
geboren 
mit 
Psvchosen w 
Neurosen A 
cht & 


E 


/ 
7 


III NN 
SSS 
AMN 
ANAA ANNSNNNY ze 


LEERE DE 





Umwelts- und Erblichkeitsfaktoren. 


Knaben 
Mädchen 


unberechtigt, daß die Mädchen unter der Tatsache des unehelich 
Geborenseins mehr zu leiden haben, wie die Knaben; wahrscheinlich 
ist für die Mädchen das Vorbild der sexuell entgleisten Mutter be- 
sonders verhängnisvoll. Es ist doch auffallend, daß von den jugend- 
lichen Prostituierten 16°/, unehelich geboren sind, daß also gerade 
bei den geschlechtlich gefallenen Mädchen die uneheliche Geburt eine 
besondere Rolle spielt. 

Sich über den Einfluß der erblichen Belastung der Jugendlichen 
mit (reistes-, Nerven - Krankheiten und Trunksucht auszusprechen, ist 
bei dem heutigen Stande der Wissenschaft in Anbetracht der zweifellos 
nicht genügend gründlichen Nachforschung bei unseren Jugendlichen 


Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. 39» 


nicht ratsam. Nach den uns zur Verfügung stehenden Zahlen über- 
steigt die Belastung mit den oben genannten Krankheiten nicht den 
Durchschnitt der bei Geistesgesunden gefundenen Belastung oder 
höchstens ganz unwesentlich, und in der Tat hat man auch bei der 
klinischen Übersicht des Materials nicht den Eindruck, daß aus- 
gesprochene Geisteskrankheiten im Ganzen von wesentlicher Bedeutung 
sind. Zweifellos sind unsere Jugendlichen meist Abkömmlinge psycho- 
pathischer Eltern verschiedenster klinischer Schattierungen. Diese An- 
nahme wird unterstützt durch die oben ausführlich erwähnte Neigung 
der Eltern zu sozialer und sittlicher Abwegigkeit, welche ja schließ- 


Tabelle 4. 













Yerne Aa Geschlechtsverkehr 3 
= z n 5 5 
£ 3 | 33 = 
E 2 |33 z 
E 3 | 5: E 
3 E | 88 £ 
77 OM i 








ILL 


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A 


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ANANAS NENN 


iiinn R 






Hli 





Gesellschaftswidıiges Verhalten. 


chen 


Mäd 


lich doch der Ausfluß einer geistigen Störung im weitesten Sinne 
des Begriffes ist. Wenn wir also den Einfluß der durch die Eltern 
gebotenen Umwelt auf die Jugendlichen rückblickend im Großen über- 
sehen, so können wir behaupten, daß die Mängel des elterlichen 
Vorbildes oder das Fehlen des guten Vorbildes ein ausschlaggebender 
Faktor in der Verwahrlosung der Jugendlichen ist, der weitaus die 
medizinisch faßbaren Defekte der Eltern überwiegt. 

Wenn wir uns nun dem gesellschaftswidrigen Verhalten der 
Jugendlichen selbst zuwenden (Tab. 4), so finden wir, wie auch sonst be- 


40 O. Rehm: 


kannt ist, im Vordergrunde die Vergehen an fremdem Eigentum. In 
vielen Fällen können wir nachweisen, daß diesen Eigentumsvergehen, 
welche schließlich zum Einschreiten der Behörden geführt haben, 
häusliche Eigentumsdelikte vorhergegangen sind, insbesondere in der 
frühen Jugend in Gestalt des Naschens als der leichtesten Form 
diebischen Vergehens. Gewiß haben die meisten Kinder in irgend 
einer Zeit ein oder das andere Mal genascht; jedoch finden wir 
gerade bei den späteren Dieben dieses Naschen gewohnheitsmäßig 
und können es so als eine Vorstufe des späteren sozialwidrigen Ver- 
haltens betrachten. Der Großstadt gemäß findet sich unter den männ- 
lichen Dieben eine große Anzahl, die in Gemeinschatt mit Anderen, 
meist Jugendlichen, Bandendiebstähle begangen hat. Der bremischen 
Eigenart entsprechend spielten sich diese Bandendiebstähle häufig in 
den Hütten der Parzellengärten ab. Der Zeitlage entsprechend traten 
Diebesbanden zu Felddiebstählen auch auf dem Lande in der Um- 
gebung auf. Die Diebstähle der Erzeugnisse des Landes waren nicht 
selten veranlaßt durch die Not, auch geradezu durch die Aufforderung 
der Eltern zum „Hamstern“. Der Begriff des Hamsterns hat bei den 
Jugendlichen allmählich den Anstrich des Bettelns und schließlich 
des Stehlens bekommen. Eine besondere Sorte von Diebstählen fand 
sich bei Mädchen, zum Teil sehr jungen, in der Gestalt des Taschen- 
diebstahls, vor allem in der Straßenbahn. Bei Knaben fand sich 
häufig Beraubung von zu Besorgungen ausgeschickten kleineren Kindern. 

An zweiter Stelle unter den sozialen abwegigen Eigenschaften 
stand die Erscheinung der Unstetigkeit. Ihre Entwicklung ließ sich 
in sehr vielen Fällen bis in die Schulzeit verfolgen. Die Unstetig- 
keit zeigt sich in der Schulzeit im Schulelaufen. Das Schulelaufen 
ist ähnlich wie das Naschen bei Eigentumsvergehen als Vorstufe der 
Unstetigkeit zu betrachten. Bei ungefähr der Hälfte der später un- 
steten Jugendlichen fand sich Schulelaufen in der früheren Zeit nach- 
gewiesen. Die Motive für das Schulelaufen sind die verschiedensten. 
Manchmal geschah es zum Zwecke des Hamsterns nicht ohne die 
Billigung der Erwachsenen, meist aus Angst vor der Schule wegen 
mangelhafter häuslicher Arbeit, vielfach aus Neigung zum Herum- 
treiben in den Straßen, Herumstehen an Schaufestern oder aber auch 
zum Spielen mit anderen auf der Straße befindlichen Kindern. Aus 
diesem Schulelaufen entwickelte sich dann später vielfach in der 
Zeit, in welcher der Jugendliche im öffentlichen Leben stand, die 
Neigung zu Stellenwechsel aus unzureichenden Gründen, zum Weg- 
laufen ohne Grund und Kündigung, zum gewohnheitsmäßigen abend- 
lichen Herumschlendern auf der Straße mit all seinen Begleit- 


Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. 41 


erscheinungen, insbesondere dem nachfolgenden Besuch von Tanz und 
Kino bei Mädchen. Die schwerste zu Unstetigkeit gehörende Störung 
ist zweifellos der Wandertrieb, der ohne Plan und Ziel die männlichen 
Jugendlichen auf die Landstraße führt und sie weiteren sozialen Ge- 
fahren entgegen treibt. Oft entwickelte sich aus diesem Wandern 
ein typisches Vagabundendasein, das bei irgend einem äußeren Anlaß 
sein Ende fand. Manche Jugendliche wandern aus Neugierde, manche, 
um etwas besonderes zu erleben, also aus fantastischen Gründen. 
Nicht wenige schlossen sich umherwandernden Schaustellern an, von 
denen sie ausgebeutet wurden; in manchen Fällen war das unstete 
Wandern mit einem gewissen Maß gesunder Unternehmungslust 
gepaart. 
Tabelle 5. 


Lebensalter 


Lobensalter, Geschlechisverkehr und Geschlechts- 


ra 
krankheiten. 
erster sexueller Verkehr : HAH au 
. = . =— Aufnahmezahl im Heim 1922 


— = — Zahi der Geschlechtekranken 2. Viertel- 
jahr 1922. 








Eine weitere wichtige Seite des sozialen Verhaltens bildet der G e- 
schlechtsverkehr, der bei den männlichen Jugendlichen keine irgend- 
wie ins Gewicht fallende Rolle spielte, während bei den Mädchen die Tat- 
sache geschlechtlichen Umgangs von größter Bedeutung erschien, wie 
selbstverständlich die Defloration einen außerordentlich wichtigen Eingriff 
und gewissermaßen einen Abschnitt der körperlichen und sittlichen 
Lebensführung bedeutet. Bei 58°/, der Mädchen war der geschlecht- 
liche Verkehr nach eigenen oder aktenmäßigen Angaben der Verwahr- 
losung vorhergegangen. Fälle von Notzucht kamen kaum in Frage, da- 
gegen scheint geschlechtlicher Verkehr, wenn auch anfangs oft nur 
in der Form kindlichen Spieles, zwischen den Kindern beiderlei Ge- 
schlechts öfters vorzukommen, wahrscheinlich sehr viel häufiger 
als bekannt wird, und es ist nicht uninteressant, von Erwachsenen 


42 O. Rehm: 


bei eingehender Befragung das geschlechtliche Verhalten in der Kind- 
heit zu erfahren. Es stellt sich dabei heraus — die Männer sind 
dabei offener wie die Frauen —, daß versuchsweiser und mehr oder 
weniger gelungener geschlechtlicher Verkehr unter Kindern im schul- 
pflichtigen Alter durchaus nicht selten ist, später aber sehr häufig 
der Vergessenheit anheim fällt, ähnlich wie onanistische, auch gegen- 
seitige Manipulationen der Kinder. Durch die Erziehung werden in 
der Kindheit vor der eigentlichen Geschlechtsreife die nötigen 
Hemmungen erzeugt. Die Konfirmation bezw. Schulentlassung ist bei 
den Mädchen vielfach das Signal zum geschlechtlichen Verkehr; 
die Jugendlichen werden in falscher Voraussetzung des „Erwachsen- 
seins“ oft von den Eltern weitgehend oder ganz aus der häuslichen 
Zucht und Ordnung entlassen und fallen so den Anregungen und 
Reizen, die an sie herantreten, schon in diesem Alter zum Opfer. 
Meist ist der Hergang so, daß die Mädchen von mehr oder weniger 
erwachsenen männlichen Personen zum Besuch von Kino, Lokalen 
und Vergnügungsstätten mit Tanz eingeladen werden und unter dem 
Einfluß des Alkohols kommt es dann meist ohne besondere geschlecht- 
liche Erregung von seiten des Mädchens mehr aus Entgegenkommen 
zum ersten geschlechtlichen Verkehr. Liebesverhältnisse waren bei 
den verwahrlosten Mädchen sehr selten. Häufig war der Schritt zu 
wahllosem geschlechtlichen Verkehr und damit zur Prostitution ein sehr 
kurzer. Eine besondere Sorte bildeten die Soldatenbräute, Mädchen, 
die außerhalb und innerhalb der Kasernen von Hand zu Hand gingen. 
Die Tabelle 5 läßt ersehen, daß der erste Geschlechtsverkehr, wie oben 
schon erwähnt, in der überwiegenden Zahl der Fälle in das 15. Lebens- 
jahrfällt; nach den behördlichen Ermittlungen des Medizinalamts ist 
die Zahl der Geschlechtskranken im ganzen in dieser Altersstufe nur 
gering, sie steigt aber im 17. und 18. Lebensjahr erheblich an; es ist 
daraus zu schließen, daß die geschlechtlichen Erkrankungen erst nach 
längerer Zeit des Bestehens den Gesundheitsbehörden bekannt ge- 
worden sind; sicherlich sind sie in den früheren Jahren, besonders 
schon im 16. Lebensjahr, recht häufig, wie auch die Tabelle 4 zeigt. 
Die jugendliche Prostitution (Tab. 6) bildet den schwersten Grad 
der jugendlichen Verwahrlosung nach allen Richtungen. Der Begriff 
soll nicht das erwerbsmäßige betonen, also nicht den gewerbsmäßigen 
Geldverdienst, sondern die Hingabe zum Geschlechtsverkehr an einen 
individuell nicht beschränkten Personenkreis. Der Zweck des Er- 
werbs diente nicht zur Grundlage. Tatsächlich war jedoch der Er- 
werb durch den Geschlechtsverkehr in irgend einer Form in den 
meisten Fällen zu konstatieren. In glücklicher Weise ganz vereinzelten 


Tabelle 6 


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Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. 





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Soziale Entgloisung 


Belehrung 


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43 


Jugendliche Prostitution. 


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061 

N SHUBınJı8014 


44 ©. Rehm: 


Fällen kam es bei schulpflichtigen Mädchen zur regelrechten Prosti- 
tution zum Zwecke der Erlangung von Geschenken in Gestalt von 
Leckereien. Die jugendliche Prostitution fand sich bei 43°/, der be- 
obachteten Mädchen. Der erste geschlechtliche Verkehr fand in 
typischer Weise meist direkt nach der Schulentlassung statt, im ganzen 
ungefähr 2 Jahre vor der behördlich konstatierten Verwahrlosung. 
Geschlechtskrankheiten waren bei der Hälfte der Beobachteten kon- 
statiert, sind aber sicherlich viel häufiger gewesen. Soziale Entgleisung 
eines oder mehrerer Mitglieder der Familie war hier in 70°, der 
Fälle zu konstatieren. Störung der elterlichen Ehe, Verwaisung, Be- 
lastung mit Geisteskrankheiten und Trunksucht waren hier viel 
häufiger wie bei den anderen Gruppen der Verwahrlosung Merk- 
würdigerweise waren 12°/, der Mädchen Bettnässerinnen, 70°/, hatten 
sich Eigentumsvergehen zu Schulden kommen lassen, unstet waren 
68%, und schwachsinnig 44?/ Die Summierung von Psychopathie 
mit Schwachsinn mußte sich hier natürlich besonders tragisch 
auswirken. 

Gewohnheitsmäßiger Genuß von Alkohol war bei Mädchen viel 
häufiger wie bei Knaben, zweifellos die Folge des Besuchs von Ver- 
gnügungsstätten in Begleitung Erwachsener, während männliche 
Jugendliche dazu weniger die Gelegenheit fanden. Umgekehrt war 
das Verhältnis beim gewohnheitsmäßigen Rauchen. Der Kinobesuch 
spielte ebenfalls bei den Mädchen eine erheblich größere Rolle als bei 
Knaben und der Besuch von Tanzvergnügungen kam überhaupt fast 
nur bei Mädchen in Frage. Die Vergnügungssüchtigen sind über- 
haupt fast nur bei den Mädchen zu finden, die Knaben bevorzugen 
das Spiel, besonders in Gestalt des Fußballs, und hatten sich häufig 
zu Klubs zusammen gefunden, oft mit einem Stammtisch in Bier- 
lokalen. Turnvereine, welche offenbar sozial höher stehen, waren von 
den Knaben gemieden. Die Mädchen hatten in größerer Zahl Vor- 
liebe zum Lesen von Schundliteratur als die Knaben. 

Wenn wir der Frage der klinischen Formen (Tab. 7) bei den 
jugendlichen Verwahrlosten näher treten, so müssen wir uns darüber 
klar sein, daß reine Formen von Geisteskrankheiten nur ganz ver- 
einzelt bei den jugendlichen Verwahrlosten zur Beobachtung kommen. 
In unserem Material fand sich ein Schizophrener und dessen Diagnose 
war nicht ganz sicher. Mehrmals war konstitutionelle Epilepsie vor- 
handen, mehrmals handelte es sich um leichte Fälle von Melancholie, 
einmal handelte es sich um eine pluriglanduläre E.krankung, öfters 
um ausgesprochene Hysterie mit den augenfälligsten Symptom der 
Krampfanfälle. Ca. !/, der Jugendlichen zeigte mehr oder weniger 


Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. 45 


starke Zeichen von angeborenem Schwachsinn. Neben diesen klinisch 
faßbaren Fällen oder auch in Kombination mit angeborenem Schwachsinn 
fanden sich die verschiedentlichen Formen der psychopathischen 
Konstitution. Keine nachweisbaren klinische Störungen zeigten etwa 
10°/, der Fälle. So erscheint es beinahe als zwecklos, bei den jugend- 
lichen Verwahrlosten die Diagnose Psychopathie besonders zu be- 
tonen, es sind eben fast alle mehr oder weniger krankhaft entartet 
und diese Entartung, die selbstverständlich nicht erworben, sondern 
ererbt ist, wirft ein grelles Schlaglicht auf die schwerwiegende Psycho- 
pathie der Vorfahren unserer Jugendlichen. Es ist nicht anzunehmen, 
daß psychopathische Eigenschaften in sozial höher stehenden Schichten 
seltener sind wie in den hier in Betracht kommenden meist sozial 




















Tabelle 7. 
© | | Ee ; g | as 
= | Angeborener = 2 | Ir jā | 5 «€ Psychopathie (aus 1923) || 2 5 
-1 -— — = 
& | Schwachsinn = S e | 3 o = | g 
© | © 

ts E k- 2 & 5 Eo p pame ne E 
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10 


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N 
N 
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7 


PAAAUAUGQU RGU, 





ANANN NNNNA RNN 


DL 


Klinische Formen. 


Knaben 
Mädchen 


niedrigstehenden. Die psychopathischen Eigenschaften jener Schichten 
werten sich nur anders aus. Die günstigere finanzielle Lage und die er- 
erbte und traditionell anerzogene Hemmung bewirken, daß gesellschafts- 
widrige Handlungen weniger häufig vorkommen und nur in den seltensten 
Fällen die Schwellen des Hauses überschreiten. Es kann nur der 
Umweltsfaktor sein, der in den sozial tiefer stehenden 
Schichten die psychopathische Handlungsweise qualitativ 
und quantitativ derartig massiv gesellschaftswidrig wirken 
läßt. Wir würden demnach den Hebel zur Besserung der Verhält- 
nisse an die sozialen Verhältnisse der niedrigeren Bevölkerungs- 
schichten ansetzen müssen. Wir müssen versuchen, die sittlichen 


46 O. Rehm: 


Anschauungen in moralisch festgefügte Grundlagen zu verankern, 
wir müssen Wohnungselend, Alkohol und Geschlechtskrankheiten be- 
kämpfen, wir müssen vor allen eine sittlich feste Gestaltung der 
Familie anstreben. | 

Dringen wir in das große Gebäude der konstitutionellen 
Psychopathie ein, so zeigt die Erfahrung, daß die jetzt übliche 
innerlich zusammenhangslose und nicht systematische Aneinanderreibung 
mehr oder weniger zusammenpassender Typen nicht genügt. Die Schwierig- 
keit besteht darin, daß die Störungen des Denkens, des Willens, des 
Affekts nicht nur untereinander in einer unendlichen Fülle gemischt 
sind und sich zu den verschiedensten psychologischen Kombinationen 
verbinden, sondern auch darin, daß das psychomotorische Verhalten 
den Gruppen der Denk-. Willens- und Affektgestörten wiederum eine 
besondere Färbung verleiht, und schließlich darin, daß intellektuelle 
Schwäche sich ihrerseits wieder mit den einzelnen Gruppen verbindet. 
Wir würden also bei schematischer Darstellung des Gesagten eine 
sehr große Anzahl von Gruppen unterscheiden müssen, die schließ- 
lich farblos abgeschwächt und wenig charakteristisch des Interesses 
kaum wert wären. Es erscheint uns deshalb richtig, die großen 
Gruppen der Denk-, Willens- und Affektgestörten voneinander zu 
trennen und die Mischung mit psychomotorischen und insbesondere 
intellektuellen Störungen in den Hintergrund treten zu lassen. Die 
Berechtigung dieses Verfahrens bei der Kombination von Psycho- 
pathie und intellektueller Schwäche ist kaum angreifbar, denn es 
ist zweifellos und wird wohl kaum bestritten, daß Schwachsinn an 
sich nicht asozial wirkt, sondern nur die hinzutretende Psychopathie 
das soziale Verhalten beeinflußt. Selbstverständlich ist die Unter- 
lage einer intellektuellen Willensschwäche begünstigend insofern, als die 
Leitung durch verstandesmäßige Überlegung zurücktritt. 

Die erste Gruppe der Psychopathen, bei denen das Hauptsymptom 
eine Denkstörung ist, zerfällt in zwei Teile, nämlich in solche Psycho- 
pathen, die zerfahren sind, bei denen also eine Störung der Asso- 
ziationen im Sinne eines Abreißens derselben vorliegt, ferner in die- 
jenigen, welche zerstreut sind im Sinne einer erhöhten Ablenkbarkeit, 
bei denen die Assoziationstätigkeit etwa im Sinne einer manisch-melancho- 
lischen Störung verändert ist. Die Zerfahrenen, zu denen häufig ein 
gewisser Grad von Schwachsinn hinzutritt, haben nicht selten eine 
entfernte klinische Ähnlichkeit mit leichten Formen der Schizophrenie. 
Die Zerstreuten sind ebenfalls häufig schwachsinnig, sie sind in der 
Mehrheit gegenüber den Zerfahrenen und sie bieten im Gegensatz zu 
den letzteren eine verhältnismäßig günstige Prognose Es handelt 


Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. 47 


sich zweifellos bei den Zerstreuten im wesentlichen um Entwicklungs- 
störungen, welche allmählich bei Übertritt in das Mannesalter über- 
wunden zu werden pflegen. Die Störung hat eine gewisse Ähnlich- 
keit mit der Ideenflucht manisch-melancholischer Kranker, jedoch 
zeigt der Affekt den kindlich optimistischen Charakter. Meist ist mit 
der Störung eine erhöhte psychomotorische Erregbarkeit verbunden. 


Eine größere Gruppe stellen die Willensschwachen dar. Auch 
hier ist sehr häufig angeborener Schwachsinn mit im Spiele Es 
handelt sich hier um die Jugendlichen, welche im besonderen Grade 
momentanen Antrieben folgen und der Verführung durch Andere be- 
sonders zugänglich sind. 


Die dritte große Gruppe, welche die größte Zahl der Jugend- 
lichen umfaßt, ist die der Gemütsgestörten. Als Untergruppe haben 
wir es mit den Gemütserregbaren zu tun, worunter sich hysterische, 
manisch-melancholische und epileptische Konstitution befindet. Hier- 
her gehören die Zornigen, die Wütenden, die Freudigen, die Traurigen, 
die Unternehmungslustigen, Streichemachenden, die Heimwehleidenden,. 
Empfindlichen und Verzogenen. Die Mädchen tragen zu dieser Unter- 
gruppe bei weitem den größten Anteil bei. Vielleicht kann man zu 
der ebengenannten Untergruppe auch die pathologischen Lügner, bei 
denen ein Gemütsfaktor immer eine wesentliche Rolle spielt, zählen. 


Eine zweite Untergruppe sind die Gemütsschwachen, wozu die 
Abgebrühten und die Gleichgültigen gehören, das größte Kontingent 
späterer Gewohnheitsverbrecher. Diese Persönlichkeiten sind be- 
sonders dann gemeinschaftsgefährlich, wenn sie über eine intensive 
Psychombotilität mit entsprechenden Willensantrieben verfügen. 


Zur dritten und letzten der Untergruppen gehören die Gemüts- 
losen, die man vielleicht besser Gemütsperverse nennen würde Zu 
diesen zählen die Schadenfrohen, die Grausamen, die Tierquäler, die 
Giftmischerinnen. Eine besondere Schattierung der Schadenfrohen sind 
die Kotspieler, welche einer gesonderten Betrachtung bedürften. Die 
Gruppe der Gemütslosen ist zum Glücke unserer heranwachsenden 
Jugend eine sehr kleine. 


Bei dieser kurzen Zusammenstellung, welche das Gerippe einer künf- 
tigen ausführlichen Darstellung darstellt, ist eine ganze Anzahl von 
Gruppierungsmöglichkeiten, vor allem auf dem Grunde körperlicher 
Betrachtungsweise, übergangen. So sind insbesondere die Rachitischen, 
die Asthenischen, die Skrophulös-tuberkulösen und die Endokrinen 
nicht erwähnt. Man könnte auch eine Fragestellung im Sinne der 
Pyknischen bezw. Asthenischen in anthropologischer Richtung aufstellen. 


48 O. Rehm: Psychiatrische Untersuchungen an Fürsorgezöglingen. 


Diese Fragen mögen künftigen Untersuchungen vorbehalten sein. Er- 
wähnt sei nur noch, daß Homosexualität sehr selten, Sadismus ver- 
einzelt bei jugendlichen Prostituierten zur Beobachtung kam. — 

Ein kleines Staatswesen wie Bremen ist gezwungen, fast alle 
Jugendlichen, welche einer Anstaltserziehung irgendwelcher Art be- 
dürfen, Anstalten zu überweisen, die außerhalb seiner Grenzen liegen. 
Es ist eine Unmöglichkeit, Erziehungsanstalten in einer solchen Zahl 
zu erhalten, wie sie die Unterbringung der verschiedenen Sorten 
‚Jugendlicher erheischt. Was aber notwendig ist, — und das soll ein 
dringender Appell an die einschlägigen Behörden darstellen — ist ein 
Beobachtungsheim für die erstmalig zur Verfügung des Jugendamts 
kommenden Jugendlichen. Die Gemeinschaft pädagogischer und 
psychiatrischer Tätigkeit müßte in einem solchen Heim weitgehend 
gewahrt sein. Es istein Unding, daß Jugendliche an ungeeigneten Plätzen 
verwahrt, ohne eingehende sachverständige Beurteilung Anstalten über- 
wiesen werden. Jährliche heilpädagogische Kurse sind zur Einführung 
und Fortbildung der im Jugendwerk stehenden Personen notwendig. 
Eine Beratungsstelle für psychopathische Jugendliche ist eine dringende 
Notwendigkeit und sollte von allen beteiligten Faktoren, auch von 
den in stetem Kampfe mit den sozialen Schädigungen stehenden 
Arzten, weitherzig unterstützt werden. 


Tagungen. 





Bericht 
über die Tagung des Archivs Deutscher Berufsvormünder E. y. 
Frankfurt a.M. 


Vom 1—4. September veranstaltete das Archiv Deutscher Berufsvormünder 
eine Tagung in Lübec k mit dem Tema: Jugendfürsorge als Erziehungsarbeit. 
Die Verhandlungen fanden im Bürgerschaftssaale des Rathauses statt und erfreuten 
sich sehr guter Teilnahme. Auch aus Österreich, der Schweiz und vor allem aus 
den nordischen Ländern waren Vertreter erschienen. Am ersten Verhandlungstage, 
der allgemeinen Erziehungsproblemen in der Jugendfürsorge gemidmet war, sprach 
. als erster Professor Dr. Petersen-Jena über: Jugendfürsorgeals Erziehungs- 
arbeit, ein Versuch vom Standpunkte der neuen Erziehungsbewegung 
aus. R. führte aus, wie die neue Erziehungsbewegung aus der neuen Psychologie 
des Kindes und der Jugendlichen herausgewachsen ist, die eine völlig neue Ansicht 
vom seelischen Leben entwickelt. Nach ihren Ansichten ist alles Seelische ein 
Geschehen, ein fließendes Erleben und nicht ein auf mathematisch zu berechnenden 
Seelenatomen aufgebautes Ganzes. Das kindliche Seelenleben hat vor der Pubertäts- 
zeit eine durchaus eigentümliche Struktur, die dann verschwindet oder verwandelt 
wird. Die neue Psychologie zeigt ferner, daß das Kind ein Gemeinschaftswesen ist 
und nur innerhalb einer gesunden, wohlgeordneten Gemeinschaft sich natürlich und 
' werthaft entwickeln kann. Daher ist es eine allererste Forderung, die Kinder in- 
mitten eines kräftigen gesunden und unbewußt einwirkenden Gemeinschaftslebens 
sich entwickeln zu lassen. R. verlangt eine „Erziehung in Freiheit“, worunter er 
aber nicht ein Leben in Willkür oder im ständigen Chaos versteht. sondern ein 
solches, in dem die stärksten Gemeinschaftsbindungen vorhanden sind. R. gab auch 
praktische Vorschläge für die Verwirklichung dieser neuen Erziehungsform. 

Oberregierungsrat Dr. Stork-Lübeck sprach über: Die Elternschaft als 
Trägerder Jugendfürsorge. R. führte aus, wie leider die Familie, der bislang für 
die kindliche Entwicklung wichtigste und günstigste Faktor, an Kraft und Ein- 
fluß außerordentlich abgenommen hat. Desbalb muß ein Weg in der Richtung der 
Weiterbildung der Familienkraft gesucht werden. Einen solchen sieht R. in der 
Bildung genossenschaftlich zusammengeschlossener Elternschaften, die ein kollektives 
Verantwortlichkeitsgefühl der gesamten Jugend gegenüber haben. Außerdem muß 
der Familienschutz einer der leitenden Gesichtspunkte unserer gesamten Wirtschafts-, 
Steuer- und Sozialpolitik werden. 

Als dritter Redner sprach Prof. Dr. Klumker-Frankfurt über: Erziehungs- 
aufgaben der Amtsvormundschaft. Die Tätigkeit der Amtsvormünder zielt 
auf die Erziehung ihrer Schützlinge. Aber ihr Erziehungseinfluß richtet sich nicht 

Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 4 


50 Tagungen. 


so sehr auf das Kind selbst, das von der Pflegefamilie erzogen wird, als vielmehr 
auf diese Familie und auf die ganze Gesellschaft überhaupt. Richtige Beeinflussung 
der Eltern und Pflegefamilien, Auswahl des Erziehungspiatzes, Abänderung der Er- 
ziehungsumgeburg u. a. sind die Mittel, mit denen die Amtsvormundschaft auf die 
Förderung und Ausgestaltung der Erziehung ihrer Mündel Einfluß gewinnt. 

Der zweite Verhandlungstag beschäftigte sich mit den Erziehungsaufgaben 
in der Gesundheilsfürsorge. 

Das erste Referat hielt Fıau Dr. med. Dibbelt-Düsseldorf über: Die Er- 
ziehung in der Säuglings-. Kleinkinder- und Haltekinderfürsorge. Die 
erzieherische Aufgabe der Säuglingsfürsorge liegt in der Erziehung der Mütter 
(systematische Schulung unter fachmännischer Leitung) und in einer guten Aus- 
bildung der in der Säuglingsfürsorge tätigen Helferinnen und Ärzte. Die Aufgaben 
der Kleinkinderfürsorge sind Aufklärung, Belehrung und erzieherische Beeinflussung 
der Mütter durch Elternabende. 

Rektor Jaspers-Frankfurt a. M. sprach über: Erziehungsprobleme in 
der Erholungsfürsorge. R. betonte vor allem die Notwendigkeit einer päd- 
agogisch orientierten Erholungsfürsorge für die Jugendlichen im Alter von 14 bis 
18 Jahren und wies auf die bedenkliche Form des Einzelaufenthaltes auf dem Lande 
hin. Alle bei der Erholungs!ürsorge Beteiligten müßten pädagogisch vorgebildet sein. 

Professor Dr. von Brunn, Stadtschularzt in Rostock, entwickelte in seinem 
Referat: Schulgesundheitspflege mit besonderer Bezugnahme auf den 
Berufsvormund ein Bild der Schulgesundheitspflege in ihrer heutigen Form und 
erklärte die aktive Fürsorgetätigkeit auf Grund der bei den äıztlichen Untersuchungen 
erkaunten Mißstände für die wichtigste. Ersprießliche schulärztliche Tätigkeit ist 
nur möglich bei verständnisvoller Zusammenarbeit des Schularztes mit Schulpflegerin, 
Lehrerschaft und Elternschaft. 

Fräulein Lange- Breslau sprach über: Schulkinderspeisung im Dienste 
der Erziehungsfürsorge. Sie machte interessante Mitteilungen über den Umfang 
und die Organisation dieser Einrichtung in Deutschland. Die Erziehungsarbeit der 
Kinderspeisung beschränkt sich naturgemäß auf Kleinigkeiten, Erziehung zur Reinlich- 
keit, zur Dankbarkeit, zur Hilfsvereitschaft und Nächstenliebe, Unterweisung im 
Haushalts- und Wirtschaftsunterricht. Der Charakter der Massenspeisung muß 
möglichst verdeckt werden. . 

Oberarzt Dr. Enge-Lübeck behandelte: Die erzieherischen Aufgaben 
in derPsychopathenfürsorge unterärztlichen Gesichtspunkten. R führte 
aus, daß Psychopathenfürsorge ohne Erziehung undenkbar sei. Diese Erziehung 
müsse aber eine ärztlich geleitete sein und zwar in ällen Stadien der Erziehung. 
Die wesentlichsten erzieherischen Aufgaben allgemeiner Art in der Psychopathen- 
fürsorge liegen in der richtigen Gestaltung der Erziehungs- und Umweltseinflüsse 
entsprechend der vom Arzt festgesteliten Anlage und Analyse des Kindes, in der 
Heranbildung geeigneter Menschen für die Psychopathenfürsorge und in der Er- 
ziehung oder wenigstens Aufklärung der selbst psychopathischen Eltern. Bei den 
erzieherischen Einzelfragen, die die P’sychopathen angehen, handelt es sich nicht 
um neue Behandlungsniethoden, sondern um anerkannte Lehren und Grundsätze der 
Normalpädagogik. Diese müssen nur besonders scharf herausgearbeitet und der 
Eigenart der Psychopathen angepaßt werden. 

Der dritte Verbandlungstag befaßte sich mit der Organisation der länd- 
lichen Jugendfürsorge. Es sprachen Direktor Bertsche-Montabaur über: die 
Organisation der ländlichen Jugendfürsorge. Dr. Sandre-Stettin über: 


Tagungen. öl 


die Ausgestaltung der Amtsvormundschaft auf dem Lande, Direktor 
Wodtke-Plön über: Brennende Fragen der Amtsvormundschaft im Hin- 
blick auf das Kinderelend auf dem platten Lande, Fräulein Freudenberg- 
Segeberg über: Pflegekinderwesen und Säuglingsfürsorge auf dem Lande, 
Direktor Dursteler-Rostock über: Jugendgerichtshilfe auf dem Lande. 
Sämtliche Referenten betonten, daß die Jugendnot auf dem Lande ebenso stark ist 
wie in der Stadt und deshalb fürsorgerische Maßnahmen auch dort ein dringendes 
Gebot der Stunde sein. Im übrigen sprachen sie über organisatorische Einzelheiten. 


Am 4. September fand der Deutsch-Nordische Fürsorgetag statt, auf dem das 
Recht des unehelichen Kindes in Deutschland und in den nordischen Staaten 
und Fragen der gegenseitigen Rechtshilfe behandelt wurden. Die Ergebnisse dieser 
Besprechungen sollen von dem Archiv in einer besonderen Veröffentlichung zu- 
sammengefaßt werden. 

Den Schlußvortrag der Tagung hielt Herr Frerik Schröder- Asko (Dänemark) 
über die Frage: Was kann die Volkshochschule für die Jugendfürsorge 
bedeuten? 


Die Verhandlungsteilnehmer besichtigten außerdem während der Tagung eine 
Reihe Lübecker Fürsorgeeiprichtungen, die speziell den Kindern und der Jugend 
dienen, so z. B das Knabenerziehungsheim Wakenitzbof, Rudolf Groth-Kinderpark, 
Waldschule und Walderholungsstätte Wesloe, Priwallheim in Travemünde. 

Die Referate und Aussprachen brachten eine außergewöhnliche Fülle von An- 
regungen, die von der Jugendfürsorgearbeit nicht unbeachtet gelassen beiben werden. 

Dr. Enge-Lübeck. 


Chemnitzer Tagung 
des „Archivs deutscher Berufsvormünder“ E. V. 


Die erste Tagung des Archivs deutscher Berufsvormünder seit Einführung des 
RJWG. wurde vom 21.—23. August in Chemnitz abgehalten. Über 250 Teilnehmer 
aus allen Teilen des Reichs, aus Österreich, der Schweiz und der Tschechoslowakei 
hatten sich eingefunden zur Besprechung einer ganzen Reihe von brennenden Fragen 
der Jugendfürsorge, insbesondere der Amtsvormundschaft. 


Den Auftakt zu den Beratungen gab Oberamtmann Dr. Fischer-Nürnberg, 
mit einem grundsätzlichen Referat über: „Das Jugendamt als Erziehungs- 
institution“, das den Erziehungsgedanken des RJWG., der in unserer Zeit der 
finanziellen Nöte unterzugehen droht, in den Vordergrund der ganzen Jugend- 
fürsorge rückte. Er führte dabei etwa folgendes aus: In der Theorie ist das 
Jugendamt unbestritten Erziehungsamt. In der Praxis sind wir jedoch von der 
Durchführung dieser Idee noch weit entfernt. Das Jugendamt ist in viel tieferem 
Sinne Erziehungsamt als die Schulbehörde. Die Gefahr ist außerordentlich groß, 
daß es zu einer Bürokratie, zu einem Mechanismus wird, wo es doch Organismus 
sein sollte. Die Jugendamtsaufgaben müssen eine selbständige Stellung innerhalb 
der Verwaltung einnehmen. Hauptsache ist die richtige Auswahl und Ausbildung 
der Beamten. Die Arbeiter in der Jugendfürsorge müssen den inneren Beruf zu 
ihrer Arbeit haben, sonst wird das Jugendamt seinen Aufgaben niemals gerecht 
werden können. Die Form, in der das Jugendamt Erziehungsarbeit leistet, ist im 
wesentlichen die Erziehungsauswahl und die Erziehungsleitung, d. h. also mittelbare 
Erziehung. Schlechterdings alle Zweige der Jugendfürsorge und der Jugendamts- 

4* 


52 Tagungen. 


tätigkeit sind in erster Linie Erziehungstätigkeit. Doch hat dıe stärksten Erziehungs- 
möglichkeiten der Vormund. 


Nicht nachdrücklich genug kann sein Apell an die Öffentliche Jugendfürsorge 
weitergegeben werden, daß sie das Schwergewicht ihrer Tätigkeit auf die Erziehung 
legen muß, wenn sie ihre Daseinsberechtigung erweisen und nicht einfach von der 
freien Jugendwohlfahrt erdrückt werden soll. 


Professor Klumker- Frankfurt a. M. ergänzte und vertiefte diese Ausführungen 
für das besondere Arbeitsgebiet des Amtsvormundes, dessen zentrale Stellung im 
Jugendamt er in überzeugender Weise zum Ausdruck brachte. „Stellung und 
Bedeutung des Amtsvormundes im Jugendamt“ lautete sein Thema. Das 
Jugendamt würde seiver Aufgabe nicht gerecht, wenn es sich nur auf die rechtliche 
Grundlage stellte. Es ist im letzten Grunde Erziehungsamt, sein Ziel die Erziehung 
seiner Schützlinge. Ist dies obne Inanspruchnahme einer Rechtsgrundlage durch- 
führbar, um so besser. Nur wenn es ohne sie nicht auskommen kann, wird es auf 
die Rechtsgrundlage zurückgreifen. Auch das Ziel der Amtsvormundschaft ist die 
Erziehung seines Mündels, die vormundschaftsgerichtlichen Rechtsgrundlagen sind 
nur Hilfsmittel dazu. Dem Amtsvormund untersteht der weitaus größte Teil aller 
durch das Jugendamt gehenden Kinder. Seine Schützlinge erscheinen in den 
anderen Abteilungen des Jugendamtes wieder. Diese Erwägung führt zu einer 
Organisation, die vom Gesichtspunkte der Erziehung ausgeht und nebeneinander 
liegende, gleichartige Abteilungen (siehe Vorbild der Schweiz) vorsieht. Das Kind 
bleibt in einer Hand, Gleichmäßigkeit und Dauer wird verbürgt. 


Ministerialrat Dr. Maier-Dresden brachte die gesetzlichen Grundlagen 
der Amtsvormundschaft in den Ausführungsgesetzen der Länder zu 
Gehör und führte die Diskussion auf dıe Spezialfragen der Amtsvormundschaft hin- 
über. Er vertrat die Anschauung, daß die einschlägigen Aufgaben der Vormund- 
schaftsgerichte allmählich auf die Jugendämter übergehen müßten. Von Einzelfragen 
streifte er im wesentlichen die Befreiungsvorschriften der Länder hinsichtlich der 
Einführung der Amtsvormundschaft, die Befreiung der Amtsvormundschaft von ver- 
schiedenen Bestimmungen des BGB., die Übergangsbestimmungen der länder, die 
Bestimmungen über Anstalts- und Vereinsvormundschaft und die Frage der Zwangs- 
vollstreckung aus der Beurkundung durch das Jugendamt. 


Der Nachmittag des ersten Tages brachte die von den Amtsvormündern be- 
sonders begrüßte Aussprache über Fragen aus der amtsvormundschaftlichen Praxis. 
Eine ganze Reihe der schwierigsten Probleme, vor allem auf rechtlichem Gebiete 
wurden an Hand kurzer Referate in eingehender Aussprache erörtert. Von den 
Themen seien besonders hervorgehoben: „Höhe der Unterbaltungssätze‘‘, „Rechts- 
hilfe der Amtsvormünder untereinander“, „Abänderbarkeit von Abfindungs- Verträgen“ 
und „Efändungsgrenze‘. Im Anschluß an diese Verhandlungen fand eine zwang- 
lose Besprechung über die Zweckıinäßigkeit una die Form der Durchführung länder- 
oder provinzweise abgegrenzter Arbeitsgemeinschaften der Amtsvormünder statt. 
Die Erfahrungen haben gezeigt, daß diese Frage gerade in Hinsicht auf die vielen 
neu begründeten Amtsvormundschaften eine brennende geworden war und die Aus- 
sprache bestätigte diese Feststellung fast ausnahmslos. Nach den kurzen Vorschlägen 
des Archivs, die gedruckt vorlagen, haben die Arbeitsgemeinschaften den Zweck, 
auch den letzten Amtsvormund zu gemeinsamer Mitarbeit beranzuziehen, seine Ar- 
beit zu fördeın, seine Erfahrungen der Gesamtheit nutzbar zu machen und in ört- 
lichen Kursen an seiner Weiterbildung zu arbeiten. Es liegt in der Natur dieser 


Tagungen. p 53 


Sache, daß sie spontan aus dem Kreis der Amtsvormünder selbst herausgeboren 
werden muß, wenn sie von Erfolg begleitet sein soll. 

Der zweite Verhbandlungstag war der Frage der „Einrichtung und der 
Personalfrage des Jugendamtes" gewidmet. Stadtrat Schatter-Chemnitz 
schilderte in einem einleitenden Referat die Verhältnisse des Jugendamtes der Stadt 
Chemnitz. Mit dem Wort: „Es gibt nur ein Werden, kein Sein“, charakterisierte 
er treffend eine wesentliche Seite des Jugendamtes. Im einzelnen betonte er das 
in Chemnitz durchgeführte Prinzip der Familienfürsorge, das Verhältnis zwischen 
Jugendamt und privater Wohlfahrtspflege und die hier so vorbildlich organisierte 
Erholungsfürsorge für die Großstadtjugend.. Das Hauptthema des Tages: „Be- 
deutung von Bureau- und Außendienst und die Ausbildungsfrage“ 
hatte Landeskommissär Dr. F. Eselböck-Wien vom Niederösterreichischen Landes- 
jugendamt übernommen. 

Sein warmherziger, mit großem Beifall aufgenommener Vortrag behandelte 
zunächst grundsätzlich die Bedeutung des Innen- und Außendienstes im einzelnen 
und in ihrer Zusammenarbeit. Er führte etwa folgender aus: „Das Büro ist 
wichtig, weil es die technischen Grundlagen zur Arbeit schafft. Trotzdem haben 
pur ganze Menschen in ihm Piatz. Greifen sie doch durch ihre Anordnungen 
ständig in die Lebensführung ihrer Schützlinge ein, ganz abgesehen davon, daß sie 
in ihren Sprechstunden in unmittelbare Berührung mit ihnen kommen. Die wesent- 
liche Arbeit ist die Erziehungsarbeit, die der Außendienst leistet. Büro- und 
Außendienst arbeiten zusammen wie Vater und Mutter. Dabei ist die Fürsorgerin 
das belebende Element. Ihr liegt außerdem die Aufgabe ob, den ehrenamtlichen 
Außendienst gewissenhaft und vorsichtig anzuleiten. Zu all diesen Aufgaben sind 
in erster Linie Menschen nötig, doch müssen diese auch entsprechend ausgebildet 
sein. Die österreichischen Verhältnisse, die für uns Reichsdeutsche in vieler Hin- 
sicht vorbildiich sein können, wurden im zweiten Teil des Themas eingehend ge- 
schildert. In diesem Roferat kam die Bedeutung der Erziehungsarbeit und die Not- 
wendigkeit des Einsatzes der ganzen Persönlichkeit in der Fürsorgearbeit, ein Ge- 
danke, der wie ein roter Faden die Tagung durchzog, besonders zur Ausprägung. 

Eine besondere Note erhielt der Tag durch den sich anschließenden Vortrag 
von Prof. Dr. Weber-Chemnitz, der dazu angetan war, den Berufsvormündern 
ihre Arbeit in neuem Zusammenhange zu zeigen. Der Redner sprach in überaus 
voikstümlicher und doch klarer Weise über „das Problem der Unfruchtbar- 
machung geistig minderwertiger Personen“. Er verstand es, dem Laien 
die schwierige Frage der Geisteskrankheiten im Lichte moderner Vererbungslehre 
und Eugenik zu zeigen und versäumte es nicht, auch auf die unter Umständen ge- 
fährlıchen Folgen einer Beseitigung der Fortpflanzungsfähigkeit hinzuweisen. Er 
betonte insbesondere, daß derartige Maßnahmen nur von Fall zu Fall im Ein- 
verständnis des Betroffenen selbst oder seines gesetzlichen Vertreters durchgeführt 
werden dürfen und daß dieses Problem noch nicht reif sei, zu gesetzlicher Festlegung. 

Im Anschluß an die Mitgliederversammlung des „Archivs“ am Nachmittag, die 
einige formale Angelegenheiten zu erledigen hatte, fanden sich die Teilnehmer der 
Tagung zu Besichtigungen der mustergültigen Landesanstalt für Schwachsinnige und 
Blinde und des Geländes für Kinderwaldfahrten im Zeisigwald zusammen, die ihnen 
wertvolle Einblicke in die praktische Arbeit auf dem Gebiete der Anstalts- und Er- 
holungsfürsorge boten. 

Die große Bedeutung der Jugendfürsorge auf dem Lande hatte das 
„Archiv“ veranlaßt, die Verhandlungen des dritten Tages ganz in den Dienst dieser 


54 Tagungen. 


Frage zu stellen. Die beider. Hauptarbeitsgebiete des Landes, Säuglingsfürsorge und 
Amtsvormundschaft, wurden in breit angelegten Referaten und eingehenden Aus- 
sprachen erörtert. „Pflegekinderwesen und Säuglingsfürsorge auf dem 
Lande“ lautete das Thema, das Frau Tegeler, Leiterin des Reichswohlfahrtsamtes 
Grimma, behandelte Sie wußte aus ihren reichen Erfahrungen die zahlreichen 
Teilnehmer der ländlichen Kreise in die Hauptprobleme dieser Arbeit einzuführen. 
Die Erhaltung des Landvolkes liegt im wohlverstandenen Interesse der Nation. In 
der bisherigen Gesetzgebung ist diesem Grundsatze nicht genügend Rechnung ge- 
tragen, das Land vielmehr stark vernachlässigt. Auf dem Lande fehit der Unterbau 
und darum ist auf dem Lande vor allem Erziehung und Aufklärungsarbeit nötig, 
Die ländliche Bevölkerung muß erst überzeugt werden, daß Wohlfahrtspflege kein 
Luxus, sondern eine bittere Notwendigkeit ist. Säuglings- und Mutterschutz sind 
Forderungen der Selbsterhaltung des Volkes. Die Schwierigkeiten sind sehr groß. 
Äußere: Räumliche Ausdehnung des Bezirkes, Verkehrsschwierigkeiten, technische 
Schwierigkeiten. Innere: Verharrung der Bevölkerung in alten Gewohnheiten, Be- 
quemlichkeit, Unwissenheit und Aberglauben, Schwerfälligkeit in der Aufnahme 
hygienischer Forderungen. Die Bewertung des Menschen erfolgt hauptsächlich nach 
dem Grundsatz: „Wer nicht arbeiten kann, soll auch nicht essen.“ Die Rednerin 
beschränkte sich jedoch nicht auf den Fragenkomplex ihres engeren Themas, sondern 
nahm auch Gelegenheit, benachbarte Gebiete, insbesondere den Mutterschutz in den 
Kreis ihrer Betrachtungen zu ziehen. 

In Ergänzung dieser Ausführungen bezeichnete Jugendamtsleiter Essich- 
Nürtingen ein Bild gutarbeitender ländlicher Amtsvormundschaften. Die Erfahrungen 
in Württemberg, dem ersten Lande, das die Amtsvormundschaft schon durch das 
Gesetz von 1919 allgemein eingeführt hat, erregten großes Interesse. Es hat sich 
nach den Ausführungen des Referenten in Württemberg gezeigt, daß die Amts- 
vormundschaft dort eine unentbehrliche Einrichtung der Jugendfursorge geworden 
ist, deren Beseitigung ihr heute unheilbare Wunden schlagen müßten. — 

Von den Referaten erscheinen einige im Druck. Es sind dies voraussichtlich: 

Fischer, Das Jugendamt als Erziehungsinstitution, 

Tegeler, Pflegekiuderwesen und Säuglingsfürsorge auf dem Lande, 

Essich, Die Durchführung der Amtsvormundschaft auf dem Lande, 

Eselböck, Bedeutung von Büro und Außendienst und die Ausbildungsfrage. 
Näheres ist zu erfahren durch das Archiv Deutscher Berufsvormünder Frankfurta. M., 
Stiftstraße 30. | 

Dr. Wedler, Frankfurt a. M. 


Bericht über die Heubergtagung 
der Vereinigung Deutscher Kommunal-, Schul- und Fürsorgeärzte 
vom 9.—12. September 1924. 


In der Erkenntnis, daß nur der Austausch der Gedanken zwischen Fürsorge- 
organen und Ärzten die gemeinsame Arbeit in der Gesundheitsfürsorge richtig fördern 
kann, hatten sich die deutschen Kommunal-, Schul- und Fursorgeärzte erstmals mit 
Fürsorgerinnen und sonstigen auf sozialhygienischem Gebiet tätigen Persönlichkeiten 
zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden. Der Gedanke fand lebhaften Anklang, 
was schon aus der Tatsache zu ersehen ist, daß sich trotz der Abgelegenneit des 
Versammlungsortes und der erschwerten Zureisemöglichkeiten im ganzen etwa 240 Teil- 
nehmer eingefunden hatten. Die Unterbringung ım Heime war nicht leicht. Am 


Tagungen. 55 


9. September fand um 8!;, Uhr ein Begrüßungsabend statt, bei welchem die 
offiziellen Vertreter, sowie die Heimleitung zu Worte kamen und durch Vorführung 
des Heubergfilmes auch gleichzeitig ein Vorbegriff des Lebens und Treibens auf 
dem Heuberg gegeben werden konnte. 


Am ersten Verhandlungstage sollte zuerst „Die Familie als Baustein des 
Volkslebens‘‘ bebandelt werden. Prof. Dr. Oettinger-Charlottenburg faßte das 
Thema aber weiter und sprach über „Rassenhygiene und Fürsorge“. Die Fürsorge 
sei verschiedentlich beschuldigt worden, die natürliche Auslese zu behindern. Sie 
habe aber doch ihre Berechtigung weil z. B. bei den Säuglingen nicht ihre ererbte 
Lebenskraft sondern der Zufall ihrer Situation über ihren Fortbestand entscheide. 
Auch Tuberkulöse haben unsterbliches geleistet. Es sei deshalb nicht anzustreben 
die Geburt Tuberkulosebedrohter zu verhindern, sondern die früh davon Befallenen 
trotz ihrer Gebrechlichkeit soweit zu bringen, daß sie entsprechend ihren Anlagen 
zu voller Leistungsfähigkeit gelangen. Die Schulbygiene beschäftigt sich jetzt nur 
wenig mehr mit der Verhütung direkter Schulschäden, sondern mit der Ernährungs- 
und Erholungsfürsorge um Situationsnachteile auszugleichen. Alle diese Maßnahmen 
müßten aber im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Werten, die sie schaffen 
sollen, betrachtet werden. Die Fürsorge muß sich nicht allein um die soziale Lage 
der Familie kümmern, sondern muß die Schädigungen der Umwelt auf die Familie 
erkennen und ihren schädlichen Einwirkungen vorbeugen. Auch die Eheberatung 
müsse ausgebaut werden, um das Volkstum auf eine gesunde Familie zu gründen. — 
Im nächsten Vortrage schilderte Stadtarzt Dr. Vonessen-Köln a. Rh. „Die Zerrüttung 
der Gesundheit und die Förderung der Gesundheit in der Familie“. Nach emer 
vorübergehenden Besserung der ersten Nachkriegsjahre brachten Teuerung, Geld- 
entwertung und Arbeitslosigkeit eine erneute Erschwerung der gesundheitlichen 
Lage. Die Folge war erneuter Rückgang der Ernährung, Anschwellen der Tuberkulose 
besonders bei den Kindern. Verschlimmernd fällt ins Gewicht, daß sich die Kranken 
nicht einmal behandeln lassen können. Auch die Träger der sozialen Versicherung 
schränkten ihre Leistungen wesentlich ein. Ein weiteres trauriges Kapitel ist die 
Zanahme des Alkoholismus, des Zigarettenrauchens der Jugend und der Geschlechts- 
krankheiten. Die Zahl der Fehlgeburten ist erheblich gestiegen. Die beengten 
Wohn- und Schlafgelegenheiten stiften schweren Schaden. Verschlimmernd wirkt 
bei all diesem Elend die Verbitterung vieler von Not und Krankheit Betroffenen, 
wodurch nicht selten auch Vernachlässigung und Gefährdung der eigenen Gesundheit 
sowie der Familiesangehörigen entsteht. Förderung der Gesundheit ist nur dann 
möglich, wenn die Familie bei ihrer Gründung gesund ist. Sodann ist Voraus- 
setzung die wirtschaftliche Sicherung der Familie, die durch gute Berufsausbildung 
des Mannes, gute hauswirtschaftliche Ausbildung der Frau am besten gewährleistet 
wird. Ferner ist eine gesunde, anheimelnde Wohnung Bedingung. Weiter sind 
Ernährung, Kleidung, Körperpflege und Erholung den Anforderungen der Gesundheit 
entsprechend einzurichten. Die hierzu nötigen Kenntnisse müssen durch Aufklärung 
in den Schulen. Vereinen usw. Gemeingut des Volkes werden. Genügende Erfolge 
kann man sich hiervon nur versprechen, wenn mit der geistigen Aufklärung auch 
Erziehung zur sittlichen Stärke Hand in Hand geht. — In der Aussprache zeigte 
es sich, wie unter den Teilnehmern der lebhafte Wille herrschte, aus der gegen- 
wärtigen Notlage herauszukommen, sei es, daß scharfe Worte gefunden wurden 
gegen den zunehmenden Alkohol- und Nikotinmißbrauch der Jugend, oder gegen die 
Wohnuangsnot und die durch ungeeignete Maßnahmen zurückgehaltene Baulust. 
Dringend wurde gefordert, durch Fürsorgemaßuahmen die Menschen nicht un- 


56 Tagungen. 


selbständig zu machen, das Verantwortungsgefühl des Einzelnen gegen sich selbst, 
seine Familie, sein Volk müsse wieder gehoben werden. Statt Anreiz zum Geld- 
ausgeben müsse der Sparsinn gepflegt werden. Ungesunde Vergnügungsstätten seien 
zu beseitigen. Sache der Beteiligten sei es aber mit gutem Beispiel voranzugehen. 

Am Abend folgte ein Lichtbildervortrag über „Deutsche Kindererholungsheime 
in Wort und Bild“ von Med.-Rat Dr. Stephani-Mannheim, der mit seinen Dar- 
bietungen besonders die Hellpach’schen Ideen über geopsychische Erscheinungen 
illustrieren wollte. Eingangs wurden kurz die Grundbedingungen für die Anlage 
von Erholungsheimen besprochen. Es konnten 19 Heime mit über 80 Bildern 
gezeigt werden. 

Über „Charakteristik und Erfolgsmöglichkeiten der verschiedenen Arten der 
Erholungsfürsorge“ sprach am zweiten Verhandlungstage Frl. Dr. Kall-Düsseldorf. 
Ausgehend von der Hoffa’schen Erklärung, daß unter Erholungsfürsorge die Ge- 
samthbeit der Maßnahmen zu verstehen sei, die von Öffentlichen Behörden oder von 
Organisationen der privaten Wohlfahıtspflege getroffen werden zur Beseitigung von 
Krankheitsfolgen, zur Bekämpfung konstitutioneller Minderwertigkeiten und an- 
geborener oder erworbener Krankheitsbereitschaften. Eine Abgrenzung der Erholungs- 
fürsorge gegenüber mannigfachen Maßnahmen, die der Gesunderhaltung des gesunden 
Körpers dienen (Wandern. Turnen, Spiel, Sport, Einführung der Sommerpflege in 
der halboffenen Fürsorge) ist notwendig. Die beste Auswahl und Verteilung ist nur 
möglich bei engster Verbindung der Eh.- Fürsorge mit der allgemeinen Kinderfürsorge, 
die durch die Mütterberatungsstunden, schulärztlichen Untersuchungen und Sprech- 
stunden, sowie durch die bäusliche Fürsorge die Bedürftigen in ihrer Gefährdung 
vor allem auch in ihrer sozialen Bedingtheit erfassen. Die Kinder werden entweder 
zugeteilt a) den örtlichen Erholungskuren (Licht-, Luft- und Sonnenbädern, Wald- 
erholungsstätten, Waldschulen und örtlichen Solbadekuren); b) den Aussendungskuren 
und zwar der Einzelpflege in ländlichen Familien und den Erholungsheimen, in 
Tiefland, Mittelgebirge, Hochgebirge, in den Soolbädern und an der See. Die erst- 
genannten Erholungsmöglichkeiten sind einfach erholungsbedürftigen Kindern, die 
letzteren solchen, die einer genauen ärztlichen Beobachtung unterworfen werden 
müssen, vorzubehalten. Gegenüber der Aussendung in Einzelpflegestellen hat die 
örtliche Erholungsfürsorge große Vorzüge durch ihre Billigkeit vor allem durch die 
Möglichkeit ärztlicher Überwachung und sachgemäßer pflegerischer und erzieherischer 
Betreuung der Kinder. Abgesehen hiervon ist sie für manche Gruppen (Bettnässer, 
Kleinkinder, Hilfsschulkinder, schwer Erziehbare) die zurzeit einzig mögliche Art 
der Unterbringung. Die Erholungsfürsorge ist aber trotz Vorbeugung von Schäden 
mannigfacher Art, nicht das einzige Mittel im Sinne einer Ökonomie der Fürsorge. 
Nur durch Besserung der sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten und durch 
Hebung der furchtbaren Wohnungsnot kann eine dauernde Gefährdung der Kinder 
verhütet werden. 


Kreiskommunalarzt Dr. Schmidt-Opladen ging bei der „Ärztlichen Auswahl 
für die Entsendungen" zunächst auf organisatorische Fragen ein, dabei betonend, 
daß bei der Erholungsfürsorge der endgiltig bestimmende Einfluß uber die Ent- 
sendung dem Arzt gewahrt bleiben müssen. Wirtschaftliche Notwendigkeiten be- 
dingen starke Einschränkungen. Die Erhaltung und Hebung der Volksgesundheit 
muß als Grundbedingung im Auge behalten werden. Der Arzt muß zwei Fragen 
bejahen können, bevor er ein Kind zur Entsendung bestimmt. 1. Wird voraus- 
sichtlich ohne eine Eıholungskur über kurz oder lang eine dem Kinde drohende 
Krankheit zum Ausbruch kommen bezw. das Kind in seiner Leistungsfähigkeit 


Tagungen. 57 


wesentlich beeinträchtigt sein oder bleiben? 2. Wird voraussichtlich durch eine 
Erholungskur der Ausbruch der drohenden Krankheit verhütet, die Gesundheits- 
gefährdung abgewendet. die Leistungsfähigkeit des Kindes erhalten oder wesentlich 
gehoben werden und zwar nicht nur vorübergehend, sondern voraussichtlich dauernd 
oder wenigstens auf lange Sicht? Die Reizwirkung einer Entsendung muß genau 
dosiert werden. Der Arzt muß deshalb die von ihm benutzten Heime mit allen 
ihren klimatischen, hygienischen usw. Einzelheiten kennen. Die medizinische Seite 
der Auswahlen für Erholungskuren — nicht für Heilkuren, die etwas anderes sind — 
wurde kurz und klar umrissen. Die zur Verfügung stehenden Mittel müssen scharf 
zusammengehalten und richtig verwendet werden, selbst wenn die Objektivität des 
Arztes manchesmal den Eindruck der "Herzlosigkeit erwecken mag. Klarheit und 
Zielsicherheit bis hinein in die letzten Konsequenzen — das müsse die Richtschnur 
unseres Handelns sein. — An Stelle des kurz vor Beginn der Tagung leider ver- 
hinderten Dr. Polligkeit- Frankfurt hatte sich Oberamtmann Dr. K lu m pp- Backnang 
kurz entschlossen, den Bericht über „Wirtschaftliche Fragen der Entsendung“ zu 
übernehmen. Die Finanzierung und die zweckmäßige Organisation wurden einzeln 
behandelt. Trotz schwerer Finanznot müsse die Erholungsfürsorge durohgehalten 
werden. Der Weg, auf die Ausgabeseite zu drücken und den Heimen zu geringe 
Verpflegungssätze zu gewähren, würde einen Untergang der Heime bedeuten. Als 
dauernde Einrichtungen seien sie aber zu erhalten und auf feste finanzielle Basis 
zu stellen. Die Last der Finanzierung ist auf die Schultern der Entsendestellen 
gelegt. Landaufenthalt, örtliche Kuren, Heime aller Art verlangen verschiedenen 
Kostenaufwand. Unwirtschaftlich wäre es aber, an Maßnahmen Geld zu wenden, die 
von vorn herein den Erfolg in Frage stellen. In den Städten fließen öffentliche 
und private Mittel reichlicher wie auf dem Lande. Krankenkassen, Landes- 
versicherungsanstalten, Selbsthilfemaßnahmen der Fürsorgeschwestern und ganz 
besonders die Eltern sind zu den Kosten heranzuziehen. Bei den Elternbeiträgen 
ist die erzierische Bedeutung nicht zu unterschätzen. Die Erholungsfürsorge bildet 
den Teil der Arbeit der Wohlfahrtsämter. der den meisten Störungen ausgesetzt ist, 
schnelle Umstellungen verursacht (Rücktritt einzelner oder ganzer Gruppen von 
Eltern von ihrer Zusage in letzter Stunde) und daher ein ganzes besonderes Maß 
von Zeit und Geduld erfordert. Mit Zentralisatiouen und auch den nötigen Geldmitteln 
sind lange nicht alle Schwierigkeiten beseitigt. Die Eltern müssen zum Verständnis 
der Erholungsfürsorge erzogen werden, nicht nur wegen der Aufbringung der Mittel, 
sondern auch zur Festhaltung des Erfolges. Presse und belehrende besonders Lioht- 
bildervorträge können Gutes wirken. Schließlich ist ein geschultes Personal nötig, 
daß sich mit Eifer und Liebe der guten Sache annimmt. — Bei der „Feststellung 
der Erfolge" betonte St.-Med.-Rat Dr. Oschmann-Erfurt, daß ein genaues Karten- 
blatt mit persönlicher und Familien-Anamnese, Gewicht, Große usw. bei der Nach- 
untersuchung vorliegen müsse. Er ging dann im Einzelnen auf die technische 
Durchführung der Kontrolle näber ein. Wenn auch jedes Propagandatreiben mit 
Gewichtszunahmen entschieden abgelehnt werden muß, so ist doch für den Arzt die 
Feststellung von Jänge und Gewicht vor und nach der Kur nicht zu entbehren. Der 
seelische Erfolg ist auch gesundheitlich von großem Wert. Da von den Erfolgen die 
ganze Existenzberechtigung der Eıholungsfürsorge abhängt, sind die Methoden für die 
Feststellung der Kurerfolge weiter auszubauen. — Der Nachmittag war der Aussprache 
vorbehalten. Man war sich besonders darüber einig, daß der augenblickliche Schein- 
erfolg einer 4-Wochenkur unwirtschaftlich wäre, und eine 6- Wochenkur als einzige 
Möglichkeit eines wirklichen Dauererfolges unbedingt zu fordern wären. Die von 
einer Seite angeregte zu weitgehende Zentralisierung der Organisation wurde abgelehnt. 


58 Tagungen. 


Dann hielt Frau Oberregierungsrat Dr. Marie Baum - Karlsruhe, die Vorsitzende 
des Vereins „Kindererholungsfürsorge Beuberg‘‘, den eigentlich schon für den Vor- 
abend angekündigten Vortrag über „Erholung im häuslichen Kreise und Erholungs- 
fürsorge in Stadt und Land“. Sie entrollte zunächst ein Bild der Eheschließungen 
und der Wohnungsbauten in den letzten Jahren in Baden, aus dem sich die un- 
geheure Notlage der Jetztzeit ersehen ließ. Wie soll unter diesen traurigen Ver- 
hältnissen das Familienleben wieder aufblühen können? Sie schilderte dıe Not 
unserer Jugend, die sich aus der Familie entfernt und in der Jugendbewegung 
zusammenschließt. Nach vorsichtiger Schätzung sind 80-90°,, der badischen 
Jugendlichen organisiert, der größte Teil in evangelischen oder katholischen Jugend- 
organisationen, während merkwürdigerweise auf Pfadfinder und Wandervogel außer- 
ordentlich wenig Köpfe kamen. Unverkennbar sei das Streben nach neuen Formen 
des Gemeinschaftslebens, das letzten Endes der Familie und weiterhin unserem 
Volke zugute käme. 


Am letzten und dritten Verhandlungstage kamen die Heime selbst zum Wort. 
Oberin Marie Zentmayer-Neckargemünd sprach über die „Erzieherische Tätig- 
keit der Heime“. Sie meinte, daß durch die Fassung des Programms, das erzieherische 
und ärztliche Tätigkeit gleichzeitig zur Behandlung vorsah, gleichsam eine Demon- 
stration geschaffen und die Behauptung aufgestellt sei: Die Tätigkeit des Arztes und 
die des Erziehers am Erholungsheim gehen, einander gleichwertig —- ohne erkenn- 
bare Grenzlinien — in einander über. Man dürfe Erziehung nicht gleich setzen 
mit Unterricht oder Bildung. Das seien nur Teilbegriffe. Im Heim sei Erziehung 
größtenteils nur Gewöhnung. Reinigung, Mahlzeiten, Stuhlentlehrung, Zäbneputzen, 
Nachmittagsschlaf, Folgsamkeit, mit ihren Nachwirkungen auf den Ablauf der Haupt- 
funktionen des Körpers, das sind die gewaltigen Hülfen für die Volksgesundheit, die 
die Heime den Kindern mitgeben können. Die Erziehung selbst soll sich im Heime 
nur auswirken, nach dem, was im Kinde am stärksten zum Ausdruck kommt. Das 
scheue verschlossene Kind soll lebendig werden; das verzärtelte — an Vater und 
Mutter krankende — soll selbständig und widerstandsfähig werden; das zukünftige 
Genie soll eine Dämpfung erfahren; das unverträgliche soll verträglich werden; das 
einzige soll teilen lernen. Dies sind nur knappe Ausschnitte aus eıner längeren und 
doch nicht erschöpfenden Musterkarte. Die Erziehungsleitung muß deshalb zu jedem 
Kind in persönliche Beziehung treten können, muß Persönlichkeit sein, um mit un- 
geheurer Kraft eine unwillkürliche Beeinflussung zu erreichen. Deshalb Beschränkung 
der Zahl auf höchstens 100 in kleineren Heimen, oder vollständige Trennung ein- 
zelner Erziehungsgruppen in größeren Heimen. Wöchentliche Konferenzen, in denen 
Arbeitsteilung und Beobachtungen an einzelnen Kindern durchgesprochen werden, 
sind unbedingt nötig. Damit ergibt sich dıe Einheitlichkeit des Betriebes, der auch 
das Wollen des Kindes einspannt zur Erreichung des gewollten Zieles, ganz von 
selbst. Zum Nutzen der Allgemeinheit soll es seine Kräfte anspannen. Das Kind 
muß die Zweckmäßigkeit des Tagesablaufes erkennend erleben. Nur, wovon es 
überzeugt ist, das haftet. Die reichliche Berührung mit Natur gibt zu belehrenden 
Beobachtungen Anlaß und je nach den Jahreszeiten muß die Unterhaltung geregelt 
werden. Die Fragen sind aber so vielseitig, daß sie in einem kurzen Vortrag nicht 
erschöpft werden können. Feste Formen geben zu wollen, wäre falsch, denn die 
große gesetzmäßige Entwicklung treibt über jede gegebene Form hinaus. Das Er- 
holungsheim ist gleichsam die erweiterte Familie und geht darum eingehender vor, 
in seiner erzieherischen Tatigkeit. Das geschlossene Erbolungsheim wird für die 
körperlich oder seelisch anı meisten gefährdeten Kindern reserviert werden müssen. 


Tagungen. 59 


Dagegen ist der Lagerbetrieb, wie ihn z. B. der Heuberg darstellt, mehr auf die 
geistige Erziehung der Kinder unter sich eingestellt und arbeitet die Gewöhnung 
heraus in einer Weise, die eine Höherführung des Gedankens der Gewöhnung darstellt. 
Darum wäre es dringend wünschenswert — ohne jede Über- oder Unterschätzung 
des erzieherischen Wertes —, wenn für die gesamte Jugend, auch wenn sie nicht 
im engeren Sinne erholungsbedürftig ist, ein längerer Aufenthalt in einem Lager- 
betrieb ermöglicht werden könnte Es erschließen sich hier noch Ausgestaltungs- 
möglichkeiten, die heute noch kaum geahnt werden können. — Auch der letzte 
Berichterstatter Dr. Behm-Heuberg stellte bei der Schilderung der „ärztlichen 
Tätigkeit in den Heimen“ seine Ausführungen stark auf die Gesundheitserziehung 
ein. Nicht nur zum Schlafen, sondern auch zum Tummeln müssen die Kinder ge- 
nügenden Raum im Hause haben. Die Überbelegung muß deshalb unbedingt ver- 
mieden werden. Der Aufenthalt solle körperliche und seelische Übermüdung be- 
seitigen. die Gesundheit fördern und eine erhöhte J,eistungsfähigkeit herbeiführen. 
Dem Arzte fällt die Aufnahme- und Entlassungsuntersuchung zu, die zur kritischen 
Bewertung der eigenen Arbeit mit Sorgfalt auszuführen sind. Die Krankheits- 
verhütung während des Heimaufenthaltes nach allen Seiten der Gesundheitsgefährdung, 
individuelles Eingehen auf die Anfälligkeit und Leistungsfähigkeit des einzelnen 
Kindes, die Behandlung leichter interkurrenter Erkrankungen, die ganaue Über- 
wachung der Verpflegung bezüglich des Notwendigen und Nützlichen, sind weitere 
ärztliche Aufgaben. Für größere Erholungsheime forderte Dr. B. den hauptamtlichen 
Arzt, dem höchstens 800 Kınder unterstellt sein dürfen. Der planmäßige Ausbau 
der Erholungsfürsorge verlangt, daß wir nach unseren Erfahrungen zu bestimmten 
Mindestforderungen für die ärztliche Beaufsichtigung kommen müßten. Alle 
Forderungen gipfeln aber in dem einen Punkt, das erholungsbedürftige Kind als 
Ganzes zu nehmen. Für den Arzt sei nicht das wissenschaftliche Interesse die 
Haupttriebfeder für die Arbeit an den Kindern, sondern in erster Linie die Liebe 
zum Kinde. Kinder haben ein feines Empfinden dafür, wer mit warmem Herzen 
zu ihnen kommt. 


Die anschließende Aussprache zeigte, daß die Teilnehmer mit den Grundzügen 
des Vorgebrachten einverstanden waren und die Einrichtungen wie den Betrieb des 
Heubergs als vorbildlich empfanden. 


Mit herzlichen Worten des Dankes an den Vorstand des Vereins und an die 
Anstaltsleitung für die freundliche Aufnahme schloß der Vorsitzende Professor 
Dr. Krautwig die wohl gelungene Tagung. 

Von Führungen sind noch zu erwähnen die Besichtigung des Heuberges mit 
seinen Heilstätten und mit seinem Erholungsheim für etwa 3000 Kinder. In nicht 
weniger als 12 Gruppen wurden die gediegen eingerichteten Wohnhäuser, die 
sauberen Küchen, das herrliche mit Duschen und Wannenbädern reichlich aus- 
gestattete große Bad, die Dampfbäckerei, die Waschanstalt, die Schweinezucht und 
die Lagerräume und die in beherrschender Berglage etwas abseits befindlichen Heil- 
stättengebäude gezeigt, die allgemeines Interesse erweckten. Nach Beendigung der 
wissenschaftlichen Verhandlungen aber lockte die blendende Sonne zu Ausflügen 
nach den Schaufelsen, nach Sigmaringen, und besonders in das herrliche, romantische 
Donantal nach Beuron, wo für die meisten Teilnehmer mit einem erhebenden Orgel- 
kouzert des Pater Fidelius die wohlgelungene Tagung ihren Abschluß fand. 

Der ausführliche Verhandlungsbericht soll als Beiheft der Zeitschrift für Schul- 
gesundheitspflege und soziale Hygiene und im Buchhandel bei Leopold Voß in Leipzig 
erscheinen. Med.-Rat Dr. Stephani- Mannheim. 


60 Tagungen. 


Bericht über den 8. deutschen Kongreß für Krüppelfürsorge. 


Am 30. Juni und 1. Juli tagte in Königsberg i. Pr. im Sitzungssaal des Landes- 
hauses der 8. deutsche Kongreß für Krüppelfürsorge. Der Kongreß war sehr gut 
besucht. Aus allen Teilen Deutschlands waren die Sachverständigen herbeigeeilt; 
denn es galt nicht nur der Sache der Krtippelfürsorge zu dienen, sondern auch durch 
ihr Erscheinen zu dokumentieren, daß das geistige Band zwischen dem Reiche und 
Östpreußen nicht zerrissen ist trotz des Unglücks von Versailles und des polnischen 
Korridors. Der Vorsitzende, San.-Rat Dr. Matthias, Königsberg, begrüßte die Ver- 
treter der Staats- und Landesbehörden‘ und der karitativen Verbände, gab in der 
Eröffnoungsrede einen Überblick über die Entwicklung der Krüppelfürsorge in Ost- 
preußen und erwähnte dabei die große Bedeutung, die für dieses Gebiet der leider 
allzu früh aus seinem Wirkungskreis geschiedene Professor Höftmann gehabt hat. 
Dann wurde in die Verhandlung eingetreten. Die drei ersten Referenten sprachen 
über die Erfahrungen, die die Bebörden mit dem Gesetz gemacht haben, Dr. Kiewe- 
Königsberg für den Landeskrüppelarzt, Landesrat Bessel-Königsberg für die Land- 
armenverbände und Stadtarzt Dr. Beusch-Königsberg für das städtische Gesund- 
heitsamt. Alle drei Rıdner bestätigten die Brauchbarkeit der zu dem Gesetz er- 
lassenen Ausführungsbestimmungen. Jeder gab für sein Gebiet einen Überblick 
über das Erreichte und machte Vorschläge für die weitere Verbesserung der Arbeit. 
Regierungsrat Grüneisen-Charlottenburg sprach über die Hilfe des Deutschen 
Roten Kreuzes, namentlich auf dem Gebiete der Aufklärung und wies auf die guten 
Erfolge hin, die das Rote Kreuz aus seiner Zusammenarbeit mit den sozial-hygie- 
nischen Reichsfachverbänden in der mehrfach gezeigten Wanderausstellung über 
soziale Hygiene gehabt hat. In der Ansprache berichtet Kreisobermedizinalrat 
Dr Rehberg-Tilsit über die Erfolge des Stadtgesundheitsamtes Tilsit, Oberarzt 
Dr. Schasse-Berlin sprach zu dem Thema »Aufgaben des Landeskrüppelarztes« 
Die Nachmittagssitzung war der Besprechung von Schulproblemen gewidmet. Er-, 
ziehungsdirektor Herold - Leipzig, Diplomhandelslehrer Papke- Berlin - Dahlem, 
Fräulein Studienrätin Gruhl-Berlin und Pastor Ahrends-Hannover kamen zu 
Worte. Den Ausführungen der einzelnen Redner schloß sich eine sehr lebhafte 
Debatte an über die Notwendigkeit der Anstalts- Erziehung und -Schule oder der 
Familienerziehung und öffentlichen Beschulung. Durch den Perlbund wurde ein 
Antrag eingebracht, nach dem der gesetzliche Unterrichtszwang für Krüppel ebenso 
eingeführt werden soll wie für Blinde und Taubstumme. Wenn es nicht möglich 
ist, einem Krüppel Schulunterricht oder vollwertigen Hausunterricht zu geben, so 
müssen diese Tatsachen allein genügen, die Heimbedürftigkeit eines Krüppels fest- 
zustellen. — Eine gesellige Zusammenkunft der Kongreßteilnehmer am Abend be- 
schloß den ersten Kongreßtag. 

In der Vormittagssitzung am Dienstag kamen vorwiegend wirtschaftliche Fragen 
zur Erörterung. Direktor Schlüter- Biggə sprach über die produktive Gestaltung 
der Krüppelfürsorge. Direktor Vietor-Berlin gab einen Überblick über die Unter- 
stutzungen der einzelnen Anstalten durch den Wirtschaftsbund der gemeinnützigen 
Woblfahrtseinrichtungen Deutschlands 1923 und über den Ausbau des Bundes nach 
der Markstabilisierung. Pastor Vietor- Volmarstein erörterte das Problem, wie die 
Betriebsführung in den Werkstätten der Krüppelheime kaufmännisch gesehen rationell 
gestaltet werden könnte und forderte dazu vor allem aie Ausbildung der Lehrlinge 
zu wirklich vollwertigen Handwerkern. Für das weitere Fortkommen des Krüppels 
außerhalb der Anstalt ist noch viel mehr als für den gesunden Handwerker eine 





Tagungen. 61 


100 prozent. Leistungsfähigkeit, Hauptbedingung. Daß dıese für eine große Reihe 
von Handwerkszweigen zu erreioben ist, ist eine in Krüppelfachkreisen längst be- 
wiesene Tatsache. Herr Malikowski-Berlin sprach über die organisatorische Grund- 
lage der Arbeitsbeschaffung für Schwerbehinderte und stellte den Antrag, daß bei 
der Fürsorge für Schworbeschädigte und schwer Erwerbsbeschränkte durch Arbeits- 
beschaffung auch die im jugendlichen Alter Verkrüppelten diesen gleichzustellen 
sind, zweitens, daß Organisationen mit behördlicher Unterstützung zu gründen seien 
für Arbeitsbeschaffung und Arbeitsabsatz der Heimarbeiter und endlich, daß zu der 
für einen Verkrüppelten notwendigen :Anstaltspflege auch nach der Entlassung die 
Beschaffung einer Tätigkeit hinzukommen muß. 

Damit schlossen die Verhandlungen. Der Kongreß dankte dem Vorsitzenden. 
Für den Kongreß 1926 wurde Oberregierungsrat Dr. Rosenfeld- Nürnberg zum Vor- 
sitzenden und zum Kongre3ort Nürnberg gewählt. 

Der Nachmittag vereinte die Kongreßbesucher zur Besichtigung des Königs- 
berger Krüppelheims, des Hindenburghauses, einer Gründung Höftmanns, und zu 
einer Dampferfahrt auf.dem Pregel, die den Teilnehmern die großartigen Anlagen 
des Königsberger Hafens, namentlich die neugebauten riesigen Getreidespeicher, 
zeigte und bis ins Frische Haff bineinführte. Ein gemeinsamer Ausflug zur herrlichen 
Saınlandküste beschloß am Mittwoch die Veranstaltungen der KongreBleitung. 

Wegen der hohen Kosten ist eine Drucklegung des gesamten stenographischen 
Berichtes über den Kongreß vorläufig nicht geplant. Es wird jedoch in der Zeit- 
schrift für Krüppelfürsorge ein ausführliches Referat über sämtliche Verhandlungs- 
vorträge veröffentlicht werden. Ein in Schreibmaschine hergestellter stenographischer 
Bericht über die Verhandlungen wird in der Deutschen Vereinigung für Krüppel- 
fürsorge, Berlin-Dahlem, Kronprinzenallee 171/173, demnächst angefertigt und kann 
den Interessenten zu wissenschaftlichen Zwecken leihweise zur Verfüguug gestellt 
werden. Dr. Menckhoff, Berlio-Dablem. 


Tagung des Archivs Deutscher Berufsvormünder zu Lübeck 
1.—4. September 1924. 


Mit seiner zweiten diesjährigen Tagung in Lübeck vom 1.—4. September hat 
das Archiv deutscher Berufsvormünder zum erstenmal den Versuch gemacht, die 
Arbeit der Jugendämter aus den Erörterungen über rechtliche und organisatorische 
Fragen herauszureißen und sie nach der erzieherischen Seite hin zu vertiefen. Die 
Hauptreferate der beiden ersten Tage waren alle auf erzieherische Fragen abgestimmt 
und behandelten die verschiedensten Gebiete der Jugendfürsorge von dieser Seite 
her. Nur die Beratungen über die Jugendfürsorge auf dem Lande (dritter Tag) die, 
noch im Stadium der ersten Entwicklung, grundlegender organisatorischer Fragen 
nicht entraten kann, die Spezialbesprechungen der Amtsvormünder und die deutsch- 
nordische Konferenz am vierten Tag, die in erster Linie rechtliche Fragen zu be. 
handeln hatten, machten teilweise eine Ausnahme. , 

Der erste Tag brachte 3 wohlgelungene sich glücklich ergänzende Referate 
über Schule, Elternhaus und Jugendamt in ihrer erzieherischen Bedeutung für dıe 
Jugendfürsorge. 

Prof. Petersen-Jena sprach als erster Redner über die »Jugendfürsorge als 
Erziehungsarbeit. ein Versuch vom Standpunkt der neuen Erziehungsbewegung«. Er 
führte etwa folgendes aus: 

Die neue Erziehung baut auf die neue Psychologie auf, die eine völlig neue 
Ansicht vom seelischen Leben entwickelt hat. Das ganze Seelenleben ist ein fließendes 


62 Tagungen. 


Erleben. Die neue Psychologie verneint die Existenz des Individuums, wie es die 
alte Individualpsychologie gesehen hat. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamt- 
heit ist ein Leben im Andern von Anfang an. Das Seelenleben des Kindes hat bis 
zur Pubertät eine eigene Struktur. Es hat seelische Fähigkeiten, die dem Erwachsenen 
fehlen. Auf diese Kenntnis baut die neue Erziehung mit der neuen Versuchschule 
auf. Sie glaubt an das Gute im Menschen. Sie soll die Möglichkeiten des Kindes 
in Freiheit dartun. Das Kind soll uns die Ziele zeigen. Wir müssen es so viel 
wie möglich frei handeln lassen, in einem Gemeinschaftskreis, der Gemeinschafts- 
schule, die eine J,ebens-, eine Kulturform darstellt. Die daraus abzuleitende Forderung 
für aie Fürsorgeerziehung ist: So früh wie möglich Heimerziebung. Maß halten mit 
belehren, die Hauptsache ist vorleben und vortun. Alle Menschen in einer Anstalt 
müssen einerlei Erziehung dienen. Die Schule muß zum Tagesheim werden. Schule 
und Jugendamt müssen auf das engste zusammenwachsen. 


Auf ähnlichen Grundanschauungen baute sich das Referat von Oberregierungs- 
rat Dr. Storck-Lübeck auf, der über »Die Elternschaft als Träger der Jugend- 
fürsorge« sprach. Die öffentliche Fürsorge ist danach nicht in der Lage, der Jugend- 
not gerecht zu werden. Aus der Elternschaft selbst heraus muß der Wille zur 
Besserung der Mißstände kommen. Die individualle Familie ist vielfach in der Auf- 
lösung begriffen. Eine Wiederherstellung wird nicht überall möglich sein. An ihrer 
Stelle müssen aus kollektivem Verantwortungsgefühl heraus die genossenschaftlich 
zusammengeschlossenen Familienverbände entstehen. Diese Erziehungsgemeinschaften 
können nicht gemacht werden, sie müssen wachsen, wenn auch angeregt durch 
Jugend- und Elternberatungsstellen. Sie müssen einer der Grundpfeiler des Gebäudes 
der ganzen Jugendwohlfahrtsarbeit werden. 


Danach sprach Prof. Dr. Klumker-Frankfnrt a. M. als alter Vorkämpfer für 
die Erziehungsidee im Jugendamt. Er spezialisierte sein Thema auf „Die Erziehungs- 
aufgaben der Amtsvormundschaft“. Die A. V. hat im Mittelpunkt des Jugendamts 
zu stehen. Die Erziehung nur als einen Teil ihrer Aufgaben hinzustellen, ist falsch. 
Sie ist vielmehr ihre ureigentliche Aufgabe. Alle Rechtsbegriffe und Bestimmungen 
sind nichts weiter als Hilfsmittel für die Aufgaben der Erziehung, ihre ultima ratio. 
Nach der neuen Konstruktion der Amtsvormundschaft als Organisation bat sie nicht 
so rehr unmittelbare wie mittelbare Erziehung zu leisten. Ihre Aufgabe ist Er- 
ziehungsauswahl und Erziehungsleitung. sie bestimmt die Umwelt des Kindes und 
hat sich darüber hinaus mit den Erziehungsgrundsätzen dieser Umwelt und denen 
der Eltern auseinanderzusetzen. Sie hat damit auch eine Erziehungsaufgabe an der 
Bevölkerung zu erfüllen. Insbesondere die Herstellung eines Verhältnisses zwischen 
dem unehelichen Kind und seinem Vater sollte sie sich in erhöhtem Maße zur 
Aufgabe machen. 

Die Aussprache suchte eine Synthese der drei Referate zu finden. Schule, 
Elternhaus und Jugendamt müssen zu einer engen Zusammenarbeit für unsere ge- 
fährdete Jugend kommen. — Am Nachmittag des ersten Tages besuchten die 
Teilnehmer der Tagung das Erziehungsheim Woackenitzhof bei Lübeck. Der Leiter 
des Heims, Amtmann Osbar, sprach über Fürsorgeerziehung. 

Der zweite Tag stand im Zeichen der Erziehung in der Gesundheitsfürsorge. 
Die Frage der Erziehung in der Säuglings-, Kleinkinder- und Haltekınderfürsorge 
behandelte Frau Dr. Dibbelt-Düsseldorf. Die pädagogische Aufgabe der Säuglings- 
fürsorge besteht nicht in cer Erziehung des Säuglings, sondern in der Erziehung 
der Mütter, die in Mütterheimen am gründlichsten durchgeführt werden kann. Das 
Gleiche gilt in der Kleinkinderfürsorge. da das Kind bei der stets wachsenden 


Tagungen. 63 


geistigen Aufnabmefähigkeit für die Eindrücke seiner Umgebung insbesondere von 
Seiten seiner Mutter sehr empfänglich ist. Daneben tritt vor allem in der ge- 
schlossenen Fürsorge direkte erzieherische Beeinflussung des Kindes. In gesteigertem. 
Maße gelten diese Forderungen für die Erziehung des Kindes in der fremden 
Pflegestelle. 

Rektor Jasper t- Frankfurt a, M. faßte seine Forderungen für die „Erziehung 
in der Erholungsfürsorge‘ in 8 Thesen zusammen, in denen er eine harmonische 
Ausbildung des Kindes, Eingliederung des erziehenden Unterrichts in die gesamte: 
Fürsorgearbeit und pädagogische Ausbidung aller Fürsorgekräfte fordert. 

In überaus ansprechender Weise behandelte sodann Prof. von Brunn-Rostock. 
„die erzieherischen Fragen in der Schulgesundheitspflege mit besonderer Bezug- 
nahme auf den Amtsvormund“. Die Schützlinge des Berufsvormundes sind die be- 
sonderen Sorgenkinder der Schularztes. Enges Zusammenarbeiten zwischen beiden 
versteht sich somit von selbst. Daneben darf verständnisvolles Zusammengehen mit 
den übrigen Erziehungsmächten, insbesondere dem Elternhaus, nicht fehlen. Der 
Schularzt muß freı von parteipolitischer Einseitigkeit, ein rechter Volkserzieher sein.. 


Bei der Betrachtung der „Schulkinderspeisung im Dienste der Erziehungs- 
fürsorge“* wies Frl. Ilse Lange-Breslau insbesondere auf die Bedeutung der Er- 
ziehung zur Reinlichkeit, Hilfsbereitschaft und zur Nächstenliebe hin. 

Als fünfter Redner verbreitete sich Oberarzt Dr. Enge- Lübeck über „die er- 
zieherischen Aufgaben in der Psychopathenfürsorge unter ärztlichen Gesichtspunkten“, 
Ein geschlossenes System der Heilpädagogik gibt es nicht, doch ist es wohl möglich, 
einige Grundsätze herauszuschälen. Die Gruppierung und Differenzierung der Psycho- 
pathen ist Aufgabe des Arztes. Er wird sich auch über den Grad der Erziehbarkeit 
zu äußern haben. Die eigentliche Erziebungsaufgabe liegt jedoch, von ganz schweren. 
Fällen abgesehen, in der Hand des Pädagogen. Die Erziehung hat vornehmlich vor- 
beugende Aufgaben zu erfüllen, d. h. die Kinder müssen möglichst frühzeitig er- 
faßt werden. Auf gute Ernährung und Körperpflege ist besonderer Wert zu legen, 
daneben sind die Seelenkräfte zu wecken und auszubilden. Vom Schulbesuch sind 
diese Kinder möglichst fernzuhalten, vor Überanstreugung sind sie zu bewahren, 
Strafen sollten überhaupt vermieden werden. In weitem Maße werden Grundsätze 
der Normalpädagogik Platz greifen können. 

Der Nachmittag des zweiten Tages war Fragen aus der amtsvormundschaft- 
lichen Praxis gewidmet. Es sprachen Amtsgerichtsrat Dr. Rothschild-Frank- 
furt a. M. über Abänderbarkeit von Abfindungsverträgen und über die Pfändungs- 
grenze, Amtsvormund Baetke-Lübeck über die Auskunftspflicht der Amtsvormünder 
gegenüber Behörden und Privatpersonen, Amtsvormund Heinze-Lübeck über Voll- 
streckbarkeit der vom Jugendamt aufgenommenen Verpflichtungserklärungen und 
Direktor Dursteler-Rostock über Erhöhungsklagen nach $ 323 ZPO. 

Anschließend daran fand eine Besprechung zur Begründung von regional ab- 
gegrenzten Arbeitsgemeinschaften der Amtsvormünder statt. 

Die große Bedeutung der Jugendfürsorge auf dem Lande hatte das 
Archiv veranlaßt, den dritten Tag ganz in den Dienst dieser Frage zu stellen. Da 
die Referate voraussichtlich alle im Druck erscheinen, können wir uns hier kurz 
fassen. 

Direktor Bertsche- Montabaur empfahl in seinem Referat „Die Organisation 
der ländlichen Jugendfürsorge“*, Eingliederung des Jugendamts in das Wohlfahrts- 
amt und forderte für alle Arbeiter in der Jugendfürsorge gründliche Ausbildung, 
erzieherische Qualitäten und ÖOpferfreudigkeit für den Beruf. Stete Fühlungnahme 


64 Tagungen. 


mit der Bevölkerung und engste Zusammenarbeit mit der freien Jugendwohlfahrts- 
pflege sind Vorbedinguogen erfolgreicher Arbeit. 

Über die Amtsvormundschaft des Landes sprachen Kreissyndikus Dr. Sandre- 
Stettin und Direktor Wodtke-Pliön. Die Redner stimmten darın überein, daß die 
Anitsvormundschaft auf dem Lande im Hinblick auf das dort herrschende Kinder- 
elend unbedingt überall eingeführt werden müsse, und als Sparmaßnahme auch un- 
bedenklich eingeführt werden könne. Die Amtsvormundschaft ist der Kristallisatione- 
punkt der gesamten ländlichen Jugendwohlfahrtspflege.e Der Amtsvormund muß 
sich ein persönliches Verhältnis zum Mündel und zur Pfiegefamilie schaffen. Zu 
seiner Entlastung zieht er zweckmäßig die organisierte Einzelvormundschaft heran. 

Daß auch die Jugendgerichtshilfe eine für das Land unentbehrliche Ein- 
richtung ist, wußte Direktor Dursteler-Rostock überzeugend darzutun. Die Krimi- 
nalität der Jugend ist auf dem Lande nicht geringer als in der Stadt. 

Schließlich sprach Fräulein Dorothea Freudenthal-Segeberg über Pflege- 
kinderwesen und Säuglingsfürsorge auf dem Lande. Sie forderte systematische 
Schulung von Müttern und jungen Mädchen in der Säuglingspflege durch Kurse und 
im Schulunterricht. Die Pflegekinderaufsicht müsse den Jugendämtern übertragen 
werden, sie sei keine Aufgabe für Polizeibehörden. Eine Herabsetzung der Alters- 
grenze für Pflegekinder sei nicht wünschenswert. 

Führungen durch die Stadt und Besichtigungen von Fürsorgeeinrichtungen 
am Nachmittag beschlossen diesen Teil der Tagung. 

Am letzten Tag versammelten sich zahlreiche deutsche Tagungsteilnehmer mit 
den aus den nordischen Staaten geladenen Gästen des Archivs zur Besprechung der 
Rechtslage des unehelichen Kindes und der Rechtshilfe der Länder untereinander. 

Baron von Bonsdorf- Helsingfors behandelte das fınuische und schwedische 
Recht, Vergeraedformannen Jaoobsen-Kristiania und ein von Professor Klumker 
vorgetragenes schriftlich erstattetes Referat vom Buroschef Wiesener- Kristiania 
das norwegische, Pastor Nissen- Vordingborg und Austaltsvorstand Jenssen- Erler 
das dänische und schließlich Professor Klumker-Frankfurt a. M. das deutsche 
Recht. Redakteur Boje-Kopenhagen gab einen ausgezeichneten Überblick über die 
Entwicklung der Jugendfürsorge in Dänemark und Frerik Schröder-Askow 
schilderte die dänische Volkshochschulbewegung, div sich von der deutschen Be- 
wegung hauptsächlich dadurch unlerscheidet, daß sie nahezu ausschließlich Jugend- 
hochschule ist. Am Abend fanden sich die nordischen Teilnehmer noch einmal zur 
Beratung im engsten Kreise zusammen, wobei in überaus fördernder Aussprache 
die Grundlage zu einer Zusammenarbeit des Archivs mit den nordischen Organisationen 
gelegt wurde, die das Ziel verfolgt, ein Abkommen der beteiligten Länder hinsicht- 
lich der internatioualen Rechtshilfe zu erlangen. Die Referate dieses Tages werden 
ungekuürzt als Broschüre erscheinen. Dr. Wedler, Franxfurt a. M. 


Gesetzgebung. 65 


Gesetzgebung. 


Erlaß vom 24. Juli 1924, 
betr. Richtlinien über die Abgrenzung des Aufgabenkreises der 
Pfiegeämter und anderer Fürsorgestellen für sittlich 6efährdete 
gegenüber der Polizei — III F 3850 —. 


Im Einvernehmen mit dem Herrn Minister des Inneren werden folgende Richt- 
linien aufgestellt: 

1. In einer zunehmenden Anzahl von Orten wird eine Gefährdetenfürsorge aus- 
geübt, deren Hauptaufgabe die sozialpflegerische Verfassung und Behandlung von 
sittlich gefährdeten Frauen und Mädchen ist; vereinzelt nimmt sich die Fürsorge 
auch sittlich gefährdeter männlicher Jugendlicher an. 

2. Die Gefährdetenfürsorge wurde zuerst nur in wenigen Orten. in enger Ver- 
bindung mit der Polizei, als Polizeifürsorge ausgeübt. Aus der Vertiefung und Er- 
weiterung der Arbeit erwuchsen jedoch nach und nach verschiedenartige Formen 
der Gefährdetenfürsorge.. Es lassen sich heute drei Hauptgruppen solcher Ein- 
richtungen unterscheiden: 

I. die eigentliche Polizeifürsorge (Träger: Staat, Gemeinde oder private Wohl- 
fahrtsvereine), 
II. das selbständige Pflegeamt (Träger: Staat oder Gemeinde), 
III. Fürsorgestellen für Gefährdete, die entweder als pflegeamtsähnliche Ein- 
richtungen, durch die Gemeinden (vielfach in Verbindung mit Wohlfahrts- 
oder Jugendamt) oder durch private Vereine getragen werden. 


3. Die Notwendigkeit der Gefährdetenfürsorge wird allgemein anerkannt. Ihre 
Entwicklung bat jedoch unter dem Mangel einer bestimmten Abgrenzung ihrer Zu- 
ständigkeit gegenüber der Polizeiverwaltung zu leiden. Es erscheint daher erwünscht 
den Tätigkeitskreis der Pflegeämter und anderer Fürsorgestellen für sittlich Ge- 
führdete nach festen Grundsätzen zu bestimmen. 


4. Die Erfahrung hat gezeigt, das sich zur Bearbeitung durch die unter I bis 
Ill genannten Fürsorgeeinrichtungen folgende Gebiete besonders eignen: 


A. Erste informatorische Vernehmung, gutachtliche Äußerung vor Anordnung 
der ärztlichen Untersuchung und weitere fürsorgerische Behandlung bei 
a) allen von der Sittenpolizei aufgegriffenen Jugendlichen, 
b) allen erstmalig von der Sittenpolizei aufgegriffenen Personen. 


B. Gutachtliche Äußerung und fürsorgerische Behandlung bei allen mehrfach 
von der Sittenpolizei Aufgegriffenen nach erfolgter polizeilicher Vernehmung, 
jedoch vor Ergehen der Entscheidung über die zu treffenden polizeilichen 
Maßnahmen. 


C. Gutachtliche Äußerung und fürsorgerische Behandlung bei allen denjenigen 
Personen, die 
a) Unterstellung unter die Sittenpolizei 
b) Eutlassung aus der Sittenpolizei, beantragen. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 5 


66 Gesetzgebung. 


D. Fürsorgerische Behandlung aller wegen Obdachlosigkeit eingelieferten minder- 
jährigen und volljährigen weiblichen Personen. 


E. Beratung und fürsorgerische Behandlung sonstiger hilfsbedürftiger Personen, 
die den Fürsorgestellen von der Polizeibehörde überwiesen werden. 


5. Diese Aufgaben können ohne Bedenken von den unter I bis III genannten 
Fürsorgeeinrichtungen wahrgenommen werden, wenn durch deren feste oder losere 
Angliedernng an staatliche oder kommunale Verwaltungen Sicherheit für die Durch- 
führung der notwendigen Maßnahmen gegeben ist und wenn sie zur Durchführung 
der übernommenen Aufgaben über geeignete, fachlich vorgebildete Kıäfte verfügen. 


6. Darüber hinaus bestehen grundsätzlich keine Bedenken, nach Ermessen der 
örtlichen Polizeiverwaltung auch polizeiliche Befugnisse, insbesondere die verantwort- 
liche Vernehmung und die Herbeiführung der ärztlichen Untersuchung der unter 
Ziffer 4A genanuten Personen, an amtliche mit der Gefährdetenfürsorge befaßte 
Stellen oder Personen zu übertragen. 


7. Die hier gegebenen Richilinien sollen lediglich der Abgrenzung der Zu- 
ständigkeit zwischen der Polizei und den unter 1 bis JIII genannten Fürsorge- 
einrichtungen dienen. Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen diesen letzteren 
und anderen Stellen der öffentlichen und der privaten Wohlfahrtspflege bleibt ört- 
licher Regelung überlassen. 


8. Ich bitte, zu prüfen, inwieweit sich auf Grund dieser Richtlinien eine 
möglichst zweckmäßige Gestaltung der Gefährdetenfürsorge herbeiführen läßt, und 
empfehle, bei Erörterung der Angelegenheit die zuständigen staatlichen und kommu- 
nalen Stellen suwie die Träger der Sozialversicherung und die Vertreter der freien 
Wohlfahrtspflege heranzuziehen. 

Über das Ergebnis ersuche ich mir bis zum 1. Januar 1925 Bericht zu erstatten. 

gez. J. V. Scheidt. 


An alle Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Polizeipräsidenten in 
Berlin. 


Aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum JGG. 


Dem Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfart, Carl Heymanns Verlag, 
XVI. Jahrgang Nr. 5, August 1924, Seite 125 entnehmen wir folgende Ausführungen 
von Reichsanwalt Dr. Feisenberger, Leipzig: 

Zu § 3. In mehreren Urteilen befaßt sich das Reichsgericht mit dem Ver- 
hältnis des $3 JGG. zu § 56 StGB. Alle kommen zum Ergebnis, daß § 3 gegen- 
über § 56 teils das mildere, teils das strengere Strafgesetz im Sinne von § 2 Abs. 2 
StGB. ist. Aus ihnen seien die folgenden wesentlichen Stellen mitgeteilt: 

Daß durch das JGG. die Frage nach dem Unterscheidungsvermögen des Jugend- 
lichen auf ganz neue Grundlagen gestellt worden ist, ergibt sich ohne weiteres. 
Während für die verstandesmäßige Eınsichtsfähigkeit der Schutzrahmen verengert 
worden ist, indem jetzt schon die Erkenntnis des Ungesetzlichen der Tat für die 
strafrechtliche Verantwortlichkeit ausreicht, ist als neues Erfordernis die auf etbischem 
Gebiet liegende Fähigkeit hinzugekommen, den Willen der verstandesmäßigen Ein- 
sicht gemaß zu bestimmen. Maßgebend für beide Erfordernisse soll der Zustand 
der geistigen und sittlichen Entwicklung des Jugendlichen sein. Das Gesetz verlangt 
hiernach vom Richter eine eingehende und unter Umständen schwierige Unter- 
suchung. Geprüft worden ist vom Gericht aber nur die Strafbarkeitseinsicht, un- 


Gesetzgebung. 67 


geprüft gelassen dagegen die sittliche Entwicklung des Jugendlichen. Allerdings 
war der Angeklagte, als er die Straftaten verübte, bereits 16 Jahre alt, näherte sich 
also der Grenze der Jugendiichkeit. Aber das JGG. verlangt, daß der Tatrichter in 
jedem Falle genau prüft, ob die Voraussetzungen des $ 3 vorliegen. Es rechnet 
also mit der Möglichkeit, daß ein Jugendlicher auch bei vorgeschrittenem Alter und 
genügender Verstandesreife in seiner moralischen Entwicklung so zurückgeblieben 
ist, daß Hemmungsvorstellungen fehlen oder nicht genügend ausgebildet sind. 
(11 7. 4. 24; 2D 50. 24. Abgedruckt RGSt. LVIII 128.) 

§ 3 JGG. ist an die Stelle des — in $ 47 Abs. 1 a.a O. noch besonders auf- 
gehobenen — § 56 Abs. 1 StGB. getreten und ist, soweit er das mildere Strafgesetz 
darstellt, gemaß § 2 Abs. 2 StGB. auch auf vor seinem Inkrafttreten begangene 
Straftaten anwendbar. Das mildere Strafgesetz ist $ 3 JGG. aber, insofern er die 
Strafbarkeit eines Jugendlichen nicht mehr ausschließlich von einem bestimmten 
Grade seiner Verstandesreife abhängig macht. sondern daneben auch die Willens- 
reife erfordert. Andererseits ist $ 56 Abs. 1 StGB. das mildere Strafgesetz insofern, 
als danach ein Jugendlicher freizusprechen ist, wenn er zur Zeit der Tat die zur 
Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß, während er nach 
83 JGG. schon bestraft werden kann, wenn er nach seiner geistigen und sittlichen 
Entwicklung fähig war, das Ungesetzliche — wenn auch nicht das Strafbare — der 
Tat einzusehen. Hieraus ergibt sich, daß allerdings die Einsicht in die Strafbarkeit 
festzustellen ist, daß dies jedoch nicht genügt, vielmehr gemäß § 3 JGG. noch die 
Fähigkeit des Angeklagten nachzuweisen ist, seinen Willen der Einsicht in die Un- 


gesetzlichkeit der Tat entsprechend zu bestimmen. (IV. 4.15. 3. 24; 4D 45/24 —.) 
Nach den Feststellungen der Strafkammer hatte der Beschwerdeführer zur 


Zeit der Begehung der Tat das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet. Bei 
der rechtlichen Beurteilung hat die Strafkammer — an sich mit Recht — nach der 
Vorschrift des $ 56 StGB., die zurzeit der Tat noch in Geltung war, die Frage der 
Strafbarkeits-Einsicht gewürdigt, aber außer acht gelassen, daß vor der Aburteilung 
das JGG. in Kraft getreten war. Nach $ 2 Abs. 2 StGB. mußten die Vorschriften 
des JGG. angewandt werden, soweit dieses als das mildeste Gesetz sich darstellt; 
das trifft zu auf $ 3 JGG., insofern 8 3 die Strafbarkeit eines Jugendlichen nicht 
mehr ausschließijich von einem bestimmten Grade seiner Verstandesreife abhäugig 
macht, sondern daneben auch die Willensreife erfordert. Andererseits ist § 56 
StGB. insofern milder, als er die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Ein- 
sicht erfordert, während nach 8 3 JGG. die Fähigkeit genügt, das Ungesetzliche der 
Tat einzusehen. Die Strafbarkeitseinsicht mußte also allerdings hier festgestellt 
werden; dareben war aber auch zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer fähig 
war, seinen Willen der Einsicht gemäß zu bestimmen. (Ill 22. 5. 24; 3D 345. 24.) 


Krüppeltürsorge. 


Erlaß vom 8. Juli 1924, betr. Befreiung von Anstaltsbehandlung der Krüppel 
— IIE 860 —. 

Die durch Runderlaß vom 25. April 1924 —- III E 363 — dem Landesfürsorge- 
verband Wiesbaden bis zum 31. März 1925 gewährte Befreiung von der Verpflich- 
tung zur Anstaltsunterbriogung von Krüppeln nehme ich mit seinem Einverständnis 
hiermit zurück. Hirtsiefer. 

An die Herren Oberpräsidenten und den Herrn Regierungspräsidenten in 
Sigmaringen. 


Hoei PREF FERIEN ENER 5* 


68 Ausbildung. 


Ausbildung. 





Prychologisches Laboratorium der Hamburgischen Universität. 


Zweiter Lehrgang über pädagogische Psychologie der Jugendkunde für auswärtige 
Lehrer und Lehrerinnen aller Schulgattungen. 1. Mai bis 1. August 1925. 


Das Psychologische Laboratorium und Seminar der Hamburgischen Universität 
(Direktor: Prof. W. Stern) beabsichtigt, während des Sommersemesters 1925 einen 
Kursus zur Ausbildung von Lebrern und Lehrerinnen zu veranstalten, die an ihrem 
Heimatorte schulpsychologische Aufgaben durchzuführen oder die schulpsychologische 
Schulung der Lehrer in Arbeitsgemeinschaften zu leiten haben. 

Da selbst bei Beschränkung auf die Hauptprobleme der Stoff außerordentlich 
umfangreich ist, aber doch mit Kücksicht auf die heutigen Beurlaubungsmöglich- 
keiten auf die kurze Zeit eines Semesters zusammengedrängt werden soll, muß bei 
den Teilnehmern eine nähere Bekanntschaft mit der wichtigsten Literatur voraus- 
gesetzt werden. 


Der Kursus dauert vom 1. Mai bis 1. August 1925. Die Teilnehmerzahl soll 
höchstens 30 betragen. 


Vorläufiger Plan. 


Psychologie der Kindheit und des Jugendalters, 
(Unter besonderer Berücksichtigung der Probleme der Begabung und der Reifezeit.) 


1. Vorlesung: 
Prof. W. Stern: Psychologie der Schulkindheit und des Jugendalters. Ausgewählte 
Kapitel. 4 Wochenstunden. 
2. Übungen: 
a) Prof. W. Stern: Das Begabungsproblem und die Schülerauslese.. 2 Wochen- 
stunden. 
b) Prof. W. Stern: Kolloquium über Probleme aus der Psychologie der Reifezeit. 
3—4mal 2 Stunden. 
c) Dr. H. P. Roloff: Einführung in die Technik von Testprüfungen. 2 Wochen- 
stunden. 
d) H. Wunderlich: Die Feststellung der psychischen Berufseignung und die 
Schule. 2 Wochenstunden. 
e) Dr. Martha Muchow: Anleitung zur psychologischen Beobachtung in der 
Schule. 3—4mal 2 Std. 
f) Dr. Martha Muchow: Über Eigenart und Entwicklung des kindlichen Denkens, 
(Ein Beitrag zum Problem der Fehleranalyse bei Testprüfnngen der Begabung.) 
2 Wochenstunden. 
g) Dr. C. Bondy: 1. Psychologie des straffälligen Jugendlichen. — 2. Psychologie 
der Jugendbewegung. l4tägig abwechselnd. 2 Stunden. 


Ausbildung. 69 


b) Dr. H. Werner: Einführung in die Kenntnis der elementaren experimental- 
psychologischen Probleme unà Methoden. 2 Wochenstunden. | 
i) Dr. R. Peter: Kind und Kultur. Jugendkundliche Übungen über die Entwick- 
= lung des heranwachsenden Individuums in ihrem Verhältnis zu der historisch 
gewordenen Kultur. 2 Wochenstunden. 
Abänderungen, Erweiterungen usw. vorbehalten. 


Die Kursmitglieder schreiben sich als Gasthörer bei der Universität ein und 
haben daher die Möglichkeit, auch an sonstigen Veranstaltungen der Universität teil- 
zunehmen. Über diese unterrichtet das Vorlesungsverzeichnis des Sommersemester 
1925, das von Anfang März an durch die Geschäftsstelle des Laboratoriums zu be- 
ziehen ist. 

Die Gebühren für die Universitätsvorlesungen (einschl. Nr. 1 des obigen 
Plans) sind bei der Universitätskasse zu entrichten. Sie betragen für die Ein- 
schreibung zurzeit M. 18; die Kolleggelder pro Semesterstunde M. 2,50. Die Ge- 
bübren für die eigenen Veranstaltungen des Lehrgangs (2a—i) betragen M. 100,— 
und M 20,— Laboratoriums- und Bibliotheksgebühren. 

Für die Vermittlung eines preiswerten Mittagstisches und preiswerter Woh- 
nungen trägt das Institut auf Wunsch nach Kräften Borge. 

Anfragen sind zu richten an das Psychologische Laboratorium, Hamburg 1, 
Domstr. 9. i | 


Vorlesungen über soziale Fürsorge. -- Bonn. 


Eine Reibe von Einzeivorträgen über soziale Fürsorge ist für das Winterhalb- 
jahr 1924/25 an der Universität Bonn angekündigt, und zwar: 1. Neue Aufgaben 
zum Schutz und zur Fürsorge für gefährdete. verwahrloste und straffällige Kinder 
nach dem neuen Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, Prof. Müller-Heß, 3. November 1924; 
2. Berufshygiene, Prof. Bach, 10. November; 3. Tuberkulosenfürsorge, Prof. N.N., 
17. November; 4. Krüppelfürsorge, Prof. Graff, 24. November; 5. Irren- und Idioten- 
fürsorge, Prof. Hübner, 1. Dezember; 6. Armenfürsorge, Prof. N. N., 8. Dezember; 
7. Fürsorge zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Dr. Habermann, 15. De- 
zember; 8. Mängel der Volksernährung und ihre Abhilfe, Prof. Kisskalt, 16. Fe- 
bruar 1925; 9. Die Kriminalistik der Jugendlichen und die Fürsorgeerziehung, 
Prof. Müllor-Heß, 19. Januar; 10. Fürsorge für Kinder und Jugendliche, Prof. 
N. N., 26. Januar; 11. Das neue Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, 
Dr. Habermann, 2. Februar; 12. Wohnungselend und Tuberkulose, Prof. Hirsch, 
9. Februar. 


Ein Ferienkurs am Institut J. J. Rousseau in Genf. 


Prof. Bovet, der unermüdliche Leiter des Instituts, eröffnete die Vorträge. 
Er behandelte die Aufgaben und den gegenwärtigen Stand der Pädagogik. Seine vor- 
züglichen Ausführungen gipfelten in dem Grundsatze Rousseaus, daß jede Erziehungs- 
und Schulreform auf eine genaue Kenntnis des Kindes gegründet sein müsse. 
In einem weiteren Vortrage über den „Einfluß der Psychoanalyse auf die Erziehung“ 
wies Prof. Bovet darauf -hin, daß die Erforschung des Unbewußten Aufgabe der 
Erzieher sein müsse, da viele undewußte Strömungen, die in sexuellen Empfindungen 
ihre Ursachen haben, das Innenleben des Kindes beeinflussen. Ferner erörterte 
Prof. Bovet das Wesen der moralischen Erziehung. Er betonte, daß die Erkenntnis 
der kindlichen Triebe von großer Wichtigkeit sei und erwähnte ganz besonders, daß 


70 Ausbildung. 


Koeduktion, Beispiel, Disziplin und Gemeinschaft wichtige Faktoren der moralischen 
Erziehung bilden. 

Der experimentellen Psychologie und der Kinderpsychologie war in diesem Kurse 
ganz besondere Beachtung geschenkt worden. Zunächst war es Prof. Claparède, 
der auch im Auslande bekannte Kinderpsychologe, der den Zuhörern eine interessante 
Einführung in die experimentelle Psychologie gab und die verschiedenen Methoden 
der experimentellen Forschung an praktischen Beispielen erläuterte, wobei er auch 
der Forscher Binet, Wundt und William Stern in anerkennender Weise ge- 
dachte. Die Vorlesungen des Kinderpsychologen Prof. Piaget standen in engem 
Zusammenhang mit Prof. Claparödes Ausführungen. Der Vortragende besprach 
die Entwicklung der kindlichen Vorstellungen. An verschiedenen praktischen Bei- 
spielen zeigte er, welchen Begriff sich die Kinder von den Naturerscheinungen 
machen und wie sie auf Grund von Beobachtungen und Eıfahrungen schließlich zu 
der wahren Erkenntnis einzelner Phänomene und deren Ursachen gelangen.!) Viel 
Anklang fand ein Vortrag Prof. Ferrieres über „Psychologische Vorstellungstypen‘“. 
Der Vortragende erörterte im besonderen die verschiedenen Typen, den Denktypus, 
den Gefühlstypus, den imitativen Typus und den Empfindungstypus, wobei er sich 
auf die Darstellungen des Züricher Pädagogen und Psychologen Jung bezog. 

Prof. Naville und Fri. Descoeudres beschäftigten sich mit der Pathologie 
und der Erziehung der Anomalen. Ersterer hob besonders hervor, daß sowohl der 
Arzt als auch der Pädagoge bei der Erziehung der Schwachsinnigen mitwirken 
müßten. Während der Arzt die Kinder untersucht und die erforderlichen Maßnahmen 
anurdoet, hat der Lehrer die Aufgabe, den Unterricht für diese Kinder einzurichten 
und denselben deren beschränkten Fähigkeiten anzupassen. Ferner hob der Vor- 
tragende hervor, daß eine genaue Darstellung der Familiengeschichten des anormalen 
Kindes zu einer richtigen Erkenntnis seınes Zustandes führen könne. Frl. Descoeudres 
ergänzte durch Vorführung verschiedener Spiele und Bilder zur Beeinflussung der 
Sinnesentwicklung Schwachsinniger die theoretischen Ausführungen ihres Vorredners. 
Angeregt durch die Methode Montessori und Decroly hat die Vortragende eine 
Reihe von Spielen ausgearbeitet, die geeignet sind, den Farben-Formen und Zahlen- 
sinn, sowie das Sprachverinögen zurückgebliebener Kinder zu fördern. 

Prof. Baudein besprach den erziehlichen Einfluß der Autosuggestion und er- 
gänzte seine vortrefflichen Ausführungen durch zahlreiche praktische Beispiele. 
Viele neue Anregungen brachten die Ausführungen der Damen Lafendel and 
Audemars, Leiterinnen des dem Institut angeeliederten Kindergaıtens „Maison 
des Petits“. Auf Grund langjähriger Beschäftigung mit Kindern haben sie neue 
Mittel zur Beschäftigung der Kleinen gefunden. Sie betrachten das Kind als Bildner, 
Schöpfer, Künstler und Dichter und suchen durch entsprechendes Spielmateral 
diesen Neigungen der Kleinen nachzukommen. Ausgehend von der Erkenntnis, daß 
das Montessorimaterial der kindlichen Selbsttätigkeit nicht genügend Spielraum 
gewähre, haben sie auf diesem Gebiete weiter gearbeitet und neue Baukasten und 
Zusammenseitzspiele geschaffen, die ganz besonders die kindliche Phantasie be- 
einflussen und auch gleichzeitig die Sinne in wirksamer Weise üben.?) 

Den Abschluß dieser interessanten Vortragsreihe bildeten Prof. Bovets 
vorzüglıche Ausführungen über Berufsberatung. Seinen Darstellungen lag der Ge- 
danke zugrunde, daß jede Berufsberatung von einer eingehenden Prüfung der 
Kenntnisse und Fähigkeiten des Kindes ausgehen müsse. Eine Übersicht, über die 


1) Langage et pensée chez l'enfant. Delachaux, Neuchätel. 
2) La Maison des Petits. Delachaux, Neuchätel. 


Ausbildung. 11 


für die verschiedensten Berufe in Betracht kommenden Tests bildete eine lehr- 
reiche Ergänzung seiner anschaulichen Ausführungen. 

Vielfache Anregungen boten den Zuhörern die praktischen Stunden, in denen 
einzelne experimentelle Untersuchungen gemacht und Testmethoden vorgeführt wurden 
sowie die Übungsstuaden mit Anomalen, in denen viele theoretische Anleitungen 
praktisch verwertet werden können. 


Auschließend an die Vorträge fanden unter sachkundiger Führung Besichtigungen 
von Unterrichtsanstalten und anderen Einrichtungen statt, so u. a. des Museums 
J. J. Rousseau, des Völkerbundpalastes und des internationalen Arbeitsamtes. 


Außer diesen kurzfristigen Ferienkursen werden im Institut J. J. Rousseau 
längere Kurse mit größerem Programm abgehalten. Das Wintersemester dauert 
vom 20. Oktober bis 22. März, das Sommersemester vom 8. April bis 15. Juli. Bevor 
ich auf diese nicht minderinteressanten Kurse eingehe, sei es mir gestattet, einen 
Rückblick auf die Entwicklung des Institut und auf die ganze kinderpsychologische 
Bewegung in Genf zu werfen. 

Im Jahre 1891 wurde eine Lehrkanzel für Psychologie an der Universität 
Genf geschaffen, die Prof. Fleurney mehrere Jahre inne hatte. Ihr folgte die 
Errichtung eines experimentell-psychologischen Laboratoriums im Jahre 1892. Das 
erste Erscheinen der „Archives de Psychologie“ im Jahre 1901 bedeutete einen 
großen Fortschritt in der Entwicklung der experimentell-psychologischen Bewegung, 
die durch die Ernennung Prof. Claparedes zum Professor für experimentelle 
Psychologie an der Universität Genf im Jahre 1909 ganz besonders gefördert wurde. 


Prof. Claparède war es auch, der die Notwendigkeit der Errichtung eines 
Erziehungsinstitutes ins Auge faßte. Im Jahre 1912 fand die Gründung statt. 
Prof. Bovet, Freund und Mitarbeiter Prof. Claparedes, der bis zu diesem Zeit- 
punkte als Professor für Philosophie und Pädagogik in Neuchatel tätig war, über- 
nahm die Leitung desselben. Besonders erwähnenswert sind noch seine Be- 
strebungen auf dem Gebiete der Schulreform und der Berufsberatung und seine 
wissenschaftlichen Arbeiten über „La Réforme scolaire und über „L’Instinot 
combattif“. Seiner umsichtigen Führung ist der große Aufschwung, den das Institut 
in den letzten Jahren nehmen konnte, zu danken, ihm gebührt mit Prof. Claparöde 
zusammen das Verdienst, die Ferienkurse vorbildlich organisiert zu haben. 


Das Institut ist vor allem das Zentrum pädagogischer und experi- 
mentell-psychologischer Bestrebungen.'!) Es beschäftigt sich mit den die 
Entwicklung des Kindes betreffenden Fragen, ferner mit den Problemen der Indivi- 
dualpsychologie, mit der Technik und Ökonomie der Arbeit (Unterschiede zwischen 
gemeinsamer und individueller Arbeit) mit didaktischen Fragen und schließlich mit 
der Psychologie des Lehrers (Forderungen, die an die Lehrerschaft gestellt werden). 


Das Institut ist aber auch gleichzeitig Schule. Erzieher und Lehramts- 
kandidaten können sich hier in die Kinderpsychologie vertiefen und Aufschluß über 
die Fortschritte in der psycholorischen, hygienischen und didaktischen Bewegung 
erhalten. Die Hauptaufgabe des Instituts besteht jedoch darin, die Teilnehmer in 
die wissenschaftliche Arbeit einzuführen. 

Außerdem ist das Institut der Mittelpunkt von Untersuchungen. Hier 
wird das gesamte wissenschaftliche Material gesammelt, statistisch geordnet und die 
hier gemachten Untersuchungen einer wissenschaftlichen Verwertung zugeführt. 


ı) Claparède, Un Institut des Sciences de l'Education Wündig, Genf. 


To Ausbildung. 


An der wissenschaftlichen Verarbeitung der hier gewonnenen Ergebnisse beteiligen 
sich die Schüler der Kurse, und es muß an dieser Stelle besonders anerkannt werden, 
daß das Institut eine Reihe von Kursteilnehmern aufzuweisen hat, die sich besonders 
mit der Forschungsarbeit befassen und auf diese Weise die Entwicklung der experi- 
mentell-psychologischen Bewegung fördern helfen. 

Erwähnenswert ist ferner, daß das Institut auch noch eine Auskunftstelle 
für alle jene bildet, die sich mit Erziehungsfragen beschäftigen und über die im 
Institut gemachten Untersuchungen informiert sein wollen. Auf diese Weise be- 
kommen sie auch neue Anregungen für ihre praktische Arbeit, „L’Intermediaire des 
Educateurs‘‘, das Organ des Instituts, sowie eine vorzügliche, reichhaltige Bibliothek 
mit einer großen Anzahl von fast allen Fachzeitschriften des In- und Auslandes 
dienen zur weiteren Information über einschlägige Fragen. 

Bereits im zweiten Jahre seines Bestandes konnte das Institut 50 Schüler 
zählen und bis zum Jahre 1924 hat es mehr als 300 in- und ausländische Besucher 
aufweisen können. Diese Besucherzahl beweist zur Genüge, daß die Errichtung 
des Instituts einem wahren Bedürfnisse entspricht. 

Das Institut selbst ist mit Hilfe von privaten Mitteln eingerichtet worden. 
Im Jahre 1917 erhielt es den ersten Zuschuß von der Stadt und wird auch jetzt 
noch subventioniert. Leider kann es seine Tätigkeit nicht in entsprechender Weise 
entfalten. denn die Zuschüsse und die Beiträge der Freunde des Instituts, die sich 
zu einer „Société des Amis de l'Institut“ zusammengeschlossen haben, genügen 
nicht, um eine Ausgestaltung desselben zu ermöglichen. 

Jeder, der Anregung für seine Arbeit sucht, jeder, der über die Methoden 
der Kinderpsychologie und Arbeitspsychologie und über verschiedene die Erziehung 
betreffende Fragen orientiert sein will, kann das Institut besuchen (Mindestalter 
18 Jahre). 

Das reichhaltige Programm umfaßt u. a. Experimentelle Psychologie (Prof. 
Claparöde), Kinderpsychologie (Prof. Piaget), Moralische Erziehung (Prof. Bovet), 
Zurückgebliebene Kinder (Frl. Descoudres — Prof. Naville), Erziehung der Kleinen 
(mit Praxis im „Maison des Petits“ Frl. Audemars und Lafendel), Psychoanalyse 
in der Erziehung, Berufsberatung (Prof. Claparède und Bovet) usw. In einem 
dem Institut angegliederten Kindergarten, „Maison des Petits“ haben die Kars- 
teilnehmer Gelegenheit, sich mit kleineren Kindern zu befassen. Hier lernen sie 
auf praktische Weise neue Methoden zur Beeinflussung der kindlichen Selbsttätigkeit 
kennen und ergänzen auf praktische Weise ihre theoretische Ausbildung. 

Mögen diese Zeilen dazu dienen, die Aufmerksamkeit aller Interessenten auf 
die segensreiche Tätigkeit des Instituts J. J. Rousseau zu lenken und die deutschen 
und österreichischen Berufskollegen zu einem zahlreichen Besuche eines nächsten 
Ferienkurses anregen. Helene Goldbaum-Wien. 


Institut J. J. Rousseau. — Dieses Institut, welches seit 12 Jahren besteht, 
ist bestimmt. die Erzieher in die Methoden der Kinderpsychologie und Arbeitspsycho- 
logie, sowie in verschiedene die Erziehung betreffende Fragen einzuführen. Man 
ist bemüht, die Schüler soviel als möglich mit Kindern in Berührung zu bringen. 

Das Institut ist Jedermann (Mindestalter 18 Jahre) zugänglich. Seit seiner 
Gründung hat das Institut mehr als 300 Schüler aus den verschiedensten Ländern 
aufzuweisen. 

Das Wintersemester dauert vom 20. Oktober bis 22. März; das Sommer- 
semester vom 8. April bis 15. Juli. 


Ausbildung. 73 


Das Programm umfaßt: Experimentelle Psychologie (Prof. Claparede). — 
Kioderpaychologie (Dr. J. Piaget). — Moralische Erziehung (Prof. Bovet). — Päd- 
agogik (Prof. Malche). — Zurückgebliebene Kinder (Frl. Descoeudres, Dr. Na- 
ville). — Erziehung der Kleinen (mit Praxis in »Maison des Petits«) (Frl. Aude- 
mars und Lafendel). — Kinderschutz (Dr. Thelin, Fri. Delhorbe). — Psych- 
analyse in der Erziehung (Frl. Malan). — Berufsberatung (Bovet und Clapa- 
rede). — 

Das Institut, staatlich unterstützt, steht unter der Leitung des Herrn 
Dr. Pierre Bovet, Professor der Universität Genf. 

Nähere Auskünfte erteilt das Sekretariat des Institutes J. J. Rousseau, Rue 
Ch. Bonnet 4. Genf. 


Propagandavorträge der Ungarischen Heilpädagogischen 
Geselischaft. 


Die im Mai 1922 gegründete Ungarische Heilpädagogische Gesellschaft. hat sich 
nicht bloß das Ziel gesteckt, die bis dahin getrennten und oft gegeneinander miß- 
trauischen Gruppen von Fachleuten, wie Hilfsschullehrer, Blindenlehrer, Taubstummen- 
iehrer, Nervenärzte, Augen-, Ohren- und Sprachärzte, Jugendrichter, Verwaltungs- 
beamte zu gemeinsamem Wirken zusammenzufassen, sondern sie strebt auch darnach, 
das Wesen und die Aufgaben der Heilpädagogik zu popularisieren, damit das Volks- 
gewissen diese Aufgaben als seine eigenen anerkenne. Zur Erreichung dieses Zieles 
gibt es wohl kein vollkommeneres Mittel, als die vom Direktor der Heilpädagogischen 
Lehrerbildungsanstalt in Budapest Zoltán Tóth eingeführten Propagandavorträge in 
den Provinzstädten. In jeder Stadt werden dreierlei Vorträge gehalten: 1. fach- 
wissenschaftliche für Geistliche, Lehrer, Ärzte und Juristen; 2. öffentliche für das 
große Publikum; 3. Vorträge für die Schuljugend. In der 2. und 3. Gruppe wird 
ein geringes Eintrittsgeld eingehoben. Der fachwissenschaftliche Abend, der meist 
vom Vorsitzenden der Gesellschaft, Staatssekretär Alexander Imre, eröffnet wird, 
besteht aus 3—4 kurzen Vorträgen über die Ursachen, die Bekämpfung und die 
Vorbeugung der Minderwertigkeiten; diese Vorträge werden von einem Pädagogen, 
einem Arzte und einem Juristen abgehalten. Bei den öffentlichen und den Schul- 
vorträgen muß dagegen die Theorie zurücktreten; das Hauptgewicht liegt hier auf 
den belehrenden und zugleich unterhaltenden Vorführungen. Jeder einzelnen Pro- 
grammnummer geht demnach bloß eine 5—10 Minuten währende Einleitung voran. 
Das Programm besteht etwa aus folgenden Vorführungen: 1. Gesangsvortrag der 
blinden Sängerin Margarete Riedel. 2. Deklamation der blinden Dichterin Giselle 
Csokonai- Vitéz. 3. Ein Blinder schreibt und liest die Brailleschrift. 4. Ein Taub- 
stummenlehrer gibt einem Anfänger sowie einem vorgeschrittenen Zögling Sprach- 
unterricht. 5. Eın Taubstummer sagt ein Gedicht her. 6. Der Zeichenlehrer Árpád 
Füzessy führt die Illustration mit farbiger Kreide auf der Schultafel als Hilfsmittel 
beim Unterrichte schwachsinniger Kinder vor. Besonders diese letzte Nummer ent- 
fesselt bei der Schuljugend Stürme der Begeisterung. Ist auch das materielle Er- 
trägnis der Vorträge kein großes, so reicht es doch zur Deckung der Auslagen. 
Dafür ist der sittliche Gewinn für die Allgemeinheit ein namhafter; man ist be- 
rechtigt, zu hoffen, daß die Jungen lernen werden, ihren mit irgend einer Minder- 
wertigkeit behafteten Kameraden mit Verständnis und Hilfsbereitschaft zu begegnen 
(auch für Volksschüler werden Vorträge abgehalten); die Eltern aber werden ihre 
abnormen Kinder nicht so spät wie jetzt einem Facharzte und einer heilpädagogischen 


74 Ausbildung. 


Anstalt zuführen. Seit dem Herbste 1923 wurden in 12 Städten etwa 90 Vorträge 
abgehalten. Dr. Stephan v. Mäday-Debrecen (Ungarn). 


Die Sozialwissenschaftliche Abteilung der Deutschen Hochschule für Polltik 
(Berlin) soll im Frühjahr nächsten Jahres zu einem Sozialwissenschaftlichen 
Seminar ausgebaut werden. Das Seminar steckt sich das Ziel, Personen für die 
hauptamtliche Wohlfahrtsarbeit (Jugendwohlfahrt und allgemeine Wohlfahrt) zu bilden. 
Die gesamte Ausbildungszeit ist auf zwei Jahre vorgesehen. Sämtlicheu Mitgliedern 
des Seminars würde im ersten Jahr eine allgemeine sozialwissenschaftliche und 
juristische Grundlage dargeboten werden. Im zweiten Jahre würden für die ge- 
sonderten Klassen die Spezialgebiete zur Behandlung kummen. Anfragen bezw. 
Anmeldungen wolle man möglichst bald schon richten an das Sekretariat der Deutschen 
Hochschule für Politik, Sozialwissenschaftliches Seminar, Berlin W 56, Schinkelplatz 6. 


An der sozialbygienischen Akademie in Charlottenburg wird der nächste drei- 
monatige Lehrgang für Kreisarzt-, Kreiskommusalarzt-, Schul- und Fürsorge- 
arztanwärter in der Zeit vom 29. September bis 20. Dezember d. J. abgehalten. 
Lebrpian usw. durch das Sekretariat Berlin-Charlottenburg, Spandauerberg 15/16 
(Krankenhaus Westend). 


Heilpädagogische Bestrebungen. 15 


Heilpädagogische Bestrebungen. 





Am 1. September d. Js. richtete das Jagendamt Hamburg Heilpädagogische 
Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche ein. 

Diese Beratungsstellen sollen den Eltern und Lehrern psychisch und erzieh- 
lich auffälliger Kinder die Möglichkeit einer fachärztlichen psychiatrischen Unter- 
suchung und Beratung geben. Hand in Hand mit der ärztlichen Beratung soll eine 
besondere Fürsorge die Durchführung der vom Arzt angeordneten heilpädagogischen 
Maßnahmen überwachen. Eine intensive Zusammenarbeit mit äbnlichen Bestrebungen, 
so z. B. mit der Fürsorge für geistig Erwerbsbeschränkte des Arbeitsamtes, wird 
angestrebt. Der Zweck dieser Einrichtung ist, anomale Erscheinungen bei Kindern 
und Jugendlichen möglichst früh zu erfassen und dadurch der Verwahrlosung und 
Kriminalität psychisch schwacher Elemente vorzubeugen. 

Die Beratungen finden in folgenden Räumen der Wohlfahrtsstellen statt: 

1. Beratungsstelle Barmbeck 
Leiter: Dr. Stender, Hufnerstr. 19al, Zimmer 14. Sprechstunde jeden 
1. Donnerstag im Monat, 6—8 Uhr abends. 

Beratungsstelle Winterhude 
Leiter: Dr.H. Embden, Dorotheenstr. 137, Zimmer 15—17. Sprechstunde 
jeden 2. Mittwoch im Monat, 6—8 Uhr abends. 
3. Beratungsstelle Altstadt- Neustadt 
Leiter: Dr. Mayer, ABC-Straße 47I, Zimmer 34. Sprechstunden jeden 
3. Donnerstag im Monat, 6—8 Uhr abends. 

4. Beratungsstelle Hammerbrook 
Leiter: Dr. Kaltenbach, Amsinkstr. 1, Zimmer 24. Sprechstunde jeden 
4. Mittwoch im Monat, 6—8 Uhr abends. 

5. Beratungsstelle Friedrichsberg 
Leiter: Dr. Rautenberg, Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, Haus Deseniß. 
Sprechstunde Dienstags und Sonnabends, 11—1 Uhr vormittags. 

6. Beratungsstelle Waisenhaus 
Leiter: Dr. Dräseke, Averhoffstr. 5. Sprechstunden Montags, Dienstags, 
Donnerstags, Freitags, 2 Uhr nachmittags. 

Überweisungsscheine werden ausgegeben in allen Bezirkssprechstunden des 
Jugendamtes, die jeden Dienstag und Freitag von 5—7 Uhr nachmittags in den 
11 Wohifahrtsstellen stattfinden. 


Die Beratung erfolgt unentgeltlich, aber nur auf Grund eines Überweisungs- 
scheines. Das Jugendamt, 


w 


76 . Heilpädagogische Bestrebungen. 


Unterbringung nervöser Kinder bei Arztfamilien. 


Infolge reger Inanspruchnahme der Vermittlungszentrale werden weitere Ärzte 
mit heilpädagogischen Interessen (auch in Berlin und anderen Großstädten, nicht 
nur auf dem Lande) gebeten, unter näheren Angaben ihre Bereitwilligkeit zur Auf- 
nahme und Erziehung nervöser Kinder zu melden an: Organisationsamt des Kaiserin 
Auguste Victoria Hauses, Berlin-Charlottenburg 5, Mollwitz-Franckstraße (zu Händen 
von Dr. Carl Pototzky). 


Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyor & Mann) in Langensauza. 


MAR 19 1925 





® 
GENERAL RAR? 
UNIV» Or MON. > 


ZEITSCHRIFT FÜR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDET VONJ. TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E.V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN I. B, TH.HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN 
F.WEIGL-AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN BERLIN BERLIN 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 


DREISSIGSTER BAND, HEFT 2 
(AUSGEGEBEN AM 2. FEBRUAR 1925) 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1925 


JI Zeltachriit für Kinderforschung. 80. Band, 2. Heft. 


| re E a ET 


Die Zeitschrift für Kinderforschung 


erscheint zwanglos in einzeln berechneten Heften, die zu Bänden von etwa 40—50 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 
Manuskripte werden erbeten an: 
Herrn Professor Dr. M. Isserlin, München, Mariannenplatz 21 
oder 
Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, Bayerische Str. 9. 
Redaktionelle Anfragen sind zu richten 


für den Originalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9, 
für den Referatenteilan Dr. R.Hirschfeld, Berlin W 9, Linkstr. 23/24. 

Von Originalaufsätzen werden 50 Sonderdrucke unentgeltlich geliefert, weitere gegen 
Berechnung. 

Mit Rücksicht auf die außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung gestellten Anzahl zu begnügen, und falls mehr 
Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom Verlage zu erfragen, 
um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 











30. Band. Inhaltsverzeichnis. 2. Heft. 
Originalienteil. Seite 

Kuenberg, M. Gräfin von. Über methodische Untersuchung angeborener und er“ 
worbener psychischer Defekte im Hinblick auf den Hilfsschulbogen . . . . . T7 


Malisch, K. Wie kommen die taubstummen Schüler zum geläufigen Lesen und 
richtigen Schreiben ? 








Würtz, Hans. Die Idee der krüppelpädagogischen Bewegung . . ....... 92 
Gumpert, Martin. Die erworbenen Geschlechtskrankheiten der Kinder, ihre Ur- 
sachen und ihre Bekämpfung . . 2 2: 22 En nr nn re 103 
Tagungen. a un. ad ne a ee ee a ee ee ie O 116 
Gesetzgebung. asana a ee ee re a .. . 120 
Ausbildung c se e ere sod oe a anar ee ne ee te i 121 
Heilpädagogische Bestrebungen . .... 2:2: 2 Er rn nr. 122 
Erklärung... ee ee e re a ee 124 
Referatenteil. 
Normale Anatomie und Physiologie . 81 | Normale Pädagogik . . . ..... 149 
Biologie, Konstitution, Rasse, Ver- Heilpädagogik u. Anoımalen-Fürsorge 155 
erbung Pen 82 Schwachsinn, geistige und seelische 
a en 2 ne (Gefühls- und Willens-) Anomallen 155 
Psy L e i . a k e RT - 96 Sinnendefekte, Sprachstörungen „. „ 158 
emeine un 2 | 
i ú a disch 2 7 j 96 | J ugendwohlfahrt, Verwahrlosung . . 160 
Angewandte Ps akolo le er 117 AUBEMIEIHBB. z w ara a 3 ia 160 
g el. A Säuglings- und Kleinkinderfürsorge . 167 
Genetische und vergleichende Piy- , 
chologie -> . 120 | Schulkinderfürsorge . . 2 a.. 169 
, EN EN " Berufsberatung . . 2 2 aà 170 
Psychopathologie und Psychiatrie . . 123 | Jugendgericht u. Tagendgerichtäbilte: 
Geistige Defektzustände . . . .. 125 Forensische . . . 2 2 2. 
Psychopathie, Verwahrlosung „ . „ 130 Fürsorgeerziehung . . . 2 2... 174 
Psychosen Lo 2 222 134 | Arzte, Erzieher, Fürsorger, Ausbildungs- 
Krankheiten des Kindesalters (einschl. fragen oc na ae ac 174 
allgemeine Pathologie und Therapie) 135 | Allgemeines . . ... 2 2 220% 175 
Autorenverzeichnis des Referatenteiles. 
Abderhalden, Emil 91. ' Anderson, V. V. 168, Bappert, Jakob 158. | Bauer, Virginia 81. 
Ahlmann, Wilhelm 114. | Auricchio, Luigi 147. Bartlett, Frederic H. 140. ' Baynes, H. G. 122. 
Albath, R. 100. Bacher, Georg 155. Bartsch 108. | Bean, Robert Bennet &. 
Allport, Floyd H. 106. Backman, Caston 87, 88. !' Batök,J. 157. | Bernard, Léon 106, 167. 
Anderberg, R. 108, 109. | Bäumer, Gertrud 99. Bauer, Julius $5, 91.  Bettinotti, S. I. 81. 


Fortsetzung siche III. Umschlagser:e! 


Über methodische Untersuchung 
angeborener und erworbener psychischer Defekte 
im Hinblick auf den Hilfsschulbogen.') 

Von 
M. Gräfin von Kuenburg, München. 


Wichtiger noch als der Personalbogen (Schülerbeschreibungsbogen) 
für die Normalschüler ist derjenige der Hilfsschule. — Der Normal- 
schüler besucht und verläßt die Schule unter günstigen körperlich- 
geistigen Bedingungen, der Hilfsschüler hingegen verrät in körperlich- 
geistiger Hinsicht einen Defektzustand, bedarf während der Schulzeit 
eine viel mühevollere und eigens geartete Behandlung und begegnet 
nach der Schulzeit meistens viel größeren a bei der 
Eingliederung in das Berufsleben. 

Der Schulbogen der Hilfsschule nun verfolgt ein dreifaches 
Ziel: erstens hat er vor allem ein vollständiges Bild des Kindes 
hinsichtlich seiner körperlichen und geistigen Beschaffenheit 
zu geben, auf Defekte oder Abweichungen von den Kindern der. 
Normalschule hinzuweisen, ferner über die körperlich-geistige Ent- 
wicklung und etwaige Veränderung des Kindes während der 
Schulzeit, ebenso über die geistigen (Schul-)Leistungen sowohl in 
ihrer absoluten Bewertung als auch über die etwa vorhandene 
Eigenart bei dem Zustandekommen der Leistungen zu berichten. 
Zweitens muß der Schulbogen bei entsprechender Ausgestaltung und 
sachkundiger Führung. mit Rücksicht auf die Zukunft des Schülers, 
die besten Richtlinien für eine sichere Berufsberatung abgeben; auch 
müßte der Heilpädagoge in dringenden Fällen auf Grund der Angaben 
prophylaktische Fürsorgemaßnahmen zur Verhütung größerer Schäden, 
sowohl für das Individuum selbst, als auch für seine Umgebung, be- 
antragen dürfen. Gewisse Störungen des Zentralnervensystems 
und deren Folgen z. B. Hirn- und Rückenmarksdefekte, Epilepsie usw., 
gewisse psychische Anomalien z. B. des Willens oder des Ge- 


') Vortrag, gehalten auf dem 2. Kongreß für Heilpädagogik 1924, 
. Zeitschrift für Kinderforschung. 3. Bd. 6 


15 M. Gräfin von Kuenburg: 


fühlslebens, Erregungszustände, psychopathische Veranlagung ... lassen 
mit ziemlich sicherer Voraussicht auf spätere soziale Schäden schließen, 
die in den Jahren nach der Schulentlassung sich als die Wirknng der 
ebengenannten körperlich-geistigen Disposition erkennen lassen. Um- 
gekehrt ergibt sich die Notwendigkeit, daß, beispielsweise bei tatsäch- 
lichen jugendlichen Verfehlungen, oder bei Prostitution und Verwahr- 
losung oder bei später eintretenden akuten geistigen Erkrankungen die 
Untersuchung und Begutachtung `des Straf- oder Krankheitsfalles durch 
den Schulbogen unterstützt werden muß. Nicht das Schulzeugnis mit 
seinen Leistungswerten gibt Aufschluß über die kranke oder straf- 
fällige Persönlichkeit, sondern nur die genauen Angaben über die 
körperliche und nervöse Ausgestaltung in der Kindheit und über die 
intakten oder gestörten geistigen Funktionen werden die Grundstörungen 
erkennen lassen und Hinweise zu einer richtigen Behandlung des 
Falles abgeben. Als drittes Ziel des Schulbogens seien statistische 
Zwecke genannt (etwa Zählung der Häufigkeit besonders vorkommender 
Erkrankungen, Fragen über Volksgesundheit u. a. m.) und solche 
wissenschaftlicher Verarbeitung. 

Soll der Schulbogen diesen dreifachen Zielen gerecht werden, so 
muß er derart gestaltet sein, daß er die Möglichkeit bietet, die Er- 
gebnisse einer eingehenden somatischen, insbesondere neurologischen 
Untersuchung einerseits, einer (wenn möglich ausführlichen) psycho- 
logischen Untersuchung andrerseits als auch die pädagogische Be- 
urteilung über Kenntnisse, Fortschritte, Leistungswerte und sonstige 
Beobachtungen anzugeben. Auf die zahlreichen zurzeit bestehenden 
Schulbögen kann im einzelnen hier nicht kritisch eingegangen werden; 
es sei nur die Frage erlaubt: entsprechen die Bögen den An- 
forderungen, die an sie gestellt werden, und geben sie in 
der praktischen Ausgestaltung und Erfüllung derselben 
Aufschluß überdie qualitativ so verschiedenartigen geistigen 
Defektzustände der Kinder? Denn zur Feststellung und Klar- 
legung der möglichen Defekte und ihrer Zusammenhänge mit 
den übrigen körperlich-geistigen Funktionen hat der Bogen die 
Leitgedanken zu geben, um die primären psychischen Ursachen 
der psychischen Ausfälle möglichst klar erkennen zu lassen. Es 
genügt daher nicht, wenn, wie es am Kopf eines neueingeführten 
Bogens zu lesen ist, als „kurze Kennzeichnung des Falles“ nur An- 
gaben über „leichten, mittleren“ und „schweren Schwachsinn“ gefordert 
werden, als gäbe es in der Hilfsschule außer dem krankhaften Schwach- 
sinn keine anderen Formen geistiger Defekte, als gäbe es keine 
geistig Vernachlässigten, dabei aber intellektuell Gesunde, keine wegen 





Methodische Untersuchung angeborener u. <rworbener psychischer Defekte usw. 79 


körperlicher Krankheit und Schwäche Zurückgebliebenen, keine Fälle 
mit umschriebenen Defekten mit ihren mannigfaltigen Formen 
von Schreib-, Lese- und Sprechstörungen, keine psychopathischen 
Anomalien und keine anderen (oben schon erwähnten) Fälle mehr. Die 
Anlage des Bogens darf also nicht so enge sein; sie darf aber auch 
nicht durch eine Fülle von Fragen verwirrend wirken. Aus eben 
denselben Gründen geht es ebensowenig an, die Fragen so zu gestalten, 
daß sie mit einem bloßen „ja“ oder „nein“ beantwortet würden; denn 
der Defekt kann durch eine abstrakte, wenn auch noch so typische, 
Fragestellung niemals in seiner ganzen Individualität wiedergegeben 
oder beschrieben werden. Da es sich aber um einen Defekt in einer, 
bei jedem Kind ganz individuellen, Ausprägung handelt, so erheben 
sich die Fragen, ob es anzustreben sei, daß jedes Hilfsschulkind einer 
fachpsychologischen Untersuchung unterzogen werde, nach welcher 
„Methode“ oder besser nach welchen methodischen Gesichtspunkten 
die Untersuchung zu erfolgen, und wie der Schulbogen diesen Er- 
gebnissen Rechnung zu tragen hätte? 

Die erste der drei Fragen ist in zustimmendem Sinne zu be- 
antworten; denn der Schularzt oder der klinische Psychiater ver- 
fügt nicht über die nötige Zeit und in vielen Fällen nicht 
über die nötige fachpsychologische Ausbildung; auch sind die An- 
leitungen zur Untersuchung, wie sie zurzeit in den psychiatrischen 
Lehrbüchern zu finden sind, ungenügend und mit den Ergeb- 
nissen der neueren Psychologie nicht zu vereinen. Die Heilpädagogen 
aber, abgesehen vom Zeitmangel eine langwierige Untersuchung an 
jedem Kind vorzunehmen, sind hauptsächlich und mit Recht auf 
die praktische Förderung des Individuums und auf die Schulung des- 
selben eingestellt und werden es (wenn sie sich nicht vom Lehrberuf 
abgekehrt und ausschließlich dem Studium und der praktischen 
Anwendung der Psychologie hingegeben haben) aus verschiedenen 
Gründen ablehnen; nun hat aber von Anfang an der Pädagoge den 
Defekt zu kennen, um Ersatzfunktionen auszubilden und durch Weckung 
und Schulung anderer Funktionen die Lücken und Ausfälle zu über- 
brücken. Das Fundament, auf dem der Heilpädagoge arbeitet, 
soll ihm die psychologische Untersuchung vorbereiten. Eine 
weitere Überlegung, warum der Heilpädagoge selbst, während der Schul- 
zeit, die Untersuchung nicht wird ausführen können, betrifft die Frage 
nach der Methode der Untersuchung. Seit 1908 (Meumann, Jaspers 
u. a.) erheben sich kritische Bedenken gegen die sogenannten „Intelligenz- 
prüfungen“, und bis in die neueste Zeit hinein kann man die kritischen 
Einwände verfolgen. Aber die meisten psychologischen Untersuchungen, 

g“ 


80 M. Gräfin von Kuenburg: 


wie sie bei der Ausbildung der Heilpädagogen gelehrt werden, stehen 
praktisch immer noch unter dem Einfluß dieser Maßmethoden der 
Intelligenz- und Begabungsforschung. Sie beeinflussen durch ihre 
Auswertung und Berechnung in absoluten Werten die ganze Anlage 
der Untersuchung. Dem Heilpädagogen nützt es für die Kenntnis 
des Defektes und für die praktische Ausgestaltung seiner pädagogischen 
Behandlung zunächst wenig zu wissen, welches Intelligenzalter, 
welcher Intelligenz-Quotient dem Kind angerechnet wird, welchen 
„Grad“ des Schwachsinnes das Kind hat, welche Kurven das 
„Profilbild“ in Prozentzahlen ergibt, und ob es als eine ?/¿- oder ?/,-In- 
telligenz gilt und ähnliches mehr. Wenn man die vielen kindlichen 
Defekte ins Auge faßt, die ohne eigentliche intellektuelle Störung vor- 
kommen, oder wenn man die so häufig in der Hilfsschule vorkommenden 
Schreib-, Lesestörungen betrachtet und zu ihrer Behandlung die inner- 
psychischen Ursachen finden will, die so verschiedenartig sein können 
und tatsächlich sind, wenn eine Kombination mehrerer Defekte vor- 
liegt und man der primären Störung nachgehen will ..., so wird 
es immer deutlicher, daß die übliche Anwendung und Auswertung der 
Untersuchungsmethoden nach Binet-Simon (Bobertag, Chotzen), 
Rossolimo, Ziehen und ähnliche, nicht das gewünschte Ziel, näm- 
lich die Charakterisierung des Defektes und die Auffindung der inner- 
psychischen Ursachen und Zusammenhänge geben kann, solange man 
durch die Einstellung auf Maximal- und Optimalleistung, auf richtig- 
falsch, gelöster oder nichtgelöster Test beeinflußt, in jedem Hilfsschul- 
kind nur die „herabgesetzte Intelligenz“ sieht. Denn diese Einstellung 
brachte es mit sich, daß man, von anderen methodischen Möglich- 
keiten der Untersuchung absehend, fast ausschließlich nur diese 
quantitativen Methoden ausgestaltete und anwandte Nun soll aber 
zwischen Prüfungsmethode in dieser speziellen Ausgestaltung und 
Prüfungsaufgabe (Test) unterschieden werden. 

Methode, in diesem überlieferten Sinne, wäre die Abfolge 
von einer bestimmten Anzahl von Tests, eine Testserie oder ein ge- 
wisses starres System oder ein Schema, woraus ein eindeutiges 
Resultat gefordert wird. Die einzelne Prüfungsaufgabe bedeutet an 
sich und für sich allein betrachtet, noch keine Methode. Die erhobenen 
Einwände gelten wohl der allgemeinen Methode, nicht aber den vielen 
durch Arbeit und Forschung erdachten Prüfungsaufgaben (Tests); sie 
sind, mit wenigen Ausnahmen, alle brauchbar, sofern sie zur Bestimmung 
des qualitativen Wesens des Defektes ausgewertet werden. Dies ge- 
schieht aber nur durch weitgehende Analyse der oben vollzogenen 
Aufgaben und ihrer Lösungsart und durch Vergleich mehrerer Tests 


Methodische Untersuchung angeborener u. erworbener psychischer Defekte usw. 81 


miteinander; wichtig ist es, den Weg zu kennen, auf dem die so- 
genannte Fehlleistung zustande kommt. Manche als ungelöst geltende 
Aufgabe gibt das beste Material ab, die Ursache zu erkennen, welche 
Teilfunktion in einem komplexen Ganzen die gestörte sein mag. 
Während der Untersuchung ist es oft nötig, die Bedingungen der 
Aufgaben zu variieren, die Aufgaben unter Umständen dem Individuum 
anzupassen, durch vielerlei Sonderfragen und weitere Aufgaben zu 
ergänzen; ein und dieselbe psychische Funktion wird durch 
verschiedene Aufgaben hindurch beobachtet; ein und die- 
selbe Aufgabe hingegen dientzur Beobachtung verschiedener 
Funktionen. Veröffentlichungen der jüngsten Zeit zeigen deutlich 
den Gang der Untersuchung. Will man z. B. einfache Denkprozesse, 
das Erfassen von elementaren Beziehungen, untersuchen, so wird man 
ihnen auf gegenständlichem Material auf außersprachlichem, optischem, 
auch akustischem, taktilem und dann erst auf rein sprachlichem und 
auf abstraktem Gebiet nachgehen, — die Aufmerksamkeit wird nicht 
nur an der Bourdonprobe zu prüfen sein und ähnliches mehr. Bedenkt 
man, wie verschiedenartig in ihren kleinsten Auswirkungen die 
einzelnen Fälle nur innerhalb der sensorischen Aphasie und wie ver- 
schiedenartig sie innerhalb der motorischen Sprachstörung und ebenso 
bei den Rechenstörungen sind, so wird man bei den kindlichen 
Schreiblese- und Rechenstörungen nicht nach einer überlieferten Test- 
serie die Diagnose stellen dürfen, die sicherlich, wegen ihrer vielen 
Fehlleistungen, dem Kinde zu Unrecht, auf einen der 3 Grade des 
Schwachsinns lauten dürfte. Eine solche eingehende Einzeluntersuchung, 
die sich auf mehr als eine Sitzung erstrecken muß, an allen Kindern 
vorzunehmen, könnte nicht Sache des Heilpädagogen sein. Der 
Personalbogen muß aber auf die psychologische Untersuchung ab- 
gestimmt sein, kann es aber nicht in einer so weitgehenden Art; man 
könnte sich denken, daß dem Bogen ein ausführlicher psychologischer 
Untersuchungsbefund über das Kind beigegeben werde, die Fragen 
des Bogens aber nur dazu dienen sollten, die Eintragungen des 
Heilpädagogen aufzunehmen im Hinblick auf die gestörten 
Funktionen und ihre Schulung, auf die Ausbildung der Ersatz- 
funktionen, der Leistungen, ferner der Beobachtung der Gesamt- 
persönlichkeit des Kindes, seiner Stellungnahme zum eigenen Ich, 
zur Gemeinschaft, zu ethischen Werten usw. Diese Ergänzungsfragen 
des Bogens müssen aber nach psychologischen Einteilungs- 
prinzipien angeordnet werden. Es dürfte z. B. nicht vorkommen, 
wie in einem neueingeführten Bogen zu lesen ist, daß das Lesen (ge- 
nannt „Lesefertigkeit“) und die „Abschrift“ (die anderen Formen des 


52 M. Gräfin von Kuenburg: 


Schreibens sind nicht genannt) an 4. u. 5. Stelle in den Fragen zu 
stehen kommt, während die Sprache, von der die obengenannten, 
Funktionen abhängen, an 9. Stelle angeführt wird; in einem anderen 
Bogen steht die Sprache erst an 26. Stelle. Die Fragen werden, trotz 
der häufigen theoretischen Auseinandersetzungen, in den kürzlich er- 
schienenen Bögen in gleicher Weise wie früher nach „Fähigkeiten“ 
oder „Fertigkeiten“ in vermögenspsychologischer Art aneinander gereiht 
und erinnern an die Psychologie vor Herbart. Wie dem aber immer 
sein mag, es kann auch in einem fehlerhaft angeordneten Personal- 
bogen sehr viel Brauchbares zur Klarlegung des Defektes und über 
die Kinderpersönlichkeit und die Umgebungsverhältnisse des Kindes 
stehen, wenn die richtige Persönlichkeit ihn führt. Der Heilpädagoge 
hat darin eine große und verantwortungsvolle Aufgabe, er wird in 
manchen Fällen auch dem Arzt zur Aufnahme der Vorgeschichte und 
Erkundung und Beobachtung der krankhaften Zeichen ergänzend helfen 
müssen, — daher ergibt sich von selbst die Forderung nach Ein- 
führung und Anleitung im Behandeln, Ausfüllen und Auswerten 
des Hilfsschulbogens im Ausbildungskurs der jungen Hilf- 
schullehrer, etwa in Form von Seminarübungen im Anschluß an 
ein Kolleg über Psychologie oder Psychopathologie. 

Auch die Forderung nach einer eingehenden psychologischen 
Untersuchung für jedes Kind ergibt sich aus dem oben Gesagten; 
wenn es aus praktischen Gründen nicht möglich ist, dieselbe überall 
als dauernde Einrichtung durchzuführen, so wäre es zweckmäßig eine 
heilpädagogische Beratungsstelle zu schaffen oder in Anspruch zu 
nehmen, wo Pädagoge, Psychologe und Arzt gemeinsam zur Erkennung, 
Erforschung und Heilung der kindlichen Defekte erfolgreich zu wirken 
hätten. Allerdings dürfte die Beratungsstelle nicht, auf einer vorgefaßten 
Theorie fußend, nur nach einem bestimmten Schema vorgehen, in das 
sie jedes Kind mit seinem irgendwie gearteten Defekt hineinpreßt, um 
ein von vornherein festgelegtes Resultat für die Diagnose zu gewinnen. 

Die Untersuchung hat von Defekt auszugehen, nicht von der 
Theorie: erst in 2. Linie können die verschiedenen theoretischen 
Richtungen auf ihre Richtigkeit in Beziehung zum Defekt verglichen 
und geprüft werden. 

/um Schluß sei noch ein 3. Punkt zu fordern, der sich auf 
etwaige Neuabfassungen oder neue Vorschläge von Schulbögen be- 
zieht. Wohl könnte man, da jeder neue Bogen der Kritik ausgesetzt 
ist, die Meinung vertreten, gänzlich von allen Fragen abzusehen 
und nur das besonders Auffallende zu beschreiben, mit dem Hinweis, 
daß Facharzt, Fachpsychologe und erfahrener Heilpädagoge 


Methodische Untersuchung angeborener u. erworbener psychischer Defekte usw. 83 


sehr wohl ohne dieses Gängelband wüßten, wie sie ein Gutachten 
über ihren Fall zu geben hätten! Denkt man aber an die praktischen 
Ärzte auf dem Lande oder in kleinen Provinzstädten, denkt man an 
die Neulinge im Lehramt, die fern von den geistigen Anregungen 
der Großstadt und dem kollegialen Austausch stehen, so wird man 
von dieser Art der Hilfsschüler-Gutachten absehen müssen. Es genügt 
aber nicht, daß die Schulverwaltung allein die Aufgabe übernimmt 
neue Bögen auszuarbeiten; es gehören die 3 Fachleute: Pädagoge, 
Psychologe und Arzt mit dazu. Denn es gilt in jeder Weise 
Hilfen für die geschädigten Individuen zu schaffen, damit auch sie 
neben den gesunden Menschen einen möglichst adäquaten Platz im 
Leben und Beruf erhalten, und im Rahmen des Sozialganzen nicht 
störend, sondern aufbauend mitwirken können. 


Wie kommen die taubstummen Schüler zum geläufigen 
Lesen und richtigen Schreiben? 


Ein Beitrag zur Psychologie des Lesens und Schreibens. 


Von 
K. Malisch, Taubstummenlehrer, Ratibor. 


Auf den Stundenplänen der Taubstummenschulen finden wir keine 
besonderen Stunden für den ersten Schreibleseunterricht und auf den 
späteren Stufen auch keine für die Rechtschreibung. Trotz dieser 
scheinbaren Vernachlässigung sind hier die Erfolge im Lesen, besonders 
auffallend im Rechtschreiben denen in der Volksschule, wo sehr viel 
Zeit und Kraft auf die Übermittelung dieser Fertigkeiten aufgewendet 
wird, weit überlegen. Auf die Gründe für die überraschende Tatsache 
möchte ich im folgenden näher eingehen. 

Der Lese- und Schreibunterricht ist synthetisch auf dem Laut 
und dem Buchstaben aufgebaut. Nun ist aber das gewöhnliche Lesen 
kein Buchstabensammeln. Das kann es schon deshalb nicht sein, weil 
das menschliche Sehorgan, wie durch experimentelle Untersuchungen 
festgestellt ist, höchstens fünf Eindrücke in einer Sekunde aufzunehmen 
vermag, während beim gewöhnlichen Lesen 20—30 Buchstaben auf 
‚die Sekunde kommen. Das Auge bewegt sich beim Lesen, wie wir 
jetzt wissen, sprungweise über den Zeilen und macht je nach der 
Bekanntschaft mit dem Lesetext in kürzeren oder längeren Abständen 
Fixationspausen. In diesen Pausen setzt es die benachbarten Gesamt- 
eindrücke der Schriftbilder in die mit ihnen anderweitig bereits 
assoziativ verbundene Sprache um. Wo im Lesetext ein noch un- 
bekanntes Wort z. B. ein fremder Name vorkommt, da tritt sicher 
im Lehrfluß cine Stockung ein. Die Lesegeläufigkeit beruht also auf 
den direkten Verknüpfungen zwischen den sichtbaren Eindrücken der 
Schriftbilder und der fertigen Sprache. Zur synthetischen Aufnahme 
der Schriftzeichen für die Einzellaute ist innerhalb des Lesens keine 
Zeit. Unsere Lautschriftwörter wirken demnach beim Lesen wie 
Begriftszeichen. wie Hieroglvphen. Ohne die direkten Leseautomatismen 


Wie kommen die taubstummen Schüler zum geläufigen Lesen u. richtigen Schreiben? 85 


ist ein geläufiges Lesen unmöglich. Keine Lesemethode vermag 
also ihren Schülern die Erarbeitung der wahren Leseassoziationen zu 
ersparen. 

Ähnlich ist es beim Schreiben. Wir haben eine Lautschrift. 
Für die hörbar besonders hervortretenden Teile der ineinanderfließenden 
Sprachklänge, die durch die Höhenlagen der zusammenhängenden 
Artikulation hervorgebracht werden, haben wir besondere Schrift- 
zeichen, die Buchstaben. Demnach sind die Wortbilder Zusammen- 
stellungen der Schriftzeichen für die Kulminationspunkte der Arti- 
kulation und nicht etwa phonetische Fixierungen der Sprachklänge. 
Schon daraus geht hervor, daß das Klangbild für ein richtiges Schreiben 
keine sicheren Anhaltspunkte gibt und umgekehrt, das Schriftbild auch 
keine für die phonetisch richtige Aussprache. Dazu kommt, daß bei 
unserer Orthographie fast die Hälfte der Wörter phonetisch falsch 
geschrieben wird und daß durch Verwendung verschiedener Buch- 
staben für gleiche Laute und die Großschreibung eine große Ver- 
wirrung herrscht. 

Dann vermag unser Schreiben dem Sprechen und Denken nicht 
zu folgen. Da von den einzelnen Teilen der Sprachvorstellung, sei 
es vom Klangbild bei den Hörenden, sei es von einer Sprech- 
empfindung oder einer optischen Schriftbildvorstellung beim Taub- 
stummen, automatische Antriebe für die Schreibbewegung ausgehen, 
so kommt es beim beschleunigten Schreiben vor, daß sich Buchstaben 
einschieben, die erst nachfolgenden Wörtern angehören, weil diese 
schon im Gedanken sind. Aus diesem Mangel erklärt sich die Sehn- 
sucht nach einer Kurzschrift, die dem Sprechen und Denken Schritt 
zu halten vermag. Die bekannten stenographischen Systeme sind auf 
phonetischer Grundlage aufgebaut, aber durch die vielen Schlüssel 
und Kürzungen haben sie das Wesen einer Lautschrift abgelegt und 
sind zur Hieroglyphe geworden. Dem Stenographen muß das Schreiben 
im Blute liegen, zur phonetischen Darstellung der Sprache hat er keine 
Zeit. Aber auch das Schreiben der Lautschrift muß uns zur auto- 
matischen Fertigkeit werden. Wer noch die Lautreihen der Sprach- 
vorstellung bewußt in Buchstabenreihen umsetzt, der kann eben noch 
nicht schreiben. Letzten Endes wirken also auch die Schriftbilder 
unserer Lautschrift wie die Schriftbilder einer Begriffsschrift, sie 
werden zur Hieroglyphe sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben. 

Von dem Standpunkte aus bietet uns die phonetische Lautschrift 
keine besonderen Vorteile. Sie nötigt uns nur Buchstabenhieroglyphen 
auf, die oft zu lang und zu schwer zu übersehen sind. Jedenfalls 
sind die Kulturvölker der Urzeit durch den Mangel einer Lautschrift 


S0 K. Malisch: 


am Kulturfortschritt nicht gehindert worden. Es erscheint sogar 
zweifelhaft, ob der phonetische Phönizier mit seiner Lautschrift den 
europäischen Kulturvölkern eineu Dienst erwiesen hat. Unseren 
Kleinen hat er das Lesen- und Schreibenlernen jedenfalls nicht er- 
leichter. Sie müssen sich jetzt durch die Laute und Buchstaben 
hindurch die Lautschrifthieroglyphen aneigenen, die sowohl für das 
Lesen als auch das Schreiben unerläßlich sind. Weder das Menschen- 
auge noch die Menschenhand vermögen die physiologische Arbeit zu 
leisten, die eine synthetische Aufnahme und Wiedergabe unserer Laut- 
schrift von ihnen verlangt. 

Auch das Rechtschreiben ist der Hauptsache nach eine Sache 
der Gewöhnung. An welche Residuen der sinnlichen Eindrücke sich 
beim Schreib- und Leseunterrichte die Sprech- und Schreibbewegungen 
knüpfen, ist gleichgültig. Bei der verschiedenen Ausgestaltung der 
dabei beteiligten Sinneswerkzeuge müssen es naturgemäß verschiedene 
sein; beim Hörenden sind es andere als beim Taubstummen. Sicher 
ist aber der Unterricht der beste, der seinen Schülern die fürs Lesen 
und Schreiben unerläßlichen Automatismen mit geringstem Kraft- 
und Zeitaufwand beizubringen vermag. 

Der Schwerpunkt des Unterrichtes in der Taubstummenschule 
liegt im ersten Schuljahr zunächst noch auf der Artikulation. Wir 
wollen unsere tauben Schüler zunächst sprechen lehren, um sie mit 
der Sprache und durch die Sprache dann geistig zu fördern. Der 
Betrieb des ersten Sprechunterrichts ist jetzt auch noch meist syn- 
thetisch aufgebaut. Nach einigen Lall- und sonstigen Vorübungen 
lehren wir die kleinen Sprechlinge einzelne Laute sprechen. Für die 
Einzellaute gehen wir ihnen gewöhnlich auch die Buchstaben und 
lassen sie auch schreiben. Zwar werden durch die hierzu nötigen 
Übungen assoziative Verknüpfungen zwischen dem Buchstaben und dem 
Laut erreicht, doch bilden diese nicht die Grundlage für das Lesen- 
und Schreibenlernen. Lesemaschinen und Lesetafeln kommen bei uns 
sehr selten zur Anwendung. Hingegen geben wir unseren Schülern 
möglichst bald deutsame Lautverbindungen. Das lautsprachliche Klang- 
bild ist aber nicht einfach ein Zusanımenschließen der Sprachbewegungen 
für seine Einzellaute, und wir müssen die Wortganze doch besonders 
einsprechen. Haben wir z. B. a und f. so schreiten wir gleich zu 
A und haben wir p und a, so geben wir bald: Papa pah! Papa papp! 
Papa ab! Die Wörter und Sätzchen werden nach Inhalt und Form 
eingeübt, gedeutet, abgelesen, gesprochen, geschrieben und gelesen, 
Die Schwierigkeiten, die das Schreiben ganzer Wörter den Kleinen 
bereitet. lass n sieh leicht durch geeignete Schreibvorübungen 


Wie kommen die taubstummen Schüler zum geläufigen Lesen u. richtigen Schreiben? 87 


beheben, besonders durch das kindliche Malen. Dabei machen wir 
unsere Schüler gar nicht auf die verschiedene Schreibung der Laute 
aufmerksam; sie merken es gar nicht, daß das f, in Aff mit zwei 
f, und das Schluß-p in papp mit zwei p geschrieben wird; es fällt 
ihnen nicht auf, daß man das a auch mit ah und das p so gar 
mit b schreiben kann. Das synthetische Aufnehmen der zwei f in 
Aff würde ein zweifaches Sprechen des Lautes fordern. Dieser Sprach- 
stoff wird aber in das Sprachheft eingetragen und zu verschiedenen 
Übungen bei Wiederholungen benutzt. Tatsächlich gibt es hier also 
im Lesen und Schreiben keine bewußte Synthese; die Kinder lesen 
und schreiben sich hier vielmehr die Wortbilder als Begriffszeichen 
ein. Sie erarbeiten sich im Gleichschritt mit der sprachlichen Aus- 
bildung die fürs geläufige Lesen und orthographisch richtige Schreiben 
unerläßlichen Automatismen und wachsen so allmählich ohne besondere 
technische Übungen in die Lesegeläufigkeit und Schreibrichtigkeit 
hinein. Die anfangs entlockten Einzellaute und ihre schriftlichen Dar- 
stellungsformen treten bald in den Hintergrund und ihr sonst schäd- 
licher Einfluß auf die Sprech-, Lehr- und Schreibfertigkeit bleibt be- 
deutungslos. 

Niemand aber kann daran zweifeln, daß die synthetische Schreib- 
lesemethode in der Volksschule der Stiftung der wahren Lese- und 
Schreibassoziationen im Wege steht. Solange die Schüler bewußt 
Laute zusammenziehen und Buchstaben zusammenordnen, so lange 
können sie eben noch nicht lesen und nicht schreiben. Sie sehen 
den Wald vor Bäumen nicht. Die im Kinde durch das Synthetisieren 
ausgebildete Neigung zum lautierenden Lesen und buchstabierenden 
Schreiben muß durch vieles Üben wieder überwunden werden, bevor 
ein geläufiges Lesen und fließendes Schreiben möglich. ist. 

In neuerer Zeit wird aber schon in verschiedenen Taubstummen- 
schulen auch der erste Sprechunterricht an Sprachganzen erteilt. Der 
hier den Kleinen angebotene Sprachstoff, dessen Auswahl anfangs 
selbstverständlich auf die Erlernschwierigkeit Rücksicht nehmen muß, 
wird bei vollständiger Ausschaltung der sogenannten Elemente als 
Sprachganze eingesprochen, eingelesen und eingeschrieben. Die Wort- 
bilder sind hier ganz sicher nur Begriffszeichen. Als solche werden 
sie in das Sprachbuch eingetragen, das für die weitere Einprägung als 
Fibel dient. Da gibt es keine Synthese, kann es keine geben, weil 
es keine Laute und keine Buchstaben gibt. In allen Klassen aber, 
wo bisher der erste Sprechunterricht in obiger Weise an Nprachganzen 
erteilt worden ist, stellte sich noch viel früher, als von den Kleinen 
irgend eine selbständige Lektüre verlangt werden kann, ein selbständiges 


88 K. Malisch: 


Lesen auch fremden Lesestoffes ein. Auch das Schreiben fremder 
Sprache fand sich von selbst ein. Die Lese- und Schreibfertigkeit 
fällt hier den taubstummen Sprechschülern tatsächlich ohne jede be- 
sondere Lese- und Schreibübung so nebenher als reife Frucht in den 
Schoß. Das ist durch die Praxis erwiesen. 

Zweifel an diesen Erfahrungstatsachen sind vom Standpunkte der 
Synthetiker verständlich. Lesen ohne Buchstabenkenntnis ist eben 
nach den bisherigen Anschauungen unmöglich. Wer lediglich an 
Schriftganzen lesen und schreiben lernen will, der muß sämtliche 
Wörter der deutschen Sprache besonders lesen und schreiben lernen. 
— Diese Annahme trifft aber, wie wir schon gesehen haben, nicht 
zu. Das Kleinkind verbindet beim ersten Sprechenlernen auch haupt- 
sächlich sichtbare Eindrücke mit sprachlichen Klangbilden. Nicht 
nur die vielen hundert Dinge der Umwelt des Kindes, sondern auch 
ihre Eigenschaften und Tätigkeiten verlangen versprachlicht zu werden. 
Das Kind lernt eine Menge Sachen benennen und sicher voneinander 
unterscheiden, ohne sich der Unterschiede bewußt zu sein. Selbst 
ähnliche Dinge erkennt es mit Sicherheit wieder, irgendwelche Schwierig- 
keiten macht ihm das Merken nicht. An die Stelle der Naturformen 
heim Sprechenlernen in der Mutterschule treten beim Lesenlernen 
die Kunstformen unserer Lautschrift. Der Leseschüler prägt sich auch 
hier die verschiedenen Wortbilder ein und unterscheidet sie sicher 
voneinander, auch ohne sich der Unterschiede bewußt zu werden. Sie 
sind ihm nur Begrifiszeichen, Hieroglyphen; daß sie aus Buchstaben 
zusammengesetzt sind, davon hat es zunächst keine Ahnung. Immer 
neue Wörter werden ihm als Sprachzeichen angeboten; er muß sich 
sie einlesen und einschreiben. Die hierzu nötige Differenzierung führt 
bei der Anwendung immer der gleichen Schriftzeichen zu Teil- 
assozlationen zwischen der Schrift und der Sprache, die der Schüler, 
ohne sich dessen bewußt zu werden, in synthetischer Weise zum 
Lesen und Schreiben noch unbekannter Sprache verwenden lernt. Hat 
er z. B. schon mehrere Wörter mit dem Großbuchstaben O lesen und 
schreiben gelernt, so stülpen sich seine Lippen unwillkürlich zunı 
Sprechen des OÖ, wenn ihm das noch unbekannte Wort Ofen gezeigt 
wird; und ist ihm die Silbe fen in laufen, kaufen, saufen geläufig ge- 
worden, so liest er glatt das ganze neue Wort Ofen. Ähnlich ist es 
beim Schreiben. Die mit Klangbildteilen assoziativ verknüpften Schreib- 
bewegungen werden für gleiche Klänge benutzt und der Schüler schreibt 
richtig das ihm vorgesprochene noch nie geschriebene Wort „Tafel“. 
wenn ihm Tabak. Tadel, Taler und Apfel, Griffel, Löffel bekannt sind. 
So kommt der Schüler allmählich über die Silben und noch kürzere 


Wie kommen die taubstummen Schüler zum geläufigen Lesen u. richtigen Schreiben? 89 


Wort- und Klangbildteile auch zur Kenntnis der Laute und Buch- 
staben. 

Gestört wird leider dieser naturgemäße Lernvorgang dadurch, 
daß unsere übliche Schreibung oft die phonetische Grundlage verläßt 
und den Laut in den verschiedenen Wörtern verschieden schreibt. 
Mehrere Laute können sich sogar einer neunfachen Darstellungsweise 
rühmen; z. B. der Laut i: i, ie, ieh, ih, y, I. Ih, Y, u (neu). Darum 
bereitet die synthetische Rechtschreibung den Schülern bedeutende 
Schwierigkeit. Ein großer Pädagoge (Dittes) hat den orthographischen 
Unterricht das Schulkreuz genannt. Mit voller Überlegung durch 
eine Menge Regeln und noch größere Zahl Ausnahmen muß sich der 
Schüler zum richtigen Schreiben hindurcharbeiten und sich durch 
Selbstkonstruieren Schreibbewegungen einüben, die später automatisch 
ablaufen müssen, weil Schreibautomatismen für ein orthographisch 
richtiges Schreiben unerläßlich sind. Durch wiederholtes Falsch- 
schreiben wird die Einprägung des Richtigen oft sehr erschwert. Die 
Natur lehrt alle Fertigkeiten an Bewegungsganzen: Das Gehen, 
Greifen und auch das Sprechen. Mit welchem Recht lehren wir die 
Kleinen das Schreiben, das im Endresultat auch eine automatische 
Fertigkeit ist, durch Selbstkonstruieren? Die Taubstummen lernen 
orthographisch richtig schreiben ohne besondere Unterweisung haupt- 
sächlich durch reflektorisches Nachbilden bedeutungsvoller Schriftganzer. 
Mit dem Erfolg können wir zufrieden sein. Die Orthographie ist 
hauptsächlich eine Sache der Gewöhnung und nicht der Überlegung. 

Die Erarbeitung der wahren Lese- und Schreibassoziationen vermag 
keine Unterrichtsmethode ihren Schülern zu ersparen, auch die synthetische 
Methode nicht, Lesen und Schreiben kann nicht bei der bewußten Synthese 
stehen bleiben; im weiteren Verlauf des Unterrichts müssen diese Fertig- 
keiten automatisiert werden. Erst dann sind die Ziele des Schreiblese- 
unterrichts erreicht. Beim synthetischen Verfahren erfolgen die Stif- 
tungen der wahren Lese- und Schreibassoziationen erst auf den höheren 
Stufen, wo von dem Schüler ein beschleunigter Ablauf der physiologischen 
Vorgänge verlangt wird, wo er zum lautierenden Lesen und buch- 
stabierenden Schreiben keine Zeit hat und gezwungen ist, sich mit 
den in der verkürzten Zeit möglichen Leistungen seines Seh- und 
Schreibapparats zu begnügen. Diesen neuen Erwerbungen stehen die 
bisher eingeübten Verknüpfungen der einzelnen Laute und Buchstaben 
entgegen. Die im Schüler durch das Elementieren geweckte Neigung 
zur Synthese muß hier durch vieles Üben erst wieder ausgemerzt werden, 
bevor ein geläufiges Lesen und sicheres Schreiben möglich ist. Aus 
diesen Schwierigkeiten, die die synthetische Methode sich selbst be- 


90 * K. Malisch: 


reitet, ist es größtenteils zu erklären, daß es auch unter den älteren 
Schülern Lese- und Schreibstümper gibt, daß manche überhaupt nicht 
zum geläufigen Lesen und richtigen Schreiben kommen. 

Gestiftet werden die wahren Lese- und Schreibassoziationen, wie 
die assoziativen Verknüpfungen überhaupt, durch gleichzeitiges Zu- 
sammentreffen ihrer Teile in den Bildungsapparaten. Der Leseschüler 
sieht die Schriftbilder, hört im Geist die zugehörigen Klangbilder, weiß 
ihre Bedeutungen und spricht sie automatisch nach. Schriftbild, Klang- 
bild, Bedeutung und Sprechbewegung bilden ein natürliches Ganze. 
Dadurch, daß der Schüler die Schrift sehen und in demselben Augen- 
blick den Sprachklang, der ihm auch meist die Bedeutung erschließt, 
hören kann, ist die für die Stiftung der Leseassoziation sehr wichtige 
Gleichzeitigkeit vollkommen da. Beim Schreiben kommt noch die 
Schreibbewegung hinzu; sie muß sich möglichst eng an die übrigen 
Teile der Sprachvorstellung anschließen. Darum vieles Nachziehen des 
Schreibzuges in der Luft, wodurch ein gleichzeitiges Sehen ermöglicht 
wird, und entsprechendes Sprechen beim Schreiben, wodurch die Ver- 
knüpfung der Schreibbewegung mit den Klangbildern, den Sprach- 
hewegungen und den Bedeutungen erreicht wird. So ist es bei hörenden 
Schülern. 

Bei Taubstummen ist leider eine so vollkommene Gleichzeitigkeit 
bei der Übermittelung der Lese- und Schreibfertigkeit nicht immer 
möglich, weil ihnen das Gehör fehlt und sie bei der Zuführung der 
Bedeutung für die fühlbare Schrift hauptsächlich auch auf das Auge 
angewiesen sind. Gleichzeitig aber kann der taube Schüler nicht 
die Schrift und den sprechenden Mund des Lehrers oder seine Ge- 
bärden sehen, durch die ihm hauptsächlich die Bedeutungen und die 
Sprechbewegungen zugeführt werden. Ähnlich ist es beim Schreiben. 
Er kann nicht hören, was er schreiben soll; er muß es erst z. B. 
beim Diktat vom Munde des Lehrers ablesen. 

An die Stelle der Gleichzeitigkeit tritt also hier das für die Stiftung 
der Assoziationen physiologisch minderwertige „Nacheinander“. Wenn 
trotz dieser Behinderung die taubstummen Schüler leicht das ge- 
läufige Lesen und orthographische Schreiben erlernen, von dem Schul- 
kreuz nichts merken, warum sollte diese Unterrichtsweise nicht auch 
bei vollsinnigen Kindern anwendbar sein, wo die physiologischen 
Lernbedingungen doch günstiger sind? Warum quälen wir dann 
unsere kleinen Lernanfänger mit den falschen Elementen und der 
Synthese? Warum lehren wir sie nicht auch an Sprachganzen lesen 
und schreiben? Das Element der Sprache ist der Satz, das Sprach- 
ganze, und nicht der Laut. Nur der Macht der Gewohnheit ver- 


Wie kommen die taubstummen Schüler zum geläufigen Lesen u. richtigen Schreiben ? 91 


danken die Laute und Buchstaben jetzt noch ihre Bedeutung im 
ersten Schreibleseunterrichte.e Nach dem jetzigen Einblick in die 
physiologischen Lese- und Schreibvorgänge sollte man ihnen nur 
noch einen Platz im pädagogischen Museum einräumen. — 

Aber nicht nur den normalbegabten Vollsinnigen, sondern auch 
den geistig minderwertigen Kindern würde ein Schreibleseunterricht 
an Sprachganzen, wie er allgemein iu den Taubstummenschulen tat- 
sächlich erteilt wird, das Lesen- und Schreibenlernen unzweifelhaft 
erleichtern. Er stellt geringere Ansprüche an die Geistesarbeit und 
ist hauptsächlich eine Sache der Reflexe, wie die meisten Fertigkeiten. 
Das ist durch die Praxis erwiesen. In den B.-Klassen der Taub- 
stummenschulen lernen tatsächlich jetzt schon eine große Zahl schwach- 
begabter Schüler an Sprachganzen lesen und schreiben. Ich selbst 
habe im Privatunterrichte drei idiotischen Hörstummen, die auch bei 
mir erst sprechen lernen mußten, an Sprachganzen das Lesen und 
Schreiben gelehrt. Meinen eigenen vollsinnigen Kindern habe ich das 
Lesen und Schreiben auch an ganzen Ausdrucksformen ihrer Kinder- 
sprache beigebracht zur Freude ihrer späteren Lehrer. 

Damit bin ich am Schlusse. Wenn der eine oder andere meiner 
verehrten Leser sich dazu entschließen könnte, die theoretischen 
Ausführungen auf ihre praktische Brauchbarkeit nachzuprüfen, so 
wäre ich für meine Arbeit reichlich belohnt. 


Die Idee der krüppelpädagogischen Bewegung. 


Von 
Hans Würtz, Erziehungsdirektor des Oskar-Ilelene-Heims, Berlin-Dahlem. 


Der Krüppel glich jahrhundertelang ‘einem Verstoßenen, mit 
Bettellumpen bedeckt, der in der Ruine der Körpergebrechlichkeit 
freudlos hauste. Die Charitas pflanzte um seine Behausung den Gemüts- 
garten hegender Liebe, die Orthopädie verwandelte die Ruine in ein 
Lebenswohnhaus, die Krüppelpädagogik baute den Gebrechlichen einen 
Geistesthron sittlicher Autonomie. So hat die Charitas die Seele, die 
Orthopädie den Körper und die Krüppelpädagogik den steuernden 
Geist im Krüppel zur Auferstehung beschworen. Gerufen wurde zwar 
zunächst die allgemeine Pädagogik zu dem kranken Amfortas in dem 
Burgverließ. Sie stand nicht im Zeichen des Grals. Der Krüppel 
Amfortas litt an einem Gebrechen, das sich weder psychiatrisch noch 
allgemein ethisch fassen ließ. Sie kannte das Losungswort ihrer 
Aufgabe nicht. Auch die Heilpädagogik im allgemeinen stand vor 
einem unlösbaren Rätsel. Diese Seelenkrankheit wuchs nicht so sehr 
aus der Not, die vom Individuum aus als solchem verständlich war, 
das Verhängnis steckte in dem Beziehungsleben des Kranken. Die 
Krüppelpädagogik mußte nicht nur heilpädagogische Motive aufnehmen, 
sondern sie mußte sich Schlüsselgedanken neuer Führung aus der 
Beziehungswissenschaft der Soziologie holen. Körperliche Bewegungs- 
hemmungen schaffen eigenartige Beziehungshemmungen. Menschen, 
die sich dem Rhythmus der Gesunden nicht ohne Behinderungen ein- 
spielen können, gelangen leicht in Rückschlagsempfindung gegen die 
Gemeinschaft. Dadurch, daß sich ihre Gewohnheiten, Erlebnisse, Er- 
innerungen anderen körperlichen Ausgleichungen zuordnen, bekommen 
sie eine Färbung besonderer Art. Es entstehen leicht Tendenzen auf 
Argwohn, Mißtrauen, die sich im gegebenen Falle auch zu Benach- 
teilligungs- und Beeinträchtigungsgefühlen und weiterhin zum Neide 
zuspitzen können. Die Krüppelpädagogik mußte sich daher mit der 
ganzen Spannung eines gegensatzbewegten Arbeitsgedankens und mit 
feinstem soziologischen Takt an dem Gebrechlichen beschäftigen. Von 


Die Idee der krüppelpädagogischen Bewegung. 93 


der Orthopädie ist ihr als Aufgabe zugewiesen, den Krüppel auch 
innerlich möglichst unabhängig von fremder Hilfe zu machen. Von 
der Soziologie wurde ihr das Ziel gesteckt, den Krüppel zur Freude 
am Gemeinschaftsleben zu führen. Der Krüppelerzieher mußte daher 
Individualpsychologe und Sozialpädagoge zugleich sein. Als Individual- 
psychologe mußte er die Psychoanalyse in der Richtung auf Beherr- 
schung der spezifischen Gefühls- und Wunschverdrängungen des 
Krüppels ausbauen. Als praktischer Sozialpädagoge mußte er die im 
grupplichen Beziehungsleben wurzelnden Ursachen kennen und be- 
kämpfen. Seine Arbeit mußte sich dabei unbedingt den Richtlinien 
des Arztes anpassen. Diese Voraussetzung fordert eine bestimmte 
organisatorische Ausgestaltung des Krüppelheims. Nur wenn Arzt 
und Pädagoge ständig Hand in Hand arbeiten, kann die Krüppel- 
pädagogik ihre Aufgabe lösen. In der organischen Konsequenz der 
Orthopädie liegt es aber, daß ein Krüppelheim Klinik, Schule und 
Ausbildungswerkstätten mit Berufsberatung umfaßt. Damit ist der 
schulischen Ertüchtigung schon sachlich die Hinwendung auf den 
Gesamtgedanken der Heilpädagogik im allgemeinen und der sozialen 
Ertüchtigung des Krüppels im besonderen gegeben. Die Tätigkeit des 
Orthopäden und des Krüppelpädagogen stehen somit in organischer 
Arbeitskorrelation. Von dem Augenblick an, als Professor Dr. Biesalski 
für die Krüppelhilfe die Losung ausgab, „aus einem Almosenempfänger 
einen Steuerzahler zu machen“, mußten sich Orthopädie und Pädagogik 
in der Gemeinschafts- und Verselbständigungsarbeit der Krüppelpädagogik 
zusammenschließen. Die historische Bewegung der Krüppelpädagogik 
ist daher die sachlich notwendige Entfaltung der Erziehung der Gte- 
brechlichen nach der Norm umfassender Krüppelfürsorge. Überall 
dort, wo ein Krüppelheim in diesem Sinne seine Aufgaben entwickeln 
kann, wird auch die Krüppelpädagogik zur Geltung kommen. Wie 
sich im Geiste der Ineinandergliederung von ärztlicher und erziehe- 
rischer Krüppelfürsorge die Krüppelpädagogik in ihrer Grundsätzlich- 
keit sachlich entwickelt hat, zeigt das Krüppelfürsorgegesetz von 
Mai 1920, dessen kulturelle Tragweite ich in dem diesen Aus- 
fünrungen sich anschließenden Vortrag über die „sozial-pädagogische Be- 
deutung des Krüppelfürsorgegesetzes* zu beleuchten versucht habe. 

Im Seelengarten des Krüppelreichs sprudelt jetzt der Spring- 
brunnen der Spielkraft als Freisetzung der Elastizität und Bewegungs- 
treude des Gebrechlichen im Tumnselspiel. Das Körperhaus des Krüppels — 
einst eine Ruine — ist jetzt durchfreudigt von der Ebenbürtigkeit 
in der Arbeit mit dem Gesunden. Das Vorurteil der Erwerbsunfähig- 
keit des Krüppels ist grundsätzlich gestürzt, auch der Gebrechliche 

Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 7 


94 H. Würtz: 


kann seiner Kräfte mannhaft froh werden. Damit kann auch die Idee 
der Gemeinschaft sich auf den Geistesthron der Bewegungsgehemmten 


setzen. 


* >» 
* 


In der Fassung des Themas wollte ich zum Ausdruck bringen, 
daß die Krüppelfürsorge ein Glied der gesamten Heilpädagogik ist. 
Um ein Gleichnis aus der gegenwärtigen Technik zu wählen, so ist 
die Arbeitsbeziehung der Krüppelpädagogik zu der Gesamtpädagogik, 
zu der Heilpädagogik, gleichsam ein Radiorapport mit verschiedenen 
Wellenlängen. Trotz organischen Ineinandergreifens hat jedes Gebiet 
ein kräftiges Eigenleben. Wie wenig die Chirurgie als Tochter der 
Gesamtmedizin und die Orthopädie als Tochter der Chirurgie ihre 
Selbständigkeit in dem fortbestehenden, befruchtenden Zusammenhang 
einbüßen, so wenig verlieren die Heilpädagogik als Tochter der Ge- 
samtpädagogik und die Krüppelpädagogik als Tochter der Heilpädagogik 
in dem gleichen lebendigen Zusammenhang ihre Eigenverantwortung 
und Eigenbedeutung. Sie sind selbstwertige Glieder eines Gesamt- 
organismus, Eigenausgestaltungen eines umfassenden Arbeitsplanes, 
wie Medizin und Pädagogik überhaupt organisch und doch als Träger 
eigener Aufgaben zusammengehören. Wir stehen hier vor einer 
eigenartigen hoch und fein gefügten Gesamt- und Einzelgliederung, 
die aber keineswegs nur Theorie ist, sondern im Krüppelfürsorge- 
gesetz schon organisatorisch zum Ausdruck gebracht wird. Wie 
in keiner anderen gesetzlichen Regelung sind in diesem sozialen Ge- 
setz vom Mai 1920 alle Gesichtspunkte der Zusammenarbeit der 
Ärzte und Pädagogen in den Dienst des Krüppels gestellt. Damit ist 
ein kulturgeschichtlich höchst bedeutsamer Schritt vollzogen. Nur 
. Pflege und Bewahrung tragen den Charakter des sozialen Schutzes. 
Dagegen schließt die Erwerbsbefähigung schöpferische Hebungs- 
arbeit in sich. Der Staat greift so über das Fordern hinaus ins 
Fördern. Dieses Krüppelfürsorgegesetz wirkt gleichsam wie eine Brenn- 
linse, es faßt alle Strahlen fürsorgerischer Fachkenntnisse im Fokus 
der Heilpädagogik zusammen. Während in den früheren Gesetzen 
für die Pfleglinge nur Kur, Pflege und Bewahrung gefordert wurden, 
tritt in dem neuen Gesetz, daß als das humanste Gesetz der ganzen 
Welt angesprochen werden darf, das sozial-pädagogische Moment in 
der folgerichtigen Endzielsetzung der Berufsertüchtigung, der Er- 
werbsbefähigung, hinzu. Nach dem Gesetz soll jedes Krüppelheim 
sein „eine Anstalt, in welcher durch gleichzeitiges Ineinander- 
arbeiten von Klinik, Schule, Berufsausbildung und Berufsberatung 





Die Idee der krüppelpädagogischen Bewegung. 95 


der Krüppel zur höchstmöglichen wirtschaftlichen Selbständigkeit ge- 
bracht wird“. 

So bringt dieses Gesetz im Anschluß an eine konkrete Organi- 
sationsform das Gesamtprogramm der Heilpädagogik zur Geltung, denn 
die Heilpädagogik umfaßt die leiblichen und seelischen Interessen 
ihrer Schutzbefohlenen, und diese beiden Fürsorgearbeiten wenden 
sich in der sozialen Ertüchtigung einander am lebendigsten zu. 
Alle Gebrechlichen können nur in sozial ausstrahlender Berufstätigkeit 
das ihnen zugängliche Maß leiblicher und seelischer Kräftigung und 
Genesung erreichen. Die Heilpädagogik ist ein wirksames Heilmittel für 
die Seelengebrechlichen, und die gegenwärtige Krüppelpädagogik hat 
sich dadurch gern und weitgehend befruchten lassen. Der Vorzug 
dieses Gesetzes ist, daß es diese pädagogischen Maßnahmen mit voller 
Grundsätzlichkeit vertritt und ihnen in konkreten Einzelforderungen 
Ausdruck verleiht. Aus der modernen Soziologie ist uns die Er- 
kenntnis erwachsen, daß sich seelische Spannungen bei sozialen Kate- 
gorien austragen. Es ist vor allem der Zwiespalt zwischen organischer 
Lebensgemeinschaft und rechnerisch bestimmter Vertragsgesellschaft, 
der die seelischen Konflikte heraufbeschwört. Dem seelischen Faktor 
wird heute ganz allgemein auch von den Ärzten neuerdings in viel 
grundsätzlicherer Weise als früher Rechnung getragen. In medizinischen 
Veröffentlichungen kommt jetzt auffallend häufig der früher verpönte 
Begriff der Seele, die Wechselbeziehung zwischen Körper und Seele, 
zur Sprache. Auch der Spezialarzt stellt sich immer mehr auf die 
ganze Persönlichkeit und daher auch auf die seelischen Bedingungen 
seiner Patienten ein. In dem Maße aber, wie er in diesem Sinne zum 
Typ des früheren Hausarztes zurückkehrt, nimmt er auch das Gemein- 
schaftselement mit seinen Vertrauenswirkungen als Heilfaktor in 
sich auf. Gerade das Gemeinschaftselement nimmt das entscheidend 
Seelische für die Genesung in Anspruch. Wir stehen allerdings 
heute nicht vor dem früheren, zum Schlagwort herabgesunkenen Seelen- 
begriff; denn wir beziehen als Ärzte und Pädagogen das Seelische 
und Soziale in konkreten Aufgaben aufeinander. Wir fragen uns: 
Wie können wir die Gebrechlichen durch Arbeit der Gemeinschaft 
zurückgewinnen? Als Krüppelpädagogen stellen wir uns noch die be- 
sondere Frage: Wie gewinnen wir den zur Abwendung von der 
Gemeinschaft leicht geneigten Willen des Krüppels für ein gemein- 
schaftssinnig bewertetes Berufsleben? Auf diese ganz ins Spezielle 
sich auszweigende Frage gibt uns das Krüppelfürsorgegesetz eine 
präzise Antwort. Wörtlich heißt es in diesem Gesetz, nachdem es 
die Aufgabe der streng fachärztlich nicht mit dem Chirurgen zu ver- 


7* 


06 H. Würtz: 


wechselnden geschulten Orthopäden gekennzeichnet hat: „Neben diesen 
mehr auf das körperliche gerichteten Maßnahmen ist aber von großer 
Bedeutung auch die seelische Erfassung des Krüppels. Jede körper- 
liche Abweichung vom Normalen wirft auf das Bewußtsein des Ver- 
unstalteten einen Schatten, trübt sein Selbstgefühl und bringt den 
Willen ins Stocken und Schwanken. Wenn der Kranke sein Minder- 
vermögen mit dem Mehrkönnen der Gesunden häufig und lebhaft ver- 
gleicht, tritt nur zu leicht eine mehr oder minder starke Beeinträchtigung 
seines Wohlbefindens ein. Es entstehen dann leicht seelische Ent- 
gleisungen und Schwächen, die das typische Krüppeltum begründen: 
verstärkte Selbstfühligkeit, Benachteiligungs- und Beeinträchtigungs- 
empfinden, erhöhte Empfindlichkeit, Reizbarkeit, Neid, Mißtrauen, 
Starrheit und Härte der Selbstbehauptung sowie übersteigertes Ehr- 
gefühl.“ 

Es ist bewundernswert, mit welchem Zartgefühl die Ausführungs- 
bestimmungen die Bedingungsmäßigkeit der von ihnen gewählten 
Krüppelkennzeichnungen in jeder Einzelwendung betont. Es spricht 
eigentlich nur von Tendenzen auf Gemeinschaftsspannung, die das 
typische Krüppeltum begründen. In dem Maße, wie diese Tendenzen 
durchkreuzt oder auch durch günstige seelische Beeinflussung ge- 
schwächt und aufgehoben werden, wie das Gesetz es ausdrücklich anstrebt, 
verlieren die Kennzeichnungen ihre Schärfe, die daher kein an sich 
arbeitender Krüppel irgendwie auf sich persönlich zu beziehen braucht. 
Der Zwiespalt zwischen empirischen und ideellen Menschen, wie 
zwischen wirklichen und möglichen Menschen überhaupt ist nur ein 
Adelszeichen der Entwicklung. — Das Krüppelfürsorgegesetz will nur 
dem Gebrechlichen helfen. Es gibt darum auch Richtlinien zum 
Schutze der bedrohten Krüppelseele. In weiteren Ausführungen 
heißt es wörtlich: „Auf diesen besonderen psychischen Zustand wird 
jegliche Krüppelfürsorge vorzüglich Rücksicht nehmen müssen. In 
erster Linie gilt dies aber bei der Fürsorge für die Jugendlichen. 
Jedes schulfähige Krüppelkind gehört an sich in eine besondere Krüppel- 
schule, in der unter Berücksichtigung der verschiedenen Gebrechen 
nach bestimmten Methoden auf Grund der besonderen Krüppelseelen- 
kunde unterrichtet wird. Das aus dem Krüppelheim entlassene Krüppel- 
kind sende man möglichst nicht in die Volksschule zurück, sondern 
führe es tunlichst in eine einem Heim angeschlossene ambulante 
Krüppelschule, die nach denselben pädagogischen und gleichen Methoden 
geleitet wird, wie die Krüppelschulen in den Heimen. Schul- und 
Erziehungszwang muß auch für die Krüppelschule, in der geschlossenen 
wie in der offenen Form, gefordert werden, schon damit nicht, wie 


Die Idee der krüppelpädagogischen Bewegung. 97 


früher, so viele Krüppel dem Landstreichertum und Verbrechen anheim- 
fallen. Außerdem ist gute Schulbildung gerade beim Krüppel mehr 
noch als beim Gesunden für die Sicherung der Erwerbsmöglichkeit 
unerläßlich und gehört schon aus diesem Grunde zu den Aufgaben, 
welche das Gesetz sämtlichen mit seiner Ausführung betrauten Stellen 
gesetzt hat. Die Hebung der Erwerbsfähigkeit kann in den meisten 
Fällen nur erreicht werden, wenn dem Umstande Rechnung getragen 
wird, daß das Krüppelgebrechen nicht nur in einer Verunstaltung 
des Körpers besteht, sondern gleichermaßen, ja in vielen Fällen un- 
verhältnismäßig viel schwerer, in einer seelischen Belastung.“ 

Die Tragweite dieser Ausführungen kann man am besten er- 
messen, wenn man sich einmal vertieft in die Klagen, Anklagen, Be- 
kenntnisse, Notschreie der Krüppel, wie sie in Biographien und 
Dichtungen herausseufzen. 

Mein Amtszimmer ist mir gleichsam zu einer Heiligenkapelle ge- 
worden, weil ich eine ganze Reihe hervorragender Krüppel der Welt- 
geschichte in Bildnissen täglich vor mir sehe. Es sind gewissermaßen 
die Heiligen meiner Arbeit. Auf ihren zerfurchten, zerwühlten Ge- 
sichtern spiegelt sich der tragische Kampf zwischen Fluch und Ver- 
heißung, zwischen Schicksal und Tat, zwischen Weltschmerz und Wille. 


Ist man mit der Krüppelpsychologie nicht vertraut, dann huschen 
diese Gestalten wie menschliche Seltsamkeiten oder Abnormitäten durch 
unser Gedächtnis, aber sobald man weiß, wie der Wille zur Tüchtig- 
keit auch in den Gebrechlichen Wunder waltet, so werden die 
Männer, die mit ihren Körpergebrechen so ernst ins Leben schauen, 
zu Zeichen eines ganz eigenartigen Kulturkampfes. 

Unterscheidet man im Tatleben zwischen physiogenem Tatleben 
d. h. von der Natur vorwiegend Bedingtem, soziogenem Tatleben d. h. 
von der Gesellschaft vorwiegend Bestimmtem und zwischen ethogenem 
Tatleben d. h. vom ethischen Willen Geborenen, dann sind diese 
Schicksalsopfer Pioniere des sittlichen Schöpfertums. 

Sie sind groß und stark geworden, weil sie aus dem Willen zu 
kulturvoller Tüchtigkeit ihre Entwicklungsspannungen schöpften. 

So sind sie Erstgeborene und Vorläufer der Menschenart, die in 
Zukunft allein noch lebensfähig sein wird. 

So gesehen, rücken die lahmen Krates, Pittakos, Epiktet, Walter Scott, 
die buckligen Lichtenberg, Galiani, Leopardi, Johannes Wedde, Moses 
Mendelssohn und Meunier, der klumpfüßige Byron, die wuchs- 
krüppeligen Menzel und Schleiermacher. der ansatzkrüppelige Kant, in 
wärmste Gregenwartsnähe. 


98 H. Würtz: 


Das Krüppelfürsorgegesetz erscheint uns dann als erstes der 
heiligen Schiffe, die nur durch sittliche Energie noch zu rettende 
Lebenswerte über die schwarzen Fluten des Verhängnisses trägt. 

Der Krüppel selbst braucht kein Psychopath zu sein. Wie es schon 
aus dem Krüppelfürsorgegesetz hervorgeht, leidet der Körpergebrechliche 
vorwiegend an Hemmungen sozialer Aufeinanderbeziehungen. 

Dennoch gibt es auch einen Bruchteil psychopathischer Körper- 
gebrechlicher, und es ist bemerkenswert, wie in der Einstellung des 
Gesetzes auf diese Gruppe schon die ersten Segel einer planmäßigen 
Psychopathenertüchtigung am Horizonte der sozialen Fürsorgearbeit 
sichtbar werden. 


Es heißt in den Ausführungsbestimmungen: 

„Ebenso wie für Hochbegabte, so kommen auch für psychopathische 
Krüppel besondere Abteilungen in Frage.“ 

Sogar ein Rettungskahn für die Hinüberleitung sinkender Seelen 
in das feierliche Land des Schweigens taucht im Gesetze auf. 

Die Siechen und körperlich Unheilbaren sollen nicht mehr von 
dem wüsten Geschwätz, den Zoten der Landstreicher, Arbeitsscheuen 
im Siechenhause, aus ihrer Friedensresignation aufgestört werden. 


Bisher wurden die jugendlichen Siechen mit den alten Körper- 
entarteten zusammen gewürfelt. 


Die Einführung in die seelischen Vorgänge hat das Gesetz zur 
Erkenntnis geführt: „Es wird nötig sein, einzelne Heime oder besondere 
Stellen einzusetzen, die ausschließlich oder vorwiegend für die Auf- 
nahme von Siechen oder Unheilbaren bestimmt sind.“ 


Auf Grund dieses Gesetzes haben wir mit dem Perlbund zur 
Förderung der Selbsthilfe der körperlich Behinderten zusammen an 
den Magistrat der Stadt Berlin vor 2? Jahren eine Eingabe gemacht, 
eine Trennung der jugendlichen Siechen von den alten Siechen zu 
bewirken. Allerdings ist bis jetzt noch keine Antwort erfolgt, woraus 
zu ersehen ist, wie schwer es den Behörden und Verwaltungen oft 
fällt, sich zu der Höhe des neuen Fürsurgegesetzes zu erheben. 


Die Grundvoraussetzung für die Durchführung der Gesetzes- 
bestimmungen ist die innige Zusammenarbeit zwischen Arzt und 
Lehrer. Das Gebiet ihrer gemeinsamen Begegnung und wechsel- 
seitigen Klärung ist die soziale Heilpädagogik. In der Heilpädagogik 
ist es vor allem der Psychiater gewesen, von dem der Erzieher 
gelernt hat, seine Fachprobleme an den organisch bedingten Ausnahme- 
erscheinungen des seelischen Lebens zu vertiefen und zu schärfen. 
Die Krüppelheilpädagogik insbesondere lernte vom Orthopäden die 


Die Idee der krüppelpädagogischen Bewegung. 99 


Arbeitstherapie würdigen. Damit sind die abstrakten Auffassungen, 
die der wissenschaftlichen Kritik immer wieder Angriffsflächen bieten, 
überwunden. Wir haben immer ganz bestimmte, aus Arbeit und 
Erfahrungen zusammengewachsene Sonderaufgaben vor uns. So 
sprechen wir in unserer Krüppelpsychologie heute nicht mehr vom 
Willen an sich, grenzen ihn nicht als besondere Funktion gegen das 
Physiologische ab, sondern stellen uns die Frage: Wie läßt sich die 
Muskelspannung so dosieren, daß elastische Arbeitsfähigkeit beim 
Hämmern, Bohren, Korbflechten usw. entsteht? Wie lassen sich in 
unserer orthopädischen Handübungsklasse Übungen anordnen und mit 
Interesse und Freude beseelen, so daß Finger und Gelenke geschmeidig 
werden? Wie läßt sich die Unbefangenheit und Unmittelbarkeit des 
Spieles für die Geschmeidigung der Muskel und Durchfreudigung des 
Arbeitswillens aufschließen? In der für den Ausgleich der Krüppel- 
spannungen unbedingt notwendigen ästhetischen Erziehung wenden 
wir uns nicht mit Worten an einen Schönheitsdrang der Krüppelseele, 
sondern wir beschäftigen seine Sinne und Muskeln durch schönbeitliche 
Ausgestaltung der Schulräume und durch Qualitätsarbeit. 

Das gleiche Verfahren der Beanspruchung des ganzen Menschen 
wählen wir in der richtigen Verknüpfung von Gemeinschaft und Ge- 
sellschaft, von Liebe und Recht, von organischer und schematischer 
Regelung im Heimleben. Wir zielen nicht auf gemeinsame Stimmungen, 
wollen nicht geheimnisvolle Gemütsvorgänge erzeugen, sondern stützen 
uns auf die seelenverknüpfende Macht gemeinsamer Stoffbewältigung 
durch die Arbeit. Die Pflichtgruppen, die so entstehen, ergänzen wir 
durch Neigungsgruppen. Die notwendigen zwanghaften Momente der 
Anstaltsordnung ergänzen wir dadurch, daß wir unsere Krüppel zur 
Selbstverantwortung, zur Selbstgesetzgebung in von ihnen selbst ge- 
bildeten und geleiteten Gruppen anregen. Die Höhepunkte des auf 
dieser Grundlage erblühenden Gemeinschaftslebens bilden Feste künst- 
lerischen Gepräges, die alle schöpferischen Kräfte der Gebrechlichen 
lockern und kräftigen. Ein Beispiel dafür bot unser vorjähriges 
Sommerfest: Das Mittelalter. Unser kleines Krüppelreich stellte frei- 
willig die Architekten, die das Gelände für das bunte Volksfest 
absteckten, andere Krüppel vertieften sich in die Kulturgeschichte 
und entwarfen die für den Festzug erforderlichen Kostüme und 
Dekorationen. Das Haustheater schulte sich für Hans Sachsspiele. 
Die Hauskapelle übte mittelalterliche Minnelieder ein. Der Künstler- 
verein sorgte für Krieger, Ritter, Herolde, Narren, Büttel. Der Bastler- 
verein errichtete Jahrmarktsbuden mit selbstverfertigten Erzeugnissen 
und sorgte für die nötigen Verkäufer. 


100 H. Würtz: 


Durch derartige Veranstaltungen wirken wir darauf hin, kleine 
und große Aufgaben zu ersinnen, die Interesse und Pflicht, Seele 
und Sachlichkeit in ihrer Bewältigung zusammenführen. Stets ist 
unser Augenmerk darauf gerichtet, das so gewonnene innerliche 
Leben mit den organisatorischen Notwendigkeiten organisch zu ver- 
knüpfen. Schon die Orthopädie trat unter Führung von Professor 
Biesalski mit bestimmten organisatorischen Richtlinien an Staat und 
Gemeinde heran, um die gesamten Kräfte der Krüppelfürsorge zusammen- 
zufassen. Durch das heilpädagogische Moment der Krüppelerziehung 
wurde auch die Krüppelschule diesen Richtlinien gemäß ausgebaut. 
Jeder Schematisierung des organischen Prinzips wurde vorgebeugt 
durch die gemeinsame Zielsetzung der möglichsten Unabhängigmachung 
des Krüppels von fremder Hilfe, durch das Ziel, aus dem hilflosen, 
ohnmächtigen Almosenempfänger einen selbständigen, selbstbewußten 
Steuerzahler zu machen. So greifen in der Krüppelfürsorge wie Leib 
und Seele, Gemeinschaft und Gesellschaft, auch Organisation und 
Freiheit harmonisch ineinander. Wesentliche Vorbedingung für dieses 
Zusammenwirken der Kräfte ist hier wie überall in der Heilpädagogik 
die richtige Verteilung von Material und Personal. Aber auch die 
Krüppel selbst, denen alles zu dienen hat, müssen nach Art und Um- 
fang ihres Gebrechens organisatorisch verteilt werden. Das Krüppel- 
fürsorgegesetz unterscheidet entschiedene und minder ausgeprägte 
Krüppel, Sieche und Unheilbare, Krüppelpsychopathen, Ohnhänder, 
Fürsorgekrüppel, Krüppelidioten, an Knochen- und Gelenktuberkulose 
erkrankte Gebrechliche und schlägt vor, die Aufnahme der einzelnen 
Arten des Krüppeltums zu spezifizieren. So ist zum Beispiel jetzt 
schon das Oskar Helene-Heim die Sammelstelle für Ohnhänder. Jedes 
Krüppelheim soll besondere Abteilungen als Sammelstelle für bestimmte 
Arten von Krüppelgebrechen einrichten. Auch die offene Krüppel- 
fürsorge — die ambulante Behandlung der Krüppel, die Organisation 
der Krüppelfürsorgestellen sind im Gesetz geregelt. 

Zur gesamten Heilpädagogik und damit zur Krüppelheilpädagogik 
gehört auch die soziale Tätigkeit der Aufklärung. Die Öffentlichkeit 
ist zum Verständnis der Maßnahmen des Gesetzes zu erziehen. Diesem 
Zweck dienen Ausstellungen, Kongresse, Fortbildungskurse, Vorträge, 
eine besondere Fachzeitschrift für Krüppelfürsorge!) und gelegentliche 
Hinweise auf die Ursachen und Vorbeugungsmöglichkeiten in Tages- 
presse und den Zeitschriften der Grenzgebiete. Wäre es nicht auch 


') Zeitschrift für Krüppelfürsorge, Organ der deutschen Vereinigung für Krüppel- 
fürsorge herausgegeben von Prof. Dr. Konrad Biesalski und Hans Würtz. 


Die Idee der krüppelpädagogischen Bewegung. 101 


sehr empfehlenswert, wenn diese Zeitschriften in noch innigeren Aus- 
tausch treten würden als bisher? | 

Lehrreich ist es also, daß der Gesetzgeber erkannt hat, daß ein 
Gesetz, das im Fatum stecken bleibt, so wohlwollend es auch aus- 
gebaut werde, doch ein Krüppel bleibt. 

Ein gesundes Gesetz darf nicht nur auf gegebene Notstände blicken, 
es muß auch auf praktische Vorbeugung und vorgreifende Aufklärung 
bedacht sein. 

Darum widmen die Ausführungsbestimmungen der Prophylaxe 
einen besonderen Abschnitt. 

In der Forderung der Aufklärung gibt sich das Gesetz eine heil- 
same Selbstsperrvorrichtung. Eine Gefahr selbst der besten Gesetze 
liegt in der hemmungslosen Abriegelung der gegebenen Vorschriften. 
Man folgert die Anordnungen wie Prämissen aus, man deduziert und 
vergiftet das stets wieder geforderte Neuaufnehmen der Erfahrung. 
Das Wissen, das in einem Gesetze zur Anordnung kommt, muß sich 
in der Praxis mehren können. Es muß nicht nur Aufklärung fordern, 
sondern sich selbst weiter aufklären. Darum zieht das Gesetz auch 
die freiwillige Liebestätigkeit mit ihrer besonderen Arbeitserfahrung 
heran, um sie mit den Land- und Stadtkreisen zusammen zu schließen. 
Die freiquellende Liebe ist nicht nur besonders opferfreudig, sondern 
oft auch besonders hellsichtig. 

Wie wirkt sich nun das Krüppelfürsorgegesetz in den Krüppel- 
heimen praktisch aus: 

In den Zeiten des Bettelkrüppeltums war eine Fahrt ins Krüppel- 
tum, eine Fahrt ins Infernum. Sieche, Vagabunden, Idioten, Ver- 
brecher und Krüppel lagen bunt durcheinander vor den Kirchentüren, 
in den Armenhäusern, auf der Landstraße. 

In den Zeiten des Schonungsmitleides erschien die Krüppelwelt 
als ein tränenreiches Purgatorio. 

Ein heutiges Krüppelheim dagegen ist gleichsam ein Paradies 
der Arbeitsfreude und Lebenszuversicht. | 

Es wiederholt sich die Emporentfaltung der göttlichen Komödie 
Dantes auch insofern, als das feinere Ineinanderspielen der Gemein- 
schaftsbeziehungen die aufsteigende Lebenslinie bezeichnet. 

Das Krüppelheim ist kein düsteres Krankenhaus mehr, nicht eine 
herbe Armutsschule. Es ist ein blühender Garten. Die Waldschule 
ist durchraunt von allen deutschen Märchen. Planschwiese, Buddel- 
plätze sind voller Kinderjubel. Bewegungsspiele im Freien setzen den 
kleinen Helden oder die kleine Elfe und Nixe im Krüppelkinde frei. 
Gartenbeete sind durchstrahlt von der Poesie der Naturliebe. Sonnen- 


102 H. Würtz: Die Idee der krüppelpädagogischen Bewegung. 


bäder und Liegehallen geben Heilslicht in Nerven und Adern. 
Glückliche Augen sind Sonnen, die Vertrauen und Kameradschaft aus- 
strahlen. Sonne nehmen, Sonne geben, ist heute das Krüppelevangelium. 
Sonnenmenschen werden die Helfer und Erzieher, weil sie in so viel 
seelenvolles Freudenlicht tauchen. 

Wie überall entspringt die gesunde Mannigfaltigkeit einer ein- 
fachen Grundbeziehung. Wie sich der Reichtum der Sternkonstellaton 
aus der einfachen Beziehung auf das Gravitationsgesetz ergibt, 
so ergliedert sich die reiche Fülle des Krüppelheimlebens aus der 
einfachen Einstellung auf das Ziel der sozialen Ertüchtigung. 

Das Spiel schafft neue Unbefangenheiten, neue Unniittelbarkeiten 
und dadurch elastische geordnete Muskelbewegungen. Die Schule 
erzeugt eine geschmeidigere Aufmerksamkeit und Sinnengriffigkeit 
und dadurch auch sichere zugreifende Hände. Die Werkstätten 
mit ihrer bunten Mannigfaltigkeit spenden dem Unterricht anschauliche 
Zielsetzungen. So paßt sich unter der Leitung der Orthopäden und 
der Pädagogen alles einander ein. Alles dient der Arbeit. 

Aus solcher arbeitsfreudigen Willensregsamkeit, Geisteshelle und 
Seelenwärme ist letzthin das Krüppelfürsorgegesetz geboren. 

Dem Gesetzgeber stand das Krüppelheim in seiner freudevollen 
Totalität vor Augen, und daher konnte er in gesetzgeberische Be- 
griffe fassen, was für die Krüppel notwendig ist. 

Alle die zärtlichen und gütigen Augen, die in der Krüppelanstalt 
auf das gebrechliche Kind blicken, schauen uns aus dem Gesetz ent- 
gegen, in dem so fühlbar ein Mutterherz geht und das mit so festem 
Vaterernst die Gebrechlichen an die Hand nimnit. 

Bei der Veranlagung des deutschen Volkes ist zu erwarten, daß 
trotz Versailles einmal das gesamte deutsche Gesetzbuch die Ehe der 
Charitas und der Virtus, die Ehe der Pflegeliebe und des Tüchtigkeits- 
willens als das Grundgesetz alles sittlichen und rechtlichen Führens 
und Ordnens offenbart. Dann wird das neue Krüppelfürsorgegesetz 
als das erste Morgenrot der Zeit gefeiert werden, wegen deren Er- 
füllungsfreude sich alle Übergangstragik unserer Kämpfe lohnt. 


Aus der Dermatologischen Abteilung des Rudolf Virchow -Krankenhauses in Berlin. 
(Ding. Arzt: Prof. A. Buschke.) 


Die erworbenen Geschlechtskrankheiten der Kinder, 
ihre Ursachen und ihre Bekämpfung.') 


Von 
Dr. Martin Gumpert, Assistenzarzt. 


Wir haben uns immer wieder gefragt, ob nicht vielleicht die von 
uns beobachtete Häufung eı worbener Geschlechtskrankheiten bei Kindern 
das Produkt des Zufalls sein könne oder das Ergebnis bestimmter ört- 


1) Referat, gehalten in der Sitzung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für 
jugendliche Psychopathen vom 27. XI 1924. 


Hierzu waren eingeladen resp. erschienen: 


Reichsminısterium des Innern, vertreten durch Geheimen Ober Reg.-Rat Dr. Hamel 
und Reg.-Rat Dr. Wiedel. Reichsgesundheitsamt, vertreten durch Geheimen Reg.-Rat 
Dr. Bogusat, Preußisches Ministerium für Volkswohlfahrt, vertreten durch Medizinalrat 
Dr. Schopohl. Gesundheitsamt der Stadt Berlin, vertreten durch Dr. Streblow. 
Jugendamt der Stadt Berlin —. Polizeipräsidium Berlin, vertreten durch Fräulein 
M. Dittmer. Städtisches Amt für Wohnungsfürsorge —. Deutsche Gesellschaft zur 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten —. Gesellschaft für Bodenreform —. Sozial- 
politischer Ausschuß der Berliner Medizinischen Gesellschaft —. Verein für Schul- 
gesundheitsptlege, vertreten durch Dr. Harms. Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin- 
Ost, vertreten durch Fräulein L. Goebel. Jugendgericht Berlin-Mitte. vertreten durch 
Amtsgerichtsrat Francke. Allgemeine Ortskrankenkasse der Stadt Berlin —. Rudolf 
Virchow-Krankenhaus. vertreten durch Prof. Dr. Buschke, Oberarzt Dr. Krieger, 
Oberarzt Dr. Langer. Psychiatrische Klinik der Charite. vertreten durch Prof. Dr. 
F. Kramer. Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, vertreten 
durch Fräulein R. v. der Leyen, Fräulein L. Nohl, Frau Clara Neumann. Frau 
Dr. Gumpert-Blaschko. 


Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Pyschopathen E. V. hatte 
auf Anregung des Vortragenden und nach den erforderlichen Vorbesprechungen die 
Initiative zu dieser Besprechung ergriffen in dem Bewußtsein, daß die Probleme der 
Fürsorge für Kinder mit erworbenen Geschlechtskrankheiten nicht nur durch hygienische 
— im weitesten Sinne volkswirtschaftliche Reformen (Wohnungs- und Bodenreform) — 
zu lösen seien, sondern daß die sozialpädagogischen und sozialfürsorgerischen Probleme 
mit in den Kreis der Betrachtungen einbezogen werden müssen. 


104 M. Gunpert: 


licher Verhältnisse, die kein allgemeines und öffentliches Interesse be- 
anspruchen dürfen. Aber unser von Monat zu Monat sich häufendes 
Material überzeugt uns stets von neuem, daß es sich nicht um ver- 
einzelte Fälle handelt, sondern um den unheilvollen Ausdruck einer 
sozialen Situation, deren Gefährlichkeit mit allen Mitteln bekämpft 
werden muß. Es ist gewiß nicht zu bestreiten, daß z. B. die große 
Zahl der gonorrhöekranken kleinen Mädchen, deren Behandlung eines 
der schwierigsten therapeutischen Probleme der Venerologie darstellt, 
stellenweise bereits einige besondere Maßnahmen ins Leben gerufen 
hat. aber unsere Erfahrungen scheinen zu beweisen, daß diese Maß- 
nahmen völlig unzureichend sind. Das Erstaunen der nicht dermato- 
logisch tätigen Ärzte, die wir auf den Umfang und die traurigen 
Einzelheiten unseres Materials aufmerksam machen, die fast völlige 
Unkenntnis über das Vorkommen, den Verlauf und die Behandlung 
von Geschlechtskrankheiten bei Kindern in den Kreisen der Wohlfahrt 
und Fürsorge, von der wir uns fast täglich überzeugen müssen, ganz 
zu schweigen von der Verständnislosigkeit der Angehörigen, das Ge- 


Wie aus dem Referat des Vortragenden hervorging, handelt es sich bei diesem 
Material vorwiegend um solche Kinder, bei denen die Erwerbung der Geschlechts- 
krankheit mit ermöglicht wurde durch ungünstige Umgebung (Anhäufung zu vieler 
Personen in wenigen Räumen, keine Trennung von Erwachsenen und Kindern, von 
Schlafburschen und Kindern. enges Beieinandersein von Stiefvater und Kindern, von 
Geschwistern beiderlei Geschlechts). Wie weit die Einwirkung dieser Umgebung noch 
verstärkt wird durch eine mangelnde erzieherische Befähigung der Eltern oder sonstiger 
Erzieher (Pflegeeltern), kann noch nicht mit genügender Sicherheit gesagt werden. 
Es muß indessen auf die Ähnlichkeit dieses Materials in bezug auf Umwelt- und Er- 
ziehungsschäden mit dem Material der kindlichen und jugendlichen Zeugen in Sexual- 
prozessen hingewiesen werden. 

Zum zweiten scheint nach den bisher vorliegenden Beobachtungen, die insbesondere 
durch Professor Kramer bestätigt wurden, es sich bei Mädchen mit erworbenen 
(ieschlechtskrankheiten häufig um Kinder zu handeln, die sexuell besonders leicht an- 
sprechbar sind — Die Kinder mit erworbenen Geschlechtskrankheiten erscheinen also 
durch Umgebung und Anlage besonders gefährdet. Somit muß dieses Problem, gleich- 
wertig mit den Betrachtungen von Arzt und Gesundheitsfürsorger, auch durch den 
Pädagogen. und hier wiederum speziell den Heilpädagogen, gesehen und in die Hand 
senommen werden. 

Die zweite Problemstellung dieser Besprechung war, daß eine Stelle die Initiative 
ergreifen muß, um die Erfahrungen aller Stellen, die in der Spezialfürsorge an Kindern 
und Jugendlichen mit erworbenen Geschlechtskrankheiten ssemacht werden, zu sammeln, 
zur Wohlfahrt dieser Kinder auszuarbeiten, und die praktischen Maßnahmen durch- 
zuführen. 

Endlich wurde gezeigt. daß sich in diesem Einzelgebiet Aufgaben der Sozial- 
wirtschaft, der Sozialpädagogik und der Sozialfürsorge treffen, und daß es notwendig 
ist. die Hilfsmöglichkeiten. die allen diesen Arbeitskreisen der Jugendwohlfahrt ge- 
hören. zur Fürsorge für die Kinder nutzbar zu machen. 


Die erworbenen Geschlechtskrankheiten der Kinder usw. 105 


fühl beschämender Hilflosigkeit infolge mangelnden gesetzlichen und 
sozialen Schutzes, dies alles hat uns veranlaßt, die Diskussion über diese 
Fragen zu eröffnen. Soll sie zu praktischen Ergebnissen führen, dann 
muß sie, aus dem Bereich eines zu engen, rein ärztlichen Gesichts- 
kreises herausgetragen, alle die mit umfassen, die aus pädagogischen, 
sozialpolitischen oder rein menschlichen Gründen eingreifen und mit- 
helfen wollen. Nur auf der breiteren Basis nicht nur medizinisch- 
therapeutischer, sondern auch sozial-therapeutischer Fragestellungen 
wird unser Problem der Lösung näher gebracht. Wir haben von An- 
fang an zu erkennen gegeben, für wie schwierig wir das halten. Be- 
wußt aufdringlich bitten wir nun in kurzer Zeit zum drittenmal!) um 
Gehör in dieser Sache, in der Hoffnung, damit den Anstoß zu tat- 
kräftigem Handeln zu geben. 

Ich will zunächst eine Auswahl der auf unserer Abteilung im 
Laufe dieses Jahres zur Beobachtung gelangten Fälle kurz mitteilen, 
weil ich glaube, Ihnen so am schnellsten einen Einblick in die Eigen- 
art dieser Krankheiten vermitteln zu können. 


1. Elisabeth G., 13 Jahre. Vater Arbeiter, keine Geschwister. Familie bewohnt 
ein Zimmer. Patientin ist angeblich von einem Ladeninhaber ihrer Gegend, von dem 
sie öfters Geschenke erhalten hat. vergewaltigt worden. 

2. L. L., 7jährig. Vater tot. zweı Brüder, eine 13 jährige Schwester, mit der sie 
zusammenschläft. Familie bewohnt eine Stube und Küche. Die Stube ist vermietet. 
der Untermieter hat das Kind mißbraucht und angesteckt 

3. Erna J., 10 Jahre. Mutter geschieden, lebt mit einem andern Mann zu- 
sammen, arbeitslos Familie bewohnt eine Stube. 8jährige Schwester, mit der sie 
zusammenschläft. Patientin ist vom „Onkel“, der im Hause lebt, mißbraucht und an- 
gesteckt worden. 

4. Erna F., 11 Jahre. Vater Arbeiter. 17jähriger Bruder. Familie bewohnt 
eine Stube und Küche. Freund des Bruders hat das Kind vor 10 Tagen vergewaltigt. 
Patientin verkehrt geschlechtlich mit dem Bruder, der Bruder mit der Mutter. 

5. Lotte R., 9 Jahre. Vater tot, Geschwister leben nicht im Hause; eine Stube 
und Küche. Patientin ist von 48jährigem Untermieter monatelang mißbraucht und 
infiziert worden. 

6. Cäcilie S.. 12 Jahre. Vater tot. Patientin ist wegen mangelnder häuslicher 
Pflege vom Fürsorgeamt in Pflege gegeben worden Der Pflegevater, 45 Jahre, hat 
das Kind vergewaltigt. 

7. Hilde G., 11 Jahre. Vater arbeitslos, vier Geschwister, Familie bewohnt 
eine Stube, Mutter hat sich vor 2 Jahren vom Manne angesteckt. Ihre vier Kinder, 
die ın einem Bett, zwei am Kopf-, zwei am Fußende schlafen, sind infiziert. 

8. Erwin B, 14 Jahre, hat seit etwa 3 Wochen ungefähr 15 mal mit einem 
50jährigen Manne, den er in einer Rotunde kennengelernt hat, per os verkehrt. 
Nach jedem Akt erhielt er 50 Pf. An Ober- und Unterlippe Erosionen, zur Beob- 
achtung überwiesen. 


t) Vgl. Deutsche med. Wochenschrift 1924, Nr. 7. Nr, 47. 


106 M. Gumpert: 


9. Hans S., 10 Jahre, Gonorrhöe. Aus dem Bericht der Schulärztin geht her- 
vor: Vater Rohrleger, hat immer verdient, gibt zu Hause wenig Geld ab. Mutter 
vor 14 Tagen an Tuberkulose gestorben. 8 Kinder, von denen mehrere arbeiten, 
teilweise erschreckend elend. Bei 2 Mädchen (14 und 8 Jahre) ebenfalls positiver 
sonokokkenbefund. Die ganze Familie geht in Lumpen und ist verlaust; sie wohnt 
in einer Laube, die aus Schlafraum und Küche besteht. 2 Betten, 1 Kinderdrahtbett, 
ohne jede Bezüge. In dıesen drei Betten schlafen 9—10 Personen, darunter bisher die 
tuberkulosekranke Mutter und die drei gonorrhöekranken Kinder. 


10. Erika L., 1 Jahr, wird von den Eltern wegen eines Hautausschlages vor- 
gestellt. Syphilitische Erscheinungen am After. Die Eltern bleiben mit dem Kind 
fort. Offenbar fürchtet der Vater das Bekanntwerden seiner eigenen Erkrankung. 


11. Else R., 13 Jahre, drei Schwestern, drei Brüder. Familie bewohnt zwei 
Stuben. Patientin hat sich angeblich in der Schule durch eine Freundin angesteckt. 
Sie hat den 11 jährigen Bruder infiziert, der gleichfalls manifeste syphilitische Er- 
scheinungen zeigt. 

12. Hans S., 13 Jahre, Gonorrhöe. Bei Verwandten in einer kleinen mecklen- 
burgischen Stadt, teilten ihm Spielkameraden mit, daß sie alle zu einem 15jährigen 
Mädchen gingen, um mit ihr gegen ein Entgelt von 20 Pf. zu verkehren. Es stellte 
sich heraus, daß die Infektionsträgerin die Tante des Knaben war. 


Im ganzen haben wir im Laufe dieses Jahres etwa 50 Krankheits- 
fälle dieser Art beobachtet, die auf Vergewaltigung, Incest, Familien- 
infektion oder Verkehr von Kindern untereinander zurückzuführen 
sind. Daß sich das Vorkommen von Familienendemien nicht nur auf 
Berlin beschränkt, geht aus den aus den letzten Jahren herrührenden 
Berichten von Werther, Gerber, Riecke und Hoernicke, Voigt 
hervor. Schönfeld-Greifswald hat im Anschluß an unsere erste 
Publikation mehrere Fälle von Geschlechtsverkehr von Kindern unter- 
einander mitgeteilt. 

Als Geschlechtskrankheiten der Kinder sind also in erster Linie 
Syphilis und Gonorrhöe zu betrachten, während das Ulcus molle, der 
weiche Schanker, bei den Kindern zu den großen Seltenheiten gehört. 

Der klinische Verlauf der kindlichen erworbenen Syphilis unter- 
scheidet sich im allgemeinen in nichts von der Syphilis der Erwachsenen. 
Die Entwicklung des Primäraffekts, der Drüsenschwellungen, das Er- 
scheinen der sekundären Symptome, der Haarausfall, die Hauterschei- 
nungen nehmen den üblichen Verlauf. Über das Schicksal der Kinder 
in späteren Jahren, das Verhalten des Nervensystems, das Vorkommen 
von Tabes und Paralyse können wir nach unseren Erfahrungen nichts 
Abschließendes sagen, da zum großen Teil der Zeitpunkt der Infektion 
erst kurze Zeit zurückliegt, andererseits für eine exakte Nachunter- 
suchung und Weiterverfolgung des Krankheitsverlaufes die hierzu nötige 
Organisation und die gesetzlichen Grundlagen, ohne die sie nicht durch- 
zuführen wäre, fehlen. 


Die erworbenen Geschlechtskrankheiten der Kinder usw. 107 


Auch die Behandlung entspricht der der Erwachsenen, nur ist die 
Dosierung der Medikamente, der Toleranz des kindlichen Organismus 
entsprechend, herabgemindert. Die Gonorrhöe der Knaben verläuft 
gleichfalls wie die der erwachsenen Männer. Komplikationen sind 
seltener, aber. wie wir neuerdings bei einem zwölfjährigen Knaben 
festgestellt haben, kommt es auch mitunter zu einem Mitbefallensein 
der Adnexorgane, der Prostata und Samenblasen. 

Die Gonorrhöe der kleinen Mädchen jedoch unterscheidet sich in 
ihrem Ablauf wesentlich von der Gonorrhöe der Frauen. Neben der 
Harnröhre sind regelmäßig Vulva und Scheide mitbefallen. Die kind- 
liche Scheide ist im Gegensatz zur Scheide Erwachsener mit Schleim- 
haut ausgekleidet, die einen äußerst günstigen und schwer zu be- 
einflussenden Nährboden für die Gonokokken bildet. Überaus häufig 
ist aus topographischen Gründen auch die Schleimhaut des Mastdarms 
miterkrankt. Ich will auf die zahlreichen, zum großen Teil noch 
strittigen Fragen der Pathologie der kindlichen Gonorrhöe hier nicht. 
näher eingehen, sondern nur feststellen, daß sie zu ihrer endgültigen 
Heilung außerordentlich langer Zeit bedarf. Immer wieder, selbst nach 
monatelanger Behandlung und mit den sorgfältigsten Kautelen fest- 
gestellter scheinbarer Heilung, kommt es zu Rezidiven und diese unglück- 
lichen Kinder sind oft jahrelange Insassen der Krankenhäuser, eine 
ständige Gefahr für ihre Umgebung, völlig aus der Bahn ihrer nor- 
malen Entwicklung geworfen. 

Welches sind nun die eigentlichen Gründe, die Schuldmomente, 
die zu einer geschlechtlichen Erkrankung von Kindern führen, d. h. 
auf Grund welcher geistigen Haltung oder sozialen Situation geschieht 
die Übertragung der Krankheit? 

Im geschlechtlichen Verkehr zwischen Kind und Erwachsenen 
wird man wohl fast immer, wenn auch nicht ausschließlich, den Er- 
wachsenen als den aktiven Partner anzusehen haben. Über den der 
Pädophilie, der sexuellen Hinneigung zu Kindern zugrunde liegenden 
sexuellen Infantilismus ist in letzter Zeit von psychiatrischer Seite 
vielfach gearbeitet worden. Zweifellos spielt in den Fällen von Ver- 
gewaltigung krankhafte Veranlagung der Täter die wesentliche Rolle. 
Daß die Zahl dieser abnorm Veranlagten in letzter Zeit eine Steigerung 
erfahren habe, möchte ich nicht behaupten. Sicher ist nur, daß die 
gegenwärtigen Zeitumstände, die Statuierung einer höchst schwankenden, 
unsicheren und wechselnden „öffentlichen Moral“, das enge Beieinander- 
wohnen, der labile individuelle und allgemeine Geisteszustand den 
Weg zum straffälligen Delikt gefährlich ebnen. Kurz hindeuten möchte 


108 M. Gumpert: 


ich in diesem Zusammenhang auf die Erkrankungen auf Grund homo- 
sexuellen Verkehrs. 

Nicht immer wird diesen Delikten eine ausgesprochen krankhafte 
Veranlagung zugrunde liegen. Es ist ja überaus schwer, auf dem 
‚Gebiet des Sexuellen eine einwandfreie Norm zu finden. Nirgends 
wie hier sind die Begriffe relativ und die Wissenschaften der Ethno- 
logie, der Folklore, der Historik belehren uns über die merkwürdigsten 
und unwahrscheinlichsten Fakten. Zweifellos gibt es neben der offi- 
ziellen, gesetzlich festgelegten Regelung der sittlichen Beziehungen 
des Menschen ein ungeschriebenes, im kollektiven Denken der Masse 
wurzelndes, alogisches, aber nicht minder wirkendes Gesetz der ver- 
schiedenen sozialen Klassen und Völker, dessen Quellen bisher noch 
unergründet im Dunkeln liegen. 

Neben der sexuell abnormen Veranlagung des Erwachsenen kommt 
in Frage eine abnorme sexuelle Entwicklung des Kindes. An der 
Existenz einer kindlichen Sexualität wird heute wohl niemand mehr 
zweifeln. Freud hat davon gesprochen, daß das Kind polymorph 
pervers sei, d. h. es lebt sexuell richtungslos und vielfältig, Uns 
interessieren im Rahmen unserer Betrachtung nicht nur die bereits 
eindeutig sexuell festgelegten Kinder, die es zweifellos gibt, die ein- 
wandfreien Psychopathen, die starken oder frühreifen Individualitäten 
Von ungeheurer Wichtigkeit ist der allgemeine Zustand der jugend- 
lichen Seele in der Pubertät oder Vorpubertät, die Sexualpsychologie 
des Durchschnittskindes, von dem wir ja fast überhaupt nichts wissen, 
weil seine seelische Bewegtheit, sein Innenleben sich keinen Ausdruck 
verschaffen kann. Jedes Kind ist eigentlich dem Erwachsenen gegen- 
über, streng genommen, ein Psychopath, es lebt in einer dauernden 
Gleichgewichtsstörung seines seelischen Zustandes, es „leidet“ bewußt 
oder unbewußt unter der Umwälzung und Bildung seiner Persönlich- 
keit; darin liegt seine Überlegenheit und seine Schwäche gegenüber 
dem Alter. Ich spreche diese vielleicht etwas abschweifenden Gedanken 
aus, weil ich erklären möchte, daß wir weit entfernt davon sind, den 
Mechanismus der kindlichen Sexualität zu verstehen, Erscheinungen 
etwa wie die Prostituierung eines l4jährigen Mädchens oder die Aus- 
bildung eines regelrechten Geschlechtsverkehrs unter den durchaus 
„normalen“ Kindern irgendeiner ländlichen Gegend, ganz zu schweigen 
von den dunklen und seltsamen erotischen Kindheitserlebnissen, die 
fast in jedes Menschen Erinnerung geheimnisvoll fortleben und von 
Dichtern und Psychologen oft und meisterhaft geschildert sind. Hier 
ist immer noch Neuland und ein unendlich wichtiges Gebiet für den 
verständnisvollen Erzieher. 


Die erworbenen Greschlechtskrankheiten der Kinder usw. 109 


Drittens nun sind es die Einflüsse einer ungünstigen Umgebung, 
die die geschlechtliche Ansteckung der Kinder begünstigen und vor 
allem die Entstehung von Familienendemien verschulden. Hier ist 
das zentrale Problem die Wohnungsnot. Solange in einer Stadt wie 
Berlin hunderttausende Familien nur einen einzigen Raum bewohnen, 
oft mehr als 14 Menschen in einem Käfig, solange Hunderttausende 
von Menschen kein eigenes Bett haben, sondern ihr Lager mit zwei 
oder drei anderen teilen müssen, Gesunde und Kranke, Männer und 
Frauen, Kinder und Erwachsene untereinander, solange werden die 
“eschlechtskrankheiten die Gesundheit des Volkes verheeren. In einer 
großen Anzahl unserer Fälle ist der Zusammenhang zwischen der 
Enge und Dürftigkeit des Heims und der Infektion direkt nachweisbar. 
Mehrfach war es der Zwangsmieter, der Zimmerherr, der das Kind 
mißbraucht hat. Absonderung Kranker, Krankenbehandlung, Erfüllung 
primitivster hygienischer Maßnahmen sind in diesen Räumen unmög- 
lich. Und man stelle sich das maßlose und demütigende Elend dieser 
Behausungen vor, um alles andere zu verstehen, was die Jugend eines 
Kindes vergiftet und die Quellen der Infektion’ bildet, die bedrückende 
Armut, den erstickenden Schmutz, die Unwissenheit, die mangelnde 
Erziehung, die Gleichgültigkeit gegen alles Elend der Welt. 

Schließlich ist noch eine Ansteckungsquelle zu erwähnen, die auch 
die sozial Bessergestellten heimsucht, die Infektion durch Haus- 
angestellte, bei denen der Prozentsatz der Geschlechtskrankheiten er- 
fahrungsgemäß ein sehr hoher ist. Sie entspringt der üblen Gewohn- 
heit, die Kinder fremden Menschen anzuvertrauen, über deren Ge- 
sundheitszustand man sich nicht unterrichtet. Zuletzt seien noch die 
häufigen und ausgedehnten Endemien in Heimen, Anstalten, Schulen 
Krankenhäusern genannt, die teils von dem außerhalb jeder gesundheit- 
lichen Kontrolle stehenden Personal ausgehen, teils von neu auf- 
genommenen Kindern, die nicht untersucht worden sind. Schreus 
konnte kürzlich nachweisen, daß in einem rheinischen Waisenhaus 
330/, der Kinder an erworbener Syphilis erkrankt waren. 

Die Geschlechtskrankheiten der Kinder schädigen in schlimmster 
Weise die Persönlichkeit des Kindes. Über die Bedeutung der körper- 
lichen Schäden ist wohl nicht viel zu sagen. Eine so schwere chronische 
Infektion wie die Syphilis, von so heimtückischem Charakter und un- 
gewissem Verlauf, mit einer so eingreifenden und nicht ungefährlichen 
Therapie, wie sie die Natur der Erkrankung fordert, bildet in jeder 
Phase eine Bedrohung des Organismus und natürlich vor allem des 
noch in der Entwicklung begriffenen jugendlichen Körpers. Und ebenso 
ist nach unserer Ansicht die Gonorrhöe eine Erkrankung. deren Mani- 

Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 8 


110 M. Gumpert: 


festationen und deren Bedeutung für den Gesamtorganismus zwar nicht 
so, handgreiflich sind wie bei der Lues, aber doch zweifellos bestehen. 

Weniger hingewiesen wurde bisher auf dis schweren psychischen 
Schäden, die den Kindern direkt und indirekt durch die Geschlechts- 
krankheiten zugefügt werden. Hierher gehört die monatelange Ent- 
fernung aus der Familie und aus der Schule, die völlige Unterbrechung 
des Erziehungswerkes, die Schaffung eines Ausnahmezustandes, unter 
dem das Kind leben muß, ohne daß es sich eigentlich krank fühlt. In 
vielen Fällen lastet bereits das Odium der Geschlechtskrankheit auf 
dem Kinde, das auch heute noch immer nicht aus der Welt geschafft ist. 
Der lange Aufenthalt im Krankenhaus, häufig in einem Saal mit Er- 
wachsenen und in ständiger Berührung mit Menschen, deren Einfluß 
höchst unheilvoll ist, die nicht immer sehr verständnisvolle Behandlung 
durch ein in der Erziehung von Kindern ungeschultes Pflegepersonal, 
häufig die Aufregungen und der Schmutz gerichtlicher Verhandlungen 
und Untersuchungen, die dauernde Hinlenkung auf die Genitalsphäre 
durch Untersuchung und Behandlung, die in vielen Fällen von ver- 
hängnisvoller Bedeutung für die spätere sexuelle Entwicklung sein 
wird, das alles sind Elemente, die sich in vielen Fällen zu einem 
schweren psychischen Trauma verdichten müssen. 

Nicht minder schwer als die individuellen Schäden sind die sozialen 
Schäden, die der Volksgemeinschaft aus den Geschlechtskrankheiten der 
Kinder erwachsen. Wenn man z. B. die kindliche Gonorrhöe be- 
trachtet, die eine monate- und jahrelange klinische Behandlung und 
Beobachtung erfordert, so ergibt sich zwangsläufig als Resultat eines 
einfachen Rechenexempels, wieviel wirtschaftlicher eine gut organisierte 
Fürsorge und Prophylaxe für den Staat sein würde als die ungeheuren 
Ausgaben, die heute die ungehemmte und verborgene Ausbreitung 
der Gieschlechtskrankheiten unter den Kindern schließlich doch erfordert. 
Noch schwerwiegender als die rein materiellen Lasten, die der Gemein- 
schaft erwachsen, sind die Folgen für die Gesundheit des Volkes. Ich 
will die Dinge nicht schlimner darstellen, als sie sind. Die Geschlechts- 
krankheiten der Kinder, als Volkskrankheit betrachtet, spielen gegen- 
wärtig nicht entfernt die verhängnisvolle Rolle, die etwa der Tuberkulose 
zufällt. Aber es ist eine Frage von entscheidender Bedeutung, ob wir 
nicht prinzipiell frühzeitig, in einem Stadium, das noch ohne allzu 
große Schwierigkeiten ein Eindämmen gestattet, ihr eine ebenso große 
Beachtung zuwenden müssen, wie der Tuberkulose. Die Grundlagen 
zu einer ähnlich verheerenden Ausbreitung sind die gleichen, das be- 
weist ihre endemische Verbreitung, z. B. in Rußland. Die ungeheure 
Aufgabe der Gesunderhaltung des Nachwuchses bietet außerdem zwei 


Die erworbenen Geschlechtskrankheiten der Kinder usw. 111 


wichtige Vorteile: 1. ist es sehr leicht, eine planmäßige Erfassung aller 
Kinder bestimmter Altersklassen durch das Instrument der Schule vor- 
zunehmen und 2. ist hier eine ideale Möglichkeit gegeben, über das 
Kind den Weg in die Familie zu finden, hier die Quellen der Krank- 
heit aufzudecken und auch die Erwachsenen zu beeinflussen. 

Aber was geschieht bis jetzt? Aus welchem Material setzen sich 
die zu unserer Kenntnis gelangenden Fälle zusammen’? 


Wir behandeln Kinder, die uns von Heimen oder Anstalten über- 
wiesen werden, bei denen, meist zufällig, verdächtige Erscheinungen 
festgestellt sind; Kinder, die auf Grund an: ihnen begangener sexueller 
Delikte, meist von den Wohlfahrtsbehörden uns überwiesen werden; 
Kinder, die durch den Schularzt zu uns gelangen, weil die besorgten 
Eltern auf verdächtige Erscheinungen aufmerksam geworden sind. 
Aber diese verantwortungsbewußten Eltern sind selten und ihr Ein- 
schreiten geschieht meist erst, wenn die Erscheinungen der Krankheit 
einen Grad erreicht haben, der ärztliches Eingreifen unbedingt erfordert. 
Nicht selten aber nehmen die Angehörigen die Diagnose einer Ge- 
schlechtskrankheit sehr übel, teils weil sie wegen ihrer eigenen Krank- 
heit, von der oft der Ehepartner nichts weiß, ein schlechtes Gewissen 
haben, teils weil ihnen der Makel einer solchen Krankheit bei ihrem 
Kinde ungeheuerlich und unwahrscheinlich erscheint. Sie bleiben also 
einfach aus der Behandlung fort, und wir haben kein Mittel sie zurück- 
zuhalten. 

Es ist also ersichtlich, daß nur ein ganz geringer Teil der er- 
krankten Kinder auf dem bisherigen Wege der Behandlung zugeführt 
wird, dessen Auswahl der Zufall trifft an Stelle planmäßiger Kontrolle. 


Die Kinder werden zum Teil auf eigenen Kinderstationen unter- 
gebracht, meines Wissens gibt es nur eine Spezialabteilung für gonorrhöe- 
kranke Kinder im Kinderkrankenhaus der Stadt Berlin in Buch, zum 
Teil auf den dermatologischen Abteilungen der Krankenhäuser, wo 
aber durchgehends nur eine ganz geringe Anzahl von Betten zur Ver- 
fügung steht, teilweise findet eine ambulante Behandlung in den Poli- 
kliniken der Krankenhäuser statt, neuerdings wohl auch, seit Ein- 
führung der Familienversicherung, in den von den Krankenkassen ein- 
gerichteten Ambulatorien. 

Die Ambulatorien der städtischen Krankenhäuser Berlins behandeln 
die Kinder kostenlos, für den Aufenthalt im Krankenhaus wird bei 
Nachweis der Bedürftigkeit der Betrag gestundet. 

Der Zusammenhang zwischen Jugendamt, Schule, Elternhaus und 
Arzt ist nur ein sehr lockerer. durch planmäßige Organisation nicht 

nr 


112 M. Gumpert: 


gefestigt,. mehr der persönlichen Initiative der einzelnen Glieder über- 
lassen, die wohl leider in den meisten Fällen versagt. 

Ein wirksamer Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten bei Kindern 
ist aber nur denkbar auf Grund eines sorgfältig ausgearbeiteten, durch 
die Autorität des Gesetzes gesicherten Planes, dessen Einzelmaßnahmen 
sachlich gut durchgebildete und menschlich geeignete Vollzugspersonen 
durchzuführen haben. 

Wir stellen, mit allem Vorbehalt einer fragmentarischen Fassung, 
folgende Richtlinien zur Diskussion: 

1. Obligatorische Untersuchungen der Kinder auf Geschlechts- 
krankheiten bei Aufnahme in Kindergärten, Schulen, Heime, Anstalten, 
Krankenhäuser durch fachlich geschulte Ärzte, um Infektionsquellen 
an den Stellen, die zu epidemischer Verbreitung neigen, sofort zu 
entdecken. 

2. Unmündige Kinder, die als geschlechtskrank erkannt sind, 
sind auch gegen den Willen ihrer Eltern einer Behandlung zuzuführen. 

3. Die Mütter kranker Kinder müssen vor der Entlassung aus 
klinischer Behandlung obligatorisch in der Technik der verordneten 
häuslichen Behandlungsmaßnahmen unterwiesen werden. 

4. Besonders hierzu ausgebildete Fürsorgepersonen müssen die 
Kinder in der Familie aufsuchen, dafür Sorge tragen, daß die ver- 
ordnete Behandlung unter den gegebenen Verhältnissen wirklich durch- 
geführt werden kann, daß Nachuntersuchungen stattfinden usw. 

5. Auf Grund einer genauen, nach bestimmtem Schema durch- 
zuführenden Anamnese müssen im Krankenhaus die sozialen Ver- 
hältnisse des Kindes festgestellt werden, vor allem die Quelle der 
Infektion. 

6. Die ambulante und klinische Behandlung geschlechtskranker 
Kinder sowie die Versorgung mit Heilmitteln muß kostenfrei erfolgen. 

7. Es sind nach Möglichheit besondere Stationen für geschlechts- 
kranke Kinder einzurichten unter fachärztlicher Leitung mit besonders 
ausgebildetem Personal. 

8. Es muß ein Gesundheitszeugniszwang für alle Berufszweige, 
die mit Kinderpflege zu tun haben, eingerichtet werden (Ammen, Haus- 
angestellte, Pflegepersonal, Lehrer, Ärzte). Besonders bei Antritt einer 
Stellung ist das Gesundheitsattest eines Arztes vorzuweisen. 

9. In den Schulen soll eine periodische Belehrung der Eltern 
über die ersten Anzeichen, die Folgen und die Bedeutung der Geschlechts- 
krankheiten durch die Schulärzte erfolgen. 

10. Für Lehrer, Erzieher, Fürsorgebeamte, Pflegepersonal müssen 
obligatorische Kurse abgehalten werden mit einer kurzen abschließenden 


Die erworbenen Geschlechtskrankheiten der Kinder usw. 113 


Prüfung. Hiermit ließe sich ein Unterricht auch über allgemeine 
Fragen der persönlichen und sozialen Hygiene vereinigen sowie über 
die Krankheiten des Kindesalters (Geisteskrankheiten, Tuberkulose, an- 
steckende Hautkrankheiten). 

11. Planmäßige Sexualpädagogik in den Schulen. 

12. Den Eltern und Lehrern müssen psychiatrisch geschulte 
seelische Berater zur Verfügung stehen. 

13. Gefährdete Kinder müssen in besonderen Heimen untergebracht 
werden. 

14. Während monatelangen Krankenhausaufenthaltes dürfen Er- 
ziehung und Schulausbildung nicht brachliegen. 

15. Familien, in deren Mitte infektiöse Krankheiten herrschen (Lues, 
Tuberkulose), müssen auf Grund amtsärztlicher Zeugnisse bei Zuteilung 
von Wohnungen bevorzugt werden. Planmäßige Versorgung mit Leib- 
und Bettwäsche. Die Bezirkswohlfahrtsämter müssen feststellen, wieviel 
Menschen infolge von Armut kein eigenes Bett besitzen. Jedes Kind 
muß sein Bett haben, wie jedes Tier sein eigenes Lager. Eine Sonder- 
steuer muß diese Betten beschaffen: ein vielleicht etwas primitiver 
Vorschlag, aber diese Steuer würde populär sein und das soziale Ge- 
wissen aufrütteln. 

16. Eine zentrale Stelle muß die Sammlung des Materials über- 
nehmen. Ihre Aufgaben sind: 

Organisation und Kontrolle der angeführten Maßnahmen. 
Feststellung der Zahl der Erkrankten. | 
Feststellung der verfügbaren Betten. 

Wissenschaftliche Arbeiten. 

Aufklärung. 

Die wesentlichsten und dringlichsten unserer Vorschläge sind ohne 
allzu große Kosten durchführbar. Eine eingehende Bearbeitung der 
hier nur kurz zusammengefaßten einzelnen Gesichtspunkte durch Fach- 
leute (Ärzte, Pädagogen, Sozialpolitiker, Juristen) wird vielleicht manches 
korrigieren, manches Neue ergeben. 

Wir wären glücklich, wenn unsere Mitteilungen zu recht zahl- 
reicher Mitarbeit führten, wenn sie überzeugt haben, daß tatkräftige 
Hilfe und schnelle Hilfe not tut. 

Man wird sich über die Endziele sozialer Rettungsmaßnahmen 
nie einigen können. Gegensätze der Weltanschauung tauchen sofort 
auf. Einigen kann man sich über die brennende Not bestehender 
Mißstände. Bevor man Wandel der Gesinnung fordert. muß man mit 
den alten, schimpflichen Tatsachen abrechnen und sie in erträgliche 
und würdige Bahnen lenken. 


114 M. Gumpert: 


In der Aussprache wurden die praktischen Erfahrungen des Vortragenden durch- 
aus bestätigt. 

I. Die praktische Versorgung der kranken Kinder liegt noch im argen, und zwar 
gibt es 

l. nicht genügend Ambulatorien mit fachärztlich geschulten Ärzten. 

2. nicht genügend Spezial-Kinderstationen. 

Diese Stationen sind auch deswegen von dringender Notwendigkeit. weil nur ın 
Spezial-Kinderstationen der notwendige Unterricht und die notwendige erzieherische 
Beeinflussung durchgeführt werden kann. 

H. die Untersuchungen in Dauerheimen und Erholungsheimen, Waisenhäusern 
und Anstalten. sowie die Untersuchungen der Kinder, die in Pflege gegeben werden, 
sind noch nicht in ausreichendem Maße durchgeführt. Es wurde aus den Erfahrungen 
der Praxis betont. daß Kinder in Erholungsheime geschickt werden, über die nach 
etwa 5 Wochen eine Mitteilung erfolgt. daß diese Kinder geschlechtskrank gewesen 
seien, und bei denen erst nach Verlauf von weiteren 1—2 Wochen eine Benach- 
richtigung erfolgte, wo diese Kinder weiterhin unterzubringen seien. — Es kommt 
weiter immer wieder vor, daß Kinder in Pflegestellen untergebracht werden, und aus 
diesen Ptlegestellen mit einer dort acquirierten Geschlechtskrankheit zurückkommen. 
Entsprechend diesen Erfahrungen müßte gefordert werden, daß Kinder, die in Pflege- 
stellen, Heime oder Anstalten entsandt werden, und bei denen auf Grund der Kenutnis 
der Häuslichkeit auch nur ein Verdacht einer möglichen Geschlechtskrankheit vor- 
liegt, vor ihrer Entsendung in ein Heim spezialärztlich untersucht werden, daß ferner 
die Pflegestellen, auch auf dem Lande, in dieser Richtung sorgfältiger geprüft werden. 

Il. Die Kenntnis von der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten, von deren 
Gefährlichkeit, ist bei den Organen der praktischen Jugendfürsorge noch lange nicht 
ausreichend bekannt. (Aus der Praxis wurde berichtet, daß ein Bezirksamt, das die 
Heimaufnahme eines Kindes beantragte und gleichzeitig mitteilte, daß das Kind eine 
Gonorrhör gehabt habe, über die Zumutung einer spezialärztlichen — dermatologischen — 
Untersuchung erstaunt war.) 

IV. Das Zusammenwirken zwischen dem Gesundheitsamt (und hier speziell der 
Schulfürsorge). dem Jugendamt (Kindergarten, Kinderhort, Anstaltspflege, Pflegekinder- 
wesen), der Schule, ist noch ein durchaus ungenügendes. Ebenso scheint es nach 
den Erfahrungen der Berliner Praxis notwendig zu sein, eine engere Verbindung 
zwischen den Krankenhäusern, die geschlechtskranke Kinder aufnehmen. und dem 
Jugendamt. resp. Gesundheitsamt herzustellen. um die weitere Betreuung dieser Kinder. 
ihre Bewahrung vor der Rückkehr ın das gesundheitsschädliche Milieu. ihre Bewahrung 
vor der Rückkehr in die alten erziehungswidrigen Einflüsse zu verhindern und eine 
sachgemäße pädagogisch besonders hochwertige anderweitige Unterbringung zu ver- 
anlassen. 

V. Dabei tauchen Fragen juristischer Art auf, aus zweierlei Gebieten: 

l. Können Eltern, die sich weigern, ihre Kinder auf (reschlechtskrankheit 

untersuchen zu lassen, hierzu gezwungen werden (Anwendung des $ 1666 
B.G. B.). 
Die Frage des ärztlichen Berufsgeheimnisses. (Auskunft darf nach Meinung 
der Anwesenden an die Behörde erteilt werden, die das Kind wegen de 
Verdachtes der Geschlechtskrankheit in das Krankenhaus eingewiesen hat. 
außerdem den für die Unterbringung zahlenden Behörden.) Es wini von 
der Versammlung gewünscht, daß gerade die Frage des ärztlichen Berufs- 
veheimmisses von juristischer Seite auch noch näher geklärt wird. 


1 


Die erworbenen. Gieschlechtskrankheiten der Kinder usw. 115 


VI. Eine lebhafte Diskussion wurde darüber hervorgerufen, ob es sich bei den 
Kindern mit erworbenen Geschlechtskrankheiten tatsächlich um psychopathische Kinder 
handle, so daß eine Berechtigung vorliege, daß man die Frage der Psychopathie bei 
Kindern mit erworbenen Geschlechtskrankheiten gleichzeitig mit den Fragen der ge- 
sundheitlichen Fürsorge für diese Kinder behandle. Am Schluß der Diskussion gab 
man der Überzeugung Ausdruck, daß es von weittragender Bedeutung sei, die Probleme 
auch von psychiatrischer Seite zu erfassen und eine Untersuchung der Kinder auch 
auf ihre psychische Beschaffenheit erfolgen zu lassen. Es sei ein Gebiet, das mit den 
Aufgaben der Psychopathenfürsorge in engem Zusammenhang stehe, wenn auch selbst- 
verständlich keineswegs behauptet werden könne, daß alle Kinder mit erworbenen 
Geschlechtskrankheiten psychopathisch seien. 

Es wird beschlossen : 

1. Übersendung des Protokolls an die Eingeladenen, 

2. Anregung an die Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankkeiten 
zur Einberufung einer außerordentlichen Sitzung, in der das Problem der 
Kinder und Jugendlichen mit erworbenen teschlechtskrankheiten vom 
dermatologischen und psychiatrischen Gesichtspunkt aus behandelt wird. 

3. Schulung der Fürsorgerinnen des Gesundheitsamtes und Jugendamtes in 
bezug auf 

a) die Gefahren der Ansteckung mit (ieschlechtskrankheiten, 
b) die Notwendigkeit der Überweisung zur spezialärztlichen (dermato- 
logischen) Untersuchung. 

4. Aufklärungskurse für Eltern und Erzieher. 

5. Versuch des Zusammenschlusses der beteiligten Stellen (vgl. S. 103) zu einer 
gemeinsamen Sammlung der Erfahrungen zum Zwecke einer planmäßigen Aus- 
gestaltung der gesundheitlichen und erzieherischen Fürsorge für geschlechts- 
kranke Kinder, zunächst im engsten Rahmen praktischer Einzelfürsorge. 

| R. v. der Leyen. 


Tagungen. 


Auf der 20. Jabresvrersammlung des Vereins norddeutseher Psychiater 
und Neurologen am 25. Oktober 1924 in der psychiatrischen und Nerven- 
klinik zu Kiel wurden in Gegenwart der Vertreter der Provinzialbehörden , der 
Stadt Kiel, des Oberlandesgerichts, der Marine und der Universität Kiel Referate über 
die Verwahrlosung der Jugendlichen gehalten: Runge-Kiel (klinischer Teil) 
definiert die Verwahrlosung vom klinischen Standpunkt. Der Bruchteil an Abnormen 
ist unter den Verwahrlosenden sehr groß (bis 50°;/, und mehr). Die verwahrlosenden 
Abnormen zeigen fast durchweg einen erheblichen Grad schwerer Belastung in der 
Ascendenz und den Collateralen, wie sich auch besonders einwandfrei an dem kind- 
lichen Material einer Psyehopathenberatungsstelle unter Vergleich mit normalen Jugend- 
lichen, mit sozialen Abnormen und den Diem’schen Belastungszahlen bei Gesunden 
und (reisteskranken feststellen ließ. Die Hauptimasse der abnormen Verwahrlosenden 
verteilt sich auf die Psyehopathen und Schwachsinnigen. Unter diesen sind be- 
stimmte Typen und zwar bei den (reschlechtern z. T. verschiedenartige mit Vorliebe 
vertreten, während andere fast ganz fehlen. Erstere weisen eine besonders günstige 
Konstellation und Bereitschaft zur Verwahrlosung auf. Ein innerer Zusammenhang 
zwischen Intelligenzgrad und Verwahrlosung bezw. moralischem Verfall besteht nicht. 
Andere psychische Anomalien sind unter den Verwahrlosenden seltner. (Psy- 
ehische Störungen bei Encephalitis epidemica. auf dem Boden der angeborenen Lues: 
die Rolle des Kopftraumas ist noch nicht ganz geklärt) Geisteskrankheiten 
spielen eine geringe Rolle, vereinzelt kommt Schizophrenie unter den Verwahrlosten 
vor.  Möglieherweise liegt den schweren Gefühlsdefekten mancher schwer verwahr- 
loster sozialer Psyehopathen ein früh entstandener sehizophrener Defekt zugrunde (Para- 
thymie Meggendorfers). Die Verwahrlosungsform Abnormer ist im ganzen 
die gleiche wie bei Gesünden, jedoch entstehen offenbar die schwersten Verwahrlosungs- 
fälle meist anf pathologischem Boden in frühem Alter, daher ist die Prognose im 
Ganzen um so schlechter, je schwerer der Grad der Abnormität ist; Jedoch findet sich 
auch unter den Abnormen eine durchaus verschiedene moralische Wertigkeit. Bei 
der Verwahrlosung Abnormer finden sich meist Milieueinflüsse zum mindesten 
als äußerer Anlaß zur Verwahrlosung Die Einschätzung der Bedeutung von Milieu 
und Anlage ist je nach Art des Materials (bereits länger verwahrloste Fürsorgezöglinge 
oder erst in Verwahrlosung begriffene Kinder und Jugendliche) verschieden erfolgt. 
Nach neueren Untersuchungen (Kramer u a) und auch den Erfahrungen des Referenten 
an kindliehem Material scheint die Milienwirkung besonders in frühestem Kindesalter 
für einen Teil der Psyehopathtien von ausschlaggebender Bedeutung. Verwahrlosung 
allein aus abnormer angeborener oder erworbener Anlage scheint nicht häufig. kommt 
aber, wie besonders wieder Erfahrungen bei der Encephalitis epidemica zeigen, vor. 

Eine intensive Durchsetzung der Behandlunesmethoden der Verwahrlosten mit 


Tagungen. 117 


psychiatrischen Gesichtspunkten, Errichtung von Heilerziehungsheimen zur frühzeitigen 
und eventl prophylaktischen Behandlung und Erziehung abnormer Kınder und Aus. 
schaltung von Erziehungs- und Milieuschäden, die stärkere Benutzung und Vermehrung 
von Beobachtungsstationen für Fürsorgezöglinge, Errichtung von psychiatrisch geleiteten 
Abteilungen für schwer Erziehbare mit individualisierender psychiatrisch-pädagogischer 
Behandlung (vgl. Baden) und auch die gründliche Durchbildung der hier mitarbeitenden 
Psychiater in der Kenntnis von der kindlichen und jugendlichen, normalen und 
anormalen Psyche werden gefordert. 

Rehm-Bremen. Sozialer Teil. Vortragender definiert die jugendliche Ver- 
wahrlosung vom sozialen Standpunkt. Die Verwahrlosung kann aktiv oder passiv sein. 
meist ist sie beides In der Stadt überwiegt die passive Verwahrlosung Die Zahl 
der verwahrlosten Fälle scheint infolge der Besserung der Umweltsbedingungen im 
Abnehmen begriffen zu sein. Die soziale und psychische Belastung ist nicht höher 
als die erbliche Belastung Gesunder. Die jugendliche Verwahrlosung ist in der 
Großstadt intensiver und extensiver. Die soziale Entgleisung der Mutter hat 
einen besonders ungünstigen Einfluß auf das soziale Verhalten der Mädchen: die 
Schulentlassung gibt das Signal zu geschlechtlicher Ungebundenheit, insbesondere 
bei den Mädchen. Die jugendliche Prostitution ist die schwerste Form sozialer Ent- 
artung. Das Schulelaufen ist charakteristisch für die Knaben. Auf dem Boden der 
erblichen Belastung mit psychischer Minderwertigkeit, der für alle soziale Schichten 
gleich vorbereitet ist, erwächst die Verwahrlosung auf Grund der schädlichen Unwelts- 
einflüsse, vorwiegend in den sozial niederen Schichten. Eine klinisch scharf präzi- 
sierte, auch dem Nichtarzt verständliche Gruppierung des Gebietes der Psychopathie 
ist für die Prognosenstellung unerläßlich. Der Vortragende bespricht schließlich die 
Bekämpfung der jugendlichen Verwahrlosung und die Ziele derselben. 

Cimbal-Altona: Untersuchungstechnischen Teil. Die Untersuchungs- 
technik des Erziehungsgutachtens hat drei von einander grundverschiedene Aufgaben: 

1. Die Prüfung des psychischen Tatsachenbestandes der Verwahrlosung, auf dessen 
Grundlage der Rechtsspruch der Behörden und die Durchführung der Zwangs- 
erziehung beruht. 

2. Die Ermittlung der Erziehbarkeit in dem Sinne, daß körperlich ansteckende Jugend- 
liche, insbesondere Tuberkulose-, Geschlechtskranke, Typhus- und Diphtheritis- 
bazillenträger, andererseits diabolisch und gemeinschaftsfeindlich Eingestellte den 
Anstalten entweder femm gehalten werden oder aber so in das Erziehungswesen 
eingereiht werden, daß sie einen möglichst geringen Schaden gegenüber der 
Gesamtheit anrichten. 

3. Die Ermittlung der Erziehungsgrundlagen, ınsbesondere der Berufseignung des 
Zöglings, der Störungen des geordneten Denkens, der Form und Äußerungen 
des seelischen Kampfes und der letzten Ursache der Entgleisung, deren Über 
windung Aufgabe der Erziehung ist. 

So vielgestaltig diesen Aufgaben entsprechend die Untersuchung sein muß, so 
notwendig ist die Zusammenfassung des Erziehungsgutachtens in eine einheitliche Form, 
für deren allgemeine und besonderen Probleme Referent Beispiele vorträgt. 

Draesecke- Hamburg: therapeutisch-pädagogischer Teil. Vortragender 
erörtert eingehend die Schwierigkeiten, die richtigen Erzieher für die verwahrlosten 
Jugendlichen zu finden. — die Erzieher, die aus den verschiedensten Lagern kommen, 
in der richtigen Weise vorzubilden. Es bedarf ganzer Persönlichkeiten: nur diese. 
vermögen Einfluß auf den Jugendlichen zu gewinnen. — 

Die Frage der Berufswahl muß gleich in den Erziehungsplan aufgenommen werden 
um ganze erzieherische Arbeit zu leisten. Einstellung Verwahrloster in den mono- 


118 Tagungen. 


tonen Fahrıikbetrieb mit seinen Gefahren soll vermieden werden. Der Jugendliche 
soll im Kleinbetriebe am Werden und Entstehen jedes Gegenstandes interessiert 
werden. Ein Verpflanzen der verwahrlosten großstädtischen Jugend aufs Land will 
Vortragender nur mit der größten Vorsicht vornehmen lassen. Es ist unrichtig, die 
Geistigarmen immer gerade aufs Land schicken zu wollen, wo sie am wenigsten festen 
Boden fassen werden. Der Heranbildung eines gesunden kräftigen Körpers ist ein 
besonderer Wert beizulegen. 

An die Referate schloß sich eine lebhafte Aussprache an, in der besonders die 
Frage der Unterbringung der schwersterziehbaren abnormen Fürsorgezöglinge erürtert 
wurde, für die teils Aufnahme in ärztlich geleitete Sonder-Erziehungsabteilungen, teils 
besonders in manchen sehr schweren und aussichtslosen Fällen (Diabolische: Cimbal) 
Unterbringung in eine Irrenanstalt „verdünnt“ unter verblödete Elemente zur Un- 
schädlichmachung empfohlen wurde, dem von anderer Seite aber widersprochen wurde. 
Die Wichtigkeit des Milieufaktors auch bei Abnormen bei der Verwahrlosung wurde 
mehrfach betont. 

(Unter Verwendung von Autorreferaten vun Runge-Kiel.) 


Am 6. November hielt der Deutsehe Verband für Sehulkinderpflege eine 
Arbeitstagung zu Braunschweig ab Diese Tagungen mit fest umrissenen Beratungs- 
themen, in denen der erwähnte Ausschuß des Verbandes wichtige Tagesfragen berät 
haben sich nach und nach zu sehr anregenden und fruchtbaren Veranstaltungen ent- 
wickelt, da in nicht zu großem Kreise lediglich Sachverständige aller Gegenden 
Deutschlands miteinander zu verhandeln Gelegenheit haben. 


Zum 1. Thema: „Schulkinderfürsorge im Rahmen der Bezirksfürsorge“ wurden 
zunächst Berichte über das in Braunschweig herrschende System erstattet. Diese 
Schilderungen über eine weitgehende Spezialisierung nach Ämtern, Trägern, Funktionen, 
die ohne Kollision untereinander nur auf Grund einer dauernden persönlichen Ver- 
einbarung und Fühlungnahme wirksam sein können — also z. B. keinesfalls in dieser 


Form in Riesenstädten ohne Schaden existieren würden, — entfesselten eine lebhafte 
Diskussion Schließlich mündete man, — vom Einzelfall: „Schulpflege* herkommend. 


in das prinzipielle Gebiet: Familien- oder Spezialfürsorge? Hierbei ergab sich neben 
ganz einzelnen Verfechtern des ersteren eine Mehrheit der Redner (natürlich wurde 
nicht abgestimmt!) für eine etwas gemilderte Form der zweiten Fürsorge. Selbst die 


ersteren gaben übrigens zu, daB für ein Gebiet — die Fürsorge für die „gefährdete* 
Jugend — unbedingt Spezialfürsorge notwendig se. — Die Frage wurde zum großen 


Teil auf das Ausbildungsgebiet hinübergeschuben, wo sich dann zwei Ansichten gegen- 
überstanden: a) eine vorzügliche Spezialbildung müsse auch ermöglichen, alle Fälle 
der Fürsorge richtig behandeln zu können. hb) Gründliche Allgemembildung werde zu 
erfolgreicher Betätigung auch auf Spezialgebieten befähigen. — Hieraus erfolgte die 
Stellungnahme für oder gegen Beibehaltung der jetzigen Dreiteilung unserer sozialen 
Ausbildungsstätten. Die Forderung eines praktischen Bewährungsjahres fand all- 
gemeine Billigung. Ebenso war man einig darüber, daß auf dem Lande eine 
spezielle Schulpflege nicht am Platze sei, sondern in die allgemeine Fürsorge ein- 
gegliedert werden müsse. 

Von besonderem Interesse für die Leser dieser Zeitschrift sind die Verhandlungen 
über Einrichtung von Sonderhorten für gefährdete, psychopathische 
und minderbegabte Kinder. Hierzu sprachen eine Hortnerin, ein Hilfsschulleiter. 
eine psvehlatrisch tätige Ärztin. 


Tagungen. 119 


Die erste Rednerın Frl. Weniger typisierte die im Hortbetrieb besonders zu 
beachtenden Kinder als schwererziehbar infolge des Einflusses ihrer Umgebung oder 
ihres Entwicklungsstadiums, 2. überempfindliche, 3. psychopathische, 4. minderbegabte. 
Jeder dieser Typen bedarf besonderer Behandlung, vieler Kleinarbeit. individueller 
Beschäftigung (Auslassen des Tatendranges, Ausnützung von charakterologischen 
Schwächen usw.) 


Ein Teil dieser 4 Arten, vor allem die Psychopathen kann, in Sondergruppen 
vereinigt, ruhig ohne Gefährdung für sich oder die Gemeinschaft, im Hort verbleiben. 
Für die geistig etwas zurückgebliebenen erwächst aus stärkerer Betonung der tech- 
nischen Beschäftigung in ihrer Sondergruppe sogar erfreuliche Selbstbehauptung und 
Stärkung des sonst unterdrückten Selbstbewußtseins. (Die Schwachsinnigen dagegen 
müssen jedenfalls in andere Horte für sich kommen.) — Solche Sondergruppen, von 
eigener Führerin geleitet, vom Arzt kontrolliert, sollen höchstens 10 Kinder umfassen 
und alle Arbeiten, Spiele für sich haben; dagegen sollen sie, um kein Gefühl des 
Ausgeschlossenseins zu bekommen mit den andern Kindern Mahlzeiten und Feste teilen. 


Rektor Betke sprach von seinen Erfahrungen, von der Hilfsschule ausgehend, 
über dıe an diese Schulen anzugliedernden Horte, die am besten kommunal betrieben 
werden. Aus ihnen sind wieder eigene Horte für die schwer schwachsinnigen ab- 
zugliedern — analog den sogenannten „Sammelklassen“ aus den Hilfsschulen. 


Frl. Dr. Lyon') sprach sodann speziell über die Psychopathen im Hort. Auch sie 
ist der Ansicht, daß solche Kinder im Hort verbleiben können, und daß nur schwer 
Abnorme in Sonderbetriebe gegeben werden müssen. Das günstige Milieu kann da- 
gegen bei leichteren psychopathischen Anlagen einen Ausbruch derselben verhindern. 
Die Störung der anderen Hortkinder durch die überaktiven Psychopathen, das Ver- 
drängtwerden der Überempfindlichen wiederum durch die Normalen erfordert aber für 
beide Klassen der Psychopathen gesteigerte Aufmerksamkeit und individuelle Pädagogik. 
aktive Mitarbeit dieser Kinder gegenüber ihren Eigenheiten muß geweckt und rege 
gehalten werden. Nicht zu viel Kinder, genügender Raum, geregelte Zeiteinteilung 
behagliche Gestaltung des Hortlebens, Gymnastik usw. sind Erziehungserfordernisse 
die für diese Kinder doppelt unterstrichen werden müssen. Werden sie befolgt, so 
kann man die Kinder ruhig als Sondergruppe im allgemeinen Hort belassen. 

In der Aussprache wurde einigen der in den Referaten geäußerten Forder: "ven 
widersprochen. Z. B. solle man Hilfsschulkinder auch eine Zeit lang zu normalen 
Hortkindern gesellen: Sondergruppen für Psyehopathen hätten sich als äußerst schwierig 
gezeigt. — Von anderer Seite wurde warm für Sondergruppen eingetreten, freilich 
sollten solche aus einer Mehrzahl normaler und einer Minderzahl psychopathischer 
Kinder gemischt sein. Andere Grundsätze der Ahsınderung und Behandlung müssen 
für Horte als für Werkstätten gelten. Aber anti- oder asociale Kinder dürften nicht 
im Hort bleiben. — Von Seiten der Fürsorgeerziehung wurde besonders eingehende 
Hortarbeit an schwererziehbaren Kindern zur Vermeidung der Fürsorgeerziehung ge- 
fordert. Die heutige mehr vom Fürsorgegesichtspunkt getroffene Auswahl der 
Kinder sammelt ja auch solche erziehungsbedürftigere Elemente stärker als früher 
Die pädagogische Leitung des Hortes ist dadurch unleugbar schwieriger geworden. 
Von verschiedenen Seiten wurde in diesem Zusammenhang mehrfach davor gewarnt, 
überall psychopathische Anlagen zu wittern. 


Uber das letzte Thema: Hortnerinnen in Fürsorge-Erziehungsanstalten 


—. 





1) Vgl. den Artikel der Referentin Bd. 29. Heft 2, S. 75 dieser Zeitschrift. 


120 Gesetzgebung 


referierte Frl. Dr. Zisseler; sie führte aus, wie notwendig bei Knaben und Mädchen, 
aber auch wie unendlich schwierig diese Arbeit sei, daß sie z. B. an körperliche Pflege 
yanz andere Anforderungen stelle, als die gewöhnliche Hortarbeit. da auch die Ein- 
ordnung in das Erzieherpersonal der Anstalt z. B. noch nicht geregelt sei. Vor einer 
derartigen Anstellung sei jedenfalls eine praktische Anstellzeit zu fordern. 

Auch dies Thema regte zu längerer Diskussion an und sollte jedenfalls noch 


aufmerksam bearbeitet werden. 
Dr. K. Mende-Berlin. 


Dem Pädagogischen Zentralblatt, 4. Jahrgang, 11. Heft, S. 456 entnehmen wir: 

Richtlinien für das Zusammenarbeiten von Jugendamt und Berufs- 
beratungsstelle.e Der Reichsminister des Innern hat am 4. September im Ein- 
vernehmen mit dem Reichsarbeitsminister die nachstehenden Richtlinien erlassen, die 
für die obersten Jugendwohlfahrtsbehörden und die Landesämter für Arbeitsvermittlung 
bestimmt sind. 

1. Die Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung erfolgt auf Grund des Ar- 
beitsnachweisgesetzes grundsätzlich durch die Einrichtungen der Berufsberatung und 
Lehrstellenvermittlung bei den Arbeitsnachweisämtern. 

2. Wo gemäß §§ 2 und 15 des Arbeitsnachweisgesetzes die Berufsberatung 
und Lehrstellenvermittlung von den Arbeitsnachweisämtern ausgeübt wird, hat das 
Jugendamt darauf zu verzichten, die Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung selbst 
zu betreiben. Dagegen kann es diese im Bedarfsfalle an Orten, an denen sich kein 
Arbeitsnachweis mit Berufsberatungsstelle befindet, im Einvernehmen mit dem Landes- 
amt für Arbeitsvermittlung übernehmen. Diese ergänzungsweise vom Jugendamte 
übernommene Berufsberatung und Iehrstellenvermittlung untersteht den gemäß $ 26 
des Arbeitsnachweisgesetzes erlassenen „Allgemeinen Grundsätzen für die Berufsberatung 
und Lehrstellenvermittlung außerhalb der öffentlichen Arbeitsnachweise“. Das Jugend- 
amt wird, falls es die Berufsberatung übernimmt, mit dem vpn den Arbeitsnachweis- 
ämtern herausgegebenen Nachrichtenmaterial versorgt, 

Soweit bei der Unterbringung bestimmter Gruppen von Jugendlichen (z. B. ın 
Schutzaufsicht oder in Fürsorgeerziehung Befindlicher) der Erholungs- oder Erziehungs- 
zweck ausschlaggebend ist, ist grundsätzlich das Jugendamt zuständig, doch sind für 
sachgemäße Abgrenzung der Arbeit örtliche Vereinbarungen zu treffen. 

3. Besteht eine Einrichtung der öffentlichen Berufsberatung auf Grund des 
Arbeitsnachweisgesetzes, so hat das Jugendamt des gleichen Ortes, wenn von ihm Rat 
und Hilfe bei der Berufswahl verlangt wird, ohne daß sich die Notwendigkeit fürsorge- 
rischer Maßnahmen ergibt, die Ratsuchenden an die Berufsberatungsstelle zu ver- 
weisen. Fälle bei denen sowohl Gesichtspunkte der Berufsberatung als auch der 
Jugendfürsorge in Frage kommen, sind möglichst gemeinsam mit der Berufsberatungs- 
stelle beim öffentlichen Arbeitsnachweis und dem Jugendamt zu erledigen, wobei die 
Fürsorgearbeit in der Hauptsache durch das Jugendamt. die Berufsberatung und Unter- 
bringung in der Hauptsache dureh die Berufsberatungsstelle erfolgt Die Landesämter 
für Arbeitsvermittlung und die Landesjneendämter können für die Zusammenarbeit 
in solchen Fällen unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse gemeinsame Rieht- 
linien aufstellen. 


Ausbildung. | 121 


Ausbildung. 





Ein sozial-pädagogiseher Fortbildungskursus für Angchörige der sozial- 
pädagogischen Berufe (Wohlfahrtspflegerinnen, Jugendleiterinnen, Lehrerinnen Fach- 
und Berufsschullehrerinnen u. a. m.) wird bei genügender Beteiligung vom Oktober 
1924 bis zum Juli 1925 in Berlin, Soziale Frauenschule veranstaltet werden. 

Er soll den Teilnehmerinnen eine Ergänzung und Vertiefung ihrer fachlichen 
Ausbildung bringen. 

Zugelassen können werden: 

1. Staatlich anerkannte Wohlfahrtspflegerinnen mit mindestens dreijähriger Praxis. 

2. Staatlich anerkannte Jugendleiterinnen mit insgesamt drei Jahren Praxis. 

3. Lehrerinnen mit dreijähriger Praxis. 

4. Fach- und Fortbildungsschullehrerinnen. 

Der Aufbau des Kursus ist für die verschiedenen Berufsgruppen verschieden 
gegliedert gedacht. Um den Teilnehmerinnen ein geschlossenes Ganzes zu bieten, ist 
es erforderlich, daß sıe mindestens an vier Wochenstunden teilnehmen. Die übrigen 
Fächer können als Wahlfächer einzeln belegt werden. 

Nur wer tatsächlich an vier Wochenstunden teilgenommen hat, kann am Schlusse 
des Kursus eine Bescheinigung ausgestellt bekommen. 

Die Teilnahme am Kursus kostet für: 

1 Wochenstunde im Vierteljahr 5 M., im Trimester 15 M. 

4 Wochenstunden „ A 15 M., „ ” 45 M. 

15 T ” a 50 M., „ R 150 M. 
Die Kursgebühren sind vierteljährlich im voraus zu entrichten. 


Stundenübersicht 

. „Kulturfragen“ (1 Stunde) Dr. Agnes v. Zahn-Harnack. 
. „Soziale Fragen“ (1 Stunde) Dr. Alice Salomon, Dr. Hildegard Böhme. 
. „Sozialhygiene, insbesondere Medizinalstatistik* (2 Stunden) Dr. Schweers. 
. „Arbeitsrechtsfragen“ (1 Stunde) Dr. Helene Simon. 
„Geschichte der Wohlfahrtspflege“ (1 Stunde) Prof. Mahling. 
. „Wirtschaftspolitik* (1 Stunde) Dr. Frieda Wunderlich. 
. „Verwaltungslehre“ (2 Stunden) Stadtrat Dr. Muthesius. 
. „volksbildung“ (1 Stunde) Dr. v. Erdberg. 
. „Geschichte der Frauenbewegung“ (t Stunde während !/, Jahr) 

Dr. Gertrud Bäumer. 
. „Grundfragen der Kunstbetrachtung“ (1 Stunde während '/, Jahr) 

Dr. Müller-Freienfels. 
11. „Fichtes Sozialphilosophie und Pädagogik.“ 


OOND AUN e 


5 


Die Diesterweg-Hochschule in Berlin veranstaltet bei genügender Beteiligung 
von Ostern 1925 ab einen auf ein Vierteljahr berechneten theoretischen und prak- 
tischen Lehrgang zur Einführung in die Heilpädagogik (Sonderschulen: 
Hilfsschulen, Schulen für Schwerhörige, Sehschwache, Sprachgestörte, Tuberkulöse; 
Förderklassen, Schulkindergärten, Anstalten). Nähere Mitteilungen erfolgen später. 

Voranmeldungen wolle man richten an den Geschäftsführer der Diesterweg- 
Hochschule, Rektor H. Rebhuhn, Berlin N. 20, Straße 4a, 


uod Auslande. 


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ggtrebungen im In- und Auslande. 
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Deutsche" Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psveho- 
fe 
Ve , Sa 
en ‚sehe Erholungsheim, das bisher in Gernrode (Januar 
PT, nen feld (Januar his Oktober 1924) sich befand, ist nach 
N. Fürstenwalde an der Spree verlegt worden. Das Heim 
Kara aei E anal im eigenen Hause. An dem Hause befindet sieh ein 3 Morgen 
RO: seh I 
Be i Aaa Gemüsegarten. 


P per erh 


Das Hem dient zur Aufnahme von 22 schulpflichtigen Kindern (Jungen und 
Madchen) nnd 6 schulentlassenen Mädchen. die im Heim eine hauswirtschaftliche 
usbildung bekommen. Es werden nur psyehopathische Kinder aus ganz Deutsch- 
a in dem Heim aufgenommen und zwar sowohl Kinder, die nur aus heilerzieherischen 
Gesichtspunkten einer Heimunterbringung bedürfen, als auch solche, bei denen eine 
körperliche Erholung erforderlieh ist, die wie die Erfahrung lehrt. den Gesamtzustand 
des Kindes auch in psychischer Beziehung bedeutend hebt. Schwachsinnige Kinder 
and Kinder mit Epilepsie werden nicht aufgenommen. 

Das Heim wird geleitet durch eine staatlich anerkannte Wohlfahrtspflegerin mit 
hortnerischer Vorbildung. Es sind außer der Leiterin noch 2 heilpädagogisch vor- 
gebildete Erzieherinnen sowie 1—2 Praktikantinnen zur Leitung und Erziehung der 
Kinder beschäftigt. Die wirtschaftliche Leitung des Heimes sowie die Ausbildung 
der großen Mädchen in der Hauswirtschaft liegt in den Händen einer besonders 
hierfür vorgebildeten Kraft. Der Pensionspreis beträgt 5,— M und kann bei Be- 
dürftigkeitsnachweis ermäßigt werden. 

Das Reiehsministerium des Innern und das Preußische Ministerium für Volks- 
wohlfahrt haben die Einrichtung des Heimes dureh Zuzahlung aus Reichs- und Staats- 
mitteln wirksamst unterstützt. 


In dem Kindererholungsheim der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (Leiter: 
Dr. F. Siegmund-Schultze) steht dem Deutschen Verein zur Fürsorge für jugend- 
hehe Psyehopathen der Teil einer Baracke mit 14 Plätzen für schulpflichtige 
Jungen und Mädchen zur Verfügung. Das Heim dient ebenfalls zur Aufnahme 
psychopathischer erholungsbedürftiger Kinder. Es steht unter der Leitung 
einer staatlich geprüften Jugendleiterin. Ihr steht eine staatlich geprüfte Hortnerin 
zur Seite. Es arbeitet dort außerdem noch eine Praktikantin. Der Pensionspreis 
beträgt 4— M. Die Verpflegung erfolgt durch das Hauptheim der Sozialen Arbeits- 
gemeinschaft. Das Heim nimmt ebenfalls Kinder aus ganz Deutschland auf. 

Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen ist ferner m 
der Lage, Kindern aus Berlin und Deutschland Aufnahme auf der psychiatrisch und päd- 
agogisch geleiteten Beobachtungsstation für psychopathische Kinder der Psychiatrischen 
Klinik der Charite zu vermitteln. Es werden hier geistig abnorme Kinder his zu 14 Jahren 
aufgenommen, bei denen eine sichere Diagnose nach der einmaligen psychiatrischen 
Untersuehung nieht zu stellen ist: ferner solche Kinder, bei denen nicht genau zu 
unterscheiden ist, wie weit Umgebungseinflüsse entscheidend für die Erziehungs- 
schwierizkeiten sind. Die Aufnahme der Kinder dort erfolgt für 4 Wochen bis zu 
mehreren Monaten. 


Heilpädagogische Bestrebungen im ln- und Auslande. 123 


Die Aufnahme in „Schloß Ketschendorf“, im „Heilerziehungsheim Wilhelms- 
hagen“, auf der „Beubachtungsstation für psychopathische Kinder der Psychiatrischen 
Klinik der Charite“ erfolgt durch den Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche 


Psychopathen E. V. Berlin W 9, Linkstraße 22 II. 
Ruth v. der Leyen. 


Psychopathenheim für Kleinkinder in Roda. Am J. Oktober v. J. ist im 
Rahmen der Thüringischen Erziehungsheime zu Roda ein Kleinkinderheim mit zu- 
nächst 24 Betten neu eröffnet worden, das bestimmt ist, Kinder im Alter von drei 
bis sechs Jahren aufzunehmen und zu erziehen. Die Aufnahme erfolgt: 1. bei in 
Fürsorgeerziehung befindlichen Kleinkindern aus dem dortigen Beobachtungsheim 
heraus. wenn das ärztliche Schlußgutachten dem zuständigen Jugendamt einen ent- 
sprechenden Vorschlag macht und dieses sich einverstanden erklärt; 2. bei solchen 
Kleinkindern, die nicht Fürsorgezöglinge sind, auf Antrag des zuständigen Jugend- 
amtes bei der Direktion der Thüringischen Erziehungsheime in Roda. 

Für die Auswahl der Kinder sind folgende Gesichtspunkte maßgebend: 
Drohende oder schon eingetretene Verwahrlosung infolge mangelnder oder verkehrter 
häuslicher Erziehungsmaßnahmen: anderweitige Gefährdung der körperlichen und 
geistigen Gesundheit des Kindes durch in seiner Umgebung herrschende Krankheiten 
(z. B. Tuberkulose, Syphilis) oder unhygienische Zustände (z. B. schlechte Wohnung. 
Unterernährung); Anzeichen, die auf eine psychopathische Anlage des Kindes hin- 
weisen (Reizbarkeit, Störungen der Aufmerksamkeit, beginnender Wandertrieb, nächt- 
liches Aufschrecken, krankhaft gesteigerte Phantasietätigkeit, event. bei schon älteren 
Kindern fortbestehendes Bettnässen). 

Von der Aufnahme ausgeschlossen sind: Kleinkinder, die mit ansteckenden - 
Krankheiten behaftet sind, Epileptiker und Schwachsinnige mittleren und höheren 
Grades (Imbezille und Idioten). 


In Genf ist ein Institut für Psychagogie und Psychatherapie gegründet worden, 
daß sich mit psychologischen Untersuchungen und deren streng wissenschaftlicher An- 
wendung auf die Therapie und die Iebensrichtung überhaupt zu befassen bestimmt 
ist. Mit der Leitung des neuen Instituts wurde der Privatdozent für Psychologie an 
der Universität Genf Dr. Charles Baudouin betraut. 


Der Zeitschrift „L’Infanzia anormale“ entnehmen wir folgende Mitteilung: Inter- 
nationale Zusammenkunft der Erzieher der Anormalen in Paris. „Eingeladen 
von dem französischen Verein der staatlichen Erzieher der anormalen Kinder fand 
in Paris vom 24.—26. April 1924 die Internationale Zusammenkunft. der Lehrer der 
Anormalen statt. 

Die Arbeiten des Kongresses umfaßten 5 Sitzungen, in denen zahlreiche Vor- 
träge gelesen und diskutiert wurden, die das große Interesse zeigten. welches das Pro- 
blem des heilpädagogischen Beistands für die anormalen Kinder darbietet. 

Es wurden folgende Wünsche geäußert: 

A 1. Daß eine Zählung der anormalen Kinder im schulpftlichtigen Alter. die mm 
Sanatorien untergebracht sind, veranstaltet werde. 2. Daß in den Sanatorien selbst 
Sonderschwen eingerichtet werden, mit einem Personal, das besonders aus den Er- 
ziehern der Anormalen ausgewählt ist. 

B 1. Schaffung von neuro-psychiatrischen Beratungsstellen in den Kinderkranken- 
häusern, die Spezialärzten anvertraut werden, welche in gemeinsamer Arbeit mit einem 
Sozialassistent und mit genügendein Personal diese Mittelpunkte in Beziehung erhalten 


124 Heilpädagogische Bestrebungen im In- und Auslande. — Erklärung. 


sollen zu den pädagogischen Einrichtungen und zu den Familien, die die anormalen 
Kinder beherbergen. 

C1. Daß die psychiatrische Prüfung der Kinder den Irrenärzten an den Irren- 
anstalten oder Psychiatern überlassen bleibt, die an einer Kinder-Nervenklinik ge- 
arbeitet haben. 

D 1. Daß die Ergebnisse der ärztlichen Prüfung und der Vorschriften, die der 
Spezialist gegeben hat, von Anfang an den Lehrern und den Leitern der Sonderklassen 
oder -schulen mitgeteilt werden. 

E 1. Daß der Unterricht unentgeltlich und verbindlich ist für alle Anormalen 
und Spätreifen, die für Erziehung empfänglich sind. 2. Daß in allen Instituten für 
Anormale ein regelmäßiger ärztlicher Dienst eingerichtet wird, der einem Spezialarzt 
für Nervenkrankheiten anvertraut wird. 3. Daß dieser ärztliche Spezialist von einem 
pädagogischen Assistenden unterstützt wird, der regelmäßig im Institut wohnt. 

F1. Daß in den Normalschulen ein regelmäßiger und vollständiger Unterricht 
in Psychiatrie und Psychologie gegeben wird. 2. Daß man dafür sorgt, die Zentren 
der psychiatrischen Studien auszudehnen. 3. Daß das Lehrpersonal an den Schulen 
für Anormale durch besondere Belohnungen ermutigt wird. 

G1. Daß in allen Städten mit Normalschulen eine Vervollkommnungsklasse 
oder eine selbständige Schule eingerichtet wird. wo die Lehrenden, von jeder Art, die 
notwendige Übungszeit abmachen können. um sich dem Unterricht der Anormalen 
widmen zu können. 


Erklärung. Im ]. Heft des 30. Bandes dieser Zeitschrift ist ohne meın Hin- 
zutun meinem Namen der Titel „Professor beigefügt worden, der mir nicht zukommt. 
Ich möchte dies hiermit ausdrücklich feststellen. 

Wien, den 17. Dezember 1924. Th. Heller, Wien-Grinzing. 


Druck von Hormann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaı 


MAY 14 1929 


ZEITSCHRIFT FÜR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDET VONJ. TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN I. B, TH. HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN 
F. WEIGL-AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN BERLIN BERLIN 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 


DREISSIGSTER BAND, HEFT 3 
(AUSGEGEBEN AM 28. MÄRZ 1925) 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1925 


II Leitachriit w Kinderforschung. 80. Band, 3. Heft. 





Die Zeitschrift für Kinderforschung 
erscheint zwanglos, in einzeln berechneten Heften, die zu Bänden von etwa 40—50 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 
Manuskripte werden erbeten an: 
ae Professor Dr. M. Isserlin, München, Mariannenplatz 21 
oder 
Fräulein Ruth v.der Leyen, Berlin W 15, Bayerische Str. 9. 
Redaktionelle Anfragen sind zu richten 
für den Originalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9, 
für den Referatenteilan Dr. R.Hirschfeld, Berlin W 9, Linkstr. 23/24. 


Von Originalaufsätzen werden 50 Sonderdrucke unentgeltlich geliefert, weitere gegen 
Berechnung. 


Mit Rücksicht auf die außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung gestellten Anzahl zu begnügen, und falls mehr 
Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom en zu erfragen, 
um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 











30. Band. Inhaltsverzeichnis. 3. Heft. 
Originalientell. Seite 

Stier, Ewald. Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Ein- 
Hassel u u 0: a ce Te re re Le ee se © 125 
Rothe, Karl Cornelius. Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder . . 145 

Bechtold, Eduard. Über das unmittelbare Behalten bei blinden und sehenden 
Schulkindern Men En ee ee ae A ee SEE Ten ht. ni So a es o 161 
Nohl, Hilde. Ziele und Wege des Schulkindergartens . . . . 2 2 2 2 2 2.0. 172 


Seelig, P. Über den Bau von Anstalten für psychopathische Fürsorgezöglinge . 180 
Francke, Herbert. Soziale und politische Einstellung in der Jugendwohlfahrtt . 190 











Tapung ar ee ai ea a a a ae a d . 200 
Gesetzgebung „0. ee ee 
Ausbildung 2»... % es 20.0 wie ans BE ee en EA 201 
Druckfehlerberichtigung . . . m oo er. . . 202 
Referatenteil, 
Normale Anatomie und Physiologie . 177 | Normale Pädagogik . ....... 195 
Biologie, Konstitution, Rasse, Ver- Heilpädagogik u. Anomalen-Fürsorge 200 
erbung . 2... e... 178 Schwachsinn, geistige und seelische 
Psychologie .. 2.5 wa a2 0x 185 (Gefühls- und Willens-) Anomallen 201 
Allgemeine und spezielle Psychologie. n Sinnendefekte, Sprachstörungen . . 202 
— Methodisches . . . . 2... ð 
Angewandte Psychologie . .-. . 187 Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung . . 204 
Genetische und vergleichende Psy- Allgemeines . . . 2.2.0... . 204 
chologie . . or m rn 189 Säuglings- und Kleinkinderfürsorge . 205 
Psychopathologie und Psychiatrie . . 190 Unehelichenfürsorge . . . . . 205 
Geistige Defektzustände. . . . . 190 | Jugendgericht u. Jugendgerichtshllfe, 
Psychopathie, Verwahrlosung . . . 192 | Forensisches . . . 2.2... 206 
Krankheiten des Kindesalters (einschl. Ä Gefängniswesn . . . ..... 207 
allgemeine Pathologie und Therapie) 193 ! Allgemeines . .... 22220. 208 
Autorenverzeichnis des Releratenteiles. 
Albert, Wilhelm 198. Bovet, Pierre 198, ' Dantzig, Branco van 208. | Fassl, E. 208. 
Albertini, A. 200. Braun, H. 208. | Dessauer, Fritz 208. Findlay, Leonard 19%. 
Bacher, G. 1%. Brezina, Ernst 179. | Dobson, R. R. 186. ! Fischer, E. P. 17i. 
Bechterew, W. 100. Bühler, Charlotte 185. Dolan, Helen H. 187. i| —, Heinr. 180. 
Beggs, S. Thos. 202. Chapmann,J. Crosby 186. Dumoutet 177. —, Martin 178. 
Bogatsch 204. Cohn, Paul 1%. Edens, J. J. 191. Flatau, Theodor S. AB. 
Bonhoeffer, K. 208. Czickeli, Hermann 19%. , Eliasberg, W. 188. Fleming, G. B. 188. 





Fortsetzung des Autorenverzeichnisses siehe III. Umschlagseile! 


Das Einschmutzen der Kinder 
und seine Besiehungen zum Binnässen. 


Von 


Pıof. Dr. Ewald Stier, Berlin. 


Im Gegensatz zu der überreichen Literatur über das Kinnäasen 
der Kinder finden wir über die verwandte Erscheinung des Ein- 
schmutzens — beides ist natürlich nur für die Zeit jenseits des 
Säuglingsalters gemeint — nur gelegentliche Notizen; irgend eine 
Arbeit, die sich speziell mit diesem Thema befaßt, habe ich überhaupt 
nicht finden können und zwar ebenso wenig in der kinderärztlichen wie 
in der neurologischen bezw. psychiatrischen Literatur. Die Ursache 
für diese Vernachlässigung dürfte weniger in dem nicht sehr ästhetischen 


Gegenstand zu suchen sein — handelt es sich doch bei den Ver- 
dauungskrankheiten der Kinder und ihrer Feststellung auch nicht um 
ein ästhetisch reizvolleres Gebiet —, als darin, daß das an sich schon 


nicht sehr häufige Symptom eben relativ selten die Eltern veranlaßt, 
den Kinderarzt aufzusuchen, weil sie es in der Regel rein vom er- 
zieherischen Standpunkt aus betrachten und sich von ärztlicher Hilfe 
einen genügenden Erfolg nicht versprechen. Daß es noch eine weitere 
Ursache für die seltene Konsultierung des Kinderarztes in dieser Frage 
gibt und diese in der psychischen Eigenart der Eltern gerade dieser 
Kinder gesucht werden muß, werden wir später sehen; dies letztere 
ist zugleich der Grund dafür, daß der Psychiater offenbar mehr 
von diesen Dingen sieht als der Kinderarzt. So habe ich persönlich 
lediglich bei Durchsicht der Krankenblätter, die ich in den Jahren 
1920—1922 in .meiner Tätigkeit als Fachschularzt für Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten angelegt habe, unter einem noch nicht 1000 Fälle 
umfassenden Material doch nicht weniger als 28 Fälle von Schul- 
kindern!) gefunden — 19 Knaben und 9 Mädchen —, bei denen das 
Einschmutzen bei Nacht oder bei Tage ein wesentliches Symptom des 
Krankheitsbilder ausmacht, sei es, daß ich wegen dieses Symptoms 


1) Nach dieser Zeit noch 9 weitere Fille. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 30, Bd. 9 


126 E. Stier: 
konsultiertt wurde, sei es, daß es sich bei Gelegenheit der Unter- 
suchung als Nebenbefund ergab. Idiotische oder überhaupt schwer 
schwachsinnige Kinder sind dabei nicht mitgezählt. 

Bei der Durchsicht der Krankenblätter hat sich zunächst. ergeben, 
daß das Einschmutzen grundsätzlich anders zu bewerten ist, als das 
verlängerte Einnässen der Kinder, und daß es auf andrer Basis entsteht. 

Bei der Beurteilung des Einnässens der Kinder haben wir drei, 
oder besser gesagt zwei große Gruppen zu unterscheiden. Die erste 
umfaßt diejenigen Kinder oder Jugendlichen, die den Übergang von 
der frühkindlichen reflektorischen Urinentleerung zu der bewußten 
und willkürlichen Form der Entleerung der älteren Kinder und Er- 
wachsenen völlig rechtzeitig, also im 2.—3. Lebensjahre, gefunden 
haben, bei denen dann aber später, sei es im Schlaf, sei es im 
Wachen, die willkürliche Regelung zeitweise versagt. Die Ursachen 
hierfür sind natürlich grundsätzlich Krankheiten, die im Gebiet der 
Blase bezw. ihrem nervösen Apparat oder weiter oberhalb im Zentral- 
nervensystem ihren Sitz haben, oder schließlich in das Gebiet der 
Geisteskrankheiten gehören. Alle diese Zustände, die uns hier nicht 
weiter beschäftigen sollen, sind prinzipiell abzutrennen von dem echten 
verlängerten Einnässen der Kinder; die Unterlassung dieser Abtrennung 
ist wohl die Hauptursache für die Verworrenheit in der allzu reichlichen 
Literatur über die Enuresis. 

Äußerlich, aber nur äußerlich, ihnen ähnlich sind diejenigen Fälle, 
bei denen im älteren Kindesalter oder in der Jugend unwillkürliche 
Urinentleerung im Schlaf oder im Wachen als scheinbare Neu 
erscheinung auftritt, bei denen aber eine sorgfältige Nachforschung 
ergibt, daß es sich in Wirklichkeit nur um eine Verschlimmerung 
bezw. einen Rückfall eines alten Zustandes handelt, insofern als die 
Betreffenden eben auch in den Kinderjahren nicht rechtzeitig den 
Übergang von der reflektorischen zur willkürlichen Urinentleerung 
gefunden, sondern erst um Jahre zu spät die völlige Beherrschung 
der Blase durch Willensimpulse erlernt hatten, oder kurz gesagt alte 
Bettnässer waren.!) Sie bilden also bei genauerem Zusehen nicht 








1) Hierher gehört die große Masse der jungen oder auch nicht mehr ganz jungen 
Männer, die beim Militär und besonders im Kriege durch ihr Einnässen zum Teil 
erhebliche Schwierigkeiten gemacht haben; nur ein verschwindend kleiner Teil von 
diesen scheinbar durch den Militärdienst krank gewordenen Leute kann mit Recht der 
Gruppe I unterstellt werden. Der vielfach bei der Beurteilung begangene Irrtum 
rührte daher, daß die Betreffenden ein Interesse daran hatten, die Tatsache des Ein- 
nässens in der Kinderzeit zu verschweigen und daß es in der Regel schwierig oder 
gar unmöglich war. dies nachträglich in beweiskräftiger Form festzustellen. 


Das Einsehmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Einnässen. 127 


eine besondere, der ersten zugehörige Untergruppe, sondern höchstens 
eine Unterabteilung der folgenden Hauptgruppe. 


Diese zweite Hauptgruppe umfaßt die echten Bettnässer, 
d. h. diejenigen Kinder, die die für das früheste Kindesalter physio- 
logische Form der Urinentleerung über diese Lebenszeit hinaus fest- 
gehalten und die rein willkürliche willensmäßige Beherrschung der 
Blase um Jahre zu spät bezw. unvollständig erlernt haben. 

Vergegenwärtigen wir uns einmal den physiologischen Hergang 
bei der Urinentleerung und die Rolle, die der Blase im Haushalt des 
Organismus zufällt, dann ist ohne weitere Begründung klar, daß die 
Blase den Zweck hat, den tropfenweise und ziemlich gleichmäßig von 
den Nieren abgesonderten Urin aufzusammeln, damit nicht ein dauernd 
feuchter Weg vom Innern des Organismus nach der Außenwelt ent- 
steht, der Krankheitserregern sonst bald den Zutritt zu Blase und 
Nierenbecken ermöglichen würde und bei Blasenlähmung, wie wir 
wissen, auch tatsächlich ermöglicht. Durch Hinunterfließen des Urins 
aus den Harnleitern füllt sich der bei leerer Blase nur imaginäre Innen- 
raum der Blase langsam an; hat die Füllung einen gewissen Grad 
erreicht, dann übt die Flüssigkeit einen Druck auf die Blase aus, die 
Wände werden zunehmend gespannt und diese Spannung und Dehnung 
wirkt als Reiz auf die in den Blasenwänden enthaltenen Ganglien- 
zellen des Sympathicus. Dieser Reiz wird auf den Blasenhals über- 
tragen und unter einer im einzelnen noch nicht bekannten Mitwirkung 
weiterer Teile des Sympathicus im Becken bezw. Sakralmark zum 
Gehirn weiter geleitet; der Tonus des Blasenschließmuskels läßt dann 
nach und der Urin wird unter normalen Verhältnissen auf einmal 
und vollständig aus der Blase ausgestoßen. !) 


Dieser Vorgang geschieht beim kleinen Kind rein reflektorisch. 
Er führt dazu, daß das Kind an Schenkeln und Leib von Urin be- 
netzt wird, ein Ereignis, das bei dem älter werdenden Kind Kälte- 
und später wohl auch Ekelgefühle weckt. Auch ohne mütterliche 
Belehrung und Dressur würde daher das Kind, ebenso wie wir es 
bei den Tieren sehen, zweifellos dazu kommen, diese unangenehmen 
(sefühle dadurch zu vermeiden, daß es den Reiz der gefüllten und, 
wie es scheint, dann sich rhythmisch kontrahierenden Blase zu be- 


- = sam aei aa aes 


') Nach den interessanten Versuchen von Wynen (Ach. neerland. de physiol. 
de homme et des animaux. 1921, 6. Lieferung 2, S. 221) zeigt die Urinentleerung 
bei der Katze nach völliger Isolierung und Entnervung der Blase keine wesentliche 
Störung, die Entleerung erfolgt also zum mindesten bei der Katze auch ohne nennens- 
werte Beteiligung höher gelegener Zentren, speziell des Rückenmarks und Gehirns. 


9* 


128 E. Stier: 


achten und den Reflex der Entleerung willkürlich so lange zu 
unterdrücken, bis es eine Körperhaltung angenommen oder eine Situation 
erreicht hat, die die Benässung des Körpers und der Kleidung ver- 
hindert. Dies Erlernen der willkürlichen Beherrschung der Blasen- 
entleerung zeitlich zu fördern, liegt so sehr im Interesse der Mutter 
bezw. Pflegerin, daß Versuche dazu kaum jemals unterlassen werden. 

Die Folgen dieser Bemühungen sind sehr verschieden. Das 
intellektuell gut entwickelte, körperlich und nervös gesunde Kind er- 
lernt die Beherrschung der in Betracht kommenden Funktionen früh; 
es meldet schon am Beginn des 2. Lebensjahres zunehmend recht- 
zeitig den Urindrang an und unterdrückt willkürlich so lange den 
Entleerungsreflex, bis es in die gewünschte Situation gebracht worden 
ist oder sich selbst gebracht hat. Im Laufe der nächsten Monate und 
Jahre wird dann die Verbindung zum Großhirmm so weit „eingeschliffen“, 
daß sie auch im Schlaf — zu einer Zeit also, in der auch die Ab- 
sonderung des Urins normalerweise geringer ist — funktioniert und die 
Kinder von den rhythmischen Kontraktionen der gefüllten Blase er- 
wachen, ehe die reflektorische Entleerung erfolgt ist. 

Hält man sich diese Tatsachen vor Augen, dann stößt die Be- 
urteilung der zu lange an Einnässen leidenden Kinder nicht mehr 
auf Schwierigkeiten. Es erhellt vielmehr von selbst, daß die Ursache 
für die unerfreuliche Erscheinung entweder in einer Übererregbar- 
keit des peripheren, in der Blasenwand gelegenen Anteils des Reflex- 
bogens oder in einem ungenügenden Funktionieren des dem Zentral- 
nervensystem zugehörigen Hemmungsapparates gelegen sein muß. 

Die Übererregbarkeit des in der Blasenwand oder vielleicht auch 
zum Teil im Becken gelegenen nervösen Apparates kann ausnahnıs- 
weise wohl eine fast oder ganz isolierte Erscheinung bei einem 
Kinde sein; in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle ist sie dies 
jedoch nicht, sondern stellt nur eine Teilerscheinung der allgemeinen 
nervösen Übererregbarkeit dar, die ihrerseits das zentrale und Haupt- 
symptom der konstitutionellen Neuropathie ausmacht. Wir tinden 
sie also fast stets vergesellschaftet mit den übrigen Symptomen der 
kindlichen Neuropathie. Von diesen seien nur kurz erwähnt die 
Überempfindlichkeit gegen Licht. gegen Geräusche, gegen Gleich- 
gewichtsschwankungen (Rückwärtsfahren. Schaukeln, Karusselfahren) 
gegen schlechte Gerüche und scharfe Geschmacksreize, gegen juckendk 
und kratzende Hautreize, gegen Hitze, Kälte und ähnliches; des ferneren 
kommen in Betracht die vasomotorische und sekretorische Übererreg- 
barkeit in Form von Herzklopfen, raschem Farbwechsel. Erythema 
pudicum, Dermographie, lokaler Synkope an den Fingern und Zehen, 





Jas Einschmutzen der Kinder seine Bezi n zum Einnässen. 90 
Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum E 2q 


Ohnmachten, übermäßiger Schweißabsonderung, Durchfällen, ja auch 
die Überempfindlichkeit gegen artfremdes Eiweiß und andere Sub- 
stanzen, wie Eier, Krebse, Fische. Erdbeeren usw.!) Die Übererreg- 
barkeit selbst zeigt sich dabei darin, daß die motorische Erfolgs- 
reaktion rascher und intensiver auftritt als sonst, also auch schon 
bei Reizen, die sonst überhaupt eine Reaktion nicht hervorrufen bezw. 
nicht erkennen lassen. 


Auf dem Gebiet der Urinentleerung tritt die Übererregbarkeit in 
der Weise zutage, daß bei den betreffenden Kindern schon von der 
halb oder ganz wenig gefüllten Blase Reize ausgehen bezw. Kon- 
traktionen der Blasenwände ausgelöst werden, die ohne ausreichende 
Hemmung sofort zu einem Harndurchbruch führen. Der gehäufte 
und imperatorische Harndrang ist also das Kardinalsymptom und 
wichtigste Erkennungszeichen des auf neuropathischer Konstitution 
beruhenden Einnässens. In diese Untergruppe der Kinder gehören 
von den zahllosen von mir untersuchten Kindern mit Bettnässen 
mindestens ®/,, wenn nicht noch mehr. Sie werden in der Schule 
auffällig und störend durch den häufigen Wunsch, auch während des 
Unterrichts austreten zu dürfen; auch ist charakteristisch für sie, daß 
das Einnässen bei Tage meist in kleinen Mengen erfolgt, dadurch 
daß die Urinentleerung, kurz ehe die Kinder den geeigneten Platz 
gefunden haben, schon ihren Anfang nimmt, die Hauptmasse des 
Urins dann aber am richtigen Ort entleert wird. Psychische Mo- 
mente spielen dabei eine große Rolle, entsprechend der grundsätzlich 
gesteigerten Ängstlichkeit und Schreckhaftigkeit dieser Kinder; auch 
genügt oft eine plötzliche affektive Erregung, um den raschen Harn- 
durchbruch herbeizuführen oder wenigstens in Gang zu setzen. Bei 
Nacht ist der Schlaf dieser neuropathischen Kinder meist unruhig 
und schlecht und die Urinabsonderung selbst gegen die Zeit des 
Wachseins kaum herabgesetzt. Sie erwachen aber meist leicht in der 
Nacht, benutzen oft das Nachtgeschirr, nässen aber trotzdem zur Zeit 
der größten Schlaftiefe nicht selten ein, da eben die reflektorische 
Entleerung schon bei ungenügend gefüllter Blase und dann zu rasch 
eintritt, ehe völliges Erwachen erreicht ist. 


Bei der zweiten, zahlenmäßig außerordentlich viel kleineren Unter- 
gruppe der zweiten Hauptgruppe liegt die Ursache des Einnässens 
in einer zu spät einsetzenden und unvollständigen Entwicklung des 
Hemmungsapparates, der durch das Rückenmark geleitet wird 


t) Niehe dazu meine frühere Arbeit: Abgrenzung und Begriff des neuropathischen 
Kindes. Deutsche Medizinische Wochenschrift 1915. Nr. 27. 


130 E. Stier: 


und im Großhirn lokalisiert ist.!) Theoretisch möglich wäre dabei, 
daß eine Unterentwicklung der Leitungsbahn und vielleicht auch der 
reflektorischen Zentren im Rückenmark in Ausnahmefällen in Betracht 
kommen könnte, ein Gedanke, der neuerdings viel ventiliert worden 
ist und zu der eigenartigen Lehre von der Myelodysplasie als Ur- 
sache des Einnässens geführt hat. Daß diese theoretische Möglichkeit 
jedoch praktisch irgendwie eine Rolle spielt, kann wohl sicher aus- 
geschlossen werden. Denn einmal sind anatomische Veränderungen 
in Rückenmark, die eine solche Dysplasie beweisen könnten, bei 
Kindern mit einfachem verlängertem Einnässen noch nie gefunden 
worden, dann aber würde auch die Tatsache, daß die Kinder eben, 
wenn auch später, so schließlich doch die willkürliche Beherrschung 
(ler Blase voll erlernen, durch eine anatomische Unterwertigkeit spinaler 
Zentren und Bahnen sich kaum noch erklären lassen. Es kommt 
hinzu, da Graessner durch Röntgenbilder und Gelpke?) durch 
klinische Untersuchungen von Kindern, die notorisch nicht an ver- 
längertem Einnässen gelitten haben. bewiesen haben, daß Spalten in 
den Wirbelbögen oder die sogenannten Fuchsschen Symptome 
(Syndactylie, Reflexanomalien, Thermhypästhesien, Spina bifida occulta) 
eben durchaus nicht nur bei Kindern mit Bettnässen, sondern fast 
oder ganz ebenso häufig auch bei den Kindern ohne Bettnässen vor- 
kommen. Die fraglichen Anomalien haben also sicherlich nichts mit 
der angenommenen Myelodysplasie zu tun, sondern sind lediglich als 
mehr oder minder belanglose Degenerationszeichen zu werten. 

Die ungenügende Hemmung hat also in Wirklichkeit wohl aus- 
nahmslos ihren Grund in der ungenügenden Entwicklung oder Be- 
tätigung der psychischen Funktionen. sei es mit, sei es ohne ana- 
tomische Minderwertigkeit der Hirnrinde, speziell der dort anzunehmen- 
den Blasenzentren. Doch ist immerhin bemerkenswert, daß wir nur 
bei schwerem Schwachsinn eine nennenswerte Verspätung der will- 
kürlichen Blasenentleerung als die Regel ansehen können, während 
wir bei leichtem Schwachsinn meist und bei mittlerem Schwachsinn 
auch oft lediglich eine mäßige Verspätung antreffen. Die geringere 
Ansprechbarkeit der Aufmerksamkeit und die Urteilsschwäche, die 
wir als zum Wesen des Schwachsinns gehörig ansehen, üben demnach 
offenbar einen weit weniger störenden Einfluß auf das Erlernen der 


') Nach den wohl beweiskräftigen Untersuchungen, die Pfeifer in Nietleben 
an Hirnverletzten angestellt hat — Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psych- 
iatrie 1919. 46, S. 173 — sind diese Zentren offenbar doppelseitig und zwischen Arm- 
und Beinzentren gelegen, vielleicht etwas nach hinten von ihnen. 

?) Monatsschrift für Kinderheilkunde. November 1920. 


Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Eıinnässen. 13] 


Beherrschung der Blasenfunktionen aus, als die vorher besprochene 
Übererregbarkeit des nervösen Blasenapparates. 


Zentral bedingt und auf psychische Einflüsse zurückzuführen ist 
schließlich das verlängerte Einnässen auch in der nach meiner Er- 
fahrung recht kleinen dritten Untergruppe der Kinder, die gegen Nässe 
und Kälte wenig empfindlich sind und vor allem den durchnäßten 
Kleidern und Betten gegenüber und dem von ihnen ausströmenden 
Uringeruch gegenüber Ekelgefühle nicht entwickeln. Bei diesen 
Kindern kommt es ohne gesteigerte Erregbarkeit und auch ohne Schwach- 
sinn dann zum Einnässen, wenn die Unlustgefühle, die sie zum 
Aufsuchen des Klosetts überwinden müßten, stärker sind als die Un- 
lustgefühle gegenüber den Folgen des Einnässens. „Aus Faulheit“ 
nässen solche Kinder also meist dann ein, wenn sie nachts kein Nacht- 
geschirr oder Klosett in der Nähe haben und zur Urinentleerung sich 
ankleiden oder gar auf den Hof gehen müssen; ja es gibt Kinder, 
. die auch bei Tage gelegentlich lieber den Urin herunterfließen lassen, 
als sich ins Klosett begeben, ja sogar solche, die in perverser Weise 
Lustgefühle empfinden, wenn sie nachts oder morgens im Bett im 
„feuchten Umschlag“ des von Urin durchnäßten Bettes liegen. Der 
Ausfall oder die Herabsetzung der Hemmungen gegenüber der re- 
flektorischen Entleerung des Urins kann also auf recht verschieden- 
artigen Ursachen beruhen. 


Eine gewisse Sonderstellung nehmen neben diesen beiden Haupt- 
gruppen der Einnässer schließlich noch diejenigen, vielleicht als dritte 
Hauptgruppe abzugrenzenden Kinder ein, die ohne eigentlich schwach- 
sinnig oder besonders über- oder unterempfindlich zu sein, doch fast 
regelmäßig 1 bis 2 Stunden nach dem Einschlafen, ohne zu erwachen. 
große Harnmengen ins Bett entleeren. A. Lippmann!t) fußend 
auf den Untersuchungen von Weitz, hat für diese Fälle nach- 
zuweisen versucht, daß es sich hier um Kinder handelt, die so un- 
empfindlich sind, daß sie die Blasenkontraktionen, die besonders nach 
dem periodischen, stärkeren Einsetzen der Nierensekretion erfolgen, 
gar nicht bemerken. Im weiteren hat er festgestellt, daß die Intensität 
der Nierensekretion stark abhängig ist von der Körperhaltung, und 
daß die Kinder, wenn sie beim Schlafengehen die horizontale Lage 
einnehmen, oft mit einer auffällig starken Urinsekretion reagieren; 
der dadurch bedingte starke Einschuß großer Flüssigkeitsmengen in 
die Blase durchbricht dann nach seiner Ansicht reflektorisch den Blasen- 

1) A. Lippmann. Zur Entstehung und Behandlung der Enuresis. Deutsche 
Med. Wochenschrift. März 1921, S. 377. 


132 E. Stier 


verschluß, ohne zum Erwachen zu führen, da die Kinder dann gerade 
im allertiefsten Schlafe sich befinden. 


Nach meiner persönlichen Erfahrung halte ich den Nachweis da- 
für, daß gerade bei diesen nur nächtlichen Einnässern eine Un- 
empfindlichkeit der Blase bestehen soll, für wenig wahrscheinlich. vor 
allem da ja dies auch bei Tage sich bemerkbar machen müßte; für 
wahrscheinlich richtig dagegen halte ich die Lippmannsche Angabe, 
daß viele Kinder auf den Übergang in die horizontale Lage — und 
wohl noch mehr auf die Bettwärme — mit einer Überfüllung der 
Blase durch plötzlich vermehrte Urinsekretion reagieren und daß 
durch das Zusammentreffen dieser Überfüllung mit der Zeit des tiefsten 
Schlafes die bei Tage und sonst schon gut wirksamen Hemmungen 
nicht mehr so weit in Tätigkeit treten, daß Erwachen erfolgt. 


Für diese Fälle lägen danach die Ursachen des Einnässens nicht 
so sehr in konstitutionellen Eigentümlichkeiten des nervösen Blasen- 
apparates oder der psychischen Funktionen, sondern in einer speziellen 
Eigenart der Harnabscheidung in den Nieren, die in letzter Linie 
natürlich auch auf Besonderheiten des nervösen oder endokrinen Appa- 
rates zurückzuführen wäre. 

Die Behandlung des verlängerten Einnässens muß natürlich auf 
der Erkenntnis seiner Ursachen sich aufbauen. Bei den vorher ge- 
nannten indolenten, unempfindlichen Kindern werden wir mit kraft- 
vollen, bei den schwachsinnigen Kindern mit vorsichtigeren päd- 
agogischen Mitteln vorgehen müssen. Bei den überempfindlichen 
Neuropathen müssen wir versuchen, die allgemeine Überempfindlich- 
keit zu mildern durch roborierende Diät, Regulierung der Lebens- 
weise (wohlüberlegte Tageseinteilung. morgens reichliche, abends spär- 
liche Ernährung, Mittagsruhe usw.), vorsichtige Körperübungen, Reiz- 
gewöhnung, sowie Erziehung zu einer gewissen Herzhaftigkeit des 
ganzen Fühlens und Handelns. Direkter werden wir unter Umständen 
durch hypnotische Suggestion auf das Einnässen einwirken können. 
besonders auf das nächtliche. Nicht zu vergessen ist aber auch, daß 
bei dauernder Gewöhnung an eine zu häufige Entleerung kleiner 
Urinmengen die Blase die Fähigkeit zum Festhalten größerer Urin- 
mengen einbüßt, oder garnicht gewinnt und daß man durch syste- 
matische passive Füllung der Blase mit zunehmenden größeren 
Wassermengen diese Kinder gewöhnen kann, eine stärkere Füllung 
der Blase für einige Zeit zu ertragen. Es ist das ein Weg, der, wie 
ich aus eigner Erfahrung weiß, nieht gar so selten Nutzen bringt, he- 
sonders wenn man suggestiv gleichzeitig auf die Kinder einwirkt. 


Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Einnässen. 133 


Für die vorher genannte. von Lippmann abgegrenzte Gruppe von 
Kindern erscheint der Ratschlag. sie eine Stunde vor der Zeit, in der 
sie schlafen sollen, zu Bett zu legen und sie so die Zeit der plötzlich 
verstärkt einsetzenden Nierensekretion noch im Wachen durchleben zu 
lassen, sehr beherzigenswert. In leinigen geeigneten Fällen habe ich 
auch gute Erfolge damit gehabt. 


Vergleichen wir mit diesem Vorgang bei der Urinentleerung die 
entsprechenden Vorgänge bei der Entleerung des Mastdarms, so 
liegen die Verhältnisse zunächst ganz ähnlich. Auch hier erfolgt die 
Entleerung bei den Neugeborenen und den ganz kleinen Kindern rein 
reflektorisch, später wird sie durch Willenseinflüsse gehemmt und 
reguliert. Es bestehen aber doch daneben weitgehende Unterschiede. 
Diese liegen einmal darin, daß die Stuhlentleerungen viel seltner er- 
folgen als die Blasenentleerungen, des weiteren darin, daß der Mast- 
darm nicht wie die Blase einen geschlossenen Raum bildet, der ledig- 
lich passiv der Aufbewahrung der einströmenden Mengen dient, sondern 
daß ihm auch die wichtige Funktion obliegt, durch Resorption die ein- 
strömenden Fäkalien einzudicken und damit ihre Quantität zu verringern. 
Entsprechend zugleich dem kontinuierlichen Zusammenhang mit den 
höher gelegenen Darmabschnitten kommt es bei ihm niemals zu einem 
solchen Zustand der Füllung und damit unter Umständen sogar ge- 
fährlichen Spannung der Darmwände, wie das bei den Blasenwänden 
möglich ist. Die Folge davon ist, daß auch der Reiz zur Entleerung 
des nicht erkrankten Darms grundsätzlich seltner, weniger kräftig 
und weniger plötzlich einsetzt, als der Reiz zur Urinentleerung und 
im Schlaf so gering wird, daß eine reflektorische Entleerung während 
dieser Zeit kaum je erfolgt. Bedenken wir schließlich. da die Stuhl- 
entleerung unter normalen Verhältnissen die Mitbeteiligung der Bauch- 
presse erfordert. also einen Willensakt darstellt und daß eine Be- 
netzung des Körpers und der Kleidung mit Urin von den psychisch 
gesunden Menschen lange nicht so unangenehm für Haut und Nase 
empfunden wird als eine Beschmutzung mit Kot, dann sehen wir, daß 
alle Bedingungen gegeben sind, um dem älter werdenden Kind die 
Beherrschung der Mastdarmfunktion rascher und vollständiger zu er- 
möglichen, als die Beherrschung der Blasenfunktion, da eben die Ge- 
samtheit der erregenden Impulse viel seltner und schwächer und die 
hemmenden Einflüsse sehr viel stärker entwickelt sind. 

Wenn trotzdem einige Kinder die Beherrschung der Mastdarn- 
funktion erst abnorm spät erlernen, so sind die Gründe dafür naturgemäß 
grundsätzlich die gleichen wie beim verlängerten Einnässen, nämlich eine 


134 E. Stier: 


Übererregbarkeit des peripheren nervösen Apparates oder ungenügende 
Entwicklung der zentralen oder psychischen Hemmungen, doch müssen 
beide Arten von Störungen nach dem Gesagten erheblich stärker 
ausgeprägt sein, als bei den an Einnässen leidenden Kindern. Nur 
Kinder, die so überempfindlich sind, daß durch affektive Erregung, 
z. B. Angst, eine ungewöhnlich starke und rasche Zunahme der Kon- 
traktion des gefüllten Mastdarms ausgelöst wird, werden, ohne daß sie 
Durchfall haben, den Stuhl ganz unwillkürlich entleeren, bezw. das 
Klosett so spät erreichen, daß die Entleerung schon begonnen hat. Be- 
günstigt wird der Eintritt einer ungewollten Darmentleerung natürlich 
durch jede Art von Darmerkrankung, die den Mastdarm in einen 
krankhaften Reizzustand versetzt. Die hierdurch geschaffene vorüber- 
gehende Übererregbarkeit wird aber auch dann um so leichter zum Ein- 
schmutzen führen, je reizbarer und erregbarer der nervöse Darm- 
apparat bei dem betreffenden Kinde von Hause aus ist. 

Eine Herabsetzung der Hemmungen wird andererseits zu habi- 
tuellem Einschmutzen nur dann Veranlassung geben, wenn entweder 
der periphere Anteil, nämlich der nervöse Tonus des Darmverschlusses, 
dauernd zu schwach ist, oder wenn tiefer Schwachsinn vorliegt, oder 
schließlich, wenn Ekelgefühle über den in die Kleidung entleerten 
Stuhl fehlen oder nicht ausreichend stark sind, um genügend kräftige 
Impulse zur rechtzeitigen Aufsuchung des Klosetts auszulösen. — 

Sehen wir nun, wie die Wirklichkeit der klinischen Beobachtungen 
über Einschmutzen sich zu diesen theoretischen Überlegungen verhält. 

Gruppe Il. 

Herbert R.. 9 Jahre alt. Zugegangen 18. Dezember 1920. Referentin: Mutter. 

Vater: sehr reizbar. hat früher viel Schnaps getrunken. 

Dessen Vater hat. „furchtbar getrunken“ und sich erhängt. 

Mutter: anscheinend o. B. Einzige, 13jährige Schwester sehr reizbar und 
unruhig. 

Geburt, Laufen und Sprechen o. R. Von jeher schwächlich, leicht krank. Uber- 
empfindlich gegen Rückwärtsfahren und Schaukeln, will keine wollnen Strümpfe tragen, 
weil die „so kratzen“, friert leicht, schwitzt leicht. Immer müde und matt. Morgens 
oft Schwindelgefühl, mehrmals beim Aufstehen Erblassen, Taumeln, konnte sich gerade 
noch halten oder hinsetzen. Nicht völlig bewußtlos dabei, erholte sich dann ziemlich 
rasch. Liebevoll, gutmütig, aber reizbar, wird leicht sehr wütend, stampft dann mit 
dem Fuß auf, beruhigt sich schnell. 

Sehr sauber und ordentlich. Betragen auch in der Schule sehr gut, verträgt 
sich gut mit Gleichaltrigen. Lügen, Stehlen oder auch nur Naschen ist niemals vor- 
gekommen. Sexuell: o. B. Lernt gut. stets versetzt. 

Einnässen von klein auf, jede Nacht, früher manchmal zweimal in der Nacht, 
in der letzten Zeit ein wenig seltener. Muß auch bei Tage oft austreten, läuft 


dann sehr rasch zum Kloset: trotzdem dabei manchmal ein wenig Einnässen in die 
Kleider. 


Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen ziun Einnässen. 135 


Einschmutzen jetzt nicht mehr. Hatte aber früher, bis vor einigen Jahren 
oft übermäßig plötzlichen Drang zur Stuhlentleerung, besonders bei kleineren Er- 
regungen, auch wenn er keinen Durchfall hatte, erreichte dann das Kloset nicht ganz, 
- beschmutzte sich etwas die Hose. War darüber sehr traurig, konnte sich gar nicht 
beruhigen. In letzter Zeit ist der Stuhldrang selten noch so plötzlich und gewaltsam; 
Einschmutzen ist nicht mehr vorgekommen. 

Befund: Dem Alter etwa entsprechend entwickeltes Kind, ziemlich groß, grazil. 
fast schwächlich gebaut. Haare hellblond, ganz schlicht, Gesicht blaß. Haargrenze 
an der Stirn tief herunterreichend, Ohren abstehend, wenig differenziert, 5. Finger. 
besonders links, verkrümmt. An den inneren Organen nichts Krankhaftes. Pupillen- 
reflexe o. B. Auf Nadelstiche übermäßige Abwehrreaktion. Am Körper und in der 
Kleidung sehr sauber und gut gepflegt. Verhalten zurückhaltend, schüchtern, ängstlich. 
Intelligenz gut. — 

Rudolf H., 13'/, Jahre alt. Zugegangen 19. Januar 1921. Referent: Vater. 

Vater: eigenartig stiller Mensch, sehr zurückhaltend; über sein Vorleben und 
seine Familie sind Angaben kaum zu erzielen. 

Mutter: angeblich eigenartig. Genaueres auch hier nicht zu erfahren. Die 
einzige. 12jährige Schwester besucht die Hilfsschule. 

Geburt, Laufen o. B. Sprechen mit 4 Jahren angefangen, langsam und schlecht 
erlernt. Als er zur Schule kam, war die Sprache noch schlecht. Lernte nicht gut. 
Mit viel Nachhilfe zu Hause kommt er doch nicht ganz mit. Sitzt jetzt in der 
3. Klasse. War von jeher still, ängstlich, spielte am liebsten allein, fürchtete sich 
vor Dunkelheit und vor dem Alleinsein. Schlaf war immer schlecht und unruhig. 
Gegen starke Sinnesreize angeblich etwas empfindlich, friert leicht. Angaben im 
einzelnen nicht zu erzielen. War früher stets brav, hat aber in letzter Zeit dem 
Vater zweimal kleine, herumliegende Geldbeträge genommen und vernascht; als es 
der Vater erfuhr, lief der Junge fort und wurde erst nach drei Tagen von der Polizei 
zurückgebracht, hungrig, verschmutzt, verängstigt. Keine Neigung zum Lügen: 
sexuell o. B. War stets sauber und ordentlich. 

Einnässen früher jede Nacht, dann hin und wieder, bis zum vorigen Jahre. 
Bei Tage ist auch manchmal etwas Einnässen vorgekommen. aber immer nur bei 
angstvoller Erregung. Ohne das aber gehäufter und vermehrter Urindrang. 
Einschmutzen im ganzen etwa dreimal, immer zusammen mit Einnässen bei 
Angst. War sehr unglücklich darüber. Ohne Angst oder bei Nacht ist es niemals 
vorgekommen. 

Befund: Mittelkräftiger Junge. Körperlich sonst o. B. Keine gröberen De- 
generationszeichen. Intelligenz anscheinend etwas unter dem Durchschnitt. Prüfung 
im einzelnen nicht möglich. da Antworten kaum zu erzielen sind. Zurückhaltend, 
verschlossen, nicht eigentlich sichtbar ängstlich bei der Untersuchung — 


Johannes B., 14 Jahre alt. Zugegangen am 16. Dezember 1922. Referentin: Mutter. 

Vater: dem Bericht nach fleißiger, ordentlicher Handwerker, freundlich, gefällig. 
aber empfindlich. Leidet viel an anfallartig auftretenden Kopfschmerzen mit Flimmern 
und Übelkeit: der Beschreibung nach echte Migräne. Dessen Vater war Wein- 
reisender, an sıch kein Trinker; später aber fing er alle paar Munate an zu trinken, 
wurde ruhelos, ging „auf Wanderschaft“, kam dann elend, verlaust und verschmutzt 
zurück, ist zum Schluß in solchem Zustand von der Straßenbahn totgefahren. Schwester 
des Vaters war eigenartig, erzählte zwecklose, phantastische Lügengeschichten, litt auch 
an echter „Migräne“, hatte auch mehrmals Anfälle, die der Beschreibung nach epi- 
leptischer Natur waren. Später im Siechenhaus gestorben. Bruder des Vaters war 


136 E. Stier: 


„gar nicht wie ein Mann“, weichlich, überempfindlich. Von den andern Schwestern 
soll eine sehr raffiniert, die andere immer matt und schwächlich sein. 

Mutter und deren Familie o. B. Geschwister leben nicht, 2 sind klein gestorben, 
eins davon mit 3 Jahren, nachdem es alle 3—4 Wochen große Krampfanfälle ge- - 
habt. hatte. 

Geburt, Laufen, Sprechen rechtzeitig und o. B. Nie Krämpfe. Lemt auf der 
Schule gut. War aber immer sehr empfindlich; erkältete sich bei Kleinigkeiten, friert 
noch jetzt immer übermäßig, kann Hitze nicht vertragen. schwitzt leicht. Einmal 
echte Ohnmacht mit Bewußtlosigkeit und Umfallen im Wartezimmer des Arztes, „als 
es so schlecht roch“. Echte Migräneanfälle seit dem 10. Jahre alle paar Wochen: 
Kopfschmerzen streng halbseitig links, Flimmern links, Lichtscheu, Übelkeit, öfter auch 
Erbrechen. Dauer 1—2 Tage. Sehr empfindlich im Essen. nach Sauerkohl gleich 
Erbrechen. auch sonst leicht Übelkeit; bei Essig oder Pfeffer angeblich immer Er- 
brechen tagelang, aber kein Durchfall dabei. 

Mückenstiche schwellen übermäßig auf. Nesselfieber bisher nicht. Ist nicht 
immer matt, hat aber keine rechte Ausdauer; ist ablenkbar, zappelig, unruhig. 

Kommt jetzt wegen Schulschwierigkeiten; ist vor einigen Tagen um */, 1 Uhr 
in alle Klassen hineingelaufen und hat gemeldet, der Rektor heße sagen, die Schule 
sei zu Ende, die Kinder sollten nach Hause gehen. Das geschah auch. Nachher 
stellte sich heraus, da8 nichts Wahres daran war. Hatte es „zum Spaß“ getan. Auch 
sonst lebhafte Phantasie. Als er in der Lungenfürsorgestelle gewesen war, hat er zu 
Hause große Geschichten erzählt, er sei durchleuchtet worden, auf der Platte habe 
man gesehen, daß er Darmgeschwüre habe, er solle nun alle drei Tage zum Arzt 
kommen zur Röntgenhehandlung. Macht sich auch sonst gern wichtig. 

Schule schwänzen jetzt längere Zeit. Zu Hause immer andere Erklärung dafür. 
Sagte einmal, die Schule fiele aus, dann wieder, der Lehrer sei krank, Soldaten 
seien in die Schule gelegt. die Schulzimmer müßten desinfiziert werden, die Kinder 
seien in andere Schulen überwiesun, wo bloß Nachmittagsunterricht sei und ähnliches. 
Weiteres Herumtreiben bisher nicht. Ein eigentliches Lügen oder Stehlen ist bisher 
nicht beobachtet. Zu Hause freundlich, gefällig, immer hilfsbereit, leicht zu beeinflussen. 

Einnässen niemals, auch kein vermehrter Drang zum Ürinlassen. 

Einschmutzen bis zum 5. Jahre, jetzt wieder seit dem 10. Jahre, ziemlich 
häufig. Hat sehr plötzlich Drang dazu, läuft dann eilig, erreicht aber Kloset zu 
spät. Meldet sich immer nachher. Dies Einschmutzen kommt gelegentlich auch in 
der Schule oder auf der Straße vor. Mutter hat auch beobachtet, daß, wenn er zu 
Hause laut lacht, ihm plötzlich der Stuhl durchtritt, ebenso wenn er lebhaft herum- 
tollt zu Hause. Es sind meist nur kleine Mengen, dann kann er anhalten und rasch 
das Kloset aufsuchen. In der Schule sind durch Einschmutzen keine Schwierigkeiten 
entstanden, da er oft austreten darf auch während des Unterrichts. Im übrigen zu 
Hause wie früher. 

Befund: Mittelgroß, schlank. etwas blab, hellblond, Haare ganz schlicht, sieht 
aus wie ein Junge aus kulturell hochstehender Familie. Am Körper sehr sauber. 
Kleidung sorgfältig und gut gehalten. Eindruck fast mädchenhaft. Verhalten fröhlich. 
liebenswürdig. Intelligenz mindestens durchschnittlich. An den inneren Organen 
nichts Krankhaftes. Eine besondere Untersuchung des anus oder des Mastdarms habe 
ich leider nieht vorgenommen. 


Betrachten wir diese 3 Kinder im ganzen, so zeigt sich, daß wir 
in allen 3 Fällen eine Kombination von gesteigerter Erregbarkeit 


Das Einschmutzen der Kinder und seine Deziehungen zum Einnässen. 137 


vor uns haben mit einer gleichfalls konstitutionellen Herabsetzung der 
Hemmungen, die einmal vielleicht etwas auf psvchischem Gebiet, 
im übrigen im nervösen Apparat des Enddarnıs gelegen ist. Auch 
die Kombination dieser dauernden Schwächezustände reicht aber noch 
nicht aus; erst wenn dazu noch vorübergehende Schädigungen, 
wie angstvolle Erregung oder plötzliche gewaltsame Kontraktion der 
Bauchpresse, z. B. beim Lachen hinzutreten, tritt der unerwünschte 
Effekt ein. Zugleich sehen wir, ebenso wie fast auf allen Gebieten 
der nervösen Übererregbarkeit, auch hier eine mit zunehmendem Lebens- 
alter gleichfalls zunehmende Beherrschbarkeit. der Darmentleerung und 
damit ein allmähliches Nachlassen oder Aufhören der Störungen. 

Im einzelnen zeigt uns Fall 1 als Dauererscheinung in körper- 
licher und nervöser Beziehung das Bild des neuropathischen 
Kindes. Der Junge ist für sein Alter groß, grazil, schwächlich, hat 
übermäßig blonde, ganz schlichte, dünne Kopfhaare, einige Degenerations- 
zeichen, blasse Gesichtsfarbe. Die Überregbarkeit zeigt sich auf dem 
Hautsinnesgebiet in Überemptindlichkeit gegen juckende und kratzende 
Hautreize und gegen Kälteeinwirkung, im übrigen auf dem Gebiet des 
vestibularis in Neigung zum Taumeln, zu Übelkeit und Erbrechen bei 
tileichgewichtsschwankungen, auf dem Gebiet des vasomotorischen 
Apparats in Neigung zu Ohnmachten, psychisch in gesteigerter affektiver 
Erregbarkeit und Erschöpfbarkeit. Die besondere Überempfindlich- 
keit der vegetativen Funktionen tritt zutage in gehäuftem und impe- 
ratorischen Urindrang mit Neigung zu nächtlichem Einnässen und 
auch zu Einnässen bei Tage, wenn er nicht rasch genug das Kloset 
erreicht, 

Die Neigung zum Einschmutzen, besonders in den frühen Kinder- 
jahren. ist hier einfach eine Teilerscheinung dieser Übererreg- 
barkeit. Auch hier sehen wir gehäuften und imperatorischen Drang, 
der bei kleinen Erregungen so stark wird, daß die willkürliche Hemmung 
nicht immer ausreicht, um den gewaltsam einsetzenden Entleerungs- 
reflex zu unterdrücken. Es tritt dabei manchmal die Entleerung von 
Stuhl zum Teil ein, ehe das Kind das Kloset wirklich erreicht. Mit 
zunehmendem Lebensalter bessert sich diese Erscheinung, so daß seit 
Beginn des Schulalters ein Einschmutzen kaum noch vorkommt. 

In Fall ? sehen wir grundsätzlich das gleiche Bild; doch ist die 
neuropathische Konstitution nicht so ausgeprägt, weder in körperlicher 
noch in nervöser Beziehung. entsprechend einem besseren Stamm- 
baum. Immerhin ist auch dieser Junge der Beschreibung nach etwas 
allgemein überempfindlich gegen starke Sinnesreize: er friert leicht, 
schläft unruhig und ist schüchtern und ängstlich. In Erwartung 


138 E. Stier: 


einer Strafe ist er daher in angstvoller Erregung einmal planlos von 
Hause fortgelaufen. Auf dem Gebiet der Blasenfunktionen zeigt sich 
die Übererregbarkeit deutlich in dem gehäuften und imperatorischen 
Harndrang mit Neigung zu vorzeitiger Blasenentleerung, besonders bei 
angstvoller Erregung. Eine leichte Herabsetzung der Hemmungs- 
innervation infolge intellektueller Schwäche komnit als weitere, dauernd 
wirksame Schädigung hinzu, 

Auf dem Gebiet der Darmfunktionen ist eine dauernde Steigerung 
der Erregbarkeit kaum nachzuweisen. Nur bei starker angstvoller 
Erregung als vorübergehender Erscheinung wird die Kombination von 
gesteigerter Erregbarkeit mit herabgesetzter Hemmung in Form von 
Einschmutzen wirksam, ein Ereignis, das dementsprechend im ganzen 
anscheinend nur dreimal vorgekommen ist. 

In Fall 3 sehen wir schwerste neuropathische und psychopathische 
Belastung. Dementsprechend zeigt der Junge schon körperlich alle 
Symptome der neuropathischen Konstitution; er ist schlank gewachsen, 
hellblond, mit ganz schlichten Haaren, mädchenhaft, blaß. Die Über- 
erregbarkeit zeigt sich auf allen Sinnesgebieten, in Form von Neigung 
zum Frieren, zum Schwitzen, zu Übelkeit, Erbrechen, Ohnmachten, 
echter Migräne, übermäßiger Reaktion auf Insektenstiche und sonstige 
fiebererregende Aftektionen. Er ist motorisch unruhig, zapplig, psychisch 
rasch erregt, begeht dann planlose Handlungen, zeigt auch Hyper- 
phantasie, bei einem im Grunde gutartigen Charakter. Das Gebiet 
der Blase ist von der Übererregbarkeit nicht betroffen. 

Sehr stark betroffen von der allgemeinen Übererregbarkeit ist da- 
gegen die Darmfunktion, auf Grund vor allem einer speziellen Tonus- 
schwäche. In den ersten Kinderjahren tritt daher bei ihm öfter ein 
gehäufter und imperatorischer Stuhldrang auf, der zu partiellem Ein- 
schmutzen führt, da er das Kloset zu spät erreicht. Später bessert 
sich die Beherrschbarkeit, doch genügen ein starkes Lachen oder 
Herumtollen, also plötzliche Kontraktionen der Bauchmuskeln, 
um ein Ausstoßen des Stuhls hervorzurufen. Auch hier finden wir, 
trotz Kombination von gesteigerter Erregbarkeit mit Herabsetzung der 
Hemmungen, zunehmende Besserung mit zunehmendem Lebensalter. 

Alle drei Kinder zeigen normale oder gar gesteigerte Ekelgefühle. 


(Gruppe II. 
Elisabeth G.. 13%, Jahre alt. Zugegangen am 5. Mai 1920. Referentin: Mutter. 
Vater gesund, im Beruf tüchtig: ebenso dessen Familie. Mutter sauber gekleidet, 
macht. Eindruck einer gesunden tüchtigen Frau. Deren Mutter ist von ihrem Mann 
geschieden. weil sie schmutzig und liederlich war und sich herumtrieb. Eine 
Schwester der Mutter ist „genau so“. sehr schmutzig. arbeitet wenig. treibt sıch herum. 


Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Einnässen. 139 


Ein Neffe der Mutter ist „auch nichts wert“. 3 (seschwister des Kindes sind sauber 
und brav. 

Geburt, Laufen und Sprechen o. B. Geistig früh entwickelt. War bis vor 
3 Jahren bei den anscheinend sehr ordentlichen Eltern des Vaters. Dort immer Ein- 
nässen, oft Einschmutzen. War mit der Kleidung stets schmutzig: außerdem nasch- 
haft, verlogen. Seit sie zu Hause ist bei den Eltern, also seit 3 Jahren, beobachtete 
die Mutter, daß sie zunächst jede Nacht, später noch oft des Nachts sich einnäßte. 
Als sie dafür Prügel erhielt, hörte das Einnässen ganz auf; später wiederholte 
es sich, blieb aber auf energische Strafe ganz aus. Mutter ist überzeugt, daß sie nur 
„aus Faulheit“ sich einnäßte, weil das Kloset auf dem Hofe war. Dem nassen 
Hemd und Bett gegenüber völlig gleichgültig. 

Einschmutzen auch jetzt noch oft bei Tage. Entleert den festen Stuhl wort- 
los in die Kleider, bleibt so sitzen oder geht damit herum, bis die andern es riechen. 
Schmiert auf dem Kloset mit dem Kot herum, wickelt auch öfter den entleerten 
Kot in alte Lappen oder Papier und wirft ihn so in dıe Ecke des Zimmers, nach 
Ansicht der Mutter nur weil sie zu faul ist, die 4 Treppen herunter auf das Kloset 
zu gehen. Ist auch im übrigen sehr schmutzig. wäscht sich nicht, zieht sich von 
selbst keine reine Wäsche an. 

Charakter im übrigen unerfreulich; zeigt keinerlei Liebe zu den Eltern oder 
Geschwistern oder zu Tieren. Lügt viel zu ihrem Nutzen, nascht und nimmt Geld, 
wo sie es bekommen kann, stiehlt auch Nahrungsmittel bei Bekannten oder in den 
Auslagen der Geschäfte. Ißt übermäßig viel, wird nie satt. Herumtreiben bisher 
noch nicht. 

Onanie ist bisher nicht sicher beobachtet, aber verdächtige Flecke im Hemd. 
Ist zu Männern ganz anders wie zu Frauen, dabei deutlich sexueller Unterton schon 
seit längerer Zeit. Hat im übrigen für nichts Interesse, sitzt stumpf herum, spielt 
nicht. Zankt sich viel mit den Gleichaltrigen. Erzählt oft phantastische Geschichten, 
die sie erlebt haben will, klagt auch zu Fremden über schlechte Behandlung zu Hause, 
versucht angeblich überall sich als „Engel“ aufzuspielen. 

Befund: Großes, mageres Mädchen. An den inneren Organen nichts wesentlich 
Krankhaftes. Intelligenz durchaus gut. Nägel an allen Fingern fast vollständig ab- 
gekaut. Beı der Untersuchung zurückhaltend, bald scheinbar ängstlich, bald mehr 
bockig-ablehnend. Bei Besprechung ihrer Neigung zum Einsenmutzen gibt sie keinerlei 
Antworten auf Fragen. 

Rat: Fürsorgeerziehung wohl unerläßlich. 


Walter P., 12 Jahre alt. Zugegangen am 15. Dezember 1920. Referentin: Mutter. 

Vater: Fleißig, ordentlich, ebenso dessen Familie. 

Mutter: 36 Jahre alt, hat ganz graue Haare bei sonst abnorm jugendlichem Aus- 
sehen. War 1916 acht Monate lang in der Irrenanstalt in Dalldorf, hörte Stimmen, 
angeblich Offenbarungen von Jesus. Bei der Besprechung unwirsch, ablehnend, bizarr. 
Vater der Mutter war angeblich eigenartiger Mensch, schimpfte viel, war sehr sexuell, 
hat Referentin ebenso wie der ältere Bruder als Kind oft an die Genitalien gefaßt: 
der Bruder hat auch versucht, sie zu würgen. als sie klein war. Beide waren an- 
geblich sehr schmutzig. Der Vater des Vaters war angeblich „auch solch Schwein“, 
trieb sich auch herum und war sehr sexuell. 2 Geschwister des Kindes sind angeblich 
ruhig, gleichmäßig und sauber. 

Geburt, Laufen, Sprechen rechtzeitig und o. B. Einnässen: Bis zum 5. Jahre 
jede Nacht, oft auch bei Tage „aus Trotz“. später langsame Besserung, jetzt nicht 
mehr. Einschmutzen bis zum 5. Jahre sehr häufig, entleerte still auch ganz 


140 E. Stier‘ 


festen Stuhl in die Hose. Auf Vorhalt wurde er böse, sagte, „ua, wenn das immer 
so herauskommt“; lief ruhig mit den schmutzigen Hosen herum, bis die andern es am 
Geruch merkten. Schmierte viel herum mit Kot auf dem Kloset, spielte auch da- 
mit. In den letzten Jahren kein Einschmutzen mehr. aber noch immer Neigung zum 
Herumschmieren auf dem Kloset. Auch an Kleidung. Händen und Gesicht übermäßig 
schmutzig, ıst vollkommen gleichgültig dagegen. hat nie Verständnis für Nauber- 
keit gehabt. 

Dn Essen gierig, maßlos, ißt alles, selbst was er auf der Straße findet, auch 
robe Kartoffeln. Ist frech. brutal und roh gegen die andern Menschen. quält die 
Mitschüler und freut sich darüber. beschuldigt in heimtückischer Weise die andern 
für Dinge. die er selbst getan hat. (Juält Tiere und freut sich daran, reißt Fliegen 
die Beine und Flügel aus. kneift die Katze an den Genitalien („wie der Onkel“). 
lägen: viel „mit frechstem Gesicht und sehr raffiniert“. Stehlen: Eßwaren, auch 
im Laden: hat «lie kleine Schwester auch zum Stehlen angehalten, nimmt zu Hause 
Geld. Herumtreiben: einmal einen Tag. einmal vier Tage und Nächte, kam gar 
nicht sehr hungrig uach Hause. hatte gebettelt und auf Böden geschlafen. Sexuel l 
Von kleinauf viel Erektionen, hatte viel die Finger an den Genitalien; auf echter 
(manie nicht ertappt. nimmt gem kleine Mädchen auf den Schoß. Gebraucht viel 
sehr unanständige Worte („wie der (iroßvater und der Onkel“), sitzt zu Hause stumpf 
herum, spielt mit nichts. In der Schule schlechte Leistungen. 3. Klasse: Zeugnis: 
„Für jede erziehliche Beeinflussung unzugängig.“ 

Befund: Mittelgivß, sehr kräftig und stark gebaut. gedrungener Wuchs. kurzer 
Hals. Keine groben Degenerationszeichen. (resichtsfarhe gesund. Intelligenz an- 
scheinend nicht schlecht. Auf Nadelstiche fast keine Reaktion. Verhalten während 
«ler Untersuchung frech. 

Rat: Fürsorgeerziehung. 


Annemarie Nt. 9 Jahre alt: Erich Nt. 4 Jahre alt. Zugegangen am 1. De- 
zember 1921. 

Referentin: Stiefmutter: sie kennt die Kinder seit 4 Jahren oberflächlich. genau 
erst seit ihrer Verheiratung vor 1',, ‚Jahren. seit sie sie dauernd um sich hat. 

Vater: 36 Jahre alt, ordentlich und tüchtig. Hat 18 Jahre hei der Marine ge- 
dient. Seine Familie desgleichen gesund und einwandsfrei. 

Mutter: vor 2 ‚Jahren an Grippe gestorben: war nach jeder Richtung unsauber 
und geradezu schmutzige. aß übermäßig viel, hieß darum .Vielfraß": keine wirk- 
liche Liebe zu Mann und Kindern. vernachlässigte Wirtschaft und Kinder völlig. war 
hypersexuell. Deren Vater machte noch als Siebzigjähriger zotige Witze übelster Art, 
hat sich auch der Tochter gegenüber „eigenartig benommen“. wie diese später dem 
Mann erzählt hat. Schwester der Mutter auch liederlich, schmutzig, zerrissene Kleidung, 
hat „überall Stecknadeln“. hat jetzt einen 20 Jahre jüngeren Mann geheiratet. 

Annemarie St.: Geburt. Laufen. Sprechen rechtzeitig. Einnässen nie ab- 
gewöhnt. noch bis heute fast jede Nacht. öfter auch bei Tage, bleibt ruhig in den 
nassen Kleidern. Einschmutzen: Früher fast stets. in den letzten Jahren etwas 
seltener. aber noch immer oft bei Tage und bei Nacht. ohne Andeutung von Durch- 
fall. Spielt mit dem Kot, macht kleine Figuren daraus, steckt sie in den Mund. 
Riecht gern an den beschmutzten Fingern. Spielt auch mit dem Kot des Bruders. 
In Kleidung und Anzug übermäßig schmutzig. Nitzt in der Schule allein. „weil sie 
so stinkt“. 

Auch sonst von kleinauf eigenartig. zerschnitt Gardinen und Portieren, machte 
alles Spielzeug entzwei und warf es fort. Spielte selbst kaum. nahm aber den andern 


Das Einsechinutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Einnässen. 141 


alles, was sie hatten, fort und zerstörte es. Essen: Übermäßig viel „bis zum Platzen“, 
wird nie satt. Ißt auch rohe Kartoffeln. faule Kirschen, die sie auf der Straße findet, 
(rurkenschalen aus dem Mülleimer, hält auch Nachlese im Napf des Hundes und ißt, 
was er übrig gelassen hat. Zu andern roh und grausam. Hat den kleinen Hund, 
als er erst 4 Wochen alt war, immer gestoßen und gezerrt: zerdrückt gern Fliegen 
und auch Maikäfer in der Hand, reißt ihnen vorher Flügel. Beine und Fühler einzeln 
aus; auch sonst mitleidlos zu Tieren. Hetzt den Bruder auf, daß er das Bett naß 
macht, damit er Schläge bekommt; freut sich dann darüber. Lügen: Viel, in 
raffinierter Weise, mit unschuldigstem Gesicht, tut ganz naiv dabei. Stehlen: Kleine 
Unterschlagungen beim Einkauf schon seit Jahren, nimmt auch herumliegendes Geld 
zu Hause, Lebensmittel im Laden, in der Schule Buntstifte. Federhalter, auch Geld. 
Herumtreiben: Im vorigen Jahre 8 Tage lang Schule geschwänzt in einer zu Hause 
unauffälligen Weise, hat sich die ganze Zeit immer mit einem 6jährigen Jungen herum- 
getrieben. Sexuell: Seit Jahren schwerste Onanie bei Nacht und bei Tage, wird 
rot und erregt dabei, hinterher schlaff und matt: oft Flecke in Hemd und Bett. Will 
beım Baden „da unten“ gewaschen werden, lacht dabei. Nimmt den Hund ins Bett 
und faßt ihn an die Geschlechtsteile, sieht bei den Puppen nur nach der gleichen 
Gegend. Malt jetzt viel, als einziges Spiel. aber nur Männer mit großen Genitalien, 
die bis zur Erde herunterreichen. Horcht an der Schlafzimmertür der Eltern, ist 
auch sonst unpassend neugierig. Braucht unanständige Worte von geschlechtlichem 
Verkehr. Spielt mit Knaben in dunklen Ecken, hat den kleinen Bruder nackt auf sich 
gelegt. Verführt kleine Jungen zu unanständigen Spielen. Hat sich dem Onkel auf 
den Schoß gesetzt und dessen Hand an ihre (ienitalien geführt. Übermäßig liebens- 
würdig zu jungen Männern, dabei kokett und geziert. Liebe und Anhänglichkeit auch 
nicht andeutungsweise. Bei Prügel lautes Brüllen, aber schon vor dem eigentlichen 
Beginn. Hinterber gleich wieder ruhig und gleichgültig. In der Schule zerstreut, 
faselig, faul, frech. Einmal sitzengeblieben. „sie könnte ganz gut lernen. wenn sie 
nur wollte“. 

Befund: Großes. hübsches. wohlgebildetes Mädchen. begrüßt beim Eintreten. als 
Arztekolleg ist, lächelnd und freundlich durch Handgeben die Herren. übersieht aber 
die Damen völlig. Antwortet offen, freimütig. Intelligenz gut. Körperlich keine nach- 
weisbaren Krankheiten. Auch auf tiefe Nadelstiche bei Ablenkung der Aufmerksamkeit 
keinerlei Reaktion. 

Bruder Erich Nt.: Ganz ähnlich der Schwester. Von kleinauf und bis heute 
Einnässen jede Nacht und oft bei Tage. Meldet sich gar nicht. will nicht aufs 
Kloset gehen, ‘geht gern mit nassen Hosen herum. Einschmutzen: Oft bei Tage, 
läuft ruhig damit herum. macht sieh auch nachts schmutzig, ohne Durchfall. Schmiert 
nit dem Kot herum, spielt damit. hat. ihn schon in den Mund gesteckt. 

Essen‘ Übermäßig viel, auch schmutzige und faule Sachen. Lügen: Viel, schon 
mit 2'/, Jahren in bewußter und überlegter Weise. Stehlen: EBwaren. die herum- 
liegen und auch schon Gield. Fortlaufen. -- Sexuell: Schon mit 2 Jahren viel 
Erektionen, spielt mit den Genitalien, erregt sich dabei. Bleibt übermäßig lange auf 
dem Kloset, schließt sich ein. Zur Schwester immer unanständig, hat sie schon unter 
die Röcke gefaßt und Coitusversuch mit ihr gemacht. Schon als der Vater sich ver- 
heiratete vor 1'/, Jahren, konnte der damals noch nicht 3jährige nicht im Schlaf- 
zimmer behalten werden. da er sich unpassend neugierig benahm, nieht einschlef 
und „so eigenartig lachte“. Spielt eigentlich mit nichts, sitzt so herum. Wuält gern 
kleine Tiere und freut sich daran. Bei Prügel hrüllt er, aber vorzeitig. 

Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 10 


142 E. Stier: 


Befund: Kräftig, wohlgebildet, dem Alter entsprechendes Aussehen. An den 
inneren Organen nichts Besonderes. Intelligenz durchaus gut. Auf Stiche fast keine 
Schmerzreaktion. 

Rat: Fürsorgeerziehung für die Schwester, dann zunächst. Versuch mit Spiel- 
schule für den Bruder. 


Diese 4 Krankengeschichten bilden im Gegensatz zu Gruppe |. 
die die einzigen ihrer Art aus meiner Beobachtung sind, nur einen 
minimalen Teil einer sehr großen Zahl von gleichartigen bezw. sehr 
ähnlichen Beobachtungen, die ich seit Jahren habe sammeln können 
und nur aus Raummangel hier nicht mitteile Sie sind ziemlich will- 
kürlich herausgegriffen und, wie ich ausdrücklich bemerken möchte. 
noch nicht einmal die extremsten Fälle. Sie unterscheiden sich 
von Gruppe I grundsätzlich dadurch, daß hier weder eine Über- 
erregbarkeit bezw. Überempfindlichkeit oder Tonusschwäche des 
Darms vorliegt, noch überhaupt irgend ein Zeichen einer neuro- 
pathischen Konstitution. Es sind vielmehr alles körperlich gesunde 
und im allgemeinen kräftige Kinder; zwei von ihnen sind sogar sehr 
kräftig, eins ist auch kurzhalsig, gedrungen gebaut und eher klein. 
An Stelle der Überempfindlichkeit und Übererregbarkeit finden wir 
hier Herabsetzung der Erregbarkeit und Unempfindlichkeit gegenüber 
allen Sinnesreizen. Sie leiden nicht unter Hitze oder Kälte, sie 
können Schaukeln und Karusselfahren gut vertragen, sind gar nicht 
wählerisch im Essen, zeigen keinerlei vasomotorische Störungen und 
auch keine Schlafstörung. 

Die Eigenart der Kinder liegt vielmehr ganz auf psychischem 
(tebiet. Alle triebhaften, egoistischen und sexuellen Tendenzen sind 
bei ihnen übermäßig stark entwickelt, ja bis zur Perversität gesteigert, 
die feineren BRegungen des Gefühlslebens dementsprechend unter- 
entwickelt oder fehlen fast völlig. So ergiht sich das dem Nicht- 
Psychiater noch viel zu wenig bekannte Bild!) des im Essen mal- 
losen, gierigen Kindes, das stets nur an sich denkt, ohne wirkliche 
Liebe und Anhänglichkeit an die Eltern, mitleidlos, roh und brutal 
gegenüber Tieren und Menschen ist, nur auf den eignen Vorteil be- 
dacht, zum Lügen, Stehlen und Herumtreiben geneigt und früh sexuell 
ist, dabei keinerlei höhere, ja überhaupt keine wirklichen Interessen 
besitzt, wie sie dem Kindesalter sonst entsprechen. 


I) Auch in der psychiatrischen Literatur sind diese Zustände noch zu wenig be- 
achtet. Ich finde sie eigentlich nur bei Scholz-Gregor, „Anomale Kinder“ und 
‚war in der 2. Auflage N. 191 und in dem alten, noch ımmer wertvollen Buch von 
Emminghaus. „Die psvehischen Störungen des Kindesalters“, das schon 1887 er- 
sehlenen ist. 


Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Einnässen. 143 


Daß das eigenartige psychische Bild, das diese Kinder bieten. in 
Einzelfällen durch Milieueinflüsse vielleicht etwas mitbeeinflußt, in 
letzter Linie aber eine konstitutionelle, tief in der Anlage ver- 
ankerte Anomalie darstellt, ergibt sich am klarsten einmal aus dem 
ganz frühen Zutagetreten der charakterologischen Besonderheiten, dann 
aber, und mehr noch, aus dem bei einiger Sorgfalt immer gelingenden 
Nachweis der gleichartigen Vererbung ihres Charakters und in 
unseren Fällen aus der Tatsache, dal eben die äußeren und erzieherischen 
Einflüsse im ersten Falle dauernd, im letzten Fall seit 2 Jahren ab- 
solut gut und im zweiten Fall jedenfalls nicht schlecht waren. Es 
ist auch kein Zufall. daß in allen 3 Fällen bei einem Teil der Vor- 
fahren die gleiche, vorzeitige bezw. zu starke Sexualität, die Roh- 
heit und Unempfindlichkeit gegenüber allen feineren Regungen, darunter 
auch gegen körperliche Beschmutzung, zu finden ist; ja bei dem letzten 
Kinde finden wir die gleiche Erscheinung auch schon bei dem vier- 
jährigen Bruder. | 

Diese Art von Kindern ist es nun, die nach meiner Erfahrung 
die große Masse derer ausmacht, hei denen wir noch im Schulalter 
eine Neigung sich schmutzig zu machen antreffen. Die Ursache 
dafür liegt naturgemäß lediglich in der Sonderform ihrer abnormen 
psychischen Konstitution. Die in letzter Linie ja auch triebhaften, 
aus dem Ekel vor den unangenehmen Reizen der nassen oder be- 
schmutzten Betten und Kleider hervorgehenden Tendenzen der normalen 
Kinder, Urin und Kot an der richtigen Stelle nach richtiger Vor- 
bereitung zu entleeren, sind bei diesen Kindern zu schwach entwickelt; 
stumpf und gleichgültig gegen den rein körperlichen Reiz ihrer Ex- 
krete, unempfindlich gegenüber dem stechenden und ekelhaften Geruch 
von Urin und Kot, mangelt ihnen der Antrieb, das warme Bett zu 
verlassen oder bei Tage das Kloset aufzusuchen; unempfindlich und 
gleichgültig gegen die Ermahnungen und — entsprechend der auch 
allgemein bei ihnen herabgesetzten Schmerzempfindlichkeit — gegen die 
Schläge oder körperlichen Strafen seitens der Eltern und Erzieher, 
lassen sie vielmehr immer wieder, weit bis in das Schulalter hinein, 
einfach Urin und Kot abgehen, ohne sich um die unangenehmen 
Folgen für sie selbst und die Umwelt irgendwie zu kümmern. Ja in 
der Mehrzahl der Fälle finden wir auch, wie bei diesen 3 Kindern, 
an Stelle der normalen Ekelgefühle eine perverse Freude an dem 
„nassen Umschlag“ bezw. am Kot und seinem Geruch; das Herum- 
schmieren auf dem Kloset, das lustvolle Beriechen des Kots oder gar 
das Spiel mit ihm wird so zur charakteristischen Besonderheit dieser 
Kinder, die um so wichtiger für uns ist, als sie durch Befragen 

10* 


144 E. Stier: Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Einnässen. 


schon leicht festgestellt werden kann und dann die grundsätzliche 
Unterscheidung von der ersten Gruppe der Kinder rasch und sicher 
gewährleistet. 

Bei der Tiefe der hier zugrunde liegenden Störungen des ge- 
samten Charakterbildes und der großen Bedeutung, die den übrigen, 
stets damit verbundenen Anomalien für das soziale und Gemeinschafts- 
leben zukommt, erscheint eine Kenntnis und Beachtung dieser Zu- 
sammenhänge besonders nötig. Daß sie diese Beachtung selbst von 
psychiatrischer Seite noch nicht überall gefunden haben, sei noch 
einmal ausdrücklich erwähnt. 


Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder. 
Von 


Karl Cornelius Rothe. 


Leiter der Sonderklassen und Heilkurse für sprachgestörte Kinder, Wien.!) 


Die Fürsorge der Stadt Wien für sprachgestörte Schulkinder 
beginnt mit dem Jahre 1895, wenngleich in diesem Jahre die praktische 
Auswirkung noch nicht anhebt, sondern eigentlich erst mit dem Jahre 
1897. Wenn wir die Geschichte der Wiener Fürsorge überblicken, 
so müssen wir sie — bis jetzt — in zwei Abschnitte gliedern, 
die sich aber zeitlich an ihrer Grenze überdecken. 

Die erste Epoche umfaßt nur Heilkurse nach der Methode des 
Professor Leon Berquand und reicht von 1895—1919. Ob vor 
dem Jahre 1895 in Wien Versuche der Fürsorge bestanden, läßt sich 
aus den Akten nicht nachweisen. doch scheinen solche privat von 
Lehrern stattgefunden zu haben, da schon der erste vorhandene Akt 
ausdrücklich die Zuziehung des Direktors Emanuel Bayer verlangt. 

Vom Wiener Bez.-Schulrat wurde am 27. Februar 1895 (G. Z. 1204) 
ein Erlaß herausgegeben, in dem mitgeteilt wird, daß der k. k. nied. 
österr. Landesschulrat die Abhaltung eines Heilkurses für schwere 
Fälle des Stotterns durch Prof. L. Berquand unter Beiziehung von 
10 (die Zahl wurde dann auf 20 erhöht) im Amte stehenden Lehrern 
zur Einführung in die methodische Behandlung der Sprachstörungen 
genehmigt hat. An diesem Kurse sollten einerseits erfahrene und 
erprobte Schulmänner (Dir. E. Bayer). anderseits tüchtige und streb- 
same jüngere Unterlehrer teilnehmen. Für Teilnahme am Kurse wurde 
ihnen ein l4tägiger Urlaub erteilt, dessen Verlängerung für die Zeit 
der Kursdauer in Aussicht gestellt wurde. 

An diesem Kurse nahmen u. a. teil: Direktor Josef Gugler, 
der dann die Leitung der Fürsorge übernahm, Hans Schiener, 
Franz Korony. Julius Tegel. Letzterer wirkt als einziger der 


') Vortrag, gehalten auf dem 1. Kongreß für Logopädie vom 3.--5. Juli 1924, Wien, 


146 K. C. Rothe: 


damaligen Kollegen auch heute in der 2. Epoche der Fürsorge mit 
und ist auch Mitglied der Prüfungskommission. 

F. Korony ist besonders zu nennen, weil er später durch eifriges 
Studium auch anderer Methoden (Gutzmann-Engel) sich von der 
Methode Berquand zu neueren Ansichten weiterbildete. Seine ver- 
schiedenen Vorschläge zur Ausgestaltung der Fürsorge fanden nicht 
die entsprechende Würdigung. Als die zweite Epoche einsetzte, schloß 
sich Korony uns sofort an, leider entriß ein früher Tod uns diesen 
eifrigen und erfahrenen Mitarbeiter. 

Im Anschlusse an den Kurs, den Beryuand selbst geleitet hatte, 
führten seine Schüler zunächst versuchsweise Kurse durch, die nicht 
auf Kinder beschränkt waren, so berichtet z. B. Direktor F. Zdarsky 
über seinen ersten Kurs, an dem 6 Stotterer im Alter von 16 bis 
29 Jahren teilnahmen, Korony ebenfalls über 6 Stotterer im Alter 
von 9 bis 35 Jahren. | 

Die Einführung der Beryuandkurse veranlaßte den damaligen 
Direktor der staatlichen Taubstummenanstalt K. Fink, eine von Dr. med. 
K. Schwarz, Dozenten am Konservatorium mitunterzeichnete Eingabe 
an den Landesschulrat zu richten, in der zunächst auf die in Frank- 
reich (Aine Chervin), Deutschland (Dr. H. Klencke, Dr. H. Gutz- 
mann, R. Denhardt, Günther, Kreutzer, Gerdts, Dr. Berkhan), 
Wien (Dr. Coän), Graz (A. Neumann) wirkenden Logopäden ver- 
wiesen wird. 

Die Eingabe verlangt u. a. eine genaue Statistik. in -der nicht 
nur die verschiedenen Sprachstörungen unterschieden, sondern auch 
der Charakter des Kindes, (ruhig, scheu, nervös, stumpf usw.) be- 
schrieben werden soll. ferner ist ein ärztliches Gutachten vorgesehen 
und zwar soll es umfassen: Befund der Sprach- und Atmungs- 
organe, bezugnehmende Difformitäten dieser Organe, Konstellation und 
psychischer Habitus. Ferner wären zu erheben: Krankheiten und 'Er- 
Jebnisse des Kindes, auf welche das Sprachgebrechen von den An- 
gehörigen angeblich zurückgeführt wird; Ätiologie und Pathologie des 
(iebrechens, Verhalten während des Kurses, Erfolg. | 

Eingehend wird die Fürsorge besprochen und verlangt: 

l. Vorbereitung der Lehrer bereits in der Lehrerbildungsanstalt; 

Ausbildung durch Kurse. 

II. Heilkurse in der Volks- und Mittelschule. 

Es ist das einzige Mal, daß der Gymnasien und Realschulen 
wenigstens gedacht wird! 

Die Kurse sollen 4 Wochen dauern, täglich 2 Stunden anı 
Vormittage, eine am Nachmittage umfassen, nach Alter und Ge- 


Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder. 147 


schlecht gesondert durchgeführt werden und zwar 10 Kinder im 
Alter von 11—14 Jahren. 8 im Alter von 9—11 Jahren, 6 im 
Alter von 6—9 Jahren umfassen. 

Hier ist festzuhalten, daß Fink — im Gegensatze zur späteren 
Durchführung der Berquandkurse — den Beginn der Fürsorge mit 
dem Schuleintritt verlangt. 

Die Kinder werden während der Kursdauer vom Schulbesuch 
beurlaubt. Die Kurse sind öffentlich, insbesondere wird der öftere 
Besuch der Lehrer der sprachkranken Kinder empfohlen. 

Fink ersucht um Ermächtigung des Landesschulrates für die 
Mittelschule Heilkurse zu veranstalten. Als seinen ärztlichen 
Berater hat er Dr. Karl Schwarz namhaft gemacht. 

Auch das ist beachtenswert, da die Berquandkurse dann ohne Zu- 
ziehung eines Facharztes durchgeführt werden. Diese Eingabe wurde 
in einer Konferenz (23. XI. 1895) der von Berquand ausgebildeten 
Lehrer (Vorsitzender Dir. J. Gugler) beraten, und größtenteils ab- 
gelehnt. Ebenso wird eine — in den Akten leider nicht mehr vor- 
handene — Eingabe Dr. Coöns abgelehnt und als Grundsatz aufgestellt: 

„Die Heilung ist Angelegenheit des Lehrers, nicht des Arztes; 
die löbl. Behörde wolle diese Ansicht unterstützen und aussprechen.“ 

Ein Antrag, der Methode Berquand treu zu bleiben. seine 
Forderungen genau zu befolgen, fand besonderen Beifall. 

Auch später wird an der Methode Berquand festgehalten und 
Ansuchen anderer „Spezialisten für Sprachleiden“ abgewiesen, zwei 
wegen Mangels „jedweden Befähigungsnachweises“, eine schon mit 
Rücksicht auf Orthographie und Stil des angeblichen „Professors“. 
Können wir diese Ablehnungen begreifen und billigen, so ist die Ab- 
weisung eines Ansuchens Dr. R. Coöns im Jahre 1903 zum Zwecke 
einer Statistik, die sprachkranken Schulkinder zu untersuchen, nicht 
recht verständlich. 

Im Jahre 1895 wurde eine Statistik der Stotterer erhoben und 
gezählt: 563 stotternde Knaben, 203 stotternde Mädchen, zusammen 
766 stotternde Kinder = 4,5°/,.. Doch wird hinzugefügt, daß in 
einzelnen Schulen auch Stammler als Stotterer gezählt worden seien. 
Die Gesamtsumme der Wiener Schüler ist nicht genannt, daher kann 
nicht nachgeprüft werden, ob °/,, vielleicht ein Schreibfehler für °/, ist. 

Erst 1897 werden nun amtlich Heilkurse veranstaltet. Der die 
Verwaltung Wiens leitende Statthalter Friebeis hatte mit Rücksicht 
auf das neue Substitutions- Normale die Anstellung von Aushilfs- 
lehrkräften für die Kursleiter versagt, daher mußte an die Opfer- 
willigkeit der Lehrkräfte appelliert werden, die Kurse neben ihrem 


148 K. C. Rothe: 


Schuldienste in der Zeit von 11--1,1 abzuhalten. 1897 wurden 
vier Kurse eröffnet, an denen die Herren: Zdarsky. Korony. Track. 
Tegel. Prinz. Lohner., Schiener und Ronzal beteiligt waren. 
Ähnlich waren es später vier.oder drei Heilkurse mit meist 8 Schülern. 
Diese wurden grundsätzlich nur den ältesten Klassen entnommen (vom 
5. Schuljahr an). 

Bei 766 gezählten Stotterern erscheint die jährliche Zahl der be- 
handelten Kinder von rund 32 wohl als «durchaus unzureichend. so 
daB es mir unverständlich bleibt, wieso der Leiter der Kurse ge- 
legentlich in einem Gutachten behaupten konnte, daß durch die 
Berquand-Kurse vollständig ausreichende Vorsorge getroffen sei. 

Zu betonen ist auch, daß Mädchen nur ausnahmsweise zuzulassen 
Waren. 

Fassen wir den Bericht über die erste Epoche zusammen: Sie 
ist charakterisiert: 

I. Durch die offiziell allein sanktionierte Methode Berquand. 
diese beginnt mit Atem-, Laut- und Silbenübungen, während der ersten 
Kurswochen hat das Kind ein absolutes Schweigeverbot einzuhalten. 

Für diese Übungen erhielten die Schüler ein vom Bezirks- 
schulrat herausgegebenes gedrucktes Übungsheft. Hierauf folgen 
Übungen im Lesen, schließlich im Sprechen. 

II. Aufnahme finden Kinder nur vom 5. Schuljahr an, wodurch 
also das Stottern erst zu voller Entwicklung gelangen muß. Das alte 
Wort: „Anfangs gleich widerstehe, zu spät wird das Mittel bereitet. 
wenn im Laufe der Zeit mächtig das Übel erstarkt ist“ wird also 
vollständig vergessen. Mädchen sind zwar nicht ausgeschlossen von 
der Teilnahme, werden aber nur ausnahmsweise zugelassen. 

Der Kursleiter wählt die Kinder aus. Daher konnte mir gelegent- 
lich einer der Kursleiter erklären, er habe keine Mißerfolge beobachtet. 
denn jene, bezüglich deren Prognose er geringe Hoffnung habe, habe 
er eben abgelehnt. 

II. Die Zeit der Kursdauer ist beschränkt auf 3, dann 4 Wochen. 
Während der Kursdauer sind die Kinder vom Schulbesuch beurlaubt. 

Anzuerkennen ist, daß auch Lehrer aus der Provinz als 
Hospitanten zu den Kursen zugelassen wurden, daß ebenso Kinder- 
gärtnerinnen zugelassen wurden. 

Stammler fanden keine Berücksichtigung, von anderen Sprach- 
störungen (Aphasie, Hörstummheit) hören wir überhaupt nicht. 

IV. Die Mitarbeit des Arztes wird nur bei der Auswahl in- 
sofern angenommen. als ein Arzt das Kind zu untersuchen hat, ob 
seine Sprachorgane gesund und es für einen Kurs geeignet sei. 


Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder, 14% 


Die Mitarbeit des Spracharztes wird entschieden abgelehnt. 
wie es heißt, müßte dann die Gemeinde Wien auch Ohren-, Augen-, 
Lungenärzte als Schulärzte anstellen. Heute sind Spezialärzte als 
Schulärzte angestellt, so daß wohl auch der Spracharzt bald unter den 
Schulärzten zu finden sein wird. 

V. Die Ausbildung neuer Lehrer für die Fürsorge erfolgt 
durch Hospitieren in einem Kurse. In der Lehrerbildungsanstalt hält 
durch mehrere Jahre Kollege Korony einen kurzen Informations- 
kurs ab. 

Beachtenswert ist, daß auf der Bezirkslehrer-Konferenz des Jahres 
1900 ein Referat über die Heilung des Stotterns und die Behandlung 
solcher Schüler, welehe in den Berquand-Kursen geheilt worden sind, 
erstattet wurde. 

Die Berichte der Kursleiter über ihre Erfolge lauten im all- 
gemeinen günstig. Aber schon die geringe Zahl der alljährlich er- 
faßten Kinder läßt im ganzen die Ergebnisse als praktisch ziemlich 
bedeutungslos erscheinen. 

Es ist das besondere Verdienst W. Carries in ae durch 
eine genauere Statistik nachgewiesen zu haben, daß die Heilkurse 
keine durchgehende Wirkung erzielten. 

Die zweite Epoche der Wiener Fürsorge ist gekennzeichnet 
durch die Errichtung von Sonderklassen. Sie beginnt im Jahre 1912 
mit einem Kurs, den Spracharzt Dr. E. Fröschels im deutsch-öster- 
reichischen Lehrervereine für Naturkunde über Sprachstörungen und 
ihre Heilung abgehalten hat und die von mir eröffneten Sonder- 
Elementarklassen, deren erste — inoffizielle — im Schuljahre. 1912/13, 
deren zweite — offizielle — im Schuljahr 1913/14 an der I. allgemeinen 
Volksschule des XVII. Bezirks. Kastnergasse 29 (Direktor Hans Teufels- 
bauer) bestanden. 

Die Weiterentwicklung der Fürsorge ist zunächst dureh den Welt- 
krieg unterbrochen worden und zwar ruhten sowohl die Berquandkurse 
als auch die Weiterführung der Sonderklassen. 

Während des Krieges waren aber Doz. Fröschels und der Bericht- 
erstatter beim Militär als Logopäden im Dienst und fanden dort 
eine besonders günstige Gelegenheit umfassender therapeutischer Be- 
tätigung. 

Nach dem Umsturze wurde die Fürsorge neu aufgebaut, Doz. 
Fröschels und der Berichterstatter hielten einen Ausbildungskurs mit 
rund 30 Hörern. von denen aber nur ein kleiner Teil dann wirklich 
in die Fürsorge eintrat. 





150 


K. C. Rothe: 


Die Heilkurse bestehen noch weiter. Sie unterscheiden sich 


organisatorisch von den früheren durch folgendes: 


I. Die Dauer eines Kurses ist auf ein Jahr ausgedehnt. 
IT. Die Schüler bleiben solange im Kurse, bis sie als geheilt ent- 


Id. 


IV. 


lassen werden, können aber auch mehrere Jahre am Kurse teil- 
nehmen. 

Aufnahme und Entlassung geschieht im Einvernehmen mit dem 
medizinischen Berater Dr. Fröschels. 

Die Kinder besuchen die Schule auch weiterhin und sind nur 
während der Behandlungszeit entschuldigt abwesend. 


Ohne Zweifel ist damit in dieser Hinsicht ein Fortschritt erzielt, 


aber trotzdem kann das Urteil über die Kurse kein günstiges sein. 


l. 


IV 


Die Schwierigkeiten sind zu große. 


Versäumen die Kinder während der kursmäßigen Behandlung. 
auch wenn diese wöchentlich nur 11/,—2 Stunden dauert, im 
Laufe eines Schuljahres doch viel Unterrichtszeit. 

Dies hat zur Folge, daß recht häufig Abmeldungen durch die 
Eltern statthaben, weil das Kind angeblich oder auch wirklich 
durch den Kurs im Unterricht zu viel versäume. | 
Aber auch im Kursbesuch selbst fehlt das Kind mitunter sehr 
oft. Sehen wir auch von Krankheit und den selteneren Ab- 
wesenheiten infolge schlechten Wetters ab, so sind Lehrausgänge, 
Schulausflüge, Tage mit schriftlichen Schularbeiten (die z. T. ein 
Prüfungsgespräch ersetzen) für das Kind Anlaß. den Kurs zu 
versäumen. l 
Viele Kinder besuchen den Kurs zuerst regelmäßig, machen gute 
Fortschritte, stellen aber vor ihrer Entlassung den Besuch ein, 
sei es, daß Eltern oder leider aber auch Klassenlehrer erklärten, 
weiterer Kursbesuch sei unnötig. | 
Die Behandlungszeit im Kurse ist durchschnittlich mit !/, Stunde 
anzusetzen, in dieser kurzen Zeit — zumal bei nur dreimaligen 
Üben in der Woche — kann naturgemäß der Lehrer nicht das 
Gespräch mit dem Kinde in ausreichender Weise auf alle Gegen- 
stände ausdehnen. Auch wenn er abwechselnd mit dem Kinde 
rechnet, Gespräche über Realienstoffe, über verschiedene Unter- 
richtsfächer führt, so ist dies dann doch etwas ganz anderes, 
als wenn das Kind — wie in der Sonderklasse — während der 
ganzen täglichen Unterrichtszeit unter fachmännnischer Kontrolle 
und Hilfe spricht. 

Im Gegensatze zur Zeit Berquands ist man heute der Ansicht, 
daß das Stottern nicht eine bloße sprechmechanische Sache sei. 


Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder. 151 


Wir wissen heute dank der neueren Forschungen, daß der Stotterer 
als ganzer Mensch umerzogen werden muß. Nicht nur seine 
mechanische Sprache ist zu korrigieren. 

Ganz einerlei, ob man als Psychanalytiker (Schule Freud), 
oder als Individualpsychologe (Schule A. Adler), oder aber 
als moderner Logopäde die Heilung übernimmt, so muß dem 
Stotterer eine intensive heilpädagogische, umerziehende Behand- 
lung zuteil werden, dies aber ist in !/, Stunde Zeit kaum ent- 
sprechend durchführbar. 


6. So lange ein Erziehungsgesetz fehlt, ist naturgemäß ein Zwang 
auf Eltern und Kinder nicht anwendbar, es steht daher den Eltern 
frei, die Anfnahme eines Kindes in den Kurs, wie auch in eine 
Klasse abzulehnen, und nach eigenem Ermessen die Kurs- 
teilnahme — wie bereits erwähnt — zu beenden. 


Die Lehrerschaft und die Schulbehörden Wiens sind daher zur 
Überzeugung gekommen, daß die Heilkurse nur ein Notbehelf sein 
können. Aber auch durch diese Auffassung ist noch eine Schwierig- 
keit gegeben. Weil in Sonderklassen dafür nur eine geringe Schüler- 
zahl erfaßt werden kann, so besteht oft der Wunsch, im Kurse eine 
größere Schülerzahl zu behandeln, dadurch aber werden die früheren 
Schwierigkeiten noch verstärkt, der Lehrer aber durch Überlastung 
in seiner Leistungsfähigkeit herabgesetzt. 


Denn es leuchtet jedem Fachmanne ohne weiteres ein, daß mit 
quantitativer Überlastung keine qualitative Höchstleistung erzielt 
werden kann. 

Die erste offizielle Sonder-Elementarklasse Wiens wurde vom da- 
maligen Reg.-Schulinspektor F. Zickero mit Erlaß vom 3. Juli 1913, 
Zahl 76/IV.ex 13. genehmigt und im Herbste 1913 eröffnet. 


Im Schulhause befanden sich damals 4 Elementarklassen, das 
Schülermaterial derselben wurde von mir überprüft und 30 Kinder 
aufgenommen. Diese — hohe Zahl ermäßigte sich im Laufe des Schul- 
jahres auf 25 durch Übersiedlung sprachgestörter Kinder in andere 
Schulsprengel. Von den bis zum Schulschlusse vorhandenen 25 Kindern 
litten 9 an Stottern, bei 2 waren Anfangssymtome vorhanden, 17 an 
Stammeln, 1 an Atemstörungen. 


Am Schluß des Jahres galten als nicht geheilt 2 Knaben mit 
3 Störungen, gebessert waren 14 Störungen (bei Stammlern wurden 
die einzelnen Laute als besondere Störung gezählt. wenn nicht all- 
gemeines Stammeln vorlag) bei 11 Knaben, geheilt 24 Störungen bei 
16 Knaben. 


152 kK. C. Rothe: 


Die Unterriehtserfolge im Lesen zeigten: 


Noten II. Nuartal ) III. Quartal IV. Quartal 
l 7 8 12 
2 4 t 2 
3 9 5 6 
4 2 3 6 
5 2 3 4 
24 25 25 


Durch die Einberufung des Klassenlehrers zum Militärdienst war 
die weitere Behandlung der inzwischen in das 2. Schuljahr aufgestiegenen 
nicht geheilten oder gebesserten Stotterer unmöglich, so daß es nicht 
verwundert, wenn dann einzelne von ihnen — insbesondere unter der 
Einwirkung der Kriegszeit — rückfällig wurde. 

Freiwillig hatten die Eltern über mein Anraten die Kinder der 
Elementarklasse an die Sprachambulanz gebracht. so daß ich unter Be- 
ratung durch den Spracharzt arbeiten konnte. Erst gegen Ende dex 
Schuljahres kam die Erlaubnis heraus, daß der Spracharzt die Klasse 
besuchen und die Kinder untersuchen dürfe. 

Nach dem bereits erwähnten Ausbildungskurse durch Doz. Fröschels 
und den Berichterstatter wurden — wegen verspäteter Organisierung — 
zunächst nur einige kurzdauernde Heilkurse, im folgendem Herbste 
Sonderklassen und Heilkurse errichtet. 

Auch die Sonderklassen bezw. Elementarklassen stehen vor mancher- 
lei schwierigen Verhältnissen. Das bedeutendste Hemmnis ist dafür 
der bestehende Schülermangel, dadurch sind alle normalen Elementar- 
klassen schwach besetzt, die Abgabe einzelner Kinder gefährdet die 
Existenz der Normalklasse, kein Wunder, wenn dann Schulleitungen 
und Lehrer nicht in entsprechend intensiver Weise die Eltern für 
die Sonder-Elementarklasse gewinnen wollen. Ich glaube, wenn die 
Schülerzahl — wie erwartet wird — wieder ansteigt, dann werden 
die Schwierigkeiten, die derzeit manche Eltern machen, leichter zu 
beheben sein. 

Doch bevor ich auf diese Fragen näher eingehe. halte ich es für 
angezeigt, die Sonderschulfrage zu besprechen. 

Stottern. Poltern, Aphasie. Agrammatismus und allgemeines 
Stammeln sind Sprachstörungen, die den normalen Schulunterricht 
sehr erschweren. ja oft genug unmöglich machen. Alle mit diesen 
Leiden behafteten Kinder bedürfen- -auch wenn wir von der Therapie 


') Im II. Quartal bheb ein Schüler wunbeurteilt, im l. (Quartal erhalten die 
Fleinentarklassenschüler keine detaillierte Schulnachricht. 


Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder. 153 


zuerst absehen — schon deshalb eines fachmännisch gebildeten Erziehers, 
weil ihre Erziehung wie auch ihr Unterricht auf das Leiden Rücksicht 
nehmen muß, soll es nicht verschlechtert, soll nicht der ganze Erziehungs- 
und Unterrichtserfolg in Frage gestellt werden. 

In jedem Unterrichte ist die Sprache das wichtigste Bildungs- 
mittel, Kinder mit den erwähnten Leiden können aber die normale 
Sprache noch nicht anwenden. Ihnen fehlt das im Unterrichte so 
wichtige Verständigungsmittel, sie bleiben also — je nach den indivi- 
duellen Verhältnissen — mehr oder weniger im Schulerfolge zurück. 

Es ist eine alte Erfahrung und die neue Wiener Statistik be- 
stätigt sie wiederum, daß unter den Kindern mit Sprachstörungen das 
Wiederholen von Klassen sehr häufig ist. 

Schon aus diesen Gründen, bei denen wir von der Heilung noch 
abgesehen haben, erscheint es wohl als durchaus gerechtfertigt. Sonder- 
schulen zu verlangen. 

Ganz anders aber wird diese Forderung noch gestützt, wenn wir 
die Heilung einbeziehen. 

Im Elementar-Unterrichte erwirbt das Kind die Schriftsprache, 
es lernt Lesen und Schreiben. Wird dieser Sprech-, Lese- und Schreib- 
Unterricht in den Dienst der Therapie gestellt, so haben wir eine für 
die Therapie geradezu idealgünstige Gelegenheit, wie sie im ganzen 
Schulleben nicht wieder zu finden ist. 

Bedenken wir ferner, daß der Schuleintritt eine kritische Zeit ist, 
in der ja das Kind aus dem Elternhause zum ersten Male ins all- 
gemeine (temeinschaftsleben tritt, daß sich nach allgemeiner Erfahrung 
-- auch wenn wir die Fehler der meisten Statistiken (nicht mani- 
festes Stottern) abziehen --- mit den ersten Schuljahren die Zahl der 
Stotterer erhöht, bedenken wir, daß ein uralter und ewig neuer medi- 
zinischer Grundsatz verlangt, die Heilung eines Gebrechens möglichst 
frühzeitig zu beginnen, so erscheint es zweifellos, daß die Fürsorge 
für sprachgestörte Kinder mit der Elementarklasse beginnen muß, und 
daß in der Fürsorge die Elementarklasse die wichtigste Rolle spielt. 

Würden wir z. B. in einem Schulgebiete sämtliche sprachgestörten 
Elementarschüler jahraus, jahrein in Sonderklassen sammeln, so würde 
binnen einer Schulgeneration, also binnen 8 Jahren die Zahl der 
Sprachstörungen ganz erheblieh zurückgehen. Aber die Zahl der 
Sprachstörungen würde doch nicht ganz verschwinden, es treten ja 
bekanntlich nicht nur Stimmstörungen sondern auch Sprach- 
störungen im Laufe der Schulzeit neu auf, es werden im I. Schul- 
jahre Initialstadien leichter übersehen. Schließlich wissen wir aber 


154 K. C. Rothe: 


auch, daß nicht alle Stotterer in der Elementarklasse. das heißt inner- 
halb eines Schuljahres, geheilt werden können. 

Daher muß an die Elementarklassen ein Oberbau angefügt werden, 
in dem in absteigender Zahl Schulklassen des 2.—5. Schuljahres er- 
richtet werden. 

Nach meinem Plane umfaßt — für Wien — je nach der vor- 
handenen Schülerzahl ein Sonderschulbezirk mehrere, sagen wir 
z.B. 5 Elementarklassen, 3—4 Klassen des II. Schuljahres, 2 Klassen 
des IM., je eine Klasse des IV. und V. Schuljahres; von den Klassen 
des L und N. Schuljahres sind 4, bezw. 3 als Exposituren außer- 
halb der Sonderschule disloziert, so daß die kleineren Schulkinder 
keine weiten Schulwege zu überwinden haben. 


Skizze. 
OGI. H. Schuljahr 


l. Schuljahr 0O a 


| | Sonderschule I.. II. I.. IV., V. Schuljahr 


l 


Lu. ee m Seat 
Administrativ unterstehen die Exposituren den Schulleitungen ihres 
Domizils, pädagogisch dem Leiter der einen vollständigen Sonderschule. 
Die geheilten Kinder werden in der Regel am Ende des Schul- 
jahres, ausnahmsweise eventuell auch am Ende des I. Halbjahres in 
die Normalschule entlassen. 
Diejenigen Kinder, bei denen sich neben der Sprachstörung ein 
Intelligenzdefekt ergibt, werden der Hilfsschule überwiesen. 


- Ù V. Schuljahr 
Normalschule - 2a oa e n 


über, bezw. m | i 


treten in die pi Me IV. 
Hilfsschule Jo i 


Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder. 155 


Die höheren Schuljahre enthalten ihr Material 
I. aus den nicht geheilten Schülern der vorhergehenden Klassen, 
I. aus der Normalklasse übernehmen sie Kinder, deren Leiden 
vorher nicht erkannt war oder: das eben neu entstanden ist. 
Ebenso übernehmen sie zugesiedelte sprachkranke Kinder. 
Derartig aufgebaute Sonderschulen bieten folgende Vorteile: 


1. Sie erfassen die sprachgestörten Kinder mit deren Eintritt in 
die Schule, also zu einer Zeit. 


a) in der die Leiden in der Regel noch nicht zu den schwersten 
Formen ausgebildet, daher überhaupt leichter heilbar sind, 

b) in der das Schulkind als Schulneuling pädagogisch leicht 
zu beeinflussen ist, 

c) in der der erste Lese- und Schreibunterricht die günstigste 
didaktische Gelegenheit zur Behandlung bietet, weil dieser 
erste Lese- und Schreibunterrichtt — verbunden mit dem 
Unterricht in der Schriftsprache — sich zu therapeutischen 
Zwecken am günstigsten ausgestalten läßt. 

2. Sie stellen für die Therapie die längste Zeit zur Verfügung. 
Wenn wir auch als normalen Zustand die Heilung Stotterer, 
Aphatiker und Agrammatiker im Laufe zweier bis dreier Schul- 
jahre (von der Elementarklasse an gerechnet) annehmen müssen, 
so ist doch für jene Kinder, die 
a) eben aus irgendwelchen Gründen einer längeren Therapie oder 
b) der weiteren heilpädagogischen Überwachung bedürfen, 

noch vorgesorgt. Ebenso ist vorgesorgt für neu entstehende 
Sprach- und Stimmleiden. Insbesondere letztere sind hier 
zu erwähnen, da sie einerseits ja häufiger in späteren Jahren 
neu auftreten, anderseits weite Verbreitung besitzen. 

3. Ermöglichen sie die Heilbehandlung ohne Störung des 

. Unterrichts, wie die Kurse es in der Regel tun. 


4. Ermöglichen sie die Abgabe der geheilten Kinder in die Normal- 
klasse, da sie ja — und dies unterscheidet sie von der Hilfs- 
schule — die Kinder zum Lehrziele der Normalschule 
führen können. 

Ich empfehle dem hochgeehrten Kongresse in einer These den 
Schulbehörden und Schulerhaltern das System der Sonderschule grund- 
sätzlich zu empfehlen. 

Ehe ich die Schwierigkeiten, mit denen die Fürsorge für 
sprachkranke Kinder zu kämpfen hat, bespreche, habe ich Ihnen noch 
kurz den Stand der Wiener Fürsorge zu skizzieren. 


156 K. C. Rotne: 


In Wien bestehen im ablaufenden Schuljahre 7 Sonderklassen 
und 10 Heilkurse. 

Die Erfassung der sprachgestörten Kinder geschieht durch Um- 
frage seitens der Speziallehrer in den Schulen ihrer Umgebung und 
durch Meldung seitens der Schulleitungen. Die gemeldeten Kinder 
werden im Ambulatorium für Sprachstörungen durch den Dozenten 
Dr. E. Fröschels und seinen Assistenten Dr. L. Stein untersucht. 
die therapeutische Behandlung mit dem Lehrer und mit dem Leiter 
der Sonderklassen und Heilkurse festgesetzt. !) 

Mehrmals im Jahre besuchen die Kinder. geführt von ihren 
Lehrern das Ambulatorium, so daß die weitere Beratung durch den 
Arzt möglich ist, der auch bei der Entlassung seine Ansicht äußert. 

Es ist meine Pflicht, von dieser Stelle aus unseren beiden Ärzten 
für ihre opferwillige, freiwillige Unterstützung zu danken. 

Die Zusammenarbeit von Arzt und Lehrer ist eine gute, freund- 
schaftliche und beschränkt sich keineswegs auf das Ambulatorium. 
Auch in der Arbeitsgemeinschaft der Sonderlehreı beraten die Ärzte 
mit uns und vor allem noch sind sie unermüdlich tätig als Lehrer 
unserer Lehrer selbst. 

Seit 1923 ist auch von den Schulbehörden in anerkennenswerter 
Weise die Möglichkeit gegeben worden, eine Fachprüfung abzulegen. 
Vorsitzender der Prüfungskommission ist Herr Hofrat Dr. F. Woll- 
mann, ein eifriger Freund und Förderer unserer Bestrebungen, der 
Kommission gehören Dozent Dr. E. Früschels, Direktor Tegel und 
der Leiter der Sonderklassen an. 

Der Schulerhalter hat die Prüfung dadurch auch noch anerkannt, 
daß er den geprüften Lehrern eine erhöhte Zulage gewährt. 

Administrativ unterstehen Klassen und Kurse den Schulleitungen 
ihres Schulhauses und den Inspektoren ihres Bezirkes. Im Stadtschul- 
rate führt Bez.-Schulinspektor Karl Wolf seit Beginn der ?. Epoche 
das Referat über unsere Fürsorge und wurde im heurigen Schul- 
jahre während seiner Krankheit durch Inspektor F. Mergenthaler 
vertreten. 

Der ganze Fürsorge-Aufbau ist noch im provisorischen Stadium. 
Wir hoffen und erwarten, daß in nicht zu weiter Ferne hier Wandel 
geschaffen und durch entsprechende Gesetze und Verordnungen die 
provisorische Einrichtung in eine definitive umgewandelt wird. 
Daß dies nicht leicht ist, und daß dabei eine Fülle von Teilfragen 


1) Diese Untersuchung der Kinder ist nach der Übersiedlung der Ambulanz in 
lie Umiv.-Ohrenklinik — leider — eingestellt worden, 


Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder. 157 


genau geklärt, erwogen und geregelt werden müssen, läßt es be- 
greiflich erscheinen, wenn die Schulbehörden reichere Erfahrungen 
zunächst sammeln wollen. 

Aus dem Berichte Kollegen Watzls über die Statistik, die heuer 
«durchgeführt wurde, werden Sie, sehr geehrte Anwesende, noch ersehen, 
«daß zahlreiche Schwierigkeiten zu überwinden sind. 

Die erste und wichtigste Quelle dieser Schwierigkeiten stammt 
aus der allgemeinen Unkenntnis über Sprachstörungen und ihre Heilung. 
Diese allgemeine Unkenntnis beschränkt sich keineswegs auf minder- 
gebildete Eltern, sie greift in die Kreise gebildeter Schichten über, sie 
finden wir im Kreise der Kollegen. der Behörden und der prak- 
tischen Ärzte. 

An Aufklärungsarbeit ist seither viel geleistet worden, sowohl 
durch Vorträge wie durch Publikationen, aber es ist lange nicht 
genug geschehen. | 

So habe ich u. a. ein Merkblatt verfaßt, das in Kürze das Wichtigste 
und Notwendigste sagt und in erster Linie Kollegen und Eltern auf- 
klären soll. Die Stadt Hamburg hat dieses Merkblatt bereits angeschafft; 
aber obgleich der Wiener Stadtschulrat den Ankauf empfohlen hat, 
ist es noch nicht für die Schulen Wiens angekauft worden. 

Es wäre dringend nötig, daß das Thema: „Fürsorge für sprach- 
gestörte Kinder“ in einer Bez.-Lehrerkonferenz beraten werde, damit 
alle Lehrer endlich informiert werden. 

In den Elternvereinen sind wohl schon einzelne Vorträge gehalten 
worden, aber lange nicht in ausreichender Zahl. 

Die Aufklärungsarbeit hat folgende falsche Auffassungen zu he- 
kämpfen: 

l. Die Sprachstörungen werden „von allein“ gut werden, wenn 
das Kind älter wird. 

2. Stottern ist ein nervöses Leiden, gegen das nichts zu machen 
ist, das allen Heilverguchen trotzt. 

3. Sprachstörungen sind Intelligenzstörungen; die Abgabe 
eines Kindes in die Sonderklasse bedeutet also die intellektuelle 
Degradierung eines Kindes. 

Das heißt also, die populäre Auffassung ist entweder eine leicht- 
sinnige oder eine unberechtigt pessimistische. 

Ein bekannter Logopäde sagte einmal in einer Wechselrede 
folgendes Scherzwort: „Meine Herren, Sie irren, ich habe das Stottern 
nicht erfunden.“ Leider finden wir -- wenn auch meist aus Höflich- 
keit nicht offen ausgesprochen --- tatsächlich nicht so selten die Auf- 


fassung: Der Logopäde — sei es nun Arzt oder Lehrer —- bilde sich 
Zeitschrift für Kinderforschung. Bd. 30. 1l 


. 158 K. C. Rothe: 


die Sprachstörungen und ihre Bedeutung aus Marotte oder aus Un- 
fähigkeit für eine andere Beschäftigung nur ein. 

Aber wichtiger erscheint mir fast noch eine andere Schwierig- 
keit. Man erkennt den Wert unserer Sache zwar äußerlich an, vielleicht 
auch innerlich, aber es fehlt die psychische Aktivität, auch die 
Konsequenz auf sich zu nehmen und dementsprechend zu handeln. 

Wenn der Leiter der Wiener Fürsorge in der 1. Epoche, Regierungs- 
rat Gugler vollständig befriedigt ist, wenn durch seine vier Kurse 
jährlich 4,32°/, der nach seiner — viel zu gering gerechneten — 
Statistik damals vorhandenen Stotterer erfaßt wurden, so weiß ich 
wahrlich nicht. ist dies ein Versagen der Kritik und Selbsttäuschung 
oder Irreführung der vorgesetzten Behörde (Unterrichtsministerium). 

Ich glaube — werde mich aber freuen wenn ich widerlegt werden 
könnte — noch keine Stadt- und Schulverwaltung hat mit entsprechender 
psychischer Aktivität die Konsequenz aus den gemeldeten Zahlen sprach- 
kranker Kinder gezogen. 

Man hat schöne Worte, aber wenig Energie. 

Wie liegen nun die Verhältnisse heute in Wien? 

Da dürfen wir allerdings nicht vergessen, daß das heutige Wien 
nicht mehr die alte Reichs-, Haupt- und Residenzstadt ist, dürfen wir 
nicht übersehen, dal wir nach einem verlorenen Kriege leben. 

Die Hauptschwierigkeit in Wien liegt im Lehrermangel. Neue 
Lehrkräfte werden noch immer nicht eingestellt. Die Wiener Fürsorge 
bedürfte rund 200— 300 Lehrer, statt 17, wenn wir die — nach der 
letzten Statistik — gemeldeten Kinder alle befürsorgen wollten. 

Mit einem Schlage läßt sich diese große Lehrerzahl nicht er- 
zwingen, wir sind also auf den allmählichen Ausbau angewiesen und 
können daher heute noch nicht strenge Kritik üben. Die 2. Epoche 
besteht ja erst wenige Jahre, in dieser kurzen Zeit ist die Zahl der 
in unserer Fürsorge tätigen Lehrer von 12 auf 17 gestiegen, wir haben 
in Wien also von 1921 in vier Jahren 5 Lehrer mehr in der Fürsorge. 
Da mehrere Verluste ausgeglichen waren, so ist der Zuwachs eigentlich 
größer gewesen. 

Ich wäre zufrieden, wenn wir pro Jahr einen Zuwachs, mit Aus- 
gleich der Abgänge, von rund 20—30 Lehrern hätten, dann wären 
wir ın 10 Jahren etwa soweit, daß wir alle Kinder befürsorgen könnten. 

Daraus ersehen Sie schon, daß die Fürsorge für sprachkranke 
Schulkinder eine starke Belastung des Schulbudgets bilden muß. Aber 
ich will gleich hier einfügen, daß die Fürsorge selbst auch noch zu 
erweitern wäre, 


Die Füsorge der Schule für sprachgestörte Kinder. 159 


Außer den gewöhnlich gerechneten Sprachleiden gibt es auch 
Störungen, die in unserer Fürsorge zu behandeln wären und das sind 
Kinder mit Lesestörungen und Kinder mit abnorm schlechter Ortho- ` 
graphie. 

Beide Gebrechen hemmen in der Normalschule sehr den Unterricht, 
für beide Gebrechen ist der Lehrer der Normalschule nicht entsprechend 
gewappnet. 

Die Fürsorge für sprachkranke Kinder würde also, wenn wir 
auch diese Störungen einbeziehen, die Schule ganz kolossal entlasten, 
so daß der Normallehrer ein einheitliches Schülermaterial' vor sich 
hätte und im Sinne der Schulreform wirklich ungehemmt wirken könnte. 

Des weiteren brauchen wir das schon von verschiedenen Seiten 
geforderte Erziehungsgesetz, durch das wir in der Lage wären, zwangs- 
mäßig Kinder den Sonderschulen für Sprachkranke und den anderen 
Sonderschulen zuzuweisen. | 

Sind wir einmal so weit, daß wir den Ausbau vollendet. ein 
Erziehungsgesetz haben, dann entfallen meines Erachtens alle die ver- 
schiedenen Hindernisse. die heute noch in so Jästiger Weise unsere 
Arbeit erschweren. 

Die Ausbildung der Lehrer für die Fürsorge ist derzeit bei uns 
vielleicht bedeutend besser als anderswo, aber sie entspricht nicht ganz 
unseren Idealen. Arzt und Pädagoge haben bisher in allerdings oft 
zu kurzen Kursen die Ausbildung durchgeführt. Die Zusammenarbeit 
von Arzt und Pädagoge hat sich in der Heranbildung der Sonder- 
lehrer ohne Zweifel bestens bewährt. 

Freilich haben wir alle dabei noch immer die Empfindung und 
Erfahrung, da8 diese Ausbildung viel gründlicher sein müßte. 

Schon infolge des so großen Lehrermangels müssen wir froh sein. 
wenn wir halbwegs vorbereitete Lehrer in den Dienst nehmen können, 
In der Arbeitsgemeinschaft der Sonderlehrer wird an der Vertiefung 
der Bildung gearbeitet, so weit dies die Erörterung administrativer 
Angelegenheiten zuläßt. Fast alle heute im Dienste stehenden Lehrer 
besuchen die am Wiener pädagogischen Institute abgehaltenen Aus- 
hildungskurse auch weiterhin. Auf Anregung der Arbeitsgemeinschaft 
hat ferner Herr Dr. Stein heuer(1923—24) im Il. Halbjahre. durch mehrere 
Monate einen Kurs über Gehirn- und Nervensystem gehalten, der sehr 
gut besucht war und eine wichtige ergänzende Bildungsarbeit bedeutet. 
Ich betone, daß er diesen Kurs unentgeltlich gehalten hat. 

Die Vorbereitung zur Sonderprüfung bedeutet ferner ebenfalls 
eine wichtige Gelegenheit, das Wissen zu erweitern und zu vertiefen. 

11” 


160 K. C. Rothe: Die Fürsorge der Schule für sprachgestörte Kinder. 


Aber trotz allem läßt sich nicht leugnen, daß es sehr vorteilhaft 
wäre, wenn ein systematischer Bildungsgaug vorgeschrieben und 
-~ ermöglicht werden würde. 

Ich habe seinerzeit schon einen Plan aufgestellt, in welcher Weise 
die Lehrerbildungsanstalt bereits einen wichtigen Teil der Aus- 
bildungsarbeit leisten könnte. 

Nun stehen wir ja bekanntlich bei einer Umwandlung der Lehrer- 
bildung überhaupt, man strebt ja der Universität zu. Zur theoretischen 
Vorbildung aber muß die praktische Ausbildung treten. Da ist das 
Hospitieren an einer Ambulanz für Sprachstörungen wohl die beste 
Einführung, vorausgesetzt natürlich, daß der Hospitierende Gelegenheit 
hat, bei einem Meister des Faches zu hospitieren und nicht bei Hilfs- 
personal. 

Wir erkennen immer mehr und mehr, daß die Ausbildung nicht 
gründlich genug, nicht umfassend genug sein kann. 

Zur Ausbildung kommt aber noch die Auswahl. Nicht das 
Wissen allein entscheidet hier, noch viel mehr als der Lehrer der 
Normalschule muß der Heilpädagoge ein Mann von Charakter sein, 
ein Pädagoge von Grund auf, ein Künstler, ein Seelsorger. 

Wir kämpfen ja nicht bloß gegen einen Fehler der mechanischen 
Sprache, wir kämpfen gegen konstitutionelle Anlagen, gegen Erziehungs- 
fehler und ihre Folgen, gegen ungünstige Milieu-Einflüsse; wir müssen 
bei Stotterern z. B. oft ganz verzweifelte Menschen, gebrochene Charaktere 
aufrichten, umerziehen. 

Wollen wir das, so müssen wir den ganzen Menschen verstehen 
können, den ganzen Menschen therapeutisch behandeln. Dazu gehört 
nicht nur vieles Wissen und tiefes Wissen, dazu gehört nicht nur 
ein mitfühlendes verstehendes Gemüt, sondern auch Welt- und Menschen- 
kenntnis, pädagogischer Takt und eine feste geschlossene Persönlichkeit. 

Diese ist keine Gabe des Himmels, diese wird in schwerer Arbeit 
errungen, so kommt es, daß nur der ein guter Umerzieher wird, der 
mit festem Willen und klarem Blick die eigene Selbsterziehung, die 
eigene Umerziehung in die Hand genommen hat. 


Über das unmittelbare Behalten 
bei blinden und sehenden Schulkindern. 
Von 
Eduard Bechtold, Halle a. N. 


Das Gebiet der (sedächtnisuntersuchungen an blinden Kindern 
auf experimentell-psychologischer Grundlage ist noch nicht in dem 
Maße bearbeitet, wie man es annehmen sollte. Wohl zeigen sich in 
der Literatur über Blinde zahlreiche auf empirischer Grundlage ruhende 
Urteile über gedächtnismäßige Leistungen der Blinden. Erst in neuerer 
Zeit ist man daran gegangen. das Gedächtnis der blinden Kinder 
systematisch zu untersuchen. Hierher gehören die Arbeiten von 
Krogius 1905, Müller 1911 und Vértes 1920. Alle diese Unter- 
suchungen können natürlich immer nur einen engen Kreis von Ver- 
suchspersonen umfassen und darin liegt ein gewisser Mangel begründet. 
Es gilt daher solche Versuche auf einen weiteren Kreis zu übertragen 
und die Ergebnisse bereitzustellen. 

Die Notwendigkeit der Anwendung von experimentell-psycho- 
logischen Untersuchungsmethoden auch auf die Aufhellung der seelen- 
kundlichen Erscheinungen des blinden Kindes ist eine dringende. 
Sie wird auch begründet durch die Forderung der Blinden nach 
Einstellung in industrielle Werke, der man bis jetzt immer noch nicht 
in dem Maße Gehör schenkt, weil die Annahme der Minderleistung 
Blinder noch zu weit verbreitet ist. So haben alle derartigen Unter- 
suchungen neben ihrer rein psychologischen Bedeutung auch noch 
eine eminent praktische. Aus solchen Erwägungen heraus sind nach- 
stehende Arbeiten hervorgegangen. Sie wollen, indem sie das blinde 
mit dem sehenden Kinde in Vergleich setzen, einen Beitrag zur 
rechten Wertung des ersteren liefern. 

Wenn es das Gebiet des Gedächtnisses und zwar des unmittel- 
baren Behaltens im engeren Sinne ist, dem sich unser Interesse zu- 
gewandt hat, so.hat das seine Begründung darin, daß die Funktion 
gerade für den Blinden von ganz besonderer Bedeutung auch für das 
praktische Leben ist. Er muß sich auf das Gedächtnis in allen Lebens- 
lagen mehr verlassen. da ihm andere Stützen viel schwerer zur Ver- 
fügung stehen. 


16? E. Bechtold: 


Die Schwierigkeit solcher Versuche liegt darin, daß man selten 
ausr.:'chendes Zöglingsmaterial zur Verfügung hat, um zu einigermaßen 
sicheren Ergebnissen zu kommen. Infolge güustiger Besetzung der 
Klassen unserer Anstaltsschule konnten wir im Jahre 1922 an 50 Zög- 
lingen die Experimente machen und zwar in Gestalt von Massen- 
versuchen. die in der Blindenschule leichter möglich sind, da ein 
gegenseitiges Beeinflussen und äußeres Stören nicht so oft vorkommen 
kann. Die Untersuchungen arbeiten also mit einem um 30 Zöglinge 
größeren Material als Vértes- Budapest. Was nun die Auswahl der 
blinden Kinder betrifft, so bemerken wir, daß sie durchschnittlicher 
Begabung waren. Die meisten waren total blind und blind geboren. 
Nur ein geringer Prozentsatz hatte mehr oder weniger Lichtschein, 
Dank günstiger Umstände war es möglich, dieselben Untersuchungen 
auch an ebensoviel Schülern einer Volksschule in meinem Beisein 
machen zu lassen, so daß ein wertvolles Vergleichsmaterial gefunden 
werden konnte. | 

Was nun die Versuchstechnik selbst angeht, so glauben wir, uns 
in diesen Blättern kurz fassen zu können. Es handelte sich um sinn- 
volles und sinnloses Wortpaarmaterial, das zweimal akustisch dar- 
geboten und dann in der bekannten Weise schriftlich abgenommen 
wurde. Die Klassenversuche fanden um 10 Uhr vormittags nach einer 
größeren Pause statt. Es wurden 18 Paare sinnvolle und 9 Paare 
sinnlose Wörter benutzt und nacheinander 3 Paarreihen dargeboten. 
Inhaltlich waren die Paare dem Erfahrungskreis der blinden Kinder 
ungefähr angepaßt. 

Nun zu den Versuchsergebnissen selbst. Sie sind in mehr als 
einer Hinsicht mit Vorsicht auszuwerten versucht. Wir bringen zu- 
nächst in der 1. Tabelle eine Gesamtzusammenstellung aller Leistungen 
der 50 blinden Kinder und vergleichen diese mit den in der 2. Tabelle 
niedergelegten Ergebnissen der Untersuchungen von 50 sehenden 
gleichalterigen Kindern. 


Tabelle 1. 

Beim sinnvollen Material leisteten von 50 blinden Kindern: 

l. Versuch 2. Versuch 3. Versuch 
10 Kinder 18 Paare 12 Kinder !8 Paare 16 Kinder 18 Paare 
CUa IE ci 12 17 6 17 n 
2 16 6 ; 16 8 16 .. 
8 15 8 15 6 15 
4 14 5 14 9 14 
3 13 2 13 3 13 
7 12 3 12 2 12 
2 11 2 11 2 11 
2 10 2 10 
3 9 
4 


5 


Über das unmittelbare Behalten bei blinden und sehenden Schulkindern. 163 


Tabelle 2. 


Beim sinnvollen Material leisteten von 50 sehenden Kindern: 


1. Versuch 2. Versuch 3. Versuch 

22 Kinder 18 Paare 16 Kinder 18 Paare 18 Kinder 18 Paare 
12: n 7 à 20 17 14 ., 17: 5 
1.238 16 „ 6. 16 . 2 Ber 16. 

I. 5 15: 5 4 „ 15 x eh 15 „ 

5 n M 2 14. 2, M, 

1 > RB . 2 13 .. O I3 a 
0 y 12 0 12 ., 0 n 12 4 

DE 10. 0 10 O 4 10 


Fassen wir zunächst die Höchstleistungen mit 18 Paaren ins 
Auge. Von den blinden Kindern wurde sie im mittleren Durchschnitt 
von 25,2°/, erreicht. Ihre sehenden Kameraden aber haben einen 
nicht unbeträchtlichen Vorsprung. Der mittlere Durchschnitt ist bei 
ihnen 36,6°/,. Das macht einen Vorsprung von 11,4°/,. Bei den 
mittleren Ergebnissen ist es ebenso. Wir nehmen die Leistung von 
13 Paaren als mittlere an und finden, daß die blinden Kinder auf die 
Zahl von 3,2°/, kommen, während nur 2°/, der sehenden diese Leistung 
aufweisen, weil die anderen alle darüber liegen. Ausgesprochen ge- 
ringere Leistungen finden wir mit 8 Paaren nur bei den blinden 
Kindern, während die sehenden in ihrer Leistung bis auf nur 10 Paare 
heruntergehen. Wir sehen also beim überschauenden Vergleich beider 
Tabellen, daß bei Verwendung des sinnvollen Materials die sehenden 
Kinder den blinden etwas überlegen sind. Ihre ganze Leistungskurve 
drängt schneller nach oben und hat auch nicht so tiefe Minimal- 
leistungen. | 


Tabelle 3. 


Beun sinnlosen Material leisteten von 50 blınden Kindern: 


1. Versuch 2. Versuch 3. Versuch 

1 Kinder 9 Paare 1 Kinder 9 Paare O Kinder 9 Paare 
0.8 O0. 8 7: > 
4, 7 D a a a ea 
1 i 6 .„ 1 , 6 l : 6 „n 
do n D p 9 a; o EN 6 De igs 
6 p 4 p 13 e 1 ,„ 
10 „ 3 16 .. 3. 13. „ 2 

l4 o 2 3 2 12 , 2 

4 4 Los 5 l 4 ; 1 , 
6 Q 0 0. o 0 


164 E. Bechtold: 


Tabelle 4. 


Von 50 sehenden Kindern leisteten heinn sinnlosen Material: 


1. Versuch 2. Versuch 3. Versuch 

O Kinder 9 Paare O Kinder 9 Paare 0 Kinder 9 Paare 
O n 8 E a 8 1 B. 2 
0 ar 4 7 0, © g 
3 6o 10 6 fi 6 =; 
D 5 5 5 5 4 \ Dr ie 
7 „. 4: % 10 „n 4 6 j 4 % 
4. n 5 3 1o, 3 

S- uy. 2. 4 6 n 2 7 2 

Eu a 6... l, S oa d 


Das Behalten vollständig sinnloser Silben erfordert eine ungemeiir 
größere Gedächtniskraft. Alle Stützen, die etwa für sehende Kinder 
aus den lebendigen Gesichtsvorstellungen resultieren, scheiden hier 
mehr oder weniger aus. Daher erschien uns die ganze Versuchslage 
in diesem Falle für beide Teile gleichmäßiger. Die Ergebnisse sind 
auch überraschend. Schon ein einfacher Vergleich der Tabellen 
3 und 4 zeigt, daß das blinde Kind bei diesen Versuchen seinen 
sehenden Kameraden überlegen war. Durchschnittlich 1,32°/, erreichen 
bei den blinden Kindern eine Höchstleistung, während die sehenden 
nicht eine aufweisen können. Nahe an diese Höchstgrenze kommen 
wenige Volksschulkinder heran. Selbst in der mittleren Leistung 
fallen sie mit 9,20/, gegen 12,6°/, ihrer blinden Partner ab. Auch 
die Zahl der vollständigen Versager ist bei den sehenden Kindern 
viel größer. Bei der Abnahme des Materials kam klar zum Ausdruck, 
daß die Hörleistung, also akustische Auffassung bei unseren blinden 
Kindern durchweg besser war. Diese Ergebnisse dürften wohl mit 
aller Vorsicht der besseren Merkfähigkeit Blinder gut geschrieben 
werden. Wir können also feststellen, daß unsere Versuche mit sinn- 
losem Material zeigen, daß blinde Kinder in der absoluten Kraft des 
Behaltens den sehenden überlegen. zum mindesten aber gleich sind. 

Zur Verfügung standen uns auch noch die Ergebnisse von 55 blinden 
Kindern der Blindenanstalt Chemnitz, die uns ein dortiger Kollege in freund- 
licher Weise überlassen hat. Diese zeigen im großen und ganzen dieselben 
Werte und erhärten somit unsere Folgerungen. Beim sinnlosen Wort- 
paarmaterial finden sich allerdings keine direkten Höchstleistungen, wohl 
aber Mittelwerte, dieden sehenden Kindern durchweg etwas überlegen sind. 

Die bisherige Übersicht zeigt die Verhältnisse in großen Umrissen. 
Wir werden noch manchen anderen Vergleichspunkt finden, wenn wir 
die einzelnen Jahrgänge einander gegenüberstellen. Dies soll in den 
folgenden Tabellen geschehen. 


Über das unmittelbare Behalten bei blinden und sehenden Schulkindern. 165 








































Tabelle 5. 

Nr. Geboren Grad A Be- | Sinn- | Sınn- Bemerkungen 
Blindheit | gabung | volle P. | | ose P. 

1. | Franz M. . . h3. 6. 1907| tbl. 1zlızı7lz'6l7 

2. | Werner Sch. . | 1. 4. 1907 tbl I. 18181815 55 

3.1 Karl H.. . . 12 9. 1907 tbl. FV. p14141713:314 

4. | Heinrich H. . {[11. 8. 1907| Lech. O. {15116/142413 

5. | Frieda A. . .{ 5. 6 1907 tbl. 1811711816 5|5 

6. | Gertrud B.. . Ill. 4. 1907 tbl. 

7. | Ema K.. . . 26.12. 1907 tbl. 


Als genaueren Vergleichswert finden wir in dieser Zusammen- 
stellung den Zentralwert. Er beträgt für die sinnvollen Paare 17 und 
für die sinnlosen 5. Die blindgeborenen Kinder zeigen’ die günstigsten 
Leistungen. Es sind das die Nummern 1, 2, 5 und 7. Das Verhältnis 
der Merkleistungen zur allgemeinen Begabung ist nicht immer ganz 
eindeutig, wohl aber zeigen die Gedächtnisleistungen der Schule eine 
stärkere Beziehung zur Kraft des unmittelbaren Behaltens.. Was die 
Wirkung des Wortinhaltes auf die Leistung betrifft. so konnte fest- 
gestellt werden, daß Reimpaare sehr gut, Wörter mit der Erfahrung 
des Blinden nicht zugänglichem Inhalt schwerer behalten wurden. 
Die mittlere Abweichung vom Zentralwert beträgt beim sinnvollen 
0,95. beim sinnlosen Material 1,33. 


Tabelle 6. 





—_[\[1[1[12>_ — 


Sinnlose | Bemerkungen 





























1. 7. 11. 1907 l. 3l5l4 
2, 18. 12. 1907| 11. 3'514 
3.| Walter w. |28. 10. 1907| mm. 3,212 
4.| Otto K. 28. 8 1907 | m. 0.212 
5.1 Erich K. 5. 12 1907 Il. 519]6 
6. | Else B. t. 6. 1907 | m. Jısjız 15(2 8] 2 
7.1 Frieda B. |10. 7.1907 | m. Jislısiielalels 


Diese Übersicht der gleichalterigen sehenden Kinder zeigt beim 
sinnvollen Material gute Leistungen, besonders zahlreich sind volle 
Treffer mit 18 Paaren. Im Zentralwert liegt sie auch höher. Er be- 
trägt hier 17,33. Bei der Verwendung der sinnlosen Paare stehen 
sie um ein geringes zurück. Hier erscheint derselbe mit 4. Das 
muß um so mehr beachtlich wirken, als die Schüler durchschnittlich 
etwas höhere Allgemeinbegabung zeigen. Die mittlere Abweichung vom 


166 E. Bechtold: 


Zentralwert stellt sich beim sinnvollen Material auf 0.88, während sie 
beim sinnlosen mit 1.70 berechnet wird. 

















Tabelle 7. 

y Grad der Sinnvolle | Sinnlose Be- 
Nr. Name Geboren rer! Begabung Paso | nn | EURER: 
1. | Walter Gr. | 7. 2. 1908| tbl m. Jislıslisi[5s ala 

2.| Richard Gr. |15. 5. 1908| tb. | ongu Jıslızlıs]3 414 

3. {Paul Kn. |21. 3. 1908| Lsch. | m.V. [13|15115]3 |3 6 
4.|Paul Kl. 122.10.19808| tb. | I/10 |1511618|2 41] 4 
5.|Ernst M. |1. 11. 1908| tbl. Lo. 181618] 1 413 

6. [Otto Dü. 5. 8. 1908| thl. TI. 1316 15|2|31 3 
7.|Helene H |27. 1. 1908| tbl. u. {17/17118|3 j| 3 | 2 
8.|Frieda L. |9. 11. 1908| tb. | ILL. |18/12|14ļ| 2 313 
9.|Gertrud Kn.|20. 8. 1908| tbl. IV. zlı014|2|1:1 
10.|Hedwig M. |15. 5. 1808| Lsch. | I.IV. Jıelısı2j2 713 

11 [Luise D. |10. 2. 1908| Lseh. | rw. | o[ısiıelı |6 ja 
12.|Hanni H. |20. 9. 1908| Lsch. | I. 18/18 18|1 | 1,2 

13. | Frieda Schn. | 30.11. 1808| Isch. | I. 12/18: 18] 4 | 5 | 5 


Aus dem Jahrgang 1908 standen uns, wie Tabelle 7 zeigt, die 
meisten Kinder zur Verfügung. darunter waren die Mehrzahl total- 
blind, d. h. fast immer von Geburt an blind. In der allgemeinen Be- 
gabung zeigen sich alle Stufen vertreten. Die Leistungen sind nicht 
so gleichmäßig ausgefallen wie beim Jahrgang 1907. Das zeigt auch 
der Zentralwert, der sich hier mit 14,66 berechnet. Er sinkt also um 
2,34 ab. Bei Verwendung von sinnlosen Paarworten kommen die 
Kinder auf einen Zentralwert von 2,66, der gegen den von 5 bei dem 
vorhergehenden Jahrgang fast um die Hälfte sinkt. Hier wirkt sich 
ebenso wie bei sehenden Kindern das Alter aus. Sehr deutlich tritt 
die mindere AR auch bei der mittleren Abweichung in Erscheinung. 
Diese ist mit 2,39 bei den sinnvollen Reihen auffallend größer als beim 
vorigen J ditang: Bei den sinnlosen Paaren weicht der Durchschnitt 
um 1,25 ab. Wir beobachten weiterhin, daß die totalblinden Kinder 
durchschnittlich bessere Resultate zeigen gegenüber denen, die noch 
einen Sehrest haben. Auch übertreffen die Knaben wieder die Mädchen. 

(Siehe Tabelle 8 auf N. 167.) 


Die Übersicht der Ergebnisse an den Kindern der Volksschule 
des Jahrgangs 1908 zeigt einen Zentralwert beim sinnvollen Material 
von 16,66 und steht um 2 höher als der bei den gleichalterigen blinden 
Kindern. Die mittlere Abweichung beträgt 1,14 und ist verhältnis- 
mäßig gering. Die Versuche mit sinnlosen Paarwörtern ergeben einen 


Über das unmittelbare Behalten bei blinden und sehenden Schulkindern. 167 








Tabelle 8. 
Nr, Name Geboren Begabung Sinnvolle _Sinnlose Bemerkungen 
Paare Paare 
1.| Paul E. 23. 11. 1908| m. Aıslızlısis|sls 
2.| Erich L. 23. 5. 1908| II/II. 116|14;16{2!'3]2 
3.| Erich Sch. 24. 2. 1908| UL Jızlısiızlı)0|3 
4.| Georg 8. 11. 6. 1908| O. 16116118] 2, 3| 2 
5.{ Willi H. 12. 4. 19081 OI. Jıslızjıslı 2|3 
6. Herbert H. 14. 3. 1908 I. 18115:1714 | 2|5 
7.| Erich B. 9.6 1908| m. {16|12/16İ 4 | 416 
8.| Ludwig W. 4. 3. 1908 IH. 112,10114[2:4|2 
9.1 Albert Ol. 12. 7. 1908|} u. Iır 1717 ıj2|0 
10.| Martha V. 6.5. 1908| TIL 11711617] 3:16| 1 
1l.| Martha H. 14. 9. 1908| II. 18 17117151915 
12.| Frieda R. 10. 4. 1908 Il. 18:17!17|4!9|5 
13.] Lina H. 4. 9. 1908| Mm. [18 16'16ļ| 4 | 6'2 


Zentralwert von 2,54. Wir beobachten also auch hier wiederum eine, 
wenn auch wenig verschiedene mindere Leistung gegenüber den blinden 
Altersgenossen. Die mittlere Abweichung beträgt bei diesen Versuchs- 
reihen 1,63 und ist gegenüber den blinden Kindern auch größer. Be- 
sonders auffallend sind die Leistungen der beiden Mädchen 11 und 12, 
die beim sinnlosen Material im ?. Versuch sogar Höchstleistungen 
offenbaren. Die Ergebnisse der Mädchen sind überhaupt ziemlich gut 
und denen der blinden Kameradinnen zum mindesten ebenbürtig. 


Tabelle 9. 












Sinnlose 
Paare 


Sinnvolle 










1; 3 
2.1 Walter L. 128. 6. 
3.1 Walter (ir. 130. 8. 
4.1 Kail W. 10. 8. 
5.1 Schreiber E | 2. 8. 
6. | Berthold J. 129. 8. 
7.1 Ilse L. 29. 8. 1909 Lsch. 
8.1 Anna Br. 30. 9. 1909 tbl. 


Leider standen uns von diesem Jahrgang nur 8 Zöglinge zur Ver- 
fügung. In der allgemeinen Begabung war das Versuchsmaterial 
ziemlich gut und gleichmäßig. Der erreichte Mittelwert stellt sich mit 
15.5 bei den Versuchen mit sinnvollem Material höher’ als beim Jahr- 


168 E. Bechtold: 


gang 19058. Allzu weitgehende Schlüsse dürften daraus wohl nicht 
gezogen werden. Nur auf eins dürften wir auch wohl hier hinweisen, 
das ist auf die Wirkung der Stufe um die 12 Jahre als der Vorstufe 
zur Pubertät. Gerade diese Vorstufen sind ja in ihren Wirkungen 
auf die geistigen Fähigkeiten von großer Bedeutung. Wir sehen es 
auch hier ausgeprägt. Die Leistungen der Elfjährigen sind bei weitem 
geschlossener als diejenigen der um ein Jahr älteren Zöglinge. Auch 
zeigt die Tabelle wieder den graduellen Unterschied zwisehen den 
Zöglingen, die einen Lichtschein haben und denen, die von Ge- 
burt auf blind sind. Die mittlere Abweichung beträgt hier für das 
sinnvolle Material 2,12, während sie beim sinnlosen, bei dem der 
Zentralwert 2,3 ist, mit 1,16 eingestellt werden muß. Auffallend ist 
der Junge Nr. 3, der auch in anderen, mit ihm angestellten Versuchen, 
immer ungleichmäßige Leistungen ergab. Neben seiner schwachen 
Allgemeinbegabung hat es seinen Grund in seiner geradezu krank- 
haften Aufgeregtheit, die ihre Ursachen in einer vererbten Nervosität hat. 


Tabelle 10. 








Sinnvolle Sinnlose 


























Nr. Name | Geboren Begabung Bemerkungen 
Paare Paare 
= 1 
Ñ: Gertrud K. = 4 | II. 16] 16/16] 1 0'6 
2 Gertrui Th. = II. 18 | 17118]0 118 
3 | Hilde M. N. m. f13|/14|16|4/1]|2 
4. Martha Gr. IE ITI. 17116/11514 |5 11 
5.1 Grete E. abe m. Jısjızlırl2|2|6 
6. Anna H. Fre II. 15/16118]4|1|5 
7.| Grete B. EE Iv. | 9/17/1534 2 
8.| Elli R. l BS um. [18/15/176 210 


Aus dem Jahrgang 1909 standen uns nur sehende Mädchen als 
Versuchspersonen zur Verfügung, deren Ergebnisse ziemlich gleich- 
mäßig sind. Der Zentralwert beträgt beim sinnvollen Material 15,8 
und liegt eine Kleinigkeit höher als der ihrer blinden Kameraden. 
Die mittlere Abweichung von diesem zeichnet sich mit 1,35, während 
sie bei den blinden Kindern 2,12 betrug. Es zeigt sich auch hier 
wie bei allen anderen Versuchen doch eine kleine Überlegenheit im 
Behalten sinnvoller Paarworte. Die Arbeit mit sinnlosem Material 
zeigt das Bild anders. Wir beobachten neben vollen Versagern eine 
ganze Reihe geringerer Leistungen. Während die gleichalterigen 
Blinden noch bis auf 7 Paare kommen, zeigen die Mädchen nicht 
eine Höchstleistung. Demgemäß liegt auch der Zentralwert mit 2 


Über das unmittelbare Behalten bei blinden und sehenden Schulkindern. 169 


unter dem der blinden Kinder, und die mittlere Abweichung von 
diesem steht auf 1,74. Also auch hier wieder ungefähr die gleiche 
(tesamtlage der Leistungen. 


Tabelle 11. 


Be- | Sinnvolle [Sinnlose 
gabung|' Paare | Paare 

















Grad der 


Bemerk 
Blindheit merkungen 





Name Geboren 











1. Viktor L. f18. 8.1910 | Th u. lis 1811613 4]2 
3.| Ewald Dr. 126. 8. 1910 IV. | 61514 AN 3 
3.| Paul M. 9.12. 1910 m.tfır ı7 11412 |4|4 
4. Otto Sr. 4. 7. 1910 im. fızlıs'ı8la 316 
5.| Else Z. 1.10. 1910 | Ich. I1r.:ırr.| 16 181615 |914 
6.| Frieda k. [13. 12. 1910 ILIV} 814 16 [0|313 
| Ames B. |1a. 1. 1910 mi. fıslısi sfelslı 


Vorstehender Jahrgang 1910 der blinden Kinder war hinsichtlich 
seiner Allgemeinbegabung ziemlich verschiedenartig. Durchweg waren 
es aber Zöglinge, die total erblindet waren. Die Leistungen sind etwas 
höher, als die des vorigen Jahrganges. Der Zentralwert beim sinn- 
vollen Material stellt sich hier auf 16 Paare und ist nah an die 
Höchstleistung gerückt. Die mittlere Abweichung von diesem Wert 
beträgt 2,52. Bei der Verwendung von sinnlosem Material ist der 
Zentralwert 3 mit einer Abweichung von 1,29. Es läßt sich auch hier 
eine Korrelation zwischen allgemeiner Begabung und Leistung im un- 
mittelbharen Behalten feststellen. 


Tabelle 12. 





Nr. | Name | Geboren 





Sinnvolle 


Sinnlose Bemerkungen 
Paare 


Paare 


Begabung 














1.| Albert Dr. | ılo'ı 
2.| Else D. = 5l6l4 
3.| Hedwig L. = 31413 
4.| Else B. = 3|3:2 
5.1 Hermann sch. = 1!2 | 3 
6.| Gertrud Sch. = 5/4 3 
q. | Gertrud K. 9.0 6 


Die Kinder aus dem Jahrgang 1910 der Volksschule zeigen durch- 
weg gute Allgemeinbegabungen. Ihre Leistungen sind demgemäß auch 
besser als die der gleichalterigen Blinden. Wir stellen hier einen 
Zentralwert mit 17 fest, der eine recht gute Leistung darstellt. Die 
mittlere Abweichung von diesem Wert beim sinnvollen Material ist 


170 E. Bechtold 


äußerst gering und wird mit 0,72 berechnet. Beim sinnlosen Material 
'beträgt der Mittelwert ebenso wie bei den blinden Kindern 3 Paare. 
Die Abweichung davon ist 1,57. Die Vergleichung dieser Kinder mit 
den blinden Kameraden ist also doch nur ziemlich relativ möglich, da 
das Versuchspersonenmaterial gerade in diesem Jahrgang etwas un- 
gleich ausgewählt ist. 

Damit sind wir am Ende des Materials, das verglichen werden 
sollte, angelangt. Es lagen uns auch noch die Versuchsergebnisse 
von 50 Kindern einer Landschule vor, die aber hier nicht einzeln auf- 
geführt werden können. Den Kindern vom Lande sind unsere 
Blinden im unmittelbaren Verhalten weiter voraus. Sowohl 
im Zentralwert als auch in den mittleren Abweichungen weisen die 
blinden Kinder durchweg höhere Werte auf. 

Wenn wir nun rückschauend die vielen Versuche überblicken. 
die immerhin möglichen Fehlerquellen, die bei Vergleichung von 
blinden und sehenden Kinder größer sind, beachten, so kamen wir 
etwa zu folgenden Tatsachen. 


Die vergleichenden Versuche haben ergeben, daß blinde Kinder 
ihren sehenden Altersgenossen im unmittelbaren Behalten nicht un- 
bedingt überlegen sind. Die ın der profanen Literatur häufig vor- 
kommenden Berichte, wonach das blinde Kind mit einer auffallend 
starken (sedächtniskraft bedacht sei, sind mit aller kritischen Vorsicht 
aufzunehmen. Es handelt sich da ebenso wie bei sehenden Kindern 
um Einzelfälle. Die Blindheit an sich, auch wenn sie angeboren 
ist, bedingt nicht eine Höhrrleistung hervorgerufen durch 
besondere Veranlagung. 


Ein ganz bedeutendes die Anlage zwingend förderndes Moment 
liegt natürlich in der andauernd stärkeren Übung des blinden Kindes 
zum Behalten. Immer muß es diese Fähigkeit üben, um den Kampf 
ums Dasein zu bestehen. 


Wenn die Versuche in dem Behalten von sinnlosen Wortpaaren 
eine leichte Überlegenheit gegenüber den sehenden Kindern erwiesen. 
so hat diese Erscheinung verschiedeneUrsachen. Einmal ist die 
innere Konzentration, die durch das Blindsein begünstigt wird, 
fördernd für die Aufnahme durch das Ohr. Das schärfere Auf- 
fassen an sich ist es, was die Reproduktion des Klangbildes fördert. 
Dazu kommt, daß das blinde Kind allen tonlichen Erregungen stärkeres 
Interesse entgegenbringt. Sein starkes Hingewendetsein auf die Klänge, 
die lustbetonten Erregungen treten hier kompensierend ein. Ob aus 
dieser Überlegenheit im sinnlosen Material auf eine stärkere Gedächtnis- 


Über das unmittelbare Behalten bei blinden und sehenden Schulkindern. 171 


kraft geschlossen werden könnte, läßt sich nach dieser Versuchsreihe 
noch nicht ohne weiteres feststellen. 

Wenn nun die innere Konzentration beim blinden Kind stärker 
ist als beim sehenden, so sollte doch auch die Überlegenheit im sinn- 
vollen Material erst recht vorhanden sein. Dem ist aber nicht so. 
Hier spielt unserer Meinnng nach der Wortinhalt eine gewisse Rolle 
Die sehenden Kinder sind dabei ıhren blinden Kameraden doch durch 
ihr Auge überlegen. Die Bildhaftigkeit ihrer Vorstellungen ist bei 
manchen Wortpaaren stärker gewesen. Daher mag es kommen, daß die 
sehenden Kinder hier etwas überlegen sind. 

Jedenfalls aber lassen auch diese Versuche erkennen, daß blinde 
Kinder in ihren Gesamtleistungen mit sehenden Alters- 
genossen erfolgreich wetteifern können. Diese Tatsache ist 
für uns, die wir beide unterrichtet und erzogen haben, infolge der 
vielseitigen Erfahrungen zu einer festen geworden. Man bringt aber 
den Blinden im öffentlichen Leben noch längst nicht das Vertrauen 
in ihre Leistungen entgegen. das aus ihrer seelischen Gesamtstruktur- 
notwendig sich ergibt. Wenn nun die Versuche hier zahlenmäßig be- 
wiesen haben, daß der Blinde dem Sehenden mindestens in diesen 
Leistungen gleich ist, so sind sie nicht ganz vergeblich gewesen. 

Was nun noch den Umfang der Leistungen betrifft, so sind wir 
hier nicht über 18 Paare sinnvoll und 9 sinnlos hinausgegangen. Damit 
ist natürlich nicht die Maximalleistung festgelegt. Versuche sehr großer 
Zahl in meiner Klasse (damals 3. Schuljahr) haben erstaunlich höhere 
Leistungen schon in diesem Alter gezeigt. Darin kam unzweideutig 
zum Ausdruck, daß hier dem blinden Kinde mehr als dem sehenden 
zugemutet werden dürfte. 

Wir kommen zum Schluß. Die Arbeit war hervorgegangen aus 
wissenschaftlichen und rein praktischen Gründen. Sie untersucht nur ein 
kleines Teilgebiet, und wir glauben demnächst noch Versuchsergebnisse- 
anderer Gebiete vorlegen zu können mit der Hoffnung, so allmählich 
alte Vorurteile über Minderleistungen blinder Kinder ebenso wie phan- 
tastische Berichte über geheimnisvoll begründete Höchstleistungen be- 
seitigen zu können. Letzten Endes aber soll dadurch mitgeholfen 
werden, daß unseren Blinden ein sachliches Urteil entgegengebracht wird. 





Ziele und Wege des Schulkindergartens». 


Von 


Hilde Nohi, Berlin. 


Die Schulkindergärten, die auch Vorklassen oder Vorbereitungs- 
klassen genannt werden, sind noch in der Entwicklung, das zeigen 
schon die verschiedenen Namen, die es für diese Anstalten gibt. Sie 
haben die Aufgabe, die von dem Schularzt zurückgestellten sechs- bis 
achtjährigen Kinder zu sammeln und nach Ablauf eines Jahres als 
schulreif der Normal- oder Hilfsschule zu überweisen. In einzelnen 
Fällen kann auf Antrag der Leiterin die Schuldeputation den Besuch 
des Schulkindergartens noch ein weiteres Jahr gestatten. Außerdem 
werden die Kinder, bei denen es sich im Laufe des ersten Schuljahres 
zeigt, daß sie den Anforderungen der Schule nicht gewachsen sind, 
dem Schulkindergarten überwiesen. Während es sich bei der ersten 
Zurückstellung vorwiegend um körperlich zarte Kinder handelte, wird 
es sich dann um geistig zurückgebliebene, sprachkranke. disziplin- 
schwierige und motorisch unruhige handeln. 

Eine einheitliche Methode zur Förderung dieser Kinder ist noch 
nicht durchgeführt, jede Leiterin versucht auf ihre Weise die Kinder 
zum Ziel zu führen; sie wird sich dabei an ihre frühere Ausbildung 
im Seminar anlehnen, die Leitgedanken, die man ihr dort für diese 
Arbeit gab, wird sie verarbeiten und so nutzbar machen, wie es sich 
für ihre Eigenart schickt. Ebenso ist die Zahl der aufzunehmenden 
Kinder und die Vorbildung der Leiterin noch nicht einheitlich geregelt. !) 
Und da jeder Jahrgang sich aus verschiedenem Kindermaterial zusammen- 
setzt, so wird sich schwer eine einheitlich feste Norm für den Lehr- 
plan aufstellen lassen; bald handelt es sich um vorwiegend schwache, 
zarte Kinder. die geistig normal sind, bald werden die geistig zurück- 
gebliebenen einen so großen Prozentsatz ausmachen, daß ihre Förderung 
das Hauptaugenmerk verlangt, bald werden die Kinder mit starken 


', Im 28. Bande dieser Zeitschrift Seite 119 ist eine Übersicht über die be- 
stehenden Vorklassen oder Schulkindergärten gegeben worden. 





H. Nohl: Ziele und Wege des Schulkindergartens. 173 


Sprachgebrechen die besondere Aufmerksamkeit der Leiterin in An- 
spruch nehmen. Doch das Ziel ist, die Kinder körperlich, geistig, 
sprachlich und erzieherisch zu fördern und zu beeinflussen. Alle 
Maßnahmen müssen sich zu diesem Ziel vereinigen. 
Gesundheitspflege. Es ist nicht leicht, unsere Großstadtkinder 
körperlich zu kräftigen und widerstandsfähiger zu machen. Eine plan- 
mäßige Verschickung aufs Land wenigstens auf eine Zeitdauer von 
sechs bis acht Wochen muß angestrebt werden, das Zusammenarbeiten 
aller dafür in Frage kommenden Organisationen ist unbedingt notwendig. 
Der Schulkindergarten kann nicht heilen, er kann nur helfend 
und bewahrend mitwirken, durch Speisung, ärztliche Überwachung 
und Beratung, durch den Aufenthalt der Kinder in hellen, gesunden, 
im Winter gut geheizten Räumen, durch (rewöhnung der Kinder an 
Reinlichkeit, tägliches Waschen, Säubern der Nägel u. dgl. Vor allen 
Dingen müssen die Kinder im Sommer und im Winter viel im Freien 
sein; hier sollen sie sich austummeln und körperlich ausarbeiten. 
Sandspiele, Phantasiespiele, Spiele mit Reifen, Bällen, Pferdeleinen 
müssen einen großen Raum einnehmen. Außerdem sind täglich mit 
den Kindern, soweit als irgend angängig, im Freien planmäßige Übungen 
vorzunehmen, durch die sie turnerisch vorgebildet werden. Der Schul- 
kindergarten muß in dem einen Jahr soviel entwickeln und fördern, 
daß jede Minute benutzt werden muß, aber ein fortdauerndes, den 
Kindern bewußt werdendes Lernen würde sie zu sehr anstrengen und 
reizen; deshalb muß die Leiterin sich wohl jeden Augenblick darüber 
klar sein, was sie fördern will und wie sie es an die Kinder heran- 
bringt, sei es durch freies Spiel oder planmäßige Übungen, während 
die Kinder keinen Zwang dabei merken dürfen. Von einer straffen 
Turnstunde ist abzusehen, im Spiel müssen die Kinder die Übungen 
erfassen und ausführen lernen: Nachahmungsübungen, z. B. fliegen 
wie die Vögel. schleichen wıe die Katzen, Eisenbahn, Ballspiele, Lauf- 
spiele, Turn- und Marschierspiele kommen hier in Betracht. Neben 
diesen Spielen darf das Bewegungsspiel nicht fehlen. Hier tritt die 
turnerische Betätigung zurück hinter ein zwangloses, spielfrohes Sich- 
bewegen, das nur an die Regeln des Spieles gebunden ist. Das 
Bewegungsspiel findet, sofern es nur die Witterung erlaubt, im Freien 
statt; aber auch im Zimmer bietet es eine gute Betätigung der Muskeln 
und Glieder zwischen den anderen Beschäftigungen. Einfache rhythmische 
Übungen lassen sich an diese Spiele anschließen: Laufen nach der Musik, 
schnell, langsam, laut, leise, rhythmisches Werfen und Fangen des Balles. 
Geistige Förderung. Der Schulkindergarten hat das Ziel, die 
Kinder geistig so zu fördern, daß sie nach einem Jahre als schulreif ent- 
Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 12 


114 H. Nohl: 


lassen werden können. Seine Hauptaufgabe liegt nun weniger darin, 
eine Menge von Kenntnissen zu vermitteln als darin, die Kinder nach 
jeder Richtung hin aufnahmefähig zu machen. Der weitaus größte 
Teil der Schulkindergartenkinder ist schon allein infolge des mangel- 
haften Kräftezustandes stumpf, gleichgültig, uninteressiert, zerfahren. 
Hier gilt es anzupacken; die Kinder müssen Lust und Freudigkeit be- 
kommen, da es dadurch allein möglich ist an sie heranzukommen, 
ihre Gleichgültigkeit zu überwinden und das in ihnen Liegende zu 
entwickeln. Wir müssen den Kindern eine Spiel- und Arbeitsfreude 
schaffen, gute Bilder, Musik, bunte Blumen, farbenfreudiges Material. 
kleine Spielgruppen, eine Puppenecke werden uns dabei helfen. 

Auch hier muß ein großer Teil der Zeit dem Freispiel eingeräumt 
werden. Die Kinder spielen was sie mögen, verschiedenartiges Spiel- 
zeug ihrem Alter und ihrer Neigung entsprechend steht ihnen zur Ver- 
fügung. Die Mädchen spielen in der Puppenecke, die Jungen mit 
Kaufladen oder Pferdestall. Hierdurch werden sie in die Verrichtungen 
des täglichen Leben eingeführt, z. B. lernen die Mädchen beim Anziehen 
der Puppen Schleifen binden und Knöpfe zumachen. Daneben gibt 
die Leiterin den Kindern mannigfache Spiele und Beschäftigungen, 
die darauf angelegt sind, sie das im Spiel zu lehren und zu vertiefen, 
was sie sich in den Stunden erarbeitet haben: Farben, Formen und 
Zahlen. Die {freie Wahlbeschäftigung läßt eine freiere Gruppierung 
der Kinder zu, kleine Spielgruppen entstehen, die Kinder zerstreuen 
sich in die verschiedenen Zimmer: während sich hier zwei Kinder in 
eine Ecke verzogen haben und gemeinsam ein Bilderbuch begucken, 
baut sich dort ein Kind einen bunten Stern. Andere scharen sich um 
ein Angelspiel: hier gilt es die roten Fische zu angeln und der Fischer 
ruft froh: „Ich habe den roten Fisch“. Wieder andere spielen mit 
dem Farbdomino. Der Spielordner ruft: blau oder gelb, die mit- 
spielenden Kinder suchen und prüfen, ob sie eine Farbe anlegen können. 
Wieder andere haben sich den großen Zahlenwürfel geholt und zählen 
eifrig die Punkte. So sind alle ausgefüllt und beschäftigt, die Leiterin 
setzt sich zu den Kindern, die sie gerade beobachten will und spielt 
mit. Hierbei lernen die Kinder unbewußt im Spiel Farben, Zahlbegriffe 
und Formen, und die Leiterin hat Gelegenheit, sich den schwächeren 
Kindern zu nähern, sie anzuregen und zu fördern. 

Außer dieser freien Wahlbeschäftigung, in der die Kinder indirekt 
und unbewußt beeinflußt werden, findet täglich eine planmäßige und 
direkte Förderung statt, und zwar an der Hand von Einheitsgedanken, 
die wochenweise in das Interesse der Kinder gestellt werden. Zur 
Durchführung und Vertiefung derselben dienen Naturbeobachtungen, 


Ziele und Wege des Schulkindergartens. 175 


Plaudereien, Sprechübungeu, Bildhetrachten, Erzählungen. Lieder, Ge- 
dichte, Fingerspiele. 

Nachdem so den Kindern sprachlich der Stoff nahe gebracht ist, 
wird ersucht, die Anschauungen durch die Fröbelschen Beschäftigungen 
zu klären. „Was der Mensch darzustellen strebt, fängt er an zu ver- 
stehen.“ Zeichnen, ausschneiden, reißen, modellieren, bauen, falten, 
legen, flechten bietet den Kindern Abwechslung und Anregung. 

Außerdem wird die Handgeschicklichkeit gefördert, die Beobachtungs- 
gabe entwickelt, die Phantasie angeregt, der Tätigkeitsdrang befriedigt. 
Auch die Zahl-, Farb- und Sinnesübungen werden im Rahmen dieser 
Einheitsgedanken vorgenommen. 

Alle Übungen haben keine bestimmte Zeitdauer, sie sind der 
Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit der Kinder anzupassen. Ganz 
langsam aber stetig sollen die Kinder dahin gebracht werden, eine 
längere Zeit z. B. einer Geschichte folgen zu können oder eine Be- 
schäftigung auszuführen. Das Ziel des Schulkindergartens, die Kinder 
für die Schule vorzubereiten, muß uns diese Aufgabe stellen. 

Ausflüge, Spaziergänge und kleine Gänge durch die Straßen sind 
anzuraten, da durch sie die Kinder angeregt werden und die Einheits- 
gedanken eingeführt, veranschaulicht und vertieft werden. 

Farbübungen. Der Kindergarten setzt sich das Ziel, daß die 
Kinder die Grundfarben: rot, grün, blau, gelb, schwarz, weiß erkennen 
und benennen lernen. Jede Farbe wird besonders eingeführt und 
vertieft. Z. B. Einführung der Farbe grün durch einen Ausflug auf 
eine grüne Wiese, jedes Kind erhält einen Zweig mit grünen Blättern, 
sie dürfen sich grüne Fähnchen machen, um sie sich anzustecken. 
Später modellieren sie einen Blumentopf und stellen kleine grüne 
Zweige hinein. Zur Farbvertiefung gibt es dann besonders dafür an- 
gefertigte Spiele, wie „Farbmännchen, spring hinein“, Farbstrahlen- 
spiel, Dominos. Auch können die Farben durch gemeinsame Gesellschafts- 
spiele vertieft werden, und die Leiterin kann dann gut übersehen, 
welche Kinder die Farben richtig kennen. Solche Gesellschaftsspiele 
sind z. B. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, „Wenn ich wieder- 
komme, müßt ihr alle etwas Rotes haben“, Spiele mit bunten Bällen. 

Zahlübungen. Die Zahlbegriffe 1—6 werden im Laufe des 
Jahres den Kindern gegeben. Von dem eigentlichen Rechnen ist ab- 
zusehen, es soll nur angebahnt werden. Hier wie bei den Farben 
wird jede einzelne Zahl für sich allein eingeführt. 1 — im Gegensatz 
zu vielen, 2, 3, 4, 5, 6. Auch für diese Übungen eignen sich be- 
sondere Spiele, die in kleinen Gruppen gespielt werden. Hier sei von 


ihnen das Lotto erwähnt. Den Kindern werden Karten verteilt, auf 
12* 


176 H. Nohl: 


den einzelnen Feldern sind Gegenstände des täglichen Lebens von 
1—6 Stück abgebildet. Nun wird aufgerufen: Wer hat die 3 Milch- 
töpfe, wer die 6 Schlüssel? Die Kinder “müssen sehen und zählen, 
ein jedes möchte gewinnen. Später wird das Spiel schwerer, da gilt 
es, den Mann mit den 5 Luftballons herauszufinden usw. Aber nicht 
nur in kleinen Gruppen, auch im großen Kinderkreis können die Zahl- 
begriffe in spielender Weise geübt werden. Z. B. werden bunte Ketten 
aufgezogen, 3 rote Perlen, ? blaue usw. 

Sinnesübungen. Die Leiterin muß im Schulkindergarten sich 
bewußt sein, wie vielen Kindern die einfachsten Begriffe fehlen; deshalb 
ist es notwendig, ihnen diese Begriffe planmäßig zu geben und zwar oft 
an Hand von Sinnesübungen. Diese, wie auch die Zahl- und Farb- 
übungen werden sich leicht aus den Einheitsgedanken ableiten und 
entwickeln lassen; als Beispiel sei erwähnt, beim Thema: Wasser Sinnes- 
übung: kalt, warm, beim Thema: Schiff: leicht, schwer usf. Die Sinnes- 
übungen machen den Kindern unendlich viel Freude Sie finden es 
lustig, wenn alle mit verbundenen Augen sitzen und lange und kurze 
Stäbchen aussortieren oder ein „blindes“* Kind versucht, dem Klang 
eines Glöckchens zu folgen. In diesem Zusammenhang seien auch die 
Aufmerksamkeits- und Gedächtnisübungen erwähnt. Es werden ein 
oder auch mehrere einfache Formen an die Wandtafel gezeichnet, die 
Kinder betrachten sie eine kurze Zeit lang, dann werden sie aus- 
gelöscht und die Kinder zeichnen nun auf, was ihnen davon im Ge- 
dächtnis geblieben ist. Auch Zahlen und Farben werden durch solche 
Übungen vertieft; man zeigt Karten mit einer oder mehreren Farben 
und die Kinder haben nun die Aufgabe, dieselben Farben aus dem 
andern Zimmer zu holen, auch Farbschattierungen können dabei gute 
Anwendung finden. Ein anderes Mal erhalten die Kinder Aufträge: 
bringe mir ein Stück Kreide, einen roten Bleistift und die Blumenvase, 
wir wollen ein Wandtafelbild machen. Auch werden ihnen drei Worte 
gegeben, die sie behalten sollen. Viele Gesellschaftsspiele lassen sich 
gerade aus diesen Übungen entwickeln und die Kinder sind mit Eifer dabei. 

Sprachliche Förderung. Von großer Wichtigkeit ist zuletzt 
die sprachliche Förderung der Kinder. Wie schon anfangs erwähnt 
wurde, ist der größte Teil der Kinder unkonzentriert und stumpf, und 
es ist ihnen nicht möglich, das in Worte zu kleiden, was sie erleben. 
Darum müssen wir die Kinder anregen, indem wir ihnen gute Vor- 
bilder geben. Von besonderem Reiz sind die Märchen, die in keinem 
Kindergarten fehlen sollten. Märchen und Geschichten sollen den 
Kindern als (ranzes gegeben werden und es soll vermieden werden. 
durch Fragen und Zerstückeln den Gedankenfaden zu zerreißen. 


Ziele und Wege des Schulkindergartens. 117 


Zur Vertiefung eignet sich in hohem Maße das Dramatisieren, durch 
das die Kinder wie von selbst zum Sprechen und Fragen gebracht 
werden. Geschichte und Plauderei lehnen sich an die Einheits- 
gedanken an. Einen ebenso großen Wert hat das Bildbetrachten. Ein 
gutes Bild löst oft etwas in den Kindern aus, das sie frei macht zu 
plaudern und zu erzählen. Zu diesem Zweck muß der Kindergarten 
viele gute und künstlerische Bilder und Bilderbücher besitzen. Aber 
die Kinder sollen nicht nur unbewußt und scheinbar zufällig lernen, sich 
auszudrücken und zu erzählen, die Leiterin muß auch planmäßige 
Sprechübungen vornehmen. Diese seien kurz und knapp im Ausdruck: 
das Kind soll veranlaßt werden, einen Gedanken in einem kurzen Satz 
auszudrücken. 

Ein anderes Hilfsmittel zur sprachlichen Förderung ist das Lied 
und das Gedicht. Beide seien der kindlichen Altersstufe gemäß, kurz 
und leicht verständlich, die Lieder dürfen keinen zu großen Tonumfang 
haben. Es ist gut oft mit den Kindern zu singen, das Lied macht sie 
froh, das Gemeinschaftsgefühl und die Freude am Schönen wird in 
ihnen gestärkt, z. B. beim gemeinsamen Singen des Morgenliedes, bei 
der Geburtstagsfeier eines Kindes, beim Klang der Weihnachtslieder. 
Ein Instrument, sei es eine Geige, Laute. oder womöglich ein Klavier 
wird das Singen verschönern. 

Schwieriger ist die Förderung der sprachkranken Kinder, deren 
sich stets mehrere unter den zurückgestellten befinden. Es gibt zwei 
Hauptarten von Sprachstörungen, Stammeln und Stottern. Es ist an- 
zuraten, in schwierigen Fällen mit dem Spracharzt gemeinsam diesen 
Leiden abzuhelfen. Tägliche Übungen in kleinen Gruppen, oft sogar 
einzeln, werden mit diesen Kindern an Hand des Buches von Pieper, 
„Der kleine Sprachmeister* vorgenommen, außerdem werden ent- 
sprechend den ärztlichen Anweisungen Atemübungen gemacht. Mit 
einer vollen Klasse ist das nicht leicht durchzuführen. 

. Erzieherische Maßnahmen. Der Schulkindergarten hat nun 
noch ein weiteres wichtiges Ziel, er muß die Kinder erzieherisch be- 
beeinflussen. Wie schon anfangs gesagt wurde, sind die Schul- 
kindergartenkinder schon durch den mangelhaften Gesundheitszustand 
bedingt nervös, außerdem werden uns die Kinder von der Schule 
überwiesen, die dort den Unterricht störten, die nicht still sitzen können, 
die Disziplinschwierigkeiten machen. Einer psychopathischen Kon- 
stitution wegen werden dem Schulkindergarten direkt nur wenige 
Kinder überwiesen, es hat sich aber herausgestellt, daß wir immer 
einen großen Prozentsatz psychopathischer Kinder haben: überlebhafte, 
phantasievolle, überempfindliche. Kinder mit pseudologischen Neigungen. 


178 H. Nohl: 


Diese kurze Zusammenstellung wird die Wichtigkeit der erzieherischen 
Maßnalımen klar erkennen lassen. Einen festen, bestimmten Weg 
kann man für dieses Ziel nicht angeben. Die Kinder sollen in das 
Gemeinschaftsleben eingeführt werden, die Leiterin wird versuchen, 
sie alle zu einer bewußten Gemeinschaft zusamımenzuschließen: „in 
unserem Schulkindergarten, unser Spielzeug, unsere Bilderbücher, unsere 
neue Weihnachts-Puppenecke“. Wenn es gelingt den Kindern dieses 
freudige Gremeinschaftsgefühl zu geben, werden sie sich leichter ein- 
und unterordnen. Jedes weiß, wir alle müssen lernen, jedes kommt 
zu seinem Recht, aber jedes muß dem andern gern den ihm ge- 
bührenden Platz geben. Jedes soll mit seiner Kraft helfen: die 
Schüchternen lernen sich bewegen, die Zappeligen ihre Unruhe meistern, 
um die andern nicht zu stören, z. B. wenn alle dem Ticken der Uhr 
lauschen, oder alle gespannt sind ob sie eine Stecknadel zur Erde 
fallen hören. Die Gewandten müssen oftmals zurückstehen, damit ein 
anderes Kind etwas erzählen kann, die Schüchternen aber müssen sich 
zusammennehmen, damit sie das Spiel nicht stören, denn es kann nicht 
weiter gehen, bis sie ihr Sprüchlein gesagt haben. 

Beim Arbeiten, Essen und Spielen, überall wird es möglich sein 
an den Kindern zu arbeiten; sie schleifen sich gegenseitig ab, sie 
lernen aufeinander Rücksicht nehmen, dem andern etwas gönnen, ab- 
geben. sei es die besonders lange Pferdeleine, sei es den neuen Ball, 
helfen — dem Nachbar ist die Milch umgefallen, schnell muß das 
Scheuertuch geholt werden — mitspielen, denn es geht nur wenn 
noch eins mitspielt; die Kinder die so leicht von fern nur zusehen, 
werden mit ins Spiel gezogen, die Wilden müssen aufpassen, daß sie 
kein Kind umrennen oder puffen. | 

Auf diese Weise wird versucht die Kinder zu beeinflussen. Um 
der Leiterin ein bewußtes und planmäßiges Erziehen zu ermöglichen, 
ist es von großer Wichtigkeit Beobachtungen von den Kindern auf- 
zuschreiben, täglich, wöchentlich, monatlich, den Schwierigkeiten und 
dem Charakter des Kindes entsprechend. Hierdurch wird das Bild 
des Kindes dem Erzieher klarer, er wird sich bewußter, wo und wie 
er vorgehen muß. Ferner ist ein Zusammenarbeiten mit den Eltern 
von großer Bedeutung, vieles kann geklärt werden, wenn der Erzieher 
die häuslichen Verhältnisse und die Vorgeschichte des Kindes kennt. 
Entsprechend der Behandlung der Sprachkranken wird es bei den 
Schwererziehbaren von besonderem Wert sein. dem Nervenarzt das 
Kind vorzustellen und seine Ansicht zu hören. 

Hat die Leiterin in dem Jahr so ihre Kinder kennen, verstehen 
und beeinflussen gelernt, so wird es ihr bei der neuen Einschulung 


Ziele und Wege des Schulkindergarten«s. 179 


möglich sein, dem Kind auch in der Schule den Weg zu ebnen. Sie 
wird auf dem Bogen, der vom Schulkindergarten das Kind in die 
Schule begleitet, seine Fähigkeiten und Eigenarten betonen, so daß 
dort Verständnis und richtige Behandlung erleichtert wird. 

Um diese Beobachtungen richtig lauszuführen und die vier täg- 
lichen Schulstunden so einzurichten, daß alle Kinder sachgemäß 
gefördert werden, muß die Leiterin eine besondere Fachausbildung 
haben. Obwohl der Schulkindergarten in vielen Beziehungen dem 
normalen Kindergarten ähnlich ist, ist er doch eine Einrichtung, deren 
Leitung erst durch besondere Schulung erlernt werden kann. Die 
Zusammensetzung der Kinder, die besonderen heilpädagogischen Maß- 
nahmen, die notwendig sind, lassen die Berechtigung dieser Forderung 
klar erkennen. Am wünschenswertesten erscheint es, wenn die Leitung 
der Schulkindergärten in die Hände von Jugendleiterinnen gelegt wird, 
doch auch bei ihnen muß eine Erfahrung auf diesem Gebiet vorliegen. 





Über den Bau von Anstalten für psychopathische 
Fürsorgezöglinge. 


Von 
Dr. med. P. Seelig, Berlin. 


Fragestellungen und Aufgaben, die vor über einem Jahrzehnt zur 
Diskussion standen, auch hie und da zu einer Lösung gebracht worden 
waren, mußten der Umstände wegen in der Ausführung zurück- 
gestellt oder aufgegeben werden. Allmählich aber treiben die Ver- 
hältnisse dazu, einzelne von diesen Aufgaben wieder zu erörtern; es 
wird damit zugleich bewiesen, daß diese Aufgaben von einer bleibenden 
Wichtigkeit sind und unbedingt zu einer Erledigung drängen. So 
scheint es auch für die an der Fürsorgeerziehung beteiligten Kreise 
mit dem Problem der Versorgung der psychopathischen Zöglinge in 
einer besonderen Anstalt, einer sogenannten Zwischenanstalt oder einem 
Heilerziehungsheim zu gehen. Es dürfte daher vielleicht aus praktischen 
und geschichtlichen Gründen bedeutsam sein, einen Lösungsversuch 
aus der Vorkriegszeit zu veröffentlichen, der nahezu zur Ausführung 
gelangte. Die Baupläne waren bereits entworfen. 

Es handelt sich im folgenden um die Veröffentlichung eines, im 
Jahre 1911/12 einem großen Kommunalverband erstatteten Vorschlages 
betr. den Bau je einer Anstalt für männliche und weibliche schul- 
entlassene Fürsorgezöglinge. 


k 

Das Vorkommen geistig nicht vollwertiger Zöglinge unterliegt 
ebensowenig einem Zweifel mehr, wie die große Schwierigkeit, die ihre 
Erziehung mit den bisher üblichen Maßnahmen gewährt. 

Nach den an verschiedenen Orten angestellten Untersuchungen 
mögen ungefähr 50—60°/, der Gesamtzahl der Zöglinge mit psychischen 
Mängeln behaftet sein; doch könnten von diesen ca. 40—50°/, in den 
gewöhnlichen Anstalten belassen werden. Diesem ist beizupflichten, 
umsomehr, als die neuen Erziehungseinrichtungen dahin gehen sollen. 
nieht nur der Individualität des Einzelnen gerecht zu werden, sondern 


Über den Bau von Anstalten für psychopathische Fürsorgezöglinge. 181 


auch seine Charakter- und Gemütsanlagen genauer zu ergründen und 
somit frühzeitig die Kenntnis etwa vorhandener pathologischer Züge 
zu offenbaren. Je früher eine derartige Kenntnis errungen wird, desto 
eher gelingt es unter Umständen einer Verschlimmerung vorzubeugen, 
oder durch geeignete Unterbringung krankhafte Keime zu ersticken. 

Ferner wird es bei den projektierten Anstalten mit verschiedenem 
Erziehungscharakter leichter gelingen, dem Einzelnen eine geeignete 
Erziehung zuteil werden zu lassen und ihn nach seiner Eigenart unter- 
zubringen. Voraussetzung bleibt dabei, daß ein psvchiatrisch geschulter 
Arzt eine gewisse Aufsicht ausübt. 

Wird auf diese Weise der weitaus größere Teil der, wie wir sie 
der Kürze halber immer nennen wollen, psychopathischen Zöglinge 
versorgt werden können, wird auf der anderen Seite immer noch ein 
gewisser ganz geringer Prozentsatz (1-—2°/,) von Zöglingen übrig 
bleiben, die in die Heilanstalt für psychisch Kranke gehören. Es sind 
dies solche, bei denen eine Behandlung mehr als eine erzieherische 
Beeinflussung Platz greifen muß. Es gehören hierher z. B. Zöglinge, 
die mit angeborenen resp. frühzeitig erworbenen schweren Defekt- 
zuständen behaftet sind. Hierbei muß anerkannt werden, daß in 
letzter Zeit die Zahl dieser sich verringert zu haben scheint, nachdem 
bereits im Vorverfahren häufiger als früher psychiatrische Gutachten 
eingeholt werden, auf Grund welcher die Betreffenden als zur Fürsorge- 
erziehung im engeren Sinne ungeeignet erkannt werden. Immerhin 
gibt es Fälle, bei denen zwar schon im Überweisungsbeschluß der 
geistige Defekt vermerkt ist, dessen Schwere sich aber im Laufe der Zeit 
erst herausstellt oder stärker herausbildet. Derartige Zöglinge werden 
dann heilanstaltsbedürftig. Dasselbe gilt von den Zöglingen, bei denen 
sich im Laufe der Fürsorgeerziehung aus einem vorhandenen Keim, 
eine ausgesprochene Psychose entwickelt. Endlich werden nach wie 
vor den Heilanstalten die Zöglinge zu überweisen sein, die im Laufe 
der Fürsorgeerziehung aus äußeren oder inneren Gründen — meist 
vorübergehend — so schwer oder so gefährlich erkranken, daß man 
ihren Leiden nur in einer mit allen Hilfsmitteln ausgerüsteten Kranken- 
anstalt gerecht werden kann (z. B. Zustände auf Grundlage von 
Epilepsie). 

Außer den eben genannten Zöglingen, die in Heilanstalten Auf- 
nahme finden müssen, sind von der (Gruppe der psychopathischen 
Zöglinge, über deren Versorgung hier die Rede sein soll, auch noch 
Zöglinge anderer Art abzugliedern, die wieder in andere Anstalten ge- 
hören. Erstens handelt es sich dabei um schulpflichtige Schwachsinnig«. 
zweitens um solche. die durch Lebensschicksale und verbrecherischt 


182 P. Seelig: 


Laufbahn verdorben, bewußt der Erziehung sich entgegenstemmen. Es 
muß mit aller Schärfe von vornherein präzisiert werden, daß derartige 
Zöglinge, deren schwere Erziehbarkeit und wiederholte Rückfälligkeit 
bekannt ist, nicht allein deshalb. weil die üblichen Erziehungsmethoden 
bei ihnen versagen, für geeignet erklärt werden, in einer Zwischen- 
anstalt für psychopathische Zöglinge untergebracht zu werden. 

Allerdings finden sich gerade unter diesen Zöglingen viele mit 
pathologischen Zügen, und es wird unter ihnen manch einer zu den 
zu versorgenden psychopathischen Zöglingen gehören. Es wird eine 
der schwierigsten Aufgaben des Psychiaters sein. hier die geeignete 
Auslese zu treffen. 

Es mußten diese der Zukunft vorgreifenden Erwägungen (und ähn- 
liche werden noch eingeflochten werden müssen) vorausgeschickt werden, 
um Mißverständnissen vorzubeugen und um den Charakter und die 
Eigenart der später zu erläuternden Einrichtungen allgemein verständ- 
lich zu machen. 

Nach Ausschaltung der erwähnten Gruppen bleibt also ein Prozent- 
satz von 6—10°/, der Fürsorgeerziehungszöglinge, für die bis jetzt in 
geeigneter Weise nicht gesorgt werden konnte. Es ist dies die Gruppe 
der Psychopathen und Degenerierten. Sie charakterisieren sich viel- 
fach durch das Unausgeglichene ihres Wesens und das Sprunghafte in 
ihrem Handeln. Einzelne sind einseitig begabt bei Zurückbleiben und 
Hemmung der allgemeinen Charakterbildung. Bei anderen unterliegt 
das Gemütsleben lebhaften Schwankungen; Impulsivität wechselt mit 
Apathie. Aus derartigen Anlagen resultieren häufig die für den Nicht- 
fachmann erstaunlichen Rückfälle. Die Entwicklungsfortschritte und 
die Leistungen, die zeitweise das Mittelmaß weit überschreiten, schlagen 
— anscheinend unmotiviert oder aus geringfügigen Anlässen — plötz- 
lich in das Gegenteil um. Es hat sich herausgestellt: daß derartige 
Individuen in den üblichen Erziehungsanstalten nicht nur schwer ge- 
fördert werden, sondern daß sie diesen eher zur Last fallen und die 
Erziehung der anderen Zöglinge sowie die Aufrechterhaltung der 
Disziplin gefährden. Aber auch in die Irrenanstalten, wie sie jetzt 
bestehen, gehören derartige Zöglinge nicht. Wenn einzelne von ihnen 
dorthin gelangten, zeigte sich nach dem Abklingen der akuten Symptome 


. ein ähnliches Bild wie in den Erziehungsanstalten. Diese jugendlichen 


Psychopathen konnten in den, für Erwachsene bestimmten Anstalten 
nicht auf die Dauer in geeigneter Weise beeinflußt werden; anderer- 
seits boten sie durch die Besonderheit ihres Wesens und die Aufgaben, 
die sie stellen, eine schwere Belastung der Irrenanstalt. Nicht un- 
erwähnt darf bleiben. daß das Bekanntwerden eines, wenn auch nur 


Über den Bau von Anstalten für psychopathische Fürsorgezöglinge. 183 


vorübergehenden Aufenthaltes in einer Irrenanstalt in vereinzelten 
Fällen, wie die Verhältnisse nun einmal liegen, den Zögling in seinem 
späteren Leben schädigen kann. 

Vergrößert wird die Gruppe der psychopathischen Zöglinge, für 
die es bislang an den geeigneten Einrichtungen gefehlt hat, durch die, 
welche in irrenärztlicher Behandlung bereits einmal waren, und bei 
denen die Rückführung in die Fürsorgeerziehung erforderlich wurde. 
Einerseits, weil man sie einer systematisch erziehlichen Beeinflussung 
nicht entziehen wollte, andererseits, weil sie in den ohne Jugendabteilung 
eingerichteten hiesigen Irrenanstalten zu Störungen führten. Ebenfalls 
fügen sich hier diejenigen älteren Leichtschwachsinnigen an, bei denen 
der Intelligenzdefekt nicht im Vordergrunde steht, bei denen aber die 
zur Imbezillität gehörenden Charaktereigenschaften häufig zu Konflikten 
mit den Mitzöglingen und dem Personal führen. 

Die Frage, ob für die beschriebene Gruppe von psychopathischen 
Zöglingen etwas geschehen muß, kann nur eindrücklich mit „Ja“ be- 
antwortet werden; anders ist es mit der Frage. was geschehen soll! 

Es hat sich durch vielfache Erwägungen herausgestellt, daß das 
Bedürfnis auf die gründlichste Weise durch den Bau von Zwischen- 
anstalten unter ärztlicher Leitung behoben werden kann. Außerdem 
fügt sich der Bau einer solchen Anstalt in die Kette der von be- 
rufener pädagogischer” Seite gemachten Reformvorschläge auf dem Ge- 
biete der hiesigen Fürsorgeerziehung als integrierender Bestandteil ein, 
dessen Fehlen eine Lücke bedeuten würde. Ich muß aber erwähnen, 
daß die Lösung der Frage auch gefördert werden könnte durch die 
Bildung von Jugendabteilungen an bestehenden Irrenanstalten fund 
durch eine an eine Erziehungsanstalt angegliederte psychiatrische Be- 
obachtungsstation.!) In dieser wäre eine mehr vorübergehende Ver- 
sorgung, in jener eine längere. Das Fehlen einer solchen Beobachtungs- 
station wird einen Zuwachs an Aufgaben für die zu errichtende 
Zwischenanstalt bedingen. Die neue Anstalt muß dann auch dazu 
dienen können, gesundheitlich zweifelhaften Individuen eine Stätte der 
Beobachtung auf ihren Geisteszustand zu bieten. Auch muß sie mit 
Einrichtungen versehen sein, um Zöglingen mit vorübergehenden 
schweren psvchischen Krankheitszeichen Behandlungsmöglichkeit zu 
‚gewähren. 

Es erübrigt sich zu bemerken, daß der Name „Zwischenanstalt“. 
nur eine äußerliche Erklärung für ihre Arbeit bedeutet; ihren Sinn 
und Zweck würde wohl am besten der Name „Heilerziehungsanstalt“ 


——— 


1) VgL Seelig, Über Beobachtungsstätionon usw. 1909. 


IN4 P. Seelur: 


treffen. Es soll eine Anstalt sein, die etwa die Mitte hält zwischen 
einer lrrenanstalt und einer Erziehungsanstalt Da es sich aber um 
eine Einrichtung handelt, die denen zugute kommen soll, die wegen 
krankhafter Erscheinungen besonderer Maßnahmen bedürfen, muß die 
Leitung eine ärztliche sein. Auch einige andere Fragen der Organi- 
sation müssen bereits jetzt gestreift werden, um Richtlinien für den 
Bau und die Einrichtung zu liefern. 

Eine ähnliche Anstalt. wie die geplante besteht bereits seit kurzen. 
angegliedert an die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen. 
Eine völlige Übertragung der dortigen Einrichtungen auf die hiesigen 
Verhältnisse ist aus lokalen und Zweckmäßigkeitsgründen kaum an- 
gängig. Was die Zahl der Plätze betrifft, so ergaben die Berechnungen. 
daß es für die in Frage stehenden Verhältnisse nicht ratsam erschien, 
unter die Zahl von fünfzig zu gehen. 

Bestimmt wäre die Anstalt für männliche Zöglinge im Alter von 
I4-—2] Jahren. Für jüngere wären, falls sie zur Aufnahme gelangen 
sollten, besondere Einrichtungen nötig (Schule usw.) Sie würden 
auch den einheitlichen Charakter der Anstalt umändern; außerdem 
kann für diese Gruppe durch die bestehenden und geplanten ander- 
weiten Einrichtungen gesorgt werden. Es wird aber von vornherein 
nicht abzulehnen sein, daß gelegentlich aueh einmal ein Jüngerer zu 
vorübergehendem Aufenthalt Aufnahme findet. 

Die Frage nach einer gleichen Anstalt für weibliche Zöglinge 
wird im zweiten Abschnitt erörtert werden. Für eine lokale Ver- 
einigung beider Anstalten spricht die Erleichterung des Baus und der 
Verwaltung. Gegen Jen Plan, eine Zwischenanstalt für die weib- 
lichen Zöglinge mit der für männliche lokal zu verbinden, sind Be- 
denken anzuführen. Es wird schwer auszuschließen sein, daß eine 
Verbindungsmöglichkeit zwischen den Zöglingen beider Geschlechter 
gefunden wird, die beiden Teilen schädlich sein kann. Vor allem ist 
dabei zu denken an «den beiderseitigen Anhang, der bei Besuchen 
Verabredungen treffen oder durch seine Anwesenheit störend wirken 
könnte. 

Als Platz kommt in erster Linie die Nähe einer anderen größeren 
Anstalt in Betracht. Es ist dies aus Gründen der Ökonomie und 
Verwaltung erforderlich. Erstrebenswert wäre, daß alle technischen 
Betriebe in der neuen Anstalt möglichst gespart werden und von der 
alten Anstalt übernommen werden. Die Nähe einer großen Er- 
ziehungsanstalt hat die Vorteile schneller und bequemer Transport- 
und Verlegungsmöglichkeiten hin und zurück, ferner die Ersparnix 
vieler speziell für ‚Jugendliche bestimmter Gegenstände und Effekten. 


Über den Bau von Anstalten für psychopathische Fürsorgezöglinge. 185 


Die Nähe einer Irrenanstalt hat die Vorteile des Vorhaudenseins eines 
großen Betriebes, der die erforderlich werdende Vermehrung am 
ehesten vertragen kann; ferner könnte sie in Notfällen eine Aushilfe 
durch Personal bieten. Es wäre wünschenswert, wenn sich beides 
vereinigen ließe. In mündlichen Erörterungen war an ein derartiges 
{Gelände gedacht worden. 

Allerdings darf das Gelände nicht zu klein bemessen werden. 
Es muß vor allem Platz für gärtnerische und landwirtschaftliche Be- 
tätigung der Zöglinge vorhanden sein. Auch eine Anlage für Hühner- 
zucht oder Kleinvieh dürfte von vornherein ins Auge zu fassen sein. 
Der heilpädagogische Wert der landwirtschaftlichen Betätigung ist be- 
kannt. Als fernere Beschäftigungszweige kämen einzelne Handwerks- 
betriebe in Betracht. Außerdem dürfte die Instandhaltung der Anstalt 
im Innern reichliche Beschäftigung bieten. In dieser Heilerziehungs- 
anstalt würde der Hauptwert nicht auf eine berufliche Fachausbildung 
zu legen sein. sondern in den meisten Fällen wird es darauf an- 
kommen, daß die dortigen Zöglinge überhaupt erst lernen müssen, 
systematisch Arbeit zu verrichten. Hierzu käme die Schaffung von 
Gelegenheiten zur Beeinflussung des Gemüts und des Geistes durch 
Unterricht und Seelsorge. Auch Platz zum Spielen und zu Gymnastik 
darf nicht fehlen. Körperliche Arbeit kann nicht. eine systematische, 
für diese Zöglinge besonders wichtige körperliche Durchbildung 
ersetzen. 

Über die Personalfrage sei hier besprochen was von vornherein 
bei der Anlage zu berücksichtigen ist. Die ärztliche Oberleitung usw. 
dürfte am besten in der Hand eines Psychiaters liegen, der in dauerndem 
Connex mit den übrigen Zweigen der Fürsorgeerziehung ist. Hier- 
durch kann er von überall her geeignete Fälle der Zwischenanstalt 
zuweisen und wiederum, falls der Aufenthalt Jaselbst nicht mehr 
nötig ist, Vorschläge zu anderweiter Unterbringung resp. Entlassung 
machen. Für den inneren Dienst wäre ein Assistenzarzt anzustellen. 
Ihm läge auch die körperliche Behandlung ob, die bei diesen psycho- 
pathischen Zöglingen mit ihren vielfachen nervösen und anderen Be- 
schwerden durchaus nicht zu vernachlässigen ist. Vielfach bedeutet 
gerade erst die körperliche Heilung das Fundament, auf dem die 
geistige Erziehung sich aufbauen kann. Eine Wohnung für den 
Assistenzarzt auf dem Gelände wäre vorzusehen. Ferner in der Anstalt 
wohnen müßte zweckmäßigerweise ein Lehrer, am besten ein solcher, 
der in Nebenklassen tätig gewesen ist. Nicht. als ob es sich bei 
seiner Tätigkeit um Schwachsinnigenunterricht handeln soll, sondern 
weil er den Verkehr mit geistig nicht völlig Normalen praktisch kennt 


184 2 


treffen. Es soll ` a „„„uenarbeiten eingestellt 
m A der auch die hausväter- 


einer Irrenan 
je! Ba wie die übrigen Pfleger 


eine Einrich "r ee ae 

ne, i a i aja t y Paie sein und nach den 

Leitung ' u ee I „iœ ieh sie seinerzeit als Vorschlag 

en a meta ation unterbreitet habe. Die Zahl 

Bin an i o pes er ‘r Organisation festgelegt werden. Es 
i B re in reh den in den Irrenanstalten gewonnenen 

angi p r j ‚baulichen und mechanischen Einrichtungen 


. 
FL 
a E n er. 


ir meh ‚lüssigkeit des Personals die Sicherheit und 
(d t'l : 


y a di er 7 ewährle istet. Auch für einen größeren Teil von 
wi me ung Ee legenheiten im Innern der Anstalt vor- 
o a ye 
opde Heilerziehung ist, psychopathische Zöglinge heilend 
m y per ‚Zu ad zu beeinflussen; sie sollen sich in der Anstalt mehr oder 
mr „zieht ‚Zeit aufhalten können, beschäftigt und unterrichtet werden. 
nind a sollen aber auch daselbst Einrichtungen für eine Beob- 
peich “jes Geisteszustandes vorübergehend Aufzunehmender sein. Nach 
„ehtuf® ‚gs gegebenen Kennzeichnung der Zöglinge handelte es sich 
der e” cht um eine bestimmte geschlossene Gruppe von Zöglingen. 
aueh ' „m um verschiedene Arten und außerdem um solche, die in ihrem 
Se "halten wechseln. 

“ Endlich müssen gewisse Maßregeln vorhanden sein, um unvorher- 
zusehenden Aufständen und Affektausbrüchen Herr weillen zu können. 
zu diesen verschiedenen Zwecken muß die Separierung einzelner 
zöglinge sowie die Bildung von möglichst vielen Gruppen von mehreren 
Zöglingen möglich sein. lm allgemeinen wird die Unterbringung so 
zu gestalten sein, daß der freiheitliche Charakter stufenweise erweitert 
resp. verringert werden kann. Wenn auch die größtmögliche Ge- 
währung von Freiheiten das Ideal ist, so darf von vornherein nicht 
auf die Möglichkeit, auch die Zügel straffer anziehen zu können — 
bei richtiger Indikation —- verzichtet werden. Erfahrungen in ähn- 
lichen Anstalten haben Vorsicht zum Schutz des Zöglings wie der 
Gesellschaft gelehrt, und es ist meines Erachtens schwerer, nach- 
träglich Sicherungen einzubauen, als vorhandene zu mildern. 

Auf die Herzählung der einzelnen Vorschläge, die sich nunmehr 
für den Bau selbst ergeben, kann an dieser Stelle verzichtet werden. 
Nur kurz zusammengefaßt seien noch einzelne Gesichtspunkte, die 
dabei wesentlich sind. 

Es ergeben sich für die Zwischenanstalt außer den für das Per- 
sonal bestimmten und den gemeinschaftlichen Räumen drei Arten: 


Über den Bau von Anstalten für psychopathische Fürsorgezöglinge. 187 
für die Aufnahme und Beobachtung, für die schwer Lenkbaren und 
für die leichter Lenkbaren. Jede Art muß eine Einheit für sich 
bilden. Am wichtigsten ist die Abtrennung bei der Aufnahmestation. 
In jeder der Abteilungen soll, dem Gedanken mehrfacher Gruppierungs- 
möglichkeit folgend, die Einrichtung bestehen, daß wiederum Unter- 
abteilungen geschaffen werden können. Auch baulich sind für diese 
Unterabteilungen von vornherein getrennte Zugänge vorzusehen. 

In der Aufnahme- bezw. Beobachtungsstation würden die Sicherungs- 
maßregeln den in den Aufnahmeabteilungen einer Irrenanstalt vor: 
handenen entsprechen: Gesicherte Fenster gegen Entweichungen, Ver- 
hütungsmaßregeln gegen Selbstmordversuche. Es würde hier eine 
Gruppierung in unruhige, von vornherein verdächtige, als schwer er- 
ziehbar bezeichnete Zöglinge und in ruhigere, ungeklärte, melancholische 
und jüngere zu bewerkstelligen sein. Als Prinzip würde die Bett- und 
Badebehandlung herrschen, und die eventuelle Beschäftigung haupt- 
sächlich in Hausarbeit bestehen. 

In den Abteilungen für schwer Lenkbare käme als Prinzip zur 
Anwendung: halb geschlossen, keine starken Sicherungen aber ver- 
schlossene Ausgänge; Beschäftigung in landwirtschaftlicher Arbeit oder 
in Werkstätten; dauernde Beaufsichtigung. 

Der Charakter der Abteilungen für leicht Lenkbare wäre möglichst 
wohnlich, kleinfamilienmäßig, wie man sie etwa in Erziehungsanstalten 
mit familiärem Charakter hat. 

Der ganze Komplex wäre mit einem Zaune zu umgeben, nicht 
nur um Entweichungen zu verhindern, sondern auch um ein Ein- 
dringen von außen zu verhüten. 


11. 


Die allgemeinen (Gesichtspunkte für den Bau eines Heilerziehungs- 
heimes für weibliche psychopathische Fürsorgezöglinge sind die gleichen 
wie die vorher ausgeführten. 

Eine Anstalt, die zum Teil ähnlichen Zwecken wie Jen hier in 
Frage stehenden dient, ist Helenenhof, ein an die Epileptikeranstalt in 
Potsdam angegliedertes Haus. Dort gelangen auch Zöglinge unter 
14 Jahren zur Aufnahme. Nach dem Bedürfnis und aus Zweck- 
mäßigkeitsgründen würden hier — wie auch schon bei den männlichen 
Zöglingen ausgeführt — nur die Versorgung von schulentlassenen älteren 
weiblichen psychopathischen Zöglingen in der neuen Zwischenanstalt 
in Frage kommen. Nicht aufzunehmen wären auch hier solche Mädchen, 


188 P. Seeliger: 


die nur wegen ihres Lebenswandels oder ihres unsozialen Wesens in 
keiner der bisher bestehenden Anstalten behandelt werden können. 


Die neue Anstalt soll demnach keine der Bewahranstalten sein, 
wie sie anderweitig bestehen oder geplant werden. Vielmehr muß auch 
bei den weiblichen Zöglingen der medizinische Grund und die Aus- 
sicht, einen Heilungserfolg erzielen zu können, maßgebend für die 
Aufnahme in die geplante Anstalt sein. Bereits von anderer Stelle ist 
die Schwierigkeit der (iruppierung weiblicher Zöglinge hervorgehoben 
worden. Sprechen doch die verschiedensten äußeren Faktoren dabei 
mit: Prostitution, Krankheit, Schwangerschaft usw. Infolgedessen ist 
die Auswahl der für die Zwischenanstalt Geeigneten und die Ermittlung 
der Anzahl der erforderlichen Plätze nicht leicht. Für eine geringere 
Zahl von Plätzen würde sich der Betrieb nicht lohnen und würden 
die erforderlichen Unterabteilungen nicht möglich sein; gegen eine 
größere Zahl spricht das Bedenken, zu viele derartige Flemente auf 
einem Fleck zu vereinen. 


Als Bauplatz ist die lokale Vereinigung mit der Heilerziehungs- 
anstalt für männliche Zöglinge, wie ausgeführt, nicht zu empfehlen. 
Aus ökonomischen Gründen müßte aber die Anstalt für weibliche Zög- 
linge auch ihrerseits in der Nähe einer anderen größeren Anstalt 
liegen. Die Entfernung von dieser müßte aber so reichlich bemessen 
sein, daß bei der Gewährung tunlichster Freiheiten die Madenen nicht 
in Berührung mit den Nachbarn kämen. 


Die ärztliche Versorgung wäre etwa derart zu denken. daß die 
Oberleitung und Auswahl der Zöglinge von dem in der Fürsorge- 
erziehung angestellten Psychiater, die allgemeine ärztliche Versorgung 
von einer Ärztin übernommen wird. 


Gleich bei der Anlage müßte Vorsorge für die Beschäftigungs- 
gelegenheiten getroffen werden. In Frage kommen einerseits gärtnerische 
und andererseits häusliche, wie Schneidern, Waschen, Lehrküche Von 
der Einrichtung eines größeren, etwa geschäftlichen Betriebes, z. B. 
einer Wäschereianstalt würde abzuraten sein. Zwar kann das praktische 
Ergebnis dabei erzieherisch wirken. doch habe ich wiederholt gefunden, 
daß Zöglinge in solchen Betrieben das Gefühl haben, ihre Arbeitskraft 
würde ausgenutzt. Und wenn sie in den dort getriebenen Beschäftigungs- 
zweigen später nicht tätig sein können oder mögen, so haben sie selbst 
leicht den Gedanken der Zwecklosigkeit ihres Aufenthaltes. Vielmehr 
müßten für die verschiedenen häuslichen Beschäftigungszweige Be- 
tätigungsmöglichkeiten vorhanden sein, damit die Zöglinge in ihrer 
Anstalt ihren eigenen Bedarf. soweit es geht, decken. Zur Anleitung 


Über den Bau von Anstalten für psychopathische Fürsorgezöglinge. 189 


wäre je eine im Kochen, Schneidern und in der Landwirtschaft er- 
fahrene Hilfskraft vorzusehen. 

Während die Gruppierung der Zöglinge bei Tage sich aus den 
verschiedenen Beschäftigungszweigen ergibt, zu denen noch die Haus- 
arbeit kommt, verdient die nächtliche Unterbringung ernste Überlegung. 
Von Schlafzimmern mit 2—3 Betten ist abzuraten (moralische Be- 
denken usw.) Am meisten empfiehlt sich das Prinzip, jeder einzelnen 
ein Stübchen zu geben. Die hierdurch möglichen Einwirkungen auf 
das Gefühlsleben (Ausstattung, Gefühl des eigenen Heims), wiegen die 
Schwierigkeiten der Beaufsichtigung auf. Einzelne Zimmerchen wären 
so einzurichten, daß sie im Bedarfsfalle für Infektionskranke dienen 
könnten. Die Fenster der kleinen Zimmer wären als abschließbare, 
halbzuöffnende, durch ein Stabwerk in kleine Scheiben eingeteilte Dreh- 
fenster zu denken. 

Für besondere Fälle (Neuaufnahmen, Beobachtungen, Selbstmord- 
verdächtige) wäre außerdem eine Wachabteilung vorzusehen. Die 
Prinzipien sind oben näher ausgeführt. Die Abteilung mußte zu Be- 
handlungszwecken mehrere Wannen haben. Auf die Anlage von 
mehreren Isolierräumen dürfte bei der voraussichtlich abgelegenen 
Lage der Anstalt nicht zu verzichten sein. 

Das Gelände muß einen umfriedeten Spielplatz enthalten, der 
auch zur Bewegung der Zöglinge im Freien aus dem Wachsaal dienen 
kann. Das ganze Gelände ist durch einen bewachsenen Drahtzaun 
nach außen abzuschließen. 


Die vorangehenden Ausführungen waren bestimmt für einen 
größeren Kreis als den der damals noch wenig zahlreichen Fachleute, 
besonders auch für die Verwaltung. Wie die eingangs erwähnten 
Baupläne beweisen, wurden die Vorschläge beifällig aufgenommen. 
Bemerkenswert erscheint, daß infolge der Nichtausführung das Problem 
noch heute besteht und der praktischen Lösung harrt. Einzelheiten 
würden möglicherweise dabei den etwa veränderten örtlichen Ver- 
hältnissen und den inzwischen gewonnenen Erfahrungen angepaßt 
werden müssen. In den Grundzügen aber bestehen auch jetzt die 
gleichen Wünsche fort für die Anstaltsversorgung der psychopathischen 
Fürsorgezöglinge. 





Zeitschrift für Kinderforschung. 3%. Bd. 13 


Soziale 
und politische Einstellung in der Jugendwohlfahrt. 


Von 
Amtsgerichtsrat Herbert Francke, Berlin. 


l. 


Spranger hatin seinem Werke über die Lebensformen den Ver- 
such gemacht, die Arten der sinnvollen Gestaltung des menschlichen 
Lebens zu ordnen, auf wenige große Typen zurückzuführen und die 
geistige Haltung eines jeden Typus aus dem zugrundeliegenden be- 
herrschenden Lebensdrange zu entfalten. Einer dieser großen Typen 
ist der „soziale Mensch“. Spranger charakterisiert das soziale Ver- 
halten als die „Hinwendung zu fremdem Leben“, als das „Sich-im- 
anderen-Fühlen“. In der Förderung des anderen findet der soziale 
Mensch den letzten Wert des eignen Lebens. Insofern sich die eigene 
Lebensbewegung dem fremden Leben um seiner Wertmöglichkeiten 
willen zuwendet, mag in dem sozialen Verhalten eine Sehnsucht nach 
dem letzten Wertgehalt des Lebens eingehüllt sein, die wir mit 
Spranger als religiös zu deuten haben. 

Dieser Art der Einstellung zur Arbeit stellt sich nun aber 
auf Schritt und Tritt eine andere Einstellung entgegen, die ich die 
politische nennen möchte. Auch ihr Wesen ist Hingabe, aber nicht 
die Hingabe an den einzelnen hilfsbedürftigen Mitmenschen, sondern 
Dienst am Gemeinwesen, Hingabe an das übergreifende Ganze, dem 
die einzelnen eingegliedert sind. Hier wird das Gemeinwohl als der 
höchste Wert und das höchste Gesetz empfunden, und Volksgemein- 
schaft, Politeia ist der erhabene, große Name, der die Seelen beherrscht 
und bindet. Auch diese Gesinnung kann im Religiösen verankert 
sein. Die hier gezeichnete Einstellung wird von Spranger ge- 
legentlich erwähnt: sie deckt sich aber nicht vollkommen mit dem 
Typus, den er den „politischen Menschen“ oder den „Machtmenschen® 
nennt, da bei diesem der Wille zur Macht im Vordergrunde steht. 


Soziale und politische Einstellung in der Jugendwohlfahrt. 191 


im einzelnen Menschen können beide Gesinnungen nebeneinander 
vorhanden sein und Verbindungen eingehen. Doch gibt es gewisse 
Erscheinungen des geschichtlichen Lebens, in denen das eine oder 
das andere Prinzip eine deutliche und einseitige Ausprägung erfahren 
hat. Allen staatlichen Einrichtungen liegt die auf das Wohl des 
Ganzen gerichtete Einstellung zugrunde, und der Staatsbeamte ist 
kraft seines Berufes Träger dieser Gesinnung. Der Gedanke des Dienstes 
am Staate ist die Grundlage jener ausgeprägten Pflichtauffassung, die 
‚dem Berufsbeamtentum eigentümlich ist. Auch die öffentliche Wohl- 
fahrtsverwaltung bleibt im Banne dieses Gedankenkreises: auch dann, 
wenn der Beamte Wohlfahrtspflege ausübt, bleibt sein Wahlspruch: 
Salus reipublicae suprema lex. Dies wird deutlich am Beispiel des 
alten Polizei- und Wohlfahrtsstaates, der es sich zur Aufgabe machte, 
wie ein Vater oder Vormund für das wirtschaftliche und sittliche 
Wohl seiner Untertanen zu sorgen; Wolzendorff hat in seinem 
Werke über den Polizeigedanken des modernen Staates (Breslau 1918) 
anschaulich dargelegt, wie hinter allen diesen scheinbar philanthropischen 
Bestrebungen des Staates als treibende Kraft der Gedanke der salus 
publica, der staatlichen Selbstbehauptung stand. Neben den Ver- 
waltungshistoriker tritt der Sozialpsychologe: Georg Simmel hat in 
seiner Soziologie am Beispiel der öffentlichen Armenpflege eindringlich 
geschildert, wie die öffentliche Fürsorge, obwohl sie in ihrem Wirken 
durchaus auf den Einzelnen und seinen Zustand geht, letzten Endes 
nicht diesen Einzelnen, sondern den Schutz des Gemeinwesens im 
Auge hat. Selbst die öffentliche Jugendwohlfahrtspflege macht keine 
Ausnahme. Die bekannte Entstehungsgeschichte des preußischen Jugend- 
pflegeerlasses vom 18. 1. 1911 kann dies verdeutlichen: Der Staat 
organisierte und finanzierte die Jugendpflege, um ein Gegengewicht 
gegen gewisse ihm nicht genehme Beeinflussungen zu schaffen. Un- 
verhüllt trat der politische Gesichtspunkt zutage in der vom Staate 
geförderten militärischen Jugendvorbereitung: nicht um der Jugend, 
sondern um des Staates willen wurde sie ins Leben gerufen. Eine 
reine Ausprägung des sozialen Typus bietet die christliche Liebes- 
tätigkeit vom Urchristentum bis zu Caritas und Innerer Mission, 
Quäkern und Heilsarmee. Aber auch der Erzieher gehört dem sozialen 
Typus an. Erziehung ist nach Sprangers schöner Formulierung 
(Lebensformen 1921, 2. S. 338) „der von einer gebenden Liebe zu 
der Seele des anderen getragene Wille, ihre totale Wertempfänglichkeit 
und Wertgestaltungsfähigkeit von innen heraus zu entfalten“. Dem 
Erzieher, der von dieser doppelten Liebe zur Jugend und zu den 
Werten getragen wird, ist seine Aufgabe letzten Endes doch etwas 

13° 


192 H. Francke: 


anderes, als die Vorbereitung des Zöglings für das Gesamtleben, seine 
Ertüchtigung zu einem nützlichen Mitgliede der menschlichen Ge 
sellschaft. 

Die beiden Grundeinstellungen können Verbindungen eingehen, 
aber eine volle harmonische Verschmelzung ist nicht möglich. Ihre 
Gegensätzlichkeit ist so groß, daß sie überall im praktischen Leben 
sich auswirken muß. Der soziale Mensch kennt nur eine Willens- 
einstellung gegenüber dem Mitmenschen, dem er sich zuwendet: helfen 
und fördern. Die Einstellung des politischen Menschen ist nicht so 
eindeutig. In seinem Denken wird der Einzelne durchaus dem Ganzen 
untergeordnet. Er empfängt Förderung, wenn und soweit dies dem 
Gemeinwohl dienlich ist; er wird aber auch rücksichtslos aufgeopfert, 
wenn das Gemeinwohl es erfordert. „Es ist uns besser, ein Mensch 
sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe“ (Joh. 11, 50). 
Dieser Satz — dem sozialen Menschen ein Ärgernis — ist zu allen 
Zeiten das Glaubensbekenntnis des politischen Menschen gewesen. 
Er liegt auch heute noch der Strafrechtspflege gegenüber den Schwer- 
verbrechern zugrunde. Die langzeitige oder gar lebenslängliche Bin- 
sperrung des Rechtsbrechers dient dem Schutz der Gesellschaft; eine 
Förderung des Gefangenen ist nur in engen Grenzen damit vereinbar. 
Die Ausgestaltung des Gefängniswesens hat schon viel erreicht, wenn 
sie Schädigungen von den Gefangenen fernhält. 

Aus dieser inneren, letzthin unaufhebbaren Gegensätzlichkeit folgt 
oftmals Ablehnung und Feindschaft. Je schärfer die Grundeinstellung 
ausgeprägt ist, um so größer ist die Gefahr, daß die Fähigkeit, auch 
die andere Einstellung in sich hervorzubringen, verkümmert. Zahl- 
reich sind die Fälle, in denen Vertreter der reinen Liebesethik die im 
Dienste des Gemeinwohles erfolgenden Maßnahmen staatlicher Macht- 
auswirkung, wie etwa die Strafrechtspflege, mit Entrüstung abgelehnt 
haben. Auf der anderen Seite kann die Richtung des Blickes auf 
das große Ganze die Teilnahme am Einzelschicksal ertöten. Der Schul- 
mann Ludwig Wiese hält es in seinen Lebenserinnerungen und 
Amtserfahrungen (Il. 1886, S. 102) bei der Rückschau auf seine lang- 
jährige Tätigkeit als Leiter des höheren Schulwesens in Preußen für 
der Mühe wert, hervorzuheben, er sei stets frei geblieben von jener 
„vornehmen Beamtengleichgültigkeit, die für das Persönliche sich nicht 
erwärmen kann“. 

Aber nicht immer fallen politische und soziale Willensrichtung 
vollständig auseinander. In der Sorge für den Einzelnen können sie 
weithin zusammen gehen. Da das Gedeihen des Gliedes das Wohl des 
Ganzen fördert. wird das Gemeinwesen vielfach zugunsten einzelner 


Soziale und politische Einstellung in der JJugendwohlfahit. 193 


Personen tätig. Die ursprünglichste und unveräußerliche.. Aufgabe 
des Staates ist die Wahrung des inneren und äußeren Friedens. Den 
äußeren Frieden wahrt das Heer, den inneren die Polizei und die 
Justiz. Die Polizei hat nach der berühmten Definition des Allgemeinen 
Landrechts II 17 $. 10 nicht nur die „dem Publiko“, sondern auch 
die „einzelnen Mitgliedern desselben“ bevorstehenden Gefahren ab- 
zuwehren. Die Justiz wird in der Zivilrechtspflege und in der frei- 
willigen Gerichtsbarkeit ebenfalls im Interesse einzelner Personen tätig. 
Der moderne Staat sucht nun aber über die Aufgaben der Friedens- 
bewahrung hinaus alle Zweige der menschlichen Kultur zn fördern. 
wobei er freilich als Rechtsstaat grundsätzlich den obrigkeitlichen 
Zwang hinter der fürsorgerischen, pflegenden Tätigkeit zurücktreten 
läßt. Er sieht es als seine Aufgabe an, gesundheitliche, wirtschaft- 
liche und sittliche Mißstände zu beseitigen, und trifft in Erfüllung 
dieser Aufgabe nicht nur allgemeine Maßnahmen, sondern wendet 
auch den in die Not verstrickten Einzelmenschen seine Hilfe zu. Seine 
Tätigkeit deckt sich hier äußerlich durchaus mit der Arbeit des 
sozialen Menschen. Aber durch die Gleichheit des äußeren Verhaltens 
wirkt die Verschiedenheit der Grundgesinnung hindurch, in die es 
eingebettet ist. Dem sozialen Menschen ist es inneres Bedürfnis, die 
Hungrigen zu speisen, die Nackenden zu kleiden und die Kranken und 
Gefangenen zu besuchen. Das Bild ringenden Lebens, verküimmernden 
Menschentums läßt ihn nicht ruhen. Der politische Mensch sieht 
hinter der Not des Einzelnen am geistigen Horizonte die drohende Not 
des Volksganzen: Geburtenrückgang, Herabsetzung der Wehrfähigkeit, 
Zunahme des Verbrechertums, Auflösung der öffentlichen Ordnung. No 
wird für ihn die Fürsorge für den Hilfsbedürftigen zum Mittel des Dienstes 
an der Gesamtheit. Während die soziale Gesinnung ihrer Idee nach 
unerschöpflich ist im Geben und im Helfen, ist bei der staatlichen 
Wohlfahrtspflege das Maß des Interesses am Einzelnen von vornherein 
beschränkt. Hier sind die großen Gesichtspunkte politischer Massen- 
behandlung maßgebend. Vor dem Blick des politischen Menschen 
schrumpft das Wohl und Wehe des Einzelnen zusammen, er versinkt 
in der Masse. Wenn die Hilfsmaßnahmen ihn nieht erreichen, so 
stirbt der Volkskörper nicht daran. Das Gesamtinteresse ist gewahrt, 
wenn der großen Masse geholfen ist. So bekommt die Beziehung 
des politischen Menschen zu dem Einzelnen, auf den sein Wirken 
sich richtet, etwas Kaltes, Flüchtiges, Unpersönliches. Der soziale 
Mensch dagegen sucht überall und jederzeit im Hilfsbedürftigen den 
lebendigen Menschen, er ist erfüllt von einem leidenschaftlichen Ver- 
langen, den Abgrund von Mensch zu Mensch zu überbrücken. Es 


194 H. Francke: 


ist in ihm ein Stück jener allmenschlichen und allvereinenden Seele 
der Helden Dostojewskis, ‚die „die große Menschenvereinigung“ er- 
leben. Diese verschiedene innere Einstellung ist für den Erfolg der 
Arbeit von höchster Bedeutung. Der Hilfsbedürftige, der sich einem 
sozialen Menschen gegenüber sieht, fühlt sich als Mensch beachtet 
und dadurch in seinem Selbstbewußtsein gehoben und gestärkt, während 
die unpersönliche Kühle des politischen Menschen kalt läßt, wenn 
nicht gar verletzt. Es ist klar, daß jene persönliche Note in der Arbeit 
des sozialen Menschen seine Wirkungsmöglichkeit ungemein steigert. 
Dies gilt besonders für das Gebiet der Erziehungsfürsorge. Es hat 
daher einen tiefen Sinn, wenn man versucht hat, das Wirkungsgebiet 
der öffentlichen Erziehungsfürsorge grundsätzlich auf Erziehungsauswahl 
und Erziehungsaufsicht zu beschränken. Der Staat kann nach einem 
Wort von Georg Jellinek (Recht des modernen Staates 1905 2 
S. 253) Briefe befördern, Bahnzüge verkehren lassen, Versicherungs- 
anstalten errichten, aber wissenschaftliche Entdeckungen machen und 
Kunstwerke schaffen, liegt außerhalb des staatlichen Machtbereiches; 
ebensowenig kann der Staat das persönliche Verhältnis schaffen, das 
die persönliche Einwirkung von Mensch zu Mensch ermöglicht. Der 
Staat wird daher versuchen müssen, wenn er Erziehungsfürsorge treibt, 
Menschen zu seinen Mitarbeitern zu gewinnen, in denen das soziale 
Ethos lebendig ist. Es ist charakteristisch, daß die Jugendfürsorge 
— etwa die Fürsorgeerziehung oder die Jugendgerichtshilfe — zu 
einem großen Teil im staatlichen Auftrage von freien Vereinigungen 
betrieben wird. Aber auch dort, wo der Staat Aufgaben der Erziehung 
durch seine eigenen Beamten erfüllen läßt, wie etwa im Schulwesen, 
aber auch im Jugendgericht, kann er keine reinen Beamten im Sinne 
einseitiger Ausprägung des politischen Willenstypus gebrauchen, sondern 
muß Menschen suchen. in denen der soziale Wille stärker ist als der 
politische. Gelingt dem Staate dies, so werden die Wirkungsmöglich- 
keiten des sozialen Menschen der staatlichen Tätigkeit zuwachsen. 
Für den sozialen Menschen aber wird die Einordnung in die seinem 
Lebensgesetz nicht gemäße Staatsverwaltung ein Stück Berufstragik 
bedeuten. Überall setzt die Beschränkung der staatlichen Aufgaben 
dem freien Wirken von Mensch zu Mensch eine Grenze, und mehr 
als einmal haben wir erfolgreiche Erzieher ihre amtliche Tätigkeit 
wieder verlassen sehen, weil sie nicht imstande waren, sich in den 
Rahmen des Behördenwesens einzuordnen. „Lehrer und Beamter, Er- 
zieher und Beamter sind Gegensätze“ : so lautet die scharfe Formulierung 
des Schulmannes Karl Reinhardt (in dem Sammelwerk Strafanstalt 
oder Lebensschule, herausgegeben von Oestreich. 1922, S. 18). Gesell- 





Soziale und politische Einstellung in der Jugendwohlfahrt. 195 


schaftsschutz und Lebenshilfe, das sind die Wahrzeichen. an denen 
politisches und soziales Wirken sich ewig scheiden. 


lI. 


Die vorstehenden, zum Teil über den Problemkreis der Jugend- 
wohlfahrt hinausgreifenden Ausführungen sollen nun, um sich als 
fruchtbar zu bewähren, dazu dienen, eine praktische Einzelfrage der 
Jugendfürsorgearbeit zu beleuchten. 

In der Arbeit an der gefährdeten und verwahrlosten Jugend taucht 
die Frage nach dem Erziehungsziele auf. Bei der Fürsorgeerziehung 
ist die Frage zu entscheiden, ob sie Aussicht auf Erfolg hat (RJWG. 
§ 63 Abs. 2) und ob der Erziehungszweck erreicht oder anderweitig 
sichergestellt ist (RJWG. $ 72). Im Jugendstrafrecht kann dem Ver- 
urteilten Gelegenheit gegeben werden, sich durch gute Führung während 
einer Probezeit Straferlaß zu verdienen (JGG. $ 10), und es wird dann 
geprüft, ob er sich schlecht geführt ($ 12 Abs. 1) oder sich bewährt 
($ 15) hat; im Jugendstrafvollzug ist die Erziehung des Jugendlichen 
zu fördern ($ 16 Abs. 1). In allen diesen Fällen entsteht die Frage, 
welcher Maßstab anzulegen ist. 

Die Pädagogik sieht als das Ziel der Erziehung die Hervorbringung 
der geschlossenen Persönlichkeit an, die in der Hingabe an ;objektive 
Werte ihren Kristallisationspunkt findet. Dabei macht es keinen Unter- 
schied, ob der Erziehungsvorgang mehr als ein Aufprägen und Formen 
von außen her oder mehr als ein Wachsenlassen und Befreien der in 
der Natur angelegten Bildekraft angesehen wird. Auch wird das Er- 
ziehungsideal je nach der Weltanschauung des Erziehers seine besondere 
Färbung erhalten. Die konfessionelle Pädagogik wird die Hervor- 
bringung der christlichen Persönlichkeit als Erziehungsziel aufstellen. 
Als !Beispiel {einer Zielsetzung auf philosophischer Grundlage sei die 
Sprangersche Definition der Bildung angeführt: „Bildung ist.die lebendig 
wachsende Aufnahme aller objektiven Werte, die zu der Anlage und 
dem Lebenskreise eines sich entwickelnden Geistes in Verbindung ge- 
setzt werden können, in das Erleben, die Gesinnung und die Schaffens- 
kräfte dieses Menschen mit dem Ziel einer geschlossenen, objektiv leistungs- 
fähigen und in sich selbst befriedigten Persönlichkeit* (Spranger. 
Bildungswert der Heimatkunde. Berlin 1923, S. 18). 

Die Pädagogik der Fürsorgeerziehung hat in der Regel das Erziehungs- 
ziel aus der allgemeinen Pädagogik einfach übernommen. Die auf 
Krohne zurückgehenden Ausführungsbestimmungen vom 18. 12. 1900 
zum preußischen Fürsorgeerziehungsgesetz vom 2. 7. 1900 forderten unter 
V die Ausbildung der Fürsorgezöglinge zu religiös-sittlichen Menschen. 


196 H. Francke: 


In dem Leitfaden der evangelischen Anstaltserziehung von Stein- 
wachs-Backhausen-Voigt (Hannover 1922) stellte Backhausen 
als Ziel der Fürsorgeerziehung auf: die Erziehung zur christlichen 
Persönlichkeit, d. h. zur Gemeinschaft mit Gott durch den Glauben an 
Christus. Eine interessante Wandlung gegenüber den Bestimmungen 
von 1900 zeigt die preußische Ausführungsanweisung vom 29. 3. 1924 
zum RJWG. Hier (VI. 16) erscheint als Ziel der Fürsorgeerziehung 
nicht mehr der religiös-sittliche Mensch, sondern der an Leib und Seele 
gesunde, von (remeinsinn erfüllte, tüchtige Mensch, eine Definition, 
deren Herkunft aus den Grundsätzen und Ratschlägen zum Jugend- 
pflegeerlaß, vom 18. 1. 1911 (Friedeberg-Polligkeit, RJWG. S. 378) 
unverkennbar ist. Die Ausführungsbestimmungen vom 29. 3. 1924 
heben hervor, daß dies Erziehungsziel mehr verlangt, als Betätigung 
von Fleiß und Wohlverhalten unter äußeren Zwange, nämlich innere 
Festigung und Selbsterziehung. 

Was ist nun der Sinn dieser Zielsetzungen, und wie verhalten 
sie sich zu den Vorschriften der Fürsorgeerziehungsgesetze (jetzt RJ WG. 
$ 63), daß die Fürsorgeerziehung zur Verhütung oder zur Beseitigung 
der Verwahrlosung angeordnet wird? Ist für die Frage, ob die Fürsorge- 
erziehung wegen Erreichung ihres Zweckes aufgehoben werden kann, 
zu prüfen, ob der Zögling sich zu einer wertvollen, von Gemeinsinn 
erfüllten, sittlich gefestigten Persönlichkeit entwickelt hat, oder genügt 
es, daß die Verwahrlosung beseitigt ist? Der höchste preußische Ge- 
richtshof, das Oberverwaltungsgericht, hat in einer grundlegenden 
Entscheidung vom 9. 11. 1909 (OVG. 55. 9) folgenden Grundsatz auf- 
gestellt: „Der besondere Zweck der Fürsorgeerziehung ist lediglich die 
Beseitigung oder Verhütung der Verwahrlosung. Die sonstige Erziehung 
und Ausbildung hat wohl neben jenen besonderen Zwecken herzugehen, 


kann aber allein —- ohne jenen besonderen Zweck, insbesondere nach 
dessen Erreichung — niemals die Aufgabe der Fürsorgeerziehung 


bilden, folglich auch nicht allein den Grund für ihre Einleitung oder 
Aufrechterhaltung abgeben.“ Die tiefere Begründung dieses Grund- 
satzes, der von den Trägern der Fürsorgeerziehung gelegentlich außer 
acht gelassen wird, wird uns noch beschäftigen. Hier sei zunächst 
darauf hingewiesen, daß dieselben Gesichtspunkte auch für die An- 
wendung des 8 63 Abs. 2 RJWG. gelten müssen. Die Fürsorgeerziehung 
bietet danach bei einem Achtzehnjährigen noch Aussicht auf Erfolg. 
wenn Hoffnung besteht, daß es gelingt, seine Verwahrlosung zu be- 
seitigen, wenn auch die Erreichung des in VI 16 der preußischen 
Ausführungsanweisung aufgestellten Erziehungszieles unwahrschein- 
lieh] ist. 


Soziale und politische Einstellung in der Jugendwohlfahnt. 197 


Dieselben Probleme kehren nun auch im Strafrecht wieder, soweit 
es sich Erziehungsziele setzt. In welchem Sinne treibt der Staat er- 
ziehenden Strafvollzug?” Die von den Ländern vereinbarten Grund- 
sätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. 6 .1923 RGBl. TI 
S. 263 sprechen es in § 48 aus: „Durch den Vollzug der Freiheits- 
strafe sollen die Gefangenen, soweit es erforderlich ist, an Ordnung 
und Arbeit gewöhnt und sittlich so! gefestigt werden. daß sie nicht 
wieder rückfällig werden.“ In demselben Sinne spricht $ 106 
von dem „Willen zu geordneter Lebensführung“. der durch den Ge- 
fängnisunterricht geweckt und gestärkt werden soll. Der Wachhaltung 
dieses Willens dient auch der abgestufte Strafvollzug, der nach $ 130 
dem Gefangenen Ziele setzen soll, „die es ihm lohnend erscheinen 
lassen, seinen Willen anzuspannen oder zu beherrschen. Das Ziel, 
das allen diesen Vorschriften zugrunde liegt, ist, wie die preußische 
Dienst- und Vollzugsordnung (DVO.) vom 1.8. 1923 in $52 es aus- 
drückt, die „Erziehung zu einem geordneten, gesetzmäßigen Leben 
nach der Entlassung“. Wenn der Rechtsbrecher nicht rückfällig wird, 
weil er „die Nase voll“ hat und einsieht, „daß Stehlen nichts ein- 
bringt“, dann ist der Erziehungszweck des Strafvollzuges im Sinne 
der Grundsätze vom 7. 6. 1923 erreicht. Trotzdem taucht nun aber 
auch im Strafvollzug jener weitergehende Erziehungswille auf, dem die 
Bildung zu einer sittlich gefestigten, wertvollen Persönlichkeit als Ziel 
vorschwebt. Schon in den Grundsätzen vom 7. 6. 1923 finden sich 
Spuren davon. Da ist in $ 54 von der Gewinnung des Vertrauens 
der Gefangenen durch offene Aussprache, in $ 89 von Schonung und 
Stärkung des Ehrgefühls, in $ 69 von der Gewöhnung an Selbständig- 
keit und Verantwortung die Rede. und $ 130 spricht sogar von dem 
Fortschreiten der inneren Wandlung des Gefangenen, dem der abgestufte 
Strafvollzug sich anpassen soll. Schärfer ausgeprägt ist dieser Erziehungs- 
wille in den Dienst- und Vollzugsordnungen einzelner Länder. Nach 
$ 1 der hamburgischen DVO. vom 24. 10. 1924 ist es das besondere 
Ziel des Strafvollzuges, „den Gefangenen während seiner Strafzeit für 
den Wiedereintritt in die Volksgemeinschaft so vorzubereiten, daß er 
sich seiner Verantwortung der Allgemeinheit gegenüber bewußt wird 
und willens und imstande ist, nach seiner Entlassung ein besserer 
Mensch zu sein, als er vor seiner Haft war“. Als Mittel zur Erreichung 
dieses Zieles werden in $ 2 u. a. genannt: „geistige Anregung, die 
den Gefangenen auch sittlich hebt, Stärkung der Wahrheitsliebe und 
der Selbstachtung des Gefangenen, Ansporn des Ehrgeizes und Stärkung 
des Willens, Weckung und Stärkung des Verantwortungsgefühls“. 
Denselben CGieist atmet die thüringische DVO. vom 24. 5. 1924. Die 


198 H. Francke: 


Fürsorger (Sozialpädagogen). denen in den thüringischen Strafanstalten 
nach $ 14 der DVO. außer dem Unterricht auch die „weltliche Seel- 
sorge“ obliegt, haben nach $ 98 „durch fortgesetzte verständnisvolle 
Einwirkung beim Zellenbesuch und im Einzelgespräch auf Bildung des 
‚Charakters. insbesondere auf Stärkung des Willens des Gefangenen 
zum Guten, und auf sittliche Festigung hinzuarbeiten“, beim Unterricht 
sind „der Sinn:für Einordnung des einzelnen in die Volksgemeinschaft 
und der Staatsgedanke“ zu fördern ($ 100). 

Wir finden also im Strafvollzug dasselbe Spannungsverhältnis 
zwischen einem begrenzten und einem umfassenden Erziehungsziel wie in 
‚der Fürsorgeerziehung. Die Theoretiker des Strafvollzuges sind auf 
dieses Verhältnis längst aufmerksam geworden und haben darüber inter- 
essante Ausführungen gemacht. In seiner grundlegenden Abhandlung 
„Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung“ in Holtzendorff- 
Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (V. 1914, S. 106) führt 
Freudenthal aus: „Die Gesinnung des Gefangenen zu ändern ist 
nicht unmittelbare Sache des Rechts. Das Recht beeinflußt äußeres 
Verhalten. Darum ist Besserung im Gefängnisrecht als ;bürgerliche 
und staatliche zu verstehen und als identisch mit Erziehung zu einem den 
(tesetzen entsprechenden Leben anzusehen ; moralische Besserung dagegen 
kann das unmittelbare Ziel des Strafvollzuges nicht sein. Jenem Zwecke 
der Erziehung des jugendlichen Rechtsbrechers zum Staatsbürger ist 
der Strafvollzug in seinen Einzelheiten anzupassen.“ Ebenso scharfe 
Formulierungen des Gedankens finden sich bei Ellg’er, Der Erziehungs- 
zweck im Strafvollzug, 1922, S. 39:, Nicht so sehr um die Moralität, 
als vielmehr um die Legalität handelt es sich im Strafvollzug... Für 
den Strafvollzug wird...die Einwirkung auf !den Charakter nicht als 
Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck der Resozialisierung in 
Betracht kommen.“ 

Diese Gedanken führen uns nun in den Kern des Problems. 
Wir erkennen in dem Gegensatz der beiden Erziehungsziele den Gegen- 
satz der politischen und der sozialen Einstellung wieder, der uns in 
dem ersten Abschnitt dieser Abhandlung beschäftigt hat. Der ınoderne 
Staat sucht als Kultur- und Wohlfahrtsstaat alle Zweige der mensch- 
lichen Kultur zu fördern. er unterhält Kunsthallen und Schaubühnen, 
Schulen und Universitäten und läßt den Kirchen seine Unterstützung 
angedeihen. Er wird aber als Rechtsstaat in der Anwendung des 
obrigkeitlichen Zwanges im Dienste der Kulturinteressen sich. die 
äußerste Beschränkung auferlegen. Der obrigkeitliche Zwang dient 
im Rechtsstaate im wesentlichen der Aufrechterhaltung von Sicherheit 
und Ordnung. also der Verfolgung derjenigen Ziele, die nach der strengen 


Soziale und politische Einstellung in der ‚Jugendwohlfahit. 199 


Rechtsstaatstheorie eines Wilhelm v. Humboldt die alleinigen Staats- 
zwecke bilden sollen!); die Förderung ‘der höheren Kulturinteressen 
dagegen muß grundsätzlich der pflegenden Tätigkeit des Staates über- 
lassen bleiben. Der Staat erzwingt den Besuch der Gemeindeschule 
und der Fortbildungsschule mit den Mitteln des Schulzwanges, weil 
der Erwerb eines gewissen Mindestmaßes an Bildung und Erziehung 
für die Einordnung des Nachwuchses in das Gesamtleben unerläßlich 
ist. Der Erwerb einer höheren Bildung aber bleibt dem freien Willen 
des Einzelnen überlassen. Der Staat ;schreitet gegen gewisse Rechts- 
verletzungen, welche mit einem geordneten Zusammenleben nicht ver- 
einbar sind, mit den Mitteln des Strafrechtes ein, im übrigen aber 
mischt er sich nicht in die private Lebensführung. Der Staat über- 
nimmt verwahrloste Minderjährige in Fürsorgeerziehung, aber er dehnt 
diesen Eingriff nicht weiter aus wenn die Verwahrlosung beseitigt 
ist; die weitere Erziehung überläßt er den privaten Erziehungsberechtigten. 
Der Staat benutzt die Strafvollstreckung, um auf die Strafgefangenen 
erzieherisch einzuwirken, er ist aber zufrieden, wenn er den Willen 
zu geordneter Lebensführung in ihnen erweckt. Der Staat gibt dem 
Verurteilten Gelegenheit, durch gute Führung während einer Probezeit 
sich Straferlaß zu verdienen; der Verurteilte hat sich bewährt, wenn 
er ein geordnetes und gesetzmäßiges Leben geführt hat. Der Erzieher 
dagegen, dem die Einwirkung auf den Verwahrlosten oder Straffälligen 
obliegt, wird sich nie mit der Erstrebung des staatlichen Erziehungs- 
zieles der Resozialisierung zufrieden geben; er kann kraft des er- 
zieherischen Ethos, das in ihm lebendig ist, gar nicht anders, als die 
gesamten Wertmöglichkeiten, die in dem Zögling angelegt sind, zu 
erwecken suchen. Die Schilderung von Walter Herrmann über 
den Beginn seiner Arbeit im Jugendgefängnis Hahnöfersand (S. 34 
seines Buches) zeigt besonders schön diese Einstellung. Der Staat 
läßt diese Arbeit gewähren, ja er fördert sie, aber die Ausübung des 
staatlichen Zwanges folgt ihren eigenen Gesetzen. 


1) Wolzendorff. Polizei und Prostitution. 1911, N. 49. 


Tagungen. 





Die Deutsche Vereinigung für Säuglings- und Kleinkindersehutz ver- 
anstaltet den 21. März 1925 in München (Universität) ihre VII. Deutsche Tagung für 
Säuglings- und Kleinkinderschutz. Mit dieser Tagung ist u. a. die V. Krippenkonferenz 
des Deutschen Krippenverbandes verbunden. Außer den allgemeinen Verhandlungen 
im großen Kreise wird diesmal den Ärzten, hesonders den Fürsorgeärzten, Gelegenheit 
gegeben, in einer sich am 22. März anschließenden Sonderkonferenz ärztlich- fürsorgerische 
Fragen zu erörtern. Tagesordnung: Allgemeine Tagung: Sonnabend, den 21. März 1925. 
Begrüßung, Präsident Bumm, Berlin. 1. Klinik und Fürsorge, Prof. Dr. v. Pfaundler. 
München. 2. Die Unehelichensterblichkeit in den letzten Jahren. Prof. Dr. Klotz. 
Lübeck. 3. Planwirtschaft in der Säuglingsfürsorge, Prof. Dr. Rott, Berlin. 4. Arbeits- 
gemeinschaft mit anderen Zweigen der (iesundheitsfürsorge und allgemeinen Volks- 
wohlfahrtspflege, Stadtmedizinalrat Dr. Wendenburg. Gelsenkirchen. 5. Organisation 
einer Landeszentrale und ihre Stellung zur Landesregierung, zur Öffentlichen und freien 
Fürsorgearbeit, Geh. Obermedizinalrat Dr. Seitz, München. V. Krippenkonferenz. 
veranstaltet vom Deutschen Krippenverband. Die Arbeit außerhäuslich erwerbstätiger 
Mütter, ıhrer und ihrer Kinder Schutz durch Gesetz und Fürsorge. Landesgewerbearzt 
Dr. Teleky, Düsseldorf. Mitgliederversammlung der Deutschen Vereinigung 
für Säuglings- und Kleinkinderschutz. Ärztetagung Sonntag, den 22. März 1925. 
I. Grundsätzliche Fragen. 1. Stellung und Aufgaben des Arztes in der sozialärztlichen 
Arbeit a) Prof. Dr. Engel, Dortmund: b) Beigeordneter Prof. Dr. Krautwig, Köln a. Rh. 
2. Sozialarzt und Fürsorgerin, Kreismedizinalrat Dr. Dohrn, Hannover. 3. Spezial- 
fürsorge und Familienfürsorge, Stadtarzt Grube, Dresden-Freital. O. Einstellung der 
praktischen Fürsorgearbeit auf neuere statistische und klinische Forschungsergebnisse. 
1. Die Ursachen der Säuglingssterblichkeit in den ersten zwei Lebenswochen, Prof. 
Dr. Rott. Berlin. 2. Zur Erfassungs- und Erfolgsstatistik in der offenen Fürsorge, 
Kreismedizinalrat Dr. Ascher, Frankfurt a. M. 3. Die Milchfrage, Prof. Dr Lang- 
stein. Berlin. 4. Über die Möglichkeit einer umfassenden Prophylaxe der akuten 
Infektionskrankheiten, Dr. Dogkwitz, München. Anmeldungen und Anfragen ind 
an die Geschäftsstelle Charlottenburg 5. Frankstraße 3. zu richten. 


Gesetzgebung. 


2. Jugendlürsorge. Erla vom 13. Dezember 1924, betr. Zusammen- 
arbeit der Jugendämter in Vormundschaftsachen — III F 3058/24 —. Bei 
Weiterführung einer Vormundschaft durch das Jugendamt eines anderen Bezirkes ge- 
mäß $ 39 des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt ist die Kenntnis der das Mündel 
betreffenden Vorgänge für das neu zuständige ‚Jugendamt unbedingt erforderlich, 
Es empfiehlt sich daher, daß das bisher zuständige Jugendamt bei der Abgabe der Vor- 


=a =a — ——n 


Ausbildung. 201 
mundschaft die über das Müudel geführten Akten an das die Vormundschaft über- 
nehmende Jugendamt übersendet. Ich ersuche. die Jugendämter anzuweisen. künftig 
hiernach zu verfahren, 

L V.: Scheidt. 
An sämtliche Herren Regierungspräsidenten {nd den Herrn Oberpräsidenten in 
Charlottenburg, 


Ausbildung. 


Das sozialpolitisehe Seminar der deutsehen Hochschule für Politik eröffnet 
mit dem Sommersemester dieses ‚Jahres einen viersemestrigen, in sich geschlossenen 
Lehrgang für Wirtschaftsfunktionäre (Sommersemester Ende April bis Anfang August, 
Wintersemester Ende Oktober bis Anfang März). In den beiden ersten Semestern 
soll eine allgemeine soziologische. volkswirtschaftliche und juristische Grundlage dar- 
geboten werden, worauf in den beiden letzten Semestern eine Spezialeinführung in 
das Gewerkschaftswesen, Arbeitsrecht. in Volks- und Privatwirtschaft folgen soll. Der 
Unterricht liegt in den Abendstunden. Beginn in der Regel 6 Uhr. Die Besucher 
würden an 3--4 Abenden in der Woche für ein oder zwei Doppelstunden in Anspruch 
genommen sein. Der Stundenplan des kommenden Sommersemesters ist ungefähr 
folgender: 

Dir. Mennike: Geschichtliche Voraussetzungen der gegenwärtigen Gesellschaft. 
1 Doppelstunde. 

Dr. A. Wolfers: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. 1 Doppelstunde. 

Prof. Kaskel: Grundzüge der Sozialpolitik. 1 Stunde. 

Stadtrat Dr. Muthesius: Staats- und Verwaltungsrecht. 1 Doppelstunde. 

Reg.-Rat Dr. Becker: Hauptgebiete des bürgerlichen Rechtes. 1 Doppelstunde. 

Dr. Schwers: Soziale Hygiene. 1 Doppelstunde. 

Außerdem findet im Sommersemester im Rahmen des sozialpolitischen Seminars 
ein Kursus für Berufsberatung statt, von dem einige Stunden so gelegt werden, daß 
die Mitglieder des Seminars an ihnen teilnehmen können. Überhaupt haben die Mit- 
glieder des sozialpolitischen Seminars das selbstverständliche Recht. an allen Vor- 
lesungen der Hochschule für Politik teilzunehmen, die mit den Pflichtstunden nicht 
kollidieren. Die Pauschalgebühren für das einzelne Semester sind noch nicht fest- 
gesetzt. Sie werden aber so niedrig wie möglıch gehalten sein. Außerdem können 
auf besondere Gesuche hin Ermäßigungen gewährt werden. 

Gesuche um Aufnahme in das Seminar, die eine kurze Schilderung des bisherigen 
Bildungsganges des Gesuchstellers enthalten müssen, sind möglichst bald zu richten an 
Direktor Mennicke, Sozialpolitisches Seminar der deutschen Hochschule für Politik, 
Berlin W 56, Schinkelplatz 6. Die Beihringung der Empfehlung eines gewerkschaft- 
lichen Verbandes ist erwünscht. 


Kurs über Psychopathenfürsorge in Hagen i. W. veranstaltet vom Sozial- 
beamtinnenverband und dem Stadt- und Landkreis Hagen i. W. vom 21.—28. Februar 1925. 
Vortragsfolge: Vorbereitung: Samstag, den 21. Februar Dr. Ehlers-Elberfeld: „Die 
Reifezeit des normalen Jugendlichen.“ Lehrgang: Dienstag, 24. Februar Ruth 
v. der Leyen-Berlin: „Die Bedeutung der Psychopathenfürsorge in der Jugend- 
wohlfahrtspflege an der Hand von praktischen Beispielen.“ Mittwoch. 25. Februar 
Dr. Winter-Eickelborn: „Die Bedeutung der Psyehopathenfürsorge vom Standpunkt 


202 Ausbildung. 


des Psychiaters.“ Donnerstag, 26. Februar Fräulein Ling-Hagen (Hilfsschule): „Grenz- 
‘gebiete von Psychopathie und Schwachsinn.“ Samstag, 28. Februar Dr. Kleefisch- 
Essen (Leit. Arzt des Franz Sales-Hauses: „Geschlechtsleben und Sexual- Delikte ber 
Jugendlichen.“ 


Heilpädagogiseher Ausbildungskurs für Hilfsschullehrer in Bayern. 
Müneben 1925/26. Das; Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultur 
läßt dem 1. heilpädagogischen Ausbildungskurs, der für Hilfsschullehrkräfte vom 
1. November 1922 bis 15. Juli 1923 in München stattfand, nunmehr einen 2. Jahres- 
kurs in der Zeit vom 1. Mai 1925 bis Ostem 1926 folgen. Er umfaßt Theorie und 
Praxis des Hilfsschulwesens. Am Schlusse des Kurses findet für sämtliche Teilnehmer 
eine Prüfung statt. 

Zugelassen werden jüngere Lehrpersonen, die die Prüfung für den Volksschul- 
dienst mit gutem Erfolg bestanden haben, Verwendung an Hilfsschulen anstreben und 
hierfür geeignet sind. Die Kursteilnehmer sind für die Dauer des Kurses dienstlich 
beurlaubt und beziehen ihr Diensteinkummen oder allenfalls ihren Unterhaltszuschuß 
fort. Die Kosten für die Aushilfeleistung in ihren Schulklassen trägt die Staatskasse, 

Der Kurs wird wieder in der Weise veranstaltet, daß sich einschlägige Vor- 
lesungen der medizinischen und der philosophischen Fakultät an der Universität und 
wissenschaftliche und: praktische Einführungen durch Heilpädagogen ergänzen. Die 
Kursleitung ist wieder Herrn Egenberger-München, dem ersten Vorsitzenden der 
Gesellschaft für Heilpädagogik, übertragen 

Mit der Abhaltung dieses Jahresausbildungskurses für Hilfsschullehrkräfte, der 
in Bayern stehende Einrichtung werden soll, gehen die Ideen der heilpädagogischen 
Ausbildung, wie sie auf den Kongressen 1922 und 1924 in München erörtert wurden, 
weiter ihrer Verwirklichung entgegen und dem Bayerischen Unterrichtsministerrum 
wie der Universität München gebühren Anerkennung und Dank. 


Volkshoehsehullehrgang für Frauen und Mädchen. Vom 15. Februar bis 
Ende März 1925 findet in dem Volkshochschulheim von Dr. Fritz Klatt in Prerow 
an der Ostsee ein sechswöchiger Lehrgang für Frauen und Mädchen statt. 

Das Thema dieses Lehrgangs ist: 

1. Deutsche Sprache. Grundlagen des neuen Sprachausdrucks. Bauformen und 
Rhytmik der Sprache. Zeitungskunde. Neue deutsche Literatur. 

2. Frauenkunde. Körperliche, seelische und geistige Grundlagen des Gemeinschafts- 
lebens und des persönlichen Lebens. 

3. Körper- und Sinnesbildung (in Zusammenarbeit mit einer Gymnastiklehrerin). 

4. Kunstgeschichtliche Grundbegriffe und praktische Übung im Sehen und Zeichnen 
auch für Anfänger. Zeichengerät. mitbringen. 
Verpflegungs-. Wohnungs- und Lehrgeld kann für diesen Lehrgang besonderer 

Umständehalber von 4 M. auf 2 M ermäßigt werden. 

Die Teilnehmer werden im Heim untergebracht. 

Arbeitsräume und Bibliothek vorhanden. Die Aufenthaltsraune sind heizbar und 
elektrisch beleuchtet. 

Verpflegung ist einfach aber reichlich und gut. 

Als Anreisetag gilt der Tag des Kursbeginns. 

Anfragen an die Heimleitung Dr. Fritz Klatt, Prerow (Ostsee). Waldstr. 34. 


Druckfehlerberichtigung. 
Inhaltsverzeichnis 30. Band, 2. Heft lies: Kuenburg. 





Drack von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaisa. 





ZEITSCHRIFT FÜR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDET VONJ. TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN l. B, TH.HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINA K-GRAZ, H. NOHL- GÖTTINGEN 
F. WEIGL-AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN BERLIN BERLIN 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 





DREISSIGSTER BAND, 4/5. (SCHLUSS-)HEFT 
MIT 26 TEXTABBILDUNGEN 
(AUSGEGEBEN AM 25. JUNI 1925) 





BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1925 š 
Preis M. 9.40 


II Zeitschrift für Kinderforschung. 80. Band, 4./5. Heft. 


Die Zeitschrift für Kinderforschung 


erscheint zwanglos, in einzeln berechneten Heften, die zu Bänden von etwa 40—50 Bogen 
Umfang vereinigt werden. 


Manuskripte werden erbeten an: 


Herrn Professor Dr. M. Isserlin, München, Mariannenplatz 21 
oder 
Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, Bayerische Str. 9. 
Redaktionelle Anfragen sind zu richten 


—— gen ne 


für den Öriginalienteil an Fräulein Ruth v. der Leyen, Berlin W 15, 
Bayerische Str. 9, 


für den Referatenteil an Dr. R. Hirschfeld, Berlin W 9, Linkstr. 23/24. 


Von Originalaufsätzen werden 50 Sonderdrucke unentgeltlich geliefert, weitere gegen 
Berechnung. 


Mit Rücksicht auf die außerordentlich hohen Kosten werden die Herren Mit- 
arbeiter in ihrem eigenen Interesse dringend gebeten, sich, wenn irgend möglich, 
mit der kostenfrei zur Verfügung gestellten Anzahl zu begnügen, und falls mehr 
Exemplare unbedingt erforderlich sind, deren Kosten vorher vom Verlage zu erfragen, 
um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 




















30. Band. Inhaltsverzeichnis. 4./5. (Schluß-)Heft. 

Originalienteil. Seite 
Schilder, Paul. Die Grundgedanken der Psychoanalyse . EN. 
Lindworsky, J. Die Psychoanalyse vom Standpunkt der Psychologie uii 229 


Wexberg, Erwin. Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für 


E U M a +5 50 re a a NE ar . 239 
Isserlin, Max. Zur Psychoanalyse EEE EEE a rA 2 See A 
Rehm, Otto. Jugendliche Kotspieler . . 2 2 2:2 m m m u nn nn = 279 
Simonic, Anton. Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. (Mit 

EG Tor NOOR ODS Ze a re e a ie ae Ar I E A S 282 
Oseretzky, N. J. Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorischen Be- 

uae o n a en A Be A 300 
Gregor, Adalbert. Psychologie und Sozialpädagogik schwer erziehbarer Fürsorge- 

SORME RETTET aoa A 315 
Bottermann. Zu den Preußischen Ausführungsbestimmungen zum Grundschulgesetz 351 
FRERDEIN sonh re ee ae EN rar A 353 
Gesetzgebung.. ... Be BR a aana a a EN re A in Oi 
RE GEEA t T 5 An re ee ee he DE a See a if ON 
HELD EIETOLINEhE BASE SDBUEEER . nn re ae a 364 
MOIECHTIANEDBER a0: Su RE 7 RE re a a re A 365 

Referatenteil. 

Biologie, Konstitution, Rasse, Ver- ` Normale Pädagogik . ....... 223 
erbung „2.00 = ` Heilpädagogik u. Anomalen-Fürsorge 227 

Psychologie... 2... 2.0... 212 | Schwachsinn, geistige und seelische 
Allgemeine und spezielle Psychologie. vo. (Gefühls- und Willens-) Anomalien 227 

— Methodische „. . . . 2... 21; 

FREUEN 218 Sinnendefekte, Sprachstörungen . „ 231 
Genetische und vergleichende Psy- Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung . . 235 
EBONE e ur E Allgemeines . . . E N 

Psychopathologie und Psychiatrie . . 221 Jugendgericht u. Jugendgerichtshilfe, 
Geistige Defektzustände. . . . . 222 Forensisches . . . .. .. . 238 

















Autorenverzeichnis des Referatenteiles. 


Adler, Alfred 218. | Delhougne, E. 228, Friedjung, Josef K. 214. | Hellerich, Eugen 234. 
Albertini, A. 227. Dirr, Robert 232. ' Giese, Fritz 216, 218. ' Hellwig, Albert 288. 
Berliner, Max 212. Döring, Woldemar Oskar Gleispach, Wenzel 240. ‚ Herrmann, Walter 240, 
Bianchi, Leonardo 223, 218. | Glesinger, Rudolf 240. ' Heupgen, P. 289. 


Bowes, G. K. 228. Ferrero - Lambroso Gina Graber, Gustav-Hans 215. , Hildenbrandt, Kurt 220. 


Buzley, Dallas E. 216. Fiala, Hans 240. {[288.| Grünhut 240. Hirschfeld, Magnus 211. 


Ciampi, Lafranco 227. | Fischer-Defoy 286. Heagerty, J. J. 226. | Hoven 227. 
Cibarelli, Francesco 226. , Frank, Hildegard 209, ;, Hebel 283. ` Hoyer, Arnulf 220, 
Cimbal, Walter 287. ı Fraser, J. S. 282. ` Heijermans, Ida 226. —, Galina 2%. 


Fortsetzung des Autorenverzeichnisses siehe III. Umschlagseäe! 








Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 
Von 
Priv.-Doz. Dr. Paul Schilder, Wien. 


Die Verdrängung. 


Jene im Jahre 1893 erschienene Mitteilung von Breuer und Freud, 
welche den Ausgangspunkt der Psychoanalyse darstellt, kennt den Be- 
griff der Verdrängung noch nicht. Erlebnisse, welche so unangenehm 
und quälend sind, daß sie nicht ertragen werden können, kurz gesagt 
traumatische Erlebnisse, schaffen nach jener ursprünglichen Lehre einen 
hypnoseähnlichen, hypnoiden, Zustand, welcher bewirkt, daß die Erleb- 
nisse nach dem Abklingen des hypnoiden Zustandes ebenso vergessen 
sind, wie die Erlebnisse der Tiefhypnose nach dem Erwachen. Die 
Amnesie, welche ein solches traumatisches Erlebnis verdeckt, wird der 
Amnesie gleichgesetzt, welche den Inhalt der Tiefhypnose dem Wach- 
bewußtsein entzi:ht. 

Ebenso wie neuerliche Hypnose diesen Inhalt zutage fördern kann, 
könnte das traumatische Erlebnis durch Hypnose zugänglich gemacht 
werden, ein Beispiel: „Ein Angestellter, der infolge einer Mißhandlung 
seines Chefs hysterisch geworden war, leidet an Anfällen, in denen er 
zusammenstürzt, tobt und wütet, ohne ein Wort zu sprechen, obne 
eine Halluzination zu verraten. Der Anfall läßt sich in der Hypnose 
provozieren und der Kranke gibt nun an, daß er die Szene wieder 
durchlebe, wie der Herr ihn auf der Straße beschimpft und mit einem 
Stock schlägt. Wenige Tage später kommt er mit der Klage wieder, 
er habe denselben Anfall von neuem gehabt, und diesmal ergibt sich 
in der Hypnose, daß er die Szene durchlebt hat, an die sich eigentlich 
der Ausbruch der Krankheit knüpfte; die Szene im Gerichtssaal, als 
es ihm nicht gelang Satisfaktion für die Mißhandlung zu erreichen.“ 
Aus diesem Beispiel ergibt sich bereits, daß solche abgespaltene Erleb- 
nisse keineswegs infolge des Vergessens ihre Wirksamkeit verloren 
haben, im Gegenteil solch vergessenes Erlebnis ist durch die Amnesie- 
schranke vor der ausgleichenden korrigierenden Tätigkeit des Bewußt- 

Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 14 


204 Paul Schilder: 


seins geschützt, es bleibt unbearbeitet im „Unbewußten“, die Erregung 

kann nicht auf dem normalen Wege abgeführt werden und erscheint 
im hysterischen Symptom. Freud gebrauchte hierfür den Ausdruck 
Konversion. Der hysterische Anfall, die hysterische Lähmung er- 
scheinen so, als fehlgeleitete Wirkung des traumatischen Erlebnisses. 
Das Bewußtmachen, das Neuerleben des traumatischen Erlebnisses er- 
möglicht dem Patienten abzureagieren, und sich so von krankmachenden 
Reminiszenzen zu befreien. 

Bald hernach erkennt Freud, daß der hypnoide Zustand nicht un- 
umgängliche Vorbedingung der psychischen Spaltung ist, sondern, daß 
die Spaltung des Bewußtseins auch Folge eines Willenaktes sein kann. 
Er spricht von psychischer Abwehr und erkennt auch in der Zwangs- 
neurose die Abwehr wieder. Damit ist dem Wesen nach der Begriff 
der Verdrängung gegeben, doch stammt die Bezeichnung selbst aus 
späterer Zeit. Die Lehre erfährt eine Erweiterung. Die Angst wird 
als Konversionsprodukt erkannt. Aber auch Zwangsneurosen, ja der 
Verfolgungswahn werden als Abwehrneurose bezw. als Abwehrpsychose 
erklärt. Bald wird die Lehre vom hypnoiden Zustand, der durch das 
Trauma gesetzt wird, vollständig aufgegeben. In der Traumdeutung, 
in den drei Abhandlungen zur Sexualtheorie wird die Lehre von der 
Verdrängung ausgebaut. Während nach den ersten Mitteilungen von 
Breuer und Freud das traumatische Erlebnis jeder Erlebnissphäre 
entnommen sein kann, betont Freud immer mehr, daß es sexuelle 
Erlebnisse seien, gegen welche sich die Abwehr, die Verdrängung 
richte, ein Standpunkt, welcher erst in den jüngsten Arbeiten von 
Freud (das Ich und das Es) dahin modifiziert wird, daß auch Schuld- 
gefühle, welche nicht in den Kreis der Sexualität hineingehören, ver- 
drängt werden können. 

Nach dem gegenwärtigen Stand der Psychoanalyse verfällt ein 
Erlebnis oder eine Triebstrebung dann der Verdrängung, wenn es für 
das Individuum unbequem und peinlich ist. Solche Erlebnisse sind 
vorwiegend sexueller Art. Die Verdrängung geht vom Idealich aus, 
welches die Ichtriebe zusammenfaßt, allerdings sehr wesentliche libi- 
dinöse Komponenten enthält. 

Die Wirkung der Verdrängung kann mannigfaltiger Art sein. Es 
kann entweder das verdrängte Erlebnis, das anstößig ist, schlechthin 
vergessen werden. Typus solches Verdrängens ist die Amnesie der 
Hvsterischen. Aber es ist ja bekannt, daß das Verdrängungsmaß sehr 
häufig nicht ausreicht, um das Verdrängte dauernd vom Bewußtsein 
auszuschließen. So erscheint das im hysterischen Ausnahmszustand 
Erlebte oder der Inhalt der Hypnose in den Träumen, in plötzlich 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 205 


auftauchenden Einfällen. im Versprechen, also in allen jenen Zuständen, 
in welchen die Aufmerksamkeitsspannung nachläßt, in allen Zuständen, 
in denen sich das Individuum, zwanglos, von den Anforderungen des 
Alltags entbunden, dem Fließen seiner Gedanken hingibt. Nehmen 
wir vorweg, daß in dieser Erkenntnis die Begründung der analytischen 
Technik liegt. In diese Einsicht ist eingeschlossen, daß das wache, 
tätige Leben, die Logik und Sachzuwendung, welche das zweckent- 
sprechende Handeln in der Außenwelt fordert, Mutterboden der ver- 
drängenden Kräfte ist, aber auch der der Ichtriebee Der Zwangs- 
neurotische hat die krankmachenden Erlebnisse gleichfalls verdrängt, 
aber sie sind gleichwohl nicht dem Wachbewußtsein entschwunden, 
sondern sie werden durch die Verdrängung nur ihres Wertes, ihrer 
Bedeutung beraubt. Das Erlebnis stellt sich dem Tagesbewußtsein 
fälschlich als bedeutungslos dar. Eine andere Wirkung der Ver- 
drängung ist die, daß Erlebnisse, welche dem eigenen Ich zugehören, 
in andere Personen, ja in die Außenwelt verlegt werden. Wir sprechen 
dann von einer Projektion. Sie findet nur dann statt, wenn die 
Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sich vermischt haben. Wenn 
auch dieses Phänomen nicht mehr den besonderen Namen der Ver- 
drängung trägt, so entspringt die Projektion doch den gleichen Kräften, 
welche die Amnesierung besorgen. Auch der umgekehrte Vorgang 
ereignet sich. Triebe, welche sich ursprünglich in aggressiver Weise 
gegen andere Personen und gegen Objekte der. Außenwelt richten, 
werden gegen die eigene Person gekehrt, wenn sie dem moralischen 
Empfinden widerstreiten. Wir sprechen von einer Wendung der 
Triebe gegen die eigene Person und fassen diesen Vorgang wiederum 
als Wirkung von Kräften auf, welche dem Bereiche des Verdrängens 
zugehören. Die Psychoanalyse vertritt eine energetische Seelenlehre. 
Dem entsprechend schreibt sie der Verdrängung eine gewisse Energie 
zu, welche nach der ursprünglichen Lehre Freuds den Ichtrieben ent- 
nommen ist. Derzeit vertritt Freud den Standpunkt, daß auch libi- 
dinöse Energien in die Verdrängung eingehen und zwar solche 
narzißtischer Art. Über den Begriff des Narzißmus, der Liebe zur 
eigenen Person, später ausführlicher. Ebenso wie den verdrängenden 
Tendenzen Energien anhaften, haften solche auch den verdrängten Erleb- 
nissen an. Ein nicht erledigtes Erlebnis fordert von uns, erledigt zu 
werden, es will sich daher stets wieder ins Bewußtsein drängen. Wir 
müssen uns übrigens klar machen, daß nach voluntaristischer Lehre 
jeder auftauchende Gedanke durch willensmäßige, triebbedingte Ein- 
stellungen hervorgerufen ist. Wenn wir uns denkend einem Erlebnis 


zuwenden, so streben wir triebhaft zu diesem hin. Am klarsten wird 
14” 


206 Paul Schilder: 


der Sachverhalt dadurch, daß wir uns den Wirkungen der nicht er- 
füllten sexuellen Begierde zuwenden. Der triebhaft erstrebte Körper 
des sexuellen Partners drängt sich in Gedanken oder Vorstellungen 
immer wieder vor. Die triebhafte Bedingtheit des Vorstellungs- und 
Gedankenablaufes kommt hier unmittelbar zum Ausdruck. Das Ver- 
drängte hat aber Energien, welche die Verdrängungssperre zu durch- 
brechen versuchen. 

Verdrängungen ziehen durch das ganze Leben hindurch, sie be- 
ginnen im frühesten Jugendalter. Wichtige, für das Triebleben be- 
stimmende und von der gesamten Triebkonstitution bestimmte Jugend- 
erlebnisse, die Urszenen, verfallen der Urverdrängung. Das spätere 
Verdrängen bezeichnet Freud als Nachverdrängen und er verknüpft 
mit dieser Ausdrucksweise die Vorstellung, daß das Urverdrängte eine 
Anziehungskraft ausübe, so daß neben der vom Bewußtsein aus ab- 
stoßenden Kraft die Anziehung berücksichtigt werden muß, welche das 
Urverdrängte auf alles ausübt, womit es in Berührung kommt. 

Es findet aber ein stetiger Kampf zwischen dem Verdrängten 
und den verdrängenden Kräften statt. Es wurde bereits angedeutet, 
daß die Verdrängung eine mehr oder minder vollständige sein kann. 
Sie kann ein Erlebnis vollkommen aus dem Tagesbewußtsein drängen, 
oder es nur des bewußten Wertes entkleiden, aber die Verdrängung 
kann auch in anderer Hinsicht unvollständig sein, sie kann etwa Teile 
des anstößigen Materiales unterdrücken, während andere Teile erhalten 
bleiben, freilich ist dann durch die Weglassung die Anstößigkeit nicht 
ohne weiteres kenntlich. Die allgemeine Bemerkung muß hier ein- 
gefügt werden, daß jedes Erlebnis aus zwei formalen Elementen zu- 
sammengesetzt gedacht werden muß. Aus dem Triebhaften das in das Er- 
lebnis eingeht und aus dem Inhalt des Erlebnisses, der Triebrepräsentanz. 
Der Verdrängung verfällt nur die Triebrepräsentanz: die Vorstellungen, 
der Gedanke, Wahrnehmungen, die Gefühle. Von einer Verdrängung 
der Triebhaftigkeit selbst kann im strengen Sinne nicht gesprochen 
werden. Es ist ja der Kern der psychoanalytischen Lehre, daß Ener- 
gien, Triebenergien nicht in Verlust geraten können. Sie können nur 
zu anderen Triebrepräsentanzen hin verschoben werden. Wenn nun 
die Verdrängungung nur einen Teil des anstößigen Materials unter- 
drückt, so gleicht sie hierin dem Zensor, welcher einzelne Stellen aus 
einem Bericht ausmerzt. Freud hat daher besonders im Zusammen- 
hang mit den Erscheinungen des Traumes von einer Zensur gesprochen; 
diese kann sich im Traume geradezu in der Form darstellen, daß in 
einem Text bestimmte Worte fehlen, aus einer Rede bestimmte Teile 
undeutlich werden. 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 207 


Das Verdrängte hat also eine Tendenz zur Wiederkehr. Es kann, 
wie oben erwähnt, in der Zwangsneurose inhaltlich unverändert, aber 
gleichsam formal verändert wiederkommen. Es kann der Inhalt wie oben 
erwähnt quantitativ verändert sein. Besonders bedeutungsvoll ist in 
diesem Zusammienhange, daß der Inhalt in symbolisch entstellter Form 
wiederkehren kann. An Stelle des eigentlich gemeinten tritt ein Bild, 
das entweder inhaltlich ähnlich ist, oder durch den Gefühlston dem 
ursprünglich gemeinten verwandt ist. 

Der Penis wird durch Stöcke, Messer, Keulen, besonders häufig 
durch Schlangen symbolisiert. Das letztgenannte Bild ist nicht nur 
durch die äußere Ähnlichkeit, sondern auch durch die Unheimlichkeit 
des Gegenstandes geeignet zur symbolischen Vertretung jenes Organs, 
welchem die volle Ambivalenz des Sexuellen zukommt. Der weibliche 
Geschlechtsteil wird symbolisiert durch Räume, Kästchen, Taschen, 
Klaviere, Krüge u. dgl. m. Der Geschlechtsakt durch Kampf, Rauferei, 
Gewalttat, Niedergestoßenwerden durch Tiere und vieles andere. 
Hier handelt es sich keineswegs darum, die außerordentliche Fülle der 
Symbole auch nur annähernd wiederzugeben, sondern nur um die 
Darstellung des allgemeinen Prinzipes. Wer sich von der Fülle 
der Symbolik einen: Begriff machen will, erinnere sich an den 
Witz, der Sexuelles und Anales immer wieder unermüdlich unter den 
verschiedensten Bildern variiert. Stellen wir uns das eigentlich Ge- 
meinte im Zentrum eines Kreises liegend vor, um welches alles Ähn- 
liche gruppiert ist, so verhindert die Verdrängung, daß der Trieb bis 
zum Zentrum vordringe, er bleibt in der Peripherie stecken. Die ver- 
drängende Kraft hat gleichfalls ein Ziel, welches in ähnlicher Weise 
nicht zur vollen Verwirklichung kommt. Das Symbol stellt sich so 
als ein Kompromiß zwischen zwei Strebungen dar, die verdrängte 
Tendenz kommt in ihm in gleicher Weise zur unvollständigen Er- 
füllung. Es ist hier nicht der Ort näher auszuführen, daß das was 
Freud und die Psychoanalyse als Symbol bezeichnet, vom formalen 
Gesichtspunkt aus nicht Symbol, sondern nur symbolähnlich ist. Das 
Bewußtsein, daß hinter einem derartigen Bilde etwas stecke, ist näm- 
lich gerade bei den Bildern des Traumes sehr häufig nicht in jener 
Weise gegeben, welche wir beim Symbol erleben. Freud selbst nimmt 
in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse an, daß 
für die Svmbolbildung neben der Verdrängung, noch ein besonderer 
Faktor in Frage komme, den er in der Phylogenie sucht. Die Bilder 
des Traumes, die neurotischen Symptome, die Wahnideen sind inhalt- 
lich jedoch nicht verständlich, wenn wir nur die symbolische Dar- 
stellung des Verdrängten berücksichtigen. Selbst dann, wenn wir uns 


208 Paul Schilder: 


darüber klar sind, daß auch das Gegenteil in den Kreis des Ähnlichen 
hineingehört. So kann etwa heftige Bewegung durch Ruhe dargestellt 
werden. Wasser (Urin) durch Feuer u. dgl. m. Freilich wird man den 
Ausdruck Symbol diesen Erscheinungen gegenüber kaum mehr als an- 
gemessen bezeichnen können. In unserem Denken spielt neben der 
logischen Ordnung der Dinge nach ihren Ähnlichkeiten und Sach- 
zugehörigkeiten noch die Ordnung der Erlebnisse nach ihren indivi- 
duellen Zusammenhängen eine Rolle. Für das Denken ist das räumliche 
und zeitliche Beisammensein von Eindrücken bedeutsam. In der üb- 
lichen Formulierung spricht man von Assoziationen nach Ähnlichkeit 
und Berührung. Wir ziehen vor von einer Ordnung der Erlebnisse 
nach logisch sachlichen und individuellen Beziehungen zu sprechen. 
Das räumlich-zeitlich dem Gemeinten Verwandte kann als Vertretungs- 
produkt im Bewußtsein erscheinen. So kann etwa von einem Zimmer 
geträumt werden, wenn eine Liebesszene, die in diesem Zimmer statt- 
gefunden hat, der Zensur verfällt. Oder ein Zusammentreffen mit einer 
Person A. kann erinnert werden, wenn das Gespräch mit der Person B., 
das auf das Zusammentreffen mit der Person A. folgte, anstößiges Material 
enthält. Man sieht, daß Beziehungen zu der Technik derWeglassung bestehen. 
Wir müssen noch einmal den Standpunkt betonen, daß grund.ätzlich 
bei jeder Wiederkehr des Verdrängten in dem entstellten Produkt 
mehrere Gedanken verkettet sind und wäre es auch nur die verdrängende 
und die verdrängte Tendenz. Wir können schon in diesem Sinne von 
einer Verdichtung sprechen. Wenn in einem von Freud analysierten 
Traum eine Mischfigur erscheint, welche die Züge zweier Personen mit- 
einander vereinigt, so wird auf diese Art nur ein gehässiges Urteil 
ausgedrückt, das der einen Person gilt und nun vom Unbewußten 
her auch auf die andere Person ausgedehnt wird, gegen welche Aus- 
dehnung sich die Zensur richtet. Neben dem Mechanismus der Ver- 
dichtung ist auch der Mechanismus der Verschiebung von Bedeutung. 
Durch Verdrängung kann ein Ereignis, eine Eigenschaft auf einen 
nicht zugehörigen Gegenstand, auf eine andere Person verschoben 
werden. Nun gilt alles, was über die Bilder im engeren Sinne an- 
geführt wurde, auch von den Gefühlen. Verachtung, Haß kann im 
manifesten Bild in Zärtlichkeit gewandelt sein. Übergroße Liebe kann 
verdrängten Haß anzeigen und umgekehrt. (Überkompensation.) Er- 
innern wir uns daran, daß auch (iefühlsgegensätze miteinander ver- 
wandt sind. 

Schließlieh fällt aus dem Angeführten neues Licht auf die Kon- 
version. Von dieser sprachen wir, wie erwähnt dann, wenn un- 
erledigtes Psvchisches in körperlichen Erscheinungen seine Erledigung 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 209 


findet. So entsteht Angst dann, wenn ein Sexualvorgang gebremst wird. 
Der hysterische Anfall ist der Ausdruck verdrängter Koituswünsche. Wir 
dürfen eine enge Verwandtschaft zwischen sexueller Erregung und 
Angst annehmen. Es fließt also die unerwaıtete Erregung auf ver- 
wandte Bahnen ab. Der hysterische Anfall hat an und für sich 
Ähnlichkeit mit den Koitusbewegungen, das Einbohren des Kopfes in 
die Unterlage drückt die extreme Ablehnung der Sexualbetätigung, das 
Hochheben des Beckens den extremen Wunsch nach ihr aus. Es 
handelt sich also um ein Abfließen der Erregung nach vorgebildeten 
Mechanismen, wobei die Darstellung durch das Gegenteil eine gewisse 
Rolle spielt. Erinnern wir uns daran, daß jeder Affekt von bestimmten, 
körperlichen Veränderungen begleitet ist, welche in der Sprache ihren 
Niederschlag gefunden haben, etwa: Mir steht das Herz still, mich 
schwindelt, mir ist schlecht zumute, die Knie zittern, mir ist weh ums 
Herz, der Atem stockt, mir wird schwarz vor den Augen, mich 
schaudert, mir ist leicht ums Herz, ich kann mich kaum schleppen 
u. dgl. m. Wir haben Grund alle diese Angaben auf reale körper- 
liche Veränderungen zu beziehen; sie werden, wenn Verdrängung ein- 
tritt, dadurch verstärkt, daß die Energien des krankhaften Erlebnisses 
verdrängt werden und in jene vorgezeichneten Bahnen abfließen. 
Bleuler hat den Gehalt des Verdrängungs- und Konversionsbegriffes 
wesentlich schärfer herausgearbeitet. Im hysterischen Anfall würden 
große Mengen von Energien zur Abfuhr gebracht, gleichwohl sei da- 
mit kein Abreagieren verbunden, das Individuum bleibe krank. Das 
krankmachende Erlebnis ziehe fortwährend neue Energien an sich, es 
wirke als Gelegenheitsapparat. Die Krankheit schwinde erst dann, 
wenn der Gelegenheitsapparat auseinandergenommen und zerlegt 
werde. Der Gelegenheitsapparat kann nur dann auseinandergenommen 
werden, wenn die Verdrängung rückgängig gemacht wird. 
Rückgängig machen von Verdrängungen ist die Aufgabe der 
psychoanalvtischen Therapie, deren Technik uns noch später be- 
schäftigen wird. Hier nur die allgemeine Bemerkung, daß die 
Lockerung der Verdrängung das Vergessene zunächst in sehr ent- 
stellter Form zeigt, daß schließlich die Darstellung des Verdrängten 
immer deutlicher wird, bis es schließlich in unveränderter Form er- 
scheint. Klares Beispiel sind jene Träume, in denen sich das Durst- 
gefühl, der Urindrang und ähnliches mehr gegen den Schlafwunsch 
allmählich durchsetzt. Der Urindrang erscheint häufig zunächst in der 
Form, daß von Seen, Flüssen und Meer u. dgl. geträumt wird, 
dann erscheint vielleicht ein Kind, das auf dem Topf sitzt. Dann 
glaubt der Träumer selbst hinter einem Busch zu urinieren, bis schließ- 


210 Paul Schilder: 


lich der immer heftiger werdende Drang den Schläfer erweckt. Der 
folgende durchsichtige Traum einer Patientin sei mitgeteilt: „Der 
Vater will sie abholen (aus der Klinik), sie sträubt sich und läuft da- 
von, sie geht in einen großen Saal, der voll Fleisch ist, sie holt sich 
ein Stück Schweinernes und einen Schinken und läuft fort. Hinter 
ihr ein Arzt. Sie läuft eine steile Straße hinauf. Der Arzt ihr nach, 
erreicht sie. Es kommt zum Koitus.“ Das Stück Schweinerne, das 
sie sich holt, ist eine durchsichtige Darstellung des Sexualwunsches. 
Der sexuelle Wunsch erfährt gleichzeitig herbe Kritik. Der Vater ist 
Vertreter verdrängender Tendenzen. Offenbar wandelt er sich ‚in den 
Arzt. Das Hinauflaufen ist bereits die symbolische Darstellung des 
nachher geträumten Koitus. Der Arzt, zu dem sie in der Tat Zu- 
neigung empfand, tritt erst im zweiten Teil des Traumes auf. 

Man sieht wie aus den Elementen der formal-inhaltlichen Ab- 
änderung durch die Verdrängung eine fast unübersehbare Menge von 
Möglichkeiten der Entstellung des ursprünglichen Materiales gegeben 
ist. Der zentralen Bedeutung des Begriffes der Verdrängung im 
Rahmen der Analyse entspricht es, daß seine Anwendungsmöglichkeit 
mit dem bisherigen noch keineswegs erschöpft ist. Wie steht es denn 
mit dem alltäglichen Vergessen? Nicht nur, daß theoretische Er- 
wägungen es wahrscheinlich machen, daß der Verdrängungsbegriff auf 
das alltägliche Vergessen auszudehnen ist, hat Freud die Ver- 
drängungsmotive in bezug auf vergessene Eigennamen ausdrücklich 
klar gelegt. Auch auf das Vergessen des Langzurückliegenden ist der 
Verdrängungsbegriff anzuwenden. Freilich handelt es sich hier um eine 
Verdrängung im weiteren Sinn und einzelne Psychvanalytiker wollen 
auf das Vergessen als solches den Verdrängungsbegriff nicht anwenden 
Jedenfalls muß aber die grundsätzliche Verwandtschaft des Mechanis- 
mus des Vergessens und der Verdrängung betont werden; auch das 
Erstere erfließt aus triebhaften Einstellungen. Ist diese Annahme 
richtig, so müßte eine Unzerstörbarkeit seelischer Erlebnisse an- 
genommen werden. Freilich bestehen neben dem unveränderten Er- 
innerungsbild auch symbolische Abkömmlinge in mehr oder minder 
entstellter Form im seelischen Gesamthaushalt. In welcher Art das 
nicht zum Bewußtsein kommende Erlebnis im psychischen Haushalt 
gegeben sei, wird uns später noch eingehender beschäftigen. Die Lehre 
von der Unzerstörbarkeit seelischer Erlebnisse und von ihrer doppelten 
Repräsentation in zwei Erinnerungssystemen ist einerseits durch eigene 
Untersuchungen an epileptischen Ausnahmezuständen, andererseits 
durch Untersuchungen von Hartmann und Betlheim bei der Rorsa- 
koffschen Psychose gestützt. 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 211 


Die Untersuchungen Freuds haben Ergebnisse der Denk- 
psychologie vorweggenommen. Ach hat gezeigt, daß der Denkverlauf 
von willensähnlichen Einstellungen geregelt wird, die er als deter- 
minierende Tendenz bezeichnet. Diese regeln nicht uur das, was 
während des Denkverlaufes auftaucht, sondern wählen auch unter dem 
Aufgetauchten. Nach Koffka müssen diese Determinationen gar 
nicht zum Bewußtsein kommen (latente Determination). So stützen Er- 
gebnisse der experimentellen Psychologie die analytische Lehre. 


Analytische Trieblehre. 


Zwei Triebgruppen werden von der Psychoanalyse angenommen. 
Die eine der Selbsterhaltung dienende, die Ichtriebe, die andere der 
Arterhaltung dienende, die Sexualtricbe. Die Sexualtriebe sind nicht 
nur an das Genitale gebunden, sondern es gibt eine Reihe von Partial- 
trieben der Sexualität. Diese lernen wir am besten kennen, wenn wir 
die sexuelle Entwicklung des Menschen betrachten. Freud hat er- 
kannt, daß entgegen der früheren Anschauung die Sexualität nicht 
erst in der Pubertät beginne, sondern sich durch das ganze Leben des 
Menschen hinziehe. Im späten Fötalalter und beim Neugeborenen ist 
die Erotik auf primitive Selbstliebe beschränkt. Wir sprechen von 
Narzißmus. Bald tritt die orale, die Munderotik in Erscheinung. Im 
Saugakt befriedigt das Kind, ebenso wie im Ludeln oder Lutschen, 
auch erotische Strebungen. Freude an dem Darstellen des eigenen 
und an der Betrachtung des fremden Körpers tritt hinzu. Durch Ent- 
leerung des Urins und Absetzen des Kotes verschafft das Kind sich 
dem Sexuellen zugehörige Befriedigungen. Erotische Freude an der 
Bewegung kommt hinzu. Auch die Reizung des Genitales selbst ver- 
schafft Genuß. Die unter geringer Beachtung des Objekts und unter 
vorwiegender Beachtung des eigenen Körpers gewonnene Lust bezeichnen 
wir als autoerotisch; werden die Autoerotismen neuerdings in einem 
Bewußtsein des Gresamtkörpers zusammengefaßt, so sprechen wir vom 
sekundären Narzißmus, in welchem die Liebe zum eigenen Körper 
bewußter wird. Bald wird die Autoerotik von einer libidinösen Be- 
ziehung zu den Objekten abgelöst. Sadismus und Masochismns, schon 
früher gegeben, erhalten greifbarere Gestalt; die Objektbesetzungen 
richten sich zunächst auf die Personen der Umgebung, wobei homo- 
sexuelle Regungen besonders bedeutsam sind. Der Ödipuskomplex tritt 
hervor, er bedeutet, daß das Kind den gleichgeschlechtlichen unter den 
Eltern haßt und zu töten wünscht und den gegengeschlechtlichen sexuell 
begehrt. Die homosexuelle Variante des Ödipuskomplexes, die Liebe zum 
gleichgeschlechtlichen Elternteil, ist zu beachten. Die Liebe zum eigenen 


212 Paul Schilder 


Körper konzentriert sich in der Liebe zum Genitale. Die Schädigung 
desselben wird befürchtet, einesteils weil aus dem Ödipuskomplex 
Furcht vor dem Vater fließt, dessen Strafe an jenem Organ befürchtet 
wird, an welchem die sexuelle Erregung am markantesten wurde, am 
Genitale. Dazu kommt, daß der Knabe das Fehlen des männlichen 
Geschlechtsteiles bei Mädchen, falls er solches zu beobachten Gelegen- 
heit hat, auf eine Kastration bezieht. Beachtenswerterweise wird 
vorwiegend der Penis und weniger der Hodensack beachtet. Die Zeit 
der mächtigen sexuellen Erregung, in welcher auch Onanie regelmäßig 
nachweisbar ist, die Zeit zwischen dem 3. und 5. Lebensjahre, ist auch 
die Zeit der kindlichen Sexualforschung. Diese bezieht sich auf das 
Genitalorgan selbst, auf das Werden der Kinder und auf die Geburt 
der Kinder. In den meisten Fällen wird angenommen, daß die Kinder 
aus dem After zur Welt kommen. Sie werden dem Kote gleichgesetzt. 
Mann und Frau werden in gleicher Weise als zum Gebären fähig er- 
achtet, auch der Geschlechtsakt wird in die kindlichen Phantasien ein- 
bezogen, gelegentliche Beobachtungen führen zu einer sadistischen Auf- 
fassung des (reschlechtsaktes. Etwa mit dem 5. Lebensjahre tritt ein 
Verdrängungsschub ein. (Er ist auch Ursache der infantilen Amnesie, 
der mangelhaften Erinnerung für die Zeit vor dem 5. Lebensjahr.) Es 
folgt die Latenzperiode, in welcher Sexualität und sexuelle Forschung 
ruhen. Sie wird durchbrochen von der Praepubertät, welche in ab- 
gekürzter Weise die frühkindliche Sexualperiode wiederholt, wobei 
homosexuelle Züge besonders deutlich in Erscheinung treten. Die 
Frau hat hierbei noch eine besondere Leistung zu vollziehen, indem 
ihre an die Clitoris gebundene Erregbarkeit auf die Vagina verlegt 
werden muß. Eine Leistung, welche bekanntlich nicht immer voll- 
ständig gelingt (Vaginale Anästhesie), Mittlerweile hat auch der 
Narzißnıus eine bedeutsame Entwicklung erfahren. Die ursprünglich 
nur dem eigenen Körper zugewendete Libido wird auf das geistige 
Bild der eigenen Person übertragen und auf das Bild dessen, das wir gern 
sein möchten. Wir sprechen vom Idealich oder Überich. Um dessen 
Bedeutung vollkommen zu verstehen, müssen wir uns den wichtigen 
Mechanismus der Identifizierung klarmachen. Sich identifizieren heißt 
die Rolle eines anderen übernehmen, wobei man sich dieser Über- 
nahme garnicht bewußt sein muß. Man kann gleichzeitig mehrere 
Identifizierungen vornehmen. Man deutet solche Identifizierungen durch 
die Annahme von kleinen Eigenheiten und Gewohnheiten anderer 
Personen an. Der Wachtmeister in Wallensteins Lager deutet durch 
sein Räuspern und Spucken an, daß er die gleiche Geltung wie der 
Feldherr beansprucht. Der Gläubige will heilig sein, wie Gott selber. 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 213 


Voraussetzung zur Identifizierung ist die Liebe zu dem Objekt, mit 
dem man sich identifiziert. Die Tendenz zur Identifizierung ist in 
jeder erotischen Beziehung gegeben. Man fühlt sich isgendwie eins 
mit dem geliebten Objekt. Diese Identifizierung ist aber eine unvoll- 
ständige; ist die Identifizierung vollständig geworden, dann ist das 
Liebesobjekt überflüssig, es ist in die eigene Persönlichkeit hinein- 
gewandert. So werden die Lehrpersonen allmählich durch Identifizierung 
überwunden. Identifizierungen mit den Eltern, besonders mit dem 
Vater spielen eine große Rolle. Freilich bleiben dabei die Objekt- 
besetzungen teilweise erhalten. Das Hineinnehmen der Objekte ins 
eigene Ich bildet die Grundlage für den Aufbau des Idealichs, welches 
gegenüber dem „Ich“ (im analytischen Sinne) Forderungen erhebt. 
Gleichzeitig ist dieses Idealich das Vorbild für das Ich, das es er- 
reichen möchte. Das Idealich geht nicht homogen in die Gesamt- 
persönlichkeit auf, sondern bewahrt in ihr eine Sonderstellung. Das 
Idealich ist in stetiger Entwicklung und Neuformung begriffen. 

Die Partialtriebe der Sexualität, der libidinösen Entwicklung, be- 
halten aber das ganze Leben hindurch ihre Bedeutung. Schauen, Fassen. 
Halten, Berühren, Betasten geben Vorlust beim Sexualakt. Die urethrale 
und anale Komponente der Sexualität zeigt sich in dem Mitschwingen 
dieser Organe bei der sexuellen Erregung. Sadistische Aggression ist 
Vorbedingung und Teilerscheinung des Sexualaktes selbst. Ebenso 
das Erleiden dieser, der Masochismus. Homosexuelle Regungen be- 
gleiten uns durch unser ganzes Leben; und erst recht auch der Narzißmus. 
Die Liebe zum eigenen Körper, die Liebe zur eigenen Persönlichkeit 
ist das mächtige Reservoir, von welchem aus Besetzungen der Objekte 
vorgenommen werden. Sie ist schlechthin Voraussetzung jeder libidinösen 
Einstellung. Gleichwohl hat gerade diese Selbstliebe die engsten Be- 
ziehungen zu den Ichtrieben, so daß Freud den Narzißmus geradezu 
als Bindeglied zwischen Ichtrieben und Sexualtrieben betrachtet. 

Als den Kern des Ichs, als die Zusammenfassung der Ichtriebe 
betrachtet Freud das System der Wahrnehmungen und der aus ihnen 
entspringenden Handlungen, welche sich im Lichte des Bewußtseins 
abspielen. Fügen wir hinzu, daß jedes Wahrnehmungserlebnis und 
die abgeleiteten Vorstellungen und Begriffe Tendenzen zur Handlung 
in sich schließen. Sich handelnd gegen die Objekte richten, sie fassen, 
sie sich einverleiben, ist aber eine Funktion, welche der sadistischen 
nahe verwandt ist. Fassen, halten ist ja im allgemeinen auch Voraus- 
setzung der Sexualhandlung. Freud vertritt in seinen letzten Arbeiten 
den Standpunkt, der Sadismus sei überhaupt den Ichtrieben zuzu- 
rechnen. Ich selbst neige zu der Auffassung, daß der Sadismus in 


214 Paul Schilder: 


beide Trıebgruppen eingehe, gleichsam den Urgrund der Triebhaftigkeit 
darstelle. Der Sadismus erscheint bei Freud zunächst gegen die 
eigene Person gewendet als Todestrieb und wird erst sekundär den 
Objekten zugewendet. Nach dieser neuesten, mir nicht unanfechtbar 
erscheinenden Formulierung sind die Todestriebe die eigentlichen Ich- 
triebe. Die Todestriebe suchen die vorhandenen Vitaldifferenzen ab- 
zuleben und streben hartnäckig nach ihrem individuellen Ende. 

Halten wir daran fest, daß die Ichtriebe Bewältigung der Außen- 
welt zum Ziele haben, so müssen wir ihnen gleichzeitig eine besondere 
enge Beziehung zur Selbsterhaltung im Rahmen der Gesellschaft zu- 
schreiben. Die Identifizierung mit dem Vater, mit den Eltern, mit 
den Pflegepersonen vermittelt uns gleichfalls den Willen der Gesell- 
schaft. Die Identifizierungen, die Idealiche ordnen die Ichtriebe zu 
geschlosseneren Ganzen und fassen sie in Bündeln zusammen. Die 
Idealiche haben ihre Besetzung einerseits vom Narzißmus, andrerseits 
von den Ichtrieben her; und während die Analyse ursprünglich den 
Ichtrieben die Verdrängung zuschrieb, schreibt sie sie jetzt dem Ideal- 
ich zu. Wenn, wie es nicht selten der Fall ist, eine Sexualstrebung 
etwa die heterosexuelle, die andere, die homosexuelle verdrängt, und 
umgekehrt, so ist sie hierzu nur dadurch fähig, daß sie das Idealich 
für sich gewinnt. 

Freud schreibt allen Trieben neben dem Streben nach Lust ein 
Streben nach der Wiederherstellung der früheren Situation zu, er spricht 
vom Wiederholungszwang, der besonders deutlich bei den Ichtrieben 
in Erscheinung trete Eine Anschauung, deren Berechtigung meines 
Erachtens nicht bewiesen ist. 

Erst jetzt können wir die Lehre von der Verdrängung vervoll- 
ständigen. Nicht nur, daß vom Idealich die Verdrängungen ausgehen, 
das Verdrängte muß auch die Konstitution des Idealichs beeinflussen. 
Alle jene asozialen Triebe, welche im Individuum besonders stark 
wirksam sind, können nur niedergehalten werden, wenn das Idealich 
besondere Sicherungen ergreift. So wird das Idealich die Züge einer 
Reaktionsbildung tragen und Enthaltsamkeit dann mit besonderer 
Energie fordern müssen, wenn die Triebe mit Kraft nach Genuß 
drängen. Mit dem Kampf gegen die Lust wird das Interesse an der 
Lust doch befriedigt, und das Idealich stellt sich so als Kompromiß- 
bildung dar. Werden Triebrepräsentanten verdrängt, so bleibt die 
Triebenergie doch lebendig. Sie muß, wie ich oben ausgeführt habe, 
in verwandte Bahnen gelenkt werden. Handelt es sich um eine Ver- 
wendung im Sinne des Idealichs. so sprechen wir von Sublimierung. 
So können sadistische Regungen in der Berufswahl Befriedigung finden, 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 215 


etwa in der Fleischhauerei. Anale werden entsprechend der symbolischen 
Gleichung Gold, Geld, Kot in besonderem Erwerbssinn zum Ausdruck 
kommen können. Die homosexuelle Neigung kann sich in Erziehungs- 
tendenzen gegenüber dem eigenen Geschlecht sublimiert darstellen oder 
in einer besonderen Zuwendung zur gleichgeschlechtlichen Geselligkeit 
und Gesellschaft. Schon ans den mitgeteilten Beispielen ergibt sich, 
daß besonders die Partialtriebe der Verdrängung verfallen. Nicht 
immer aber ist der Ausgang der Verdrängung der Partialtriebe die 
Sublimierung, sondern die aus ihnen stammende Energie kann in das 
neurotische oder psychotische Symptom gewandelt werden. Treten 
sie unverdrängt in Erscheinung, so haben wir das Bild der Perversion 
vor uns. 

Doch sparen wir die Darstellung der Genese der Neurose und 
Perversion auf den nächsten Abschnitt und fügen wir der analytischen 
Trieblehre einige allgemeine Bemerkungen hinzu. Der Triebbegriff der 
Analyse ist ein naturwissenschaftlicher. Mit dem Ausdrucke der Libido 
wird nicht nur Psychisches, sondern auch biologisches Geschehen be- 
zeichnet, biologisches Geschehen, das zu den hormonalen Stoffwechsel- 
vorgängen im Organismus die engste Zugehörigkeit hat. Der Trieb- 
haftigkeit wird dementsprechend eine formbildende Kraft zugeschrieben 
und Freud hat in seinen letzten Arbeiten biologische Probleme unter 
analytischem Gesichtspunkt betrachtet. Ich glaube, daß die analytische 
Betrachtungsweise geeignet ist, uns tiefer in das Verständnis biologischen 
Geschehens einzuführen. Ferenczi hat bereits diese Betrachtungs- 
weise der Biologie nutzbar zu machen gesucht. Im einzelnen anfecht- 
bar, ist dieser Ver-uch grundsätzlich zweifellos berechtigt. Die psycho- 
analytische Trieblehre beruht auf einer kausalen Betrachtungsweise. 
Das Erlebnis A. ist Ursache des Erlebnisses BB Der einfühlbare Zu- 
sammenhang ist für die Analyse gleichzeitig auch ein kausaler Zu- 
sammenhang. Die Psychoanalyse will demnach durchaus naturwissen- 
schaftlich gewertet werden und sie ist auch naturwissenschaftliche 
Psychologie. Sie beschäftigt sich nicht mit der Kategorie des Zweckes, 
sondern mit der Kategorie der Kausalität. Wenn sie etwa von einer 
Flucht in die Krankheit spricht, so betrachtet sie dieses zweckhafte 
Tun doch nur als kausale Folge. Der triebhafte Wunsch, dieser oder 
jener Schwierigkeit zu entgehen, das Erlebnis A. hat das Krankheits- 
symptom B. hervorgerufen. Die Psychoanalyse gewinnt so die Möglich- 
keit zu verstehen, daß der Alkohol als hinzutretende somatische Be- 
dingung diesen kausalen Ablauf entweder erleichtern, auslösen, oder 
erschweren, verhindern kann. Ich selbst bin der Ansicht, daß natur- 
wissenschaftliche Psychologie nur einen Ausschnitt aus dem (iesamt- 


216 Paul Schilder: 


geschehen des Seelischen gibt. Die Phänomene der Zweckhaftigkeit, die 
Einheit des Ichs entziehen sich ihr. Naturwissenschaftliche Psychologie 
ist keineswegs zu verwechseln mit Seelenkunde überhaupt, aber das 
ist ebensowenig ein Einwand, wie es ein Einwand gegen die Biologie 
ist, wenn sie nicht Philosophie treibt und gegen die Physik, daß sie 
nicht gleichzeitig Erkenntnistheorie ist. Freud selbst hat sich über 
dieses methodische Problem nicht mit Entschiedenheit geäußert, aber 
er hat sich mit Recht gegen die Versuche Adlers und Jungs ge- 
wendet, den Boden naturwissenschaftlicher Psychologie zugunsten einer 
teleologischen Betrachtungsweise vorzeitig zu verlassen. Nur in einen, 
allerdings nicht unwichtigen Punkte weiche ich von der analytischen 
Trieblehre ab. Freud betont immer wieder das Streben nach Lust, 
während doch wohl das Streben stets nur nach dem lustbringenden 
Gegenstand sich richtet. Mit diesem scheinbar formalen Unterschiede 
hängt es zusammen, daß Freud immer wieder das Regressive im Trieb- 
leben betont, den Versuch nach Ruhe, nach Befriedigung, während 
ihm das Vorwärtsstrebende, das Maßlose, sich an den Gegenständen 
immer Neubereichernde der Triebhaftigkeit entgeht. 


Neurosenlehre. 


Die Sexualentwicklung geht nicht gleichmäßig vonstatten. Einzelne 
Punkte der Sexualentwicklung können konstitutionell verstärkt sein. 
so könnte etwa die orale Libido durch konstitutionelle Momente 
besonders verstärkt sein, ebenso die anale. In andern Fällen wird 
der Schautrieb durch konstitutionelle Momente eine Verstärkung er- 
fahren können. Grundsätzlich gilt für alle Partialtriebe das Gleiche. 
Wir sprechen in diesem Sinne von Fixierungsstellen innerhalb der 
libidinösen Entwicklung. Eine solche Fixierungsstelle muß aber nicht 
konstitutionell gegeben sein. sie kann sich auch im Gefolge bestimmter 
Erlebnisse einstellen, so könnte Masochismus durch Prügeln geweckt 
werden. Fixierungsstellen sind also entweder durch konstitutionelle 
oder durch individuelle psychische Momente gegeben. 

Die Fixierung kann an jeder Stelle der Entwicklung auftreten. 
Wir haben durch Untersuchungen der letzten Jahre, besonders in be- 
zug auf die Homosexualität, gelernt, daß die fixierenden Erlebnisse ihre 
Bedeutung erst innerhalb des Ödipuskomplexes haben, daß erst die 
Verknüpfung mit den Einstellungen des Ödipuskomplexes das charakte- 
ristische Gepräge gibt. Wir fassen dementsprechend auch die Per- 
versionen nicht mehr als direkte Abkömmlinge persistenter Partial- 
triebe auf, sondern als das Resultat kindlicher Neurosen, sie können 
dementsprechend auch nicht als getreues Abbild eines Partialtriebes 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 217 


gelten. Auch in jenen Fällen, in welchen der konstitutionelle Anteil 
an der Fixierung überwiegt, äußert sich diese Konstitution in den 
konkreten Erlebnissen, welche sich im Rahmen des Ödipuskomplexes 
manifestieren. Bekanntlich tritt die eine Gruppe der Perversionen im 
frühen Jugendalter in Erscheinung und bleibt dann das ganze Leben 
hindurch bestehen. In anderen Fällen geht die Entwicklung schein- 
bar ungestört ihren Weg weiter, nur bleibt eine schwache Stelle im 
libidinösen Gefüge zurück. Treten dann im späteren sexuellen Leben 
Schwierigkeiten auf, sei es nun, daß die Libidoquantität zu groß wird, 
als daß sie abgeführt werden kann, sei es, daß eine Liebesenttäuschung 
eingetreten ist, so flutet die unverwendbare Libide zurück und bricht 
an der Fixierungsstelle durch, wobei sie jene Erlebnisse wieder ver- 
lebendigt, in welcher die Fixierung zum Ausdruck gekommen ist. 
Immer ist dieser Punkt mit aller Entschiedenheit zu unterstreichen: 
Fixierung und Sexualkonstitution sind für die Psychoanalyse immer 
nur in konkret aufzeigbaren Erlebnissen gegeben. Wir haben die 
Pflicht, wenn wir von Konstitution und Fixierung sprechen, die Er- 
lebnisse zu zeigen, in welchen sie zum Ausdruck kommen. Homo- 
sexuelle Kindheitserlebnisse werden z. B. erst dann wirksam, wenn durch 
Geschlechtskrankheit eine heterosexuelle Enttäuschung gesetzt wurde. 
Die rückgestaute Libido bricht also dann an der Fixierungsstelle durch, 
belebt das frühinfantile Erlebnis und es kommt dann zur Entstehung 
der Perversion. 

Sträubt sich aber das Idealich dagegen, die perverse Ideenrichtung 
und Betätigung anzunehmen, so kommt es neuerdings zur Verdrängung 
und zu jenen Umsetzungen, welche wir in dem Kapitel Verdrängung 
erörtert haben. In diesem Sinne ist der Satz von Freud zu ver- 
stehen, daß die Neurose das Negativ der Perversion sei. Die Haupt- 
quelle der Symptombildung bei der Neurose sind demnach die ver- 
drängten Partialtriebe, wenn auch nicht in Abrede gestellt werden 
kann, daß auch verdrängte Heterosexualität einen Beitrag zur Symptom- 
bildung der Neurose liefern kann. Die einzelnen Neurosen haben 
verschiedene Fixierungsstellen. 

Wir haben die Neurosen zu trennen je nach der Fixierungsstelle 
und es zeigt sich auch, daß mit der Verschiedenheit der Fixierungs- 
stellen auch eine Verschiedenheit der Mechanismen einhergeht. Bevor 
wir diesen Dingen näher nachgehen, sei kurz erwähnt, daß wir die 
Aktualneurosen von den großen Neurosen trennen. Aktualneurosen 
sind solche, bei welchen eine Schädigung auf sexuellem Gebiete, wie 
etwa ungenügende Befriedigung durch Coitus interruptus unter Mitwirkung 
verdrängender Faktoren zu neurotischen Syptomen führt. Das Prototyp- 


918 Paul Schilder: 


dieser Neurosengruppe ist die Angstneurose, welche bei Abstellung der 
sexuellen Schädlichkeit zur Ausheilung zu kommen pflegt. Freilich. 
hält die Schädlichkeit längere Zeit an, so wird die nicht abgeführte 
sexuelle Libido immer weiter zurückgestaut und es kommt zur Angst- 
hysterie. Denn wie erwähnt, die großen Neurosen sind durch die 
Fixierungsstellen im Frühkindesalter gekennzeichnet. Die Zwangs- 
neurose hat ihre Fixierungsstelle in einer früheren Stufe der Sexual- 
entwicklung. Es ist die sadistisch-anal-homosexuelle Stufe. Haß- 
regungen treten beim Zwangsneurotiker in Erscheinung, häufig über- 
kompensiert durch eine verstärkte Zärtlichkeit. An und für sich ist die 
Erotik nach dem Ausdrucke Bleulers ambivalent, die Liebesregung 
schließt Tendenzen ein, welche vom Liebesobjekt wegdrängen, ja zum 
Hasse gegen es führen. Beim Zwangsneurotiker ist der Ambivalenz- 
konflikt konstitutionell oder durch Erlebnisse oder durch beides ver- 
stärkt. Freud führt die Unentschlossenheit und Willenlosigkeit des 
Zwangsneurotikers auf die Verschärfung des Ambivalenzkonfliktes zu- 
rück, die Unentschiedenheit im sexuellen sei maßgebend für die Un- 
entschlossenheit überhaupt. Die Beschmutzungsfurcht des Neurotikers 
leitet sich von einer starken Freude am analen ab, welche verdrängt 
wurde Aus der gleichen Quelle stammt die Ordnungsliebe, der 
Zwang zur Reinlichkeit, die hesondere Nettigkeit. Eine Reihe von 
Zwangsneurotikern sind dem Aberglauben besonders unterworfen. Sie 
glauben an eine Allmacht der Gedanken. Ein Glauben, welcher darauf 
hinweist, daß bei der Zwangsneurose die Regression, das Rückströmen 
der Libido noch zu früherer Entwicklungsstufe 'erfolgt, welche im Be- 
reich des Narzißmus liegt. Über diese, welche für das Verständnis 
der Psychosen von Belang sind, wird später noch ausführlicher zu 
sprechen sein. Die Zwangsneurose hat einen bestimmten Mechanismus. 
Das triebhaft Erstrebte erscheint in der Form eines Zwangsgedankens 
oder Zwangsimpulses. Ursprünglicher ist der Zwangsimpuls. Impulse, 
die sich triebhaft immer wieder aufdrängen, sich nicht abweisen lassen, 
werden hierdurch zu Zwangsimpulsen. Das Idealich, welches den 
Impuls verhindert sich durchzusetzen, kann auch gleichzeitig dessen 
inhaltliche Entstellung bewirken. So kann der Wunsch die geliebte 
Person zu erstechen, in dem Zwangsimpuls zum Ausdruck kommen. 
die Person mit einem Stock zu stoßen. Eine weitere formale Be- 
arbeitung macht den Zwangsimpuls zum Zwangsgedanken. Dann kann 
der oben angeführte Wunsch neurotisch entstellt lauten, ich muß 
immer daran denken, daß jene Person durch ein Holz oder ein Messer 
verletzt werden könne. Bei der Hysterie liegen die Fixierungsstellen 
auf einer höheren Stufe der Sexualentwicklung. Eine dieser Fixierungs- 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 219 


stellen liegt, wie wir erwähnt haben, im Übergang von der Clitoris- 
sensibilität zur vaginalen Sensibilität. Die Hauptfixierungsstellen sind aller- 
dings wiederum in der Hochblüte der frühkindlichen Sexualität zwischen 
dem 3. und 5. Lebensjahr zu suchen. Während aber die Beziehung zu 
den Liebesobjekten in der Fixierungszeit der Zwangsneurose noch un- 
genügender sind, ist der Ödipuskomplex bei der Hysterie voll entwickelt. 
Im allgemeinen kann man sagen, daß überstarken Sexualerregungen 
überstarke Verdrängungen entgegenstehen. Der Hauptmechanismus der 
Hysterie liegt in der Konversion. Man darf nicht vergessen, daß 
jedes körperliche Symptom der Hysterie auch eine umschriebene in- 
haltliche Bedeutung hat. So kann z.B. hysterisches Steifwerden eines 
Armes auf das männliche Glied hindeuten. Man darf natürlich nicht 
übersehen, daß die Hysterie neben der gekennzeichneten Hauptfixierungs- 
stelle wohl auch noch primitivere haben dürfte, so weist die hysterische 
Halluzination auf Fixierungsstellen im narzistischen Bereich hin, aller- 
dings überwiegt das Interesse am Liebesobjekt. 

Bei den sogenannten Organneurosen, körperlichen Erscheinungen, 
welche sich infolge von psychischen Erlebnissen einstellen, haben wir 
Mechanismen anzunehmen, welche den hysterischen ähneln. Hier 
tritt die Konversion am einzelnen Organ hervor. Nun ist das 
Konversionssymptom insofern ernst zu nehmen, als wir es in einer 
Reihe von Fällen sicher mit vasovegetativen Störungen zu tun haben, 
also körperlich greifbaren Abänderungen. Von hier aus ergibt sich 
die Frage, inwieweit durch die hier dargestellten psychischen Mecha- 
nismen ÖOrganerkrankungen anatomisch faßbaren Charakters hervor- 
gerufen werden können. Groddek, Jeliffe, Deutsch haben diese 
Fragestellung verfolgt. 

Während über die Psychoanalyse der Neurosen vieles bekannt ist 
und ein vorläufiger Abschluß erreicht erscheint, stellen die Psychosen 
ein dunkleres Gebiet dar. In der Schizophrenie haben wir die Fixierungs- 
stelle im narzistischen Bereich zu suchen. In diesem sind Körper 
und Welt nicht scharf voneinander geschieden. Die Zuordnung der 
einzelnen Elemente zu einem dieser Bereiche ist unsicher. Kennzeichen 
derartiger Unbestimmtheiten im Besitzstande des Subjekts und Objekts 
sind die Halluzinationen. Analytisch ausgedrückt: der Projektionsmecha- 
nismus tritt besonders leicht in Erscheinung. Wird die Welt auch aner- 
kannt, so sind magische, d.h. willensähnliche Kräfte, welche mit Sexualität 
durchtränkt sind, das Treibende. Idealiche höherer Entwicklungsstufen 
sind aufgelassen, primitivere treten neu hervor, ja bei einzelnen dieser 
‚Zustände scheinen Stufen erreicht, welche noch vor der Idealichbildurg 

Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 15 


220 Paul Schilder: 


liegen. Auch bei der Schizophrenie scheint der aktuelle Anlaß von 
Bedeutung zu sein, doch ist diese Bedeutung keineswegs so groß, wie 
bei den Neurosen. Auch kann die Fixierungsstelle im Bereich des 
Narzißmus nicht alle Erscheinungen der Schizophrenie klären. Die 
größte Schwierigkeit ist darin gelegen, daß wir keine bestimmten Er- 
lebnisse zeigen können, welche der Fixierung im narzistischen Bereiche- 
entsprechen. Trotz allem bietet — wie wir seit Jung und Bleuler 
wissen — keine andere Erkrankung so viele Möglichkeiten, sich von: 
der Richtigkeit der psychoanalytischen Grundanschauungen zu über- 
zeugen wie die Schizophrenie. Da Idealiche und Verdrängungen auf- 
gelassen sind, so taucht viel unverdrängtes Material auf, Perversionen. 
der Ödipuskomplex werden. greifbar deutlich. Ein tiefgehendes 
Symbolverständnis läßt den Kranken Symbole deuten, die den Gesunden 
nicht ohne weiteres verständlich sind. Diese Deutungen treffen in 
überraschender Weise mit denen der Psychoanalyse zusammen. 

So scheinen bei der Psychose die Ichtriebe, das um die Wahr- 
nehmung zentrierte Ich der Psychoanalyse, sowie die ldealiche viel 
schwerer gelitten zu haben als bei den Neurosen. In diesem Sinne 
spricht Freud davon, daß bei der Neurose der Kampf im wesentlichen 
stattfinde zwischen Wahrnehmungich und Idealich auf der einen Seite, 
den Triebstrebungen des Unbewußten, dem Es, auf der andern Seite. 
Bei der Schizophrenie liegt der Konflikt zwischen den Ichfaktoren und 
und der Außenwelt. So wird der Schizophrene zufolge des Abbaus 
der Idealiche der Außenwelt nicht mehr gerecht. Die Ichtriebe walten 
ungebündelt. Bei der Manie und bei der Melancholie liegt der Konflikt 
zwischen dem Ich und dem Überich. Es wurde ja bereits früher er- 
wähnt, daß das Idealich die Forderungen der Gesellschaft vermittels 
der Identifizierungen innerhalb der eigenen Persönlichkeit vertritt. 
Vom Idealich aus wird das Ich oft gequält, bestraft, es ist die moralische 
Forderung in uns, das Gewissen. In der Melancholie scheint nun der 
Konflikt zwischen dem Idealich (Überich) und dem Ich verschärft, ein 
Konflikt, der so weit geht, daß das Idealich „das Ich“ zum Tode ver- 
urteilt. In der Manie ist das Ich des Peinigers überdrüssig geworden; 
das Idealich ist in seiner alten Form beseitigt und das Individuum 
lebt, mit sich selber einverstanden, seine Begierde frei aus. Auch 
an organische Hirnprozesse kann man unter psychoanalytischen Ge- 
sichtspunkten herantreten. So hat Pötzl die aphasischen und agnosti- 
schen Störungen unter Zuhilfenahmen analytischer Gesichtspunkte zu 
klären versucht. Auf alle diese Dinge kann ich nicht näher eingehen, 
ich verweise in bezug auf die Psychoanalyse in der Psychiatrie auf 
mein jüngst erschienenes Buch. 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 991] 


Noch einige Worte zur Verteidigung der analytischen Trieb- und 
Neurosenlehre. Man hat gegen die Ausdehnung des Sexualitätsbegriffes 
Front gemacht, besonders gegen die Annahme der kindlichen Sexualität. 
Man hat bei dieser Polemik übersehen, daß „sexuell und genital“ in 
der Fassung der Psychoanalyse durchaus nicht dasselbe bedeuten. 
Wenn Freud das Kind als polymorph pervers bezeichnet, so meint 
er gewiß nicht, daß die Sexualregung des Kindes und des Perversen 
si.h völlig decke. Die grundsätzliche Zusammengehörigkeit muß allen 
Einwänden gegenüber festgehalten werden. Die Fülle der Verkleidungen 
der Sexualität ist durch die Psychoanalyse endgültig festgestellt. 
Sollte die Sexualität vielleicht selbst auch noch Verkleidung sein? 
Dies der Standpunkt Adlers. Dagegen spricht die Handgreiflichkeit 
des Erlebens. Den Machttrieb wegzuleugnen, dazu hat die Psycho- 
analyse keinen Grund, sie ordnet ihn ihren Betrachtungen über Ich- 
triebe und Idealich ein. Das Tatsachenmaterial der Psychoanalyse ist 
überwältigend groß. Die Zweifler und Kritiker mögen sich die Mühe 
nehmen, die Dinge wirklich mit entsprechender Methodik zu unter- 
suchen. Die Bedeutung der frühkindlichen Erlebnisse für die Neu- 
rosen läßt jede ausführliche Krankengeschichte der Zwangsneurosen 
erkennen. Man erinnere sich in welch frühem Alter die Pervers- 
ionen in Erscheinung treten. Die Bedeutung des aktuellen Anlasses 
hat die Psychoanalyse niemals geleugnet, sie erachtet ihn sogar in 
einzelnen Neurosen ausschlaggebend. 


Man vergesse übrigens nicht, daß nach psychoanalytischer Lehre 
die Kindheitserlebnisse Indikatoren der Sexualkonstitution sind. In 
jener Szene, welche nach der neueren Ansicht Freuds für die Ge- 
staltung der Sexualität und der Neurose maßgebend ist. der Urszene, 
meldet sich auch die Sexualkonstitution. 


Instanzen des Seelischen. 


Die Psychoanalyse ging von den Erfahrungen der Hypnose aus. 
Das in der Hypnose Erlebte ist aber dem Bewußtsein entzogen, gleich- 
wohl ist es psychisch. So kommt Freud zu der Annahme eines un- 
bewußten psychischen Erlebens. Nach ihm haben die hypnotischen Ex- 
perimente, insbesondere die posthypnotische Suggestion Existenz und 
Wirkungsweise des seelisch Unbewußten bereits vor der Zeit der 
Psychoanalyse sinnfällig demonstriert. Erst die Traumdeutung ermög- 
lichte ein tieferes Eindringen in das Problem des Unbewußten. Hinter 
den Bildern des Traumes, hinter dem manifesten Inhalt des Traumes 
stehen verdrängte Triebregungen, verdrängte Erlebnisse, verdrängte 

15” 


229 Paul Schilder‘ 

Wünsche, der latente Traumgedanke, Traumwunsch. Dieser wird in 
der entsprechenden Entstellung als erfüllt dargestellt, nur in bezug 
auf den latenten 'Traumgedanken, nicht aber in bezug auf den mani- 
festen Inhalt kann der Traum als Wunscherfüllung gelten. 


Der ca. 25jährige Patient, der den hier mitgeteilten Traum träumt, ist von zu- 
hause entflohen, weil er dem väterlichen Geschäfte große Summen entzogen hat, um 
zu spekulieren. Er hat diese Summen eingebüßt. Er selbst führt seinen Leichtsinn 
auf eine ihn immer mehr beherrschende Homosexualität zurück, die ihn vergeßlich 
und willenlos mache Nach etwa einwüöchiger Behandlung träumt der Patient 
folgenden Traum: Eine weißgekleidete Frau steht auf seiner Brust. Sie ist groß, 
schlank, hat eın blasses Gesicht, das weiße Kleid ist bis zum Halse geschlossen. Es 
ist von den Strümpfen bis zum Halse aus einem Stück. Angst. Einfälle: (Weiß- 
gekleidete Frau ) Der Patient hat in seinem 7.—8. Lebensjahre eine schlanke Lehrerin ') 
gehabt. die es liebte, ihn von hinten her an den Ohren zu ziehen. Er hat dabei ein 
Gefühl wollüstiger Erregung gehabt. (Blaß.) Die Lehrerin war blaß. (Hochgeschlossene 
Blusen) Trug immer weiße hochgeschlossene Blusen. Weiße Haut erregt ihn sehr. 
Aus früheren und späteren Äußerungen des Patienten ist folgendes nachzuholen. Sein 
Rücken ist sexuell sehr erregbar. Es erregt ihn, wenn die Hand auf seinen bloßen 
Rücken gelegt wird. Erste Ejakulation mit 12 Jahren, als ihn ein Kamerad von 
hinten her gegen eine Bank drückte. Seit ihm eine Frau einmal beim Sexualverkehr 
den Finger in den After einführte, weiß er auch von der besonderen sexuellen Er- 
regbarkeit seines Afters. Er selbst hatte beim Verkehr mit Frauen größeren Genuß, 
wenn er das Glied in den Anus einführte. Auch der Anus von Männern ist ihm 
Sexualziel, ohne daß er die passive Rolle verschmähte. 


Die keusche Geschlossenheit des Kostüms der Frau, von der er träumt. führt 
zu Einfällen, welche charakteristische Züge des Sexuallebens des Patienten aufdecken. 
Erster Sexualverkehr mit 14 Jahren, von einer älteren Frau verführt. Die Behaarung 
des Genitales stieß ihn ab. Auch die Nässe des Genitales war ihm unangenehm, er 
hielt die Nässe für Urin und weiß trotz reichlichen Sexualverkehrs mit Frauen auch 
jetzt noch nicht, daß die Geschlechtsöffnung und der Urinausführungsgang der Frau 
getrennt sind. Das Genitale hat er vor seinem ersten Verkehr als unbehaart gedacht. 
wie er es als Kind bei kleinen (respielinnen gesehen hat. Noch früher hat er ge- 
dacht, das Genitale der Frau sei mit ihrem After identisch, dann, es liege dem After 
sehr nahe. Um diese Zeit auch Gleichsetzung des Spermas mit dem Urin. Er dachte, 
daß häufiges Urinieren das Rückenmark schwäche, welches er sich auch jetzt als die 
Stätte der Samenproduktion vorstellt. 

Eine Fülle von hypochondrischen Vorstellungen quält ihn, daß man, sei es durch 
Onanie. sei es durch homo- oder heterosexuellen Verkehr im Rückenmark geschwächt 
und geisteskrank werden könne. Zu der Schlankheit der weiblichen Figur des Traumes 
fällt ihm noch ein, daß ihm der weibliche Busen zuwider sei. Als Kind dachte er, 
daß dorther die Kinder kommen. Kleine Kinder kann er nicht leiden. Sie sind auch 
sọ weich, wie der Busen der Frau. 


') NB. Der Patient berichtet nicht etwa, daß die Figur des Traumes wie die 
Lehrerin ausgesehen habe, sondern die Lehrerin fällt ihm ein. 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 293 


Zur Vorgeschichte: Homosexueller Verkehr seit ca 1'/ Jahren, teils aktiv, teils 
passiv im anum. Schon früh war für ihn der Koitus von hinten und in os und anum 
mit der Frau genußreicher. Das weibliche Genitale war ihm zu weit, während der 
Onanie hatte er sein Genitale immer eng an die Leinwand gepreßt. 


Gehen wir nun zur Deutung des Traumes selbst über, zo zeigt 
sich zunächst, daß die Angst offenkundig abgelehnte Sexualerregung ist, 
welche sich an die Erinnerung an diese Frau knüpft. Die Stellung 
der Frau auf seiner Brust entspricht einesteils den physiologischen 
Angstmechanismen (Alptraum), anderesteils ist sie Negation der Rücken- 
und Aftererotik, denn der Patient hat den festen Willen zur normalen 
Sexualität zurückzukehren. Die weißgekleidete Gestalt ist einesteils 
eine Reminiszenz an eine wichtige erotische Begebenheit des Jugend- 
alters, anderesteils negiert die sonderbare Kleidung den Busen und den 
(seschlechtsteil der Frau. Daß der Träumer überhaupt träumte, ist in 
aktuellen Schwierigkeiten begründet, welche auch am Tage vor dem 
Traum ihn beschäftigten (Tagesrest.. Aber der Tagesrest verbindet 
sich mit unerledigten Sexualstrebungen, Sexualwünschen des Kindes- 
alters. Diese sind der eigentliche Motor des Traumes. Die Figur des 
Traumes verdichtet die Lehrerin mit seiner Abneigung gegen die 
Frau, ohne daß die Homosexualität sich unentstellt zu zeigen wagte. 
Vielleicht deutet die weiße Farbe des Kleides das Bedürfnis des 
Kranken nach sexueller Unschuld an. Der latente Trauminhalt ist 
die Sehnsucht, mit der Lehrerin vereint zu sein, im manifesten Traum- 
inhalt ist von der Wunscherfüllung nichts mehr erkennbar. 

Man sieht, der Traum verdichtet iu jedem cinzelnen Bild eine 
Fülle entgegenstehender Tendenzen. Das Material, das in einen 
Traum eingeht, beansprucht einen viel größeren Platz zur Darstellung 
als der Traum selbst. Widersprüche sind dabei ohne Belang, zeitliche 
Ordnungen werden dabei vernachlässigt. Die Bilder des Traumes 
werden als reale angesehen und sind den Trieben entsprechend ge- 
bildet. Freud bezeichnet diese Art der Tätigkeit als das System Ubw. 
und schreibt ihm folgende Eigentümlichkeiten zu: Widerspruchslosig- 
keit, Primärvorgang (Beweglichkeit der Besetzungen), Zeitlosigkeit und 
Ersetzung der äußeren Realität durch die innere. Oder breiter aus- 
geführt: Die Triebregungen des Unbewußten stehen nebeneinander 
und widersprechen einander nicht, es gibt in diesem Sinn keine Negation, 
keinen Zweifel, keinen Grad von Sicherheit. Durch den Prozeß der 
Verschiebung kann eine Vorstellung den ganzen Betrag ihrer Be- 

setzung an andere angeben, durch den der Verdichtung andere an sich 
ziehen. Die Vorgänge sind weder zeitlich geordnet, noch werden sie 
durch die verlaufende Zeit abgeändert. Die Einsicht in die Arbeitsweise 


224 Paul Schilder: 


des Systems Ubw., sie ist im ersten Absatz etwas genauer gekennzeichnet, 
ermöglicht uns erst das Verständnis des Traumes. Im allgemeinen 
haben wir uns die Entstehung eines Traumes in der Art und Weise 
vorzustellen, daß vom Tage her Unerledigtes zurückbleibt. Es wird 
bei Seite geschoben. Es gelangt aus dem Bewußten ins Vorbewußte, 
Vbw. Eine Entstellung ist mit diesem Beiseiteschieben nicht verbunden. 
Diejenigen Gedankengänge, welche vom aktuellen Tageserlebnis her das 
System Ubw. wachrufen, erhalten erst durch dieses die traumbildende 
Kraft. Es werden im allgemeinen in den Träumen Kindheitswünsche 
aktiviert. Kindheitswünsche wilden und verbotenen Charakters. Die 
Zensur läßt aber diese Kindheitswünsche nicht in unentstellter Form 
erscheinen und bewirkt deren Entstellung, welche gleichzeitig auch er- 
möglicht, daß eine Fülle von Triebregungen, eine Fülle von Kindheits- 
wünschen sich in wenigen Bildern verdichtet. Wir haben also eine 
Zensur zwischen dem Unbewußten und dem Vorbewußten anzunehmen 
und eine weitere Zensur, welche den Eintritt vorbewußten Materials 
ins Bewußtsein regelt. Man sieht aber sofort, daß die systematische 
Verdrängung der Hysterie, die Verdrängung der Hypnose im wesent- 
lichen nur dem System Vbw. zugehört. Freud selbst hat betont, daß 
nicht immer dann, wenn die Arbeitsweise des Systems Ubw.in Kraft trete 
auch die Bewußtseinsqualität fehlen müsse. Er gibt den Rat, man solle 
den Symptom Bewußtheit keine allzugroße Bedeutung beimessen. 
Ich selbst glaube allerdings, daß grundsätzlich alles Psychische 
die Qualität Bewußtheit habe, muß aber betonen, daß die Art, wie das 
Bewußte und das sogenannte Unbewußte psychisch gegeben ist, doch 
von einander verschieden ist. Man muß sich auch klar machen, daß 
Wert und Bedeutung der Freudschen Lehre, deren Wahrheitsgehalt, 
im wesentlichen unabhängig ist von der Frage, ob das im Ubw. und 
Vbw. befindliche Erleben eine Bewußtseinsqualität habe oder nicht. Es 
muß voll die große Entdeckung anerkannt werden, die Freud mit 
seinem System Ubw. gemacht hat. 

Im Traum findet also eine Wiedererweckung der Jugenderlebnisse 
statt, eine Regression in zeitlicher Hinsicht. Noch von einer anderen 
Regression spricht Freud, indem er betont, daß normalerweise die 
Erinnerungssysteme ihre Erregung in die Bewegung abführen. Im 
Traume ströme jedoch die Erregung der Erinnerungssysteme auf die 
Wahrnehmung zurück. Er spricht in dieser Hinsicht von einer 
topischen Regression. Wir müssen uns darüber klar sein, daß auch 
diese topische Regression im Traum letzten Endes eine Regression in 
zeitlicher Hinsicht darstellt, eine Regression zu einem Stadium. in 





Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 225 


welchen zwischen Erinnerung und Wahrnehmung nicht geschieden 
wird. 

Mit den Begriffen System Ubw. und Vbw. ist das Gerüst einer 
topischen Seelenlehre gegeben, wobei wir freilich über die organischen 
Korrelate dieser seelischen Lokalitäten nichts wissen. Freud erhebt 
aus diesem Grunde mit Recht die Forderung, daß es nicht genügt, die 
Dynamik eines Seelenvorganges zu erfassen, sondern daß gleichzeitig 
auch die Topik berücksichtigt werden müßte. 

Bevor wir diese Erörterung weiter fortsetzen, sei der wichtigen 
Erkenntnis gedacht, daß der Kern des Unbewußten aus Infantil- 
wünschen bestehe, der engen Beziehung, welche zwischen dem System 
Ubw. und den Infantilwünschen besteht. Die Verdrängung dieser 
beginnt mit der Latenzperiode des 5. Lebensjahres und mit ihnen ver- 
fallen die Erlebnisse vor dem 5. Lebenjahres der Verdrängung: die 
infantile Amnesie. 

Neben der topischen und dynamischen Betrachtungsweise kennt 
Freud auch noch die ökonomische. Er meint damit, daß der Organis- 
mus darnach strebe, ein gewisses Maß von Lust zu erringen, was nur 
dadurch möglich sei, daß die Reizmenge im Seelenapparat nicht zu 
sehr ansteige. Denn die Lust sei an die Verringerung und Herab- 
setzung der Reizgröße gebunden, während die Unlust mit einer Er- 
höhung der Reizmenge einhergehe. Eine wesentliche Bedeutung hat 
die ökonomische Betrachtungsweise in der Psychoanalyse bisher noch 
nicht erlangt. 

Das Bild, das die Psychoanalyse vom Gesamtseelischen gibt, muß 
durch die genaue Beschreibung der Verhältnisse im Ich (im Sinne der 
Psychoanalyse) ergänzt werden. Freud betont jetzt, daß auch das Idealich 
Anteile habe, welche verdrängt seien. Auch das Idealich gehört mit 
wesentlichen Anteilen dem großen System der Triebhaftigkeit, dem Es 
zu. Unbewußte Schuldgefühle, und diese hängen ja von der Tätig- 
keit des Idealichs ab, spielen in den Neurosen und bei gewissen Ver- 
brechen eine bedeutsame Rolle. Von der Bildung des Idealichs, von 
seiner Beziehung zum Ich, wurde ja schon vorher berichtet. Damit 
hätten wir in großen Strichen die Lehre der Psychoanalyse dar- 


gestellt. 


Die Technik der Psychoanalyse, die angewandte Psychoanalye. 

Die Technik der Psychoanalyse leitet sich zwingend aus der 
analytischen Theorie ab. Zweck der Analyse ist es, Verdrängungen zu 
beheben, durch die Belebung der Verdrängungen das Verdrängte frei 


226 Paul Schilder: 
zu machen und damit dem Einfluß der Gesantpersönlichkeit wieder 
zugänglich zu machen. Wenn eine Verdrängung aufgehoben ist, dann 
hat das Individuum seinem Trieb gegenüber neuerlich die Wahl, es 
steht neuerlich am Kreuzweg, es kann, aber es muß nicht den Weg 
zur Gesundheit einschlagen. Hier liegt eine Grenze der psycho- 
analytischen Therapie. Die Verdrängung geht aus vom Idealich 
mit seinen logischen Anpassungen. Logisch denken heißt, sich der 
Forderung der Umgebung anpassen. All das, was den Zwang der 
Umgebung lockert, wird das Ichideal schwächen, die Tendenz des 
Verdrängten durchbrechen. Unaufmerksamkeit, Zerstreutheit wird 
dementsprechend solche Durchbrüche des Verdrängten begünstigen. 
Im Versprechen, in den kleinen Fehlhandlungen des Alltags erscheint 
Verdrängtes wieder. Auch der Traum schwächt die verdrängenden 
Kräfte, im Traum erscheint mehr von den verdrängten Wünschen. 
Das wesentliche Mittel der Psychoanalyse, um die Verdrängung zu bc- 
heben, ist, den Patienten zum freien Einfall zu bringen, er muß lernen 
sich von dem Zwange des logischen Denkens frei zu machen und ohne 
Rücksicht auf Wichtigkeit oder Anstößigkeit all das zu berichten, was 
ihm durch den Kopf geht. Dabei wäre es falsch, wenn man den Sinn 
eines Traumes erkennen will, die Einfälle zu dem Traum als Ganzes 
abzuverlangen, vielmehr muß der Traum ohne Rücksicht auf seinen 
manifesten Zusammenhang in seine Stücke zerlegt werden und zu 
jedem einzelnen von diesen müssen die Einfälle abverlangt werden. 
Die Begründung dieser Vorschrift liegt in dem, was oben über die 
Verdrängung gesagt wurde. Die Psychoanalyse hat ihre ursprüngliche 
Technik, die Hypnose, vollständig fallen gelassen, denn die Verdrängung 
der Hypnose ist gleich der systematischen Verdrängung und ist wohl 
im Stande, das System Vbw. aufzuhellen, aber nicht das System Ubw. 

Mittels dieser Technik beseitigen wir also Verdrängungen. Aber 
wir müssen scharf unterscheiden zwischen der intellektuellen Erkennt- 
nis eines Analysierten, daß dieser oder jener herausanalysierte Zusammen- 
hang riehtig sei und der erlebten Überzeugung, daß es so sein müsse. 
Diese Überzeugung erhält der Analysierte erst dann, wenn sich eine 
Übertragung auf den Analvsierenden eingestellt hat. 

Werden Verdrängungen aufgehoben, so stürzt sich die infantile 
Triebhaftigkeit auf das zunächst erreichbare Objekt, eben den Analytiker, 
auf ihn werden sämtliche Liebeseinstellungen des Analysierten über- 
tragen. All das, was aus der Verdrängung befreit wird, wird nicht 
nur erinnert, sondern auch am Analytiker erlebt. Wir sprechen hier 
von Übertragung und schen in der Übertragung die wichtigste Vor- 
bedingung für die Heilung. Sie ist bei den Neurosen gegeben, nicht 


Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 997 


oder in viel geringerem Maße bei den Psychosen. Freilich muß diese 
Übertragung auch wieder gelöst werden. Gerade an diesen aktuellen 
Erlebnissen wird dem Analysierten sein eigenes Fühlen klar, er kann 
sich vom Analytiker lösen und seine früher in den Irrsalen verdrängter, 
infantiler Erotik verfangene Libido ist nun frei gemacht und kann 
neuen Liebesobjekten zugewendet werden. Über den Wert und die 
Grenzen psychoanalytischer Behandlung kann ich hier nicht eingehender 
sprechen. Nur der allgemeine Hinweis, daß Neurosen, bei denen jede 
andere Behandlung fehlschlägt, durch Analyse geheilt werden können; 
daß nicht alle Neurosen psychoanalytisch geheilt werden können, ist 
selbstverständlich. 

Die Neurosentherapie ist nur eine der Anwendungsmöglichkeiten 
der Psychoanalyse. Ganz abgesehen davon, daß auch günstige Charakter- 
veränderungen durch Psychoanalyse erzielt werden können, bedeutet 
sie eine grundlegend neue Erkenntnis des seelischen Lebens. Gerade 
über die Psyche des Kindes hat sie überraschende neue Aufschlüsse 
gegeben, von hier aus könnte und müßte sich eine neue Pädagogik 
ergeben. Freilich ist Psychoanalyse keine normative Wissenschaft und 
es ist nicht ohne weiteres möglich, die Erkenntnisse der Psychoanalyse 
in praktische Folgerungen umzusetzen. Ihre nächste Aufgabe wird es 
wohl sein, die Psychologie des Erziehers besser zu ergründen (Bern- 
feld). Wir sind durch die Psychvanalyse hellhörig geworden. Wir 
haben gelernt Symbole zu deuten und Zusammenhänge zu verstehen. 
Freud hat ferner entdeckt, daß in jedem Menschen archaisches Gut 
wieder auflebt und daß wir von der Psychoanalyse her die Kulturen 
primitiverer Stufen erst verstehen können. Zwischen dem Denken der 
Primitiven, der Neurotiker, des Kindes, des Schizophrenen (Jung) er- 
gaben sich weitgehende Ähnlichkeiten. Die Totemmahlzeit der Primi- 
tiven erwies sich Freud als symbolischer Ausdruck des Ödipus- 
komplexes. Der getötete Vater wird verzehrt. Die Ambivalenz der 
Zwangsneurotiker fand sich wieder in den Tabuvorschriften, welche 
bei Primitiven das Geheiligte umgeben. Die sexuelle Symbolik der 
Primitiven ist identisch mit der des Traumes. Rank hat wertvolle 
Beiträge zur Psychologie der Mythenforschung gebracht und auch die 
Psychologie der Religion ist durch die Psychoanalyse durchsichtiger 
geworden. 

In „Massenpsychologie und Ichanalyse“ wendet Freud die Psycho- 
analyse auf die Soziologie an. Jeder einzelne in der Masse idendifiziert 
sich mit dem Führer, welcher Abbild des Vaters ist. Auch zwischen 
den Einzelnen der Masse finden Identifizierungen statt. Homosexuelle 
Triebkräfte erweisen sich als beteiligt an der Bildung der Masse 


228 Paul Schilder: Die Grundgedanken der Psychoanalyse. 


Freud hat niemals darüber einen Zweifel gelassen, daß er das Psychische 
als biologischen Faktor ansieht. Wenn wir durch die Psychoanalyse 
grundlegende neue Kenntnisse von dem Wesen des Psychischen er- 
rungen haben, dann kann diese Erkenntnis auch für die Biologie 
nicht wertlos sein. Freud selbst sucht mit Hilfe der Todestriebe, der 
libidinösen Strömungen, des Widerholungszwanges biologisches Ge- 
schehen zu deuten. Auch hier stehen wir an einem Anfang, aber ich 
glaube mit Ferenczi, daß es möglich sein muß, mit Hilfe der Psycho- 
analyse die organische Formbildung und Entwicklung tiefer zu 
durchleuchten. 


Die Psychoanalyse vom Standpunkt der Psychologie. 
Von i 
J. Lindworsky, Köln. 


Es kann sich bei diesen Darlegungen nur darum handeln, einige 
Kernpunkte der Psychoanalyse vom Standpunkt des Psychologen aus 
zu beleuchten, Sätze, mit denen die Ps.-A. steht und fält. Zwar sind 
heute die Psychologen noch nicht in dem Maße wie etwa die Physiker 
hinsichtlich des Grundrisses ihrer Wissenschaft einig. Es hätte auch 
nie die Ps.-A. jene Verbreitung gewinnen können, deren sie sich tat- 
sächlich erfreut, wenn sie eine Psychologie vorgefunden hätte, die ein 
einigermaßen abgeschlossenes und in den Grundzügen allgemein an- 
erkanntes Lehrgebäude hätte vorweisen können. Gewiß wir sind auch 
heute noch von der möglichen Einheit bedauerlich weit entfernt. 
Dennoch kann ich mich in den wesentlichsten Sätzen, die ich zur 
Kritik der Ps.-A. heranziehe, auf die Mehrheit der wirklich empirisch 
arbeitenden Psychologen berufen. Wie sich mir selbst die empirische 
Psychologie in den: Grundzügen darstellt, habe ich andernorts aus- 
gesprochen. !) 

Unter den „Grundpfeilern der psychoanalytischen Theorie“ nennt 
Freud in der wohl jüngsten Darstellung aus seiner Feder (Hand- 
wörterbuch der Sexualwissenschaft S. 381) die Annahme unbewußter 
seelischer Vorgänge. Darunter versteht er und seine Schule seelische 
Prozesse, die sich von den uns bekannten Bewußtseinserscheinungen 
nur dadurch unterscheiden, daß sie eben nicht bewußt sind. Es wird 
phantasiert, beurteilt, angestrebt, geplant im Unterbewußtsein, ohne 
daß wir dessen irgendwie gewahr würden. Diese überaus kühne Hypothese 
lehnt die empirisch arbeitende Seelenlehre rundweg ab, und zwar aus 
methodischen Gründen: Ein unbewußter Seelenvorgang der beschriebenen 


— mn m . — 


t) Umrißskizze zu einer theoretischen Psychologie 2. Aufl. Leipzig 1923. 


230 J. Lindworsky: 


Art kann ja nicht in sich selbst erfaßt und beobachtet werden. Wer 
ihn behauptet, stützt seine Behauptung nur mit der weiteren: ohne 
Ansetzung unbewußter Seelentätigkeiten ließen sich die beobachteten 
Tatsachen nicht verständlich machen. In der Tat sah sich die Psychologie 
vor einige Tatsachen gestellt, die sie mit ihren anfänglichen Mitteln 
nicht bewältigen konnte. Dazu rechne ich nicht die Erinnerungs- 
vorgänge. Um sie zu erklären, brauchte es entweder physiologische 
Spuren, die zentral erregt, die gleichen Bewußtseinsinhalte lieferten wie 
bei der Wahrnehmung. Wer aber mit solchen physiologischen Spuren 
nicht auskam, nahm ein rein seelisches Gedächtnis an, das die Ein- 
drücke aufbewahrte. Gewiß hatte man hier einen Zustand der Seele, 
der die meiste Zeit unbewußt blieb, aber ein solch ruhender Gedächtnis- 
besitz ist nicht zu vergleichen mit den seelischen Tätigkeiten, die ihrer 
Art nach den bewußten gleich, doch dem Erlebenden unfaßbar bleiben 
sollten. — Es sind vielmehr zwei andere Tatsachen, die den Anschein 
erweckten, es sei ein Unterbewußtes geistig tätig: die Pausenwirkung 
und die schöpferische Produktion. 

Manche Leistungen, insbesondere motorischer Art, verlieren nichts 
an ihrer Vollendung, wenn in die übende Tätigkeit Pausen eingelegt 
werden. Im Gegenteil, nach solchen Pausen gelingen sie weit leichter 
und vollkommener als vor der Pause. Es scheint, als habe das Un- 
bewußte inzwischen weiter geübt. Indes erklären sich die Pausen- 
wirkungen höchst einfach auf physiologischen Wege. Wenn wir nämlich 
einen frisch eingeprägten Text aufsagen oder eine angelernte Be- 
wegung wiederholen, so gehen auch von den Spuren der Neben- 
erlebnisse, die wir beim Lernen hatten, Reproduktionstendenzen aus, 
die notwendig die Haupthandlung hemmen. Weil jedoch die Neben- 
erlebnisse mit weit geringerer Aufmerksamkeit bedacht wurden als das 
absichtlich Eingeprägte, darum sind auch die von ihnen bleibenden 
Dispositionen schwächer als die Spuren des Hauptinhaltes. Tritt nun 
eine Pause ein, so sinken jene Nebendispositionen sehr viel rascher 
ab als die Hauptdispositionen und können nach der Pause kaum mehr 
wieder erregt werden. Somit bleiben nur die der Hauptleistung 
dienenden Spuren übrig und bewirken einen glatten und leichten 
Ablauf der zu reproduzierenden Inhalte bezw. der zu erneuernden 
Bewegung. 

Nicht so bald wie die Pausenwirkung konnte die schöpferische 
Produktion ihre experimentell psychologische Erklärung finden. Wir 
denken da an Tatsachen, wie sie aus dem Leben großer Forscher bis- 
weilen berichtet werden. Der Forscher hat lange vergebens nach 
einer Lösung gesucht. Da eines Morgens bald nach dem Erwachen 


Die Psychoanalyse vom Standpunkt der Psychologie. 23] 


steht die fertige Lösung vor ihm. Keine Zwischenstufen lassen sich 
angeben, die von der hoffnungslosen Problemlage seiner letzten Be- 
mühungen zur blitzartig aufleuchtenden Lösung führen. Und doch 
muß das Auftreten der Lösung seinen Grund haben: im Bewußtsein 
ist er nicht zu entdecken, also muß das Unbewußte inzwischen weiter- 
gearbeitet haben. 


Jedoch die neueren Denkforschungen haben gerade von solchen 
geheimnisvollen Erlebnissen den Schleier gezugen. Das Hauptverdienst 
daran darf sich Otto Selz zuschreiben.') Er hat die von G. E. Müller 
schon grundgelegte Komplexforschung fortgeführt und ihre Anwendung 
auf die Denkpsychologie gelehrt. Wir wissen nun, daß sich nicht 
nur elementare Inhalte, z. B. zwei Silben oder Wörter miteinander 
assoziieren, sondern ganze Sinnkonplexe. So bildet eine Frage und 
eine Antwort je einen sinnhaltigen Komplex. Beide verknüpfen sich 
miteinander, doch nicht so, daß ein Wort aus dem ersten sich mit 
einem aus dem zweiten assoziierte, sondern der ganze Komplex der 
Frage ist mit dem ganzen der Antwort assoziiert. Und weiter: wird 
der erste Komplex geboten, so besteht die Tendenz, den zweiten herbei- 
zuführen, und zwar kann dieser zweite Komplex mit einem Schlage 
als ganzer ins Bewußtsein gerufen werden. Wie man sich die Assoziation 
der sinnhaltigen Komplexe physiologisch vorstellen, und wie aus der 
physiologischen Disposition naturnotwendig die Tendenz folgt, daß 
der zweite Komplex nicht nur stückweise, sondern unter Umständen 
mit einem Schlage und ganz unvermittelt aufsteigt, das habe ich 
in einer Besprechung des Selzschen Buches gezeigt.?!) Damit ist die 
grundsätzliche Erklärung wenigstens eines Teiles solcher blitzartiger 
Lösungen geboten. Denn: Die Problemstellung, mit welcher der 
Forscher seit Tagen beschäftigt ist, oder die Aufgabe, die er mit sich 
herumträgt, ist ein solcher sinnhaltiger Komplex wie die Frage, von 
der soeben die Rede war. Sie lautet schematisch etwa: ein Mittel, 
das geeignet ist, diese und jene Folgen zu bewirken. Nehmen wir 
an, dem Forscher zei früher tatsächlich ein solches Mittel bekannt ge- 
worden, nur in einem ganz anderen Zusammenhang, so bildet die 
Vorstellung jenes Mittels und seiner Eigenschaften einen zweiten 
Komplex, der mit dem des ersten Komplexes, dem des Problems, ge- 
meinsame Teile hat, somit assoziiert ist. A priori muß darum der 
Problemkomplex den Lösungskomplex wecken. Weil nun der Forscher 


') O. Selz, Die Gesetze des geordneten Denkverläufs, 1913 und: Zur Psychologie 
des produktiven Denkens, 1922. 
?) Zeitschrift für Psychologie I, 42, S. 365 ff. 


232 J. Lindworsky: 


stets in einer andern Richtung suchte, war die richtige Komplex- 
ergänzung gehemmt, aber angeregt war sie schon die ganze Zeit. Da 
zerstreut sich der Grübelnde durch einen Ausflug oder durch einen 
gesunden Schlaf. Die Reproduktionstendenzen, die bisher in falsche 
Bahnen führten, treten dadurch zurück, und mit einem Male bietet 
sich der wirklich brauchbare Komplex als Ganzes an, vielleicht sogar 
in anschaulichen Worten oder Bildern, wie eine Eingebung eines 
fremden Geistes. 


Hat jedoch der Forscher ein solches Mittel noch nie kennen ge- 
lernt oder kommt es ihm wenigstens jetzt, trotz der Anregung durch 
den Komplex der Frage, nicht ins Bewußtsein, so kann es mehr zu- 
fällig zur plötzlichen Lösung kommen: sei es durch die äußere Wahr- 
nehmung, sei es durch eine anderweitig herbeigeführte Erinnerung 
wird das fragliche Mittel bewußt und durch einen besonderen Akt 
der Beziehungserfassung wird es dann als das längst Gesuchte er- 
kannt. Solche Erkenntnisse kommen der Natur der Sache nach ziem- 
lich mon:entan; ja sie können eintreten, noch bevor sich die Erinnerung 
vollkommen entfaltet hat. Auch in diesem Falle hat es den Anschein, 
ein anderer oder das Unbewußte habe die Lösung erarbeitet. ') 

Weniger Schwierigkeiten bieten andere Erscheinungen, die wir 
in diesen Ausführungen noch streifen werden. Es liegt somit für 
einen besonnenen Psychologen kein Grund vor, unbewußte Seelen- 
vorgänge nach Art der bewußten anzunehmen. Ein solcher Verstoß 
gegen die wissenschaft iche Methodik ist um so strenger zu meiden, 
als man aus dem einmal angenommenen Unbewußten alles erklären 
kann, was man will. Wer kann das Gegenteil beweisen, wer kann 
solche Beweisführung noch kontrollieren ? 


Ein weiterer Grundpfeiler ist nach Freud die Lehre von der 
Verdrängung. Sollte damit nur behauptet werden, daß unser Be- 
wußtsein sich im allgemeinen der unliebsamen Erinnerungen nach 
Möglichkeit entledigt, so würde der Psychologe beipflichten. Wenigstens 
für den nicht zum Pessimismus neigenden Erwachsenen gilt der Satz, 
daß die lustbetonten Erinnerungen bezw. die Erinnerung an Lust- 
betontes günstiger gestellt ist als die an Unlustvolles.2) Doch hat man 
unlustvolle Erlebnisse, die für uns von Bedeutung waren, von diesem 
Gesetze auszunehmen. Die Erklärung dieser statistisch leicht erweis- 

1) \gl. Lindworsky, Das schlußfolgernde Denken. 1916, S. 359 f. — Selz, 
Zur Psychologe des produktiven Denkens. 1922, N. 525 ff. 

?) Vgl. W. Peters, Gefühl und Erinnerung. — Kraepelins Psychologische 
Arbeiten VI. 1911. 


Die Psychoanalyse vom Standpunkt der Psychologie. 233 


baren Gesetzmäßigkeit liegt wohl darin, daß unser durchschnittliches 
und normales Streben auf das unmittelbar Lustbetonte geht. Sind 
wir aber auf dieses gerichtet, so ist die Reproduktion eines Erlebnisxes 
von abweichender Gefühlsbetonung ohnedies erschwert. Weiter: bei 
aufsteigenden Erinnerungen eilt in der Regel der Gefühlston voraus, 
bezw. wird rascher klar bewußt als die ihn bedingende Vorstellung. 
Damit sind wir in der Lage, uns von der auftauchenden unlustvollen 
Erinnerung abzuwenden, noch bevor sie völlig reproduziert ist, während 
wir die lustvolle durch Zuwendung der Aufmerksamkeit begünstigen. 
Der Enderfolg wird dann der sein, daß die unlustvollen Erinnerungen 
im Durchschnitt hinter den lustvollen zurückstehen. 

Die Verdrängung der Psychoanalyse ist jedoch eine ganz andere. 
„Die Neurosen sind der Ausdruck von Konflikten zwischen dem Ich 
und solchen Sexualstrebungen, die dem Ich als unerträglich mit seiner 
Integrität oder seinen ethischen Ansprüchen erscheinen. Das Ich hat 
diese nicht ichgerechten Strebungen verdrängt, d. h. ihnen sein Interesse 
entzogen und sie vom Bewußtwerden wie von der motorischen Ab- 
fuhr zur Befriedigung abgesperrt.“ (Freud.) Eine Verdrängung dieser 
Art ist der nichtfreudianischen Psychologie beim Normalen unbekannt. 
Der Normale hat für den Augenblick wie auf die Dauer nur das eine 
Mittel zur Verdrängung: sich ein anderes Objekt seines Vorstellens 
und Denkens zu wählen und im übrigen auf die Wirksamkeit der von 
uns soeben besprochenen Tendenz zur Begünstigung der lustvollen 
Erinnerungen zu vertrauen.!) Jedes willkürliche Bemühen würde das 
Gegenteil, ein stets erneutes Denken an das Unliebsame bewirken. Ein 
unwillkürliches Sichabspalten jedoch und darum auch ein Aus- 
geschlossensein von der Erinnerung hat die Psychopathologie schon 
lange vor Freud gekannt. Lassen wir die Organempfindungen eines 
Menschen sich mehr oder minder plötzlich ändern, geben wir ihm auch 
neue Eindrücke, Gedanken und Vorstellungen, so wird es ihm un- 
möglich sein, sich an seine Vergangenheit zu erinnern, weil die neuen 
Empfindungen und Gedanken mit den Vorstellungen seines früheren 
Lebens nicht assoziiert sind, und zwar wird das Unvermögen sich an 
die Vergangenheit zu erinnern um so größer sein, je größer die Menge 
der plötzlich neu auftretenden Empfindungen bezw. Bewußtseinsinhalte 
ist.2) Nur im uneigentlichen Sinne läßt sich hier von einer Ver- 
drängung sprechen. Der Patient verdrängt nicht, er wird nur unfähig 
zur Wiedererinnerung. Ich sage „der Patient“; denn soweit mir be- 

1) Vgl. Lindworsky. Der Wille * 1923, S. 40 ff. und S. 146. 
2) Fröbes, Lehrbuch der exp. Psychologie ?II, S. 51 ff., 1922. 


234 J. Lindworsky: 


kannt ist, kommen derartige plötzliche Umwandlungen der Körper- 
gefühle nur bei Krankheit oder bei Unglücksfällen wie Eisenbahn- 
zusammenstößen, also bei Verletzungen oder wenigstens starker körper- 
licher Erschütterung vor. Der Gedächtnisabspaltung liegt somit eine 
krankmachende Bedingung zugrunde, diese Amnesie ist nur die Folge 
eines zuvor eingetretenen krankhaften bezw. anormalen Zustandes. 
Der Amnestische ist nicht krank infolge seiner Amnesie, sondern 
amnestisch infolge seiner Krankheit.!) Sollte jedoch nicht auch ein 
rein seelisches Trauma eine Erinnerungsunfähigkeit bewirken können? 
Bei einem solchen drängen sich doch der Seele eine Fülle ganz neuer 
und hochbedeutsamer Vorstellungen auf, die gleichfalls mit den Be- 
wußtseinsinhalten des Vorlebens nicht assoziiert sind. Letzteres trifft 
zu, und für Augenblicke sind wir in solchen Fällen „ganz sprachlos“, 
„wissen nicht, wo wir sind, noch wie uns geschieht“. Allein es bleiben 
alle Organempfindungen dieselben; wesentlich neue werden nicht wach- 
gerufen. Darum stellt sich die Erinnerungsfähigkeit auch sehr bald 
wieder ein, wenn die ersten Affektwellen abgeebbt sind. — Der Psycho- 
loge muß darum auch den zweiten Grundpfeiler der Psychoanalyse 
für höchst brüchig erklären. 

„Die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge, die Anerkennung 
der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung, die Einschätzung 
.der Sexualität und des Ödipuskomplexes sind die Hauptinhalte der 
Psychoanalyse und die Grundlagen ihrer Theorie, und wer sie nicht 
‚alle gutzuheißen vermag, sollte sich nicht zu den Psychoanalytikern 
zählen“, schreibt Freud an der oben zitierten Stelle. Mit den un- 
bewußten Seelenvorgängen und mit der Verdrängung ist auch die 
. Lehre vom Widerstand heimatlos geworden. Denn dieser Wider- 
stand soll vom Unbewußten ausgehen und das Wiederbewußtwerden 
der verdrängten Erlebnisse, Affekte und Strebungen verhindern. Wir 
brauchen uns dieser Frage somit nicht zu widmen. Ob die Sexualität 
jene Rolle spielt, wie es Freud annimmt, kann der Theoretiker kaum 
entscheiden. Nur muß er sich dagegen verwahren, wenn Höchst- 
leistungen der Seele wie Kunst, Religion, über deren Vorbedingungen er 
Beiträge a priori und a posteriori beizubringen vermag, von einem zügellosen 
Dilettantismus mit mehr als fragwürdigen Beweisen aus der Sexualität 
abgeleitet werden. Auch vom Ödipuskomplex als einer irgendwie 
häufigen, geschweige denn gesetzmäßigen Erscheinung weiß der Psychologe 
‚auch heute noch so wenig wie vor Freuds Zeiten. War solcher Zu- 


1) Zu demselben Ergebnis gelangt der Wiener Neurologe Raimann in seiner 
‚sehr beachtenswerten Schrift „Zur Psychoanalyse“ 2. Aufl., 1922. 


Die Psychoanalyse vom Standpunkt der Psychologie. 235 


sammenhang doch selbst den Erfindern der Ödipussage unbekannt; denn 
Ödipus verlangte weder nach dem geschlechtlichen Umgang mit seiner 
Mutter, noch hielt er dies für ein irgendwie erstrebenswertes Ziel. 


So wäre unsere Stellung als theoretischer Psychologe zur Gesamt- 
lehre Freuds eine völlig ablehnende. Dabei brauchen wir nicht zu ver- 
kennen, daß die Psychoanalyse manchen Einzelfall aufgehellt und manche 
Anregung gegeben, und wenn auch kein gesetzmäßiges, so .doch vieler- 
lei kasuistisches Material beigebracht hat. Auf drei Dinge, wo sich dies 
bewahrheitet, möchten wir noch eingehen, da sie eine große Rolle 
spielen, ohne zu den Grundpfeilern zu gehören. 

An erster Stelle nennen wir die Freudsche Traumdeutung. 
Im Traum erkennt Freud „einen Widerstreit zweier Tendenzen, einer 
unbewußten, sonst verdrängten, die nach Befriedigung — Wunsch- 
erfüllung — strebt und einer, dem bewußten Ich angehörigen, ablehnenden 
und verdrängenden, und als Ergebnis dieses Konflikts eine Kompromiß- 
bildung — den Traum, das Symptom —, in welcher beide Tendenzen einen 
unvollkommenen Ausdruck gefunden haben.“ (S. 379.) Die Grundlagen 
dieser Traumtheorie haben wir schon zugleich mit den unbewußten 
psychischen Prozessen abgelehnt. Wir haben aber auch keinerlei Be- 
dürfnis nach einer solchen Theorie. Gelingt es uns doch die Traum- 
erscheinungen, wenigstens grundsätzlich als Phantasieprodukte unter den 
Bedingungen des Schlafes verständlich zu machen.!) Von diesem 
Standpunkt wird der Traum umso sinnvoller, je mehr der Schlaf sich 
dem Wachzustand nähert. Doch erklären wir es für eine ganz un- 
beweisbare Behauptung, daß jeder Traum sinnhaltig sei: es gibt ganz, 
teilweise und in keiner Weise sinnhaltige Träume, wenn wir unter 
„Sinn“ einen Gedankengang verstehen, den auch der Wachende haben 
könnte Darum kann der Traum auch eine Wunscherfüllung dar- 
stellen — jedermann kennt dafür Beispiele — aber er muß es nicht. 
Noch weniger ist die These haltbar, der Traum stelle stets die Er- 
füllung (kindlicher) Sexualwünsche dar. Wohl aber ist es richtig, daß 
der Traum zumal im tieferen Schlaf in die zeitlich zurückliegenderen 
Lebensabschnitte führt. Auch das ist richtig, daß der Traum häufig 
die individuellen Wertkomplexe, zumal sinnlicher Natur, offenbart. 
Endlich kann auch, wie wir sogleich sehen werden, eine Symbolbildung 
im Traum aufkommen. Allein der streng logisch und methodisch 
denkende Psychologe muß die Freudschen Verallgemeinerungen, daß 
jeder manifeste Trauminhalt nur eine Symbolisierung, und zwar eine 


: 





1) Vgl. Lindworsky, Experim. Psychologie 31923, S. 287 f. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Bd. 16 


254 J. Lindwor ` 


kannt ist, kommen derart- 


“m als unerwiesen ab- 
gefühle nur bei Krar' 


| je > Ö | i . « 
Te Er Hna „issen wir noch ein besonderes 
icher Erschütter u 
k i he d i „iwllos manches aufgedeckt, was 
trankmachende w | 


-i Indes auch hier müssen wir 


i 2 o 2% | k 
2 ne Fi A Sig mmgssucht, die allüberall ein Symbol 
er Amnes > g zu einer mystischen Erklärung aus 


amnestisch ki Br n. Wie kommt es denn zu sym- 
rem secl | ‚een Redewendungen? Nun, wenn man auf 
Bei ein: ae “hte, ohne das Kind beim Namen zu nennen. 
und he Ea a mich nachgewiesen, daß der Mutterboden 
wußt FR Er war: wird bei einem Volk das Aussprechen 
an z r pe 5 (Denen, Heiligen usw. verpönt, so greift es zur 
> a "die Sache, deren Namen verboten ist, ausgesprochen 


ari “pzu kommen gewiß noch andere Faktoren. So wirkt 
UT mi der Anregung des Augenblickes erfundene Metapher 
g m oder witzig und trägt ihrem Erfinder Lob ein. Er wird 
hent "ters absichtlich um solche Wendungen bemühen. Oder 

4 g” a aads Freude, daß die Metapher von einem Teil der 

n "standen wird, während die übrigen eine nicht allzu kluge 
por" zur Schau tragen. Der Weg von dieser Erfahrung zur Zote 
Mi "fensichtlich. Und so ist gerade auf dem sexuellen Gebiet die 
aphorische und symbolische Äußerung weit verbreitet und bestimmten 
yolks- und Berufsklassen in besonderer Weise eigen. Man hat also 

n dies zu erklären, nicht notwendig auf unbewußte Faktoren zurück- 
zugreifen. 

Vielleicht macht aber die augenblickliche Erfindung einer 
Metapher oder eines Symbols — oder sagen wir bezeichnender — das 
Sichdarbieten eines solchen im fließenden Gespräch, in wallender 
Phantasie oder gar im Traumzustand es notwendig, an unterbewußte 
Faktoren zu denken? Erst jüngst hat mein Schüler Th. Weiß?) ge- 
zeigt, wie der Prozeß der willkürlichen Vergleichsbildung verläuft. Von 
dem zu vergleichenden Gegenstand werden bestimmte Merkmale ins 
Auge gefaßt. Zu einem Komplex vereinigt, bilden sie das anti- 
zipierende Schema, das sich durch Komplexergänzung mit einem (meist 
konkreten) Inhalt füllt d. h. es wird nach einem andern Gegenstand 


YH H. Werner, Der Ursprung der Metapher, 1920. 


2) Th. Weiß, Fasie über willkürliche Vergleichsbildung. Archiv f. ges- 
Psych. Bd. 49, 1924. 


Die Psychoanalyse vom Standpunkt der Psychologie. 237 


gesucht, der auch diese Merkmale enthält, ohne jedoch nur ein 
Individuum derselben Spezies zu sein. Diese Methode der Vergleichs- 
bildung wird nun entweder in ganz bewußter Weise Schritt für Schrift 
eingeschlagen, oder die Abstraktion und Wiederausfüllung des Schemas 
macht sich scheinbar ganz von selbst: es braucht‘ nur eine Auf- 
merksamkeitsbetonung zunächst auf die zum Vergleich anreizenden Merk- 
male und dann vielleicht auf eine zur Ausfüllung dieses Schemas sich 
darbietende Richtung zu fallen, wobei der eine gewohnheitsmäfßig viel- 
leicht in die Tierwelt, der andere in eine ihm durch seinen Beruf nahe- 
gelegte Sphäre greift. Das sind aber Leistungen, die unter Umständen ganz 
nebenher vollbracht werden; selbst das beschränkte Traumbewußtsein 
reicht manchmal zu ihnen aus. Es sind ferner Leistungen, zu denen 
Individuen mit Anlage zu anschaulicher und konkreter Vorstellungs- 
entfaltung besonders neigen werden. Nicht mit Unrecht sehen sie in 
ihnen eine gewisse künstlerische Leistung und sind von dieser wie von 
dem die anschaulichen Symbole durchtränkenden Gefühlston befriedigt. 
So verstehen wir die Feststellung Freuds, daß das bildhafte Symbol 
namentlich bei Hysterikern sehr gebräuchlich ist. Wir sehen uns aber 
nicht im mindesten genötigt zu ihrer Erklärung das Unterbewußte 
heranzuziehen. 

Endlich die Methode. Es ist richtig, daß ein Individuum, das 
von irgend einem Punkte ausgehend, alles, was ihm einfällt, aus- 
sprechen muß, schließlich zu seinen intimsten Komplexen gelangen 
wird. Es wird solche Komplexe berührend, unwillkürlich oder bewußt 
stocken und auszubiegen suchen. Ein guter Beobachter kann das nicht 
übersehen. Verfügt er über die nötige Autorität, so kann er die 
Versuchsperson zur Preisgabe ihrer Lebensgeheimnisse zwingen. Von 
dem ethischen Wert einer solchen Methode sei hier abgesehen. Ginge 
die Psychoanalyse so voran, so wäre ihre Methode zwar nicht als 
exakte und leicht nachprüfbare, aber immerhin doch als empirische an- 
zuerkennen. Aber so macht es der Analytiker nicht. Er läßt den 
Patienten „assoziieren“ und „deutet“ seine Reaktionen d. h. er wartet 
gar nicht ab, bis die freie Wiedergabe auf die Komplexe stößt, sondern 
fragt sich bei jeder Äußerung, ob sie nicht sexualsymbolisch verstanden 
werden könne. Sobald er, nicht der Kranke, eine solche Deutung zu- 
wege bringt, sagt er ihm auf den Kopf eine mit dem Sittenkodex der 
Gesellschaft oder des Patienten unvereinbare Tendenz zu und ringt 
dann mit dem Exploranden um dessen Eingeständnis. Wollen wir 
auch hier von der ethischsozialen Seite absehen, so könnte man diese 
(tewaltmethode noch als heuristische probeweise gelten lassen. Es 


kann ja einmal zufällig der rechte Punkt erraten werden oder aus der 
16* 


238 J. Lindworsky: Die Psychoanalyse vom Standpunkt der Psychologie. 


Diskussion zwischen Arzt und Patienten ein neuer Fingerzeig ent- 
‚springen. Doch nie und nimmer wird eine solche Methode dazu dienen, 
wissenschaftlich einwandfrei Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Aber 
leider hat die Freudsche Schule aus dieser allenfalls klinisch noch 
zulässigen Gelegenheitsmethode eine solche zu Ergründung psycho- 
logischer Gesetze gemacht und hat damit das wissenschaftliche Denken 
weitester Kreise bedauerlich tief herabgedrückt. 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre 
Bedeutung für die Kinderforschung. 
Von 
Dr. Erwin Wexberg, Wien. 

Psychologie ist Erfahrungswissenschaft. Sie geht von empirischen 
Tatsachen aus und versucht induktiv und deduktiv Gesetze der 
seelischen Abläufe zu finden, diese Gesetze wiederum auf das Beobachtete 
anzuwenden. Durch das Experiment wird das Tatsachenmaterial plan- 
mäßig vermehrt und systematisch variiert, das Experiment ermöglicht 
die empirische Beantwortung a priori gestellter Fragen. 

Aber ebenso wie die Naturwissenschaft über die reine Empirie 
hinausgeht, hinausgehen muß, um neue Fragestellungen zu finden und 
um die zahlreichen Einzelgesetzlichkeiten in einen großen Zusammen- 
hang zu fassen — das Gesetz von der Erhaltung der Energie, die 
Ionenhypothese —, so kann sich auch die Psychologie mit der Mosaik- 
arbeit der empirischen und experimentellen Psychologie nicht begnügen. 
Die das Ganze umfassenden Arbeitshypothesen der Psychologie werden, 
ebenso wie die der sonstigen Naturwissenschaften, mehr philosophischer 
als exakt wissenschaftlicher Natur sein, sie werden sich — ebenso 
wie etwa das Gesetz von der Erhaltung der Energie — zwar vielfach 
belegen, aber nicht beweisen lassen, denn sie arbeiten mit tran- 
szendenten Begriffen, die an sich in der Natur — im Seelenleben — 
nicht enthalten sind. 

Es ist gewiß in der antiphilosophischen Einstellung der Wissen- 
schaft des vergangenen Jahrhunderts begründet, daß gerade auf dem 
Gebiete der Psychologie Lehrmeinungen und Arbeitshypothesen ohne 
Rücksicht auf ihre Fruchtbarkeit als „unwissenschaftlich* abgelehnt 
werden, während man sich ihrer sonst, in der Naturwissenschaft, un- 
gescheut bedient. So ist etwa die Freudsche Psychoanalyse in ihrem 
Kern nichts anderes als die Anwendung des Gesetzes von der Er- 
haltung der Energie auf das Seelenleben. Aber statt des einzig mög- 
lichen Einwands gegen die Anwendung: daß sie unfruchtbar ist, lehnt 


240 Erwin Wexberg: 


man sie als „unwissenschaftlich“ ab, spricht von falscher Verall- 
gemeinerung, wo es doch gar nicht anders möglich ist, als daß man 
eine das Ganze umfassende Theorie auch wirklich auf alles bezieht. 

Diese Einwände seien vorweggenommen, bevor wir auf Alfred 
Adlers Individualpsychologie eingehen. 

Ein Kind wird geboren. Nach 9 Monaten dämmernden Lebens 
im Mutterleib kommt es zur Welt, schreiend, hilflos, von der Natur 
mit nichts ausgestattet als mit einer Reihe von ererbten Reflexen, ge- 
eignet, ihm die dringendste Notdurft des Lebens zu sichern. Auf die 
Erfüllung dieser lebenswichtigsten Funktionen des Stoffwechsels be- 
schränkt sich die Lebenstätigkeit des Kindes in der ersten Phase 
seines Lebens. Durch nichts ist es von dem Jungen irgend einer 
anderen Tiergattung unterschieden. 

Dann erwachen die ersten seelischen Regungen. Das Kind sieht, 
hört, das Chaos der Sinneseindrücke beginnt sich zu Gegenständen zu 
formen, und schrittweise, allmählich vollzieht sich das, wovon alle 
weitere seelische Entwicklung ihren Ausgang nimmt: die Trennung 
zwischen Ich und Außenwelt. An dieser Phase der Ichfindung, die 
man etwa mit dem Ende des ersten Lebensjahres als abgeschlossen be- 
trachten kann, muß nun die vergleichende Physiologie eine Tatsache 
feststellen, deren Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden 
kann: im Gegensatz zu den meisten anderen Tiergattungen hält beim 
Menschen die körperliche Entwicklung nicht gleichen Schritt mit der 
seelischen. Während andere Tiere wahrscheinlich zur Zeit der Ichfindung 
oder kurz danach schon — in des Wortes wahrster Bedeutung — auf 
eigenen Füßen stehen und selbständig lebensfähig sind, ist dies beim 
Menschenkind noch lange nicht der Fall. Schon im Naturzustand ist das 
Kind noch viele Jahre hindurch vollkommen auf die Hilfe der Erwachsenen 
angewiesen. Mit der fortschreitenden Zivilisation und der damit ein- 
hergehenden Kompliziertheit des menschlichen Lebens muß sich dieses 
Mißverhältnis immer mehr verschärfen. Selbst die gesetzliche Grenze 
der Kindheit mit 14 Jahren ist für unsere heutigen Verhältnisse viel 
zu niedrig angesetzt. Daß ein Mensch im 15. Lebensjahr wirtschaft- 
lich selbständig wird, kommt heute wohl nur mehr ausnahmsweise vor. 

Es ist also eine objektiv feststellbare Tatsache, daß der Mensch 
bis in eine Zeit‘ weitgehender seelischer Reife hilflos, unselbständig 
und von der erwachsenen Umgebung abhängig bleibt. Dieser Sach- 
verhalt kann für die seelische Entwicklung nicht ohne Bedeutung sein. 
Er muß in einer Zeit, in der das Kind beginnt, seine Beziehungen zur 
Außenwelt und vor allem zu den Mitmenschen wertend zu bestimmen, 
geradezu zum Ausgangspunkt seiner Lebensanschauung werden. Das Er- 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für dic Kinderforschung. 241 


lebnis „Ich bin klein, schwach und hilflos, ich muß groß, stark und 
selbständig werden“ wird in der ersten Kindheit gewiß noch nicht 
begrifflich gedacht. Aber aus dem ganzen Gebahren des Kindes, aus 
seiner Haltung zum Leben, zu seinen Aufgaben und seiner Umgebung 
läßt es sich erschließen. Alfred Adler bezeichnet es als das Ge- 
fühl der Minderwertigkeit und stellt fest, daß es mehr oder 
weniger stark ausgeprägt bei jedem Kinde vorhanden ist. Wer das Ge- 
fühl der Minderwertigkeit nicht als einen Gedanken oder als ein be- 
wußtes Gefühl mißversteht, sondern in dem oben !geschilderten Sinne 
als eine grundsätzliche, sich aus den Tatsachen des Lebens ergebende 
Haltung, nicht als ein subjektives Erlebnis des Kindes — das ja viel- 
leicht vorhanden ist, von dem wir aber keine Kenntnis erhalten — 
sondern als den Ausdruck für etwas, was aus dem objektiv gegebenen 
Verhalten des Kindes erschlossen werden kann, wird die mehr 
biologische als psychologische Tatsache des Minderwertigkeitsgefühls 
nicht bestreiten. 

Dieses — gewiß als unlustvoll empfundene — Minderwertigkeits- 
gefühl zu überwinden, stehen dem Kinde zwei Wege offen. Beide 
sind ursprünglich gegeben, biologisch begründet. Der eine ist der Weg der 
individuellen Entwicklung, der Weg des Größer-, Stärker- und 
Selbständigerwerdens. Er äußert sich in dem Bestreben des Kindes, 
seine Persönlichkeit der Umgebung gegenüber immer mehr zur 
Geltung zu bringen, körperlich und geistig Fortschritte zu machen, 
austastend und versuchend neue Möglichkeiten des Lebens kennen zu 
lernen und zu erobern. Dieser Weg des aktiven Vordringens steht 
mit dem Gefühl der Minderwertigkeit, das sich nunmehr als Furcht vor 
Gefahren äußert, im Gegensatz und muß sich mit ihm durch ein System 
von Sicherungen, durch eine elastische Taktik des Vordringens und 
Zurückweichens auseinandersetzen. Es gilt, ständig Fortschritte zu 
machen, ohne jedoch früher, als es geraten erscheint, auf die bedeut- 
samste Sicherung: die Unterstützung und Obhut der Erwachsenen, zu 
verzichten. So kommt es, daß die seelische Entwicklung des Kindes 
nicht ausschließlich von Geltungsstreben und Größenwunsch erfüllt ist, 
sondern daß sich zwischendurch immer wieder Züge der Zaghaftigkeit, 
des Anlehnungsbedürfnisses, des Kindseinwollens geltend machen. 
Dieses Bestreben nach Sicherung durch die Hilfe der Erwachsenen 
fällt aber zusammen mit dem zweiten Weg, den das Kind einschlägt, 
um sich dem Gefühl der Minderwertigkeit zu entziehen: das Kind 
muß es in der Not des Lebens frühzeitig lernen, der biologisch ge- 
gebenen Tatsache Rechnung zu tragen, daß die Menschen nur in 
sozialen Gemeinschaften lebensfähig sind. Der gefühlsmäßige Anschluß 


242 Erwin Wexberg: 


an die Familienumgebung, das Gemeinschaftsgefühl gibt ihm die 
Sicherheit, nicht allein zu stehen, auf starke Bundesgenossen im 
Kampfe mit dem Leben rechnen zu können. 

Kindliches Geltungsstreben und Gemeinschaftsgefühl streben dem- 
selben Ziele zu: der Überwindung des Gefühls der Minderwertigkeit. 
Aber es ist in der kindlichen Situatiou begründet, daß zunächst in der 
Konkurrenz dieser beiden Tendenzen das Geltungsstreben die Oberhand 
hat. Es entspricht der direkteren, leichter erfaßbaren Taktik. Im 
Kampfe um seine Geltung scheinen dem Kinde zuweilen auch seine 
nächsten Angehörigen entgegenzustehen. Insofern also, als der Kampf 
nun auch gegen diese geht, wirkt er der Entwicklung des Gemein- 
schaftsgefühls entgegen. So ist das Kind zunächst vorwiegend 
egoistisch. Es ist geneigt, den Wert der freundschaftlichen Beziehung 
zu den Machthabern zu unterschätzen und versucht immer wieder, die 
Hilfe, auf die es angewiesen ist, durch Machtmittel,. die wie Erpressungen 
aussehen, zu erzwingen: so weint und schreit es, wenn ihm ein 
Wunsch nicht ohne weiteres erfüllt wird; es lenkt die Aufmerksam- 
keit der Erwachsenen durch „Unarten“ auf sich, zwingt sie, sich mit 
ihm zu beschäftigen; es verstärkt seine Hilflosigkeit, fürchtet sich, lang- 
weilt sich. so daß den Erwachsenen nichts anderes übrig bleibt, als 
sich dem Kinde zur Verfügung zu stellen. Der Methoden, sich die Er- 
wachsenen gefügig zu machen, sie in seinen Dienst zu stellen, gibt 
es viele. 

Aus den jeweiligen Konstellationen einer Kindheit ergeben sich 
die verschiedenen Methoden, die taktischen Mittel des kindlichen 
Geltungsstrebens, die letzten Endes die Grundlage der Charakter- 
entwicklung darstellen. Zunächst ist es durchaus verständlich, 
daß sich bei Kindern, deren Minderwertigkeitsgefühl aus irgendwelchen 
Gründen besonders stark ist, dies in der Wahl ihrer Mittel und Wege, 
also in ihrem Charakter, äußern muß. Ein verstärktes Gefühl der 
Minderwertigkeit kann die Folge verschiedener, für das Kind ungünstiger 
Momente — körperliche Schwäche, Krankheit, soziale Notlage, un- 
günstige Erziehungseinflüsse u. dgl. — sein. Wir werden auf die 
Wirkungsweise dieser näheren Lebensumstände noch im einzelnen 
zurückkommen. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, daß, je 
stärker das Gefühl der Minderwertigkeit, um so ausgeprägter das 
Geltungsstreben des Kindes, um so heftiger sein Egoismus werden 
muß. Denn aus dem Gefühl, irgendwie besonders gefährdet, in einer 
besonders schwachen Position zu sein, ergibt sich naturgemäß das Be- 
streben, mit verdoppelter Energie die eigene Persönlichkeit zu decken, 
sie im Kampf gegen die Welt mit allen Mitteln durchzusetzen. Mögen 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 243 


diese Mittel auch vielfach Mittel der Schwäche sein, sie dienen dem 
Kampf, und dieser Kampf richtet sich um so heftiger auch gegen die 
nächste Umgebung des Kindes, je mehr es durch das Gefühl der 
Schwäche und Unsicherheit sich gezwungen glaubt, seine Operations- 
basis zu verkleinern, nur an sich selbst zu denken. Alles was das 
Kind tut, denkt, empfindet, ist nun diesem einen Hauptziel seines Lebens: 
zu gelten, sich durchzusetzen, untergeordnet. Auch hier ist die Frage, 
ob und inwieweit all dies dem Kinde zum Bewußtsein kommt, von 
ihm zur Kenntnis genommen wird, von sekundärer Bedeutung. Die 
geistigen Funktionen des Kindes sind nun einmal durchaus nicht auf 
Selbsterkenntnis, sondern auf den Geltungskampf eingestellt. Für den 
Erfolg dieses Kampfes ist nicht sein subjektives Erleben, sondern seine 
objektive Haltung entscheidend. Ein Kind, das im dunklen Zimmer 
nicht allein bleiben will, mag subjektiv Angst empfinden. Die Angst 
bleibt uns unverständlich, weil wir keine Gefahr sehen. Was wir aber 
sehr wohl verstehen, ist, daß es ihm durch diese seine Haltung ge- 
lingt, die Erwachsenen auf seine Seite zu zwingen. in seinen Dienst. 
zu stellen. Dieses Ziel zu erreichen. ist die Angst ein zweckmäßiges 
Mittel: also fürchtet es sich. 

Das Beispiel lehrt uns, was es im individualpsychologischen Sinne 
heißt, einen Menschen zu verstehen: es bedeutet, alle seine Lebens- 
äußerungen, jede Geste, jedes Wort, jeden Affekt und jede Handlung 
als Ausdruck der zielgerichteten Einheit seiner Persönlichkeit. 
interpretieren. Diese Einheit der Persönlichkeit ist einfach durch die 
allgemeingültige Tatsache gegeben, daß die seelische Entwicklung des. 
Menschen von seinem Gefühl der Minderwertigkeit und von seinem Be- 
streben, sich davon zu befreien, ausgeht. Das bedeutet nichts anderes, als 
daß wir alle Menschen sind. Denn der biologische Charakter des Menschen 
ist mit der Tatsache seiner relativen Minderwertigkeit, wie wir sie oben 
auseinandersetzten, untrennbar verknüpft. Das kindliche Geltungsstreben 
ist nichts anderes als die spezifisch menschliche Form des Selbst- 
erhaltungstriebes. 

In diesem Sinne zu verallgemeinern und alles auf das Eine zurück- 
zuführen, scheint berechtigt. Erst wenn man dieses Allgemeine fest- 
gestellt hat, kann man das Individuelle berücksichtigen. Halten wir 
den biologischen Gesichtspunkt, der Alles der menschlichen Reaktion 
auf das Gefühl der Minderwertigkeit unterordnet, fest, dann kann die 
individuelle Differenz nur in der Verschiedenheit der Methoden, nicht 
aber in der Verschiedenheit des Zieles beruhen. Je nach der körper- 
lichen Veranlagung des Individuums, nach seiner sozialen Lage, der 
Familienkonstellation, den Erziehungseinflüssen, werden sich die Kampf- 


244 Erwin Wexberg: 


bedingungen für den Einzelnen verschieden gestalten. Damit aber 
auch seine Methoden. Diese individuellen und doch wieder vielfach 
typischen Methoden zu untersuchen und sie als individuell zweck- 
gerechte Mittel im Kampfe um das bekannte Ziel zu verstehen, ist die 
Aufgabe der Individualpsychologie. Neue Ergebnisse werden sich also 
nur auf dem Wege der Interpretation zwischen dem gegebenen 
Tatsachenmaterial und jenem Ziele finden lassen. Nicht daß, sondern 
wie sich das Geltungsstreben im Leben der Persönlichkeit ausprägt, 
bildet den Gegenstand der Untersuchung. Einen Menschen verstehen, 
heißt, seine individuelle Zielsetzung, seine Leitlinie aufdecken und alle 
seine Lebensäußerungen im Sinne derselben interpretieren. 

Soll der individualpsychologische Grundsatz von der. zielgerichteten 
Einheit der Persönlichkeit ernstlich durchgeführt werden, dann ergibt 
sich die Notwendigkeit, mit der Frage der angeborenen seelischen 


Eigenschaften — mag es sich nun um Temperament, Charakter oder 
Begabung handeln — fertig zu werden. Jeder Versuch, eine Persün- 


lichkeit aus Erlebnis und Umwelt zu verstehen und alle ihre Lebens- 
äußerungen im Sinne ihrer individuellen Zielsetzung zu interpretieren, 
muß notgedrungen auf den Einspruch der Wissenschaft von Anlage 
und Vererbung stoßen und im Kompetenzkonflikt mit ihr die not- 
wendige Grundlage der individualpsychologischen Untersuchung ver- 
lieren. Eine Grenzbestimmung erscheint unmöglich. Man wird es 
nur begrüßen können, wenn etwa eine fortgeschrittene Gehirnforschung 
aus dem anatomischen Befund eines Gehirns weitgehende und sichere 
Schlüsse auf Charakter und Begabung seines Trägers zu ziehen im- 
stande sein sollte — ein Ziel, von dem man allerdings heute noch 
sehr weit entfernt ist. Andererseits aber wäre jede individualpsycho- 
logische Erörterung müßig, wenn sie damit zu rechnen hätte. daß 
ihr irgendwo Halt geboten und mit dem Hinweis auf angeborene An- 
lagen weiteres Forschen verboten werde. 

Aber der Kompetenzkonflikt ist logisch ungerechtfertig. Weder 
Anlageforschung noch Individualpsychologie können in Abrede stellen, 
daß der Mensch ein Produkt aus Anlage und individuellem Erlebnis 
sei. Sichere Kriterien für die Unterscheidung im einzelnen Falle 
werden sich nur selten ergehen. Jede der beiden Forschungsrichtungen 
hat das breite Grenzgebiet zu bearbeiten und kann nur dann weiter- 
kommen, wenn sie durch die Rücksicht auf ihren Widerpart nicht ge- 
hemmt ist. Es ist also, trotz der scheinbaren logischen Unhaltbarkeit. 
methodisch der einzig richtige Ausweg der, daß sich die Anlageforschung 
ebensowenig um die Individualpsvchologie kümmert, als diese um 
jene. Für die Individualpsvehologie bedeutet das: als Arbeitshypothese 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 245 


gilt das Postulat, daß es angeborene Veranlagungen überhaupt nicht 
gebe. Nur so erhält die psychologische Interpretation freies Arbeits- 
feld. Die ganze Persönlichkeit als funktionelle Einheit muß der Ziel- 
setzung des Individuums eingeordnet, muß in ihrem Sinne deutbar 
sein. Erst bei den nachweisbar angeborenen Qualitäten hört die 
psychologische Interpretation auf. 

Ist diese Auffassung logisch haltbar und wissenschaftlich-methodisch 
gerechtfertigt, so ist sie vom pragmatischen Standpunkt geradezu un- 
erläßlich. Eher kann sich noch theoretische Erkenntnisarbeit mit einem 
„Bis hierher und nicht weiter“ abfinden, als etwa die praktische Päda- 
gogik. Für sie ist der unbedingte Optimismus notwendigste Arbeits- 
bedingung. Der Erzieher, der sich auf den Standpunkt der Anlage- 
und Vererbungslehre stellt, läuft Gefahr, in zahlreichen Fällen etwa 
bestehende Möglichkeiten einer planmäßigen Beeinflussung ungenützt 
zu lassen. Er wird vermutlich nach einigen vergeblichen Versuchen. 
seinen Schüler in Mathematik zu unterweisen, an dem „Talent“ des 
Zöglings verzweifeln und durch diesen Pessimismus endgültig jede 
Aussicht des Schülers, auf diesem Gebiet irgend etwas zu erreichen, 
vernichten. Und doch sind Fälle bekannt, wo sich durch irgend eine 
unerwartete Wendung in den Arbeitsbedingungen die scheinbare 
Talentlosigkeit fast plötzlich in ihr Gegenteil verwandelte Wir haben 
keine Hilfsmittel, im einzelnen Fall mit Sicherheit zu erkennen, ob 
das möglich oder ob jede weitere Bemühung aussichtslos ist. Aber 
es ist gerade darum praktisch unbedingt geboten, grundsätzlich keinen 
Fall als aussichtslos und schlechterdings alles durch Erziehung für 
erreichbar zu halten. Der Individualpsychologe, der nach diesem Grund- 
satze vorgeht, wird vielleicht in einer Reihe von Fällen bemerkens- 
werte Mißerfolge erzielen. Aber er wird für diesen verlorenen Auf- 
wand in einzelnen Fällen durch Erfolge entschädigt werden, die nur 
so und auf keine andere Weise möglich wurden. Der ärztliche Grund- 
satz des „nil nocere“ spricht für die Individualpsychologie. Denn ge- 
wiß bedeutet es eine Schädigung, wenn ein Fall aufgegeben wird, der 
bei einer anderen, optimistischeren Einstellung des Erziehers noch zu 
retten gewesen wäre. 

Ergibt sich nun aus diesen Überlegungen der paradoxe Grund- 
satz „Jeder kann alles“ als Postulat der individualpsychologischen 
Pädagogik — wobei von den Grenzfällen, den pathologischen Schwach- 
sinnsformen einerseits, der unverkennbar genialen Begabung, wie sie 
nur alle paar hundert Jahre in jedem Fach vorkommt, andererseits, 
‚abzusehen ist — so meldet sich der gesunde Menschenverstand zum Wort 
und protestiert unter Hinweis auf unleugbare Tatsachen: zum Biespiel 


216 Erwin Wexberg: 


auf die, daß mancher mit dem besten Willen und bei jahrelanger Be- 
mühung nicht imstande ist, etwa eine menschliche Figur zu zeichnen, 
während ein anderer schon in jungen Jahren, fast auf den ersten 
Versuch, ein naturgetreues Porträt zu zeichnen vermag. Nun kann 
gewiß niemand leugnen, daß im erstgenannten Fall ein wirkliches 
Nichtkönnen vorliegt, daß also die Behauptung, jeder könne alles, 
hier nicht buchstäblich zutreffen kann. Ist aber damit schon bewiesen, 
daß sich die Fähigkeit in dem einen, die Unfähigkeit im andern Falle 
nur auf angeborene Veranlagung zurückführen lasse? Hier ist auf die 
von Adler erst in ihrer ganzen Bedeutung hervorgehobene Rolle des 
Trainings hinzuweisen. 

Der psychophysiologische Mechanismus des Trainings läßt sich im 
Tierexperiment beobachten. Der russische Physiologe Pawlow legte 
bei Hunden eine Magenfistel an, durch die er das Auftreten des Magen- 
saftflusses bei der Nahrungsaufnahme beobachten konnte. Dieser Vor- 
gang ist ein einfacher Reflex: auf den chemischen und mechanischen 
Reiz, den die Nahrungsstoffe auf die Schleimhaut der Verdauungsorgane 
ausüben, antworten die Drüsen der Magenschleimhaut mit verstärkter 
Tätigkeit. Es erwies sich nun, daß der Magensaftfluß auch dann ein- 
trat, wenn man dem Hunde nur ein Stück Fleisch zeigte oder es ihm 
zu riechen gab. Es ließ sich weiter zeigen, daß man den Hund an 
bestimmte Glockensignale, die regelmäßig die Mahlzeit ankündigten, 
derart gewöhnen konnte, daß schon auf den Klang der Glocke hin 
der verstärkte Magensafttluß eintrat. Hier war es also gelungen, einen 
Reflex sozusagen künstlich durch Dressur zu erzeugen, der von Natur 
aus nicht vorhanden war. Pawlow bezeichnet diese Erscheinungen 
als bedingte Reflexe Ihm und seinen Schülern gelang es auf dem- 
selben Wege, durch die Verknüpfung mit der Fütterung, Hunde auf 
die Unterscheidung bestimmter Tonhöhen zu dressieren und dadurch 
festzustellen, wie weit das musikalische Unterscheidungsvermögen der 
Tiere geht. 

Die russische Physiologenschule ist, von diesen grundlegenden 
Beobachtungen ausgehend. dazu gelangt, so ziemlich das gesamte 
Gehirn- und Scelenleben auf ein Wechselspiel angeborener und durch 
Dressur erworbener, bedingter Reflexe zurückzuführen. Nun ist ja 
freilich die Frage. ob es sich bei all den komplizierten Verrichtungen 
des Gehirns wirklich um Reflexe handelt oder ob man zu solchen 
Feststellungen nur gelangen kann, wenn man den Begriff des Reflexes 
ungebührlich erweitert, noch lange nicht entschieden. Aber eines geht 
aus den physiologischen Befunden Pawlows und seiner Schüler un- 
zweideutig hervor: daß das Bereich des durch Dressur, durch Training 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 247 


Erzielbaren viel weiter ist, als man früher anzunehmen geneigt war. 
Nicht nur Reflexe, auch Sinnesfunktionen, Bewegungsleistungen, ja 
Affektbereitschaften und Denkmethoden lassen sich trainieren. Nur 
muß man sich von dem Vorurteil freimachen, als ob das Training 
beim Menschen immer nur das Ergebnis eines bewußten Vorsatzes, 
wie etwa beim Sportsmann, wäre. Das Training ist eines jener Hilfs- 
mittel, deren sich der Organismus bedient, um leistungsfähiger, stärker, 
bestimmten neuen Situationen besser gewachsen zu werden. Es liegt also, 
individualpsychologisch betrachtet, durchaus auf dem Wege der 
seelischen Entwicklung, die von der Schwäche und Hilflosigkeit zur 
Stärke und Selbständigkeit führt. Es steht beim Kinde wie beim Er- 
wachsenen im Dienste des Geltungsstrebens. So können wir, ohne uns 
eines Anthropomorphismus schuldig zu machen, schon vom strampelnden 
Säugling sagen, daß er die Bewegungen seiner Gliedmaßen „trainiert“. 
Denn auch in diesem noch ganz „seelenlosen“ Organismus ist biologisch 
jene Zielstrebigkeit vorhanden, die später die seelischen Funktionen 
erfüllt. 

Ein Kind kommt mit einem angeborenen Fehler der Augen zur 
Welt. Die dem normalen Kinde gebotenen Entwicklungsmöglichkeiten 
werden also in diesem Falle dort einen schwachen Punkt aufweisen, 
wo das Sehvermögen in Frage kommt. Es entspricht nun durchaus dem 
physiologischen Gesetz der Kompensation, daß der Organismus eben 
an diesem schwachen Punkte mit Reparationstendenzen ansetzen, daß 
das Kind also, zunächst vollkommen unbewußt, sein Sehvermögen 
trainieren wird, einfach dadurch, daß seine Erlebnisse in dieser Sinnes- 
sphäre, von allen anderen unterschieden, gewissermaßen die Auf- 
merksamkeit des Organismus an sich fesseln. So kann es geschehen, 
daß die Kompensation über das Ziel der bloßen Reparation hinausgeht 
und zur Überkompensation, daß aus dem minderwertigen Organ 
ein überwertiges Organ wird. Ein krankes Herz nimmt an’ Muskel- 
kraft und Größe zu; wird eine Niere wegen Krankheit operativ ent- 
fernt, so vergrößert sich die andere und steigert ihre Funktion. Das 
Narbengewebe, das eine Wunde der Haut deckt, ist derber und dicker 
als normale Haut. 

Es bedeutet nur eine naturgemäße Ergänzung dieser physiologischen 
Einrichtung der Kompensation und Überkompensation, daß der von 
dem Individuum wahrgenommene Defekt nun auch psychisch in den 
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Zum physischen Training ge- 
sellt sich das psychische. Für das Kind mit dem Augenfehler werden 
alle Gesichtserlebnisse „betont“ sein, eben wegen ihrer Unvollkommenbheit. 
Sein Ehrgeiz, sein Geltungsstreben wird gerade am schwachen Punkt 


>48 Erwin Wexberg: 


ansetzen und wird einen Erfolg auf dieser Linie gewissermaßen zur 
Prestigefrage erheben. So kann es geschehen, daß die seelische Ver- 
arbeitung des Gesehenen um so vollkommener wird, je mangelhafter 
der sinnliche Eindruck ist. Dank dem frühzeitig einsetzenden Training 
hat dieses Kind hier einen Vorsprung vor anderen Kindern mit ge- 
sunden Augen. Und wenn es dann zum ersten Male zu zeichnen 
versucht, bringt es bezüglich der seelischen Verarbeitung von Gesichts- 
eindrücken Voraussetzungen mit, die anderen Kindern fehlen. Dieses 
Kind ist dann fürs Zeichnen „begabt“. Und doch ist die Begabung 
nichts Angeborenes. Angeboren ist bloß der Defekt des Gesichts«innes. 
Es hängt aber von der Gesamtpersönlichkeit des Kindes, von seinem 
Ehrgeiz und seinem Selbstvertrauen ab, ob es im Training durchhält 
und wirklich aus dem Minus ein Plus macht. Fälle dieser Art sind 
vielfach bekannt. Die Anzahl der bedeutenden Maler mit Augen- 
fehlern. der Musiker mit mangelhaftem Gehörorgan ist beträchtlich, 
gewiß größer als der statistischen Wahrscheinlichkeit entspricht. 

Eine Widerlegung in dem Sinne, daß man Maler mit guten Augen 
anführt, ist zwecklos. Hier entscheiden die positiven Fälle. Es wird 
gar nicht behauptet, daß die Organminderwertigkeit unerläßliche Vor- 
bedingung für bedeutende Leistungen auf dem betreffenden Organ- 
gebiete sei. Anregungen aus der Umgebung, selbst zufällige Erlebnisse, 
deren der Erwachsene sich gar nicht mehr erinnert, mögen oft genug 
den ersten Anstoß dazu gegeben haben, daß gerade ein bestimmtes 
Organgebiet „trainiert“ wurde. Hat man aber einmal die große Be- 
deutung des Trainings für die Entwicklung von Fähigkeiten erkannt, 
dann ist man geneigt, die Möglichkeit angeborener Begabung zwar 
nicht zu leugnen — das kann man nicht, weil man sie nicht wider- 
legen kann — aber jedenfalls festzustellen, daß in jedem einzelnen 
Falle der Anteil der angeborenen Begabung von dem des Trainings 
kaum auseinanderzuhalten ist. Das Training aber, von dem wir mehr 
wissen und das wir später beeinflussen können, ist offenbar praktisch 
und pädagogisch weit wichtiger. 

Dasselbe aber gilt von Charaktereigenschaften und Affektbereit- 
schaften. Daß insbesondere beim Temperament angeborene Momente 
körperlicher Natur eine Rolle spielen, kann ohne weiteres eingeräumt 
werden. Kretschmers Befunde. die eine statistisch erfaßbare Be- 
ziehung zwischen Körperbau und Charakter statuwieren, sind gut be- 
gründet. Nur daß diese Befunde eben nur statistisch erfaßbar sind 
und für den einzelnen Fall nicht allzuviel besagen. Im einzelnen Fall 
erhebt sich immer wieder die Frage, bis zu welchem Grade die 
körperlich begünstigte Affektbereitschaft durch persönliches Erlebnis, 


Alfred Adlers Indivıdualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 249 


durch Eindruck und Unwelt, durch das im Sinne der individuellen 
Zielsetzung wirkende Training überdeckt oder auch verstärkt wurde. 
Geht man aber auf die individualpsychologische Analyse des be- 
treffenden Charakters ein, dann ergibt sich regelmäßig, daß die Charakter- 
eigenschaften durch Umwelt und Schicksal so vielfältig determiniert. 
und überdeterminiert sind, daß die möglicherweise doch dahinter ver- 
borgene individuelle Anlage, die genotypische Bedingtheit des Charakters, 
unter den Augen entschwindet. Ein Fall, in dem man behaupten 
könnte: dieser Charakterzug kann nur auf angeborene Veranlagung, 
zurückgeführt werden, kommt überhaupt nicht vor, vor allem dann 
nicht, wenn man, wie es die Individualpsychologie tut, grundsätzlich 
die ganze Persönlichkeit untersucht und Einzelzüge nur in Beziehung 
auf die Gesamtpersönlichkeit bewertet. 

Wesentlich für die charakterbildende Bedeutung des Trainings 
ist die Feststellung, daß jedes Training eines stetigen Antriebes be- 
darf, der eben nur aus der Zielsetzung der Persönlichkeit stammen 
kann. Die ständige zielgerechte Wiederholung derselben Haltung, 
derselben Reaktionsweise führt schließlich dazu, daß jene Haltung, 
jene Reaktionsweise „zur zweiten Natur“ wird. Das bedeutet aber, 
daß sie sich, einmal eingeübt, weitgehend verselbständigt und wie 
unter einer Art Zwang selbst dort beibehalten wird, wo sie irgend- 
einer Einzelzielsetzung des betreffenden Individuums zuwiderläuft. 
Denn daß die aus der allgemeinen Grundrichtung erfließenden Einzel- 
zielsetzungen nicht immer harmonisch aufeinander abgestimmt sind,. 
versteht sich von selbst. Einheit der Persönlichkeit bedeutet nicht 
Einheitlichkeit. Innere Konflikte sind häufig und gerade erst durch 
die individualpsychologische Interpretation verständlich. Etwa in 
folgendem Falle: 

Ein von Kind auf mit wenig Mut nnd Selbstsicherheit begabter: 
Patient war der Prüfung auf seine Leistungsfähigkeit dadurch aus- 
gewichen, daß er einen leichten Beruf wählte und den Hauptakzent 
seiner Lebensführung auf erotischen Genuß, Erfolge bei Frauen und 
heiteren Lebensgenuß verlegte, wo er dank behaglicher wirtschaftlicher 
Lebensumstände Niederlagen nicht zu befürchten hatte. Als er durch 
den Krieg und die Entwertung des Geldes sein Vermögen verlor, 
mußte er sparsam werden, und ängstlich wie er war, wurde er geizig. 
Damit aber war seiner epikureischen Lebensführung, auf der sein 
ganzes Persönlichkeitsgefühl beruhte, die materielle Basis entzogen, 
und er flüchtete, kaum daß er seine letzte Geliebte verabschiedet 
hatte, in einen schweren Depressionszustand, durch den er sich, völlig 
entmutigt, jeder Verantwortung entzog und seine Angehörigen zwang.. 


250 Erwin Wexberg: 


sich in den Dienst seiner Krankheit zu stellen — ein durch schweres 
Leiden erkaufter Ersatz für die Geltung, die er früher seinen Erfolgen 
bei Frauen verdankt hatte. 

Konflikte solcher Art sind nur möglich bei Menschen, deren un- 
sachliche, den Tatsachen des Lebens mangelhaft angepaßte Lebens- 
führung als der Ausdruck seines „nervösen Charakters“ gelten 
kann. Der Entwicklung des nervösen Charakters in der Kindheit nach- 
zugehen, die Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungsformen zu beobachten 
und ihren individualpsychologischen Sinn zu verstehen, ist die Haupt- 
aufgabe der individualpsychologischen Kinderforschung. 

Der Ausgangspunkt jeder abnormen Charakterentwicklung ist ein 
verstärktes Minderwertigkeitsgefühl. Dieses muß die Reaktion des 
Individuuns auf Tatsachen des Lebens darstellen, welche geeignet sind. 
die ohnehin vorhandene Schwäche und Hilflosigkeit des Kindes noch 
größer erscheinen zu lassen. Wir führten schon an, daß unter diesen 
Tatsachen Organminderwertigkeiten, körperliche Schwäche, Kränklich- 
keit eine große Rolle spielen. Jede im ungünstigen Sinne vom Durch- 
schnitt abweichende Körperbeschaffenheit kommt hier in Frage. Nicht 
zuletzt sind es rein äußerliche Abweichungen, Häßlichkeit, besondere 
Kleinheit, Größe, Dicke oder Magerkeit, belanglose, aber auffällige Ver- 
unstaltungen, die hier vielfach eine größere Rolle spielen als selbst 
schwere organische Defekte. Denn gerade solche Äußerlichkeiten 
werden in der Umgebung des Kindes sofort wahrgenommen und machen 
das Kind, sei es durch Mitleid, sei es durch Spott, leiden. Die natür- 
liche Folge ist eine Überschätzung des Gebrechens und eine tiefgehende 
Entmutigung; oder aber ein verdoppelter, ungeheuer aktiver, aber stark 
von Eitelkeit durchsetzter Ehrgeiz, der aufs Ganze geht; gewöhnlich 
aber beides: Ehrgeiz und Entmutigung. Der Ehrgeiz des Entmutigten 
geht mit einem gewaltigen Anlauf aufs Ziel los, läßt sich jedoch beim 
ersten Mißerfolg gänzlich fallen und weicht fortan unter vielfältigen 
Vorwänden — Nervosität, Pech, Verschulden der andern — weiteren 
Kraftproben aus. Er ist pessimistisch, begnügt sich mit nichts, weil 
alles ihm unerreichbar ist, fühlt sich unglücklich, vom Leben ent- 
täuscht und weist gern darauf hin, was er alles hätte erreichen 
können, wenn diese oder jene widrigen Umstände nicht gewesen 
wären. Das Training in der Richtung auf diese Form des neurotischen 
Pessimismus beginnt schon in der Kindheit. 

Ein Fall von exemplarischer Einfachheit bot sich mir in einem 
Sjährigen Jungen, der, 2 Jahre alt, durch einen Straßenunfall ein Bein 
verloren hatte. Der Ansporn dieses (rebrechens hatte offenkundig 
‚dazu beigetragen, ihn zu einem ungewöhnlich gelenkigen Turner und 


Alfred Adlers Individualpsycho!ogie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 251 


gefürchteten Raufbold zu machen, wobei er vermutlich sein Gebrechen 
und die Rücksicht, dieman notgedrungen darauf nehmen mußte, in unedler 
Weise ausnützte. Dieser Junge war vor kurzer Zeit in einem Kinderhort 
aufgenommen worden, der die Kinder die Nachmittage hindurch mit Spiel 
und Tätigkeiten aller Art beschäftigte. In den ersten Tagen schien es 
ihm gut zu gefallen, er fügte sich ein, spielte mit und arbeitete eifrig. 
Dann aber war er plötzlich wie ausgewechselt: er wurde widerspenstig 
und unverträglich, wollte nicht mehr mitspielen und störte die andern 
Kinder durch seine Wildheit und Rauflust. — In der Erziehungs- 
beratung war zunächst nicht viel aus ihm herauszubekommen. Er 
war offenbar trotzig, antwortete auf alle Fragen ganz einsilbig und 
nichtssagend. Als ich ihn aber fragte, wie sich die andern Kinder im 
Hort gegen ihn verhielten, ob sie ihn vielleicht neckten, da merkte ich, 
daß ich das Richtige getroffen hatte. Blutrot im Gesicht, die Augen 
zu Boden geschlagen, flüsterte er mit kaum hörbarer Stimme den 
Spitznamen, den sie ihm beigelegt hatten, den sie ihm nachriefen und 
der, aus dem Wiener Vorstadtdialekt ins Deutsche übersetzt, soviel wie 
„Einbeiniger“ bedeutete. Die Roheit und Taktlosigkeit, die man 
immer wieder als wesentlichstes psychologisches Merkmal jeder Masse 
— nicht nur einer Masse von Kindern — feststellen kann, hatte sich 
die Gelegenheit, einen kleinen Krüppel zu hänseln, nicht entgehen 
lassen. Gewiß wäre ihm das nicht widerfahren, wenn er sich durch 
besondere Liebenswürdigkeit sofort die Freundschaft aller crobert hätte. 
Aber aus demselben Grund, aus dem er für die Schmähung besonders 
empfindlich war, hatte er sich vorher zum Raufbold und Kampfhahn 
entwickelt. Das bohrende Minderwertigkeitsgefühl, das sich bei dem 
Kinde an die Wahrnehmung seines Gebrechens knüpfte, hatte im 
trotzigen Heldenmut, in einer ausgesprochen aggressiven Haltung gegen 
die Umgebung eine Art Kompensation gefunden. Nur so konnte er 
sich mit seiner körperlichen Minderwertigkeit abfinden. Aber die 
Empfindlichkeit blieb, und eine Verletzung wie die durch den Spott 
der Kinder im Hort konnte er nur mit verstärkter Aggressivität, mit 
Trotz und Widerspenstigkeit beantworten. 

Die Rolle der Organminderwertigkeit kommt in diesem Falle nur 
durch Zufall besonders sinnfällig zum Ausdruck. Aber wer diese Zu- 
sammenhänge sucht, findet sie immer wieder. Schwächliche Kinder, 
Kinder, die viel krank sind, zeigen häufig auch abnorme Charakterzüge, 
die gemeinhin als Nervosität bezeichnet und auf irgendeine degenerative 
Veranlagung zurückgeführt werden. Und doch handelt es sich in all 
diesen Fällen um nichts anderes als um die Entmutigung als Folge 
des wahrgenommenen und empfundenen Defekts und Versuche, das ver- 

Zeitschrift für Kinderforschung. 80. Bd. 17 


252 Erwin Wexberg: 


stärkte Minderwertigkeitsgefühl in irgendeiner Form — sei es durch 
verstärkte Aggression, sei es durch Betonung des Krankseins und 
der Hilflosigkeit, wodurch die Umgebung zur Hilfeleistung gezwungen 
wird — loszuwerden. 

Im selben Sinne wirken zahlreiche andere Momente im Leben des 
Kindes, die geeignet sind, sein Gefühl der Minderwertigkeit zu ver- 
stärken, seinen Glauben an sich noch mehr zu erschüttern und es zu 
besonderen Sicherungen zu veranlassen. So etwa die sozialen Be- 
dingungen seiner Umgebung, insbesondere seine wirtschaftliche Lage. 
Das Proletarierkind wird sich der besonderen Schwierigkeiten seines 
Lebensweges unmittelbar bewußt werden, sobald es mit Kindern der wohl- 
habenden Klasse in Berührung kommt und Gelegenheit hat, Vergleiche an- 
zustellen; spätestens also in der Schule. Daß andere Kinder schöne Butter- 
schnitten mit Schinken als Frühstück mitbekommen, während man 
selbst bestenfalls mit einem Stückchen Brot vorlieb nehmen muß, ist 
ebenso bedeutungsvoll wie die bessere Kleidung des Nachbarn und 
sein Spielzeug. Dies bereitet eine für viele Kinder armer Leute 
charakteristische Wertungsformel vor: all das, was man sich nicht 
leisten kann, also vor allem die kleinen und großen Genüsse des Lebens, 
wird um so mehr überschätzt, je weiter man davon entfernt ist. Die 
Entbehrung drückt das Selbstgefühl und wird nicht nur als unverdientes 
Unglück. sondern geradezu als Schande empfunden. Ziel des Lebens 
wird: das zu erreichen, was man jetzt so schmerzlich entbehrt. Der Wert 
der Leistung tritt dahinter zurück. Alles trägt dazu bei, den Lusthunger 
des Armen zu reizen. Die Verlockung zum Verbrechen wächst, 
Rauchen und vor allem Trinken wird zum Kennzeichen des wahren 
Mannes, schöne Kleider, Parfum und Schmuck zum weltenfernen Ideal 
des armen kleinen Mädchens, einem Ideal, das freilich auf dem Wege 
fleißiger Arbeit im Fabriksbetrieb kaum erreichbar ist. Hier steht der 
Weg zur Prostitution, zum Verbrechen, zum Alkoholismus offen, der 
durch böses Beispiel gebahnt wird. Der Antrieb zu dieser falschen 
Richtung geht aber von der Entmutigung des armen Teufels aus, der 
beim ewigen Zusehen vom Lusthunger besessen wird und den Glauben 
verliert, als könnte er durch eigene Leistung all diese Herrlichkeiten 
erringen. 

Freilich müssen, um eine solche Entwicklung herbeizuführen, 
noch andere Bedingungen hinzukommen, vor allem solche, die in der 
Familienkonstellation gelegen sind. Es ist wohl verständlich, wenn 
auch durchaus nicht verzeihlich, daß die Eltern des Proletarierkindes 
in der furchtbaren Not und im Kampf ihres mühseligen Lebens zu- 
weilen nicht allzuviel Liebe für ihre Kinder aufbringen. Kinder sind 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 253 


vor allem wirtschaftliche Belastung. Und überdies hat man kaum 
Zeit für sie. So fehlt dem Kinde, das den größten Teil seines Lebens 
auf der Gasse verbringt, der Anschluß an die so ungeheuer wichtige 
soziale Einheit der Familie, fehlt ihm die nie wiederkehrende Gelegenheit, 
sein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und den zweiten Weg der 
Selbstentfaltung, den der Bundesgenossenschaft mit den anderen 
Menschen, kennenzulernen. Eine weitere Verschärfung seiner Lebens- 
bedingungen ist damit gegeben, und ein unglücklicher Fingerzeig in der 
Richtung auf engherzige Selbstbehauptung, egoistischen Kampf um 
einen größtmöglichen Anteil an den maßlos überschätzten Genüssen 
der Erde. In diesen rein psychologischen Momenten ist das Wesen 
der Verwahrlosung, dieser Vorstufe des Verbrechens, zu finden. Da ist. 
ein l0jähriger Junge, vaterloses Kind, dessen sich die Mutter zu- 
nächst durch Abgabe an ein Waisenhaus entledigt hatte. Da es ihm 
dort nicht besonders gut ging, nahm ihn die Mutter auf seine in- 
ständigen Bitten widerwillig heraus. Und da er andere Jungen rad- 
fahren sah, wollte er auch radfahren. Das Geld dazu verschaffte er 
sich durch Diebstähle bei der Mutter, bei einem Onkel. — Ein Ge- 
schwisterpaar, der Junge 10, das Mädchen 7 Jahre alt, wächst eben- 
falls vaterlos auf. Die Mutter ist leichtsinnig, lebt von Männer- 
bekanntschaften, der Vater kommt nur zeitweilig ins Haus, wenn er 
Geld haben will. Die Kinder gingen in den Hort, aber eines Tages 
blieben sie aus: sie hatten das Geld, das sie im Hort hätten abliefern 
sollen, unterschlagen; sie hatten Hunger gehabt und sich Essen 
gekauft, weil ihre Mutter sich nicht um sie gekümmert, ihnen kein 
Mittagessen gegeben hatte und weil sie ihre Plätze in der öffentlichen 
Kinderausspeisung durch Ungeschicklichkeit eingebüßt hatten. Kann man 
ernstlich erwarten, daß solche Kinder zuerst und vor allem an das Ge- 
bot „Du sollst nicht stehlen“ denken? 

Die Familienkonstellation ist in manch anderer Beziehung von 
entscheidender Bedeutung. Bekannt sind die besonderen Schwierig- 
keiten in der Erziehung einziger Kinder. Dem einzigen Kind wird 
in der Regel zuviel geholfen. Allein inmitten einer Umgebung von 
Erwachsenen, wird es sich seiner Hilfsbedürftigkeit um so stärker be- 
wußt und wird von den Eltern, die so ihre Liebe zu erweisen und 
ihre Pflicht zu erfüllen glauben, viel mehr unterstützt, viel un- 
selbständiger gehalten, als seinem Alter entspricht. Jede kleine Un- 
päßlichkeit wird Gegenstand übertriebener Sorge. Das Kind ist nie 
allein, die Erwachsenen sind seine Diener und es betrachtet dies als 
selbstverständlich, weil es nie anders war. Darum wollen einzige 
Kinder nicht im Zimmer alleinbleiben, darum wollen sie nicht schlafen 

17* 


254 Erwin Wexberg: 


gehen — denn auch im Schlaf sind sie allein —, darum wachen sie 
oft nachts aus ängstlichen Träumen auf, um die Mutter ans Bett zu 
rufen. Das Persönlichkeitsgefühl des Kindes ist ganz auf seine 
Schwäche gestellt, es trainiert seine Hilflosigkeit, der es seine Allein- 
herrschaft in der Familie verdankt. Andererseits möchte es wohl groß 
und selbständig werden, nur fehlt ihm der Mut dazu. So wird schon 
der erste Schultag zur Krise. Hier soll es als Eines unter Vielen, 
keiner besonderen Beachtung gewürdigt, die Hilfe des Lehrers mit den 
anderen teilen. So verliert es leicht den Mut, kommt nicht mit oder 
versucht sich durch nervöse Erkrankung, durch Übelkeit, Kopf- 
schmerzen, Erbrechen dem Schulbesuch zu entziehen. Oder es lenkt 
durch Kinderfehler, durch Grimassenschneiden, disziplinwidriges Ver- 
halten die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich und strebt so eine 
Ausnahmestellung auch in der Schule an. Wer diese Zusammenhänge 
sieht, wird leicht verstehen, daß diesem Kind weder so geholfen 
werden kann, daß man es als nervenkrank behandelt und mit Medi- 
zinen kuriert, noch dadurch, daß man es für seine Unarten bestraft. 
Denn auf keinem dieser Wege wird es gelingen, das zu erreichen, was 
einzig nottut: dem Kinde Mut zu machen. 

Ist das Kind einmal durch vier oder fünf Jahre das Einzige ge- 
wesen, dann kann es sein, daß die Ankunft eines kleinen Bruders 
oder einer Schwester seine Lage womöglich noch verschlimmert. Denn 
nun sieht es seine Alleinherrschaft bedroht. Heftige Regungen der 
Eifersucht kann man nicht selten besonders bei solchen Kindern be- 
merken, die bis dahin verzärtelt wurden. Der Neuankömmling zieht 
die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Das Ältere hat das Gefühl, als 
wäre es aus dem Paradies vertrieben. Erst allmählich söhnt es sich 
mit der neugeschaffenen Lage aus, nach und nach empfindet es den 
Vorteil, nun nicht mehr das Kleinste in der Familie zu sein, es lernt 
sich auch in der Pflicht zur Hilfeleistung mit den Großen in eine 
Reihe zu stellen. | 

Aber auch die Rolle des Ältesten ist nicht ohne Gefahren. Vor 
allem ist es die allgemeine Erwartung, die sich an seine Leistungen 
knüpft, die Pflicht, immer besonders vernünftig zu sein, ein gutes 
Beispiel zu geben, die das Kind vor schwere Aufgaben stellen. So 
sieht man nicht selten älteste Kinder wohl bereitwillig und mit un- 
verkennbarer Eitelkeit die Rechte der Erstgeburt in Anspruch nehmen, 
den Aufgaben der Schule und des Lebens aber mit immer neuen 
Ausreden ausweichen. Sie fürchten jede Prüfung, aus Angst, sie 
könnten die ganz besonders hohen Erwartungen, die man an sie knüpft, 
nicht erfüllen. Aber sie renommieren gern mit besonderen Leistungen 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 255 


auf Nebengebieten, wo ein Mißerfolg weniger sichtbar, eine Kontrolle 
nicht so leicht ist und vertrösten sich mit dem falschen Optimismus 
des Mutlosen auf die Zukunft. Irgend einmal kommt dann der Krach 
und sie flüchten in nervöse Erkrankung als letzte Ausrede und 
Rettung des Selbstgefühls. 

Dagegen sind jüngste Kinder nicht selten echte Pessimisten. 
Die vollkommene Aussichtslosigkeit, den Vorsprung der älteren Ge- 
schwister jemals einzuholen, das drückende Gefühl, unwiderruflich der 
Kleinste und Wehrloseste im Hause zu sein, nimmt dem Jüngsten von 
Anfang an den Mut. Um so stärker aber wird sein Bedürfnis, das 
Prestige zu wahren, um so empfindlicher sein Selbstgefühl gegen ver- 
meintliche oder wirkliche Kränkungen. Revolutionärer Trotz ist die 
Grundstimmung dieser Jüngsten, die sich, gerade weil sie die Kleinsten 
in der Familie sind, für irgend eine Heldenrolle berufen glauben und 
die Angriffe ihrer vermeintlichen Feinde in Kämpferstellung erwarten. 
Aus solchen Kindern werden nicht selten im späteren Leben Kampf- 
naturen, Raufbolde, die ohne richtigen Kontakt mit den Wirklichkeiten 
des Lebens gerne mit dem Kopf gegen die Wand rennen und sich 
ob ihrer Verwegenheit bewundern lassen. Diese Verwegenheit ist aber 
das Gegenteil wirklichen Selbstvertrauens. Sie stammt aus dem ge- 
reizten Minderwertigkeitsgefühl des jüngsten Kindes. Sie schlägt in 
panische Angst um, wenn der erste Ansturm nicht gelingt. Die 
Stetigkeit der Anstrengung, das ruhige Selbstvertrauen, das nüchterne 
Abwägen der von der Wirklichkeit gebotenen Möglichkeiten sind ihr 
fremd. Weil sie bereit sind, über Leichen zu gehen, haben sie bis- 
weilen Erfolg. Aber ihr unersättlicher Ehrgeiz und ihr Mangel an 
Gemeinschaftsgefühl lassen sie niemals zur Ruhe kommen und machen 
ihren Erfolg zum Schrecken der Umgebung. Hier ist die Leistung 
nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Erhöhung des Persönlichkeits- 
gefühls. 

Einigermaßen anders entwickeln sich gewöhnlich jüngste, aber 
spätgeborene Kinder. Der große Abstand zwischen ihnen und den 
älteren Geschwistern läßt jeden Versuch, den Konkurrenzkampf auf- 
zunehmen, aussichtslos erscheinen. So wächst das spätgeborene Kind 
unter ähnlichen Umständen auf wie das einzige: umgeben von Er- 
wachsenen oder fast Erwachsenen, seiner Einzigkeit bewußt, gewöhnlich 
auch verhätschelt und allzuviel betreut. Die natürliche Folge ist Un- 
selbständigkeit, Feigheit und ein Anlehnungsbedürfnis, das immer ge- 
neigt ist, die Hilfsbereitschaft der andern als selbstverständlich in 
Anspruch zu nehmen und zu mißbrauchen. Es fällt ihnen schwer, 
auf die Nestwärme des Familiendaseins zu verzichten, der gefürchtete 


256 Erwin Wexberg: 


Augenblick, wo es gilt, im Leben auf eigenen Füßen zu stehen, eigene 
Verantwortung zu tragen, wird immer wieder hinausgeschoben. Ein 
großes Maß persönlicher Liebenswürdigkeit, das solch spätgeborenen 
Kindern oft eigen ist, macht aus ihnen jenen Typus von hoffnungslos 
untüchtigen Menschen, denen man nicht gram sein kann und denen 
eine mit Verachtung vermischte Sympathie entgegengebracht wird. 

Wir schildern extreme Fälle. Es ist selbstverständlich, daß die 
aus der Familienkonstellation sich ergebenden Formen des Mißlingens 
nur dann wirklich so schlimm ausfallen werden, wenn andere 
ungünstige Momente, wie etwa ÖOrganminderwertigkeit, ungünstige 
soziale Bedingungen oder — vor allem — falsche Erziehung hinzu- 
treten. Aber auch bei im großen und ganzen gut geratenen Menschen 
kann man bei einiger Erfahrung aus gewissen Zügen ihres Charakters, 
die andeutungsweise das enthalten, was die extremen Typen im großen 
zeigen, die Familienkonstellation erraten, in der sie aufgewachsen sind. 
Es ist nicht schwer, einzige, jüngste, älteste Kinder noch im späteren 
Leben als solche zu erkennen. Die etwas gouvernantenhafte Haltung 
und konservative Geistesrichtung der Ältesten, der Widerspruchsgeist 
und die Prahlerei der Jüngsten, die unterstrichene Unselbständigkeit, 
Herrschsucht, Faulheit und Zaghaftigkeit der einzigen Kinder — all 
dies ist auch beim durchaus gesunden, leistungsfähigen Erwachsenen 
oft noch deutlich genug, wenn auch gemildert durch den nivellierenden 
Einfluß einer auf das Sachliche eingestellten Lebensführung. 

Der Nachweis dieses Tatbestandes ist aber geeignet, individual- 
psychologische Zusammenhänge bis tief in das Gebiet hinein aufzuzeigen, 
wo gemeinhin die Alleinherrschaft der angeborenen Zusammenhänge 
anerkannt wird. Erweist es sich als richtig, daß bestimmte seelische 
Haltungen für bestimmte Familienkonstellationen charakteristisch sind, 
daß man aus jenen diese mit einem hohen Grade von Sicherheit er- 
schließen kann, dann ist zum mindesten in jenen Fällen, wo dies ge- 
lingt, mit Vererbung und Anlage nicht mehr viel anzufangen. Aller- 
dings ergibt sich der Schein des Anlagemäßigen immer wieder dadurch, 
daß Kinder ihren Eltern vielfach in seelischer Hinsicht gleichen. Aber 
man darf nicht vergessen, daß gerade im Zusammenhang mit der 
Familienkonstellation, mit dem Geltungskampfe des Kindes innerhalb 
der Gemeinschaft seiner Angehörigen, die Nachahmung eine ganz be- 
deutende Rolle spielt. So ist es sehr wahrscheinlich, daß etwa das 
älteste Kind unter mehreren, das frühzeitig dazu neigt, die Autorität 
anzuerkennen und sich mit ihr gegen die Jüngeren zu verbünden, 
jenen Elternteil als Leitbild wählen wird, der in der Familie die 
höchste Autorität repräsentiert; daß das spät geborene jüngste Kind 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 257 


mit seiner Schmiegsamkeit und seinem Anlehnungsbedürfnis jene Eigen- 
schaften und Fähigkeiten, die dem bevorzugten Protektor unter seinen 
Eltern und Geschwistern am wichtigsten sind, „trainieren“, also viel- 
fach ihm gleichen wird. Belege für diese Art der Charakterentwick- 
lung durch Imitation sind vielfach zu erbringen. Gerade sie ist 
praktisch von großer Bedeutung, weil das gute Beispiel in der Er- 
ziehung eine große Rolle spielt. Will man sich dieser Methode prak- 
tisch bedienen, dann muß man aber auch die übrigen Faktoren der 
Charakterbildung gebührend in Rechnung ziehen, um zu wissen, wo 
die Verwertung der Imitation für Erziehungszwecke möglich ist und 
wo nicht. So wird man sich nicht verwundern, wie es kommt, daß 
in dem einen Fall ein Junge kein höheres Ziel kennt, als so wie der 
Vater zu werden, seinen Beruf zu ergreifen und ihn womöglich auf 
diesem Gebiete zu übertreffen, während ein anderer einen betonten 
Widerwillen gegen den Beruf des Vaters entwickelt, infolgedessen für 
diesen Beruf auch ganz „unbegabt“ ist und die diametral entgegen- 
gesetzte Richtung einschlägt. Der letztgenannte Fall — das Gegenteil 
der Imitation — ist besonders häufig bei den Kindern solcher Männer, 
die auf ihrem Gebiet Hervorragendes geleistet haben. Die große 
Leistung des Vaters nimmt seinem Sohne den Mut, sich auf demselben 
Gebiet mit ihm zu messen. Die Entmutigung geht aber nicht selten 
auch über die Frage der Berufswahl hinaus. In diesen Zusammen- 
hängen ist wohl auch die Erklärung für die oft diskutierte Erscheinung 
zu suchen, daß Kinder bedeutender Menschen so oft — und ganz 
gegen die Erwartung der Vererbungswissenschaft — gänzlich versagen, 
wie etwa Walther Goethe, der trotz der sorgfältigsten Erziehung alle 
Erwartungen, die man in ihn gesetzt hatte, enttäuscht hat. 

Von größter Bedeutung und in naher Beziehung zur Familien- 
konstellation, tritt im Leben des Kindes die Frage des Geschlechts 
hervor. Vorweg sei bemerkt, daß die Stellungnahme der Individual- 
psychologie bezüglich der angeborenen Greschlechtsunterschiede 
grundsätzlich dieselbe ist wie bezüglich der angeborenen Eigen- 
schaften überhaupt. Daß Mann und Frau „von Natur aus“ seelisch 
verschieden sind, wird nicht geleugnet, aber aus methodischen 
Gründen nicht berücksichtigt. Denn dies berücksichtigen hieße auf 
die individualpsychologische Interpretation verzichten. Das Allgemein- 
Menschliche als Ausgangspunkt der seelischen Entwicklung ist beiden 
Geschlechtern gemeinsam, nur ihre Aufgaben im Leben sind teilweise 
verschieden. Aber in der Haltung, die die Menschen zu ihren Auf- 
gaben einnehmen — und gerade das untersucht die Individual- 


258 Erwin Wexberg: 


psychologie — lassen sich grundsätzliche Unterschiede primärer Natur 
zwischen den Geschlechtern nicht wahrnehmen. 

Und doch sollen die tatsächlich vorhandenen seelischen Geschlechts- 
unterschiede nicht verkleinert und nicht als belanglos dargestellt 
werden. Nur daß sie nicht als primär, sondern als sekundär, nicht 
als körperlich bedingte, sondern als verständliche Unterschiede auf- 
zufassen sind. Die Tatsache, daß innerhalb unseres Kulturkreises das 
weibliche Geschlecht als das seelisch schwächere, als minderwertig 
betrachtet wird, daß alle unsere sozialen und kulturellen Einrichtungen 
traditionell auf diese biologisch nicht gerechtfertigte Wertung zu- 
geschnitten sind, ist von entscheidender Bedeutung für die seelische 
Entwicklung aller Menschen, die unter dieser Wertung aufwachsen. 
In diesem Sinne beginnt die Frage des Geschlechts schon in der 
Kindheit wesentlich zu werden. Das kleine Mädchen, das ein 
Brüderchen bekommt und aus den bewundernden Äußerungen von 
Eltern, Verwandten und Freunden entnimmt, daß ein Junge anscheinend 
mehr wert ist als ein Mädchen, muß irgendwie dazu Stellung nehmen. 
Unter sonst gleichen Umständen wird das Minderwertigkeitsgefühl 
des Mädchens um den Betrag, den die herkömmliche Höherwertung 
des männlichen Geschlechtes ausmacht, stärker sein als das des Knaben, 
im selben Maße sein Selbstvertrauen geringer sein. Dadurch werden 
die tatsächlich geringeren Leistungen der Frauen auf intellektuellem 
Gebiet kulturpsychologisch erklärlich. Für das einzelne Mädchen aber 
bedeutet dieser Sachverhalt zunächst den Antrieb, der vermeintlichen 
Minderwertigkeit ihrer Geschlechtsrolle irgendwie zu entgehen. So- 
lange es mit der Tatsache der Unabänderlichkeit ihres Geschlechts- 
charakters nicht vertraut ist, verrät sich recht häufig im Verhalten 
des Mädchens der zuweilen bewußte, meist aber uneingestandene 
Wunsch, ein Knabe zu werden. Wildheit, Widerspenstigkeit, Vorliebe 
für Knabenspiele, Verachtung alles weiblichen Krams, der Puppen, 
der Küche, kennzeichnet diese Entwicklungsperiode. In vielen Fällen 
erhält sich dieses Streben nach Manngleichheit bis ins spätere Leben, 
noch die erwachsene Frau betont ihre Verachtung für alles Weibliche, 
setzt gegen allerlei Widerstände eine wirtschaftlich vielleicht gar nicht 
notwendige Berufstätigkeit durch und sucht sich um jeden Preis ihrer 
Frauenrolle zu entziehen. Sie läßt Gelegenheiten zur Heirat geflissentlich 
vorübergehen, verliebt sich überhaupt nicht, und wenn, dann unglück- 
lich, wird, wenn sie durch die Logik der Tatsachen zur Ehe gezwungen 
ist, eine unverstandene Frau, erweist sich als vollkommen unbrauchbar 
zur Wirtschaftsführung, lehnt es ab, Kinder zu bekommen. Gewöhn- 
lich tyrannisiert sie den Mann durch Herrschsucht oder durch Launen, 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 259 


durch Kränklichkeit und ständigen Anspruch auf besondere Rücksichten. 
In anderen Fällen verrät sich das Streben nach Manngleichheit in 
einer Lebensführung, die die sexuelle Freiheit und Polygamie des 
Mannes für sich in Anspruch nimmt. Immer aber zeigt sich, daß die 
Frau, die, nicht gesonnen, sich mit ihrer Geschlechtsrolle zu versöhnen, 
den Kampf gegen sie aufnimmt, diesen Kampf auf ihre Kosten, auf 
Kosten ihres Lebensglücks führt. 

Aber auch für das männliche Geschlecht ist diese betii 
Minderbewertung der Frau von psychologischer Bedentung. Für den 
Knaben wird, ebenso wie für das Mädchen, „weiblich“ mit „schwach“, 
„männlich“ mit „stark“ gleichbedeutend. So orientiert sich frühzeitig 
sein Ehrgeiz, seine Eitelkeit in diesem Sinne. Es gilt, sich auf jeden 
Fall als Mann zu bewähren. Die Demütigung einer Niederlage setzt 
sich nicht selten in die peinigende Angst um, er könnte seine Männlich- 
keit verlieren, ein Mädchen werden. Um so stärker versucht er 
dann durch Wildheit, Roheit, Unbotmäßigkeit seine Männlichkeit zu 
beweisen. Die Überschätzung der Männlichkeit läßt aber dem in 
seiner inneren Sicherheit erschütterten Knaben seine Geschlechtsaufgabe 
als viel schwieriger und größer erscheinen als sie ist. Irgendwie wird 
Männlichkeit zum Symbol der Tüchtigkeit, die Erprobung der Potenz 
zur Prüfung auf Leistungsfähigkeit überhaupt. Der impotente Mann 
wird verachtet, der magenkranke höchstens bedauert. Kein Wunder, 
daß der im Glauben an sich selbst erschütterte junge Mensch die Be- 
ziehung zum anderen Geschlecht wie eine unerhört folgenschwere 
Prüfung fürchtet, daß er schüchtern, befangen, frauenfeindlich wird, 
daß ihm schließlich die Frau als eine geheimnisvolle Gefahr, als ein 
Dämon und Teufel erscheint, vor dem man sich hüten müsse. Ein 
Kampf der Geschlechter entbrennt, wo innigste Freundschaft von der 
Natur gewollt ist. Angst vor Verantwortung erschwert den Entschluß 
zur Ehe, wie er der Berufsarbeit hemmend im Wege steht. Man 
wird Don Juan, um von der einen Frau zur nächsten zu fliehen, 
jeder wirklich innigen Beziehung auszuweichen und in der Kette von 
Siegen über das Weib eine [lusion sieghafter Männlichkeit zu genießen. 
Oder man rettet sich vor der Gefahr durch psychische Impotenz. 


So lassen sich Abirrungen des Sexuallebens, Perversionen aller 
Art verständlich erklären. Abgesehen von der individuellen Determina- 
tion, die die spezifische Form der Abirrung aus persönlichen Lebens- 
schicksalen erklärt, verrät sich der Sinn aller derartigen Erscheinungen 
als ein Versuch des Ausweichens vor der gefürchteten normalen Ge- 
schlechtsbeziehung. 


260 Erwin Wexberg: 


Organminderwertigkeit, soziales Milieu, Familienkonstellation und 
Geschlecht stellen die gewissermaßen schicksalsmäßigen Bedingungen 
der Charakterentwicklung des Kindes dar. Ihnen steht die Erziehung 
gegenüber als der Versuch, diese Entwicklung planmäßig zu beeinflussen. 
Die Wirkung der verschiedenen Erziehungstypen wird natürlich je 
nach den obengenannten sonstigen Faktoren im einzelnen Falle ver- 
schieden sein. Es ist von entscheidender Bedeutung, ob das streng 
erzogene Kind körperlich kräftig oder schwächlich, ob das verzogene 
ein einziges Kind, das älteste oder jüngste, ob es ein Knabe oder 
Mädchen ist. Diesen Beziehungen im einzelnen Falle nachzugehen, 
die Gesamtwirkung der Lebensbedingungen auf die Gesamtheit der 
Persönlichkeit zu analysieren, ist die Hauptarbeit und wichtigste Vor- 
bedingung der individualpsychologischen Heilpädagogik. 

Im allgemeinen ist zu sagen, daß jede Form der Autoritäts- 
erziehung, die unbedingten Gehorsam als wichtigstes Erziehungsziel 
aufstellt, geeignet ist, das kindliche Minderwertigkeitsgefühl zu ver- 
stärken. Die naturgemäß vorhandene Distanz zwischen dem Kinde und 
den Erwachsenen wird durch die Betonung der Autorität künstlich 
noch vergrößert, die Hoffnung des Kindes, sich neben der Macht zu 
behaupten, verringert. Ansätze zur Selbständigkeit werden als Un- 
botmäßigkeit aufgefaßt und bestraft, der eigene Wille des Kindes 
unterdrückt. Die Folge davon ist Entmutigung, die sich je nach den 
sonstigen Umständen in verschiedener Form äußern wird. Das Ideal 
der Autoritätserziehung, das „Musterkind“, ist eine dieser Formen. 
Konservativ, unselbständig, anlehnungsbedürftig, sucht es doch, nach 
oben gedeckt, nach unten die Macht zu behaupten. Die Hierarchie 
eines Beamtenkörpers erfüllt ihm den Sinn des Lebens. Das Muster- 
kind versagt, wo das Leben sachliche Tüchtigkeit und Selbständigkeit 
von ihm verlangt. — Es ist leicht verständlich, daß dieser extreme 
Typus des Musterkindes besonders bei ältesten Kindern beobachtet 
wird. Denn das älteste Kind ist um den Preis eines Anteils an der 
Macht — den jüngeren Geschwistern gegenüber — am ehesten für 
den Autoritätsgedanken zu gewinnen. 

Aber die Erziehung zum Gehorsam mißlingt gewöhnlich. Das Kind 
fügt sich nicht, nimmt den Kampf auf. In seinem Persönlichkeits- 
gefühl bedroht, setzt es sich zur Wehr, indem es die leiseste Ge- 
führdung seines Prestige mit Verteidigung und Gegenangriff beantwortet. 
Die revolutionäre Grundstimmung erfaßt das ganze Bereich seines 
Lebens. Nun gilt es Opposition um jeden Preis; der Wunsch des 
Vaters in einer bestimmten Richtung genügt, diese Richtung als un- 
möglich auszuschließen. Mißerfolg in der Schule, Lüge, Unehrlich- 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ihre Bedeutung für die Kinderforschung. 261 


keit, Hinterlist sind im Sinne des Revolutionärs erlaubte Mittel im 
Kampf gegen die Macht. Hinter dieser Verwegenheit der Kampfnatur 
steckt aber doch wieder eine Entmutigung, die überall dort hervortritt, 
wo es gilt, Leistungen zu vollbringen, Aufgaben zu erfüllen. — Ist 
das typische Musterkind gewöhnlich das Älteste, so ist der Jüngste zu 
der geschilderten Heldenrole im Kampf gegen strenge Eltern 
prädestiniert. Er söhnt sich mit der Macht nicht aus, die ihm nicht 
nur in den Eltern, sondern auch in der Anmaßung der älteren Ge- 
schwister verkörpert ist und an der er als der Jüngste gar keinen 
Anteil haben kann. So nimmt er den Kampf auf, mit dem brennenden 
Ehrgeiz des Märchenhelden, der ja auch oft der Jüngste und Kleinste 
ist. Weithin sichtbare, zuweilen auch hochwertige Leistungen be- 
friedigen diesen Ehrgeiz im späteren Leben immer nur vorübergehend; 
das Napoleonsideal bleibt unerreichbar, führt meist letzten Endes zur 
Katastrophe. Andere wieder erschöpfen sich ihr Leben lang in 
Prestigekämpfen und weichen der Prüfung an der wirklichen Leistung 
aus, vor Selbstverachtung gesichert durch eine Unzahl von Ausreden 
vnd Vorwänden. 

Verzogene Kinder sind wehleidig, egoistisch und herrsch- 
süchtig. Sie betonen ihre Unselbständigkeit, um andere zur Hilfe- 
leistung zu zwingen und in den Dienst ihrer Schwäche zu stellen. 
Sie treten mit dem Anspruch ins Leben, alles geschenkt zu erhalten 
und verlieren die Haltung, wenn das Leben von ihnen Leistungen 
verlangt. Nachdem der erste mit großer Geste und mächtigem Anlauf 
unternommene Versuch mißlungen ist, verzichten sie auf weitere 
Aktivität, werden pessimistisch, sprechen von Leistung und Tüchtigkeit 
wie der Fuchs von den Trauben und affektieren philosophische Über- 
legenheit in einer epikureischen Weltanschauung, die das Leben miß- 
versteht, indem sie den Lusthunger kultiviert. 

Die Typen der Fehlerziebung ließen sich beliebig vermehren. 
Da sind etwa die Kinder der ewig nörgelnden Eltern, die un- 
ausgesetzt, wohlwollend oder streng, an ihnen herumerziehen, sie nie 
in Ruhe lassen, sie unsicher und ängstlich machen; oder die Lieb- 
losen, denen ihre Kinder gleichgültig und lästig sind, die ihnen 
nicht helfen und ihr Gemeinschaftsgefühl in der Kälte des Neben- 
einanderlebens verkümmern lassen; die „nervösen“ Eltern, die das 
Kind als Spielzeug mißbrauchen, solange es ihnen paßt, und es brutal 
und gleichgültig beiseite schieben, wenn sie Wichtigeres zu tun haben 
und nicht gestört sein wollen; die eitlen Eltern, die ihre Kinder 
unter dem Druck überspannter Erwartungen aufwachsen lassen, durch- 
aus Genies aus ihnen machen wollen, bis das Kind, verzweifelnd an 


962 Erwin Wexberg: 


der Aussicht, die Höchstleistung zu erzielen, auch im Durchschnitt- 
ichen versagt. 

So erweist sich in der individualpsychologischen Betrachtung, was. 
verständigen Pädagogen schon lange klar war: daß die schwersten 
Erziehungsfehler auf nichts anderes zurückzuführen sind als auf 
Charakterfehler der Erzieher; nicht nur deshalb, weil die Nach- 
ahmung in der Entwicklung des Kindes eine beträchtliche Rolle spielt 
— denn die Zurückführung der Fehlschläge in der Erziehung auf 
Charakterfehler der Eltern gilt auch in solchen Fällen, wo sich das. 
Kind in ganz anderer Richtung verirrt hat als sein Erzieher — sondern 
vor allem darum, weil der nervöse Charakter des Erziehers es ver- 
schuldet, daß er sich nicht sachlich der Erziehung als Aufgabe widmet, 
sondern das Kind in das System seiner falschen und eigensüchtigen 
Zielsetzungen einordnet. Die Voraussetzung dafür, daß das Kind es. 
lernt, sich im Leben richtig zu orientieren, ist die richtige Orientierung 
des Erziehers. 

Wenn aber die Individualpsychologie von richtiger und falscher 
Orientierung spricht, so gesteht sie damit freiwillig zu, daß sie über 
den Rahmen einer beschreibenden Wissenschaft hinausgeht und es. 
unternimmt, Normen des Lebens aufzustellen. Diese Normen haben 
allerdings mit einer Ethik nicht mehr gemeinsam als eine gewisse 
äußerliche Beziehung. Eher könnte man sie als eine Art Hygiene- 
der Seele bezeichnen. Auch die Hygiene des Körpers ist eine 
normative Wissenschaft in diesem Sinne. Denn wenn sie auch ganz. 
sachlich und objektiv die Entwicklung und Vermehrung gewisser Bak- 
terien im Trinkwasser beschreibt, so tut sie das doch nur deshalb, 
weil diese Bakterien als Krankheitserreger in Betracht kommen können 
und weil sie Erkrankungen durch schlechtes Wasser verhüten will.. 
So gelangt sie zu Normen, wie man Brunnen und Wasserleitungen 
anlegen, wie man Flußwasser behandeln soll und wird auf diese Weise: 
zu einer normativen, wenn auch auf der reinen Naturbeobachtung: 
basierten Wissenschaft. Ganz in demselben Sinne sind die Normen 
der Individualpsychologie aufzufassen, nicht als kategorische, sondern 
als durchaus bedingte Imperative: keine Gottheit kann dir befehlen 
richtig zu leben; aber du mußt dir klar sein, daß du für jeden Fehler- 
deiner Lebensmethode irgendwie und irgendwann die Folgen tragen 
wirst. 

Das „Richtige“ aber besteht offenbar darin, daß man einen mög- 
lichst günstigen Ausgleich zwischen persönlichem Geltungsstreben 
und Gemeinschaftsgefühl finde. Da nun das Gemeinschaftsgefühl, 
der Ausdruck der Tatsache, daß Menschen nur in Gemeinschaft lebens- 


Alfred Adlers Individualpsychologie und ıhre Bedeutung für dıe Kinderforschung. 263 


fähig sind, sich in der Kindheit aus den oben dargestellten Gründen 
zu wenig durchsetzt, bleibt es die Aufgabe der Erziehung, das Ge- 
meinschaftsgefühl zu fördern. Da ferner nach den Ergebnissen 
der Individualpsychologie jede gemeinschaftsfeindliche Haltung auf ein 
Gefühl der Minderwertigkeit und auf mangelnden Glauben an sich 
selbst zurückzuführen ist — nur wer an sich glaubt, wird die innere 
Ruhe und Sicherheit aufbringen, die ihn befähigt, nicht nur an sich, 
sondern auch an die andern zu denken —, ist es die Aufgabe der 
Erziehung, dem Kinde Selbstvertrauen zu geben. Wie weit dies 
gelungen ist, wird sich an der Haltung erweisen, die der Erwachsene 
den Aufgaben des Lebens gegenüber einnimmt: der Aufgabe der 
Arbeit, die im Interesse der Gemeinschaft — und sei es auch nur 
die Gemeinschaft einer kleinen Familie — mutig, sachlich und ohne 
persönliche Eitelkeit geleistet werden muß, damit sie gut sei; der Auf- 
gabe der Geschlechtsbeziehung, die zur gegebenen Zeit, früher oder 
später, im Sinne der Ehe und Familiengründung gelöst werden muß, 
weil jede andere Lösung der Gesellschaft und dem Individuum ab- 
träglich wäre; und der Aufgabe der Einfügung in die Gemein- 
schaft, der Verträglichkeit und des Umgangs mit den Menschen, bei 
der sich vielleicht am deutlichsten erweist, daß ihre mangelhafte Er- 
füllung zur Isolierung, zur Weltflucht und Verbitterung führen muß. 
All diese Aufgaben, die das Leben stellt, zu erfüllen, ist Mut erforder- 
lich und jenes Training, jene Stetigkeit der Anstrengung, unerschüttert 
durch Mißerfolge, die nur der Mutige aufbringt: also selbstgläubiger 
Optimismus, sachlicher Optimismus, der niemals „ich kann nicht“ 
sagt, sondern immer „ich will es versuchen“. Nicht der Optimismus 
mit der rosa Brille, der sich um einer vorübergehenden Euphorie 
willen über die Tatsachen des Lebens hinwegtäuscht und um so tiefer 
entmutigt ist, wenn er dann mit dem Kopf an die Wand angerannt 
ist; auch nicht der Optimismus des Epikureers, der heiteren Lebens- 
genuß zum Selbstzweck erhebt und dabei geflissentlich — aus Feig- 
heit — übersieht, daß der Sinn des Lebens in der Leistung liegt. 

So lehrt uns die Individualpsychologie, nicht auf die Worte und 
auf die vorgebliche Lebensanschauung eines Menschen zu achten, ja 
nicht einmal auf seine Gedanken und Empfindungen, sondern auf das 
Ganze, von dem die erwähnten Lebensäußerungen nur ein Teil sind: 
auf seine Haltung im Leben. Diese zu beurteilen, sind aber die 
kleinsten Symptome von Bedeutung, und gerade dann besonders, wenn 
das Individuum ihren Sinn selbst nicht versteht. Aus Träumen, aus 
kleinen Fehlleistungen, aus stereotypen Redensarten und Gesten. die 
längst automatisch, „unbewußt“ geworden sind, ist die Richtlinie seiner 


264 Erwin Wexberg: Alfred Adlers Individualpsychologie usw. 


Persönlichkeit für den, der diese Dinge nicht mehr als zufällig miß- 
versteht, mit großer Deutlichkeit zu erschließen. Auf diesem Gebiete 
der Interpretation bisher unverstandener Äußerungen der Persönlichkeit 
hat die Psychoanalyse wertvolle Vorarbeit geleistet. Aber es war der 
Individualpsychologie vorbehalten, den Schlüssel zu finden, der die 
Verwertung dieses kostbaren Materials im Dienste einer Psychologie 
ermöglicht, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, die Persönlichkeit 
des Menschen als eine zielgerichtete Einheit zu verstehen. 


Zur Psychoanalyse. 


Von 
M. Isserlin. 


Soll die Bedeutung der Psychoanalyse, der unbestreitbare 
Anklang, der ihr in mannigfachen Strömungen der zeitigen Kultur- 
betrachtung zuteil wurde, andrerseits ihre Vielgestaltigkeit, ja 
Gegensätzlichkeit in sich selbst erfaßt, verstanden und gewertet 
werden, so ist es zweckmäßig uns in kurzen Zügen den Werdegang 
der Psychoanalyse vor Augen zu halten. Die Betrachtung des 
Werdegangs gibt am leichtesten die Möglichkeit, das „Wesen“ der 
Psychoanalyse zu begreifen, wenn all das, was sich heute Psycho- 
analyse nennt, etwa noch irgend welche einheitlichen Grundzüge auf- 
weist; die Einsicht in die Entwicklung der Psychoanalyse offenbart 
auch am leichtesten die Punkte, an welchen eine Kritik einzusetzen hat. 

Die Psychoanalyse entsprang als kathartische Methode um 
die Zeit der Hypnotismusdebatten. Die Erscheinungen der 
Bewußtseinsspaltung schienen ein planmäßig regiertes Unter- oder 
Unbewußtes zu offenbaren, die Wirksamkeit der posthypnotischen 
Suggestion zeigte — so konnte man meinen — wie ein abgespaltener 
„Komplex“, anscheinend von der Zeit unberührt, starke, ja zwingende 
unbewußte Energiewirkungen auf das Vorstellen, Denken, Fühlen und 
Wollen ausüben konnte So begann die kathartische Methode als 
„Talking cure“ der Patientin Breuers. Die Kranke brachte in dem 
hypnotischen Zustand bisher unbekannte, „unbewußte“, Erlebnisse vor. 
Jedesmal nach „Aufdeckung“ eines solchen Erlebnisses verschwand 
aber ein Symptom. Die behandelnden Ärzte glaubten sich nun zu dem 
Schluß berechtigt: das Aufgedeckte sei aetiologisch, die Ursache des 
Symptoms, und die Aufdeckung wirke heilend, weil sie von dem 
„krankmachenden® Unbewußten befreie. Das war die Lehre von 
dem „eingeklemmten Affekt“ und der „Abreaktion“. Das 
krankmacheude Unbewußte aber bestand während dieses Entwicklungs- 


266 M. Isserlin: 


stadiums der „Lehre“ in bewußtseinsunfähigen Erlebnissen, „Traumata“ 
— so wird zugleich die Brücke von der traumatischen Hysterie 
Charcots zu der allgemeinen Hysterie, welche gleichfalls als 
im Wesentlichen „traumatisch“ begriffen wird, geschlagen. 

Schon gegenüber diesem ersten Stadium der analytischen Theorie 
muß die Kritik einsetzen. Berechtigt das Schwinden eines Symptoms 
im Anschluß an eine im hypnotischen Zustand vorgebrachte Schilderung 
eines Erlebnisses zu dem Schlusse, daß dieses Erlebnis aetiologisch 
für das Symptom sei? Jeder der psychogene Symptome auf irgend 
eine beliebige Einwirkung hat schwinden sehn, wird diese Art von 
Beweisführung nicht als genügend anerkennen dürfen. Freilich zeigt 
das in der „Talking cure“ Vorgebrachte mit dem Symptom noch eine 
andere Art von Zusammenhang als den bloß mechanischen von 
Trauma und Folgeerscheinung, der hier festzuhalten und zu würdigen 
ist. Schon in jenen ersten Anfängen der Psychoanalyse tritt das 
Streben hervor, einen verständlichen Zusammenhang zwischen 
Symptom und Trauma herauszustellen. Das Symptom ist so ge 
artet, daß es aus der Art des Traumas verständlich wird. 
Diese Tendenz wird besonders deutlich, als Freud die Weiterbildung 
der Lehre von Breuer übernimmt. Das Unbewußte ist das Ab- 
gewehrte, Verdrängte, Verbotene, das seine Affektenergie in 
das Bewußte hineinsendet. Das Symptom ist die Verkleidung des 
Unbewußten, belebt von dem dem Unbewußten zukommenden Affekt, 
verständlich aus den Tatbeständen, aus welchen es erwächst. Eine 
weitere Sicherung der Beweisführung bietet sich an — sie wird bis 
zum heutigen Tag als Fundament der Psychoanalyse angesehen. Was 
aus dem Kranken an Bedeutungsvollem herausgeholt wird — in- 
zwischen nicht mehr in Hypnose sondern im fortlaufenden Assoziieren 
bei wachem Zustand, — kommt unter „Widerstand“. Der Wider- 
stand wird als Zeichen für die Verdrängung, ja als Maß für 
sie betrachtet. Und weiter noch — die ganze Lehre von der Ver- 
drängung findet letzten Endes in der Lückenbildung beim fort- 
laufenden Assoziieren und den Abwehrerscheinungen, welche bei den 
Analysierten zutage treten, sobald man an das als verdrängt an- 
gesehene Material rührt, ihr einziges Fundament. 

Auch hier muß sogleich wieder auf die Fragwürdigkeit dieser 
Grundlegung hingewiesen werden. Lückenbildung und Wider- 
stand können sehr verschiedene Ursachen haben; was auf 
diese Weise unter Stockungen und Zurückhalten kommt, braucht 
durchaus nicht unbewußt gewesen zu sein. Es ist unmöglich, mit 
solchen Beweismitteln die Lehre von dem unbewußten Ver- 


Zur Psychoanalyse. 267 


drängten, wie sie Freud schon damals entwickelt hat, zu recht- 
fertigen. 

In der „Traumdeutung,“ welche die nächste Phase der Ent- 
wicklung der Lehre kennzeichnet, wird — nach einigen Ansätzen in 
früheren Arbeiten — ein weiteres Prinzip der Erkenntnis ab- 
wegigen Seelengeschehens folgerichtig entwickelt: In der Ver- 
drängung herrscht zugleich der Wunschtraum. Sinnloses gibt es 
im seelischen Geschehen nicht; das zeigt der normale Traum 
der Nacht, welcher nicht nach den Bruchstücken, die wir im wachen 
Bewußtsein von ihm behalten, beurteilt werden darf. Dringt die 
Analyse in die Tiefe, so offenbart sie die Existenz verdrängter 
Traumgedanken, „psychischer Bildungen von höchster Ordnung 
und mit allen Kennzeichen normaler, intellektueller Leistung versehen, 
welches Material sich doch dem Bewußtsein entzieht, bis es ihm durch 
den Trauminhalt entstellte Kunde gegeben hat.“ Der Sinn aber 
dieses höchst zielstrebigen Geschehens ist Wunscherfüllung. Zu 
diesem freilich gelangen wir nur durch „Deutung“. So proklamiert die 
Analyse der Träume in umfassendem Maße die Deutung und dehnt 
diese Art von „Verstehen“ zugleich auf die neurotischen und psycho- 
tischen Geschehnisse und auf die „Psychopathologie des Alltags“ aus. 

Soll auch hier eine kritische Stellungnahme sogleich Platz finden, 
so muß festgestellt werden, daß irgendwie tragfähige Grundlagen 
für die Behauptung, daß das Traumgeschehen ein bewußten 
intellektuellen Vorgängen auch nur analoges ist. in der 
ganzen psychoanalytischen Lehre nicht aufzufinden sind. Völlig 
haltlos aber sind auch insbesondere die Ansprüche der Deutungs- 
praxis, welche zu einer öden, mechanisch festgelegten Vorstellungs- 
gymnastik entartet ist. Keinerlei Berufung auf das Bestehen der Zote, 
primitiver Denkungsweisen und Sitten ist hier angebracht und im- 
stande, die analytischen Ansprüche zu begründen. 

Überblicken wir die Psychoanalyse bis zu dem hier abge- 
grenzten Stadium — manche Anhänger sind auf diesem, wie andere 
auch schon auf früheren Entwicklungsstufen, stehen geblieben — 
so finden wir nach dieser Anschauung als Kern des Unbewußten 
traumatische Geschehnisse; das Unbewußte ist das Verbotene, 
dem Bewußtsein Unerträgliche, Abgewehrte Die Ver- 
drängung wird ergänzt durch den Wunschtraum. Das 
seelische Geschehen, welches in seinen wesentlichsten 
Teilen nicht nur unbewußt sondern auch bewußtseins- 
unfähig, weil diesem unerträglich ist, wird als plan- und 
zielvoll nach festgelegten, allgemeingültigen Deutungs- 

Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Ba. 18 


265 M. Isserlin: 


grundsätzen (Gesetzen der Symbolik) erschlossen. Alle die 
hier vorgebrachten Ansprüche halten jedoch einer Prüfung 
nach empirischen Grundsätzen nicht stand, besonders die 
die Symbolik und Deutung betreffenden erscheinen als 
durchaus phantastisch. 

Mit großer Deutlichkeit ist schon in diesem Stadium der Lehre 
der fortan bleibende Grundsatz geoffenbart, alles seelische Ge- 
schehen — gerade das abwegige in erster Linie — als sinn- und 
planvoll aufzufassen. Den Leitfaden für die Aufdeckung dieses 
Sinnes und Planes liefert jene Deutungskunst, welche ihre Grundlage 
im wesentlichen in dem Mechanismus der Zote finden sol. Eine 
Beweisführung aber, daß wir es bei den unbewußten, durch „Zensur“ 
ferngehaltenen und „maskierten“ Vorgängen mit unbewußten Denk- 
geschehnissen, welche denen der Zote und ähnlicher Produkte ent- 
sprächen, zu tun haben, wird — wie schon betont — nirgends er- 
bracht, ja nicht einmal ernstlich versucht. Immer mehr tritt in 
der Analyse das Verhängnis zutage, daß als „demonstriert* 
hingestellt wird, was dem Gutdünken und — Geschmack 
des einzelnen Analytikers annehmbarerscheint. Analytische 
Denk- und Deutungsgewohnheiten bilden sich aus, welche 
immer mehr ein wirklichkeitsfremdes, willkürliches Ge- 
präge erhalten. 

Der nächste Schritt der Entwicklung führt vom Trauma wieder 
ab zur Konstitution oder wenigstens einem „Ersatz“ der Kon- 
stitution; denn als einen Versuch einer solchen Ersatzbildung müssen 
wir Freuds Lehre von der infantilen Sexualität und ihrer 
Bedeutung für das normale und abwegige Seelenleben sowie für die 
Ausbildung der Persönlichkeit ansehen. Die Lehre von der Bedeutung 
des Einzeltraumas hatte sich Freud als unhaltbar, die von den 
Kranken vorgebrachten Erzählung öfters als Phantasie erwiesen. Neu 
erscheint die „Einsicht.“ dab eine ganze, große Entwicklungs- 
phase verdrängt sei und den unbewußten Untergrund für die 
Ausbildung der Persönlichkeit bilde. Polvmorphe Perversität 
des Säuglings und Kindes, primitive Objektwahl, Ödipus- und 
Kastrationskomplex bilden, der Verdrängung verfallen, den Unter- 
grund für die Weiterentwicklung und könnten in der Tat, wenn die 
Verhältnisse so lägen, wie die Analyse es darstellt, eine ähnliche Be- 
deutung für das Schicksal des Individuums haben, wie eine angeborene 
Anlage. Allein es zeigt sich bald. daß Freud diese letztere doch 
nicht auszuschalten imstande ist: alle Menschen sollen ja die oben 
bezeichneten Konflikte der kindlichen Seele durchmachen, und doch 





Zur Psychoanalyse. 269 


ist die Art der Stellungnahme in ihnen und dem entsprechend die 
Weiterentwicklung eine so verschiedenartige. Hier wird eben doch 
ein Anlagefaktor mitten in der infantilen Sexualität und ihren 
Erscheinungs- und Verdrängungsvorgängen vorausgesetzt, ohne daß 
viel von ihm geredet wird. Dabei wird die Art der Vorgänge der 
Sexualverdrängung zweideutig; teils rein körperlich (chemisch) 
gedacht, sollen sie doch die ursprüngliche psychologische Bedingtheit 
nicht verlieren. 

Im Übrigen kann gar nicht versucht werden, eine Widerlegung 
der Lehre von der infantilen Sexualität zu geben, weil es ja nie 
ernstlich versucht worden ist, sie zu begründen. Nicht um- 
sonst war das Verhängnis der Traumdeutung vor ihr da. Alle Analysen 
an Erwachsenen und Kindern, welche die Lehre von der kindlichen 
Sexualität begründen sollen, sind so voll von „Deutung“, daß eine Aus- 
einandersetzung, wenn man die Grundlagen des ganzen Verfahrens für 
hinfällig hält, nicht gut möglich ist. Die Abhandlung Schilders in 
diesem Heft gibt ja einigen Vorgeschmack von dem Inhalt des 
Lexikons und den Regeln seiner Anwendung. Wer glaubt, so ver- 
fahren zu können, der wird es wohl auf Grund eines Glaubens- 
bekenntnisses tun — von Empirie kann da nicht gesprochen und 
nach Grundsätzen der Empirie nicht diskutiert werden. 

Die neusten Lehren Freuds, welche eine Einschränkung der 
Alleingeltung des Lustprinzips, die Einführung von Todes- 
trieben im Gegensatz zu den Sexualtrieben, die Lehre vom Über- 
Ich als einer Art von Gewissen enthalten, sind z. T. von Freud 
selbst vorerst als metapsychologische Spekulation gekennzeichnet. Sie 
scheinen mir sehr wichtig für die Weiterentwicklung der Lehre, 
haben aber, so weit ich sehe, praktische Bedeutung noch nicht er- 
langt. Ihrer Methodik nach sind diese Erörterungen im wesentlichen 
rein konstruktive Spekulation. Und es paßt gut zu diesem Charakter 
daß ein Ringen mit letzten Problemen des Menschendaseins in ihnen 
bisweilen in erschütternder Weise zutage tritt. Unter empirisch- 
psychologischen Gesichtspunkten wird man sie jedoch nicht werten 
dürfen. 

Es ist in der Tat überhaupt sehr wenig, was in der ungeheuren 
Zahl von psychoanalytischen Arbeiten unter solchen Gesichtspunkten 
gewertet werden kann. Diese Sachlage ist es auch, welche Erörterungen 
um psychoanalytische Grundfragen so unfruchtbar und zum Teil un- 
erquicklich gestaltet. Es handelt sich in Wahrheit um Fragen der 
Überzeugung; Versuche einer Prüfung, wie sie Tatsachenfragen gegen- 
über üblich sind, müssen bei dieser Grundeinstellung scheitern. 

18” 


270 M. Isserlin: 


Aber ein Verständnis dieses eigenartigen, fast einzigartigen Tat- 
bestandes muß doch versucht werden. Was ist es, was der Psycho- 
analyse, trotz ihrer oft so absonderlichen Gestaltung, eine solche An- 
ziehungskraft auf so große Kreise aus verschiedenartigsten Interessen- 
spären zu verleihen vermag? — Auch hier kann ein Rückblick auf 
die Geschichte der Psychoanalyse wie der jüngsten Psychologie über- 
haupt uns einige Hilfe gewähren. 

In ihrer Betonung des Unbewußten gehört die kathartische wie 
die analytische Lehre zunächst in die Reaktion gegen einen über- 
triebenen Rationalismus in der Psychologie, einen Rationalismus. 
welcher zugleich ein Bewußtseinsintellektualismus war. 
Empfindungen, Vorstellungen, assoziative Verknüpfungen, aus dieser 
Gesamtheit irgendwie abgeleitete Denkvorgänge, alle diese Tatbestände 
mit anhaftenden Gefühlstönen, welchen letzteren aber Selbständigkeit 
nicht zukam' dazu die Auffassung, daß es keine seelische Wirklichkeit 
außer der Bewußtseinswirklichkeit gebe — das war etwa Jas Bild jener 
Psychologie, wie sie besonders auch in medizinischen Kreisen in 
Geltung war. — Gegen diese trat die Katharsis und die Analyse auf den 
Plan und betonte das Unbewußte und die Selbständigkeit des Gefühls. 
welches als Erregungssumme von einer Empfindungs- bezw. Vorstellung 
grundlage zu einer anderen wandern konnte. 

Es ist weiterhin kein Zweifel, daß Bestrebungen, eine „ver- 
stehende“ Psychologie gegenüber einer bloß objektiven, beschrei- 
benden, kausalen zur Geltung zu bringen, der Psychoanalyse gegenüber 
nicht ohne Sympathie bleiben konnten. Nicht zum geringsten Teil 
ist der Anklang, welchen die Pschoanalyse gefunden hat, auf die Tat- 
sache zurückzuführen, daß sie in die allgemeine Zeitströmung, „ver- 
stehende“ Psychologien zu pflegen, hinein geriet, und einen Teil dieser 
Zeitströmung in sich aufnehmen konnte. Freilich darf nicht übersehen 
werden, daß die Psychoanalyse ein sehr einseitiges intellektu- 
alistisches Verstehen auszubilden suchte und sich in diesem 
Bestreben in einem sehr wesentlichen Widerspruch zu den Einfühlungs- 
und Intuitionspsvchologien befand. Von manchen Vertretern dieser 
letzten Richtungen ist dieser Tatbestand auch erkannt worden. Ist 
doch das Bild, welches die Entwicklung der Psychoanalyse 
bietet, in Wahrheit ein wirklich überraschendes und eigen- 
artiges. Als Reaktion gegen einen übertriebenen Intellek- 
tualismus der Psychologie und unter der Berufung des Un- 
bewußten begonnen, endet sie selbst in einer extremen In- 
tellektualisierung nunmehr nicht mehr des Bewußten. 
sondern des Unbewußten und proklamiert eine rabulistischr 


Zur Psychoanalyse. 271 


Deutungskunst, welche alles seelische Geschehen nicht nur 
als verständlich. sondern auch als dem Verstande sinnvoll 
begreiflich darzutun strebt. Die Lehren von der übertragbaren 
affektiven Erregungssumme haben diese Entwicklung der Psychoanalyse 
keineswegs hemmen können, waren vielmehr bald ihrerseits im Dienste 
der logisierenden Deutung verwertet worden. Das Wesentliche blieb 
immer der unbewußte Tatbestand, dessen gedanklichem Gehalt ent- 
sprechend der Mechanismus der Geschehnisse sich gestalten sollte. 

Mir scheint diese allmählich entwickelte, überrationalistische 
Tendenz, welche sich als Intellektualisierung des Unbewußten vor 
üblicher Prüfung zu bewahren sucht, der schwächste und auch rück- 
schrittlichste Zug der Lehre zu sein; die gekünstelte Rabulistik, mit 
welcher der Sinn der Symptome erschlossen werden soll, hat viele 
abgestoßen, welche an sich manchem Grundsatz der Psychoanalyse 
geneigt wären. 

Es ist also recht wenig, was nach unserer kritischen Betrachtung 
der analytischen Methodenlehre haltbar bleibt. Schon der Schluß auf 
die Ätiologie in der „Taking cure“ erschien anfechtbar; Lückenbildung 
und Widerstand können keineswegs als eine zureichende Begründung 
der Lehre von der Verdrängung und dem bewußtseinsunfähigen Un- 
bewußten angesehen werden. Die ganze Methodik der Analyse über- 
läßt die Aufdeckung des Ätiologischen völlig dem kombinierenden 
Gutdünken. Ohne methodische Begründung bleibt die Lehre von 
Symbolik und Deutung. Was an Inhaltlichem über die polymorphe 
Perversität, Ödipus- und Kastrationskomplex vorgebracht wird, wird 
vielen, welche dem mutigen und innerlich wahrhaften Ringen Freuds 
mit den von ihm bearbeiteten Problemen achtungsvoll gegenüberstehen, 
gleichwohl als eine höchst abwegige und leider auch abgeschmackte 
dogmatische Denkkünstelei erscheinen. 

Bringt man derartige methodische Bedenken, wie sie hier ange- 
deutet worden sind, vor, so muß man von vielen, welche es weit von 
sich weisen, Freudanhänger oder überhaupt Analytiker zu sein, 
hören, eine solche rein theoretische Kritik sei einer so eminent 
praktischen Sache gegenüber nicht am Platze. Die Analyse habe große 
praktische Heilerfolge aufzuweisen, weiterhin habe sie vieles bisher 
nicht Bekannte oder nicht Beachtete intuitiv richtig erfaßt und werde 
schon darum ihren Wert innerhalb der Psychologie und Psychotherapie 
behalten. 

Hierzu ist zu sagen, daß, was die Heilerfolge anlangt, die 
Psychoanalyse durchaus enttäuscht hat; sie leistet — wie auf Grund 
der Erfahrung vieler Jahre gesagt werden kann — nicht mehr als 


979 M. Isserlin: 


eine andere eindringliche seelische Behandlung. Sieht man weiterhin 
von der mangelhaften methodisch-empirischen Begründung der Analyse 
ab und prüft, was durch Intuition oder kombinatorische Phantasie an 
Richtigem gefunden sein mag, so kommt man etwa zu folgendem 
Standpunkt: 

Daß die Psvchoanalyse, insbesondere ihr bedeutendster Vertreter 
Freud, manche tiefe und glückliche Einsicht gehabt hat, wird nicht 
bestritten und in der Geschichte der Wissenschaften vermerkt bleiben. 
Verdrängung uud Wunschtraum sind Tatsachen, welche zwar in einem 
viel geringeren Bereich Geltung haben, als Freud das dargelegt hat. 
welche aber doch einen wichtigen Einblick in mannigfache abnorme 
seelische Geschehnisse erlauben. Die Metapsychologie des sinnvoll 
wirkenden bewußtseinsunfähigen Unbewußten darf allerdings in der 
exklusiven Form, welche ihr Freud gegeben hat, mit der Lehre von 
der Verdrängung nicht verknüpft werden. In der Lehre von der 
polvmorphen Sexualität, von der primitiven Objektwahl und der Sym- 
bolik wird man wenig auch nur durch Intuition erfaßtes Haltbare finden 
können. Daß schon in früherer Jugend — als man das gemeinhin 
vor Freud annahm — sexuelle und erotische Regungen eine Rolle 
spielen können, wird anerkannt werden müssen, wenn auch von einem 
einheitlichen Schema, wie Freud es zu geben versucht, keine Rede 
sein kann, die individuellen Unterschiede vielmehr gerade hier sehr 
erhebliche sind. Auch daß bei der Attraktion durch den Partner in 
der Liebeswahl Züge des entsprechenden Teils der Eltern eine Rolle 
spielen können, daß ferner eine zu feste Bindung abnorm empfind- 
samer Persönlichkeiten an Eltern und nahe Angehörige ein normales 
Liebesleben überhaupt verhindern kann, wird zugestanden werden. 
(Gleichwohl wird man auch bei solcher Annäherung den Lehren 
Freuds nur mehr einen metaphorischen Wahrheitsgehalt zuerkennen 
können. Das gilt besonders von den Begriffen Sexualität, Libido, 
Erotik. welche die Analvse je nach Bedarf in den verschiedensten 
Bedeutungsschattierungen ganz willkürlich gebraucht, ohne freilich 
letzten Endes die Verwurzelung in der handgreiflichsten und gröbsten 
Bedeutung dieser Begriffe verdunkeln zu können. Unter sorgfältigster 
Ssonderung des wirklich Tatsächlichen oder auch nur des zu wirklicher 
empirischer Weıterarbeit Anregenden wird man Freuds Lehre von 
der infantilen Sexualität und den Pansexualismus seiner Neurosen- 
und Psvychosenlehre, wie seiner Normalpsvchologie in den wesent- 
lichsten Zügen als Produkt einer phantastischen Kombination ansehen 
müssen. Das allermeiste ist nicht beobachtet, auch nicht intuitiv 
erfaßt, sondern erdeutet. 





Zur Psychoanalyse. 273 


In keiner Weise haltbar, im Sinne einer Erfahrungswissenschaft 
unbewiesen aber auch in jedem Sinne von höchster Unwahrscheinlich- 
keit ist die Lehre von der Symbolik und der Deutung dieser. Die 
Behauptung, daß Traum, Neurose usw. sinnvoll aus dem Unbewußten 
determinierte Geschehnisse sind, ist nicht nur unbewiesen, sondern 
steht in Widerspruch mit vielen sehr gesicherten Tatsachen, ist über- 
haupt nur von gewagtesten Hypothesen getragen. Gerade in der Lehre 
von der Symbolik tritt am stärksten das Streben hervor, alles patho- 
logische und abwegige seelische Geschehen als zielstrebig und plan- 
voll hinzustellen. Dieser Versuch ist gänzlich mißlungen und bedeutet 
in Wahrheit einen Rückfall in vorwissenschaftliche Auffassungen. 
Der von den Anhängern der Psychoanalyse anderen Anschauungen 
oft gemachte Vorhalt, daß diese die Symptome als „zufällig“ be- 
trachteten, beruht auf einer Verwechslung der Verständnisprinzipien nach 
Grund und Sinn. Was kausal erklärt werden kann, braucht kein 
sinnvollles Geschehen zu sein. Diese letztere Entgegnung gilt auch den 
Lehren Adlers, der alles neurotische Geschehen ebenfalls als sinnvoll, 
aus der Kompensation der Minderwertigkeit verständlich, zu begreifen 
sucht. 

Die Übertreibung der Lehre vom Sinn ist das Schicksal der 
Psychoanalyse geworden. Diese ist in dem Deutungslexikon auf ein 
sehr tiefes Niveau herabgesunken. Und es ist nicht ganz leicht, wichtige 
Probleme, wie die der rationalen und verständlichen Zusammenhänge 
aus dieser Verballhornung herauszulösen und zu werten. 

Über die Psychologie der Ausbreitung der psychoanalytischen 
Lehren, welche zum Teil die Psychologie einer Art von Sektenbildung 
war, ist hier nicht zu handeln. Die vorstehenden Ausführungen haben 
sich bemüht, Einseitigkeit zu vermeiden nnd die Förderung durch an- 
regende Problemstellung und auch intuitive Erfassung von Tatsäch- 
lichkeiten, soweit solche anerkannt werden konnten, herauszuheben. 
Auch für die psychotherapeutische Praxis wird die Förderung der 
methodischen Möglichkeit, in das Seelenleben der Kranken einzudringen 
und sie zu bearbeiten, anerkannt werden. Das alles gilt von der 
Arbeit an Erwachsenen. Daß auch bei dieser gegenüber den An- 
sprüchen der Analyse die gemachten Zugeständnisse praktisch keine 
weitgehenden sind, dürfte genügend dargetan sein. 

Sehr viel negativer noch muß nach meiner Ansicht die Stellung- 
nahme in der Frage der Psychoanalyse bei Jugendlichen und Kindern 
sein. Auch hier wird der Assoziationsversuch und das fortlaufende 
Assoziieren kritisch angewendet, sich als ein mildes und unauflälliges 
Hilfsmittel, welches das Eindringen in die jugendliche Seele und ihre 


274 M. Isserlin: Zur Psychoanalyse. 


psychotherapeutische und heilpädagogische Bearbeitung erleichtert, be- 
währen können. Erfahrene Ärzte und Pädagogen werden freilich oft 
genug mit Recht meinen, auch ohne diese technischen Behelfe Ge- 
nügendes zu leisten. Eine sehr kritische Anwendung des kathartischen 
Verfahrens (Ausholen in Hypnose) möchte ich nicht verpönen, jedoch 
auf ganz besondere Fälle eingeschränkt wissen. Im ganzen aber kann 
ich meinen, was die Analyse von Kindern und Jugendlichen anlangt, 
ablehnenden Standpunkt nicht anders festlegen, als ich dies schon in 
diesen Blättern (28,, ff) getan habe. Schon die dauernde Einstellung 
des Jugendlichen auf sich selbst — diese angebliche Sokratische 
Selbsterkenntnis — ist ein der jugendlichen Seele durchaus unan- 
gepaßtes, gekünsteltes Verhalten, von dem ich bei krankhaft veranlagten 
Individualitäten genug unerfreuliche Folgen gesehen habe. Auch dem 
Erzieher frommt diese Einstellung gegenüber dem ihm anvertrauten 
Kinde oder Jugendlichen sehr wenig. Niemals werden wir von dem 
psychoanalytischen Reflexionssystem das Ergebnis einer Erziehung zu 
natürlichen, frischen Persönlichkeiten erwarten dürfen. Nicht ver- 
gessen sei auch, daß die Pflege der „Übertragung“ unbewußter 
erotischer Strebungen auf den Arzt bei Jugendlichen besonders un- 
erwünschte Folgen zeitigen kann. So sehr wir somit in der Analyse 
— bei Freud wie bei Adler — manches tiefe Problem getroffen 
fanden, so erschütternd bisweilen die fanatische Deduktion Freuds 
wirkt: stehen wir der Psychoanalyse im allgemeinen ablehnend gegen- 
über, so werden wir auf ihre Fernhaltung von der Jugend ein ganz 
besonderes Augenmerk richten. 

Freilich werden wir uns über die Wirksamkeit mahnender Kritik 
keinen großen Hoffnungen hingeben. Die Anziehungskraft der Analyse 
ist noch eine beträchtlich große; es ist angezeigt, sie zu Worte kom- 
men zu lassen, damit sie zeige, was sie wirklich ist und leistet. Die 
in der Analyse offenbarten Absurditäten sind doch häufig nicht ohne 
die entsprechende reaktive Wirkung. Und schließlich pflegen die 
meisten infektiösen Erkrankungen auch die Abwehrstoffe zu erzeugen, 
welche den Prozeß zum Stillstand bringen. 


Jugendliche Kotspieler.') 
Von 
Otto Rehm, Bremen. 


Der Ausdruck „Kotspieler* ist in Hinsicht auf eine Gruppe von 
Kindern und Jugendlichen gewählt, welche mit dem eigenen entleerten 
Kot Handlungen vornehmen, die triebhaft in spielerischer Art 
von den anerzogenen Gepflogenheiten abweichen. Das Kot- 
spielen steht in naher Verwandtschaft zu dem Kotschmutzen; ist aber 
von diesem durch das charakteristische spielerische Umgehen mit 
den Exkrementen zu unterscheiden. Es handelt sich zweifellos um eine 
Handlungsweise, die normwidrig, bezw. krankhaft ist. Sie findet 
sich nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Er- 
wachsenen; bei letzteren in Zuständen gestörten Bewußtseins oder bei 
Wegfall der ethischen Gefühle im Verlaufe von Verblödungsprozessen. 
Daß das Kotspielen auch gelegentlich bei Gesunden vorkommen kann, 
beweist der mir bekannte Fall eines Studenten, der, wie man annehmen 
kann, unter den. Einfluß des genossenen Alkohols, aber nicht in einem 
Zustande der Betrunkenheit, den im Schlafzimmer abgelegten Kot in 
Papiere einwickelte und aus dem Fenster auf die Straße warf. Einen 
Beweggrund für die auffallende und gewiß nicht alltägliche Handlung 
könnte man nur darin finden, daß der Betreffende zu faul war, das 
in Betracht kommende Lokal, welches unschwer zu erreichen war, 
aufzusuchen. Bekannt ist ferner der zweifellos unberechtigte Vorwurf, 
den die Belgier nach dem Kriege erhoben, nämlich daß die deutschen 
Soldaten mit Vorliebe in die Schiebladen defäziert hätten. Es würde 
sich bei dieser Erscheinung auch um ein in der Bequemlichkeit der 
Betreftenden begründetes Vorgehen handeln. 

Ob sich Zwangsvorstellungen in kotspielerischen Handlungen 
auswerten, ist mir nicht bekannt, und ich habe auch darüber in der 


1) Nach einem Vortrag in der Versammlung der Irrenärzte von Niedersachsen. 
2. 5. 1925. 


276 Otto Rehm: 


Literatur nichts gefunden, wie ja überhaupt die Literatur sich über 
unser Thema, das freilich nicht gerade ästhetisch wirkt und zu unlust- 
betonten Vorstellungen auf dem Gebiete verschiedener Sinnesorgane 
führen kann, so gut wie völlig ausschweigt. In Kraft-Ebings „Psycho- 
pathia sexualis“ ist ein Fall eines Onanisten angeführt, der von 
ihm gebrauchte Klosettpapiere auf der Bettdecke ausbreitete, bis durch 
Betrachtung und Beriechung derselben Erektion eintrat, die er dann 
zur Onanie benützte; also eine Art von Kotspielen zu sexuellen Zwecken 
bei einem Erwachsenen, über dessen anderweitige Psychopathie nichts 
erwähnt ist. Auch sonst sind Fälle bekannt, bei welchen auf der 
Grundlage psychischer Degeneration für gewöhnlich sehr ekel- 
hafte Geruchs- und Geschmacksvorstellungen lebhafteste Lustgefühle 
bis zu Orgiasmus und Samenentleerung hervorrufen. So führt Kraft- 
Ebing den Fall der religiösen Schwärmerin Antoinette Bouvignon de 
la Porte an, welche ihre Speisen mit Kot mischte, um sich zu kasteien. 
Die beatifizierte Maria la Coque leckte mit der Zunge den Auswurt 
und den Kot von Kranken auf. Kraft-Ebing prägte für diese Hand- 
lungsweise den Ausdruck „Koprolagnie“. Es ist zweifellos, daß das 
Kotschmieren und Kotspielen bei Erwachsenen und Kindern etwas 
Lustbetontes ist. Daß diese Lustbetonung durchweg einen sexuellen 
Charakter tragen müßte, ist weder bewiesen noch zu beweisen. Aus 
den folgenden Fällen wird hervorgehen, daß eine Verbindung der 
Sexualität und sexueller Handlungen mit dem Kotspielen oft vor- 
handen ist, daß diese Verknüpfung aber sehr wahrscheinlich nur so 
zu verstehen ist, daß bei den betr. psychopathischen Persönlichkeiten 
psychopathische Äußerungen in den verschiedensten Richtungen sich 
finden, also auch auf dem sexuellen Gebiete. 

Was die Kinder und Jugendlichen betrifit, so beobachten wir nicht 
ganz selten, vor allen bei den ersteren, das Kotschmieren, von dem 
hier nicht die Rede sein soll. Das Kotschmutzen behandelt eine 
Arbeit von Stier!) welche kürzlich erschienen ist, und in welcher mit 
Recht bemerkt wird, daß das besagte Thema bisher kaum erörtert ist- 
Schon che ich von dem Erscheinen dieser Arbeit wußte, hatte das 
merkwürdige Symptom des Kotspielens meine Aufmerksamkeit erregt. 
Abgesehen von den von Stier angeführten 4 Fällen ist mir aus der 
Literatur nur ein Fall bekannt geworden, den Emminghaus in seinem 
Buche über die psychischen Störungen des Kindesalters von 1887 an- 
führt. Es handelt sich um einen l5jährigen Knaben mit, wie er es 


!) E. Stier. Das Einschmutzen der Kinder und seine Beziehungen zum Einnässen. 
Zeitschrift für Kinderforschung. Band 30, Heft 3. S. 125. 


Jugendliche Kotspieler. 277 


nannte, geringgradiger Idiotie und interkurrenter Manie, der anhaltend 
mit Kot spielte und denselben an die Wände, in das eigene Gesicht 
und an den Mund schmierte. 

Daß das Kotspielen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, 
wie schon erwähnt, lustbetont ist, kann keinem Zweifel unterliegen. 
Es liegt schon im Begriff des Spielerischen, daß nicht eine Mißstimmung, 
sondern eine nicht nur der Handlung freundliche, sondern auch durch 
die Auswirkung derselben befriedigte Stimmungslage besteht. Wenn 
die Auffassung Freuds von dem Sexualleben des Kindes richtig wäre, 
daß diesem alie lustbetonten, nicht der Selbsterhaltung dienenden Trieb- 
befriedigungen zuzurechnen sind, was neuerdings Friedjung!) betont, 
würde auch das Kotspielen zu den Äußerungen des Sexuallebens zu 
rechnen sein. Immerhin tauchen einer solchen Ansicht gegenüber 
doch erhebliche Bedenken auf. Nach der angeführten Auffassung 
Freuds müßten fast alle asozialen Äußerungen des Seelenlebens der 
Kinder und Jugendlichen. z. B. Naschen und Diebstahl, Unstetigkeit, 
Lügenhaftigkeit, Auswirkungen unbewußter Sexualität sein. Wir würden 
demnach einzig und allein das Geschlechtsleben für alle asozialen 
Handlungen verantwortlich machen müssen. Wenn man auch zugeben 
will, daß das Geschlechtsleben in der Entwicklung der Jugendlichen 
eine außerordentlich große Rolle spielt, und man auch noch zugeben 
will, daß das Geschlechtsleben im Kindesalter anfängt, Körper und Geist 
mit neuen Energien zu beleben, so kann man doch nicht zustimmen, 
daß fast das ganze Tun und Lassen der Betreffenden im guten und 
im bösen Sinne auf eine sexuelle Grundlage zurückgeführt wird. 

Gewisse Forschungsrichtungen pflegen in der neuesten Zeit das 
psychopathologische Geschehen daraufhin zu untersuchen, ob es sich 
nicht um ein Zurückfallen in Gewohnheiten handelt, welche dem 
primitiven Menschen in der Vorzeit zu eigen waren. Wir können 
nicht annehmen, daß es sich bei der Erscheinung des Kotspielens um 
einen derartigen Rückfall (Atavismus) handelt. Wenn wir auch von 
dem Urmenschen sehr wenig wissen, so können wir doch durchaus 
glauben, daß derselbe mit seinen Exkrementen ebenso vorsichtig um- 
gegangen ist, wie der jetzt lebende unkultivierte Mensch. Sehen wir 
doch sogar bei den meisten Tieren die größte Reinlichkeit in dieser 
Beziehung obwalten. Ebenso ist die Möglichkeit, es könne sich um 
eine primitive Reaktion nach der Art eines unkultivierten Menschen 
im völkervergleichenden Sinne handeln, zurückzuweisen. 


1) J. Friedjung. Die kindliche Sexualität und ihre Bedeutung für Erziehung 
und ärztliche Praxis. Berlin, J. Springer, 1923. 


Otto Rehm: 


K 
-l 
0 6) 


Das Alter der hier in Betracht gezogenen Fälle, welche mit den 
vier von Stier beschriebenen 16 ausmachen, betrifit Kinder vom 8. bis. 
zum 14. Lebensjahre, dazu 2 Jugendliche im 16. bezw. 18. Jahre. Im 
wesentlichen sind die in Betracht kommenden Jahre das 10.—13. Auf 
die Geschlechter verteilen sich die Fälle in gleichen Hälften. Wie 
bei den meisten Fällen jugendlicher Verwahrlosung, so ist auch hier 
die erbliche Belastung mit Geisteskrankheiten, Schwachsinn und 
Psychopathie eine außerordentlich schwere. Bei 6 Fällen handelt es 
sich um Geschwisterpaare, bei denen sich zweifellos Nachahmung und 
Verführung erheblich auswirkten. In einem Fall wird der Vater als 
hochgradig leichtsinnig bezeichnet, in einem anderen war der Vater 
wegen Tierquälerei bestraft. In den Fällen eines Geschwisterpaares 
hatte die Mutter und deren Schwester als Kinder mit dem eigenen 
Vater geschlechtlich verkehrt. In einem Fall von Stier wird die Mutter 
als hypersexuell, als schmutzig, als Bett- und Kleidernässerin beschrieben. 
Es ist zu ersehen, wie ungünstig die Verhältnisse minderwertiger Um- 
welt auf die Kinder einwirken konnten. Lügen, Naschen, Stehlen, 
Schulelaufen sind die häufigsten Begleiterscheinungen der in Frage 
stehenden Persönlichkeiten in asozialer Beziehung. Bei der Hälfte der 
Kinder bestand oder besteht Bettnässen. Sowohl in den Fällen von 
Stier wie auch in den eigenen finden sich Zeichen von Grausamkeit; 
Kinder, welche Tiere quälen, Insekten Beine ausreißen, Tiere erdrosseln; 
eines sprach davon, wie schön es wäre, wenn man jemanden den Kopf 
abschneiden könnte, alles Zeichen einer perversen Gemütsveranlagung 
für die betreffende Altersstufe bezw. Zeichen eines Stehenbleibens der 
Gemütsentwicklung auf einer früheren Altersstufe, auf der Stufe eines 
kleinen Kindes. 

Im Gegensatz zu dieser Entwicklungsstörung steht bei den meisten 
Fällen die vorgeschrittene Entwicklung des Geschlechtstriebes. Die 
Auswirkung desselben beruht zum Teil in Onanie, zum Teil in gegen- 
seitiger Masturbation, weiterhin in homosexuellen Handlungen, die in 
einem Verkehr per anum gipfeln, und schließlich in versuchtem und 
auch ausgeführtem geschlechtlichem Verkehr mit Mädchen. Die ge- 
schlechtlichen Handlungen zeigen den Charakter des Spielerischen und 
wickeln sich mit Vorliebe zwischen Geschwistern, den natürlichen Spiel- 
genossen, ab. 

Das Kotspielen als das den gesamten Fällen gemeinsame Symptom 
besteht in Verstecken des Kotes, nachdem er eingewickelt war. Das. 
Herumschmieren mit demselben pflegt nebensächlich zu sein oder auch 
gar nicht in Erscheinung zu treten. Die Triebfeder des Kotspielens 
ist entweder eine Art von Spiel oder die Freude, andere zu ärgern 


Jugendliche Kotspieler. 279 


oder anderen zu schaden; letzteres dadurch, daß die Entdeckung durch 
den Erzieher dem Nichtschuldigen eine Strafe zuzieht. Die betreffenden 
Kinder sind schadenfroh und heimtückisch, Eigenschaften, welche mit 
den erwähnten der Grausamkeit eine nahe Verwandtschaft aufweisen. 
Eines der kotspielerischen Mädchen entwickelte sich später zur jugend- 
lichen Prostituierten; das Kotspielen war verschwunden, die Grausam- 
keit blieb; so drückte es z. B. unter der Begründung, es möchte gerne 
im Zuchthaus sein, in einem Heim den kleineren Mädchen die Kehle zu. 

Abweichend von den eben behandelten Fällen sind zwei andere. 
Ein faules, diebisches, hinterlistiges, dabei ängstlich schüchternes Mädchen 
hatte ihm dargebotene, zu dick geschnittene Scheiben Brot öfters in 
den Ofen gesteckt. Es flüchtete vor der scheltenden Hausdame zum 
Klosett und pflegte dort sehr lange zu bleiben. Als ihm dies verboten 
wurde, ließ es nachts den Kot auf Papier und legte ihn in die Wasch- 
schüssel. Als Ausreden gebrauchte es, daß es Angst vor Verbrechern 
habe und deshalb nicht aus dem Dachgeschoß, wo es schlief, zu dem 
im Erdgeschoß befindlichen Klosett gehen wollte. In diesem Falle 
fehlen offenkundige sexuelle Symptome, wie auch eine Veränderung 
des Gemütszustandes im Sinne der Grausamkeit. 

In einem anderen Falle handelte es sich um einen männlichen 
Jugendlichen, der von Mutterseite mit Psychopathie belastet war, und 
dessen Geschwister teils hysterisch, teils lügenhaft, imbezill und Bett- 
nässer waren. Nach Überwindung einer geistigen und körperlichen 
Entwicklungsverlangsamung besuchte er höhere Schulen, versagte aber 
dort, als er mit einer Freundin seiner Schwester und mit Kellnerinnen 
aus der elterlichen Gastwirtschaft geschlechtlichen Verkehr begann. 
Mit 18 Jahren fing er an, Schwindeleien im Großen zu betreiben. 
In Paris schloß er Freundschaft mit dem bald als Schwindler ent- 
larvten „Kaiser der Sahara“. Bei seiner Festnahme fand sich in den 
Schichbladen seines Zimmers in Zeitungspapier eingewickelter Kot. 
Er begründete diese Handlungsweise damit, daß er eine unüberwind- 
liche Scheu habe, zum Klosett zu gehen, und zwar aus Furcht vor 
Spinnen. 

Überblicken wir die Fälle im ganzen, so sehen wir, daß wir 
einer großen Gruppe von Persönlichkeiten gegenüberstehen, deren 
soziales und psychisches Krankheitsbild ziemlich einheitlich 
ist. Zu dieser Gruppe zählen auch die von Stier angeführten Fälle. Es 
handelt sich um Kinder, welche sozial erblich belastet sind, bei einigen 
läßt sich eine gleichartige soziale Abwegigkeit der Eltern nachweisen. 
Sie entgleisen auf allen sozialen Gebieten, welche den Kindern zu- 
gänglich sind, das sind im wesentlichen Vergehen gegen fremdes 


280 Otto Rehm: 


Eigentum, Herumtreiben und sexuelle Ausschweifungen. Klinisch 
findet sich Belastung mit Schizophrenie, Schwachsinn, Affektlabilität 
und anderen Äußerungen von Psychopathie. Körperlich pflegen ner- 
vöse Symptome allgemeiner Art vorhandeu zu sein. Die von Stier 
geschilderte Unempfindlichkeit der Haut konnte nicht festgestellt werden. 
Psychisch fehlen Erscheinungen von seiten des Intellekts, der Denk- 
tätigkeit überhaupt, und des Willens; gestört ist die Gemütstätigkeit; 
es besteht eine Art von Affektperversität im Sinne der Hinterlistigkeit, 
der Heimtückischkeit und der Grausamkeit. Das Bettnässen, welches 
sich in der Mehrzahl der Fälle zeigt, ist als eine Erscheinungsform 
der Neuropathie zu werten in dem Sinne, daß der ungewöhnlich tiefe 
Schlaf die infolge der Erziehung gewohnten Alarmmechanismen von 
seiten der Blaseninnervation unwirksam macht. Bei allen Fällen der 
Gruppe ist das sexuelle Triebleben vorzeitig entwickelt, wenn es sich 
auch noch im Rahmen des Halbbewußten und Spielerischen bewegt. 

Nach den Erfahrungen bei Jugendlichen und Erwachsenen 
handelt es sich um soziale und psychische Störungen, welche in der 
Zeit der herannahenden geschlechtlichen Reife auftreten und mit der 
Reifung verschwinden, also um Störungen, welche mit der Ent- 
wicklung aus der Kindheit zur Jugend zusammenhängen. Wir 
wissen aus vielfältigen Erfahrungen, daß homo- und heterosexuelle 
Handlungen in der der Pubertät naheliegenden Zeit sehr häufig vor- 
kommen. Ähnlich verhält es sich mit dem Bettnässen. das in der Zeit 
der Jugend bis gegen die Mannbarkeit hin rasch zurückzutreten pflegt. 
Die Affektstörung ist ebenfalls aufzufassen als ein Stehenbleiben auf einer 
früh kindlichen Entwicklungsstufe; bekanntlich entwickelt sich das Ein- 
fühlen in die Gemütsreaktionen der Umgebung, besonders das Mitleid, 
in der Regel im 4. bis 5. Lebensjahre, während bis dahin das Fehlen 
jeglicher altruistischer Gefühle bis zur Grausamkeit die Regel ist. 

An die Perversität des sexuellen Trieblebens reiht sich der per- 
verse Trieb des Kotspielens zwanglos an. 

Die erwähnte Gruppe steht an Massivität der Erscheinungen 
sozialer und psychischer Art nicht hinter der Gruppe der jugendlichen 
Prostituierten zurück. wenn sie auch mit dieser keinerlei innere 
Verwandtschaft hat. Immerhin eröffnet uns die Ermöglichung der 
Umgrenzung des beschriebenen Krankheitsbildes, welches Stier ın 
seiner Arbeit angedeutet hat, die Aussicht. durch die Zusammenfassung 
sozialer und klinischer Symptome aus der großen Masse kindlicher 
und jugendlicher Psyehopathen noch weitere Gruppen herauszuschälen, 
und gibt die Hoffnung. daß wir die Ansicht von der Aussichts- 
losigkeit klinischer Gruppierung auf dem Gebiete der Psychopathie, 


Jugendliche Kotspieler. 281 


wie sie von Schneider und anderen angenommen wurden, nicht zu 
teilen brauchen. 

Eine zweite kleinere Gruppe von Kotspielern findet sich unter 
den Gemütserregbaren. Dazu zählt das verwöhnte ängstlich-schüchterne,, 
allerdings auch hinterlistige Mädchen, und der erregbare pathologische 
Schwindler, von dem vorhin die Rede war. Hier handelt es sich nicht 
um Entwicklungsstörungen im engeren Sinne, sondern um krankhafte 
Hemmungen, welche teils mit Verschlagenheit, teils mit Angst, bei- 
nahe im Sinne von Zwangsvorstellungen, gepaart sind. Wenn wir nun 
zurückkommen auf den gesunden kotspielerischen Studenten und er- 
wähnen, daß Kotschmieren bis zu spielerischen Handlungen bei 
Psychosen verschiedener Art gelegentlich beobachtet wird, so kommen 
wir zu dem Schluß, daß das Kotspielen eine Erscheinung ist, die 
nicht einer Krankheit als spezifisches Symptom zukommt, daß aber 
das Kotspielen bei einer wohlumschriebenen krankhaften Störung der 
kindlichen Entwicklungszeit vorzugsweise beobachtet wird. 


Der Umfang des Beachtens 
bei einem Schwachbefähigten. 
(Aus einer Wiener Dissertation: „Über psychische Störungen bei einem Schwach- 
befähigten.“ !) 
Von 
Prof. Dr. Anton Simonic, Wien. 
(Mit 26 Textabbildungen.) 


Einleitend soll zunächst der Gesamteindruck des Knaben ge- 
schildert werden. 

In körperlicher Hinsicht war dieser etwas über sein Alter (12 J.) 
entwickelt, groß, stark, wohlgenährt. Der Gang war unbeholfen, der 
Tritt schwer; die Ausdrucksgebärden zeigten lebhafte Unruhe, ebenso 
der Blick. Wenn er ins Zimmer trat, geschah es stets geräuschvoll; 
fast regelmäßig schlug er die Tür zu; er sprach lauter, als es nötig 
war; man hatte immer Grund zur Vermutung, er sei gereizt. Die an- 
fänglichen Bedenken gegen einen normalen Zustand steigerten sich im 
Verlaufe der weiteren Beobachtungen immer mehr und alle Anzeichen 
deuteten auf einen psychopathischen Grenzzustand hin in der Form 
des sogenannten „psychasthenischen Kindertypus“?), der oft kurz 
„nervöser“ bezeichnet wird. Ein etwas mongoloider Gesichtsausdruck 
mit dem schon angedeuteten Facialisphänomen, klobige Finger bestärken 
die Annahme; die oft bei solchen Kindern vorkommenden „Tic“ zeigten 
sich bei diesem Knaben in Form der ununterdrückbaren Schluck- 
bewegungen, besonders nach einer gestellten Frage, im Zustand der 
Erwartung oder des Nachdenkens; sehr häufig fielen mir auch Schüttel- 
bewegungen der Schulter und gewohnheitsmäßiges Räuspern auf. An- 
sätze zum Nachahmungstic werden weiter unten besprochen. 

In der Schule, im Verkehr mit gleichaltrigen Kameraden zeigte 
der Knabe auffallende Absonderung; dies machte ihn oft zur Ziel- 
scheibe von Neckereien, die er in sciner reizbaren Art häufig mit 








Y Aus der gleichen Arbeit bereits veröffentlicht: „Die Gruppenauffassung als 
Intel';wenzfaktor.* (Vgl. „Zeitschrift für Kinderforschung“, Bd. 28, Heft 3/4, 1924.) 
°) Th. Heller, Psychasthenische Kinder, Langensalza, 1907. 


Simonic: Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 283 


ziemlich grobem Zuschlagen ohne Rücksicht auf empfindliche Körper- 
stellen (wie Augen, Magengegend) beantwortete. 

Sehr ausgeprägt war bei ihm eine bis auf die Spitze getriebene 
Pedanterie, für sein jugendliches Alter sehr bedenklich. Lagen Lineal, 
Bleistift, Hefte u. dgl. auf seinem Tische zu Hause nicht an den ge- 
wohnten Stellen, so konnte er über .den Urheber der Störungen in 
förmliche Wutausbrüche geraten; fand er nicht gleich ein Gebrauchs- 
stück, fing er zu weinen an und erklärte den ganzen Tag für „ver- 
patzt“. Man vergleiche damit die Mehrzahl unserer „normalen“ Kinder, 
die eher zu einer gewissen Schlamperei neigen. 

Für Spiele mit gleichaltrigen Knaben hatte er nichts übrig. Der 
Markensammlung seines um drei Jahre jüngeren Bruders stand er 
interesselos gegenüber. Für Reales war er überhaupt wenig ein- 
genommen; seine Spiele, Pläne, Ziele. hatten etwas Unnatürliches, 
Phantastisches. 

Ermüdung trat bei ihm sehr leicht ein; dieser Mangel an Ausdauer 
war verbunden mit Neigung zu Unaufmerksamkeit, Zerstreuung. Es 
fiel ihm ungemein schwer, länger bei einer Sache zu bleiben. 

In rein intellektueller Hinsicht zeigte sich indes eine Abnormität 
nicht so offenkundig; die meisten Leute zeigten sich sogar nach einer 
ersten Begegnung mit dem Knaben über dessen Eindruck ganz be- 
fiiedigt. Aber schon eine geraume Zeit genauer orientierender Be- 
obachtung zeigte deutlich, daß der Knabe nichts weniger als intelligent 
war, vielmehr der „erste gute Eindruck“ seines Auftretens auf einer 
Täuschung beruhte, die insofern bei weniger gründlichem Zusehen ge- 
lingen konnte, weil seine assoziativen Leistungen verhältnismäßig gute 
waren und er daher durch gedächtnismäßige Aneignung und gelegent- 
liche Wiedergabe von Anschauungs- und Denkergebnissen sowie Aus- 
sprüchen anderer zu blenden vermochte. 

Insbesondere ahmte er mit Geschick Rede und Art Erwachsener 
nach. Auf den bei solchen Kindern stark ausgeprägten Nachahmungs- 
trieb führt Heller!) jene Formen von Tic zurück, die er als „Nach- 
ahmungstic“ bezeichnet. Er verweist auf ihren „Scharfblick für die 
Sonderbarkeiten der Personen und ihrer Umgebung“ und spricht von 
„einem gewissen schauspielerischen Talent“. Eigentümlichkeiten der 
Sprache werden mit besonderer Vorliebe nachgeahmt. 

Einmal charakterisierte der Junge z. B. das Aussehen eines der 
Lehramtskandidaten, die in der Klasse (der Knabe besuchte 
die Übungsschule einer Lehrerbildungsanstalt) Lehrantritte hielten 


') Heller, Grundriß der Heilpädagogik, Engelmann, Leipzig 1912, 2. Aufl. S. 95 f. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Band. 19 


284 Anton Sımonic: 


folgendermaßen: „Haben Sie schon bemerkt, unter den Kandidaten ist 
einer, der sieht aus wie ein Chinese; das ist bestimmt kein hiesiger (!) 
Mensch.“ (Der Betreffende trug das Haar glatt geschoren.) Mit be- 
sonderer Vorliebe ahmte er Gebärde und Sprache jedes in der Klasse 
neu auftretenden Kandidaten nach. Fast täglich wartete er mir mit 
solchen Vorführungen auf. Liehlingsrollen von ihm waren ferner die 
des „resoluten* Erwachsenen, bald höflich, bald kurz angebunden, 
fast immer mit Ausdrücken, die in die Umgangssprache seines Alters 
gar nicht paßten, aus dem Milieu Erwachsener entlehnt waren. Zum 
Direktor der Schule kam er zu Ende des Schuljahres mit feierlicher Miene 
in die Kanzlei, reichte ihm in „kollegialer“ Weise, die Heiterkeit er- 
regte, die Hand und sagte: „Also, Herr Direktor, ich erlaube mir, 
mich heute zu verabschieden, denn ich (!) reise morgen weg, aufs 
Land.“ Einmal charakterisierte er einen häufigen Besuch der Familie 
fast wörtlich so, wie es ein anderes erwachsenes Familiermitglied mir 
gegenüber schon einmal getan hatte. Einen seiner früheren Lehrer 
kritisierte er gelegentlich mit den Worten: „Wozu hat uns dieser Lehrer 
das eigentlich eingepickelt?“ (Es handelte sich um eine Gruppe von 
Vorwörtern.) Als ich einmal bei meinem Kommen einige Bücher auf 
den Tisch legte, bemerkte er: „Na, heute haben Sie viel vor mit mir, 
das seh ich schon.“ Ein andermal bemerkte er: „Sie wissen zwar 
rasend (!) viel, aber alles wissen Sie doch nicht.“ Und: „Heute muß 
ich Sie wieder etwas fragen, damit Sie mir noch mehr Weisheit ein- 
gießen können; ich werde alles in mein Gehirnbuch schreiben.“ 

Die eigenen Beobachtungen des Knaben indes waren äußerst un- 
selbständig, unbeholfen, unoriginell; dies zeigte sich besonders an 
seinem Tagebuch, das er auf meine Veranlassung führte. Die Phantasie 
war im Vergleich zu den Leistungen anderer gleichalteriger Kinder 
sehr ärmlich, so gut wie gar nicht kombinierend, eher planlos 
schweifend, höchstens blasiertunnatürlich und dann befremdend 
anormal, fast krankhaft. So faselte er gern von einer Geldfabrik, die er 
in Moskau besäße, zu seinen Mitschülern und auch zu mir; einmal 
nannte er mir sogar den Namen und die Nummer der Straße, wo sie 
stehen sollte. Einst empfing er mich mit den Worten‘ „Wenn Sie 
heiraten, brauchen Sie keine Hochzeitsreise machen; denn ich nehme 
Sie auf meine mit, nach Granada. Wenn ich die Landwirtschaftsschule 
absolviert habe, verlobe ich mich sofort. Ich miete für die Reise 
einen eigenen Waggon.“ (Auffallend ist der sprunghafte Wechsel im 
Inhalt der Sätze; stofflich stammt dieser, was das Endziel der Route 
betrifft, aus der Lektüre von Reischildern.) 

Sehr langsam zeigte sich der Knabe im Auffassen von Aufträgen, 


Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 985 


Situationen, Gelesenem; auch im Vergleich zu jüngeren Altersgenossen. 
Wenn ihn beispielsweise seine Mutter bei Regenwetter auf eine 
kommende Lache schon einige Meter vorher aufmerksam machte, 
pat-chte er trotzdem hinein. Einmal entführte ihm auf der Straße der 
Wind den Hut; er blieb ratlos stehn, bis sich Mitschüler seiner annahnıen. 
Bei der Lektüre von Sven Hedins „Von Pol zu Pol“, die gemeinsam 
gepflegt wurde, fragte er weitaus öfter nach Erläuterungen gewöhn- 
lich sehr einfacher Verhältnisse als sein um drei Jahre jüngerer 
Bruder, der auch an der Lektüre teilnahm. 


Dazu kam noch eine auffallende Unselbständigkeit im Denken 
und Urteilen. Vor den einfachsten Fragen nach kausalen Zusammen- 
hängen blieb er stumm. Seine Mutter, die durch das stete Betreuen 
des nicht normalen Kindes eine feinfühlige Pädagogin geworden war, 
wußte eine Reihe derartiger Beispiele anzugeben. So konnte der Knabe 
nicht sagen, warum an windigen Tagen die Windfahne gerade nach 
dieser oder jener Richtung weise, warum der Rauch von allen 
Kaminen ein und dieselbe Zugrichtung habe u.a. m. Rechenaufgaben 
auf selbständige Art nach verschiedenen Wegen zu lösen, gelang ihm 
nie. Ich konnte ihn oft beim Erledigen der Schulaufgaben beobachten; 
er benützte dabei schlagwortartige Notizen, wobei er ganz äußerlich 
die in der Schule erarbeiteten Gedankengänge festhielt, wie: zuerst 
Multiplizieren, dann Dividieren, hierauf eine Subtraktion u. dgl. Oder 
die Lösung gelang ihm durch gedächtnismäßiges Festhalten des Lösungs- 
vorganges ähnlicher Aufgaben durch rein laterale Denkbewegung. 


Mit Ausnahme des Gedächtnisses zeigten sich also die materialen 
Voraussetzungen und Vorbedingungen der Intelligenz!) mangelhaft 
entwickelt. Noch mehr im Argen aber lag es mit den formalen Vor- 
bedingungen. 

Der Knabe, dessen besondere Führung und Beeinflussung schon 
seit Jahren hätte einsetzen sollen — ob gerade durch Übergabe in 
eine Hilfsschule oder in ein Spezialinstitut, erschien mir nicht ohne 
weiteres als alleiniger Ausweg; als solcher wäre auch, besonders für 
die Annahme einer „nicht dauernden psychopathischen Minderwertig- 
keit“, psychiatrisch wohlorientierte heilpädagogische Sonderbehandlung 
neben dem normalen Schulunterrichte in Betracht gekommen — hatte 
noch nie den Segen einer planmäßig geleiteten Übung bestimmter de- 
fekter Funktionen seiner Psyche genossen, obschon er einer solchen 
— ich konnte das schon nach wenigen Wochen, wie ich glaube, ein- 
wandfrei feststellen — individuell zugänglich war. Der hohe Wert der 





) E. Meumann, Intelligenz und Wille, Quelle & Meyer, Leipzig 1908. S. 131. 
19* 


2S6 Anton Sımonıc: 


Übung für normale körperliche und geistige Verfassungen gilt eben 
auch, mit entsprechenden Einschränkungen und tieferer Zielsetzung, 
für nicht ganz normal Veranlagte, namentlich wenn, wie in unserem 
Falle, Jugend und körperliche Gesundheit als fördernde Momente in 
Betracht kommen. 

Im übrigen erschien mir die Behandlung dieses Jugendlichen als 
einer jener typischen Fälle, in denen die von Strohmayer') so ein- 
gehend erörterte „Grenzregulierung zwischen Psychiatrie und Pädagogik“ 
auch in praxi leicht durchzuführen war. Es war im Sinne obigen 
Autors eben einer jener „unfertigen psychopathischen Zustände“, die, 
„eine gewisse Bildungsfähigkeit nicht nur nicht ausschließen, sondern 
sogar in ihrer Behandlung weitgehende pädagogische Maßnahmen er- 
fordern“, und zugleich eines jener Individuen, auf das die Kochsche 
Definition von der sogenannten psychopathischen Minderwertigkeit 
„haarscharf“ zutraf, „daß ihre psychische Regelwidrigkeit zwar keine 
Geisteskrankheit darstelle, sie aber doch nicht im Vollbesitze geistiger 
Normalität und Leistungsfähigkeit erscheinen lasse.“ 

Was einen weiteren formalen Faktor der Intelligenz betrifft, die 
Gewöhnung, so hätte der Knabe bei längerer kundiger Behandlung ge- 
wiß ein besseres psychisches Gesamtbild seines Verhaltens geboten; 
ist doch die Gewöhnung eine Folge der Übung und wie diese potentiell 
fast unbegrenzt. Leider zeigte sich der Knabe auch in dieser Hin- 
sicht bei seiner Übernahme gänzlich sich selbst und manchen tastenden 
Versuchen seiner Mutter überlassen. 

Als sehr erschwerend für die Behandlung zeigte sich, wie bei fast 
allen Kindern dieser Art, seine schnelle Ermüdbarkeit, die er oft selbst 
in meiner Gegenwart beklagte und darauf erklärte, nicht mehr arbeiten 
zu können. Zum Glück hatte seine Mutter einen natürlichen, gesunden 
Blick für die Diätetik der häuslichen und schulischen Lernarbeit ihres 
Sorgenkindes und von einer in ähnlichen Fällen sonst häufigen An- 
lage zu Hypochondrie konnte ich nichts bemerken. 

Am weitaus bedenklichsten schien mir jedoch die Art, wie sich 
der Knabe, zunächst ganz allgemein gesprochen, im Zustande der 
Aufmerksamkeit verhielt. Hier erkannte ich nach mehreren Wochen 
sorgfältigster Beobachtung den Hauptdefekt im Geistesapparat des 
Knaben und die wichtigste Ursache seines Versagens bei Intelligenz- 
leistungen. Ranschburg bezeichnet unter sämtlichen Defekten der 
geistigen Fähigkeiten von Schwachsinnigen „keine einzige derart all- 





O W. Strohmayer, Vorlesungen über die P’sychopathologie des Kindesalter». 
Laupp. Tübingen. 1910. 





Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 287 


gemein, konstant nnd auffallend, als eben die Schwäche der Auf- 
merksamkeit, d. h. der Fähigkeit, die Energie des Bewußtseins, mit 
Vernachlässigung sämtlicher übrigen um dasselbe werbenden Emp- 
findungen oder Vorstellungen, auf einen bestimmten äußeren oder 
inneren Blickpunkt zu richten ünd daselbst längere Zeit festzuhalten“. ?) 


Sehr charakteristische Verhaltungsweisen des Knaben bestätigten 
denn auch sehr bald meine obige Annahme, daß in erster Linie gewisse 
Störungen in der Funktion des Beachtens zur Deutung minder- 
wertiger geistiger und körperlicher Leistungen heranzuziehen seien. 
Haben wir es hier doch mit dem wichtigsten formalen Faktor der 
Intelligenz zu tun, der nicht voll zur Geltung kommt. 

Ich hatte der Mutter des Knaben geraten, ihm gewisse häusliche 
Ämtchen zu übertragen, wozu u. a. das Öffnen der Wohnungstür 
beim Läuten gehörte. Da machte ich nun die Wahrnehmung, daß 
der sonst so höfliche Bub, ganz durch Aufsperren, Lösen der Ver- 
schlußkette, Öffnen und Zuschließen in Anspruch genommen, regel- 
mäßig auf den Gruß vergaß. 

Noch auffallender aber verhielt sich der Knabe in folgender 
Situation, die einen Vergleich mit einem 2—3jährigen Kind zuläßt: 
Er hält ein Notizbuch in der Hand, eben im Begriffe etwas 
einzuschreiben; da läutet die Türglocke — er läßt das Buch 
fallen und eilt zu öffnen! Man vergleiche damit das Verhalten 
kleiner Kinder, die etwa den Ball fallen lassen, wenn man ihnen ein 
anderes Spielzeug bietet! 

Dieses rasche Ablösen eines kaum erfaßten Bewußtseinsinhaltes 
durch einen andern finden wir im Verlauf der Untersuchung des 
öftern; die zur genaueren Beobachtung dieses Defekts eigens ge- 
schaffenen Situationen zeigten immer auffallende relative Erschöpfbarkeit 
der geistigen Konzentrationsfähigkeit, Ermüdbarkeit der Aufmerksam- 
keit dem auslösenden Objekte gegenüber. Ranschburg bezeichnet 
a. a. O. dieses Verhalten als charakteristisch für die sogenannte erethische 
oder instable Gruppe der Schwachbefähigten (im Gegensatz zur Gruppe 
der Anergetischen oder Apathischen), was im folgenden bestätigt 
werden kann. 


Mit dieser Beobachtung glaubte ich endlich die Stelle gefunden 
zu haben, wo das Experiment einzusetzen und die Beobachtung zu 
unterstützen hätte; der Fingerzeig der Beobachtung war deutlich. 
Die Raschheit, mit der ich im Verlauf der Untersuchung Ein- 


') Im Encyklopädischen Handbuch der Heilpädagogik von Danne- 
mann, Schober und Schulze, Machold. Halle 1911, S. 187. 


988 Anton Sıimonie: 


blick in das komplizierte Seelenleben dieses Jugendlichen bekam, die 
weitaus größere Sicherheit in der Deutung so mancher Eigentümlich- 
keiten, ließen mich bei dieser Arbeit, wie noch nie vorher, die Be- 
deutung des Experiments schätzen; anderseits war mir klar, daß mich 
nur geduldige, abwartende Beobachtung ohne vorschnelles Herumtasten 
und blindes Experimentieren bis an diese — ich möchte sagen — 
Einbruchstelle geführt hatte. 

In die nun folgenden Versuche über den Umfang des Be- 
achtens bezog ich außer der Hauptversuchsperson, Vp. 1, zwei normal 
veranlagte, annähernd gleichaltrige Knaben als Vpn. 2 und und 3. 
Das Alter der Vp. 1 belief sich auf 12 Jahre; Vp. 2 ist in den Schul- 
leistungen mittelmäßig, Alter 11; 8. Vp. 3 weist guie Schulzensur auf 
bei einem Alter von 11; 3. 

Zur Prüfung des Umfangs des Beachtens wurden vier tachisto- 
skopische Versuche mit je fünfmaliger Exposition zu !/ Sekunde an- 
gestellt. Als Regulator diente ein Metronom mit abgedämpftem Schlag. 
Als sich jedoch bei den Vorversuchen zeigte, daß die Metronomschläge 
Vp. 1 erheblich irritierten, ersetzte ich sie durch stilles Zählen 
und behielt sie nur für die Vp. 2 und 3 bei. Ein kleines Hand- 
tachistoskop, im wesentlichen aus Rahmen und Schieber bestehend, 
diente mir als Apparat. Die Vpn. konnten davor wie bei den all- 
täglichen Schreib- und Leseaufgaben arbeiten. Diese wenig umständ- 
liche Versuchsanordnung mußte ich wegen Vp. 1 treffen, die durch 
allzu Ungewohntes, Fremdartiges leicht mißtrauisch, erregt, leistungs- 
unfähig, ja sogar störrisch werden konnte. 

Die Instruktion lautete: „Gib acht! Ich werde den Schieber nur 
ganz kurze Zeit öffnen. Du schaust scharf hin, was dahinter ist, und 
zeichnest sofort auf, was du dir gemerkt hast. Achtung!“ 

Nach einigen, insbesondere bei Vp. 1 sehr nötigen Vorversuchen 
konnten die Hauptversuche glatt angestellt werden. 


Versuch 1. 
Exponiertes Objekt. 
(Abb. !.) 
Schon das Ergebnis der ersten Probe reiht Vp. 1 weit hinter 
2 und 3. 
Vp 1. 
(Abh 2.) 
Vp. 2 Vp 3. 
(Abb. 3) (Abb. 4.) 
Vp. 1 hat wohl (und, wie ich auf Grund scharfer Beobachtung 
während der Wiedergabe sicher behaupten kann, zufällig) die Gesamt- 
zahl der Elemente (13) erfaßt, nicht aber deren Lage und Verteilung 


-n a. 





Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 289 


so gut wie die Vpn. 2 und 3, insbesondere, was die Elemente an den 
vier Ecken betrifft. Vp. 3 übertrifft Vp. 2 in bezug auf die mittlere 
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Abb. 1. 


Abb. ? 
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Abo. 3. ® ® 
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Abb. ¢ł 


290 Anton Simonic' 


Partie, die Vp. 1 gänzlich schlecht aufgefaßt hat. Vp. 2 hat diese 
ganz ausgelassen, Vp. 3 betreffs Lage und Verteilung fast einwandfrei 
wiedergegeben. 

Bei der 2. Exposition und Wiedergabe bringt Vp. 1, mit wesent- 
lich schlechterer Leistung statt 13 ganz falsch 18 Elemente; die 
Gruppierung in der Mitte ist noch weniger getroffen. 

Vp. 1. 
(Ab 5) 

Meine Annahme, daß bei der ersten Wiedergabe (Abb. 2) nur 
zufällig die 13 Elemente getroffen wurden, ist wohl berechtigt. Es bleibt 
indes auch die Deutung, daß die immerhin anstrengende erste Probe 


00 


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Abb. 5. 


Ermüdungswirkungen zeige. Charakteristisch ist die Bemerkung nach 
diesem Teilversuch: „Ich verstehe nicht, wozu das sein sol.“ Sie 
läßt u. a. erkennen, daß Vp. 1 nicht ganz bei der Sache ist, auch 
seine Unsicherheit deutlich fühlt. 

Vp. 2, die dem konzentrativen, langsam aufbauenden Typus zu- 
gehören scheint, hat bereits Vp. 3 eingeholt. Die Gruppierung ist 
bei beiden entsprechend dem exponierten Objekt, nur Ungenauigkeiten 
in den Details fallen noch auf. (Um Raum und Kosten zu sparen, 
werden im folgenden unwesentliche Veränderungen in den Leistungen 
nur durch Beschreibungen wiedergegeben.) 

Die Leistung der Vp. 1 verschlechtert sich weiter bei der 3. Ex- 
position und Wiedergabe. !) Wiederum ist die Mittelgruppe nicht auf- 
gefaßt, sondern beziehungslos hingeworfen. Die zwei unteren Eck- 





') Von nun ab als E. und W. bezeichnet. 


Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 291 


gruppen erscheinen nunmehr aus dem Bewußtsein verdrängt, die obere 
ist etwas nach unten verschoben; Gruppierung falsch. 

Vp. l. 

(Abb. 6) 

Als psychologische Tatsache ergibt sich schon jetzt deutlich: 
auffallend geringer Umfang des Beachtens, der sich einerseits kund- 
gibt in der geringen Anzahl richtig aufgenommener Elemente, ander- 
seits in der Unfähigkeit, bereits Erfaßtes festzuhalten, Neues mitauf- 
zufassen. Die Ergebnisse der ersten zwei Leistungen (Abb. 2 und 5} 
wirken bei der dritten Leistung (Abb. 6) kaum mehr fort. Sicher hat 
auch das pathologische Moment der vorschnellen Ermüdung großen 
Anteil an dem raschen Sinken der Qualitätskurve. Sehr bezeichnend 
ist eine neuerliche Bemerkung nach diesem 3. Teilversuch: „Ich bin 
neugierig, welches das beste ist.“ 

Vp. 3 hat die Elemente entlang der Diagonale von links unten 
nach rechts oben völlig richtig, Vp. 2 nur die linken Seitenelemente 


0 o 
DO a e 


2, FA 


in Details verschlechtert zugunsten der rechten, die nunmehr richtig 
wiedergegeben sind. Vp. 3 erweist sich als temposchneller, sicherer 
distributiver Typus, der Vp. 2 an Trefflichkeit der Gruppierung und 
auch richtigen Details überlegen. 

4. E. und W. — Vp. 1 wieder dieselbe Fehlleistung, nur in der 
Mittelgruppe ein Element weniger als vorher. Abermals weiß sie eine 
Bemerkung beim Abgeben der Probe, obwohl ihr dies wiederholt bei 
den Vorversuchen untersagt worden war: „Nicht wahr, auf Maß schauen 
Sie nicht?“ Vp. 2 hat die Mittelpartie jetzt ganz richtig erfaßt und 
damit Vp. 3 eingeholt; beide haben nunmehr 9 Elemente vollkommen 
richtig, die übrigen 4 nur in Details falsch. 

Bei der 5. und letzten E. und W. ist eine kleine Besserung der 
Leistung bei Vp. 1 bemerkenswert: die bei E. und W. 3 (Abb. 6) 
fallen gelassenen Elemente in den unteren Ecken tauchen wieder 
auf. Zurückzuführen ist diese erhöhte Leistung auf einen vom VI. 
inspirierten Willensimpuls: „Achtung! Nimm dich recht zusammen! 
Das letztemal!“ Vp. 1 antwortet: „Ich kann alles“ (!) und bemüht 
sich, aus mimischen und pantomimischen Ausdrucksbewegungen zu 


Abb. 6. 


299 Anton Simonic: 


schließen, ganz besonders. Dynamischer Aufmerksamkeitstypus ist offen- 
kundig. Zum Schlusse erfolgt eine Selbstkritik: Das erstemal sehe ich 
es am besten. Dann wird es mir fad. Das ist mein Fehler. Kann 
ich mir nicht abgewöhnen.* Mit dem Ausdruck „fad“ hat Vp. 1 
ihre rasche Ermüdbarkeit, die oben bereits erwähnt wurde, umschreibend 
selbst festgestellt. Von den Vpn. 2 u. 3 gilt auch bei diesem letzten 
Teilversuch das Verhältnis 13 : 13 in bezug auf die Zahl und auch die 
Gruppierung der Elemente (nämlich richtig), 13:9 in bezug auf die 
Details (4 Elemente sind in Kleinigkeiten falsch wiedergegeben). Vp. 2 
hat bei dieser Probe allerdings die linke Seite als richtig mit einer 
in Details falschen rechten Seite eingetauscht; der Effekt ist der gleiche. 
Übrigens ist damit, was die Seitenelemente betrifft, wieder der Zustand 
wie bei E. und W. 3 erreicht. Vp. 3 zeigt genau dasselbe Ergebnis 
wie beim Vorversuch. 


Endergebnis. 
Quantitativ. Qualitativ. 
EEE E E E E E SEE EEEE E CEE 
(Zahl der Elemente ) (Gruppierung.) (Details ) 


Vp. 1 2 3000009 2 3 ZZ 2 3 
13:16 13:13 13:13 © 13:®, 13:13 13:13 | 13:%, 13:9 13:9 


Verlauf der Leistungen. 
(13 als zweite Verhältniszahl.) 


I, 13 S 5 Eu BE) 5 3 o 0 4 8 
Lo SB B 3. + 13 E a A 7 Ti 
L 2 3 3, +, 13 13 7: 7 9 
L 2 B BI % 13 13 t 9 9 
. 16 3 33 | o 13 13 Ss 9 9 


i 12 
Im großen und ganzen verläuft in ähnlicher Weise 


Versuch 2, 
nur daß die jetzt bedeutend schwieriger aufzufassende Gruppierung 
der 13 Elemente (in diesem Falle sind es Punkte) manche individuelle 
Differenzierung noch klarer hervortreten läßt. 
Exponiertes Objekt. 
(Abb. 7.) 
So zeigt Vp. 1 eine schwerfällige Adaptation im Vergleich zu 
2 und 3. 
Vp. 1. 
(Abb. 5) 
Vp. 2. | Vp. 3. 
(Abb. 9.) (Abb. 10.) 
Vp. 1 konstatiert nach der 1. E. und W. selbst sein Versagen 


mit der Bemerkung: „Das ist mir zu schnell gegangen!“ Etwas ver- 





1) Bedentet: S Elemente annähernd richtig festgehalten. 


Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 293 


ärgert und gereizt setzt sie hinzu: „Mehr weiß ich nicht!“ und gibt 
die Probe ab. Wieder ist ihre beste Leistung in den Anfangsproben 
zu verzeichnen (diesmal infolge der schwierigeren Anforderungen, der 
ausgelösten größeren Anspannung schon bei E und W. 2); sie erfaßt 
nämlich Zahl und Lage von 4 Punkten in der linken oberen Ecke 


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.. x 
& 
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= ® 
© e °? 
© ® © 
© © © ® 
o , © ® 
Abb. %. Abb. 8. Abb, 9. Abb. 10. 


ziemlich richtig; dann aber setzt in den weiteren Proben ein Chaos 
ein (insbesondere bei E. und W. 3, Abb. 11), 
Vp. 1. 
(Abb. 11.) 
das sich bei E. und W. 4 und 5 etwas reinigt; es kommen näm- 
lich auf Kosten der schon aufgefaßten linken oberen Ecke wenigstens 
der Zahl nach die linken unteren 2 Punkte und der eine in der Mitte 
dazu. Endergebnis, quantitativ: 13:14, qualitativ: 13: 1!/, ()). 
Wieder macht sich bei Vp. 1 das Übel der Zerstreuung durch- 
gängig bemerkbar in folgenden Abschweifungen. Nach E. und W. 2: 
„Haben Sie das alles gesehen, ja?“ — Nach 3: „Eigentlich könnte 
man mir den Bleistift spitzen.“ — Nach 4: „Schon sehr gut, nicht 
wahr?“ 


Abb. 11. Abb. 12. 


. Vp. 2 erweist sich wieder als sicherer konzentrativer Typus 
mit schönem Endresultat; quantitativ: 13:12, qualitativ: 13:10?/,. 
(Abb. 12.) 


204 Anton Simonie: 


Vp. 2. 
(Abb. 12.) 

Die fluktuierende Art der Vp. 3 bewährt sich bei dieser un- 
symmetrischen Elementverteilung zunächst nicht, sie versucht bei E. 
und W. 1—3 gleich alles zu erhaschen, „auf einmal“ (wie sie mir 
nach Abschluß dieses Versuchs mitteilte); es kommt aber dabei zu 
keinem Fortschritt, zu keiner Säuberung in der Verteilung. Jedoch 
sattelt sie im letzten Augenblick (bei E. und W. 4) in die konzentrativ- 
fixierende Art um und erreicht so quantitativ 13:11, qualitativ 13:8, 
ohne freilich die Leistung der Vp. 2 einzuholen. 

Vp. 3. 
(Abb. 13.) 

Hervorzuheben ist, daß Vp. 1 bisher keinerlei Beweglichkeit in 
der Anpassung zeigte. Sie arbeitet fortschrittlos in derselben un- 
sicheren Art fort, indem sie Engumgrenztes herausgreift, darauf ohne 


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oe 
o 
© © ® 
2 ® ® 
© ® 
© 
®© o o 
A ® 
2 ® 
Abb. 13. Abb. 14. 


Anknüpfung zu einem andern, sehr beschränkten Teil des Feldes über- 
geht und dabei das bereits Erfaßte verliert. 


Endergebnis. 
(Juantitativ Qualitativ 
Vp. 1 2 3 | 2 3 
14 12 11 | 17, 102, 8 
Verlauf der Leistungen. 

II, 4 4 8 | 0 4 4 
IL 9 6 8 4 6 4 
II, 16 6 S | 1 6 4 
IM, 15 8 6 Ä Ph 8 6 
I, u 2 n | 1%, 10%, 8 


Versuch 3. 
Exponiertes Objekt. 
(Abb, 14.) 
Als besonders bemerkenswert fällt auf, daß Vp. 1 trotz des nun- 
mehr viel schwieriger aufzufassenden Objekts eine bedeutend bessere 


Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 295 


Leistung sowohl im Gesamtergebnis als auch im Verlauf der einzelnen 
Teilversuche aufweist. Das Moment der Übung wirkt in auffallender 
Weise. | 

Schon bei E. und W. 1 (Abb. 15) zeigt Vp. 1 im Vergleich zu den 
Versuchen 1 und 2 unvergleichlich bessere Adaptation. 

Vp. 1 
Be 15.) 

Die Leistungen halten sich auch bei E. und W.2 und 3 in guter 

Höhe (Abb. 16, E. und W. 3); 


©. 
os e © 9 e 
è 
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e ° @ 
© z e 
Abb, 15. Abb. 16. 
Vp. 1. 
(Abb. 16.) 


nach einer gänzlichen Fehlleistung bei E. und W. 4 (Abb. 17), die in 
jeder Versuchsreihe für Vp. 1 nun einmal nicht zu umgehen ist, 


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© >o ° 
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@ o ® 
> à .o_ 
è © 
® ` > è 
Abh. 17. Abb. 18. 
Vp. 1. 
(Abb. 17.) 
hat Vp. 1 bei E. und W. 5 (Abb. 18) beinahe dieselbe Leistung wie 
Vp. 1. 
(Abb. 18.) 


Vp. 3 (Abb. 19) und weicht auch nicht allzusehr von dem gut arbeitenden 
Typus Vp. 2 (Abb. 20) ab, was bisher nicht der Fall war. 


Vp 3. Vp. 2. 
(Abb. 19.) (Abb. 20.) 
s & 
® 
® 
® r j ° © o 
® 6 © © ° @ 
. o? s'a ® 
o © 


Abb. 19. Abb. 20. 


296 Anton Simonic' 


Endergebnis. 
(uantitativ | Qualitativ 
Vp. 1 2 3 Ä 1 2 3 
10 11 14 | Dh 9? 4°, 


Verlauf der Leistungen. 





HI, 7 4 J5 34, 4 10%; 
II, 9 5 B | 36., 5 D7 
NI, 9 6 16 35 6 7 
II, 9 7 13 | 0 6, 39, 
nn. vn 14 | 55, 92 4°), 


- Wenn man nun erwägt. daß Versuch 1 drei Wochen vor Versuch 3, 
Versuch 2 eine Woche vorher stattfand, so kann man wohl in thera- 
peutischem Sinne zur Annahme berechtigt sein, daß der jugendliche 
Schwachbefähigte förderungsfähig sei, eine Erkenntnis, die mir in der 
pädagogischen Beeinflussung sehr ermunternd zu Hilfe kam. Ich darf 
nicht vergessen zu erwähnen, daß Übungen im raschen Einstellen 
der Aufmerksamkeit mit darauffolgender Kontrolle des Ergebnisses 
an der Tagesordnung waren, so daß die hier angelegten Versuche nur 
Etappen der fortlaufenden Übungseffekte darstellen, gewissermaßen 
Ruhe- und Besinnungsstrecken mit der orientierenden Frage: Wie 
stellt sich gegenwärtig Vp. 1 im Vergleich zu den Vpn. 2 und 
3 bei ganz gieichen Anforderungen an die Aufmerksamkeit? 


Versuch 4 


am Tachistoskop, einige Tage nach Versuch 3, bei dem ich die An- 
forderungen neuerdings erschwerte, indem ich als Einzelelemente Buch- 
staben verwendete (Abb. 21), 


Exponiertes Objekt. 





(Abb. 21) 
hatte folgendes 
Endergebnis. 

(nantitativ mn Qualitativ 
(Zahl der Elemente) (Gruppierung) (Name) 
“Vpl 2 3 1 2 3 1 2 3 

7T 6 9 oOo a p 3 7 6 8 

Verlauf der Leistungen. 
IV, 3 2 2001 1 T ze: 
N, 5 2 6 ] 2 37 5 2 5 
N, 5 3 6 l D 4Y | 5 836 
IV, 6 4 3,08 5 4 5 
IV 7 6 9 2 5t 38 | 7 6 8 





Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 297 


Die drei Vpn. lieferten nach E. und W.5 folgende Arbeiten. 


Vp. 1. Vp. 2. 
(Abb. 22.) (Abb. 23.) 
Vp. 3. 
(Abb. 24.) 
T’, Alm 
r 5 vr La C 
u v u Al 


Abb. 21. Abb. 22. 


“f 0 arısdceuny 


Abh. 23. Ahb. 24. 


Es kann deutlich festgestellt werden, daß die Besserung in den 
Leistungen der Vp. 1 anhält, ein sehr wichtiges Ergebnis, weil gerade 
bei derartigen Jugendlichen nach verhältnismäßig guten Leistungen 
leicht starke Rückschläge einzutreten pflegen. Ich konnte übrigens 
auch durch bloße Beobachtung seiner sonstigen geistigen Leistungen 
eine gewisse Permanenz einmal erworbener Qualitäten mit Befriedigung 
feststellen, wenn auch die Anfangsleistungen noch so kümmerlich 
waren. Insbesondere ist beim Versuch 4 zu beachten, daß der bei 
allen vorhergehenden Versuchen charakteristische Ermüdungszustand 
nach der ersten oder nach den ersten Leistungen, der den Leistungs- 
effekt bis auf 0 herabzudrücken vermochte, jetzt nicht mehr so nach- 
haltig wirkt. Sehr deutlich kommt dies zum Ausdruck, wenn man 
die qualitativen Ergebnisse der drei Vpn. bei den Versuchen 3 und 4 
durch eine Kurve veranschaulicht. 


298 Anton Simonie: 


Versuch 3, graphisch dargestellt, verläuft in folgender Weise: 


(Abb. 25.) 
Vp. 1. Vp. 2. Vp. 3 
Charakteristischer Sicher aufbauender Schwanken zwischen konzentrativem 
Ermüdungseinbruch. konzentrativer Typus. und distributivem Typus. 





Versuch 4 gestaltete sich für Vp. 1 erheblich besser, wenn auch 
noch ein, allerdings schwächeres, Nachlassen der Energiekurve nach 
.der vorangehenden höheren Leistung zu konstatieren ist, 

(Abb. 26.) 
Vp. 1. Vp. 2. Vp. 3. 

Schwaches Ermüdungstal. Wie oben. Wie oben. 





Abb. 26. 


Immerhin sehr zurück bleibt Vp. 1 in bezug auf die räumliche 
Erfassung der Elemente, die Gruppierung; ganz besonders bei den 
Versuchen 1 und 2, nicht mehr so stark bei der 3 und 4. Die auf 
Beobachtung gestützte Annahme zeigt sich durch das Experiment be- 
stätigt: Der Umfang des Beachtens der Vp. 1 ist ein äußerst 
beschränkter. Kaum hat Vp. 1 eine kleine Gruppe erfaßt, muß sie 
diese auch schon, wenn sie neue Elemente dazu auffassen will, zu- 
gunsten des Neuen fallen lassen. Wir haben schon oben gesehen. 


Der Umfang des Beachtens bei einem Schwachbefähigten. 299 


daß sie gleichzeitig zwei verhältnismäßig leichte Aufgaben nicht be- 
wältigen kann. (Fallenlassen des Notizbuchs beim Klingeln der Glocke.) 
Ich konnte mich weiter durch Beobachtung von folgenden anormalen 
Verhaltungsweisen überzeugen: 

Das Durchführen zweier gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander 
erfolgten Aufträge gelingt ihr äußerst selten, meistens gar nicht. Das 
Überblicken eines längeren Satzes mißlingt; sie bekommt den Sinn 
nicht heraus und muß wiederholt fragen. Textaufgaben im Rechnen 
löst sie langsam und unsicher, weil sie einzelne Momente des Problems 
aus ‘dem Bewußtsein verliert. Ihre Hilflosigkeit bei der Orientierung 
auf der Landkarte ist erschrecklich; sie kann z. B. den Lauf der Donau 
nicht verfolgen; sie verliert immer und immer wieder die Grenzen des 
Landes aus dem Auge; braucht zum Wiederfinden markanter Stellen 
der Landkarte, die oft und oft aufgesucht worden waren, Minuten. 
(Wie mir die Mutter des Knaben mitteilte, wurde bei einer von mir 
veranlaßten augenärztlichen Untersuchung keinerlei Abnormalität der 
Gesichtsfeldgrenzen gefunden.) Der Junge ist unfähig, auch die ein- 
fachste Melodie nachzusingen; auch fehlt ihm jedes Verständnis zum 
Anhören von Tonfolgen. Die zeichnerischen Leistungen stehen auf 
der Stufe des Vorschulpflichtigen; sie werden in einem weiteren 
Artikel behandelt werden. Das Problem der Gestaltauffassung, das 
hier deutlich hereinspielt, wurde bereits in diesen Blättern besprochen. 
(Bd. 28, Heft 3/4, 1924.) 


Zeitschrift für Kinderforschang. 3. Band. zu 


(Aus der psycho-neurologischen Kinderklinik in Moskau. 
[Direktor: Prof. Dr. M. O. Gurewitsch.]) 


Eine metrische Stufenleiter zur 
Untersuchung der motorischen Begabung bei Kindern. 


Von 
N. I. Oseretzky, 
Wiss. Assistent. 

Während zur Untersuchung der intellektuellen Begabung eine 
ganze Reihe Methoden vorgeschlagen worden ist, gibt es bis jetzt 
noch kein einziges mehr oder weniger systematisches Verfahren für 
die Bestimmung der motorischen Begabung, der ja eine sehr große 
Bedeutung, wie für die Auswahl der Unterrichtsmethoden, so auch 
für die Berufswahl (um von der Bedeutung für die Diagnose bei 
anormalen Kindern gar nicht zu reden) zukommt. Bis jetzt ist das 
motorische (Gebiet am meisten bei den Oligrophenen, bei denen die 
motorische Unzulänglichkeit sich viel deutlicher, als bei normalen 
Kindern, ausprägt, erforscht worden (Dupré). Die Untersuchungen 
Naudaschers (1908), welche sich auf 508 Fälle beziehen, bestätigen, 
daß die isolierten Symptome der debilit# motrice öfter bei intellektuell 
zurückgebliebenen und viel seltener bei normalen Kindern beobachtet 
werden. Zu analogen Schlüssen gelangten des weiteren auch Merklin, 
Gelma, Méry et Armand Deville. Homburger gibt an, daß es sich 
bei den minderwertigen Kindern nicht nur um erschwerte Bewegungen 
und um Plumpheit, sondern auch um spezifische Veränderungen in der 
Statik, im Rhythmus, im Tempo, Dynamik und Metrik handelt. Ver- 
meylen (1923) fand, indem er den Zusammenhang zwischen der 
intellektuellen und der motorischen Begabung feststellte, daß die Idioten 
viel gröbere Störungen auf dem motorischen Gebiete, als die Imbezillen, 
aufweisen, wobei diese letzteren wiederum in der motorischen Hinsicht 
viel schlechter, als die Debilen, begabt seien. 

Man könnte Vermeylen einen wichtigen Vorwurf machen, daß er 
Fälle mit sehr verschiedener Ätiologie in eine einzige Gruppe der 


Eıne metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorisch. Begabung bei Kindern. 301 


Oligophrenien zusammenfaßt, was gewiß nicht ohne Einfluß auf seine 
Ergebnisse, die im allgemeinen einen großen wissenschaftlichen Wert 
besitzen, bleiben konnte. 

Was nun das motorische Gebiet normaler Kinder anbelangt, so 
ist es im Vergleich mit dem der Oligophrenen viel weniger erforscht 
worden, ungeachtet der von einer Reihe Autoren (Gurewitsch, Heller 
u. a.) gemachten Hinweise, daß die motorische Unzulänglichkeit keines- 
wegs sich nur bei intellektuell minderwertigen Kindern finden läßt. 
So beschrieb z. B. Theodor Heller schon 1912 unter der Beziehung 
„motorische Idiotie*, diejenigen Fälle, in denen die Kinder eine 
motorische Unzulänglichkeit aufweisen, die im krassem Gegensatze zu 
ihrer guten Intelligenz steht. Zu derselben Kategorie der motorischen: 
Unzulänglichkeit ist auch der „motorische Infantilismus* Jacobs zu 
rechnen. 

Diese ungenügende Kenntnis des motorischen Gebiets normaler 
Kinder kann mit großer Wahrscheinlichkeit dadurch erklärt werden, 
daß die von den Neurologen geübten Untersuchungsmethoden nur zur 
Bestimmung gröberer Bewegungsstörungen, wie Hyperkinesen, Akinesen, 
Ataxien usw. geeignet sind; eine ganze Reihe feinerer Bewegungs- 
störungen wird dabei entweder gänzlich übersehen oder bestenfalls 
finden wir hier Definitionen, wie etwa „plump, ungeschickt, ungelenk“ 
u. dgl., ohne daß dabei die Abhängigkeit dieser Unzulänglichkeit von 
diesen oder jenen Störungen in den nervös-motorischen Mechanismen 
irgendwie exakter bestimmt wäre. 

Die jüngsten Errungenschaften der Anatomie und Physiologie 
haben uns eine ungemeine Kompliziertheit der motorischen Mechanismen 
resp. ihrer zentralen nervösen Apparate dargelegt, und schon jetzt 
verfügen wir über die Möglichkeit und die notwendige wissenschaft- 
liche Grundlage, um das Studium der motorischen Erscheinungen im 
weiten Umfange in Angriff zu nehmen. 

Dieses Studium kann in zwei Richtungen erfolgen. Die erste 
Richtung hätte zum Ziele die Aufstellung der Variationen der motori- 
schen Fähigkeiten in ihrer Abhängigkeit vom Geschlecht, Alter, Rasse, 
Persönlichkeit, von erworbenen Fertigkeiten, die durch berufliche, 
übungsmäßige und sonstige Milieueinflüsse bedingt sind; die zweite 
hätte dann zur Aufgabe die Bestimmung der generellen motorischen 
Begabung, die von den angeborenen Qualitäten abhängig ist. 

In den Jahren 1921—22 stellte sich der Verfasser, sich in der 
zweiten Richtung bewegend, die Aufgabe, eine metrische Stufenleiter 
für die Bestimmung der motorischen Begabung bei Kindern auszu- 


arbeiten. Das Prinzip, auf welchem die Stufenleiter aufgebaut wurde, 
20* 


302 N. I. Oseretzky: 


bestand in folgendem: es mußte eine Anzahl verschieden schwieriger 
Aufgaben gefunden und in Gruppen fortschreitender Schwierigkeit 
angeordnet werden, so daß jeder Alterseinheit mehrere für diese Ein- 
heit spezifische Aufgaben zukämen, wodurch eventuelle Einflüsse ver- 
schiedener Zufälligkeiten bei ihrer Lösung ausgeglichen werden könnten. 

Vor der Prüfung wurde jedes Kind über Gesundheit und Befinden 
befragt, worauf eine somatische und neurologische Untersuchung er- 
folgte. Die intellektuelle Entwicklung wurde auf Grund einer Prüfung 
nach der Binet-Simonschen Methode und auf Grund der Schul- 
leistungen bewertet. | 

Sämtliche Kinder, deren körperliche Entwicklung ihrem Alter nicht 
entsprach (als Prinzip für die Bestimmung dieser Korrelation galt die 
Summe der Verhältnisse der Körperlänge und des Gewichts, des 
Thoraxumfanges usw.) oder solche, die verschiedene somatische Defekte 
aufwiesen, wie auch diejenigen, welche neurologischerseits dem all- 
gemeingültigen Normbegriff nicht entsprachen (Tremor, Akinesen, 
Hyperkinesen, Ataxien), haben wir nicht untersucht, weil wir eben 
unsere Aufgabe in der Bestimmung des motorischen Status nur normaler 
Kinder erblickten. 

Auf Grund des Gesagten blieben Kinder mit diesen oder jenen 
Mängeln auf intellektuellem Gebiete ebenfalls außerhalb unserer Unter- 
suchung. 

Nach dieser Auswahl blieben uns somit für unsere Prüfung nur 
410 (von 1019) Kinder übrig, welche keine Zweifel im Sinne der 
körperlichen und psychischen Norm anfkommen ließen. 

Die von uns zugelassenen Kinder gruppierten sich dem Alter 
nach folgendermaßen: 


Alter Knaben Mädchen Insgesamt 
14 6 9 15 
13 20 20 40 
12 16 19 35 
11 15 20 39 
10 20 20 40 
9 12 16 28 
8S 22 17 39 
7 21 23 50 
6 33 43 T6 
5 14 16 30 
4 10 12 22 


Insgesamt 195 215 410 


Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorisch. Begabung bei Kindern. 303 


Sämtlichen 410 Kindern wurde eine Reihe von Aufgaben vor- 
geschlagen — insgesamt 127 Aufgaben. Jedes Kind mußte alle 
127 Aufgaben durchmachen. Vor der Aufgabe wurde es befragt, ob 
ihm die betreffende Bewegung bekannt sei; ob dergleichen schon früher 
durchgemacht wurde, mit welchem Erfolge usw. 


Bei dem Ausführen der Prüfung beschränkten wir uns nicht mit 
einem trockenem Registrieren der Antworten, sondern berücksichtigten 
jedesmal das allgemeine Benehmen des Kindes, indem wir notierten, 
ob das Kind gewandt oder plump in den Fertigkeiten ist, ob es vor- 
sichtig, kühn oder übereilig ist; ob seine Bewegungen rasch, träge, 
exakt, sicher sind usw. Das Examen erfolgte von 10 Uhr morgens 
bis 1 Uhr nachmittags; während dieser Zeit hatte das Kind 8—10 
Aufgaben zu erledigen, so daß die ganze Untersuchung (127 Aufgaben) 
sich auf 2 Wochen ausdehnte. 


Auf Grund unserer Prüfung des motorischen Gebiets bei 410 
Kindern haben wir eine metrische Stufenleiter konstruiert, welche aus 
Aufgabenserien für verschiedene Altersgruppen besteht. 


Bei dem Zuordnen der Aufgaben an verschiedene Altersgruppen 
ließen wir uns durch folgende Richtlinien leiten: die Aufgabe mußte 
von nicht weniger als 75—80°/, aller Kinder der betreffenden Alters- 
gruppe gelöst werden; bei 90—100°/, der Kinder der nächstälteren 
Gruppe mußte diese Aufgabe gelingen, während in der benachbarten 
jüngeren Gruppe nicht mehr als 25°, ihrer Herr werden konnten. 

Ein Beispiel hierzu wäre folgendes: Über die Fähigkeit, sich 
selbständig die Schuhe anlegen zu können und sie zu schnüren, ver- 
fügen mit 6 Jahren 93,7°/,, mit 5 Jahren i4,5°/, und mit 4 Jahren 
29,3%: 

Daraufhin haben wir diese Aufgabe der Serie für jährige bei- 
geordnet. 

In Fällen, wo die °/,-Differenz der Lösungen, bei zwei benach- 
barten Altersgruppen gering war, (5—10°/,), hielten wir die Aufgabe, 
als gleichzeitig für beide Altersgruppen charakteristisch. 


Es muß bemerkt werden, daß bei einigen Aufgaben wir eine 
Differenz für beide Geschlechter erhalten haben. So gelang z. B. bei 
den Mädchen das Binden der Knoten, das Einfädeln der Nadel, das 
Hüpfen u. dgl. viel besser, als bei Knaben einer höheren Altersgruppe; 
die Leistung war überdies viel sorgfältiger und ordentlicher; die um- 
gekehrte Erscheinung hatten wir bei Knaben (im Vergleiche zu den 
Mädchen) in bezug auf Überspringen, Zielwerfen, Einschlagen eines 
Nagels u. dgl. 


304 N. I. Öseretzky: 


Für irgendwelche verallgemeinernde Schlüsse ist unser Material 
nicht zureichend, weshalb wir uns auch nur mit bloßer Feststellung 
der Tatsachen begnügen. 

Die von uns auf diese Weise ausgearbeitete Stufenleiter besaß 
gewiß eine Reihe wesentlicher Mängel, worauf wir auch bei ihrer Publi- 
kation (1923) hingewiesen haben, indem wir vorschlugen, sie bloß 
als ein Gerüst aufzufassen, dessen einzelne Teile des weiteren, je nach 
dem Stande der experimentellen Materials, durch andere ersetzt werden, 
wodurch schließlich eine Aufgaben-Auswahl und Anordnung sich er- 
geben wird, welche in bezug auf Schwierigkeit und diagnostische 
Wertigkeit nun im richtigen Verhältnis zu den Altersgruppen stehen 
wird. 

Aus diesen Gründen war eine Kontrollprüfung der Stufenleiter 
an einem großen Material erforderlich, was auch im Laufe der Jahre 
1923—24 durchgeführt wurde, wobei mit Hilfe des Verfahrens mehr 
als 1500 Kinder in Kinderheimen, Fabrikschulen und allgemeinen 
Volksschulen I. und II. Gruppe und außerdem noch etwa 200 geistes- 
kranke, nervöse und psychopathische Kinder untersucht wurden. 

Die Ergebnisse, die wir von anderen Forschern über die An- 
wendung unserer Stufenleiter in Provinzstädten erhalten haben (die 
Stufenleiter wurde inzwischen auch bei der Untersuchung taubstummer 
Kinder angewandt), bestätigen in Vielem die Richtigkeit der von uns 
aufgestellten Aufgaben in bezug auf die Altersgruppen. Die dabei 
gemachten Bemerkungen und Korrekturen wurden unsererseits bei 
der Neubearbeitung der Stufenleiter für die zweite Auflage berück- 
sichtigt. 

Nun veröffentlichen wir das Verfahren nach einer solchen Neu- 
bearbeitung. 


4 Jahre. 


I. 15“ langes Stehen auf einem Bein mit offenen Augen. Für 
beide Beine mit einer 2‘ Pause. 

Il. Hüpfen. — Beide Füße müssen gleichzeitig vom Boden ab- 
getrennt werden, wobei die Beine in den Kniegelenken etwas gebeugt 
sein sollen. Die Höhe der Bewegung sowie die Geschwindigkeit 
werden nicht berücksichtigt. Die Aufgabe gilt als ungelöst, falls die 
Versuchsperson nicht imstande ist, beide Füße sofort abzutrennen 
und mindestens drei Hüpfbewegungen nacheinander auszuführen. 

III. Das Heraufsteigen der Treppe: 10 Stufen. Die Entfernung 
zwischen den Stufen (die Stufenhöhe) 12—15 cm. Es ist erforderlich, 
die Bewegung ohne Zuhilfenahme des Geländers auszuführen. Die 


Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorisch. Begabung bei Kindern. 305 


Aufgabe gilt als ungelöst, falls die Versuchsperson beim Steigen sich 
nicht schrittweise bewegt, sondern einen Fuß neben den andern stellt, 
d. h. auf die erste Stufe den linken Fuß stellt, alsdann auf dieselbe 
Stufe den rechten Fuß usw.; es ist erforderlich, den linken Fuß auf 
die Stufen 1, 3, 5, 7, 9 zu setzen, den rechten auf 2, 4, 6, 8, 10. 
Die Bewegung muß in 1‘ 30“ vollendet werden. 

IV. Das Herabsteigen der Treppe Dieselben Bedingungen wie 
für IM. 

V. Die Fähigkeit, die Stirn zu runzeln. Falls die Versuchsperson 
den Wortlaut der Aufgabe nicht versteht, ist es dem Versuchsleiter 
gestattet, die Ausführung der Aufgabe persönlich zu demonstrieren. 

VI. Die Fähigkeit, sich das Gesicht waschen zu können. Die 
Aufgabe gilt als gelöst, wenn das Kind imstande ist, ‚Wasser in die 
aneindergebrachten Handflächen zu schöpfen und bis an das Gesicht 
zu bringen. 


5 Jahre. 

I. Hüpfen auf einem Bein bei offenen Augen. Distanz 5 m. 
Die Geschwindigkeit bleibt unberücksichtigt. Das Resultat gilt positiv, 
wenn die Versuchsperson kein einziges Mal mit dem anderen Fuß 
den Boden berührt. Es ist erforderlich, abwechselnd auf dem rechten 
und dem linken Bein (mit einer 1' 30“ Pause zu hüpfen. 

II. Das Gehen auf den Fußspitzen. Distanz 3 m. Geschwindig- 
keit irrelevant. Die Aufgabe gilt als ausgeführt, wenn die Versuchs- 
person keinen Augenblick lang den Boden mit den Fersen berührt hat. 

III. Die Fähigkeit sich selbständig anzukleiden!). Die Knaben 
müssen die Hosen, das Hemd mit Gürtel und den Überzieher anlegen, 
können, die Mädchen das Kleid, den Rock und den Überzieher. 
Sämtliche Knöpfe müssen selbständig zugeknöpft werden. 

IV. Die Fähigkeit ohne fremde Hilfe die Schuhe anzulegen und 
die Knöpfe zuzuknöpfen (oder die Schuhe zuzuschnüren). Muß in 3‘ 
ausgeführt werden ?). 

V. Eine Treppe herauflaufen: 10 Stufen. Die Höhe der Stufen 
10—15 cm. Das Berühren des Geländers ist dabei nicht gestattet. Die 
Bedingungen der Aufgabe Nr. 3 für Vierjährige werden auch hier mit 
berücksichtigt. Die Aufgabe muß in höchstens 15“ ausgeführt werden. 
Wird eine Stufe ausgelassen, so muß die Aufgabe wiederholt werden. 


1) Zwecks größerer Einförmigkeit ist es bei dieser Aufgabe am besten, dasselbe 
Rahmenwerk zu gebrauchen. welches M. Montessori zur Entwickelung der manuellen 
Fertigkeit anwendet. 

2) Bei der Anwendung des Rahmenwerkes nach Montessori wird diese Aufgabe 
weggelassen. 


r 


306 N. I. Oseretzky 


VI. Ballwerfen nach bestimmtem Ziele. Entfernung: 1 m. In der 
Höhe des Brustkorbes der Versuchsperson wird eine quadratförmige, 
25 x 25 cm große Tafel angebracht; das Kind stellt sich 1 m weit ent- 
fernt auf, bekommt einen Tennisball in die Hände, worauf das Kommando 
„Achtung“ und nach 1—2“ das zweite Kommando „werfen“ erfolgt. 
Die Wurfbewegung muß mit dem ganzen Arm ausgeführt werden. 
Die Aufgabe ist erfüllt, wenn die Versuchsperson von 3 Würfen 2mal, 
(einerlei ob in den Mittelpunkt oder am Rande der Tafel) das Ziel trifft. 


6 Jahre. 


I. Das Springen über ein 20 cm hoch über dem Boden angebrachtes 
Seil; der Sprung muß vom Standort erfolgen, ein Anlauf ist unzulässig. 
Beim Sprunge ist es erforderlich, beide Beine in den Kniegelenken zu 
beugen und gleichzeitig die Füße vom Boden abzutrennen: ein Über- 
springen und kein Überschreiten des Seils. Von 3 Versuchen muß die 
Versuchsperson 2mal den Sprung, ohne das Seil zu berühren, ausführen. 
NB. Um etwaige Verletzungen zu vermeiden, wird nur das eine 
Ende des Seils befestigt, während das andere Ende, mit einem geringen 
Gewicht belastet, so angebracht wird, daß das Seil bei einer Berührung 
sofort zu Boden fällt. 

II. 15“ lang mit geschlossenen Augen auf einem Bein zu stehen. 
Die Aufgabe wird abwechselnd rechtseitig und linkseitig ausgeführt. 

HI. Das Hinunterspringen von einer Erhöhung von 30 cm. Die 
Versuchsperson muß mit den Fußspitzen den Boden berühren; hat 
sie sich dabei auf die Fersen gestellt oder kommt sie ins Wanken und 
muß den Boden mit den Händen berühren, so wird die Aufgabe wieder- 
holt. Stellt sie sich dabei auch zum zweiten Male auf die Fersen oder 
verliert sie das Gleichgewicht, so gilt die Aufgabe als ungelöst. 

IV. Das Herablaufen der Treppe: 10 Stufen, Stufenhöhe 12—15 cm. 
Das Benutzen des Geländers ist untersagt. Beim Auslassen einer Stufe 
wird die Aufgabe wiederholt. Die ‘Ausführungszeit ist eine beschränkte: 
nicht mehr als 10“. Es müssen die Bedingungen der Aufgabe Nr. 3 
für Vierjährige berücksichtigt werden. 

V. Knixen. Es müssen nach der Reihe 3 graziöse Knixe gemacht 
werden. Die Fersen werden zusammengepreßt, die Fußspitzen gespreizt. 
Beim Senken des Rumpfes dürfen die Fersen nicht berührt werden. 
Die Bewegung kann eingangs vom Versuchsleiter demonstriert werden. 

VI. Auffangen des Balls mit der rechten Hand. Entfernung: 1 m. 
Die Versuchsperson stellt sich 1 m weit vom Versuchsleiter auf, welcher 
das Kommando „Achtung“ und nach 3 das zweite Kommando „Fangen“ 
gibt, worauf der Ball ruckweise geworfen wird. Der Versuchsperson 


Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorisch. Begabung bei Kindern. 307 


ist es nicht gestattet, den Arm nach vorne auszustrecken, während des 
Kommandierens liegen ihre Arme an den Hüften. Von 3 Proben 
müssen 2 positiv ausfallen. NB. Linkshändige fangen den Ball mit 
der linken Hand. 

T Jahre. 

J. Das Hüpfen mit geschlossenen Augen auf einem Bein. Distanz: 
5 m. Der Versuchsleiter zeigt der Versuchsperson die Stelle, bis zu 
welcher die Bewegung zu erfolgen hat, worauf er ihr die Augenbinde 
umlegt. Beim Erreichen des Ziels hält das Kind auf das Kommando 
„Halt“ inne. Die Aufgabe gilt als gelöst, falls die Versuchsperson kein 
einziges Mal den Boden mit dem Fuße des gehobenen Beines berührt, 
und falls sie, in gerader Richtung sich bewegend, nicht mehr als um 
1,5 m von dem Zielpunkt nach rechts oder links abweicht. Die Be- 
wegung muß abwechselnd mit dem rechten und linken Bein mit einer 
2‘ Pause ausgeführt werden. 

lI. Das Heben der Augenbrauen. Die Aufgabe ist als gelöst zu - 
betrachten, falls bei dem Heben der Augenbrauen keine Mitbewegungen, 
keine Kontraktionen in anderen Gesichtsmuskeln entstehen. 

III. Auffangen des Balls mit der linken Hand. Entfernung: 1 m. 
Die Bedingungen wie für Nr. 6 für Sechsjährige. NB.: Linkshändige 
müssen den Ball mit der rechten Hand auffangen. 

IV. Einen Knoten binden. Es wird ein einfacher Knoten mit 
einem 15 cm langen Faden gebunden. Die Stellung des Knotens (in 
der Mitte, am Ende des Fadens) wird nicht berücksichtigt. Die Handlung 
muß höchstens 15“ in Anspruch nehmen. Im Protokoll wird notiert, 
in wieviel Sekunden die Aufgabe ausgeführt wurde. 

V. Das Hüpfen auf dem rechten Bein und gleichzeitige Rotation 
des linken Armes im Schultergelenke im Laufe von 5“; nach 2° Pause 
wird dasselbe in umgekehrter Anordnung wiederholt. Das Hüpfen er- 
folgt auf der Stelle. 

VI. Ohne Wasser zu vergießen, ein bis an den Rand gefülltes 
Glas Wasser mit gestrecktem Arme 3 m weit zu tragen. Das Glas 
wird auf eine Untertasse gestellt; die Versuchsperson trägt das Wasser, 
indem sie den Rand der Untertasse mit der Hand (beim gestreckten 
Arme) festhält. Das dabei vergossene Wasser wird von der Untertasse 
in einem Meßzylinder aufgenommen. Die Aufgabe gilt als ungelöst, falls 
die Versuchsperson mehr als 10 ccm Wasser vergossen hat. Die Zeit 
wird mit Maximum 10" bemessen. 


8 Jahre. 
I. Das Schließen des rechten Auges; nach 10“ Pause das linke 
Auge schließen. Die Aufgabe ist als ungelöst anzusehen, falls das Kind 


308 N. I. Oseretzky: 


nur ein einziges Auge zu schließen im stande ist, während zum Schließen 
des anderen die Hilfe der Hand erforderlich ist oder wenn dabei das 
Gesicht verzogen wird. 

II. Das Spitzen des Bleistifts. Es ist erforderlich, dem Stift eine 
konische Form zu geben und das Graphit ordentlich spitz zu machen. 
Die Dauer wird auf 2‘ beschränkt. 

III. Ein 5“ langes Hüpfen auf einem Bein und gleichzeitiges 
Rotieren beider Arme in den Schultergelenken. Nach 2° Pause das- 
selbe auf dem anderen Bein. Die Bewegung wird auf der Stelle aus- 
geführt. 

IV. Auf den Fußrücken des rechten Fußes wird ein Streichholz- 
kästchen gelegt (das Kind muß barfuß sein), woraufhin es in dieser 
Stellung 3 m weit getragen werden muß. Es ist dabei gestattet, den 
Fuß, auf welchem das Kästchen plaziert ist, in beliebige, für die 
Versuchsperson bequeme Stellungen zu bringen. Sie kann den Fuß 
schleppen, kann sich auf die Ferse stützen oder anderswie fortbewegen. 
Die Aufgabe wird auf 30“ beschränkt. Von 3 Proben müssen 2 ge- 
lingen. Nach 2‘ Pause wird dasselbe mit dem linken Fuße wiederholt. 

V. Bal' verfen nach bestimmtem Ziele: Entfernung 2 m. Be- 
dingungen sicko Nr. 6 für Fünfjährige. 

VI. Das Auffangen des Balls mit der rechten Hand: Entfernung 
2 m. Bedingungen siehe Nr. 6 für Sechsjährige. 

NB. Linkshändige fangen den Ball mit der linken Hand auf. 


9 Jahre. 

I. Das Einfädeln der Nadel. Faden Nr. 50, Nadel Nr. 6, Dauer: 
2 Minuten. Die Bewegung muß nicht weniger als 3mal ausgeführt 
werden. 

I. Ohne Wasser zu vergießen 2 bis an den Rand gefüllte Gläser 
mit gestreckten Armen 3 m weit zu transportieren. Die Gläser werden 
auf Untertassen gestellt. Die Versuchsperson trägt die Gläser, indem 
sie die Untertassen am Rande festhält und die Arme ausstreckt. Das 
bei diesem Transport verschüttete Wasser wird aus beiden Untertassen 
in ein Meßzylinder aufgenommen. Das Quantum des vergossenen 
Wassers darf nicht höher als 15 ccm sein. Die Aufgabe wird auf 
10" beschränkt. 

HI. Das Hängen an den Armen. Die Versuchsperson ergreift 
mit beiden Händen eine Trapezstange, welche 10 cm hoch über seinen 
in die Höhe gestreckten Armen befestigt ist; in dieser Lage an den 
Armen hängend erhält sie ihren Körper 5“ lang. Bei mißlungenem 


Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorisch. Begabung bei Kindern. 309 


Versuche ist eine Wiederholung der Aufgabe erlaubt, aber nicht mehr, 
als 3 mal. 


IV. Das Auffangen des Balls mit der linken Hand. Entfernung: 
2 m. Bedingungen siehe bei Nr. 6 für Sechsjährige. NB.: Linkshändige 
fangen den Ball mit der rechten Hand auf. 


V. Beim Werfen eines Steines in die Höhe muß dieser Stein 
wieder aufgefangen werden, nachdem mit derselben Hand ein anderer 
‚auf dem Tische liegender Stein ergriffen wird. Es wird gestattet, den 
‚Stein höchstens 75 cm hoch zu werfen; es werden rundliche Steine 
von gleichem Gewichte angewendet (etwa 30 g). 


VI. Eine 10 m-Distanz „auf allen Vieren“ mit gehobenem rechten 
Bein zurückzulegen. Die Dauer wird auf 1'30” beschränkt. Die Auf- 
‚gabe gilt als ungelöst, falls die Versuchsperson den Boden mit dem ge- 
hobenen Bein berührt. Es ist belanglos, welche Stellung die Ver- 
:suchsperson dem gehobenem Beine gibt. Nach 3‘ Pause dasselbe mit 
dem Beugen des anderen Beines. Beim Mißlingen des ersten Ver- 
‚suches kann die Aufgabe noch einmal wiederholt werden. 


11 Jahre. 


I. Das Springen vom Orte über ein 35 cm hoch gespanntes Seil. 
Bedingungen siehe Nr. 1 für Sechsjährige. 

IIL. t) A. Zähnefletschen und gleichzeitig die Augenbrauen hoch heben. 

B. Zähnefletschen und gleichzeitig die Stirn runzeln. Wenn die 
Versuchsperson die Aufgaben nicht versteht, kann die Bewegung durch 
‚den Versuchleiter demonstriert werden. 

III. Ballwerfen nach bestimmtem Ziele. Distanz 3 m. Bedingungen 
siehe Nr. 6 für Fünfjährige. 

IV. Auffangen des Balls mit der rechten Hand. Distanz 3 m. 
Bedingungen siehe Nr. 6 für Sechsjährige. NB. Linkshändige fangen 
den Ball mit der linken Hand auf. 

V. Abwechselndes Schlieiien des rechten und des linken Auges. 
Im Laufe von 10” müssen beide Augen nicht weniger als 3mal jedes 
Auge geschlossen werden. Beim Mißlingen des ersten Versuches sind 
Wiederholungen gestattet, jedoch höchstens 3 mal. 

VI. Beim Werfen eines Steines in die Höhe, muß dieser Stein 
wieder aufgefangen werden, nachdem mit derselben Hand zwei andere 
‚auf dem Tisch liegende Steine ergriffen werden. Die Steine werden 


1) Falls nur A oder B ausgeführt wird, so wird es mit ';,—+ oder + je nach 
.dem Alter gewertet. Darüber siehe Näheres bei den Regeln über das Berechnen der 
Ergebnisse 


310 N. 1. Oseretzky : 


auf den Tisch !/, cm von einander entfernt gelegt. Bedingungen siehe 
Nr. 5 für Neunjährige. 
13 Jahre. 

I. Die Trapezstange mit einer Hand ergreifen und den Körper in 
dieser Lage 5“ lang zu erhalten. Sonstige Bedingungen siehe Nr. 3 
für Neunjährige. 

II. Auffangen des Balls mit der linken Hand. Entfernung 3 m. 
Bedingungen siehe Nr. 6 für Sechsjährige. NB.: Linkshändige fangen 
den Ball mit der rechten Hand auf. 

IO. Ballwerfen nach bestimmtem Ziele. Entfernung: 3!/ m. Be- 
dingungen siehe Nr. 6 für Fünfjährige. 

IV. Das „Tschecharda“-Spiel. Das Springen der Versuchsperson 
über den Körper eines Kameraden mit Zuhilfenahme der Arme. Zwei 
Kinder etwa gleicher Körperlänge nehmen diese Übung abwechs- 
lungsweise mit einander vor. Einer von ihnen beugt den Rücken 
(bis zu einem rechten Winkel mit den unteren Extremitäten), sich mit 
den Armen an den Knieen stützend; der andere springt über den 
Körper des ersten und hilft sich dabei mit den Armen. Es wird ein 
Anlauf von 2 m gestattet. Von 3 Sprüngen müssen 2 so ausfallen, 
daß der Springende weder den Kopf, noch die Schulter des Partners. 
berührt. In der Anmerkung wird notiert, ob der Springende den 
Boden mit den Fußspitzen oder mit den Fersen berührt hat. 

V. Das Springen vom Orte (ein Anlauf wird nicht gestattet) über: 
ein 55 cm hoch gespanntes Seil. Bedingungen siehe Nr. 1 für Sechs- 
Jährige. 

VI. Sich an der Wand auf die Hände stellen und den Rumpf in 
vertikale Lage bringen, wobei die Wand entweder mit den Fersen 
oder mit den Fußsohlen berührt wird. Es ist erforderlich, den Körper 
in dieser Lage 5“ lang zu erhalten. Bei mißlingenden Versuchen. 
sind Wiederholungen, jedoch nicht über 3 mal, gestattet. 


15 Jahre. 

I. Das Springen auf einen Stuhl (45 em Höhe). Ein Anlauf von 
1 m ist gestattet. Es ist erforderlich, daß die Versuchsperson sich 
gleichzeitig auf beide Füße stell. Der Stuhl wird durch den Ver- 
suchsleiter festgehalten. Von 3 Versuchen müssen zwei gelingen. 

II. Das Springen von der Stelle (Anlauf nicht gestattet) über ein 
65 cm hohes Seil. Bedingungen siehe Nr. 1 für Sechsjährige. 

III. Das Auffangen des Balls: Distanz: 3,5 Meter. Abwechslungs- 
weise mit der rechten und linken Hand. Bedingungen siehe Nr. 6 
für Sechsjährige. 


Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorisch. Begabung bei Kindern. 311 


IV. Beim Werfen eines Steins in die Höhe diesen Stein wieder 
auffangen, nachdem mit derselben Hand 2 andere auf dem Tisch 
liegende Steine ergriffen werden. Die Steine werden auf dem Tische 
gradlinig !/, cm von einander entfernt, gelegt. | 

V. Aufs Kommando „Anfangen“* vollführt die Versuchsperson mit 
höchstmöglichster Geschwindigkeit folgende Bewegungen: sie legt sich 
rückwärts auf den Boden und spreizt die Arme, dann steht sie auf 
und läuft eine 5 m lange Distanz in der Richtung nach einem Sessel, 
welcher 1,5 m weit vom Tische placiert ist; sie nimmt den Sessel 
in die Hände, stellt ihn an den Tisch und setzt sich hin; nimmt 
gleichzeitig mit beiden Händen zwei auf dem Tische liegende und 
75 cm voneinander entfernte Gegenstände (wir bedienen uns in unserer 
Praxis zweier Perkussionshämmer) und vertauscht ihre Plätze; nimmt 
den Bleistift und einen Bogen Papier, welche in der Mitte des Tisches 
liegen, nnd zeichnet auf dem Papier drei Kreuze (t + t) Die Auf- ' 
gabe muß in 10“ ausgeführt werden. 

Zuerst wird die Aufgabe der Versuchsperson demonstriert, worauf- 
hin sie alle Handlungen, die sie ausführen muß, aufzuzählen hat. 
Macht sie einen Fehler in der Reihenfolge des Aufgegebenen oder 
läßt sie irgendwelche Handlung aus, so wird die Aufgabe zum zweiten 
Male demonstriert. Zum dritten Male kann die Aufgabe nicht wieder- 
holt werden. 

Einige Aufgaben für dieses Alter, die nicht obligatorisch sind. 

VI. Sich an der Wand auf die Hände stellen und den Rumpf in 
vertikale Lage bringen, wobei die Wand nur mit den Fersen berührt 
wird. Diese Körperlage wird 5‘ lang innegehalten. 

VII. Das Gehen auf den Händen. 


II. 

Und nun einige Worte in bezug auf die Anwendungsregeln der 
Stufenleiter. | 

Es wird das genaue Geburtsdatum des Kindes festgestellt, worauf 
man mit den Aufgaben für seine Altersgruppe beginnt, wobei die 
ersten sechs überzähligen Monate nicht in die Rechnung gezogen 
werden; von 6 vollen Monaten an wird zu der Jahreszahl des Kindes 
ein Jahr hinzugezählt. 8 Jahre 4 Monate werden beispielsweise als 
8 Jahre, während 8 Jahre 6 Monate als 9 Jahre betrachtet werden. Im 
ersten Falle beginnt die Prüfung mit den Aufgaben für Achtjährige, 
im zweiten Falle mit denen für Neunjährige. Das Kind muß alle 
Aufgaben seines Alters ausführen ; das Ergebnis wird mit dem Zeichen F 
für die richtige und — für die mangelhafte Ausführung bezeichnet, 


312 N. I. Oseretzky : 


mit Ausnahme derjenigen Aufgaben, wo die geforderte Bewegung sich 
auf die oberen oder die unteren Extremitäten bezieht und wo ein 
ganzes 7 in dem Fall notiert wird, wenn bei der betreffenden Ver- 
suchsperson das Ergebnis für beide Extremitäten ein positives ist. In 
Fällen aber, wo das Geforderte nur partiell gelingt (nur für die linke 
oder für die rechte Extremität), wird ein ’/, + notiert. 

Zum Registrieren der Ergebnisse benutzen wir das folgende 
Notizenschema: 


Name der Anstalt: 

Datum der Untersuc liaig > 

Vor- und Zuname der Versuchspenem: 

Alter: ........ een | RE E EEE EEE REDE IRRE 
Grad der Zurückgebliebenheit: NE INNE EINEN TE NRER SER ES TORREE HE ERSTER O RUE ERNEN 
Experimentelle Diagnose: ................ u... sm os ee en nn 





Aufgaben für NN 2 
das Alter der Aufgaben Notizen des Versuchsleiters 





Ist auch nur eine einzige Aufgabe des Alters der Versuchsperson 
ihr nicht gelungen, so geht man zu Aufgaben für das nächstjüngere 
Alter über und steigt so allmählich die Stufenleiter bis auf die Auf- 
gaben desjenigen Alters herab, bei deren Lösung die Versuchsperson 
überall ein + ergibt. Daraufhin geht man zu Aufgaben für ältere 
Gruppen über und steigt die Stufenleiter soweit herauf, bis die Ver- 
suchsperson auf einer bestimmten Stufe der Leiter überall nur 
Minusleistungen ergibt. Das Summieren der Ergebnisse geschieht 
folgendermaßen: 

Als Grundlage wird dasjenige Alter der Stufenleiter genommen, 
bei welchem die Versuchsperson nur t ergeben hat. Zu dieser Jahres- 
zahl wird die Summe aller Pluszeichen hinzu addiert, welche bei der 
Lösung der Aufgaben für die anderen Altersgruppen erhalten wurden. 
Ein jedes + wird mit 2 Monaten bewertet, ein 1/, t mit einem Monat. 


Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorisch. Begabung bei Kindern. 313 


Derartiges Summieren ist aber nur bis auf das Alter von 9 Jahren 
möglich, da wir hier für jede Altersgruppe über besondere Aufgaben- 
serien verfügen. Beim Bewerten der Ergebnisse höherer Stufen (11, 
13, 15 Jahre) muß folgende Regel beobachtet werden: Kinder jüngerer 
Altersstufen bekommen für jede gelöste Aufgabe für das Alter von 
11—13—15 Jahren zwei Pluszeichen, während die Kinder ent- 
sprechenden Alters (11, 13, 15 Jahre) für jede ihrem Alter korre- 
spondierende Aufgabe nur ein + Kreuz bekommen.!) 

Erläutern wir jetzt das Gesagte an einigen Beispielen: 

I. Ein Kind, das 8 Jahre 4 Monate alt ist, hat alle Aufgaben 
für Achtjährige, 2 für Neunjährige und 1 für Elfjährige gelöst. 

Seine motorische Begabung == 8 Jahre + 4 Monate (zwei ł für 
beide Aufgaben für Neunjährige) f 4 Monate (2 t für die Aufgabe 
für Elfjährige) = 8 Jahre 8 Monate. In motorischer Hinsicht über- 
trifft er sein Alter um 4 Monate. 

II. Alter des Kindes: 10 Jahre 2 Monate. Es leistet folgendes: 
alle Aufgaben für Achtjährige, 4 für Neunjährige, 2 für Elfjährige und 
eine Aufgabe für 13jährige. Es folgt die Berechnung; 8 Jahre + 
8 Monate (4 + für 4 Aufgaben für Neunjährige) + 8 Monate (4 t 
für 2 Aufgaben für Elfjährige) + 4 Monate (2 p für 1 Aufgabe für 
13jährige) = 9 Jahre 8 Monate. Seine motorische Unzulänglichkeit. 
muß also mit 4 Monaten bewertet werden. 

IMI. Alter des Kindes: 12 Jahre 7 Monate. Leistungen: alle 
Aufgaben für Elfjährige, 3 Aufgaben für 13jährige und 1 Aufgabe- 
für 15jährige.. Berechnung: 11 Jahre t 6 Monate (3 + für 3 Auf- 
gaben für 13jährige) + 4 Monate (2 t für 1 Aufgabe für 15jährige) 
= 11 Jahre 10 Monate. Motorische Zurückgebliebenheit == 9 Monate. 

Die von uns vorgeschlagene Berechnungsweise ist gewiß keine 
tadellose, aber unseres Erachtens ist sie doch die am meisten geeignete 
und brauchbare, solange wir nicht über besondere Aufgabenserien 
für die Altersgruppen von 10, 12 und 14 Jahre verfügen. 

Was nun die Grade der motorischen Zurückgebliebenheit an- 
belangt, so unterscheiden wir folgende Kategorien: 


Motorische Unzulänglichkeit leichten Grades — 1 —1'/, Jahre 
j v mittleren „ — 11/,—-4 a 
n » schweren „ u. we 3 
e Idiotie — >5 


1) In Fällen, wo die Aufgabe nur teilweise ausgeführt wurde (nur die rechte 
oder nur die linke Extremität). wird die entsprechende Wertung mit einem ganzem 
oder einem !/, f, je nach dem Alter, getroffen. 


314 N. I. Oseretzky: Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung usw. 


Obgleich wir diese Stufenleiter für die zweite Auflage in Vielem 
umgearbeitet haben, hat sie auch in ihrer gegenwärtigen Form eine 
Reihe von Mängeln. Die wesentlichsten dieser Mängel sind folgende: 
die Aufgaben sind in bezug auf ihre diagnostische Bedeutung nicht 
vollkommen gleichwertig; es fehlen besondere Aufgabenserien für 10, 
12, 14jährige; bei manchen Aufgaben hängen die Ergebnisse von zu- 
fällig vorhandenen Fertigkeiten ab usw. 

Alle diese Mängel in Betracht ziehend, müssen wir unsererseits 
immerhin sagen, daß auch in dieser von uns gegenwärtig vor- 
geschlagenen Form diese Stufenleiter ein gutes Hilfsmittel zur klinischen 
Betrachtung abgibt. Darin überzeugt uns die praktische Arbeit in 
unserer Klinik gerade in solchen Fällen, wo bei einer Beurteilung der 
motorischen Begabung eines Kindes die neurologische Untersuchung 
allein sich als unzureichend erweist. 

Den schönsten Beleg zu dem Gesagten bildet ein von Prof. Dr. M. 
OÖ. Gurewitsch beschriebener Fall extrapyramidaler motorischer Unzu- 
länglichkeit.!) Es handelte sich um einen 11!,,jährigen Knaben mit 
folgenden Erscheinungen: Sehnen- und Hautreflexe normal; Sensibilität 
erhalten; Abwehrreflexe stark herabgesetzt; assoziierte automatische 
Bewegungen — sehr schwach; grobe Kraft der Extremitäten — ge- 
nügend; Amymie; monotone, ausdruckslose Sprache; plumper, unsicherer 
Gang; pythekoide Figur. Der Gesamteindruck — Plumpheit, Ungelenk- 
heit, Ungeschicklichkeit. Intellekt-normal. Bei der Untersuchung nach 
der vorgeschlagenen Stufenleiter ergab der Fall eine Zurückgeblieben- 
heit von 7!/, Jahren. 

Dieser Fall und einige ähnliche überzeugen uns nochmals darin, 
daß die vorgeschlagene Stufenleiter imstande ist, die tatsächlichen Be- 
ziehungen zwischen dem motorischen Gebiet des Kindes und dem 
Alter, welchem diese Bewegungen entsprechen, klarzulegen. 

Abgesehen von diesen diagnostisch interessierten Untersuchungs- 
bedürfnissen kann die Stufenleiter auch zur Kontrolle der Ergebnisse 
verschiedener pädagogischen Beeinflussungsmethoden des motorischen 
Gebiets gebraucht werden. 

Alle diese Erwägungen insgesamt geben uns die Berechtigung 
zu der Veröffentlichung der Stufenleiter. 





!y Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Band XCII, Heft 1/2. 





Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer 
| Fürsorgezöglinge. 
Von 
Prof. Dr. Adalbert Gregor. 

Die Vorbereitung des Verwahrungsgesetzes hat allgemeines Interesse 
auf die Objekte gelenkt, die Gegenstand desselben werden sollen. Sie 
hatten schon vordem aus anderen Gründen die Wissenschaft beschäftigt. 
Wilmanns hat in seiner Monographie über Landstreicher tiefe Ein- 
blicke in die Natur sittlich tiefstehender Individuen vermittelt und die 
psychiatrische Literatur kennt manche Einzeldarstellung von Entarteten 
mit moralisch minderwertiger Anlage. Spärlicher sind aber unsere 
Kenntnisse über die Entwicklung jener Individuen, welche später der 
öffentlichen Fürsorge zur Last fallen. Da Personen letzterer Art viel- 
fach schon in ihrer Jugend Verwahrlosungszeichen bieten, erscheint 
es bei ihrem Studium naheliegend, die Erfahrungen der Fürsorge- 
erziehung zu Rate zu ziehen, wenn man über Qualität und Umfang 
dieser Gattung Aufschluß sucht. Dabei stößt man freilich auf eine 
recht empfindliche Lücke. Die wissenschaftliche Erforschung jugend- 
licher Verwahrlosung hat es mit sich gebracht, daß wir zwar brauch- 
bare Untersuchungen über Fürsorgezöglinge aus jüngster Zeit besitzen, 
von den weiteren Lebensschicksalen solcher Individuen aber nicht 
genügend wissen. Auch letztere Aufgabe wurde bereits in Angriff 
genommen und Studien dieser Art sind im Gange. Sie haben nament- 
lich mit der mangelhafteu Kenntnis der psychischen Struktur ihrer 
Objekte zur Zeit der Fürsorgeerziehung zu kämpfen. 

In meinem Werke über Verwahrlosung!) hatte ich bereits Ge- 
legenheit, auf schwere Fälle aus dem Gebiete der Fürsorgeerziehung, 
namentlich asoziale Zöglinge genauer einzugehen. Unter 100 männlichen 


1) Gregor-Voigtlünder, Die Verwahrlosung. Berlin 1918. 
Zeitschrift für kKinderforschung. 30. Band. 21 


316 Adalbert Gregor: 


Fürsorgezöglingen waren es 10, die eine derartige Gruppe bildeten. 
Für das Zustandekommen ihrer Verwahrlosung mußte in den meisten 
Fällen erbliche Belastung als bedeutsam angesehen werden. Diese 
betrug für asoziale Zöglinge 100 °/,; kriminelle Handlungen wurden 
von allen Individuen begangen, nicht in allen Fällen aber strafrecht- 
lich verfolgt. Die Zeit, in der die Verwahrlosung einsetzte, war ver- 
schieden, doch überwog relativ frühes Auftreten. Psychologisch erwies 
sich die Gruppe nicht als einheitlich, ihre Glieder stimmten aber darin 
überein, daß sie alle pathologische Züge boten. Einschlägige Fragen 
wurden beim allgemeinen Fürsorgetag in Heidelberg unter dem Thema 
„Ausscheidung der sogenannten Unerziehbaren aus der F. E.“ behandelt, 
bald danach wurde aber der Wunsch nach eingehender Darstellung 
derartiger Fälle laut. 


Die folgende Untersuchung sucht die Frage zu klären, ob und in 
welchem Umfang schwer erziehbare männliche Fürsorgezöglinge zu 
verwahren sind bezw. welche Aufgaben sie der Fürsorgeerziehung 
stellen. Zu diesem Zwecke wurde der gegenwärtige Bestand der An- 
stalt Flehingen von 160 Fällen und die im Jahre 1924 Entlassenen 
(160) gesichtet und die schweren Fälle einer näheren Prüfung unter- 
zogen. 


Zur Vereinfachung der Darstellung sollen die hierher gehörigen 
Fälle in Gruppen gebracht werden, deren Bezeichnung nach jenen 
Charaktermerkmalen gewählt wird, welche wir für die Entwicklung der 
Verwahrlosung einerseits und für das im besonderen Fall erreichte 
Ausmaß, welches die Erziehungsschwierigkeit bestimmte, andererseits 
für entscheidend ansehen. Die ersteGruppe, moralisch Minder- 
wertiger setzt sich aus nachstehenden Unterarten zusammen: 

moralische Stumpfheit, 
5 Unempfindlichkeit 
Gleichgültigkeit. 


Man wird diese Namen zunächst vielleicht als Bezeichnung für 
denselben Tatbestand anzusprechen geneigt sein. Dies trifft aber nur 
insofern zu, als sie eine eigenartige moralische Konstitution zum Aus- 
druck bringen wollen, welche durch die 3 Bezeichnungen genügend 
charakterisiert ist. Die Namen selbst sollen eine genauere Abtönung 
ermöglichen, vor allem hinsichtlich der Qualität seelischer Struktur. 
So bildet Stumpfheit die Bezeichnung für eine allgemeinere seelische 
Artung und schließt intellektuellen Tiefstand mit ein, während Un- 
empfindlichkeit (Anästhesie) dem medizinischen Sprachgebrauch nach 


Psychologie nnd Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 317 


zur Bezeichnung von isolierten Defekten dient. Man kann diesen 
Ausdruck für Individuen verwenden, die im Gegensatz zu dea mora- 
lisch Stumpfen aktiv sind und denen ein Gefühl für Werte nicht im 
allgemeinen abzusprechen ist, bei denen vielmehr dieser Mangel nur 
die spezifisch moralische Sphäre betrifft. Für die moralisch Stumpfen 
und Unempfindlichen haben moralische Werte fast keine Geltung. Als 
moralisch gleichgültig möchte ich dagegen jene Individuen bezeichnen, 
die zwar von sittlichen Werten berührt werden, aber einen tieferen 
Unterschied zwischen höheren und niederen Werten in ihrer gewöhn- 
lichen moralischen Verfassung nicht zu treffen vermögen. Hier schließen 
sich unmittelbar als zweite und dritte Gruppe die Fälle von 
Haltlosigkeit und hypomanischer Skrupellosigkeit an. 

Bekanntlich bildet Haltlosigkeit das hervorstechende Merkmal ver- 
wahrloster Psychopathen oder vielmehr, es verwahrlost namentlich jener 
Teil der Psychopathen, die auch haltlos veranlagt sind. Wir kommen 
damit auf die auch diagnostisch wichtige Frage nach den Beziehungen 
von Haltlosigkeit und Psychopathie. Der psychologisch denkende Psych- 
iater wird nicht bei den als Haltlosigkeit bezeichneten Äußerungen 
stehen bleiben, scndern sie von elementareren psychischen Qualitäten 
abzuleiten suchen. Es wird sich ihm dann die Haltlosigkeit bald als 
Mangel psychischer Energie im Sinne der Fähigkeit und Möglichkeit 
zu konstanten Willensrichtungen und Willenshandlungen, bald als 
Folge abnormen Wertfühlens und Werterlebens darstellen. In beiden 
Fällen wird die Diagnose Psychopathie dann begründet sein, wenn der 
Mangel im Wesen des Individuums gelegen, also konstitutionell be- 
dingt ist und auch bei qualitativer Bewertung sich als gewichtig er- 
weist. Zweifellos gibt es auch Haltlosigkeit nebensächlicher Bedeutung 
und wir können im gewissen Sinne auch Grade von Haltlosigkeit 
unterscheiden. Die Fälle, die wir hier zu unseren schweren zählen, 
haben ein für die Psychopathie ungewöhnliches Maß von Haltlosigkeit 
geboten. 

Unmittelbare Beziehungen bestehen auch zwischen Haltlosigkeit 
und manischer Erregung. Der konstitutionell Erregte ist vielfach auch 
haltlos. Doch sehen wir manchmal Individuen im hypomanischen Zu- 
stande Leistungen vollziehen, mit Konsequenz und Ausdauer hochwertige 
Produkte liefern, angesichts deren die Bezeichnung haltlos wider- 
sinnig wäre. Der hypomanische Zustand schließt aber stets eine ge- 
wisse Einseitigkeit in sich und es hängt rein vom Interessenkreis, 
also von der Richtung der Betätigung ab, ob sich Abweichungen von 
Gesetz, Recht und Sitte ergeben. So werden wir die verwahrlosten 


Cyklothymen als Sonderfall des manisch-depressiven Formenkreises 
21* 


318 Adalbert Gregor: 


ansehen und als praktisch und forensisch bedeutsam zu werten haben, 
wie in anderem Zusammenhang von mir betont wurde.t) 


Die konstitutionelle Erregung, besonders der hypomanische Zustand 
des Cyklothymen schließt eine motorische Komponente lebhafterer 
Betätigung in sich, die sich zum Betätigungsdrang steigern kann. 
Wie uns der Fall Adolf F. unten noch zeigen wird, ist dieser nicht 
immer geordnet, d. h. auf bestimmte Ziele gerichtet. Ohne den Zug 
von gehobener oder heiterer Stimmung finden wir eine gleiche oder 
ähnliche Aktivität bei einer (vierten) Gruppe von Schwererziehbaren, 
welche Qualität im Anstaltsleben besonders deutlich und störend zutage 
tritt, weil sie dem System der Anstaltserziehung ganz und gar wider- 
spricht; es sind dies Individuen, die sich schwer ins Anstaltsleben 
fügen, weil die Gebundenheit und Regelmäßigkeit der Lebensführung 
ihrem Wesen zuwiderläuft; ferner Individuen, die ein lebhaftes Be- 
dürfnis nach Reiz und Abwechslung haben und den Anstaltsaufenthalt 
als Fessel empfinden. Von hier führt ein Schritt zu jener (fünften) 
Gruppe, die ich als Vagabundennaturen bezeichnen möchte. Zum 
Unterschied von den zuletzt besprochenen Fällen wird hier der 
psychische Habitus durch eine besondere Triebhaftigkeit beherrscht, 
die bei älteren Individuen immerhin ungewöhnlich ist. Wissenschaft- 
liches Denken wird hier natürlich nach erblichen Zusammenhängen 
und konstitionellen Anomalien suchen, die sich auch tatsächlich meist 
nachweisen lassen. Die Schwierigkeit des Falles liegt in der Unmög- 
lichkeit erzieherischer Beeinflussung infolge immer wiederkehrender 
Entweichungen. 


An den Schluß stellen wir eine Sammelform, bei der die psychische 
Konstitution dahingestellt bleibt, d. h. sehr verschieden sein kann, 
Ich bezeichne diese Gruppe sechs als (sekundäre) moralische 
Verkommenheit, um das Gewicht exogener Momente zu betonen, 
welche bei gesteigerter Zugänglichkeit für schlechte Einflüsse ein un- 
gewöhnlich rasches und tiefes Absinken jugendlicher Individuen 
bedingen. 


Im folgenden soll der Lebenslauf einzelner charakteristischer Ver- 
treter der unterschiedenen Gruppen skizziert und auf deren andere 


Glieder nur nach Maßgabe ihres speziellen Interesses eingegangen 
werden. 





!) Über Nahrungsmittelschwindel von Fürsorgezöglingen.: Bericht des Fürsorge- 
verbandes Leipzig über das Jahr 1918. 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 319 


I. Sittliche Minderwertigkeit. 


1. Die moralisch Stumpfen. 


Karl P , geb. am 17. November 1906. Vater Müller, arbeitet auswärts, kümmert sich 
nicht um die Kinder. Mutter ist 1912 gestorben. Karl kam mit seinem einzigen 
Bruder zu Großeltern in Pflege. Großvater ist erblindet, die Großmutter hat keine 
Gewalt über die Jungen. Karl bestahl sie und fuhr einmal mit zwei anderen Jungen 
nach Karlsruhe, wo sie das Geld verjubelten. Beim Austragen von Zeitungen beging 
er z. T. recht raffinierte Diebstähle; in einer Badeanstalt entwendete er Uhr und 
Geld; in der Schule nachlässig, kam ungewaschen und unsauber hinein. September 
1917 wurde er in eine Anstalt für schulpflichtige Zöglinge gebracht, wo er zweimal 
ausriß Gelegentlich eines Entlassungsgesuches bemerkte der Anstaltsleiter: Karl sei 
der größte Dieb, es vergehe kem Tag, wo er sich nicht an fremdem Eigentum ver- 
greift; zudem sei er faul, drücke sich von der Arbeit, sei falsch, hinterlistig und 
verleumderisch. Nach Schulentlassung wurde er zu einem Bauern in Stelle gebracht. 
Ein Zeugnis bezeichnet ihn als Dieb und Lügner. Nach etwa einem Jahre kam er 
zu den Großeltern, wobei ein Onkel (Polizeiwachtmeister) die Aufsicht führte Es 
schien nun eine Zeit gut zu gehen. Dann beging er wieder Diebstähle, zunächst 
kleine, später aber einen Einbruch, und wurde deshalb mit 3 Monaten Gefängnis 
bestraft. 

Nach Verbüßung der Gefängnisstrafe 18. März 1924 nach Flehingen. Hier zeigte 
er das oben charakterisierte Wesen, fügte sich gut in die Anstaltsverhältnisse, ver- 
richtete seine Arbeit ziemlich ordentlich. Nach 6 Monaten für 2 Tage beurlaubt, 
kehrte er nıcht wieder zurück und mußte erst Ende des Jahres vom Amtsgericht 
wieder zugeführt werden. Wir erfuhren, daß er sich rechtzeitig nach Ablauf des 
Urlaubes an die Bahn begab und die Karte bereits gelöst hatte, als ihm ein Kamerad 
in den Weg kam und ihn zum Mitgehen aufforderte. Er leistete ohne weiteres Folge 
und ließ sich nun einige Tage von seinem Bekannten freihalten. Als dessen Geld zu 
Ende war, forderte er Karl auf, einen Einbruchsdiebstahl zu begehen. Dieser tat es 
auch, wurde ergriffen und vom Schöffengericht zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt, 
vorerst aber nach der Anstalt gebracht. Er fügte sich nun ohne weiteres wieder 
ein, zeigt launisch-gedrücktes, verschlossenes Wesen, verrichtet nach wie vor seine 
Arbeit pünktlich aber ohne Eifer und Interesse. 

Da der Zögling seit 6 Jahren in Fürsorgeerziehung steht und in 
zwei längeren Perioden von Anstalten erzogen wurde, ist sein Lebens- 
gang und Lebensverhältnisse genauer zu beurteilen. Rein äußerlich 
betrachtet, bleibt trotz konsequenter Bemühung um seine Erziehung 
der Hang zum Stehlen erhalten, sodaß man ihn wohl in die Kategorie 
des geborenen Verbrechers einreihen muß. Seine Verhaltungsweise 
macht im Laufe der Zeit eine gewisse Wandlung durch. In jüngeren 
Jahren erscheinter aktiv unternehmend. Bei der Reise nach Karlsruhe tritt 
er als Führer seiner Genossen auf, sein aktives Verhalten läßt sich 
noch in der ersten Erziehungsanstalt verfolgen. Anders ist das Bild, 
das der Zögling in Flehingen bietet. Seine Intelligenz ist beschränkt, 
das Wesen auffallend passiv, lässig. Er verrichtet stumpf und freude- 
los seine Arbeit. Von Affekten bringt er gelegentlich gelinden Trotz 


320 Adalbert Gregor: 


und Gehässigkeit auf. Sonst ist er aber fügsam, willig und arbeitet 
mit großer Gleichmäßigkeit. Seelische Regungen tieferer Art sind ihm 
fremd, seine Sprache monoton. Anregungen zu Affektäußerungen 
beantwortet er mit resigniertem Lächeln. 

Eine Periode guter Führung in der Anstalt schneidet jäh ab, als 
er unter besonders eindringlichen Ermahnungen kurz beurlaubt wird. 
Bezeichnend ist nicht nur die Raschheit, sondern auch die Form des 
Abfalles. Es kann geradezu als ein Merkmal der uns beschäftigenden 
Gruppe moralischer Stumpfheit hingestellt werden, daß es hier einen 
Konflikt der Motive gut und böse überhaupt nicht gibt, das Individuum 
vielmehr dem momentanen Impuls folgt. Vor eine schwerwiegende 
Entscheidung wird die Anstalt gestellt, als der Zögling zu 9monatlicher 
Gefängnisstrafe verurteilt wird. In der Frage des Strafvollzuges nahm 
ich in einer Zuschrift ans Amtsgericht folgende Stellung ein: 

Bei seiner Passivität und Stumpfheit würde der Zögling den 
Gefängnisaufenthalt nicht als Strafe empfinden und daher dort um 
nichts gebessert werden, im Gegenteil ist zu befürchten, daß er dann 
vollends in die Verbrecherlaufbahn gerät. Es bleibt natürlich zweifel- 
haft, ob der Anstaltserziehung in letzter Stunde ein Erfolg beschieden 
sein wird; aber die Frage lautete zur Zeit: ob der Zögling ins Ge- 
fängnis kommen, verwahrt werden oder in der Anstalt verbleiben 
sollte. Hier mußte man sich für die letzte Möglichkeit entscheiden, 
da sie immerhin noch eine gewisse Aussicht, Verwahrung zu umgehen, 
bietet. Sollte die Anstaltserziehung in dem noch verfügbaren Jahre 
nichts mehr am Wesen des Individuums ändern, dann müßte sie bei 
Eintritt der Volljährigkeit durch Verwahrung abgelöst werden. 

Die Reihe der hierher gehörigen Fälle ist nicht unbeträchtlich. Von 
den 36 schwer Erziehbaren, mit denen sich diese Arbeit befaßt, ge- 
hören ihr 7 an. Die im letzten Falle nicht ganz durchsichtigen hereditären 
Verhältnisse stellten sich bei der Mehrzahl viel eindeutiger dar. Un- 
belastet schien nur ein Fall, ihm stehen 5 mit direkter erblicher Be- 
lastung gegenüber, dabei 3mal Trunksucht eines Eilternteiles, 1 mal 
schwere Verkommenheit der ganzen Familie mit moralischer Minder- 
wertigkeit der Schwester und Brüder des Zöglings, lmal wird ledig- 
lich die Mutter als leichtgläubige, einfältige Person geschildert, die 
ihren Haushalt vernachlässigt; eine Schwester dieses Zöglings hat mehr- 
fach unehelich geboren; lmal ist der Vater kriminell. 

Schattierungen der seelischen Struktur waren nach 2 Richtungen 
festzustellen. Erstens hinsichtlich des Intellekts, dabei stand nur ein 
Fall an der Grenze der Norm, war aber in erheblichem Maße be- 
schränkt. Die Mehrzahl war debil, ein Zögling imbezill. Ferner waren 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 321 


Unterschiede nach dem Grade moralischer Stumpfheit, affektiver An- 
regbarkeit und Aktivität festzustellen. Die Mehrzahl bilden torpide 
Naturen, die sich verhältnismäßig leicht lenksam erwiesen, so daß die 
Schwererziehbarkeit nicht im Widerstand gegen die Anstaltsdisziplin 
sich auswirkte, auch nicht in Entweichungen, vielmehr stellte sie sich 
lediglich als prognostisch, im Hinblick auf die spätere Eingliederung 
in das soziale Leben dar. 

Bei einem durch 2 Jahre in der Anstalt verfolgten Falle, der 
förmlich automatisch stiehlt, ist die weitere Unterbringung durch den 
Tiefstand des Intellekts, Imbezillität, im Sinne der Verlegung nach 
einer Kreispflegeanstalt entschieden. Im übrigen gelten die im ersten 
Falle angestellten Überlegungen. Auch Unterbringung in eine Stelle mit 
guter Aufsicht konnten wir mit Erfolg versuchen, waren uns aber der 
Bedingtheit dieser Maßnahme klar. Die Entlassung nach Hause ver- 
bietet sich in der Regel durch die erwähnten hereditären Verhältnisse. 
Stets bleibt bei dieser Gruppe die Frage der Verwahrung in Schwebe. 
Bemerkenswerterweise können bei der besonderen seelischen Struktur, 
welche derartige Zöglinge weder als besonders fluchtverdächtig noch 
für andere Jugendliche als moralisch gefährlich erscheinen läßt, die 
Erziehungsversuche in einer halboffenen Anstalt vorgenommen werden, 
so daß hier paradoxerweise trotz offensichtlicher Schwererziehbarkeit 
die Anstalt für Schwererziehbare ausscheidet. 


2. Die moralisch Unempfindlichen. 


Hermann S., geb. 13. August 1906. Vater Bierführer, brutaler Mensch, der die 
Kinder bis zur Bewußtlosigkeit schlägt, Mutter wegen Kuppelei bestraft, schmutzige 
Person, vernachlässigt Haushalt und Kınder. Schwester des Zöglings beging Diebereien, 
der jüngere Bruder kam in eine Erziehungsanstalt für Knaben, weil er verschiedent- 
lich Taschendiebstähle begangen hatte. Hermann ist schon in der 3. Schulklasse ver- 
wahrlost, kam mit liederlichen Heften und Büchern, schmutzig und zerrissen zur 
Schule, folgte zu Hause nicht, unterschlug Geld. Mit 10 Jahren in Pflege, nach 2 Jahren 
ins Elternhaus zurück. Beging nun vielfach Diebereien, riß einem Mädchen dıe Geld- 
tasche weg, stahl auf der Messe einem Kaufmann die Brieftasche aus dem Rock und 
beging innerhalb von 2!/, Monaten 4 Taschendiebstähle. Derartige Handlungen wurden 
von ihm in raffinierter Weise ausgeführt, so machte er sich einmal in einem Wirts- 
hause so lange zu schaffen, bis er bemerkte. wohin die Kellnerin einen Geldbeutel 
tat, worauf er ihn stahl. Leugnete hartnäckig, ehe man ihm den Beutel abnahm 
15. Mai 1920 nach der Erziehungsanstalt Sınsheim, 26. Mai entwichen, kam wegen 
verschiedener Diebereien in Haft, Entweichungen setzten sich fort. Die Anstalt be- 
zeichnet ihn als großen Dieb, Lügner, Heuchler. Bei der letzten Entweichung beging 
er 6 Taschendiebstäble und wurde deshalb zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Er 
kam dann am 23. Juni 1921 nach Verbüßung der Strafe nach Flehingen. Hier zeigte 
er sich als zerfahrener, mürrisch-launischer Bursche. Die fortlaufenden Eintragungen 
heben immer wieder seine Unbeständigkeit. Unzuverlässigkeit und Frechheit hervor 


399 Adalbert Gregor: 


und bezeichnen ihn als heimtückisch und scheinheilig. Er verblieb 21 Monate in 
Flehingen und war währenddem nur kurze Zeit flüchtig. Gegen Ende des Aufenthaltes 
zeigte er relativ gute Führung, erwies sich ruhiger und gleichmäßiger. Er wurde am 
19. März 1923 ın Gärtnerlehre nach auswärts gegeben, von wo er aber in kürzester 
Zeit entwich. Dann kam er in eine andere Erziehungsanstalt, wo Entweichungen 
rasch aufeinander folgten. Am 12. Januar 1924 in eine neue Gärtnerlehre: der Meister 
war erst zufrieden, bald unterschlug ihm der Zögling aber Geld für eingezogene 
Rechnungen. Er wurde nun am 14. März 1924 nach Flehingen gebracht und beging 
schon bei der Einlieferung einen Diebstahl in der Kammer. Am 27. März nach dem 
Psyehopathenheim Sinsheim. Dort betätigte er sich ziemlich fleißig an gärtnerischen 
Arbeiten, erwies sich aber bald als Heuchler, Dieb und Betrüger. Er bestahl wochen- 
lang seinen Meister, betrog die Kameraden, schmeichelte sich beim Pfarrer ein, um 
ihn bei der Flucht aus der Anstalt zu bestehlen: kam deshalb am 4. November 1924 
auf 7 Monate ins Gefängnis. 


Dieser Zögling hatte sich von so vielen Seiten gezeigt, daß man 
über seine Wesensart ein deutliches Bild gewonnen hat. Zunächst ist 
seine Heredität von Interesse. Der Vater steht nach seinem Beruf 
und Eindruck dem Alkoholismus nahe. Er ist ein brutaler Mensch, 
der die Kinder geistlos erzieht und unmenschlich straft. Bei der Er- 
örterung ihrer Verhaltungsweise läßt er Einsicht und moralisches 
Urteil vermissen. Die Mutter wegen Kuppelei bestraft, ist eine minder- 
wertige Person, die Schwester diebisch veranlagt, der jüngere Bruder, 
bietet ein ganz ähnliches Verwahrlosungsbild, wie unser Fall. 

Für die Beurteilung des Zöglings ist bedeutsam, daß seine Intelli- 
genz nicht beeinträchtigt ist, eine moralische Gesinnung aber fehlt. 
Seine Vergehen führen unmittelbar vor die Annahme eines moralischen 
Defektes. In früher Jugend werden Taschendiebstähle mit Geschick 
und Raffiniertheit begangen; später weiß er sich in einer Weise zu 
verstellen und zu heucheln, daß er das Vertrauen urteilsfähiger Männer 
gewinnt. Gerade dieser grobe Mißbrauch des Vertrauens und die 
rücksichtslose Art, die ihn niemanden verschonen läßt und der nichts 
heilig ist, unterscheidet ihn vom Durchschnitt der Fürsorgezöglinge, 
bei denen man meist ein relatives Ehrgefühl findet. Man muß in 
derartigen Fällen dann eine Schwäche und zeitweilige Resistenzlosig- 
keit im Rahmen der Psychopathie annehmen, während wir bei dem 
in Rede stehenden Jungen förmlich einem Prinzip gegenüberstehen, das 
nur durch einen tatsächlichen Defekt zu erklären ist. 


Die zielbewußte, durch 5 Jahre betriebene Fürsorgeerziehung hat 
bei diesem Zögling keine Erfolge erreicht, er stiehlt aus innerer Not- 
wendigkeit. Es wäre sinnlos, ihn nach Verbüßung der jetzigen Ge- 
fängnisstrafe ins soziale Leben zu stellen, aber ebenso sinnlos, die 
Fürsorgeerziehung mit gleichen Mitteln fortzusetzen und an ein nicht 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 323 


vorhandenes Ehrgefühl zu appellieren. So bleibt als einziger Ausweg 
Verwahrung übrig. 

Wir schließen zwei weitere Fälle an, welche in bezug auf Here- 
dität abweichen, indem bei Eltern und Geschwisten keine belastenden 
Momente nachzuweisen sind. Dagegen stimmen sie mit dem letzt- 
besprochenen Zögling darin überein, daß die moralische Anomalie 
frühzeitig in Erscheinung trat. 


Der eine jetzt 18-jährige Junge Karl B. fiel semen Eltern schon im ersten Jahre 
seines Lebens durch trotziges und reizbares Wesen auf. Er bekam förmliche Wut- 
anfälle, wenn es nicht nach seinen Wünschen ging. In frühester Jugend zeigte er 
Neigung zum Stehlen. entwendete dem Vater (Steuereinnehmer) Geld aus der Kasse 
und riß aus. Strafen hatten keine bessernde Wirkung. Mit 6 Jahren unterschlug er 
hei Einkäufen Geld; in der Schule wurde er Lehrern und Kameraden durch raffinierte 
Diebstähle zur Pein; später drang er auch in fremde Häuser ein. Er wurde daher 
mit 16 Jahren in eine Erziehungsanstalt gebracht. in der man aber mit ihm nicht 
fertig werden konnte. Nach einem in der Anstalt selbst begangenen Einbruchsdietb- 
stahl wurde er Flehingen überwiesen. Es war bei ihm Schwachsinn leichten Grades 
fastzustellen, er fügte sich schwer in die Ordnung, zeigte sich lügenhaft, faul, diebisch, 
streitsüchtig, gemütliche Reaktionen fehlen nicht, doch sind höhere Regungen zu ver- 
missen; er ist verschlagen, unzuverlässig, unbeständig. 


Der jetzt schon 1 Jahr währende Aufenthalt in Flehingen hat 
mehr als formalen Erfolg gezeitigt und ermutigt, trotz aller Schwierig- 
keiten und zu erwartender gelegentlicher Rückschläge, zu konsequenter 
Erziehung. Gerade die Erfahrung im früher besprochenen Falle (Her- 
mann S.) weist darauf hin, daß es hier kein Kompromis mit anderen 
Formen der Fürsorgeerziehung, Lehre, elterliche Aufsicht geben darf. 
Nach anderweitigen Erfahrungen glauben wir, daß 3jähriger Anstalts- 
aufenthalt, zumal verbunden mit Ausbildung in einem Handwerk und 
zielbewußter Pädagogik, den Zögling in richtige Bahnen lenken kann, 
vorausgesetzt, daß er sich als beeinflußbar erweist und man nicht 
einem starren seelischen Gefüge gegenübersteht wie im Falle: 

Wilhelm W., geboren 1. Juli 1905, Vater Goldarbeiter, über Eltern nichts Nach- 
teiliges bekannt. Schon ia der Schulzeit auffällig, schwänzte, nächtigte im Freien. 
1914, also mit 9 Jahren in Gemeinschaft Einbruch verübt, Verwarnung und elterliche 
Züchtigung blieben erfolglos, entwendete ihnen wiederholt Geld. Er wurde zunächst 
in ein Rettungshaus gebracht, wo er jede Gelegenheit zum Stehlen benützte und öfters 
entwich. 1918 unter Schutzaufsicht zu den Eltern, als er ihnen entwich, neuerlich 
in eine Erziehungsanstalt; nach 1 Jahre wieder unter Schutzaufsicht, mehrfache Dieb- 
stähle aber zwangen dazu, ihn 1921 wieder nach der Erziehungsanstalt zu bringen, 
wo er mehrfach entwich, daher 1922 nach Flehingen. 


Hier gingen der Aufnahme in Flehingen ein bunter Wechsel von 
Anstaltsaufenthalt, Schutzaufsicht, Gefängnis voraus. Im Falle Karl 
B. konnte man sehen, wie außerordentlich wichtig fortlaufende An- 


324 Adalbert Gregor: 


staltserziehung ist. Es kommt eben alles darauf an, sich rechtzeitig 
den Fall in seiner ganzen Tragweite klar zu machen. Bei Wilhelm 
W., wo so bedrohliche Symptome vorhanden waren, hätte fortgesetzte 
Anstaltserziehung unbedingt angestrebt werden müssen. Auch Ent- 
weichungen wirken natürlich verderblich und sind darum mit allen 
erzieherischen Mitteln zu bekämpfen, Es ist weitaus rationeller den 
seelischen Eigenheiten, Wünschen und Bedürfnissen der Zöglinge 
Rechnung zu tragen und mindestens im Anfang der Anstaltserziehung 
kleine Konzessionen zu machen, als die Strenge und Disziplin schließ- 
lich doch durch eine Entweichung durchbrochen zu sehen. 

Wilhelm W. zeigte in Flehingen bereits den ominösen Zug des 
erfahrenen Anstaltszöglings, eine äußere Glätte, geschicktes Benehmen, 
Ausnützung von Situationen, oberflächlichen Eifer. Eine Zeit mochte 
es den Anschein haben, als wäre er noch zu ändern und zu bessern, 
doch sahen wir nach einem Jahre die Erfolglosigkeit des Bemühens 
ein und stimmten dem Entlassungsantrag des Vaters zu. Der Zögling 
beging aber einen schweren Diebstahl und wurde zu 10 Monaten Ge- 
fängnis verurteilt. Da sich nach Verbüßung der Strafe nicht gleich 
eine Stellung fand, kam er nochmals vorübergehend nach Flehingen. 
Er fiel durch sein dreistes und selbstbewußtes Wesen auf, zeigte sich 
aber anstellig und in der Arbeit gut verwendbar. In der Zwischen- 
zeit hatte er sich noch mehr zu einer selbständigen Persönlichkeit ent- 
wickelt, deren Merkmale Kälte, Fühllosigkeit und Berechnung nun 
völlig jede erzieherische Beeinflussung illusorisch erscheinen ließen. 


3. Die moralisch Gleichgiltigen. 


Joseph H., geboren 2. Oktober 1906. Eltern gestorben. Zögling ist ganz ver- 
wahrlost, nächtigt in Baracken, arbeitsscheu, zerlumpt, heruntergekommen; wiederholt 
auf Landstellen untergebracht. nirgends gut getan, wegen Faulheit und Unzuverlässig- 
keit entlassen, gilt als raffinierter Lügner, hat Angehörige mehrfach in erheblicher 
Weise bestohlen, u. a. Kleiderschrank mit Dietrich oder Nachschlüssel geöffnet und 
Sachen seines verstorbenen Vaters verkauft, Geld und Waren auf Namen der An- 
vehörigen erschwindelt. Als Mutter sterbenskrank lag, war er zu faul, Medikamente 
aus der Apotheke zu holen, zerriß das Rezept, drohte mit Anzünden des Hauses und 
mit Selbstmord. Strafen und Züchtigungen blieben wirkungslos 

Bei der Einlieferung zeigt er auffällig selbstbewußtes, ziemlich dreistes Wesen, 
hat kein Bewußtsein eigener Schuld. Gründe der F E. werden teils bestritten, 
teils zu widerlegen gesucht, namentlich stellt er Diebstähle in Abrede. ge- 
rät bei der Unterredung in Affekt, weint. Die Intelligenzprüfung ergibt Ausfälle im 
Sinne der Debilität. Seine Führung in der Anstalt ist namentlich anfangs schlecht, 
er zeigt schlaffes Wesen, ist faul, gleichgiltig, schwatzhaft, zeitweise aufgeregt, zer- 
fahren. Gelegentlich Entweichungsversuch. Znr Erlernung des Schuhmacherhand- 
werkes erweist er sieh unfähig wegen Plumpheit, Ungeschick und Arbeitsunlust, Im 
Laufe eines Jahres wird seine Führung leidlich, sein Wesen bleibt aber unverändert, 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezögline. 3925 


wenn er auch etwas fleißiger ist. Versuche mit Unterbringung in ländlichen Stellen 
haben keinen Erfolg, da er nur kurze Zeit aushält. Auch als er nach 2 Jahren auf 
sein ständiges Drängen in seine Heimat entlassen wird, meldet er sich bald wieder 
in die Anstalt zurück, indem er beim Amtsgericht sinnlose Lügen vorbringt. An- 
fang 1925 zwingt ein Erregungszustand mit Selbstmordneigung zur Unterbringung in 
einer Heilanstalt. Nach 2 Monaten von dort entlassen und nach der Anstalt zurück. 


Bei der (Gesamtbetrachtung können wir von der episodischen 
Geistesstörung absehen, sie gehört zum Bilde der pathologischen 
Geistesschwäche. Im übrigen bietet Josef H. manche Ähnlichkeit. mit 
den moralisch Stunpfen, vor allem stimmt er mit ihnen in dem niedrigen 
Intelligenzniveau überein, unterscheidet sich aber in der lebhafteren 
Affektivität; er nimmt Anteil an den Vorgängen in seiner Zöglings- 
gruppe, zeigt bei ernsten Lagen gemütliche Ergriffenheit. Seine ge- 
legentlichen Verstimmungen und seine Launenhaftigkeit sprechen eben- 
falls für sein Affektleben, führen aber schon zu der eingangs erwähnten 
psychischen Störung hinüber. 

Von besonderem Interesse sind aber die moralischen Qualitäten 
bzw. Defekte. Er ist verschlagen, unzuverlässig, verlogen, gleichgiltig 
und träge im Berufe als Korbmacher. Von einem tieferen Werter- 
leben oder einer moralischen Gesinnung kann keine Rede sein. Be- 
zeichnend ist namentlich der Vorgang bei der Entlassung in die 
Heimat. Die 21/,jährige Anstaltserziehung hat im Grunde nur einen 
oberflächlichen Erfolg ergeben, der Junge ist nur einigermaßen mit 
der Arbeit vertraut geworden, ohne sie aber bewußt und überzeugt 
oder auch nur völlig gewohnheitsmäßig zu verrichten. 

Josef H. ist trotz seines moralischen Defektes nicht eigentlich 
kriminell, auch nicht aktiv genug, um besonders gefährlich zu werden; 
die Gesellschaft bedarf kaum eines besonderen Schutzes vor seiner 
Person; dagegen muß man diese selbst vor Absinken und Verkommen- 
heit schützen, da Vagabundentum und dessen Gefolge in der Linie 
der seelischen Entwicklung des Zöglings liegen. Hier bietet die see- 
lische Anomalie (Schwachsinn) eine Handhabe, um ihn jederzeit bei 
drohender Verwahrlosung zu internieren. Man wird diesen Weg 
gehen müssen, wenn auch die letzten Mittel der Anstaltserziehung 
erschöpft sind. 

Eine gleiche moralische Konstitution bei viel höherem intellek- 
tuellen Niveau bietet 

Friedrich Hi., geboren 4. Januar 1905. Sein sittlicher Defekt tritt schon 
im 11. Lebensjahre zutage, seit dem 14. Jahre wird er fortgesetzt mit Gefängnis- 
strafen bedacht, muß aber, schon fast 19 Jahre alt. erst selbst auf die Idee ver- 


fallen, nach einer Erziehungsanstalt gebracht zu werden und meldet sich im Gefängnis 
für Flehingen. um das Korbmacherhandwerk auszulernen. Seine Arbeitslust hält 


326 Adalbert Gregor: 


aber nicht vor, ebenso wenig bietet sein Gemütsleben Anhaltspunkte, um ihn sittlich 
zu erziehen, er ist ehrgeizig, eitel, intelligent. aber kalt und selbstsüchtig. Er weiß 
sich mit Geschick zu geben, den Augenblick zu nützen, zu schmeicheln und zu 
heucheln, bleibt aber unberührt von sittlichen Einflüssen. 


Man hat eine abgeschlossene Persönlichkeit vor sich, die ihre 
eigenen Wege geht und nicht durch moralische Einwirkung sondern 
mechanische Beschränkung behindert werden kann, der Gesellschaft 
zu schaden. Zu einer solchen Maßnahme liegt aber noch kein Grund 
vor, man darf hier tatsächlich auf den überdurchschnittlichen Ver- 
stand bauen und erwarten, daß Friedrich Hi. aus Klugheit und Be- 
rechnung Konflikten mit dem Strafgesetz aus dem Wege geht. 
Forderungen der Rassenhygiene, die sich darauf gründen können, daß 
auch die Mutter dieses Zöglings sittlich minderwertig ist, sein Bruder 
und seine Schwester verwahrlosten, müssen vorläufig außer Betracht 
bleiben. 

Die beschriebenen drei Formen lassen sich nach geläufiger 
Terminologie als eine Gruppe der sittlich Minderwertigen zusammen- 
fassen. Man kann hier praktisch von einem sittlichen Defekt reden, 
der sich für die psychologische Analyse, als Unfähigkeit, moralische 
Werte zu erleben, darstellt. Zöglinge dieser Art stammen meist aus 
trübem sozialen Milieu, sind vielfach hereditär gleichsinnig belastet. 
Bei den Schwachsinnigen der Gruppe war verschiedentlich Alkoholis- 
mus in der Ascendenz nachzuweisen. Eine Reihe hatte verwahrloste 
Geschwister. Frühzeitiges Inerscheinungtreten der moralischen Ab- 
artung ist Regel, die ersten Delikte fallen meist schon in die Schul- 
zeit, daher können wir viele dieser Individuen schon als Kinder in 
Erziehungsanstalten finden. Der Erziehungseffekt ist gering, auch bei 
planmäßiger pädagogischer Einwirkung. Einem geregelten Anstalts- 
betrieb machen Zöglinge dieser Art keine großen Schwierigkeiten. 
Die Entweichungen halten sich in Grenzen und können beherrscht 
werden. Unter diesen Umständen wird leicht ein Erziehungseffekt 
vorgetäuscht. Zweifellos bilden Zöglinge dieser Art einen Ballast der 
Anstalt, da an ihnen manches Erziehungsmittel verschwendet wird 
und sie eine überlange Dauer der Anstaltserziehung nötig machen. 


II. Haltlosigkeit. 


Otto B. geboren 24. Juni 1906. Mutter des Vaters Trinkerin, Vater nerven- 
krank (psychopathisch, streitsüchtig). Mutter unordentlich, unzuverlässig, beschränkt. 
Eltern sind gut beleumundet, ein Geschwisterkind taubstumm. Otto war ein leicht 
errerbares, unruhiges Kind, ängstlich, launenhaft. trotzig, sprach und träumte viel. 
In der Schule ziemlich faul, Leistungen hinlänglich Oberlehrer bezeichnet ihn als 
schwachbegabten, unruhigen Schüler. Aus VIH. Klasse entlassen, betätigte sich erst 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 327 


im Jünglingsverein, blieb aber dann fort. Nach Angabe des Vaters soll er im Krieg 
aus der Ordnung gekommen sein, die Verwahrlosung ist aber bloß bis 1921 zu ver- 
folgen. Sollte Blechner werden, wechselte viermal Stelle, wurde wegen Unzuverlässig- 
keit entlassen, verkehrte mit liederlichen Kameraden, bummelte, besuchte Zirkus, 
Kino. Zuhause unterschlug er Geld und nahm Sachen fort. Noch kurz vor einer 
Gerichtsverhandlung stahl er Mutter 100 Mk., angeblich um einen früher versetzten 
Rucksack damit einzulösen. 

7. April 1922 nach Flehingen, macht den Eindruck eines oberflächlichen, leicht- 
sinnigen Jungen, Intelligenzleistungen an der unteren Grenze der Norm. Wenige 
Tage nach der Einlieferung Entweichungsversuch. Im Anfange faul, interessenlos. 
unbeständig; nach etwa einem halben Jahre wird die Führung besser. Seine Arbeit 
ist zunächst noch ungleichmäßig, nach etwa 1 Jahre einwandfreie Führung, gibt sich 
Mühe, zeigt aber wenig Ausdauer, ist zerstreut, oberflächlich. In der Folge noch 
weiterer Fortschritt, wird auf Wunsch der Eltern 1. August 1923 entlassen. Am 
29. Dezember 1923 wieder zugeführt, weil er einige Zeit nach Entlassung ins Bum- 
meln geriet, in schlechter Gesellschaft verkehrte und Vater bestahl. Anfangs wieder 
faul, gleichgiltig, unbeständig, gewöhnt sich aber bald wieder ein, wird gutmütig 
ordentlich. verträglich und fügsam; für gelegentliche Vergehen einsichtig, bemüht 
sich, sie gut zu machen. Am 4. Dezember 1924 in Blechnerlehre entlassen. Anfang 
1925 gab er diese wieder auf, trieb sich in der Stadt herum, und bestahl Eltern, 
daher wieder in die Anstalt. 


Wenn wir von der letztbesprochenen Gruppe ausgehen, stehen 
wir hier einer ganz verschiedenen Wesensartung gegenüber. Gerade 
in bezug auf gemütliche Qualitäten, denen ja unbedingt ein Einfluß 
auf das soziale Verhalten einzuräumen ist, zeigt B. einen auffälligen 
Gegensatz zu den früher besprochenen Fällen. Er ist ein weicher 
empfindlicher, zart tesaiteter Junge, der auch feineren seelischen 
Regungen zugänglich ist, warme Anhänglichkeit für jüngere Geschwister, 
Angehörige und ihm wohlwollende Anstaltsbeamte entwickelt. Er kennt 
Mitgefühl und Ehre; im Kreise seiner Kameraden weiß er Familien- 
sinn zu wecken und sie zur Ordnung anzuhalten. Vergünstigungen, die 
ihm gewährt werden, sucht er durch Aufmerksamkeiten zu erwidern, 
begegnet den Vorgesetzten mit Achtung und Anstand. Und trotzdem 
erfolgt ein jähes Absinken nach einem gar nicht zu knapp bemessenem 
Anstaltsaufenthalt von 16 und 12 Monaten. 

Überblickt man Zusammenhang und Gründe, so ist zunächst auf 
die Eigenart beider Eltern hinzuweisen; insbesondere auf die Unver- 
nunft, Nachgiebigkeit und Schwäche der Mutter. Der Junge selbst 
ist intellektuell beschränkt, wird von der Schule als schwach begabt 
bezeichnet. Auch können wir so den bei ihm beobachteten Mangel 
an Kritik, die Widerstandslosigkeit gegen innere und äußere Antriebe 
und die leichte Beeinflußbarkeit auf das mütterliche Erbe zurück- 
führen. Der geläufige Ausdruck Willensschwäche ist zutreffend, 
wenn wir den Jungen erst nach der Schule, in der Nachkriegszeit 


328 Adalbert Gregor: 


entgleisen sehen. Er bleibt im Jünglingsverein aus, gerät in schlechten 
Verkehr, verläßt die Lehre, bummelt und veruntreut zu Hause Geld 
und Sachen. Die Kopflosigkeit. seiner Mutter just vor einer Gerichts- 
verhandlung noch 100 Mk. zu stehlen, um eine frühere Tat gut zu 
machen, weist bereits nach einer anderen Richtung. Er ist deutlich 
auch von väterlicher Seite belastet. Seine Großmutter war Trinkerin, 
der Vater ist ein streitsüchtiger, jähzorniger Mensch. Der Zögling 
hatte als Kind Krämpfe, später fielen in seiner Entwicklung Launen- 
haftigkeit, Trotz, Mißmut, Eigensinn, Wutanfälle auf. In diese Reihe 
gehören auch die in der Anstalt beobachtete Zerstreutheit, Unbeständig- 
keit, Zerfahrenheit. 

Konsequente Anstaltserziehung vermochte nach beiden Richtungen 
einen Ausgleich zu schafften. Wir finden es verständlich, daß seine 
Laufbahn in Flehingen mit einem nicht sehr energisch unternommenen 
und daher mißglückten Entweichungsversuch beginnt, auch daß dieser 
durch Heimweh motiviert war. Es kostete harte Mühe, ihn an Arbeit 
und Regelmäßigkeit zu gewöhnen; er war leichtsinnig, faul, ungleich- 
mäßig, zerstreut, interresselos. Nach etwa !/, Jahre aber treten in 
den fortlaufenden monatlichen Eintragungen auch schon hellere Seiten 
auf. Fleiß und Interesse regen sich, man kann einen konstanten 
günstigen Fortschritt beobachten und seine Führung wird einwandfrei, 
sodaß dem Wunsch der Eltern nach Entlassung entsprochen werden 
kann. Nach 4 Monaten wird er aber wieder gebracht, weil er unter 
dem Einfluß eines früheren Kameraden, der sich zum Verbrecher ent- 
wickelt hatte, seinem Vater wertvolle Aktien stahl. In der Werkstätte 
fällt sofort auf, daß er wieder faul und gleichgiltig geworden ist, auch 
zeigt er wieder zerfahrenes und unbeständiges Verhalten; aber schon 
nach !/, Jahr überwiegen die guten Eigenschaften, seine Führung 
wird tadellos, nur Energie und Ausdauer in der Arbeit scheinen ihm 
fremde Begriffe. Er konnte mit aller Sorgfalt auf eine geschützte 
Stelle gebracht und einem wohlwollenden Meister in einem kleinen 
Ort übergeben werden. Bald aber durchkreuzt die Mutter die Pläne 
der Anstalt, indem sie ihm ganz sinnwidrig dem Zugang zur Großstadt 
eröffnet. Die Folgen sind, daß er die Stelle verläßt, sich in der Stadt. 
herumtreibt, die Eltern bestiehlt. Es findet nun neuerliche Einlieferung 
in die Anstalt mit dem gleichen Erfolge wie die ‚früheren Male statt. 

Die für die soziale Schicht nicht ganz gewöhnliche, d. h. psychisch 
relativ differenzierte Persönlichkeit zeigt Schwererziehbarkeit als Konse- 
quenz einer ganz anderen Charakterkonstellation als die früher be- 
sprochenen moralisch Minderwertigen. Man sieht, daß hier eine 
völlig andere Form der Anstaltserziehung am Platz ist. Wir sind 





Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge.. 329 


damit aber auch dem komplexen Begriff der Haltlosigkeit näher ge- 
treten, denn zweifellos muß B. zu den Haltlosen gezählt werden. Die 
folgenden Fälle werden uns ganz andere seelische Strukturen erkennen 
lassen, die sich aber in dem einen Moment des Unstäten, Unbestän- 
digen, der Widerstandslosigkeit und Beeinflussbarkeit mit Otto B. treffen. 


Einen geläufigen Typ des haltlosen Psychopathen aus jener Schicht 
der die meisten unserer Fürsorgezöglinge angehören, stellt 


Fritz A. (geboren 20. April 1906) vor. Die psychiatrische Diagnose wurde 
durch das unbeständig-fahrige Wesen erhärtet, auch hysterische Züge, wie Schein- 
heiligkeit uud Verstelluug, Feigheit und Wehleidigkeit, traten hervor. Damit sind wir 
aber schon zu jenen negativen Charaktermerkmalen gelangt, in denen er sich von 
Otto B. unterscheidet. Er ist flatterhaft, zänkısch, verlogen, zeigt keine Spur von 
Gesinnung oder kameradschaftlichem Sinn. Besonders bedenklich wird aber der Fall 
durch Hang zum Diebstahl. dessen Formen eine niedrige Denkungsart und Charakter- 
losigkeit verraten. Dieser Junge war zunächst ein Jahr in der Anstalt 1922—23. 
Im Schlosserhandwerk brachte er es trotz zweifelloser Fähigkeit nicht weiter und 
wurde daher später in der Landwirtscheft beschäftigt. Auf einer Stelle aber machte 
er sich in kürzester Zeit durch Diebstähle unmöglich. Es folgt wieder ein Jahr 
Anstaltserziehung in klehingen, in dem seine Führung wesentlich besser wird und 
er endlich auch arbeiten lernt. Die zweite Unterbringung in eine Stelle scheitert 
ebenso bald wie die erste. Der Junge flüchtet zu Angehörigen, festgenommen, be- 
hauptet er Glassplitter gegessen zu haben und wird nach dem Krankenhaus gebracht. 
Später kommt er nach dem Psychopathenheim Sinsheim, wo er anfangs größere Er- 
ziehungsschwierigkeiten bereitet, sich aber im Laufe eines Jahres soweit bessert, 
daß er entlassen werden kann. 

Sehen wir in dem eben geschilderten Fall hysterische Einschläge, so müssen 
wir bei Georg Bl, (geboren 21. Juni 1905) mit einer epileptischen Komponente 
rechnen. Aus der Anamnese interessiert die moralische Minderwertigkeit und Trunk- 
sucht des Vaters; die Mutter war energisch, starb aber schon 1917. Der Junge ver- 
wahrloste, als der Vater ins Feld zog und kam 1918 in eine Erziehungsanstalt, wo er 
sich gut führte und daher 1921 in eine Dienststelle gegeben wurde. Aber schon im 
gleichen Jahre beging er einen Einbruchdiebstahl und wurde daher nach Flehingen 
verbracht. Zunächst wurde bei ihm nur zeitweise aufgeregtes Wesen und Neigung 
zu Zornausbrüchen beobachtet, später klärte sich das neurologische Bild durch ver- 
einzelte epileptische Anfälle. Der Junge erwies sich als brutal, aber gemütlichen 
Regungen zugänglich, er war tierliebend und hatte Interesse für landwırtschaftliche 
Arbeit; er war anstellig, fleißig und konnte an richtiger Stelle eingesetzt, Tüchtiges. 
leisten. Niedrigkeit und gefneinen Egoismus zeigte er im Verkehr mit Kameraden, 
die er gut im Zaum zu halten wußte, während er selbst Unredlichkeiten beging. 
Alser 1924 entlassen wurde, verübte er sofort einen Diebstahl, kam dann nach dem 
Psychopathenheim Sinsheim, wo er sich ein Jahr lang anstandslos führte und wieder 
auf eine Stelle gebracht werden konnte, wo er jedoch in kurzer Zeit stahl und wieder 
eingeliefert wurde. 


Die beiden letztbesprochenen Fälle gestatten keine gute Prognose. 
Selbst lange Anstaltserziehung hat bei diesen schwererziehbaren Jungen 
nur relativen Erfolg gebracht. 


330 Adalbert Gregor: 


Die 3 Fälle, welche uns bisher beschäftigten, lassen erkennen, daß 
der Begriff der Haltlosigkeit zu weit ist, um aus ihm den Grad der 
Erziehbarkeit bestimmen zu können. Definieren wir Schwererziehbar- 
keit durch die Widerstände, welche der Erziehung zur sozialen Brauch- 
barkeit eines Individuums entgegenstehen, so muß Haltlosigkeit jeden- 
falls als ein derartiges Moment bezeichnet werden. Aber nicht jeder 
Haltlose ist schwer erziehbar. Um weiter zu kommen, wollen wir an 
die weiteren Fälle unserer Gruppe mit der Frage herantreten, was im 
besonderen das Individuum zu einem Schwererziehbaren gemacht hat, 
Zunächst scheidet hier jedenfalls der Intelligenzdefekt aus, da alle diese 
Fälle Psychopathen mit normaler Intelligenz waren. 


An Fritz A. schließt sich Heinrich S., geb. 20. Januar 1906 an, 
dessen pathologische Natur in hysterischen Dämmerzuständen zum Aus- 
druck kam. Hier war eine starke Erregbarkeit, die sich bis zu Wut- 
ausbrüchen steigerte, namentlich aber eine natürliche Zerfahrenheit als 
Grund für die Schwererziehbarkeit zu erkennen. Es zeigte sich, daß 
der Zögling infolge dieser Eigenschaft auf keiner Stelle aushielt und 
so verwahrloste. Qualitäten dieser Art können Jugendliche von einer 
dem Durchschnitt der Fürsorgezöglinge entsprechenden moralischen 
Anlage zu schwer Erziehbaren machen. 


Ähnlich liegt der Fall Konrad Si. Dieser Junge kam mit 17 Jahren 
anf Antrag der Mutter nach Flehingen. Er hatte sie oft bestohlen, 
Sachen verkauft und das Geld verjubelt. Das Gericht hatte ihn wegen 
Hehlerei zu 1 Monat Gefängnis verurteilt aber Strafaufschub gewährt. 
Bei diesem Jungen fiel es auf, daß er im letzten Jahre immer nach- 
lässiger wurde und die Fortbildungsschule versäumte, endlich lief er 
aus sciner Schlosserlehre davon. Es wurde zunächst in der Anstalt 
versucht, ihn den gleichen Beruf weiterlernen zu lassen, — aber obne 
Erfolg. Es fehlte dem Jungen absolut an Gleichmäßigkeit und Aus- 
dauer, die Voraussetzung für das Erlernen eines Handwerkes sind. 
Statt dessen zeigte er Unruhe, Launenhaftigkeit, Mißmut und wirkte 
dadurch auch auf seine Umgebung nachteilig. Die monatlichen Ein- 
tragungen im Erziehungsbogen lassen ein ständiges Auf und Ab in 
seinem Verhalten erkennen. Dabei fehlte aber ein Wechsel zwischen 
aufgeregtem Wesen, Reizbarkeit und Gleichgültigkeit, so daß Cyklothymie 
nicht anzunehmen war. Neigung zum Stehlen und Hinterlist trüben 
das Charakterbild. Die gleiche Unzulänglichkeit, welche das Erlernen 
des Schlosserhandwerks vereitelte, brachte auch seine Tätigkeit in der 
Korbmacherei zum Scheitern. Erst die Landwirtschaft mit ihren vielen 
Beschäftigungsmöglichkeiten gestattete es, den Zögling an eine regel- 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 331 


mäßige Arbeit zu gewöhnen, so daß an einen selbständigen Erwerb zu 
denken war. 

Gleiche Wesenszüge wie die besprochenen Fälle zeigt eine Reihe 
weiterer Zöglinge; allen ist die Unfähigkeit eigen, Forderungen 
nach Regelmäßigkeit, Stetigkeit und Ausdauer, wie es das Lernen 
eines Handwerkes erfordert, entsprechen zu können. Die Un- 
ausgeglichenheit steigert sich in einzelnen Fällen zu einer gewöhnlich 
nur temporären Zerfahrenheit. Die besonderen formalen Charakter- 
eigentümlichkeiten führen zu ganz verschiedenen Reaktionen auf die 
bestimmenden Einflüsse der Umgebung. So finden wir bei einzelnen 
brutale Ablehnung der Erziehungsmaßnahmen, Unmut und Zornanfälle, 
während biegsamere Naturen immer wieder auszuweichen verstehen 
und sich dabei den Forderungen nur oberflächlich fügen, im Zentrum 
der Persönlichkeit aber vom Erziehungswerk unberührt bleiben und 
außerhalb der erzieherischen Atmosphäre bald wieder absinken. Diesem 
mit halber Verstellung Sich-Fügen steht das triebhafte Wesen anderer 
Fälle gegenüber, welche durch impulsive Entweichungen den ihrem 
Wesen fremden Anstaltsmilieu sich zu entziehen wissen und so den 
Erziehungserfolg vereiteln, wenn man sich nicht notgedrungen auf ein 
sehr bescheidenes Maß einstellt; so hatte ein Zögling nach zahlreichen 
Entweichungen eine ihm scheinbar entsprechende Stelle als Haus- 
bursche in einem Unterkunftshause eines Ausflugsortes gefunden; in 
der Form, ihn dazu vorzubereiten, konnten ihm noch eine Reihe von 
Korrekturen beigebracht werden. 

Neben der formalen Charakterstruktur sind positive Züge für die 
Lebensführung bestimmend, wie Neigung zum Lügen, Verstellung, 
Heucheln, mangelnder Sinn für Ordnung und Sauberkeit, Neigung zu 
Diebstahl und Gewalttätigkeit, aber auch die Eigenart des sexuellen 
Trieblebens. Aus der wechselnden Intensität derartiger Neigungen 
und ihrer Gruppierung ergibt sich unter Einfluß der z. T. zufälligen 
Lebensschicksale das endgültige Gepräge der Persönlichkeit und ihre 
Wertung für die uns interessierende Frage. 

Hier, wo es sich um schwer erziehbare Zöglinge handelte, konnten 
wir Haltlosigkeit in der extremen Form der Zerfahrenheit erblicken, 
die sich nur langsam ausgleicht. Leichte Fälle von Haltlosigkeit lassen 
geringere Schwankungen erkennen, fallen etwa nur durch Zerstreutheit 
und Gedankenlosigkeit auf, und sind dabei imstande, einen Beruf zu 
erlernen; so stellt Otto B. einen Übergangsfall vor, bei ihm bedeutet 
Haltlosigkeit Schwäche an Widerstand, er läßt sich zu leicht aus der 
Bahn heben. In schwereren Fällen bedarf es nicht erst äußerer Lockung 
und Verführung, es versagt die Energie in der moralischen Haltung 


Zeitschrift für Kinderforschung 30. Band. 2? 


332 Adalbert Gregor: 


wie in der Arbeit. Spezielle Formen und besondere Typen ergeben 
sich, wie erwähnt, aus den materialen Charakterzügen. Im Gegensatz 
zu den früher behandelten Minderwertigen ist bei den Haltlosen ein 
Werterleben vorhanden. Affektive Voraussetzungen für Wertbildungen 
liegen vor; aber auch hier gibt es, dem Wesen der Haltlosigkeit ent- 
sprechend, keine genügende Konstanz. An einzelnen Fällen konnten 
wir es verfolgen, wie rechtzeitig wieder einsetzende Anstaltserziehung 
sofortigen Ausgleich brachte. Unter diesen Umständen kann man im 
Laufe der Fürsorgeerziehung eine Abnahme der Schwankungen beob- 
achten, indem die in der Anstalt vermittelte moralische Haltung länger 
bestehen bleibt oder die Entgleisungen schwächer werden. Setzt aller- 
dings das Mittel nicht zur rechten Zeit ein, dann ist die verderbliche 
Wirkung sekundärer Momente zu befürchten, die wir später an einzelnen 
Bildern kennen lernen werden. 


IIL Hypomanische Skrupellosigkeit. 


Adolf F., geb. 21. Oktober 1904. Von Heredität nichts bekannt, Eltern genießen 
guten Leumund. Zögling gab schon als Volksschüler Anlaß zu Klagen wegen fort- 
gesetzten Schwänzens, galt als Taugenichts, der sich herumtreibt und nirgends aus- 
hält. Nach Schulentlassung Hirte, Schuhmacher, Friseur. Lief immer schon nach 
wenigen Tagen fort, sammelte Nahrungsmittel angeblich für Franziskaner, die am Ver- 
hungern seien, gab seinen Vater als Spartakisten aus, drohte mit dessen Rache, um 
sich vor Strafen zu schützen; belästigte eine Frau, indem er Steine nach ihr warf, 
sie beschimpfte und ihr schließlich ein Buch aus der Hand riß und sich auf ihren 
Schoß setzte. Stieg durchs Fenster in eine fremde Wohnung ein und spielte Klavier. 
Am 7. Juli 1921 nach Flehingen. Auffällig lebhaft, euphorischer Stimmung, geschwätzig, 
gerät überall in Konflikt, verträgt sich weder mit Meister noch mit Kameraden, die 
ihn verprügeln wollen, läuft stets mit allerlei Wünschen, Klagen und Beschwerden 
nach, vielfach ängstlich und weinerlich, gelegentlich auch verdrossen und lebensüber- 
drüssig, dann wieder gesteigerte Erregung. Am 1. Mai 1922 nach der Heilanstalt 
Illenau, am 13. Juni als geheilt entlassen; erscheint relativ ruhig und geordnet, wird 
daher zu den Eltern entlassen. Am 12. November 1924 wieder aufgenommen. Sollte 
Friseur werden, die Kunden hatten aber Angst, er würde ihnen in seiner Fahrigkeit 
den Hals abschneiden. Ging auf Wanderschaft, schließlich wegen Bettelns und Be- 
trug ins (Gefängnis. Von da wieder nach Flehingen. Reizbar, aufgeregt, klatsch- 
süchtig, prahlerisch, fühlt sich leicht beeinträchtigt. Auf besonderen Wunsch eines 
Landwirtes zu diesem in Stelle, treibt sich aber bald ın der Nachbarschaft herum, 
leiht überall Geld, schließlich (6. März 1925) ins Psychopathenheim Sinsheim. 


Adolf F. bildet einen Grenzfall der Jugend- und Irrenfürsorge. 
Seine psychische Konstitution verweist ihn ohne weiteres in den 
manisch-depressiven Formenkreis. Er bietet das typische Bild hypo- 
manischer Verstimmung. Sein expansiver Affekt, seine motorische Er- 
regung führt zu steten Kollisionen mit der Umgebung; ohne schwere 
Delikte zu begehen, droht er ständig zu verwahrlosen. Er verfällt 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 333 


gelegentlich der Landstreicherei, bettelt, begeht Gelegenheitsdiebstähle, 
kommt wegen Hehlerei in Haft. In letzterem Falle gewiß mit Un- 
recht, weil bei seiner flüchtigen Denkungsweise Überlegungen nach der 
Herkunft einer Sache fremd sind. Das Erlernen eines Berufes ist in- 
folge seiner Unruhe und Unbeständigkeit ausgeschlossen. Für die 
Erziehungsanstalt wird er zu einer Verlegenheit, weil er sich der 
Disziplin nicht fügen kann, seine Vergehen aber nicht mit gleichem 
Maße gemessen und so wie bei anderen Zöglingen geahndet werden 
dürfen. Harmlos ist er nur in der Irrenanstalt, ein kurzer Aufenthalt 
genügt, um das Optimum seiner Verhaltungsweise zu erreichen; aber 
ins soziale Leben gestellt, ist das alte Bild wieder da. Er weiß zwar 
einen Landwirt zu faszinieren, der in ihm das Ideal eines Knechtes 
zu erblicken glaubt, aber nach kurzer Zeit ist er am Ort und in 
dessen Umgebung bekannt und unmöglich. So wird es klar, daß der 
Junge wegen seiner krankhaften Veranlagung unerziehbar ist, daß es 
eigentlich von vornherein verfehlt war, die Fürsorgeerziehung mit ihm 
zu belasten und er wie alle anderen Fälle dieser Art seinen Platz 
in einer geregelten und weitsichtigen Irrenfürsorge finden müßte. 

Nach Ausscheidung so krasser Fälle bleibt der Jugendfürsorge 
im Formenkreis der Cyklothymie und konstitutionellen Erregung immer 
noch eine schwere Aufgabe zu lösen übrig, wie die beiden folgenden 
Fälle zeigen. 

Waldemar Sch., geb. 7. Januar 1907. Vater an Lues cerebri gestorben. Beide 
Eltern willensschwach, zur Erziehung ungeeignet. Der Junge ist seit seinem 8. I,ebens- 
jahre in F.E. Als Schüler geschwänzt und gestohlen. 1916 in die Anstalt Sinsheim, 
1918 anscheinend vom Vater angestiftet. entflohen, führte sich anch zu Hause schlecht. 
kam in Metzgerlehre, faul, frech, kaufte seinem Meister von dem Gelde, das er ihm 
gestohlen, Geschenke. 23. März 1922 nach Flehingen Gehobene Stimmung, dreistes 
Auftreten, sucht sein Verhalten als durchaus harmlos hinzustellen, bestreitet jedes 
Delikt, verdächtigt andere Leute. Gelegentlich treten depressive Stimmungen mit 
Suicidneigung hervor, dann wieder munter, eifrig, unverdrossen, ohne aber tüchtige 
Arbeit leisten zu können, oder in einem Berufe vorwärts zu kommen. Gelegentlich 
eines Besuches vom Vater entführt, kommt aber bald wegen Hehlerei in Haft und 
wird nach Strafverbüßung. 17. Mai 1923 wieder zugeführt. Erscheint gedrückt, ver- 
legener Stimmung, sucht Delikt in Abrede zu stellen. In der Folge fleißig, willig, 
verträglich aber geschwätzig und unehrlich. Am 26. November 1923 auf Stelle ge- 
bracht, am 10. Februar 1925 wieder eingeliefert, nachdem er wegen Sittlichkeitsdelikt 
eine sechsmonatliche Strafe verbüßt. 


Der Zögling zeigt ganz ausgesprochene Stimmungsschwankungen, 
Depression mit Selbstmordneigung, doch ist diese Form der Verstim- 
mung relativ flüchtiger Natur. Im Vordergrund stand vielmehr 
Euphorie, die allerdings nie hohe Wellen schlug und kein krankhaftes 


Maß erreichte. Außerhalb der Norm lag vielmehr das Unentwegte 
22. 


334 Adalbert Gregor: 


der gehobenen Stimmung, die äußeres Mißgeschick nicht zu trüben 
vermochte, die stete Geschäftigkeit, die gewöhnlichen Leichtsinn über- 
schreitende Art, sich über die Konsequenzen seines Tuns hinwegzu- 
setzen, sich für nichts verantwortlich zu fühlen, Geschehenes als er- 
ledigt anzusehen, an den eigenen Delikten nicht weiter interessiert zu 
sein. Hier waren Gesetz und Anstaltsdisziplin völlig im Recht, den 
Zögling für sein Tun als verantwortlich anzusehen, wenn es auch 
klar war, daß Strafen an ihm abglitten. Auch für ihn gab es allerlei 
Anfänge im Beruf, aber keine Durchführung und Erledigung. Inner- 
halb dieser Grenzen begegnet die Anstaltserziehung keinen Schwierig- 
keiten, man konnte aber auch auf keinen entscheidenden Erfolg 
rechnen. Dieser Junge wird vielleicht nie die Irrenfürsorge in An- 
spruch nehmen, wohl aber die Gerichte noch vielfach beschäftigen. 
Seine Energie und Neigung weisen nicht in die Richtung des Ver- 
brechertums, so daß ein Schutz der Gesellschaft nicht in Frage kommt. 
Es ist anscheinend möglich, ihn in einer Arbeitsstelle derart unter- 
zubringen, daß eine leidliche Lebensführung gewährleistet wird. 


Emil M., geboren 27. Februar 1907. Vater Techniker und Metzger. sittlich 
minderwertig, Mutter tot, keine Geschwister. Den Behörden ist Zögling schon seit 
Jahren als Mensch von schlechten Charaktereigenschaften bekannt. Mit 12 Jahren 
Geld unterschlagen und auf dem Lande herumgestrolcht, kam daher in Anstalt; riss 
aus und beging Iadendiebstähle, dafür mit Gefängnis bestraft und nach der Anstalt 
zurück 1920 neuerlich ausgerissen, trieb sich herum, schließlich Laufbursche in 
einem Lebensmittelgeschäft, beging aber schon nach einigen Tagen Unterschlagungen. 
Nach der Anstalt zurück, riß er bald wieder aus. Er kam dann nach Hause, brannte 
aber auch hier wiederholt durch. Stahl 1922 eine Brieftasche und wurde zu 3 Mo- 
naten Gefängnis verurteilt. 


6. Mai 1922 nach Flehingen. Macht auffallend intelligenten und geweckten Ein- 
druck, weiß seine Handlungen geschickt zu bemänteln und die Schuld auf die An- 
gehörigen zu schieben, der Vater hat ihn zum Stehlen angehalten, erklärt mit einer 
gewissen Überlegenheit, daß er sich in der Anstalt gut führen werde. Bei der In- 
telligenzprüfung ungewöhnlich gute Leistungen. Fleiß und Führung sind mangelhaft, 
er entweicht am 9. Juli bei einem Spaziergang. Nach 1 Monat zurück, motiviert er 
trotzig die Entweichung durch schlechte Behandlung seitens der Kameraden. Zunächst 
faul, nachlässig, scheinheilig, oberflächlich bei der Arbeit. Nach etwa 1 Jahre seit 
der Einlieferung ist er eifrig, fleißig, interessiert, zielbewußt, zeigt aber Neigung zum 
Schwindeln und Lügen, sucht sich bei Vorgesetzten einzuschmeicheln, mit Kameraden 
unverträglich. Am 25. Juli 1923 entwichen. Begeht später Urkundenfälschung, lebt 
unter falschem Namen, kommt ins Gefängnis, wo er lügenhafte Angaben über die An- 
stalt macht. Am 8. März 1924 neuerlich zugeliefert, gereizt, trotzig. anmaßend. Be- 
zeichnet sich mit einem gewissen Stolz als durch und durch verdorben, verspricht 
sich mindestens 6 Monate einwandfrei zu führen. Fügt sich rasch ein, ist aber vor- 
laut. großsprecherich, unaufrichtig. Um seinem Freiheitstrieb entgegenzukommen, 
werden ihm wiederholt Ausgänge bewilligt. Schließlich entweicht er aber doch, nach- 
dem er einige Kameraden in übler Weise verleumdet. Er führt zunächst ein ziem- 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 335 


lich harmloses Räuberleben im Schwarzwald und kommt nach Verbüßung einer Ge- 
fängnisstrafe Herbst 1924 nach Sinsheim, wo er sich bis jetzt einwandfrei führt. 

Emil M. zeigt mit dem früher besprochenen Zögling vielfach 
übereinstimmende Züge, er unterscheidet sich aber durch seine höhere 
Intelligenz, ferner fehlen bei ihm anscheinend die Perioden der Nieder- 
geschlagenheit; er ist vielmehr immer aktiv und unternehmend; von 
Waldemar Sch. unterscheidet ihn endlich namentlich seine ganz aus- 
gesprochene Triebhaftigkeit, die keine Schranken kennt. Hier vor 
allem lagen auch die Schwierigkeiten der Anstaltserziehung; selbst bei 
weitgehenden Konzessionen an seine Natur waren Entgleisungen nicht 
zu vermeiden. So wurde darauf gesehen, daß der Junge in Zeiten 
nervöser Erregung Ausflüge unternehmen konnte; Entweichungen 
waren aber trotzdem nicht zu verhindern, da sie nicht bloß auf einem 
Freiheitsdrang beruhten. Sein Abenteurergeist führt zu ausgreifenden 
Unternehmungen, besonders schien ihm ein freies Leben iin Schwarz- 
wald zu entsprechen, zu dem er einzelne Kameraden zu gewinnen 
verstand, die aber nach und nach die Lust verloren, heimkehrten oder 
abgefangen wurden. 

Am schwierigsten war in diesem Falle Delikt und unaufrichtiges, 
heuchlerisches Wesen einzuschätzen; man stand vor der Frage, ob sie 
als Wesenseigentümlichkeit aufzufassen sind oder lediglich Mittel zu 
anderweitig motivierten Zwecken bildeten. Positive Charakterfehler 
waren übrigens vom Vater herzuleiten, der in der Anstalt stets einen 
gönnerhaften Ton anschlug. Ein pyknischer Habitus war jedenfalls 
Vater und Sohn gemeinsam. 

Die infolge der Entweichungen etappenweise durchgeführte Anstalts- 
erziehung ließ ein allmähliges Reiferwerden des Individuums erkennen, 
das mit zunehmendem Alter den Erziehungseinflüsseu zugänglich wurde. 
Wir sehen darin einen Hinweis darauf, daß die Anstaltserziehung auch 
in Fällen, die verzweifelt erscheinen, möglichst auszudehnen ist. Züge 
kindlicher Artung sprachen in diesem Falle stets in jenem Sinne; die 
Preisgabe des Individuums hätte zweifellos sekundäre Verkommenheit 
zur Folge gehabt. 


IV. Drang nach Ungebundenheit. 

In eine besondere Gruppe haben wir oben jene Zöglinge zu- 
sammengefaßt, bei denen die bezeichnete Eigenschaft den Grund der 
Schwererziehbarkeit bildet. Es wäre vielleicht angezeigt, hier den all- 
gemeinen Namen der Nichtmehrerziehbaren einzuführen, um auch 
diese Frage zur Diskussion zu stellen. Wir sind derartigen Fällen 
bereits in unseren Ausführungen begegnet und konnten bemerken, 


336 Adalbert Gregor: 


wie einzelne Individuen trotz fürsorglicher Bemühung an Erziehungs- 
fähigkeit verloren. Von Seiten der Anstaltsfürsorge ist es zweckmäßig, 
sich gerade auf diese Gruppe zu besinnen, um mißverständlicher 
Wertung der Erziehungsarbeit zu begegnen. Man muß hervorheben, 
daß heute noch eine große Zahl nicht mehr erziehbarer Individuen 
aus den verschiedensten Gründen der Erziehungsanstalt übergeben 
werden. Die an sich verständliche Ausdehnung der Altersgrenze, 
innerhalb welcher Fürsorgeerziehung verfügt und durchgeführt werden 
kann, hat zu einer stärkeren Ansammlung solcher Persönlichkeiten in 
den Erziehungsanstalten geführt. Wir dürfen hier natürlich von un- 
heilbaren Geisteskrankheiten, zumal schweren Fällen von Jugendirre- 
sein, Idiotie und Schwachsinn höheren Grades absehen, die häufig 
genug Gäste der Erziehungsanstalten sind. Uns kommt es vielmehr 
darauf an, zu betonen, daß die Erziehungsfähigkeit keineswegs mit 
einem bestimmten Alter begrenzt werden darf und daß die psycholo- 
gischen Beobachtungen an normalen Jugendlichen höherer Stände ab- 
solut keine allgemein giltigen Urteile über geistige Entwicklung und 
Erziehungsfähigkeit gestatten. Erfahrungen in der Fürsorgeerziehung 
führen vielmehr zu der biologisch begreiflichen Überzeugung, daß eine 
in enge Grenzen gebannte seelische Entwicklung früher zum Abschluß 
kommen kann, als ein Geist von mannigfaltigen Anlagen und Diffe- 
renzierungsmöglichkeiten. Natürlich dürfen wir auch nicht ‘in den 
entgegengesetzten Fehler verfallen und einen allzufrühen Abschluß 
geistiger Entwicklung annehmen. Wir wissen auch, daß es für Geistes- 
schwache von besonderem Vorteil sein kann, sie über die Dauer der 
Volksschule hinaus zu unterrichten; ferner, daß die Abhängigkeit der 
geistigen Entwicklung von Stoffwechselanomalien manchmal in späteren 
Jahren zu überraschenden Fortschritten führen kann. 

Ziehen wir die intellektuelle Beschränktheit und moralische Minder- 
wertigkeit im weitesten Sinn in Betracht, dann können wir häufig 
unter dem Einflusse der damit verknüpften Lebensschicksale, der 
häuslichen Erziehung und äußerer Momente die jugendliche Frische, 
Bildungs- und Erziehungsfähigkeit mit Überschreiten des 18. Lebens- 
Jahres dahinschwinden seben. Individuen dieser Art haben vielfach 
schon im 18.—20. Lebensjahre die Freuden des Daseins ihrer Kreise 
genossen, sie sind von den Traditionen ihres Standes erfüllt und über- 
zeugt, stehen Behörden und Gebildeten überhaupt mit einem unbedingten 
Mißtrauen gegenüber. Die Einflüsse der Anstaltserziehung werden 
mehr unbewußt abgelehnt, in passiver Weise eine korrekte Haltung 
eingenommen. Nie arbeiten vielfach sogar fleißig, die Ausbildung in 
einem Handwerk begegnet aber entschiedener Opposition; sie kann 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 337 


freilich auch nicht erzwungen werden, da der Anstaltsaufenthalt vor 
Abschluß der Lehrzeit endet. Wir müssen uns hier hüten, die for- 
malen Einflüsse der Anstalt als tatsächliche Erfolge zu buchen. Öfters 
gestalten positive Züge, wie der Drang nach Ungebundenheit die An- 
staltserziehung als besonders schwierig und die Aufgabe als unlösbar. 
Die im Folgenden zu besprechenden Fälle können eine lebendige An- 
schauung der Gruppe vermitteln. 


Hermann M., geboren 3. April 1907. Vater Landwirt, brutale Persönlichkeit. 
Mutter ist dem Trunke ergeben, häusliche Verhältnisse sind sehr ungünstig, von den 
10 Geschwistern ein Teil in F.E. Bis zur Schulentlassung war Zögling nicht auffällig- 
In Blechnerlehre bestahl er seinen Meister, öffnete mittels eines Nachschlüssels den 
Kassenschrank. Dieser Fall wurde vom Vater in Ordnung gebracht, kurze Zeit darauf 
entwendete er dem Lehrherrn Geld aus einem Rock und wurde entlassen. Später 
Einbruch in ein Verkaufshäuschen, der sich wiederholte. Mit 4 Monaten Gefängnis 
bestraft. Oktober 1924 nach Flehingen, trotzig, widerstrebend, gereizt, spricht in er- 
regtem Ton, anmaßendes Wesen. Erklärt, nichts von der Anstaltserziehung zu halten, 
mit 19 Jahren könne er sich selbst erziehen. Der Richter hätte es auf seine Eltern 
abgesehen und auf ihn seinen Zorn ausgelassen, vom Vater sei aber Berufung ein- 
gelegt worden: die Entscheidung würde er hier abwarten und falls sıe ungünstig lauten 
sollte, ausreißen. Seine Vergehen werden beschönigt, anderen die Schuld zugeschoben. 
Der Zögling arbeitet zunächst ganz geschickt auf der Schlosserei, will aber von Er- 
lernung des Berufs nichts wissen. Er benimmt sich frech und widerspenstig, beein- 
flußt seine Kameraden schlecht. In der Arbeit unbeständig, gelegentlich unbotmäßig, 
droht immer wieder mit Entweichung, entfernt sich auch am 30. Dezember aus der 
Anstalt, kehrt am 2. Januar von selbst wieder zurück. Am 19. Januar auf Antrag 
aus der Anstalt entlassen. 


Der Junge verkörpert einfach die Ansichten, die in gewissen 
Volkskreisen über F. E. verbreitet sind und die dahin gehen, daß sie 
ein Mittel der Bedrückung des armen Volkes durch den kapitalistisch 
orientierten Staat vorstellt, Kinder reicher Eltern würden verschont; 
einen kurzen Anstaltsaufenthalt würde man noch hinnehmen, als 
Aquivalent von Gefängnis für begangene Delikte. Darüber hinaus 
hielte aber nur böser Wille und Interesse an den Leistungen die 
Zöglinge in der Anstalt fest. In diesen Kreisen bewegte sich das 
Denken unseres Zöglings und er bemühte sich, andere aufzuklären. 
Bei eingehender Unterredung konnte er nicht standhalten, doch blieb 
die Wirkung nur vorübergehend. Gemütlich erwies er sich zwar zu- 
gänglich, aber auch hier konnte man keinen nachhaltigen Einfluß ge- 
winnen. Alle Erziehungsversuche führten bald zu der Einsicht, daß 
man hier einem durch Anlage, häusliche Erziehung und Lebens- 
erfahrung bereits fester geformten Individuum gegenüberstehe, das 
sich mit einem normalen 19jährigen höherer Stände keineswegs ver- 
gleichen lasse. Autoritätsgefühl, Fügsamkeit, Spuren idealer Gesinnung 


338 Adalbert Gregor: 


hatte das Lebensschicksal zerstört. Die Anstalt konnte ihn zur 
Arbeit anhalten, aber nicht sein Wesen ändern. 


Bei einem zweiten Fall ist nichts von störenden häuslichen Ein- 
flüssen nachzuweisen, vielmehr ist bei ihm Schwererziehbarkeit durch 
eine natürliche Brutalität und Sinnlichkeit, die durch Umgang mit 
Gleichgesinnten gesteigert wird, bedingt. 


Karl D.. geboren 8. November 1905. Vater pensionierter Tokomutiv- 
führer, neurasthenisch. Normale Ehe. Eltern waren gegen ihn zu nach- 
sichtig und milde. In der Schule einmal sitzen geblieben, lernte ungern und schwer. 
Fortbildungsschule monatelang geschwänzt.. In Lehrstellen nicht ausgehalten, diebisch. 
faul, konnte sich in keine Ordnung fügen, zeitweise druohendes Betragen; brannte den 
Eltern einmal dureh und trieb sich herum. Wegen Diebstahls mit Verweis (1919) 
wegen Zechbetruges 1922 mit Geldbuße bestraft. Unmittelbare Veranlassung seiner 
Einlieferung war, daß er den Vater einmal mit einem Messer bedrohte, sodaß dieser 
abends das Haus verlassen mußte. 15. November 1922 aufgenommen. (reordnetes 
Wesen und auffälüg bestimmtes und überlegtes Auftreten, äußert aber bald Ent- 
weichungsabsichten. Den Vorfall zu Hause stellt er dahin dar, daß ihm ein Kamerad 
Kognak zu trinken gab, der ihm bald zu Kopf stieg. Nein Genosse hätte ihn auch 
aufgefordert, den Vater zu eistechen. In der Arbeit unzuverlässig und gleichgültig. 
nachlässig, empfindliches Wesen. vielfach verbittert und verstockt. Gegen Kameraden 
brutal, zettelt Komplotte an, deren Rädelsführer er wird. Auf Antrag des Vaters am 
19. Mai 1923 entlassen. Am 8. Mai 1924 aus dem Gefängnis wieder zugeführt. 
Er hatte sich arbeitslos herumgetrieben und wurde wegen Hehlerei zu sechs Wochen 
Gefängnis verurteilt. Der Zögling fügt sich jetzt ohne weiteres in die Anstalts- 
verhältnisse, gibt sich Mühe und ist fleißig. Aus seiner Korrespondenz geht hervor. 
daß er als unehelieiizr Vater eines Kindes in Frage kommt. Am 22. September auf 
eine Stelle gebrach:. wo er zum Teil wegen äußerer Verhältnisse nicht lange ausbielt. 


D. zeigte sich in der ersten Periode seines Anstaltsaufenthaltes 
noch widerspenstig, in der zweiten hat er der Anstalt keine Schwierig- 
keiten gemacht. Er sprach gemütlich an und war ruhigen Über- 
legungen zugä: glich. Man gewann bei ihm den Eindruck einer ge- 
wissen seelischen Differenziertheit Schon bei der ersten Aufnahme 
zeigte er sich als ziemlich abgeschlossene Natur; man konnte es ver- 
suchen, auf dem Wege der Arbeitsgewöhnung einen Erfolg anzustreben. 
aber eine durchgreifende Änderung des Wesens war nicht zu erwarten. 

Physische Konstitution des athletisch gebauten Individuums mit 
seinen vollen und wulstigen Lippen wiesen ihm ebenso wie das 
kräftige Triebleben die Richtung nach dem Lebensgenuß. Da er 
keineswegs ein gemeines oder kriminelles Wesen zeigte, so war längerer 
Anstaltsaufenthalt in der Zeit der Platznot nicht unbedingt geboten. 
Der Fall hätte zweifellos einen günstigeren Verlauf genommen, wenn 
der Junge früher nach der Anstalt gebracht worden wäre oder die 
Durchführung bezw. der Entwurf eines Erziehungsplanes nicht durch 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 339 


das Drängen der Eltern nach schleuniger Entlassung behindert worden 
wäre. Wie in vielen anderen Fällen hätte bei dem gut veranlagten 
Zögling Erlernung eines Handwerks seine erziehliche und moral- 
fördernde Wirkung nicht verfehlt. 

Wir begeben uns auf ein viel tieferes Niveau beim Falle 


Wilhelm N, geboren 23. Februar 1906, der seelisch viel gröber organisiert ist. 
Vater Arbeiter, gewalttätig, jähzornig. Mutter 1912 gestorben, Stiefmutter ıst sehr 
nervöse Person. Eheliche Verhältnisse ungeordnet. Der Zögling kam nach Schul- 
entlassung in eine Fabrik, wurde aber entlassen, weil er auf den technischen Direktor, 
der ihm Vorhalte machte, losging. In einer anderen Fabrik kam er mit seinen Mit- 
arbeitern in Streit; im Jugendschutzheim übte er auf die anderen Zöglinge den 
schlechtesten Einfluß aus und griff den Verwalter an. Wegen Beihilfe zu einem 
Diebstahl zu Gefängnis verurteilt Später erschienen die Eltern beim Jugendgericht 
und baten, ihren Sohn fortzunehmen, da sie ihres Lebens nicht mehr sicher seien, 
er habe sie angefaßt und mißhandelt. In der folgenden Zeit wegen Bettelns zu sieben 
Tagen Gefängnis und wegen Mundraub bestraft; verübte mit anderen Burschen im 
elterlichen Garten grobe Sachbeschädigungen. 1. Juli 1924 nach Flehingen, zeigt 
brutales, etwas stumpfes Wesen, keine Einsicht für seine Vergehen. Kein patho- 
logischer Intelligenzdefekt. Der Zögling entweicht nach drei Wochen. wird am 
13. Oktober wieder zugeführt mit der Mitteilung, daß er sich gegen den begleitenden 
Wachtmeister sehr frech benommen hat. Er zeigt brutales Benehmen, droht es aufs 
Äußerste ankommen zu lassen, will die anderen Zöglinge aufwiegeln, springt dem 
Anfseher. der ihn übernehmen will, an die Kehle; erhält hiefür 10 Hiebe und wird 
in Anstaltsarrest gebracht. 


Das brutale Wesen dieses Jungen steht zweifellos im Zusammen- 
hang mit der Natur seines als jähzornig und gewalttätig beschriebenen 
Vaters. Sie scheint sich bei ihm zu einer förmlichen Aggressivität 
gesteigert zu haben. Mundraub ist in der Anamnese unseres Materiales 
ein seltenes Vorkommnis, ebenso haben wir kaum ein zweites Beispiel 
für ein solches Verhalten den Eltern gegenüber oder für die Art, 
in welcher sich der zweite Einzug des Zöglings in die Anstalt vollzog. 
Man kann über Prügelstrafen bei Fürsorgezöglingen verschiedener 
Ansicht sein. In unserem Falle war ihre Wirkung außerordentlich 
günstig. Der Zögling zeigte sich in der Folge gefügig und bei Be- 
sprechung seines weiteren Schicksales einsichtig. Wir waren uns klar 
darüber, einer rohen und niedrigen Natur gegenüber zu stehen und 
mußten uns sagen, daß bei den Mitteln, die einer halboffenen Anstalt 
zur Verfügung stehen, einerseits der schlechte Einfluß auf andere 
Jungen zu befürchten war, andererseits bei dem in der nächsten Zeit 
wahrscheinlichen Ausbruch ein weiteres Absinken des Individuums 
erfolgen mußte. Da die Versuche, ihn in ein Arbeitshaus unterzubringen, 
scheiterten, so benützten wir die gedrückte Stimmung, die sich an die 
Strafe anschloß, um dem Zögling den Ernst der Situation klar zu 


340 Adalbert Gregor: 


machen und ihm Internierung in einer geschlossenen Anstalt als Folge 
weiterer Widerspenstigkeiten und Vergehen hinzustellen, worauf er 
sich mit Freuden bereit erklärte, zu einem Bauern in Stelle zu gehen. 
‘ir wird hier fortlaufend von der Anstalt kontrolliert und hat sich 
bisher gut gehalten. 

Die beschriebenen Fälle ließen sich nur um einige wenige aus 
unserem Material vermehren, da derartige Typen unter unseren Für- 
sorgezöglingen relativ selten sind. Nach ihrem Wesen können wir sie 
für das soziale Leben nicht ganz verloren geben, glauben aber, daß sie 
durch Anstaltserziehung nur oberflächlich berührt werden. Wir sind 
mit ihnen auch vor Mängel der F. E. in zweifacher Hinsicht geführt 
worden. Fürs erste war sie insofern unvollkommen, als alle drei 
Zöglinge zu spät in die Anstalt kamen. Einer gut durchgebildeten 
Fürsorge, bei der Schule, Kirche und Behörden sich über Mittel und 
Wege klar sind, hätten Jugendliche dieser Art schon in jüngeren 
Jahren keineswegs entgehen dürfen. Für's zweite sahen wir uns 
mangels geeigneter Mittel, Fälle wie M. und N. zu beherrschen, doch 
in gewissem Sinne genötigt, vor ihnen die Waffen zu strecken; aller- 
dings bildeten gerade diese Fälle, neben den im folgenden noch zu 
besprechenden eine Triebfeder für den von der badischen Regierung 
beschlossenen Bau einer geschlossenen Anstalt für Schwererziehbare. 

Im übrigen bietet N. für die psychologische Betrachtung das Bild 
eines von der Natur mit minderwertigen Zügen bedachten Individuums. 
das vom Lebensschicksal noch weiter entstellt wurde In noch kras- 
serer Weise wird uns die Wirkung äußerer Verhältnisse auf die 
physische und psychische Verfassung Jugendlicher im folgenden ent- 
gegentreten. 


V. Vagabundennaturen. 


Hermann R., geboren 20. August 1906 Eltern leben nach Zigeuner- 
art. Einmal geht die Ehefrau einige Monate fort und reist mit einem anderen Mann 
als Lumpensammler- und Händlerin, dann tut der Mann desgleichen. Ein Sohn 19 
und eine Tochter 18 Jahre, treiben sieh im Land herum. Zwei kleine Geschwister 
von 13 und 5 Jahren sind seit frühester Jugend sich selbst überlassen. Nach der 
Trennung lebte die Mutter mit dem kleinen Kinde in einer Baracke; wurde einmal 
wegen Ruhestörung angezeigt, weil sie einem Nachbarn mit einem Säbel Scheiben 
einschlug  Zögling galt schon im 14. Jahre als verkommener und lügenhafter Bursche. 
Wegen eines Diebstahls vernommen, erklärte er, die Schwester habe diesen ausgeführt. 
er sei aber zu Hause veranlaßt worden, die Tat auf sich zu nehmen. 1921 angeklagt. 
weil er beim Betteln stahl. 4. Juli 1921 nach der Anstalt Flehingen Zeigte sich 
damals gutmütig, kindlich, beschränkt. schwerfällig. Anfangs nachlässig, trieb ge- 
lexentlich Unfug, dann Nleißiger, zeigte auch Interesse für Beruf, wurde am 2. Ok- 
tober 1922 zu einem in der Nähe wohnenden Schneidermeister in Lehre gebracht. 
Er entwich dort aber nach emiger Zeit und begab sich zu seinem Vater, der ihn 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 341 


schon früher haben wollte. vom Amtsgericht aber abgewiesen wurde Bei der Auf- 
nahme trotziges Wesen: leidet an Krätze. Ist nicht wieder zur Aufnahme seiner 
Arbeit in der Schneiderei zu bringen, arbeitet aber mit ziemlich gutem Willen in der 
Korbmacherei. Entweicht nach sechs Wochen und flüchtet zu einem Onkel. Am 
7. August 1924, d. h. nach sieben Monaten wiedergebracht; da er geschlechtskrank 
ist, nach dem Krankenhause, von wo er jedoch bald entweicht. In wenigen Tagen 
zurückgebracht, entweicht aber bald wieder aus der Anstalt. 


Dieser Zögling hat sich nur kleinerer Diebstähle schuldig gemacht 
und erschien zunächst mehr äußerlich verwahrlost. Die Anstalts- 
erziehung konnte daher anfangs einen guten Erfolg erwarten. Trotz 
leichter pathologischer Beschränktheit (Debilität) machte er in der 
Schneiderei Fortschritte und konnte nach 5/, Jahren zu einem aus- 
wärtigen Meister gebracht werden. Von da an ändert sich das Bild. 
Nach der zweiten Einlieferung ist keine Neigung mehr für den früheren 
Beruf vorhanden, immerhin gibt er sich noch in der Korbmacherei 
einige Mühe. Das Drittemal wird er mit Zeichen bedenklicher körper- 
licher und seelischer Verkommenheit eingewiesen. Er ist nicht mehr 
zu ernster Arbeit zu bekommen und eine neue Flucht beendet die 
Anstaltserziehung wohl endgiltig. 


Am auflälligsten ist jedenfalls die Veränderung, die sich nach der 
Entlassung des Zöglings vollzieht. Da der Vater ihn für den Lumpen- 
handel haben wollte und der Zögling sich zu ihm begab, liegt hier 
tatsächlich ein Kampf des elterlichen Milieus oder vielmehr der 
Familientradition mit sozialpädagogischen Einflüssen vor, wobei die 
ersterwähnten Faktoren Sieger blieben. Ein längerer Anstaltsaufenthalt 
hätte wohl auch nichts daran geändert, denn das erwachende Selbst- 
bewußtsein neigte sich zu deutlich der elterlichen Partei zu, während 
im kindlichen Alter noch die Anstaltspädagogik siegte. Der Kampf 
kann nur auf einer neuen Linie noch aufgenommen werden, denn die 
normale Anstaltserziehung, die mehr mit Einsicht als mit Zwang 
arbeitet, erscheint hier unzulänglich. Soll das Individuum dem Vaga- 
bundentum entzogen werden, dann kann dies nur auf dem Wege 
des Arbeitshauses oder einer sonstigen Sicherung geschehen. 


Wir schließen hier zwei weitere Fälle an, von denen Hermann Rö., geb. 
20. März 1908, ebenfalls von Eltern abstammt. dıe keinen festen Wohnsitz haben, 
sondern mit Lumpen und Alteisen handelnd, im Lande herumziehen. Der Zögling 
besuchte daher nur unregelmäßig die Schule und war bei seiner Einlieferung mit 
16 Jahren kaum des Lesens und Schreibens kundig. Er zeigte auch durchaus keine 
Lust ein Handwerk zu lernen, sondern wollte dem Lebenswandel seines Vaters nach- 
geben. Der Anstaltserziehung wußte er sich in kurzer Zeit durch Flucht zu entziehen, 
so konnte kein bestimmtes Urteil über die eigentlichen Erziehungsschwierigkeiten ge- 
wonnen werden. 


342 Adalbert Gregor: 


Für die Psychologie derartiger Persönlichkeiten ist die Beobachtung 
von Interesse, daß dieser Zögling trotz merklicher Verkommenheit ein 
schüchternes und scheues Wesen an den Tag legte und die Berührung 
mit anderen Jungen fürchtete. 


Ein weiterer Fall dieser Gruppe: Rudolf G., geb. 19. November 1906, hatte 
einen dem Trunke und Spiele ergebenen Vater von unstetem Wesen, der mit Artisten 
in der Welt herumzieht. Der Zögling stahl schon als Kind und brachte die Beute 
seinen Eltern, die sie zuhause verwerteten. Dieser Junge schlug sich schon seit dem 
7. Schuljahr in der Welt herum. half Schießbuden aufstellen usw. Als er mit 16 Jahren 
eingeliefert wurde, war er schon zweimal bestraft. Er zeigte noch recht kindliche 
Züge, war aber nur schwer an Anstaltsleben. Arbeit und geordnete Führung zu ge- 
wöhnen. Dies gelang ımmer nur für ganz kurze Zeit, ın welcher er eine gewisse Zu- 
verlässigkeit an den Tag legte, sonst schien er nur dem Gedanken auf Entweichung zu 
leben und ließ keine Gelegenheit unbenützt, allein oder mit anderen zu entfliehen. 
Auch im 18. Lebensjahr war er noch unfähig, ein Versprechen zu halten oder sich 
in einem kurzfristigen Termin in guter Führung zu bewähren. 

Wie bei den letztbespruchenen Fällen, trugen auch bei Erwin H., geb. 6. Februar 
1907, hereditäre Verhältnisse zur Klärung des Bildes bei: Sein Vater war Epileptiker 
und stand in schlechtem Ruf. Der Junge ließ sich frühzeitig Feld- und Koblendieb- 
stähle zu schulden kommen und kam daher mit 10 Jahren in Fürsorgeerziehung. 
13 Jahre alt, bedrohte er ein Mädchen mit Halsabschneiden, um von ihm einen Ball 
zu bekommen; auch machte er sich mehrmals der Brandlegung verdächtig. Mit 
14 Jahren wurde er in eme Erziehungsanstalt, von dieser in Lehre gebracht. die er 
aber aufgab, um zu vagabundieren. Nach Flehingen kam er im !6 Lebensjahr. Er 
zeigte schwerfälliges, plumpes, verschlafenes Wesen, globige Sprache; fügte sich ins 
Anstaltsleben, war aber faul und verdrossen. Er entwich nach 4 Monaten, zurück- 
gebracht nach 1 Monat. trieb sich beide Male bettelnd und stehlend herum, bis er 
schließlich aus dem Gefängnis wieder eingeliefert wurde. Jetzt zeigte er ein auf- 
fallend finsteres Wesen; dieser (resichtsausdruck, das Plumpe der Bewegungsformen 
und seiner Sprechweise lassen an larvierte Epilepsie denken. Damit fiel er aber frei- 
lich noch nicht unter das Irrenfürsorgegesetz. Die ausgeprägte moralische Verkummen- 
heit, die er bei seiner letzten Einlieferung an den Tag legte, machten es sehr be- 
denklich. ihn mit anderen, besserungsfähigen Zöglingen in der Anstalt zusammen- 
zubringen. 

Einen besonderen Typ repräsentiert. Otto N., geb. '8. Dezember 1906. Wir 
finden bei ihm eine für ältere Jungen ungewöhnliche Verwahrlosungsform, welche 
durch das Merkmal der Triebhaftigkeit charakterisiert ıst. Von erblicher Belastung 
war nichts zu ermitteln. auch waren die Eltern nieht bestraft, lebten in normaler Ehe, 
die Erziehung soli streng gewesen sein. Die Verwahrlosung begann anscheinend erst 
im 16. Lebensjahr. Er machte viele Streiche, log. stabl, verübte Unfug und wurde 
wegen Diebstahls zu 3 Wochen Gefängnis verurteilt, sodann nach der Anstalt ge- 
bracht. Der Junge zeigte hier Neigung zum Stehlen, war faul, verschlagen. Nach 
allen diesen Richtungen wirkte die Anstaltserziehung, bei der man sich angelegent- 
heh mt ihm beschäftigte, merklich bessernd. Auffällig waren öftere Verstimmungen, 
ans denen heraus Entweichungen erfolgten. Einmal daran gehindert, indem man ihn 
rechtzeitig auf die Wachabteilung brachte, beging er einen Strangulationsversuch. Be- 
inerkenswert war bei ihm ferner gesteigerte sexuelle Erregtheit, die in schamlosem 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge.e 343 


Önanieren und Urinieren Ausdruck fand. Greifbare Zeichen von Epilepsie traten nie 
in Erscheinung. 


Dieser Zögling ist weder ausgesprochen kriminell noch zeigt er 
eine primäre Neigung zum Vagabundieren. Dieses stellt sich viel- 
mehr als Folge der durch die Entweichungen gegebenen Situation dar. 
Dabei bildet das Ausreißen nicht lediglich eine Reaktion auf die 
Anstaltsunterbringung, vielmehr läuft er ebenso davon, als er nach 
versuchsweiser Entlassung von den Eltern in eine Stelle gebracht 
wurde. Die Erfolge der Anstaltserziehung ließen ihn entschieden als 
besserungsfähig erscheinen, seine Förderung ist aber nur unter den 
Verhältnissen einer geschlossenen Erziehungsanstalt denkbar. 


VI. Die moralische Verkommenheit. 


Anton R., geb. 22. Juli 1907, Vater Taglöhner, wegen progressiver Paralyse in 
Irrenanstalt. Mutter Putzfrau, machte sich der Hehlerei schuldig. Zögling beging 
bereits mit 9 Jahren einen Diebstahl, brachte der Mutter eine Tischdecke mit nach Hause; 
da er auch weitere Unehrlichkeiten beging, sollte die F. E. schon 1917 ausgesprochen 
werden. Doch führte er sich später wieder besser. 1920 kam er in schlechte Ge- 
sellschaft und schwänzte fast dauernd die Schule, welche daher wieder F. E. beantragte. 
Eine Unterbringung auf dem Lande führte nicht zum Ziel, er lief fort und trieb sich 
herum. Daher 1921 nach einer Erziehungsanstalt, wo er zweimal entwich. In Bäcker- 
lehre blieb er nur 2 Tage 18. Juli 1922 nach einer anderen Erziehungsanstalt, kehrte 
von einem ihm dort erteilten Urlaube nicht zurück. 27. August 1923 aus Schutzhaft 
in recht verkommenem Zustande nach Flehingen; erwies sich zugänglich, relativ ein- 
sichtig, gemütlich anregbar, zeigte aber recht plumpes Wesen und verschlafenen Ge- 
sichtsausdruck. In der ersten Zeit des Anstaltsaufenthaltes war er gleichgültig, roh 
und faul; später führte er sich befriedigend und arbeitete leidlich; wurde auf Antrag 
der Mutter am 9. Februar 1924 nach Hause entlassen. Am 6. Oktober 1924 wieder 
eingeliefert, mußte sofort ins Krankenhaus wegen Gonorrhoe überwiesen werden, ent- 
wich aber beim Transport. Am l. Dezember neuerlich, und zwar aus einem anderen 
Krankenhause entlassen, zugeführt. Erschien wıeder geschlechtskrank, es wurde Lues 
konstatiert. Während der Behandlung entwich er aus dem Krankenhause. Am 
25. Januar 1925 angeblich als gesund eingeliefert, während er selbst mit Geschlechts- 
krankheit renommierte. Sein Wesen war völlig verändert, er war trotzig, sprach ge- 
mütlıch nicht mehr an. Wassermannsche Reaktion fiel stark positiv aus, er wurde 
daher neuerlich ins Krankenhaus gebracht. 


Zunächst erscheint die erbliche Konstellation: Vater geisteskrank, 
Mutter sittlich minderwertig, recht ungünstig. Die moralische Ent- 
artung des Zöglings machte sich frühzeitig geltend. Es war gewiß 
ein Versäumnis, daß man noch Jahre verstreichen ließ, ehe Anstalts- 
erziehung zur Anwendung kam. Auch Behörden sollten heute schon 
mit erblicher Belastung rechnen und es müßte allgemein bekannt sein, 
daß sittliche Minderwertigkeit bei Schwachsinnigen, wie es hier der 
Fall war, sehr ernst zu beurteilen ist. Die Erziehung in einer Anstalt 


344 Adalbert Gregor: 


für Knaben scheiterte an Entweichungen. Mehr Erfolg war der Er- 
ziehung in einer Anstalt für Schulentlassene beschieden. Auch in 
der Anstalt Flehingen waren gute Fortschritte zu verzeichnen, daher 
wurde dem Antrag der Mutter auf Entlassung nachgegeben. Mit- 
bestimmend war dabei die Erwägung, daß auf einen längeren Verbleib 
des Zöglings in der Anstalt, sobald die Losung vom Elternhaus kam, 
nicht mehr zu rechnen war und Flucht und Herumtreiben ihn schwer 
geschädigt hätten. Obzwar die Entlassung auf jederzeitigen Widerruf 
ausgesprochen wurde, dauerte es doch 10 Monate, bis man ihn wieder 
nach der Anstalt brachte und zwar in der allerschlimmsten Verfassung. 
Jede Spur von Jugendlichkeit war geschwunden, er bot das Bild eines 
verlebten Menschen, gemütliche Regungen, Einsicht oder Selbst- 
erkenntnis fehlten. Die Tatsache, geschlechtskrank zu sein, wurde 
mit zynischem Stolze betont. In diesem Zustande mußte der Zögling 
eine schwere sittliche Gefahr für junge Leute bilden und sein Ver- 
weilen in einer Erziehungsanstalt war schon aus diesem Grunde aus- 
geschlossen, abgesehen davon, daß es ihm kaum mehr von Nutzen 
hätte sein können. 

Zum gleichen Ergebnis führte ein zweiter, seelisch wesentlich 
anders gefügter Fall: 

Anton St., geb. 23. Januar 1906. Vater starb 1910. Stiefvater hat die Familie 
verlassen, so daß die Mutter tagsüber auf Arbeit mußte. In der Schule war Zögling 
faul und leichtsinnig. Anch später arbeitsscheu. ging nachts Vergnügungen nach. 
unterhielt ein Verhältnis, bei Tag blieb er im Bett liegen. Wegen Diebstahls 2 mal 
mit 4 Wochen bezw. 3 Monaten Gefängnis bestraft. Am 28. November 1923 nach 
Flehingen. Der Zögling fiel durch sein dreistes Wesen auf. Er fjihrte gleich nach 
seiner Einlieferung das große Wort auf der Abteilung, fügte sich widerstrebend der 
Ordnung, gehorchte dem Erzieher nicht. Bei der Unterredung zeigte er sich gewandt, 
im Benehmen ungeniert. Es fehlte an Einsicht für sein Verhalten, er erklärte, daß 
seine Zuführung auf einem Fehler beruhen müßte. Nach 6 Wochen entwich er. 
wurde am 7. April wieder zugeführt, zeigte freches, herausforderndes Wesen, Selbst- 
überbebung, war sehr empfindlich und eitel. Er sollte nun nach dem Psychopathen- 
heim Sinsheim überführt werden, riß aber auf dem Wege aus. Bei der Einlieferung» 
die am 18. Oktober 1924 erfolgte, zeigte er eine Analfistel luetischen Ursprungs als 
Folge perversen Geschlechtsverkehrs, kam daher ins Krankenhaus, später bei An- 
gehörigen untergebracht. 

Die Eigenart dieses Zöglings ließ die Aussichten auf einen Er- 
ziehungserfolg von vornherein als sehr gering erscheinen. Es muB 
dabei besonders hervorgehoben werden, daß wir nur in seltenen Fällen 
in dem Alter, in welchem Zögling zur Aufnahme kam, eine derart 
schlechte Prognose stellen können. Maßgebend hiefür waren die oben 
erwähnten Charakterzüge, zu denen noch eine ungewöhnlich starke 
Sinnlichkeit kam. Die Paralle® zu verzweifelten Fällen in der F. E. 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 345 


von Mädchen ist gerade bei diesem Jungen, der sexuell stark erregt 
ist, gegeben. Auch hier war es ausgeschlossen, ihn bei der 3. Ein- 
lieferung noch in der Erziehungsanstalt zu behalten. Die Verlegenheit, 
die sich aus dem Mangel geeigneter Verwahrungsstellen ergibt, wurde 
offenbar, als man ihn in der Familie seines Stiefvaters unterbrachte. 
Denn bald meldete sich die Gemeinde mit der Klage über homo- 
sexuellen Umtrieb. 


. Die dargestellten Fälle bestehen aus jenen Zöglingen, welche nach 
dem Urteile der Erzieher in ihrem Verhalten in der Anstalt den 
durchschnittlich erreichten Erziehungserfolg nicht ergaben und zwar 
Erfolg in dem Sinne einer Gestaltung des Individuums, welche eine 
geordnete Lebensführung gewährleistet. Die praktischen Fragen, welche 
uns dabei entgegentreten, lauten: 

1. Worin sind die Ursachen für die Schwererziehbarkeit zu suchen ? 

2. Welche Aufgaben werden der Fürsorge gestellt? 

Bei der Sichtung des Materiales haben sich uns eine Reihe von 
Merkmalen in der Charakterstruktur ergeben, welche wir mit der 
Verwahrlosung in Zusammenhang bringen mußten und welche auch 
die eigentliche Ursache für die Schwererziehbarkeit bildeten. Wir 
haben danach die eingangs erläuterte Einteilung in Gruppen vor- 
genommen. Ferner sind wir bei Behandlung der Fälle auf die Be- 
deutung äußerer, die Wesensart bestimmender Momente gestoßen, die 
wir im Verhältnis zur natürlichen Eigenart als sekundär auffassen 
mußten. 

Zunächst soll versucht werden, eine quantitative Charakteristik 
der schwererziehbaren Zöglinge zu geben. Unser Material zählt unter 
320 Zöglingen 36 schwererziehbare, also 11,25°/,. Angezeigt war die 
Unterbringung in: 





Verwahrungsanstalt . . ee A 
Anstalt für Schwererziehbare ... IB 
Halboffene Erziehungsanstalt . . . 9 

36 


Nach der psychiatrischen Diagnose setzte sich das Material wie 
folgt zusammen: 


Psychopathen . . . o a 60 
Angeborener Schwadheihn: u 0 


346 Adalbert Gregor: 


Demgegenüber zeigte der Bestand von 160 Fällen der Anstalt 
Flehingen nachstehende Zusammensetzung: 


Psychisch normal . . . . . . 17,15% 
Psychopathisch . . . . . . . 5500, 
Debil . . & = 2» ze u a 225a 
Imbezil . . 22a’ Bll, 
Geisteskrank . . . . 22... 112, 
Epileptisch . . . 2. .2..2....07 , 


Nach Gruhles Terminologie stehen sich die beiden Gruppen 
wie folgt gegenüber: 


Schwer- Durchschnitt der 

erziehbar Flehinger Zöglinge 
Sehr aktiv . . . . . 445 22,58 
Erheblich aktiv. . . . 225 34,19 
Mäßig aktiv. . . . . 17,5 35,48 
Passiv. . . . . . 2. R5 1,75 
Brutal. . . 2 2.2...83235 6.45 
Verschlagen . . . . 675 35,48 
Kindlich- leichtsinnig . . 00 51,61 
Stumpf!) . . . . . . 00 6,95 

Unsere Gruppen setzten sich wıe folgt zusammen: 

Moralische Stumpfheit . . . . 2...1 
s Anästhesie . . . 2202020008 
” Gleichgültigkeit . . . . . 2 
Haltlosigkeit . . . | 
Hypomanische Skrupellosigkeit 3 
Drang nach Ungebundenheit 4 
Vagabundennaturen 5 
Moralische Verkommenbeit . 2 


Die Kriminalität?) betrug für Schwererziehbare 65°/, 
Durchschnitt der Flehinger Zöglinge . . 12,5% 


Ein bemerkenswertes Ergebnis ist die Feststellung, daß alle Schwer- 
erziehbaren unseres Materials pathologisch veranlagt sind, die Mehr- 
zahl ist psychopathisch, 40°/, schwachsinnig. Unter die Psychopathen 
haben wir auch die Fälle von konstitutioneller Erregung und Cyklothymie, 
ferner die Hysterischen und Epileptischen subsummiert. Kein Fall 


1) Yolia h Stumpfe sind es nicht immer in dem hier gemeinten Sinne. 
2) Im Sinne habitueller Neigung. 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 347 


gehörte der Schizophrenie an, obzwar wie anderweitig von mir aus- 
geführt wurde, innige Beziehungen zwischen dieser Anomalie und 
Schwererziehbarkeit bestehen. !) 

Zweifellos verwahrlosen nicht alle Schwachsinnigen und Psycho- 
pathen und bilden, soweit sie verwahrlost sind, nicht immer schwere 
Fälle. Die Psychopathie anlangend, zeigte unser Material, daß die bis 
zur Zerfahrenheit sich steigernde Haltlosigkeit die Ursache davon war, 
daß diese Individuen in ihrem Beruf immer wieder scheiterten. Eine 
Form sozialen Absinkens war also durch die psychische Konstitution 
gegeben; die Stärke dieses Hindernisses machte sich auch für die An- 
staltserziehung fühlbar, da es trotz vereinfachter Lebensbedingungen 
und des Nachdruckes, der dem Verbleiben im Beruf hier gegeben 
werden konnte, doch nur selten gelang, bei Schwererziehbaren das 
Berufsziel zu erreichen. Wir können danach die Unfähigkeit, ein 
Handwerk zu erlernen, als ein Kriterium für Schwererzieh- 
barkeit aufstellen. Aber nicht nur formale Strukturanomalien, 
die das Wesen der Psychopathie ausmachen, sind die Ursachen für 
Schwererziehbarkeit. In noch höherem Maße sind materiale Züge des 
Charakters dafür maßgebend. Hier muß in erster Linie als ein Krite- 
rium für Schwererziehbarkeit Kriminalität genannt werden. 
Wie treten damit zwei besonderen Aufgaben gegenüber, nämlich der 
psychologischen Erklärung dieses Zustandes und der praktischen Be- 
urteilung seiner sozialen Bedeutung und Tragweite. 

Medizinisch ist die Kriminalität vielfach als Ausdruck eines mit 
dem intellektuellen Ausfall auf gleicher Linie stehenden ethischen 
Defektes zu begreifen, der beim pathologischen Schwachsinn in anato- 
mischen Störungen seine Ursache hat. Die erste Gruppe der moralisch 
Minderwertigen, die neben Schwachsinnigen auch Psychopathen umfaßt, 
hat uns vor klare Fälle geführt, die mit einem Mangel gemüt- 
licher Ansprechbarkeit unfähig waren, höhere Werte zu 
erleben, im äußersten Fall eine gemütliche Stumpfheit er- 
kennen ließen. Wir stehen auch hier vor einem sicheren Kriterium. 
In den weiteren Gruppen fehlte es nicht an gemütlichen Regungen 
und Reaktionen oder an Werterleben überhaupt, aber die ethischen 
Qualitäten entsprechen nicht der Norm, der tägliche Umgang enthüllt 
eine Fülle von Charakterzügen, die alle der gleichen Quelle entspringen. 
Ihre Feststellung und Bewertung führt ohne weiteres zur Beurteilung 
der sozialen Tragweite, was nur unter Berücksichtigung der ganzen 
Persönlichkeit mit ihrer formalen Charakterstruktur und ihrem intellek- 


1) Gregor, Leitfaden der Fürsorgeerziehung. Berlin, S. Karper, 1924. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 80. Band. 23 


348 Adalbert Gregor: 


tuellen Niveau, ferner den sekundären Einflüssen, die gestaltend und 
verändernd einwirkten, endlich der Plastizität des Individuums ge- 
schehen kann, d. h. der Fähigkeit oder Möglichkeit, durch erzieherische 
Einflüsse geformt werden zu können. Hier findet in erster Linie die 
Erziehungsarbeit ihren Platz. Es ergibt sich damit ein neues 
Kriterium im Effekt der Anstaltserziehung oder auch der 
Erziehungsmaßnahmen überhaupt und in der Gestaltungs- 
fähigkeit als Antwort auf die Frage, ob wir einer noch bildungs- 
fähigen oder einer abgeschlossenen Persönlichkeit gegenüberstehen. In 
dieser Hinsicht ist namentlich auf eine Fehlerquelle zu verweisen, daß 
es Individuen gibt, die ohne sittlich defekt oder sozial gefährlich zu 
sein, doch keine Objekte der Anstaltserziehung bilden, weil sie infolge 
ihrer psychischen Eigentümlichkeit auf die Anstaltsverhältnisse in 
einer ungünstigen Weise reagieren; es sind dies namentlich Individuen 
mit gesteigerter Empfindlichkeit, besonderer Eigenliebe und querulatori- 
schen Neigungen, endlich gewisse Formen schizoider, dabei aber harm- 
loser Persönlichkeiten.) So muß es bei ausreichender, mit ent- 
sprechenden erzieherischen Maßnahmen erfüllter Beobachtungszeit in 
einer verständnisvoll arbeitenden Anstalt gelingen, sich ein Urteil dar- 
über zu bilden, ob und in welchem Maße ein Individuum für die 
Gesellschaft schädlich ist und welche Mittel dagegen zu ergreifen sind. 


Wir haben uns noch mit dem zweiten Punkte eingehender zu 
befassen. Zweifellos muß bei einem Material dieser Art systematische 
Anstaltserziehung die nächste Maßnahme bilden. Unsere Fälle haben 
auch gezeigt, daß hier eine nähere Bestimmung der Anstaltsdauer 
allgemein nicht zu geben ist. Erfordert ein gewöhnlicher Verwahr- 
losungsfall eine Erziehungszeit von 9—18 Monaten. so sahen wir an 
unseren Fällen, daß wir manchmal nach 3 Jahren eben erst ans Ziel 
gekommen zu sein schienen. 


Die Eigenart der Fälle läßt auch vielfach eine beson- 
dere Form der Anstaltserziehung nötig erscheinen und zwar 
aus mehrfachen Gründen. Fürs erste bedeuten Zöglinge dieser Art 
eine z. T. erhebliche Gefahr für die besseren Elemente der 
Anstalt; ferner ist es im Interesse einer kontinuierlichen erzieherischen 
Beeinflussung gelegen, die Entweichungsmöglichkeiten zu ver- 
ringern, also eine mehr geschlossene Anstalt zu wählen. Dann ist 
mit dem Mangel an Einsicht der Zöglinge zu rechnen, die ihre ver- 
hältnismäßig lange Erziehungsdauer nicht verstehen. Endlich wird die 





1) Looslis „Anstaltsleben“ zeigt, zu welchen verkehrten Wirkungen eine gut ge- 
meinte, aber verständnislose Anstaltserziehung am falschen Objekt führen kann. 


Psychologie und Sozialpädagogik schwererziehbarer Fürsorgezöglinge. 349 


Aufgabe für den Erzieher unnötig erschwert, wenn ihm zu ungleiche 
Elemente anvertraut werden. Aus diesem Grunde ist einer Differen- 
zierung der Anstalten das Wort zu reden, wie ich es schon im 
ersten Heilpädagogischen Kongresse vertreten habe. Wir konnten in 
Baden durch gegenseitige Ergänzung der staatlichen Erziehungsanstalten 
Flehingen und Sinsheim sehr günstige Erfahrungen machen. 

Erst bis tatsächlich die letzte Möglichkeit im Rahmen 
der Fürsorgeerziehung, imbesonderen der Anstaltserziehung 
erschöpft ist, kommt die Ausscheidung der Unerziehbaren 
in Frage. 

Es ist heute immer noch nicht überflüssig, zu erwähnen, daß bei 
Schwererziehbaren mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß die 
ganzen Erziehungsschwierigkeiten auf einer ` psychischen 
Anomalie, etwa einem geistigen Defekte oder einer Geistes- 
störung beruhen, welche die Versetzung des Zöglings in eine Heil- 
anstalt erforderlich machen. Verschiedentlich kann man in der Ver- 
wahrlosung ein Symptom periodisch verlaufender Geistesstörung er- 
kennen, so daß das Individuum jeweils mit den zutage tretenden 
Verwahrlosungserscheinungen in eine Heilanstalt einzuliefern ist. 

Im Hinblick auf die Schwererziehbaren darf man bei der Anlage 
von Fürsorgeerziehungsanstalten auch nicht vor Mitteln der Beschränkung 
und Abtrennung zurückschrecken. In der Hand eines erfahrenen, ein- 
sichtigen und humanen Leiters werden sie ja doch nur dem Individuum 
zum Nutzen und der Gesellschaft zu ihrer Sicherheit dienen. 

Bei allem Aufwand an Erziehungsmitteln und -Kräften werden 
im Einzelfalle die Grenzen der Erziehungsfähigkeit doch erreicht und 
dann der Aufwand nicht mehr gerechtfertigt erscheinen. Hier ist an 
jene abgeschlossenen Persönlichkeiten zu denken, die vielleicht neben- 
sächliche Korrekturen erfahren können, deren eigentliche Wesensart 
aber nicht mehr zu ändern ist. Sind wir aus leicht verständlichen, 
allerdings nicht von der Biologie gegebenen Gründen nach oben, d. h. 
durch Abschluß der F.E. an das 21. Lebensjahr gebunden, dann müßte 
nach der anderen Seite wenigstens die tatsächliche Gestaltung der 
Persönlichkeit maßgebend bleiben und Individuen, bei denen weitere 
Erziehungsarbeit zwecklos ist, ausgeschieden werden können. Wir 
haben hier mit folgenden Möglichkeiten zu rechnen: 

1. Das Individuum ist für die Gesellschaft in einer Weise ge- 
fährlich, daß seine Entlassung mit der Fortsetzung einer Ver- 
brecherlaufbahn identisch ist. 

2. Das Individuum ist nicht für die Gesellschaft gefährlich, aber 
fürs soziale Leben untauglich, weil es ständig zu verwahr- 

23* 


350 Adalbert Gregor: Psychologie und Sozialpädagogik usw. 


losen und zu verkommen droht. Dieser Fall ist bei männ- 

lichen Individuen, die nicht an Geisteskrankheit oder Geistes- 

schwäche leiden, selten realisiert, während er bei Mädchen eine 
viel größere Rolle spielt. | 

3. Das Individuum ist nicht kriminell und neigt nicht unbedingt 
zur Verwahrlosung, kann aber durch Anstaltserziehung nicht 
gefördert werden. 

Im ersten Falle ist Verwahrung geboten, wenn das Wesen des 
Individuums durch Mittel der Anstaltserziehung nicht zu ändern ist. 
Ehe das Verwahrungsgesetz eine Regelung schafft, ist die Jugend- 
fürsorge genötigt, in ihrem Rahmen die Lücke zu ergänzen und An- 
stalten bereitzustellen, in denen Jugendliche verwahrt werden können, 
dabei aber auch ihrem Wesen entsprechende Formen von Pädagogik 
finden. 

Auch im zweiten Falle hat Verwahrung einzutreten, man kann 
aber mit dieser Maßnahme bis zum Eintritt der Volljährigkeit warten, 
falls sich keine zu starke Belastung der Erziehungsanstalten damit 
ergibt. 

Im dritten Falle ist außerhalb der Anstalt für eine Unterbringung 
zu sorgen, welche möglichste Gewähr für eine gute Haltung des In- 
dividuums bietet. | 

Schwererziehbare Fürsorgezöglinge werden stets vor ernste päda- 
gogische Aufgaben führen. Die vorliegende Arbeit sollte den Anstoß 
geben, durch Besprechung konkreter Fälle dieses Gebiet der Erziehungs- 
wissenschaft auszubauen. 


Zu den preußischen Ausführungsbestimmungen 
zum Grundschulgesetz, 
insbesondere zu der Bestimmung, daß Kindern, die infolge ärztlichen Attestes vom 
(Grundschulbesuch befreit waren, die Aufnahme in die Sexta nach 3jährigem Schul- 
besuch verwehrt wird. 
Von 
Oberstudiendirektor Dr. Bottermann, Berlin. 


Es handelt sich um die Ausdeutung des Begriffes Besondere 
Leistungsfähigkeit; denn nur Kinder dieser Qualität sollen die Möglich- 
keit zu vorzeitigem Übergang haben. Zunächst betont der Erlaß die 
Unmöglichkeit der allgemeinen Bestimmung des Begriffs. Dann wird 
aus der Tatsache, daß die Vierjährigkeit der Grundschule durch das 
neue Reichsgesetz ausdrücklich bestätigt wird, im Zusammenhang mit 
der Zulassung „einzelner Fälle“ gefolgert, daß die „besondere geistige 
und körperliche Veranlagung ... die frühere Aufnahme in eine höhere 
Schule rechtfertigen muß“. 

Hier wird erstens der Ausdruck des Gesetzes „im Einzelfalle“ er- 
setzt durch die Wendung „einzelner Fälle“. Beide Ausdrücke besagen 
aber durchaus nicht dasselbe; die Ersatzwendung färbt vielmehr im 
Sinne einer ganz unberechtigten Einschränkung. 

Zweitens wird die Fassung in dem Gesetz „besonders leistungs- 
fähig“ erläutert durch „besondere geistige und körperliche Veranlagung“. 
Wenn es aber im Gesetz heißt: „Im Einzelfalle können besonders 
leistungsfähige Schulkinder nach Anhören des Grundschullehrers ... 
zur Aufnahme zugelassen werden“, so ist klar, daß hier die besondere 
geistige Leistungsfähigkeit gemeint ist; die Beziehung auf das Urteil 
des Grundschullehrers beweist das. Stillschweigend vorausgesetzt ist 
höchstens körperliche Tauglichkeit, nicht aber besondere körperliche 
Leistungsfähigkeit. 

Damit hängt zusammen, daß die auf diese Interpretation sich 
gründende Folgerung unhaltbar ist. Es heißt nämlich in den Aus- 
führungsbestimmungen weiter: „Voraussetzung vorzeitigen Übergangs 
ist nach dem neuen Reichsgesetz die Erledigung dreijähriger Grund- 


352 Bottermann: Zu den preußischen Ausführungsbestimmungen usw. 


schulpflicht durch besonders leistungsfähige Kinder. Damit sind durch 
reichsgesetzliche Vorschrift von dem vorzeitigen Übergang ausgeschlossen 
alle die Kinder, die auf Grund des $ 4 des Grundschulgesetzes aus 
Gründen körperlicher Leistungsunfähigkeit vom Grundschulbesuch 
befreit sind.“ Wie ich vorher schon dargelegt habe, bietet die Fassung 
des Gestzes gar keine Handhabe zu einer derartigen Ausdeutung. Dann 
aber liegt auf der Hand, daß der Gesundheitszustand des Kindes sich 
seit dem Zeitpunkt der Befreiung von der Grundschulpflicht so ge- 
bessert haben kann, daß der Schüler den Ansprüchen an die körper- 
liche Leistungsfähigkeit eines Sextaners einwandfrei gewachsen ist. 


In den Ausführungsbestimmungen heißt es ferner: „Auch Schüler, 
die durch häusliche oder private Vorbereitung außerhalb der Grund- 
schule so weit gefördert worden sind, daß sie die bei der Aufnahme- 
prüfung verlangten Kenntnisse besitzen, zeigen damit nicht ohne 
weiteres, daß sie besonders leistungsfähig seien. Die neue reichs- 
gesetzliche Vorschrift soll und will nicht irgendwelcher verfrühten und 
künstlich getriebenen Bildung des Kindes durch Schule oder Haus, die 
pädagogisch und hygienisch gleich bedenklich wäre, Vorschub leisten.“ 
Der Auffassung, daß künstlich hochgetriebener Bildung nicht Vorschub 
geleistet werden soll, kann man durchaus zustimmen. Nur ergibt sich 
die außerordentlich große Schwierigkeit festzustellen, wann die Leistungen 
eines Schülers in diesem Sinne zu charakterisieren sind. Ob starke Be- 
gabung, ob ein ausgezeichnetes Gedächtnis, ob hervorragender Fleiß 
entscheidend bei den Leistungen eines Kindes mitgewirkt haben, ist 
nicht immer leicht zu erkennen. Die solideste Grundlage für die Be- 
urteilung der Eignung für die Sexta werden neben der Wertung durch 
den bisherigen Lehrer schließlich stets die tatsächlichen Leistungen in 
der Aufnahmeprüfung sein. Erfüllt der Schüler deren Anforderungen. 
so muß er als besonders leistungsfähig bezeichnet werden, denn er hat 
neben dem regelrechten Schulunterricht noch erfolgreich Aufgaben be- 
wältigt, die für dieses Alter besondere geistige Tüchtigkeit voraussetzen. 
Bescheinigt außerdem ein schulärztliches Gutachten die körperliche 
Tauglichkeit, so darf nach einer sinngemäßen Auslegung des Gesetzes 
der Aufnahme in die Sexta nichts mehr im Wege stehen. 

Der Erlaß sagt an einer Stelle, daß jeder Mißbrauch des Gesetzes 
zu verhindern ist. Das ist eine selbstverständlich berechtigte Forderung. 
Aber ebenso selbstverständlich ist das in dieser Forderung gleichzeitig 
enthaltene Gebot, bei der Anwendung des (Gesetzes dessen genaue 
Grenzen peinlich einzuhalten. 





Tagungen. 353 


Tagungen. 





Der Erste Allgemeine Kinderwohlfabrtskongreß wird in Genf vom 24. bis 
28. August 1925 unter dem Protektorat der Schweizer Regierung stattfinden. 

Der Augenblick erscheint gekommen, gelegentlich der Anerkennung der Genfer 
Deklaration auf der 5. Tagung des Völkerbundes, in Genf einen wirklich internationalen 
Kongreß der Vertreter der Regierungen und der privaten Vereinigungen, die sich der 
Aufgabe des Kinderschutzes gewidmet haben, zusammenzurufen. 

Der Kongreß wird kein Propagandakongreß sein, wie diejenigen, die bis jetzt 
durch die U. J. S. E. in Genf, Stockholm, Wien und Budapest organisiert waren, sondern 
ein Kongreß von wissenschaftlichem Charakter, bei dem die Zusammenarbeit aller be- 
deutenden Persönlichkeiten, die sich seit langem den die Kindheit betreffenden Fragen 
widmen, nötig sein wird. 

Die der U.J.S. E angeschlossenen und verbundenen Vereine sind gebeten 
worden, Listen von Arbeiten uud Persönlichkeiten aufzustellen. denen die Drucksachen 
und Zirkulare des Kongresses zugesandt werden sollen. sowie die Namen einer ge- 
wissen Anzahl von erstklassigen Spezialisten vorzuschlagen. die eingeladen werden 
sollen, Referate über die Fragen des Programms abzustatten. 

Zu gleicher Zeit wird in jedem Lande ein Ehrenkomitee gebildet, das die Or- 
ganisation des Kongresses in bezug auf sein eigenes Land unter sein Protektorat nimmt. 
Die Gesamtheit dieser Ehrenkongresse wird den Ehrenausschuß des Kongresses bilden. 

Alle diejenigen. die sich für das Wohl von Mutter und Kind interessieren, sind 
auf dem Kongreß willkommen. 


Provisorisches Programm: 
Abteilung I: Hygiene und Medizin. 

1. Vergleichender Bericht über die in den verschiedenen Ländern ergriffenen 
Maßnahmen um die pränatale Sterblichkeit, die Sterblichkeit der Neugeborenen und 
die der ersten Lebensjahre zu vermindern. 2. Zweckmäßige Ernährung der: a) Säug- 
linge, b) vorschulpflichtigen Kinder, c) Schulkinder. 3. Heliotherapie und Sonnen- 
hygiene beim Kind 4. Vereinigung der Statistiken der pränatalen Sterblichkeit, der 
Sterblichkeit der Neugeborenen und die der ersten Lebensjahre. 5. Vorbeugende 
Krüppelfürsorge bei den Kindern. 

Abteilung II: Soziale und verwaltende. 

1. Schutz der unehelichen Mutter und ihres Kindes. 2. Unterstützung der 
notleidenden Waisen. 3. Schutz der Kinder während der Übergangszeit zwischen 
dem Schulabgang und dem Eintritt in die Fabrik mit vollem Gehalt. 4. Lage der 
ausländischen Kinder in ihrem Aufenthaltslande. 5. Beistand für auswandernde Kinder 
während der Reise. 

Abteilung II: Erziehung und Propaganda. 

1. Erziehung der öffentlichen Meinung in den Fragen des Kinderschutzes. 2. Die 
wirksamsten Mittel, Unterstützungen für den Kinderschutz zu sammeln. 3. Erziehung 
des Kindes im Hinblick auf den Frieden. 4. Erziehung eines internationalen Kinder- 
pflegepersonals. 


Provisorische Ordnung des Kongresses: 
l. Zusammensetzung des Kongresses. 
a) Das Recht, sich zu dem Kongreß zu melden, haben alle diejenigen. die sich 
für den Gegenstand interessieren, die das Beitrittsformular unterschreiben und die ım 


354 Tagungen. 


voraus den vorgeschriebenen Kongreßbeitrag einsenden. b) Es gibt 5 Arten von 
Kongreßteilnehmern, nämlich: A. Die Vertreter der Regierungen. B. Die Vertreter 
der Lokalbehürden. C. Die Vertreter der städtischen oder privaten Vereine. D. Die 
persönlichen Mitglieder. E. Die persönlichen Mitglieder, die als Begleiter für die 
Vertreter oder die persönlichen Mitglieder kommen. 

Die Kongreßteilnehmer der 5 Kategorien haben das Recht, allen Sitzungen bel- 
zuwohnen und an den Diskussionen teilzunehmen, sich an allen gesellschaftlichen 
Vereinen, Besuchen usw. zu beteiligen und alle Drucksachen des Kongresses zu eı- 
halten. Nur die Vertreter der Regierungen, der Lokalbehörden und der Vereine haben 
Stimmrecht. 

Die persönlichen begleitenden Mitglieder haben nur das Recht, den Eröffnungs- 
und Schlußsitzungen und allen gesellschaftlichen Vereinigungen beizuwohnen. Nie 
erhalten nicht die Drucksachen des Kongresses. 

2. Kongreßbeiıtrag. 

Jedes Kongreßmitglied muß dem Schatzmeister im voraus die Summe von 25 Gold- 
franken (oder 1 Guinee, 5 Dollar usw.) einsenden. 

Ermäßigungen können nur in beschränktem Maße Kongreßteilnehmern, die aus 
einem Lande mit niedriger Valuta kommen, gewährt werden. 

In dem Fall, wo mehr als 50 Mitglieder eines einzelnen Landes, in eine nationale 
Vereinigung für den Kongreß organisiert, kommen. wird der Beitrag wie folgt er- 
mäßigt: Für 50—100 Mitglieder Ermäßigung von 25°/,, für 100—200 Mitglieder Er- 


mäßigung von 35°,, für mehr als 200 Mitglieder Ermäßigung von 50°; ,. 


3. Tageseinteilung des Kongresses. 

Der Kongreß wird sich in Sektionen teilen, die, sobald die endgültige Tages- 
ordnung festgesetzt ist, ernannt werden. Diese Sektionen werden gleichzeitig zusammen- 
treten. 

Außerdem werden Plenarsitzungen aller Sektionen stattfinden. 


4. Offizielle Sprachen des Kongresses. 
Die offiziellen Sprachen des Kongresses werden Französisch. Englisch und Deutsch 
sein. Die Referate werden in diesen 3 Sprachen veröffentlicht werden. Die Dis- 
kussionen werden nicht übersetzt werden. 


5. Referate und Diskussionen. 


a) Es werden nur Referate und Referenten angenommen, die von dem Haupt- 
kongreßbüro bestimmt sind. b) Die Manuskripte der Referate müssen dem Haupt- 
kongreßbüro vor dem 1. Juli 1925 eingereicht werden. Diejenigen, die später ein- 
treffen, können weder übersetzt noch gedruckt, noch an die Kongreßmitglieder ver- 
teilt werden. e) Die Referate werden den Kongreßmitgliedern vor der Eröffnung be 
Vorzeigen der I»gıtimationskarte im Büro überreicht werden. d) Kein Referat darf 
mehr als 1500 Worte umfassen. Wenn es die Grenze überschreitet, so hat die 
Redaktionskommission die Pflicht und das Recht es zu kürzen. e) Die Verfasser 
haben 15 Minuten Zeit um ihre Referate vorzutragen. f) Keiner darf zweimal das 
Wort ın derselben Diskussion ergreifen, noch länger als 3 Minuten sprechen. 


6. Kongreßresolutionen. 


Jede Sektion hat das Recht, Resolutionen zu fassen und sie zur Annahme zu 
bringen. Die endgültige Annahme indessen wird erst durch den ganzen Kongreß in 
der Sehlußsitzung ausgesprochen. 


Tagungen. 399 


Der IV. Panamerikanische „Kongreß des Kindes‘. Am 12. Oktober 1924 
ist in Santiago (Chile), zugleich mit einem Kongreß über Kinderschutz, eine 
ınternationale Ausstellung über die gleichen Gebiete eröffnet worden, die den Grund- 
stock zu einem ständigen Museum bilden soll. Deutschland, das — wie auch die 
anderen europäischen Länder — zur Teilnahme an der Ausstellung eingeladen war, 
hat dieser Aufforderung Folge geleistet, und die jetzt eintreffenden Berichte von Fach- 
leuten, sowie Ausschnitte aus Deutsch-Chilenischen Zeitungen zeigen, daß die vom 
Deutschen Archiv für Jugendwohlfahrt mit Hilfe von befreundeten Fachorganisationen 
zusammengestellte Ausstellung lebhafte Anerkennung nicht nur bei den deutschen Be- 
suchern, sondern auch bei den Südamerikanischen Fachkreisen gefunden hat. Neben 
den amerikanischen Ländern, unter denen besonders Chile selbst, ferner Brasilien, 
Argentinien und die Vereinigten Staaten von Nordamerika größere Abteilungen der 
Ausstellung belegt haben, ist Deutschland unter den europäischen Ländern das einzige 
gewesen, das sich an der Ausstellung beteiligt hat ') Der Panamerikanische „Kon- 
greß für das Kind“ (del niño) war diesmal auch auf Nordamerika ausgedehnt, während 
früher derartige Veranstaltungen in südamerikanischen Staaten sich nur auf diesen 
Teil des Kontinentes erstreckt hatten. Da Chile eine der höchsten Quoten von Kinder- 
sterblichkeit unter allen Ländern zu beklagen hat, sind dort die Interessen zur Be- 
kämpfung des Übels und zum Schutz der Kinder besonders lebhaft geweckt, und 
gerade aus den Kreisen dort lebender Deutscher stammen die bisher getroffenen und 
zum Teil nach deutschen Vorbildern in dıe Wege geleiteten Fürsorgemaßnahmen. Der 
Kongreß zerfiel in 4 Sektionen. Die Berichte über die gefaßten Beschlüsse zeigen, 
— wie oft auf internationalen Kongressen — die vielfältige Rücksicht, die auf die 
wissenschaftlich, sozial oder hygienisch rückständigeren Kongreßteilnehmer zu nehmen 
war, wenn überhaupt eme gemeinsame Basis gefunden werden sollte. 

Demzufolge erscheinen in solchen Resolutionen oft Forderungen, die bei einigen 
der Teilnehmer bereits erfüllt und oft schon weit überholt sind, die dagegen bei 
anderen voraussichtlich noch lange ein frommer Wunsch bleiben werden. Gleichwohl 
ist eine Kenntnis solcher internationaler Vereinbarungen nicht uninteressant. Wie das 
schwächste Glied einer Kette den Ausschlag für ihre Gesamtstärke gibt. so dienen 
derartige Vereinbarungen gleichsam als Regel für den niedersten Stand in einem oder 
mehreren der teilnehmenden Länder. Sie zeigen zugleich, welche Fragen als die 
brennendsten angesehen werden. 

Die 4 Sektionen haben sich ersichtlich zum Teil mit den gleichen Materien, 
wenn auch von anderen Gesichtspunkten, befaßt. Dies beweist die Wiederkehr der- 
selben Fragen meist mit demselben oder ähnlichen Endresultat in mehreren Sektionen. 

Die erste von diesen Sektionen (Medizin) befaßte sich mit der Erforschung 
und Bekämpfung der Tuberkulose, der Erblues, der Rachitis, der Krankheiten der 
Atmungsorgane, mit der physio-therapeutischen Ausbildung der Ärzte, der Aufklärung 
der Lehrer, der ärztlichen Beaufsichtigung der gesundheitlichen Kindererziehung. 
Bei der 2. Sektion (Hygiene) wurden vor allem folgende Forderungen erhoben: 
Begründung von medizinisch - pädagogischen Instituten, Schwangerenschutz, ge- 
setzliche Regelung des Mutterschutzes, methodischer praktischer Unterricht in 
Säuglingspflege, Vorbeugung gegen venerische Krankheiten, gegen Abtreibung, an- 
gemessene Förderung der Entbindungsanstalten, der Wochenpflege, Unterricht der 
jungen Mütter in Säuglingspflege, Nachweis von Ammen unter Kontrolle und in Ver- 
bindung mit Entbindungsanstalten, Erlaß staatlicher Vorschriften, die das Recht des 
Kindes auf Muttermilch sichern sollen, Anzeigepflicht für bestimmte Krankheiten, Kon- 





— m — nn 


1) Eine nähere Mitteilung über diese Ausstellung folgt demnächst. 


356 Tagungen. -- Gesetzgebung. 


trolle der Milchbelieferung für Städte, Verbesserung und Förderung des Säuglings- 
wesens, Errichtung von Volkswohlfahrtsministerien, Ausbau der Schulhygiene. An- 
stellung von Schulärzten und Schulpflegerinnen, Einrichtung von Spie!plätzen, Kinder- 
krankenhäusern usw. 

Ebenso reichhaltig ist die Aufzählung der in der 3. Sektion (Sozialfürsorge) be- 
schlossenen Forderungen: verstärkter Schutz der wirtschaftlich und sittlich bedrohten 
Kinder. Vorbeugung und Verhinderung von Verbrechen. Kampf gegen Alkoholismus. 
Ausdehnung des Volksschulunterrichts, Gesetze über Volljährigkeit, über Feststellung 
der Vaterschaft und Zahlungsverpflichtung des Erzeugers (bis zu 18 Monaten nach 
der Entbindung der Mutter, für das Kind bis zur Erwerbsfähigkeit) Errichtung von 
Instituten zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Organisation des Kinderschutzes 
mit Abteilungen in den Landesbezirken, Bereitstellung staatlicher Mittel für Kinder- 
schutz und -erziehung, besonders für den Schutz der unehelichen Kinder, bevölkerungs- 
politische Maßnahmen für Mütter und Säuglinge. Förderung von Heimen aller Art, 
Regelung des Kinobesuchs durch Kinder, der Kinderarbeit, Errichtung von Fortbildungs- 
schulen, Ferienkolonien, Iesesälen, Stärkung der Familie durch die Gesetzgebung, Schutz 
körperlich und geistig anomaler Kinder, Ausbau von Versicherungen. 

Wenn schon die vorhergehenden Sektionen gesetzliche Forderungen enthalten, 
so gilt dies für die letzte ausschließlich, deren Bezaichnung „Gesetzgebung“ schon 
darauf hinweist. Sie befaßte sich vor allem mit Arbeits-, bürgerlichem und Straf- 
recht. Unter ihren Beschlüssen ist zu nennen: 

Gesetzliche Regelung für die Arbeit Minderjähriger, Arbeitsverbot für Kinder 
unter 12 bezw. !4 Jahren (je nach Land) mit Ausnahme der Arbeit in der Land- 
wirtschaft, Zulassung der Nachforschung oder des Beweises über den unehelichen Vater, 
ausgenommen bei unsittlichem Lebenswandel der Mutter, Erbrecht für die Unehelichen 
an der Hinterlassenschaft des Vaters (die Hälfte des Erbteils ehelicher Kinder). 

Einrichtung von Jugendgerichten (besondere Auswahl der Jugendrichter,. nicht- 
öffentliche Sitzungen, einfaches Verfahren, Strafen oder sonstige Maßnahmen nach 
richterlichem Ermessen), Verhinderung kindlicher Verbrechen, Förderung des Spar- 
sinns der ‚Jugend, Übertragung der elterlichen Gewalt an die Mutter bei Tod oder 
Abwesenheit des Vaters, ferner bei moralischer Unfähigkeit des Vaters oder falls der 
Vater bei der Scheidung als schuldig erklärt ist, Regelung der Bestellung von Einzel- 
oder von Amtsvormündern. Dr. K. Mende, Berlin. 


Gesetzgebung. 





Wohlfahrtssehulen, soziale Frauenschulen usw. Erlaß vom 27. Jan. 1925, 
betr. soziale Nachschulungslehrgänge zur Vorbereitung von Wohlfahrtspflegerinnen auf 
die staatliche Prüfung — IH W 1392. IM —. Von beachtenswerter Seite ist wieder- 
holt angeregt worden. für diejenigen Fürsorgerinnen, die wegen der Schwierigkeiten 
der letzten Jahre nicht zur Teilnahme an dem sozialen Nachschulungslehrgang einer 
staatlich anerkannten Wohlfahrtsschule mit nachfolgender staatlicher Prüfung frei- 
gemacht werden konnten, durch nochmalige Veranstaltung von solchen Lehrgängen 
eine letzte Gelegenheit für die Erlangung der staatlichen Anerkennung zu schaffen. 

Unter besonderer Rücksichtnahme auf die schwierigen Verhältnisse, unter denen 
vor allem die ländlichen Fürsorgerinnen in den letzten Jahren arbeiten mußten, bin 


Gesetzgebung. 357 


ich diesem Verlangen nachgekommen und habe veranlaßt, daß einige Wohlfahrtsschulen 
noch einmal die erforderlichen Einrichtungen treffen. 

Da es jedoch geboten ist, zur Fernhaltung ungeeigneter Bewerberinnen von vorn- 
herein unter den Wohlfahrtspflegerinnen eine bestimmte Auswahl zu treffen, wird 
unter Verschärfung der mit Runderlaß vom 4. Januar 1923 — IIG 30 — mit- 
geteilten Zulassungsbedingungen verlangt werden, daß nur solche Fürsorgerinnen zu- 
gelassen werden können, die mindestens fünf Jahre auf einem umfassenden Gebiet 
der Wohlfahrtspflege hauptberuflich tätig gewesen sınd. Es sollen also beispiels- 
weise Gesundheits- und Familienfürsorgerinnen, die nur auf einem Teilgebiet der Ge- 
sundheitsfürsorge (Säuglingspflege, Tuberkulosenfürsorge usw.) gearbeitet haben, aus- 
geschlossen sein. Die Zulassung von Ausnahmen von den verschärften Zulassungs- 
bestimmungen soll grundsätzlich nicht in Frage kommen. 

Die Wohlfahrtsschulen, die mit meiner Genehmigung noch einen Nachschulungs- 
lehrgang veranstalten, werde ich in Sondererlassen bezeichnen. 


Hirtsiefer. 


Thüringische Verordnung über die ärztliche Überwachung der Jugend 
vom 19. März 1925. In Ausführung des § 4 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes vom 
9. Juli 1922 (RGBL. I, S. 633) wird verordnet was folgt: 


§ 1 
Das Jugendamt. soll nach Maßgabe nachstehender Bestimmungen die Jugend 
durch einen Jugendarzt gesundheitlich überwachen lassen. 


§ 2 
Der Jugendarzt muß ein in Deutschland approbierter Arzt sein. Seine Tätigkeit 
umfaßt auch die Zahnuntersuchung, jedoch kann für diesen Zweig der ärztlichen Über- 
wachung ein in Deutschland approbierter Zahnarzt besonders angestellt: werden. 


S 3 
Der Jugendarzt hat in regelmäßigen Abständen, mindestens aber einmal jährlich, 
den Gesundheitszustand der Schüler und Schülerinnen der Volks-, höheren und Berufs- 
schulen sowie der Kinder, die aus einem besonderen Grunde von der Schulpflicht be- 
freit sind, zu untersuchen. 
84 
Der Jugendarzt hat auch den Gesundheitszustand aller in Säuglingsheimen, 
Krippen, Kindergärten, Erziehungsheimen und ähnlichen Anstalten untergebrachten 
Kinder zu überwachen, wenn nicht auf andere Weise eine genügende ärztliche Auf- 
sicht der Anstaltskinder gesichert ist. In Zweifelsfällen entscheidet darüber das 
Jugendamt. 
Die jugendärztliche Überwachung erstreckt sich nicht auf die in staatlichen An- 
stalten untergebrachten Minderjährigen 
$5 
Von der jugendärztlichen Untersuchung befreit sind Schüler und Schülerinnen, 
für die durch ein ärztliches Zeugnis der Nachweis hinreichender ärztlicher Über- 
wachung erbracht ist. In Zweifelsfällen entscheidet das Jugendamt nach Anhörung 
des Kreisarztes. 
$6 
In Gemeinden, die eine öffentlich geleitete Säuglings- und Kleinkinderfürsorge- 
stelle nicht besitzen, ist den Erziehungsberechtigen noch nicht schulpflichtiger Kinder 
Gelegenheit zu geben, die Kınder dem Jugendarzt zur Untersuchung vorzustellen. 


358 Gesetzgebung. 


87 

Der Erzieher (Lehrer, Lehrerin, Kindergärtnerin usw.) soll an der Untersuchung 
teilnehmen und dabei Hilfe leisten. 

Den Erziehungsberechtigten kann gestattet werden, der Untersuchung ihrer 
Kinder beizuwohnen. 

Bei der Untersuchung von Schülerinnen über 12 Jahren dürfen nur weibliche 
Personen zugegen sein. 

88 

Das Untersuchungsergebnis ist in einen Gesundheitsnachweis einzutragen, der für 
Thüringen nach einem einheitlichen Muster eingeführt wird. 

Hinsichtlich der befreiten Kinder ($ 5) haben die Erziehungsberechtigten die er- 
forderlichen ärztlichen Unterlagen für den Gesundheitsnachweis vor der jugendärzt- 
lichen Untersuchung beizubringen. 

$ 9 

Außer in Notfällen darf der Jugendarzt bei Ausübung seiner jugendärztlichen 
Tätigkeit die seiner Überwachung unterliegenden Minderjährigen nicht ärztlich behandeln. 

Soweit auf Grund des Untersuchungsbefundes eine ärztliche oder Heilbehandlung 
erforderlich ist. hat der Jugendarzt dem Schulleiter Mitteilung zu machen, der die 
Erziehungsberechtigten, bei hilfsbedürftigen Minderjährigen auch das Jugendamt be- 
nachrichtigt. 

§ 10 

Das Jugendamt bestellt nach Anhörung des Kreisarztes den Jugendarzt und regelt 
seine Tätigkeit im einzelnen aurch eine Dienstanweisung, für die das Ministerium für 
Inneres und Wirtschaft allgemeine Richtlinien erläßt. 

Der Kreisarzt kann mit Genehmigung seiner vorgesetzten Dienstbehörde jugend- 
ärztliche Tätigkeit übernehmen, soweit nicht dienstliche Gründe entgegenstehen. 


§ 11 

Die Kosten der jugendärztlichen Untersuchungen im Sinne dieser Verordnung 
fallen, soweit sie nicht durch Beiträge der Unterhaltungspflichtigen gedeckt werden, 
den Kreisen zur Last. Die Gemeinden haben dem Jugendarzt im Bedarfsfalle un- 
entgeltlich geeignete Hilfskräfte, Räume und Gerätschaften (Wage, Meßgerät) zu stellen. 
Die Kosten der jugendiärztlichen Untersuchungen nach $ 4 Abs. 1 haben die Anstalten, 
Heime und dgl. selbst zu tragen. 

Kreisen, welche die jugendärztliche Überwachung nach den Vorschriften dieser 
Verordnung durchgeführt haben, können zu den Kosten Zuschüsse aus Staatsmitteln 
gewährt werden. 

s 12 

Die dem Kreisarzt nach dem Kreisarztgesetz vom 21. März 1923 (Ges.-S. S. 209) 
und der Dienstanweisung für Kreisärzte vom 18. Dezember 1923 (Ges. S. 1924, S. 13) 
hinsichtlich der Schulgesundheitspflege zustehenden Rechte und Pflichten bleiben durch 
diese Verordnung unberührt. 

$ 13 

Diese Verordnung tritt am 1. April 1925 in Kraft. Entgegenstehende Be- 
stimmungen sind mit diesem Tage aufgehoben 

Weimar, den 19. März 1925. 

Thüringisches Ministerium für Inneres und Wirtschaft, Abt. Inneres 
Dr. Sattler. 
Nr. 12 der Gesetzsammlung für Thüringen, Jg. 1925. 


Ausbildung. 359 


Ausbildung. 


Fortbildungslehrgang für Lehrer und Lehrerinnen an Blindenanstulten 
vom 3.—10. Juni 1925. Der Lehrgang findet in Berlin statt. Es sind wissenschaft- 
liche Vorträge über die Grundzüge der modernen Gesellschaftslehre, des weiteren 
solche zur Psychologie der Wahrnehmung und der Bewegung unter besonderer Berück- 
sichtigung der Blinden, dann fachwissenschaftliche Besprechungen und endlich Be- 
sichtigungen und Aussprachen vorgesehen. 

Ein Fortbildungslehrgang für Lehrer und Lehrerinnen an Taub- 
stummenanstalten ist für die Zeit vom 30. September bis 7. Oktober d. Mts. ın 
Aussicht genommen. Die Veranstaltungsfolge wird noch bekannt gegeben. 


Sozialbygienische Akademie in Charlottenburg. Ausbildungsstätte für Kreis-, 
Kommunal-, Schul- und Fürsorge- Ärzte, staatlich anerkannt durch Erlaß des Herrn 
Ministers für Volkswohlfahrt vom 9. Oktober 1920. 

Der ungünstige Zustand unserer Volksgesundheit in der Gegenwart und ihre Ge- 
fährdung in der Zukunft erfordert die Ausdehnung aller derjenigen Maßnahmen, welche 
die soziale Hygiene in den günstigen Zeiten vor dem Kriege getroffen und erprobt 
hat. An ihrer Durchführung sind der Staat. die Gemeinden und die Selbstverwaltungs- 
körper der sozialen Versicherung beteiligt. Der Staat beabsichtigt, seine Gesunuheits- 
beamten in viel größerem Umfang als früher in den Dienst der sozialen Hygiene zu 
stellen und dieser Forderung die Bedingungen der Vorbildung und Prüfung und die 
Dienstanweisung anzupassen. Die Gemeinden sichern sich die Mitarbeit von Ärzten 
im Hauptamt für die Verwaltung und für die Gesamtheit oder Teile der Gesundheits- 
fürsorge. Die soziale Versicherung verlangt von den in ihren einzelnen Zweigen 
tätigen Ärzten ein weitergehendes Verständnis und umfassendere Vorbildung für die 
von ihr in Angriff genommenen Aufgaben der Krankheitsvorbeugung und für die Zu- 
sammenhänge von Krankheit und Beruf. Auch die Ärzteschaft hat selbst seit langem 
die Bedeutung dieser Erweiterung ihrer Aufgaben erkannt und ist für Schaffung von 
Ausbildungsmöglichkeiten eingetreten. 

Es handelt sich aber heute nicht mehr bloß darum, den frei praktizierenden 
Arzt in den Gedankengang und die Methoden der sozialen Hygiene durch kurzfristige 
Kurse einzuführen, sondern vielmehr darum, dem hauptamtlichen Verwaltungsmediziner 
eine gründliche Vorbildung zu geben Diesem Zweck sollen die 1920 gegründeten 
Akademien für soziale Hygiene und Medizin dienen. Sie verlangen von dem Hörer 
die Teilnahme an dem gesamten sozialhygienischen Kursus, der durch die Vielseitigkeit 
seiner Aufgaben und ihre zeitliche Zusammendrängung keine geringen Anforderungen 
stellt Die Unterrichtsform soll möglichst seminaristisch gestaltet und durch die 
praktische Arbeit in den verschiedenen Fürsorgestellen ergänzt werden Die unerläß- 
lichen Vorlesungen über die wichtigsten Gebiete sollen, soweit irgend möglich, durch 
Demonstrationen und angeschlossene Besichtigungen den Forderungen der Praxis dienen. 
Die Kurse in gerichtlicher Medizin, pathologischer Anatomie sowie Bakterio- 
logie und Hygiene, welche die preußische Prüfungsordnung für Kreisärzte vom 
24. Juni 1909 unter $ 4 Ziffer 5 den Anwärtern auf die staatliche Prüfung vorschreibt, 
werden in ihrer bisheriger Form dem Lehrgang eingegliedert und durch einige andere 
Kurse ergänzt, deren Teilnahme bisher nur erwünscht, aber nicht vorgeschrieben war. 


360 Ausbiidung. 


Für diejenigen Hörer, welche sich nur für die Tätigkeit in Gemeinden und in der 
Sozialen Versicherung vorbereiten wollen, ist die Teilnahme an diesen Kursen nicht 
verbindlich, aber zu empfehlen. 


Der Nachweis über den regelmäßigen und ungekürzten Besuch 
eines sozialhygienischen Lehrkursus an einer der drei Akademien in 
Berlin-Charlottenburg, Breslau oder Düsseldorf ist nach den neuen 
Bestimmungen vom 9.2. 1921 bei der Meldung zur Kreisarztprüfung 
mit einzureichen. Für die Anstellung von Kommunal- und Fürsorge- 
Ärzten wird durch die ministeriellen Erlasse vom 31. 3. 1921 (IL. M.I. 
Nr. 737) und vom 14. 12. 1921 (I M. I. Nr. 3491) nachdrücklichst darauf hin- 
gewiesen, daß möglichst nur solche Bewerber berücksichtigt werden, 
die sich durch Teilnahme an einem sozialhygienischen Lehrgang di> 
nötigen Vorkenntnisse angeeignet haben. 

In jedem Sommer- und Wintersemester soll ein Vollkursus stattfinden. Der 
Lehrplan der drei Akademien ist in den großen Zügen der gleiche, doch gestattet die 
Lehrfreiheit in Nebenpunkten kleine Unterschiede der Organisation. Gegenwärtig 
dauern die Lehrgänge 3 Monate. Diese zeitliche Beschränkung wurde dadurch er- 
möglicht, daß an die Kurse und Vorlesungen die entsprechende praktische 
Tätigkeit in den Fürsorgestellen und die notwendigen Besichtigungen sozialer und 
hygienischer Einrichtungen angegliedert wurden. Die Einzelheiten der Aus- 
bildung sind aus dem Lehrplan ersichtlich. Die Verteilung der Vorlesungen und 
Kurse (mit Einschluß der Kreisarztsonderkurse) wird so erfolgen. daß sie zeitlich nıcht 
zusammenfallen. Der größere Teil der Vorlesungen wird in den Krankenanstalten 
Charlottenburgs abgehalten werden, außerdem in dem Hygienischen Institut und in 
der Unterrichtsanstalt für Staats-Arzneikunde der Universität Berlin. Für die praktische 
Betätigung sind die entsprechenden Fürsorgeeinrichtungen Groß-Berlins vorgesehen. 
Der Stundenplan, welcher über den Ort und die Zeit der einzelnen Vorlesungen usw. 
genauen Aufschluß geben wird, ist 14 Tage vor Beginn des Kursus durch das Sekre- 
tariat erhältlich. Am Schluß der Ausbildung wird den Hörern, welche an dem Lehr- 
gang regelmäßig teilgenommen haben, eine Bescheinigung ausgestellt. 

Die Zahl der Vollhörer soll auf etwa 30 beschränkt werden \Vorbedingung für 
ihre Zulassung ist der Nachweis, daß die ärztliche Staatsprüfung beendet ist. Außerdem 
können Mediziner auf Antrag als Gasthörer an den einzelnen Vorlesungen des sozial- 
hygienischen Kursus wie auch an den Kreisarztsonderkursen teilnehmen. Da sich die 
sozial-ärztliche Ausbildung nur auf indivıdual-medizinischer Erfahrung aufbauen kann, 
wird empfohlen, den Lehrgang möglichst erst nach einer 2jährigen praktischen Tätig- 
keit zu besuchen. Die Gebühren werden jeweils dem Geldstande entsprechend fest- 
gesetzt. 

Wohnungen werden auf Wunsch, soweit möglich, durch Vermittlung des Wohnungs- 
anıtes Charlottenburg vom Sekretariat der Akademie nachgewiesen. ebenso billige Ver- 
pflegungsstiätten. 

Anmeldungen zur Teilnahme an den Kursen werden wegen der Beschränkung 
der Hörerzahl möglichst bald an das Sekretariat der Akademie, Charlottenburg 9, 
Krankenhaus Westend, Spandauer Berg 15/16 (Telefon Wilhelm 5320), erbeten. Weitere 
Anfragen werden vom Geschäftsführer der Akademie, Professor Dr. Ceelen, Kranken- 
haus Charlottenburg-Westend, erledigt Es wird gebeten, allen Anfragen Rückporto 


beizufügen. 


Ausbildung. 361 


Lehrplan der sozialhygienischen Akademie in Charlottenburg. 
I. Soziale Hygiene. 

1. Grundzüge der sozialen Hygiene mit statistischen Übungen, Ministerialdirektor 
im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt Professor Dr. med. Gottstein. 
14 Stunden. — 2 DBevölkerungspolitik, Professor Dr. med. Grotjahn. 4 Stunden. 
— 3. Vererbung und Eugenik, Professor Dr. med. Poll. 4',, Stunden. — 4. Anthropo- 
metrie (mit Übungen), Stadtrat Professor Dr. med. Oettinger. 6 Stunden. — 
5. Hygienische Volksbelehrung, Dr. med. Mamlock. 4 Stunden. — 6. Grundzüge 
der Stadthygiene (mit Führungen), Stadtrat Professor Dr.med Oettinger. 15 Stunden. 
— 7. Praktischer Kursus der parasitologischen, serologischen und hygienischen Unter- 
suchungsmethioden 'J, Prof. Dr. med. Br. Heymann und Prof. Dr. med. Korff- 
Petersen. 36 Stunden — 8. Demonstration der kriegs- und konstitutionspathol. 
Sammlung der K. W. Ak. Prof. Koch. 6 Stunden. -— 9. Mikroskopische Diagnostik 
an frischen Präparaten, Prof. Ceelen. 24 Stunden. — 10. Gewerbehygiene und 
Berufskunde (mit Besichtigungen), Prof. Dr. med. Chajes. 11 Stunden. — 11. Seuchen- 
lehre (mit Einschluß der gesetzlichen Bestimmungen und organisatorischen Maßnahmen), 
Prof. Dr. med. Seligmann. 12 Stunden. — 12. Ungeziefer und Ungezieferbekämpfnng, 
Prof. Dr. phil. Albrecht Hase. 3 Stunden. — 12. Zur Methodik des chemischen 
Nachweises von forensischen und gewerblichen Vergiftungen, Geh. Med.-Rat Prof Dr. 
med. F.Straßmann.?) 2 Stunden. — 14. Sozialhygienisches Seminar. Prof Dr. med. 
Grotjahn. 20 Stunden. 

II. Soziale Pathologie. 

1. Innere Klinik vom Standpunkt der sozialen Medizin, Prof. Dr. med. Umber 
mit Privatdozent Dr. med. Rosenberg. 12 Stunden. — 2. Akute Infektionskrank- 
heiten. Dirigierender Arzt Dr. med. Werner Schultz. 6 Stunden. — 3. Haut- und Ge- 
schlechtskrankheiten vom Standpunkt der sozialen Medizin, Professor Dr. med. C. Bruhns. 
6 Stunden. — 4. Kinderkrankheiten vom Standpunkt der sozialen Medizin, Prof. Dr. 
med. Langstein. 8 Stunden. — 5. Chirurgie vom Standpunkt der sozialen Medizin. 
Prof Dr. med. A W. Meyer. 4 Stunden. — 6. Geburtshilfe und Frauenkrankheiten 
vom Standpunkt der sozialen Medizin, Prof. Dr med. Schäfer. 6 Stunden. — 
7. Pathologisch-anatomischer Demonstrationskursus mit besonderer Berücksichtigung 
der Tuberkulose, Tumoren und gewerblichen Erkrankungen, Prof. Dr. med. Ceelen. 
20 Stunden. — 8. Sektionskursus mit diagnostischen Übungen *), Prof Dr. med. Ceelen. 
24 Stunden. — 9. Praktischer Kursus der gerichtlichen Medizin*), Geh. Med.-Rat Prof. 
Dr med F. Straßmann 24 Stunden. — 10 Forensische Psychiatrie (unter Berück- 
sichtigung der Rentenbewerbung), Sanitätsrat Dr. med. Bratz oder Med.-Rat Dr. med. 
Stoermer. 16 Stunden 

II. Gesundheitsfürsorge. 

1. Grundzüge der Gesundheitsfürsorge, Ministerialdirektor im Preußischen 
Ministerium für Volkswohlfahrt Prof. Dr. med. Gottstein 4 Std. -— 2. Mutter-, 
Säuglings- und Kleinkinderschutz, Prof Dr. med. Rott. 6 Std. — 3. Schulgesundheits- 


') Kreisarztsonderkursus im hygienischen Institut der Universität Berlin, Dorotheen- 
straße 28a 

2) Kreisarztsonderkursus im Krankenhause Charlottenburg-Westend. 

8) Kreisarztsonderkursus im pathologischen Institut des Krankenhauses Charlotten- 
burg-Westend. 

4) Kreisarztsonderkursus in der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde der 
Universität Berlin, Hannoversche Straße 6. 


36? Ausbildung. 


pflege: a)Schularztwesen u. Schulkrankheiten (mit Berücksichtigung?), Dr. med. Schweers. 
7 Std. b) Die Hygiene des Schulhauses, Prof. Dr. med. Korff-Petersen. 4 Std. 
c) Die Orthopädie in der Schule, Sanitätsrat Dr. med. Taendler. 2 Std. d) das 
Hilfsschulwesen, zusammen mit III,15. — 4. Schulzahnpflege, Zahnarzt Dr. med. 
Konrad Cohn. 2!/, Std. -— 5. Psychologische Berufsberatung, Prof. Dr. phil. Moede. 
6 Std. — 6. Jugendpflege durch Leibesübungen (mit Besichtigungen), Dr. med. Kohl- 
rausch. 6 Std. — 7. Jugendlichenfürsorge (einschließl. Vormundschaftswesen und 
Jugendgerichtsbarkeit, Stadtrat de Roon. 6 Std. — 8. Wohnungswesen und Wohnungs- 
fürsorge (einschließl. Siedlungswesen), Oberregierungsrat Gretzschel, 4 Std. — 
9. Tuberkulosefürsorge'), Prof. Dr. med. Möllers. 8 Std. — 10. Austaltsversorgung 
der Tuberkulösen (mit Besichtigung), Ärztl. Direktor des Waldhauses Charlottenburg 
Dr. med Ulrici. 4 Std. — 11. Fürsorge auf dem Gebiete der Geschlechtskrank- 
heiten und der Prostitution, Prof. Dr. med. C. Bruhns. 2Std. — 12. Blinden- 
fürsorge (mit Besichtigung), Sanitätsrat Dr. med. W. Feilchenfeld. 3Std. — 
13. Taubstummen- und Stottererfürsorge, Dr. Zumsteeg. 2Std — 14. Krüppel- 
fürsorge (mit Besichtigung), Prof. Dr. med. Biesalski. 9 Std. — 15. Fürsorge für 
schwer Erziehbare, Psychopathen und Schwachsinnige mit Einschluß der sozialen 
Pädagogik, Prof. Dr. med. E. Stier. 8Std. — 16. Fürsorge für Geisteskranke (mit 
Besichtigung), Sanitätsrat Dr. med. Bratz. 4 Std. — 17. Gefangenenfürsorge (mit 
Besichtigung, Med.-Rat Dr. med. R. Kasten 2 Std. — 18. Rettungswesen (mit 
Besichtigung), Sanitätsrat Dr. med. Frank. 2 Std. — 19.—20. Soziale Hygiene und 
Krankenhauswesen, Prof. Gottstein. 6 Std. — 21. Technischer Betrieb in Kranken- 
anstalten (mit Besichtigung), Betriebsoberingenieur M. Meyer. 3 Std. — 22. Armen- 
für-orge und Wohlfahrtspflege. Stadtrat de Roon. 4 Std — 23. Apothekenwesen, 
Regierungs- und Geh. Medizinalrat Dr. med. Schlegtendal. 2Std. — 24. Grund- 
regeln der ärztlichen Begutachtung, ÖOber-Reg -Med.-Rat Prof. Dr. med. Lennhoff. 
6 Stunden. 


IV. Soziale Organisations- und Gesetzeskunde. 


1. Einführung in die Verfassung und Verwaltung von Staat und Stadt, Staats- 
minister a. D. Stadtrat P. Hirsch. 9 Std. — 2. a) Die Organisation des städtischen 
Gesundheitsdienstes, Stadtmedizinalrat Geh. Sanitätsrat Dr. med. Rabnow. 2Std. — 
b) Die Organisation des ländlichen Gesundheitsdienstes, Ministerialrat im Preußischen 
Ministerium für Volkswohlfahrt Dr. med. König. 2 Std. — 3. Gewerbeordnung und 
die Grundlagen des sozialen Versicherungswesens und des Arbeiterschutzes, Geh. Sani- 
tätsrat Dr. med. Mugdan. 8 Std. — 4. Gesetzeskunde für Ärzte und Kreisärzte, 
Geh. Obermedizinal- und Ministerialrat im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt 
Dr. med. Krohne. 6 Std. — 5. Ärztliches Organisationswesen, Sanitätsrat Dr. med. 
A. Peyser. 2Std. 


V. Praktische Arbeıt in sämtlichen Fürsorgestellen verbunden 
mit Besichtigungen. 

1 Schulgesundheitspflege. — 2. Säuglings- und Kleinkinderfürsorge. — 3. Tuber- 
kulosefürsorge. — 4. Schwangerenfürsorge. — 5. Alkoholikerfürsorge. — 6. Geschlechts- 
krankenfürsorge. — 7. Jugendamt. — 8. Öberversicherungsamt. 

Fakultative Teilnahme an weiteren Fürsorgesprechstunden nach Vereinbarung. 

!) Die praktische Betätigung wird in den Tuberkulosefürsorgestellen Charlotten- 
burg (Sanitätsrat Dr. med. Becker) und Schöneberg (Stadtmedizinalrat Dr. Gett- 
kant) stattfinden; sie ist unter V eingeordnet. 


Ausbildung. 363 


Etwaige Änderungen des Lehrplans werden in der Einführungsvorlesung zu Be- 
‚ginn des Kursus bekannt gegeben. 


An den sozialhygienischen Akademien in Berlin-Charlottenburg, Breslau und 
Düsseldorf wird der nächste dreimonatige sozialhygienische Lehrgang für Kreis- 
arzt-, Kreiskommunalarzt-, Schul- und Fürsorgearztanwärter von Ende April bis Ende 
Juli d. Js. abgehalten. Da die Teilnehmerzahl beschränkt ist, wird baldigste Anmeldung 
empfohlen. Anfragen an die Sekretariate in Berlin-Charlottenburg, Spandauerberg 15/16: 
Breslau, Maxstr. 4, Düsseldorf, Städtische Krankenanstalten. Bau I. 


Ferienkursus in Genf vom 11.—22. August 1925. Indem es in Genf selbst 
‘einen Ferienkursus einrichtet, hält das Institut J. J. Rousseau eine Tradıtion aufrecht. 
welcher alle Teilnehmer der früheren Kurse das beste Andenken bewahren. Der Kursus 
gilt denjenigen, welche an den seit 13 Jahren am Institut J. J. Rousseau studierten 
Problemen der Psychologie und der Erziehungskunst Interesse finden, ohne daß es 
ihnen möglich ist, ein Jahr einem Aufenthalte in Genf zu widmen. 

Die Vorlesungen finden morgens von 8—10 Uhr statt und werden von 10—11 Uhr 
mit praktischen Übungen und Erläuterungen fortgesetzt. Der Beginn des Nachmittags 
wird für gemeinschaftliche Besuche verschiedener Anstalten, sowie für Einzelübungen 
und Aussprachen vorbehalten. Um 5 Uhr trifft man sich abermals zu einem Vortrage 
‘oder zu einer Aussprache von allgemeinem Interesse. 

Zu gleicher Zeit wie der Ferienkursus des Institut J. J. Rousseau werden in 
Genf der Kursus für französische Sprache an der Universität und die von der ınter- 
nationalen Kinderhilfe eingerichtete „Summer School“ abgehalten. Es ist eiu Überein- 
kommen mit diesen beiden Unternehmen getroffen worden, das den Hörern unserer 
Vorlesungen gestattet, an den von den anderen Kursen organisierten Unterrichtsstunden 
Abendunterhaltungen und Ausflügen teilzunehmen. So ist Fremden die Gelegenheit 
geboten, sich im Französischen zu vervollkommnen, Studenten französischer Sprache, 
Englisch zu treiben, dem Liebhaber dafür sich ins Esperanto einzuweihen, und doch 
jedem dabei den wichtigsten Teil der Zeit der Psychologie des Kindes und den 
Fragen der Erziehungskunst zu widmen. 

Anschließend an den Ferienkurs wird vom 24.—28. August der Erste allgemeine 
Kinderwohlfahrts-Kongreß stattfinden. 


Programm: 
Experimentelle Psychologie. 
M. Ed. Claparede, Prof. an der Universität Genf. Die Messung in der Psycho- 
logie. Messung der geistigen Funktionen. Die Intelligenzprüfungen. Psychologische 
Profile. Praktische Übungen. Gesammelte Erfahrungen. 2 Stunden mit Übungen. 
‘Genetische Psychologie und funktionelle Erziehung. 
M. Claparède Die geistige Entwicklung vom Tier zum Kind und vom Kind 
zum Erwachsenen. Erwachen der Intelligenz und des Willens. Die Bedeutung 
der Kindheit. Psychologie des Spieles. Die Triebfedern der geistigen Tätigkeit 
und die funktionelle Erziehung — 5 Stunden. 
Psychologie des Kindes. 
M. Jean Piaget, Leiter der Arbeiten des Institutes J. J. Rousseau. Die Über- 
legung und Urteilskraft beim Kinde. Die Beziehungen zwischen der geistigen und 
sozialen Entwicklung des Kindes. Die Entwicklung der logischen Beziehungen — 
5 Stunden. 
Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Band. 24 


364 Ausbildung. — Heilpädagogische Bestrebungen. 


Die Jugend. 
M. Pierre Bovet, Direktor des Institutes J. J. Rousseau. Entwicklung und Krisen. 
Persönliche und soziale Werte. Gemütsentfaltung — 2 Stunden. 

Erzieherische Psychanalyse. 
M. Dr. Raymond de Saussure Die psvchanalytischen Lehrer (Freud, Jung, 
Adler). Die psychanalytische Methode (ihre Unsicherheit, therapeutischer und 
wissenschaftlicher Wert). Die Kontrolle der Psychanalyse durch die vergleichende 
und experimentelle Psychologie. Die Nutzbarmachung der Psychanalyse für die 
Pädagogik (therapeutische Anweisungen). Die psychopathischen Störungen der 
Jugend vom (Gesichtspunkt der Psychanalyse — 5 Stunden. 

Psychologie und Erziehung der Aunomalen. 
Mlle. A. Descoeudres. Die Leitsätze der Sondererziehung. Erziehung der Sınne. 
Sprache — 2 Stunden. 

Moralische und soziale Erziehung. 
Mlle. Descoeudres. Was die Kinder über Reichtum, Krieg, Enthaltsamkeit und 
Familie denken — 2 Stunden. 

Moralische Erziehung. 
M. Bovet. Die psychologischen Grundlagen der moralischen Erziehung. Be- 
wunderung. Wetteifer. Sanktionen. Die Grundlagen der aktiven Schule und der 
moralischen Erziehung — 2 Stunden. 

Psychologie und Erziehung. 
M. Claparède. Psychologische Versuche als Mittel, die Kinder Selbsterkenntnis 
zu lehren. 

Die erzieherische Autosuggestion. 
M. Ch. Baudouin, Prof. am Institut J. J. Rousseau — 2 Stunden und eine Aus- 
sprache. 

Die Erziehung der Kleinen. 
Besuch im Haus der Kleinen. 

Berufskunde in der Schule, 
M. Walther. Die Kenntnis der Handwerke: Sachkunde, Untersuchungen, Besuche. 
Der Fragebogen in der Schule; wie man ihn richtig ausfüllt Die aktive Schule 
und Handfertigkeit. 

Diskussionsthemata. 
Ein Nachmittag wird für Aussprachen und eventuelle Mitteilungen der Kurs- 
teilnehmer reserviert werden. 

Einschreibegebühr: 50 Fr. 
Auskunft erteilt das Institut J. J. Rousseau, 4. Rue Ch. Bonnet, (renf (Schweiz). 


Heilpädagogische Bestrebungen. 





Die Anstalt für Seelen- und Erziehungswissenschaft in Reichenberg 
(Deutseh-Böbmen.) Das junge Reichenberger Institut ist vom deutschen Lehrerbund 
im tschechisch-slowakischen Staate begründet worden. Es hat eine doppelte Aufgabe- 
eistens soll es der wissenschaftlichen Fortbildung der Lehrerschaft dienen; zweitens 
sollen selbständige wissenschaftliche Arbeiten durchgeführt werden. Den sehr be- 


Heilpädagogische Bestrebungen. — Verschiedenes. 365 


scheidenen Anfangsmitteln entsprechend konnten lediglich nebenberufliche Leiter be- 
stellt werden (Abteilung für Psychologie: Prof. A. Heiß; Abteilung für Erziehungs- 
wissenschaft: Dr. R. Lochner). Für experimentell-psychologische Versuche wurde 
eine Anzahl von Apparaten angekauft; eine kleine Handbücherei, in der die wichtigsten 
psychologischen und pädagogischen Zeitschriften aufliegen, ist hauptsächlicher Arbeits- 
behelf. Die Anstalt leidet bisher unter dem Umstand, daß sich zu wenig Mitarbeiter 
an Ort und Stelle, besonders vorläufig für die Praktika, melden. Die Tätigkeit der 
beiden Leiter erstreckt sich auf einführende Vorlesungen, Anregung der Hörer zu ein- 
fachen psychologischen Schulversuchen und auswärtige Vorträge sowie Kurse. Die 
erste größere Arbeit, zu der die Vorversuche bereits abgeschlossen sind, betrifft eine 
Erhebung über die Interessen der Schüler an den Unterrichtsfächern. Es wird dies 
eine der größten Erhebungen sein, die überhaupt durchgeführt wurden; sie soll sich 
auf 8—10000 Kinder erstrecken. Die Methodik dieser Erhebung ist ähnlich wie bei 
G. Lunk. 


Der Zeitschrift „IInformateur des Alienistes et des Neurologistes“‘ Jahrg. XIX, 
Nr. 9, S. 221 entnehmen wir, daß in Rosario (Republik Argentinien) unter der Auf- 
sicht der medizinischen Fakultät eine Schule für zurückgebliebene Kinder eröffnet 
worden ist. 


Der Zeitschrift „L’Informateur des Alienistes et des Neurologistes“ Jahrg. XIX, 
Nr.9, S 224 entnehmen wir die Gründung einer orthopsychiatrischen Gesellschaft 
in den Vereinigten Staaten. 

Die Gesellschaft hat den Zweck, die jugendliche Kriminalität vom psychologischen 
Gesichtspunkte zu studieren. Als aktive Mitglieder werden nur Psychiater zugelassen, 
die sich mit dem Studium und der Behandlung geistiger Störungen beschäftigt haben. 


A — 


Verschiedenes. 





Die Zusammenarbeit der Fürsorgeerziehungsbehörde mit den Vormund- 
sehaftsrichtern, den Strafvollzugsbehörden und den Jugendämtern bildete den 
Gegenstand einer vom Landeshauptmann der Rheinprovinz einberufenen Konferenz, 
die in der Rheinischen Provinzial-Fürsorgeerziehungsanstalt zu Euskirchen unter der 
Leitung von Landesrat Dr. Vossen, Düsseldorf stattfand. 

Die beiden Hauptreferate galten den „Neuerungen auf dem Gebiete der Fürsorge- 
erziehung“ (Referent: Landesrat Dr. Saarbourg, Düsseldorf) und dem „Strafvollzug 
an Fürsorgezöglingen* (Referent: Landesrat Wingender, Düsseldorf). Der erste 
Referent sprach sich gegen die Anordnung der Fürsorgeerziehung durch Jugend- 
gerichtsurteil aus, weil ein solches die Fürsorgeerziehung in den Augen der Nächst- 
beteiligten zu einer Krıminalstrafe stempele, anstatt sie als Erziehungsmaßregel er- 
scheinen zu lassen. Er begrüßte die Beseitigung alles Polizeimäßigen bei der Durch- 
führung der Fürsorgeerziehung und kennzeichnete die Schaffung von Vorasylen zur 
Unterbringung vorübergehend festzuhaltender Jugendlicher als besonders dringliche 
Aufgabe. Als Ergänzung der Anstaltserziehung müsse eine Besserung des Elternhauses 
durch Heimfürsorger und Jugendämter angestrebt werden. Um den entlassenen Zög- 

24° 


366 Verschiedenes. 


ling vor Rückfällen zu schützen, müsse er möglichst zum Anschluß an einen guten 
Verein veranlaßt werden. — Landesrat Wıngender will den bereits vorbestraften 
Zögling vor dem Gefängnis bewahrt wissen, solange noch Aussicht auf Erfolg der 
Fürsorgeerziehung besteht. Anstatt kurze Freiheitsstrafen zu vollstrecken, solle man 
mehrere Strafen durch Aussetzung zusammenkommen lassen und sie bei Erfolglosig- 
keit oder Beendigung der Fürsorgeerziehung hintereinander vollziehen. Beim Straf- 
vollzug müsse der Erziehungsgedanke eine größere Rolle spielen als bisher. Aus päd- 
agogischen Gründen verlangte Referent strengste Trennung der Jugendlichen von den 
Erwachsenen in Polizei- und Untersuchungshaft und die Unterbringung aller Jugend- 
lichen in besonders eingerichteten Jugendgefängnissen. 


Ein Vortragszyklus „Zur Strafgesetzreform‘“ wird anläßlich der Veröffent- 
lichung des amtlichen Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches vom 
Berliner Institut für Sexualwissenschaft, Abteilung für Sexualreform (Wissen- 
schaftlich-humanitäres Komitee) veranstaltet. Vorgesehen sind folgende Vorträge. 
Mittwoch, den 18. März 1925: Geh. Justizrat Prof. Dr. Mittermaier, Gießen ,„Straf- 
rechtsreform auf dem Gebiete der Sexualdelikte“: Mittwoch, den 8. April 1925: 
Justizrat Dr. Werthauer, Berlin „Zur Eherechtsreform“ und Dr. med. et phil. 
A. Kronfeld, Berlin „Die ärztliche Sachverständigentätigkeit vor Gericht; Mittwoch, 
den 22. April 1925: Sanitätsrat Dr. O. Juliusburger, Berlin „Die strafrechtliche 
Verantwortung in individueller und sozialer Hinsicht“ und Prof. Dr. Dührssen, 
Berlin „Die Reform der §§ 218 und 219 St. G. B. und die Einschränkung des krimi- 
nellen Aborts durch den Neomalthusianismus. (Unter Berücksichtigung der Strafgesetz- 
entwürfe von 1919 und 1925.)“; Mittwoch, den 13. Mai 1925: Dr. Max Alsberg. 
Berlin „Rechtspsychologische und gesetzestechnische Mängel des Sexualstrafrechts im 
Entwurfe zu einem neuen Strafgesetzbuch“; Mittwoch, den 17. Juni 1925: Dr. jur. 
Kurt Hiller, Berlin „Das Recht über sich selbst“; Mittwoch, den 1. Juli 1925 
Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld, Berlin „Die Bestrafung sexueller Trieb- 
abweichungen“ und Kriminalinspektor a. D. H. v. Tresckow „Erpressungen auf 
sexueller Grundlage“. Die Vorträge finden im Ernst-Haeckel-Saal des Instituts für 
Sexualwissenschaft, Berlin NW 40, In den Zelten 9a, statt. Beginn pünktlich 8 Uhr 
abends. 











Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyor & Mann) in Langensalza. 


Antorenverzeichnis. 





Bechtold, Eduard. Über das unmittel- 
bare Behalten bei blinden und sehenden 
Schulkindern. S. 161. 


Bottermann. Zu den Preußischen Aus- 
führungsbestimmungen zum Grundschul- 
gesetz. S. 351. 

Francke, Herbert. Soziale und politische 
Einstellung in der Jugendwohlfahrt. S. 190. 

Gregor, Adalbert. Psychologie und 
Sozialpädagogik schwer erziehbarer Für- 
sorgezöglinge. S. 315. 

Gumpert, Martin. Die erworbenen Ge- 
schlechtskrankheiten der Kinder, ihre 
Ursachen und ihre Bekämpfung. S. 103. 

Heller, Theodor. Über motorische Rück- 
ständigkeiten bei Kindern. S. 1. 

Homburger, August. Die seelische 
Differenziertheit als heilpädagogische 
Frage und Aufgabe. S. 11. 

Isserlin, Max. Zur Psychoanalyse. S.265. 

Kuenburg, M. Gräfin von. Über 
methodische Untersuchung angeborerer 
und erworbener psychischer Defekte im 
Hinblick auf den Hilfsschulbogen. S. 77. 

Lindworsky, J. Die Psychoanalyse vom 
Standpunkt der Psychologie. S. 229. 

Lückerath. Die Erziehung männlicher 
Psychopathen in den Anstalten. SN. 23. 

Malisch, K. Wie kommen die taub- 


| stummen Schüler zum geläufigen Lesen 


; und richtigen Schreiben? S. 84. 

Nohl, Hilde. Ziele und Wege des Schul- 
kindergartens. S. 172. 

Oseretzky, N.J. Eine metrische Stufen- 
leiter zur Untersuchung der motorischen 
Begabung bei Kindern. S. 300. 

Rehm, Otto. Psychiatrische Unter- 
suchungen an Fürsorgezöglingen. S. 35. 

Rehm, Otto. Jugendliche Kotspieler. 
S. 275. 

Rothe, Karl Cornelius. Die Fürsorge 
der Schule für sprachgestörte Kinder. 
S. 145. 

Schilder, Paul. Die Grundgedanken der 
Psychoanalyse. S. 203. 

Seelig, P. Über den Bau von Anstalten 
für psychopathische Fürsorgezöglinge. 
S 180. 

Simonic, Anton. Der Umfang des Be- 
achtens bei einem Schwachbefähigten. 
S. 282. 

Stier, Ewald. Das Einschmutzen der 
Kinder und seine Beziehungen zum Ein- 
nässen. S. 125. 

Wexberg, Erwin. Alfred Adlers Indi- 
vidualpsychologie und seine Bedeutung 
für die Kinderforschung. S. 239. 

Würtz, Hans. Die Idee der krüppel- 
pädagogischen Bewegung. S. 92. 


ZEITSCHRIFT FÜR 
KINDERFORSCHUNG 


BEGRÜNDET VONJ. TRÜPER 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR HEILPAEDAGOGIK E. V. 
UND DES DEUTSCHEN VEREINS ZUR FÜRSORGE 
FÜR JUGENDLICHE PSYCHOPATHEN 


UNTER MITWIRKUNG VON 


G. ANTON-HALLE, A. GREGOR-FLEHINGEN !. B, TH. HELLER- 
WIEN-GRINZING, E. MARTINAK-GRAZ, H. NOHL-GÖTTINGEN 
F. WE IGL- AMBERG 


HERAUSGEGEBEN VON 


F. KRAMER, RUTH V. DER LEYEN, R. HIRSCHFELD, 
BERLIN BERLIN BERLIN 
M. ISSERLIN, GRÄFIN KUENBURG, R. EGENBERGER, 
MÜNCHEN MÜNCHEN MÜNCHEN 
REFERATE 
30. BAND 





BERLIN 


VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1925 


Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig 


Inhaltsverzeichnis. 


Normale Anatomie und Physiologie. 1. 81. 177. 
Biologie, Konstitution, Rasse, Vererbung. 4. 82. 178. 209. 
Psychologie. 

Allgemeine und spezielle Psychologie. — Methodisches. 14. 96. 185. 212. 

Angewandte Psychologie. 24. 117. 187. 218. 

Genetische und vergleichende Psychologie. 27. 120. 189. 220. 
Psychopathologie und Psychiatrie. 123. 221. 

Geistige Defektzustände. 33. 125. 190. 222. 

Psychopathie, Verwahrlosung. 35. 130. 192. 

Psychosen. 134. 


Krankheiten des Kindesalters (einschl. allgemeine Pathologie und 


Therapie). 38. 135. 193. 
Normale Pädagogik. 149. 195. 223. 
Heilpädagogik und Anomalen-Fürsorge. 50. 200. 


Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien. 5/. 155. 


227. 
Sinnendefekte, Sprachstörungen. 52. 158. 202. 231. 
Krüppel. 59. 


Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung. 
Allgemeines. 60. 160. 204. 235. 
Säuglings- und Kleinkinderfürsorge. 66. 167. 205. 
Schulkinderfürsorge. 169. 
Berufsberatung. 67. 170. 


Unehelichenfürsorge. 69. 205. 
Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches. 71. 171. 206. 238. 


Fürsorgeerziehung. 73. 174. 
Gefängniswesen. 207. 


Gesetzgebung. 74. 

Ärzte, Erzieher, Fürsorger, Ausbildungsfragen. 76. 174. 
Allgemeines. 175. 208. 

Tagesnotizen. 80. 

Autorenregister. 241. 

Sachregister. 249. & 


201. 


Referatenteil der Zeitschrift für Kinderforschung. 


30. Bd., H. 1 S. 1—80 


Normale Anatomie und Physiologie: 


@ Feuchtwanger, Erieh: Die Funktionen des Stirnhirns, ihre Pathologie und 
Psyehologie. (Monogr. a. d. Gesamtgeb. d. Neurol. u. Psychiatrie. Hrsg. v. O. Foerster 
und K. Wilmanns. H. 38.) Berlin: Julius Springer 1923. IV, 194 S. G.-M. 12.— 

Die Stirnhirnfrage ist für die menschliche Seelenkunde, aber auch für die Krank- 
heitslehre, das Schwierigste und Dunkelste, und doch betrifft sie die wesentlichste und 
innerste Frage nach der Persönlichkeit. Es war daher besonders zu begrüßen, daß 
ein wohlunterrichteter Fachmann diesen ganzen Fragenkomplex klinisch-anatomisch 
und psychologisch gründlich in Angriff nahm. Er war ausgerüstet mit den Erfahrungen 
am Krankenbette, mit einem ungewöhnlich großen Krankenmaterial, aber auch durch 
gründliche Kenntnis der bisherigen Forschungen. Da das menschliche Stirnhirn außer 
den komplizierten körperlichen Funktionen auch gleichzeitig den höheren, kaum noch 
zu formulierenden seelischen Funktionen dient, so mußte sich der Autor gewissermaßen 
eine neue Fragestellung, eine neue Psychologie schaffen. Es war daher unvermeidlich, 
daß er auch Funktionskomplexe mit vorläufigen Linien und Namen umschrieb, so daß 
dem forschenden Leser zunächst die Bezeichnungen begegnen, die er vielleicht mit 
veränderten Namen hier wiederfindet, z.B. ‚„inhaltlich-gegenständliche Erlebnis- 
anteile, gefühlsmäßige Erlebnisanteile, tätigkeitsmäßige Erlebnisanteile, niedere und 
höhere Willensfunktionen, Spontaneitätsfunktionen“. Die Erläuterungen sind jedoch 
belebt durch so viele konkrete Krankheitsbilder, so daß die Gefahr vermieden wird, 
daß das Ganze sich verirrt in die Schulsprache einzelner Psychologen und nicht im 
Nebelheim des Abstrakten sich verliert. Dem Leser bleibt es vorbehalten, seine selbst- 
erworbenen Begriffe von seelischen Funktionen wiederzufinden in der lehrhaften 
Schilderung der stirnhirnkranken Menschen. Der Autor selbst führt schließlich den 
Leser zurück direkt in die Beziehung des Stirnhirnes zu den übrigen Gehirnteilen, also 
zur Gesamtfunktion des Gehirnes. Er schildert auch gewissenhaft die Ergebnisse des 
Baues der Stirnhirnrinde und der Stirnhirnbahnen, er betont auch die Wichtigkeit 
der Tatsache, daß das Stirnhirn eine Zentralstation für das Kleinhirn und für das 
wichtige Sinnesorgan, der bogenförmigen Kanäle, darstellt. Bei keinem Hirnteile 
tritt auch der Unterschied gegenüber der Tierwelt dermaßen in Vordergrund, denn 
es ist kein Zweifel, daß das menschliche Stirnhirn nicht nur in der Tierreihe ein spät- 
gewordener Gehirnteil ist, sondern daß es auch ein entwicklungsfähiger und wechsel- 
voller Bestandteil des Gehirnes ist, welcher noch selbst die Kulturvarianten erkennen 
läßt. Demgemäß ist es auch erklärlich, daß in gewissem Sinne neue psychologische 
Fragestellungen sich aufwerfen. Hier kommt zur Sprache eine genauere Fassung 
dessen, was wir Intellekt nennen, ebenso das Temperament der Charaktere, die Per- 
sönlichkeit, auch die soziale Einordnung des Individuums. Schon die Lebensarbeit 
von Bianchi kam zu dem Resultat, daß die stirnhirnberaubten Tiere (Affen) sich 
vorwiegend in ihrem sozialen Gebaren unterscheiden. Die Ergebnisse von Meynert, 
daß durch das Stirnhirn der aufrechte Gang gewährleistet wird mit allen Folgen für 
die Körperlichkeit, z. B. Freiwerden der Hände vom Ganggeschäfte, Umbildung von 
Rumpf und Becken, Freiwerden von der Geruchsquelle, neue Orientierung im Welt- 
bild findet am Schlußteil seine Bestätigung. Außerdem auch erschließt der Autor 
aus seinen zahlreichen Krankengeschichten, daß zum normalen individuellen Funk- 
tionieren der richtigen Gefühlsregulierung und der daraus folgenden aktuellen Triebe 
und Tätigkeit ein Intaktsein des Stirnhirns nötig ist. Auch die Zuordnung der Auf- 
merksamkeit zu den Stirnhirnleistungen, welche Hitzig und Ferrier vertreten, wird 
auf Grund der Krankengeschichten vom Autor angenommen. Es ist darunter ver- 


standen das Vermögen der aktiven Aufmerksamkeit. Eine räumliche Lokalisierung 


Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ref. l 


— 2 —_ 


von Gefühl und Wille im Stirnhirn lehnt der Autor ab. Wir sehen, daß es sehr kompli- 
zierte Fragen des Gehirnlebens und Seelenlebens sind, welche der Autor hier mit un- 
gewöhnlicher Gründlichkeit angegangen hat. Die Forscher und Pädagogen, welche 
sich mit der krankhaften Persönlichkeit und deren Ursache zu beschäftigen haben, 
werden in dem Buche reichlichen Aufschluß und Antrieb zum Nachdenken erfahren. 
Wir dürfen dabei stets im Auge behalten, daß diese Distinktion des menschlichen Ge- 
hirnes, das Stirnhirn, vielfach Entwicklungsstörungen und spätere Erkrankungen 
erfährt und daß gerade vor diesen Problemen die Heilpädagogik in ihren praktischen 
Aufgaben steht. Wir kommen beim Studium dieses Werkes zu den grundlegenden 
Tatsachen, welche allen den abwegigen Lebensäußerungen und den krankhaften Per- 
sönlichkeiten vielfach zugrunde liegt. Demgemäß muß das Werk als willkommenes 
Arbeitsgeschenk bewertet werden sowohl für den Psychiater auch für den Nerven- 
kliniker und den modernen Heilpädagogen. Anton (Halle). 

Seammon, Richard E., and Halbert Dunn: On the growth of the human cerebellum 
in early liefe. . (Über das Wachstum des menschlichen Kleinhirns im fötalen und post- 
fötalen Leben.) (Dep. of anat., unw. of Minnesota, Minneapolis.) Proc. of the soc. f. 
exp. biol. a. med. Bd. 21, Nr. 4, S. 217—221. 1924. 


Berechnungen und Vergleiche der absoluten und relativen Volumenzunahme des Klein- 
hirns zeigen, daß das absolute Volumen in den ersten Monaten des fötalen Lebens langsam 
und am Ende schneller ansteigt. Die Zunahme in diesen 10 Monaten beträgt 8,22 ccm. Bis 
zum 13. postnatalen Monat nimmt das Volumen bis auf 2,52 g ab. Berechnet man die Prozent- 
verhältnisse dadurch, daß man die absolute Zunahme in jedem Monat dividiert durch den 
Wert zu Beginn dieses Monats und mit 100 multipliziert, so erhält man eine stetige Abnahme 
von 162,5%, am 6. pränatalen Monat bis auf 3,34%, im 12. Monat des ersten Lebensjahres. 
Die Wachstumszunahme des Kleinhirns in den ersten pränatalen Monaten weist darauf hin, 
daß keine extrauterinen Faktoren dieses Wachstum beeinflussen, wie z. B. stärkere Muskel- 
bewegungen; denn die übrigen Teile des Organismus nehmen zu dieser Zeit ebenso am Wachs- 
tum teil. W. Brandt (Freiburg i. B.).°° 


Ryhiner, Peter: Über das Verhalten der Stirnfontanelle im ersten Lebensjahr. 
Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 105, 3. Folge: Bd. 55, S. 335—340. 1924. 

Verf. hat Messungen der Stirnfontanelle an 100 Kindern, darunter 43 normalen 
und 57 rachitischen, während des ersten Lebensjahres fortlaufend vorgenommen 
und dabei folgende Ergebnisse gehabt: Bei den normalen schließt sich die Fontanelle 
nicht zeitlich gleichmäßig schnell, aber doch fortschreitend, ohne Stillstand, und ıst 
um den 12. bis 14. Monat geschlossen, während bei den Rachitikern in den leichten 
Fällen ein Stehenbleiben, in den schweren Fällen ein deutliches Größerwerden der 
Fontanelle zu beobachten ist. Es gibt Fälle, in denen sich die Rachitis fast ausschließ- 
lich in dem verlangsamten Fontanellenschluß manifestiert. Villinger (Tübingen). 

Ledé, Fernand: Essai sur la première dentition. (Über das erste Zahnen.) Bull. 
de l’acad. de med. Bd. 91, Nr. 5, S. 132—137. 1924. 

Verf. bringt, fußend auf einem Material von 2261 Kindern, die Entwicklung der 
l. Zahnung in engen Zusammenhang mit der Ernährung. Die Zahnung beginnt am 
frühesten bei Brustkindern, wenn ihnen allein die mütterliche Nahrung gereicht wird 
(durchschnittlicher Beginn: 7 Monate 15 Tage), sie verzögert sich um durchschnittlich 
20 Tage, wenn die Mutter neben ihrem Kinde noch ein fremdes Kind stillt (ein in Frank- 
reich häufiges Vorkommnis, da Kinder wohlhabender Familien oft zu stillenden Frauen 
aufs Land zur Mitstillung gegeben werden). Bei künstlicher Ernährung bricht der 
l. Zahn durchschnittlich erst nach 9 Monaten 24 Tagen durch. Verf. fügt hinzu, daß 
außer der Ernährung noch andere Umstände (Ruhe oder Arbeit in der Schwangerschaft, 
Geburtenfolge, Geburtsgewicht und Dauer der Schwangerschaft, die Art der Entbindung) 
von Einfluß sind, ohne diese letzten Behauptungen mit Material zu belegen. Tugendreich. 

Tournay, Auguste: L’asymötrie dans le développement sensitivo-moteur de l’enfant. 
(Asymmetrie in der senso-motorischen Entwicklung beim Kinde.) Journ. de psychol. 
norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 135—144. 1924. 

Der Unterschied der Entwicklung zwischen beiden Körperhälften in ihrem senso- 


Er P s 


motorischen Funktionsbereiche wird in Beziehung gebracht zu der Entwicklungszeit 
dieser Funktionen in der rechten und linken Seite beim Säugling und zwar in Ab- 
hängigkeit von der anatomisch-physiologischen Ausgestaltung des Zentralnervensystems. 
Tournay beobachtete einen weiblichen, völlig normalen Säugling, bei dem sich bis 
zum Ende des 4. Monats keine Differenz in den Bewegungen zeigte, die bis dahin un- 
regelmäßig, ungeordnet, von choreatisch-athetotischem Typus waren. Am 115. Lebens- 
tage trat insofern eine Änderung ein, als das Kind nunmehr seine rechte Hand in 
einer gewissen Entfernung vor die Augen führte, sie mit sichtlichem Interesse betrach- 
tete und dabei die Finger bewegte. Die linke Hand blieb unbeweglich und weckte auch 
dann keine Aufmerksamkeit, wenn sie vom Beobachter dem Kind vors Auge gebracht 
wurde. Beim Saugen wurde nur die rechte Hand an die Mutterbrust gedrückt. Es 
dauerte bis zum 141. Tage, bis das Kind auch seiner linken Hand Aufmerksamkeit 
schenkte. Dabei war bis zum 180. Lebenstage das Babinskische Zeichen (Streckung 
der Großzehe beim Bestreichen der Fußsohle) als Ausdruck noch nicht vollendeter 
Funktionstüchtigkeit der zur motorischen Region gehörigen Teile des Zentralnerven- 
systems (Pyramidensystem) beiderseits vorhanden. Am 181. Tage verschwand das 
Babinskische Zeichen am rechten, am 192. Tage am linken Fuß. Was die frühzeitige 
Aufmerksamkeitszuwendung auf die rechte Hand betrifft, so konnte eine Asymmetrie 
der Sehfunktion (z. B. Gesichtsfeld) und des sensiblen Apparates ausgeschlossen werden. 
(Eine einseitige Zuordnung der „Aufmerksamkeit“ nach rechts oder links ist psycho- 
logisch natürlich unhaltbar.) — Zur Erklärung zieht T. eine Theorie von Wilson 
und Mazel heran, nach der die Rechtshändigkeit (mithin auch der zeitliche Vorsprung 
der rechten Seite) auf die Funktion der ‚Geste‘, nicht der motorischen Leistung im 
allgemeinen Sinne zu beziehen ist, wofür auch im gegenwärtigen Falle die zeitliche 
Spanne zwischen der Entwicklung der Handbeachtung und dem Schwinden des Babinski- 
Reflexes (Markreifung der motorischen Region) sprechen kann. (Es darf vielleicht 
in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung verwiesen werden, die A. Homburger 
neuerdings vornimmt zwischen ‚„Ortsbewegung‘ und „Leistungsmotorik“ einerseits 
und ‚Ausdrucksmotorik“ andererseits, welch letztere in Zusammenhang mit dem 
Zwischenhirn gebracht wird. Zur ‚„Ausdrucksmotorik‘“ gehört auch die ‚Geste‘.) 
E. Feuchtwanger (München). 

Ritter, C.: Über das Verhältnis von Extremitätenbeugern zu Streekern beim Neu- 
geborenen unter Berücksichtigung seiner Haltung. (Kinderklin. u. topogr.-anat. Abt., 
Unw. Köln.) Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 104, 3. Folge: Bd. 54, H. 5, S. 293—300. 1924. 

Verf. findet nach seinen Messungen der Maße der einzelnen Extremitätenmuskeln, 
daß beim Säugling ebenso wie beim Erwachsenen die Strecker überwiegen. Die Beuge- 
haltung des Neugeborenen ist darum auf nerwöse Einflüsse, vermutlich die Reflex- 
beziehungen zwischen Kopf-, Rumpi und Extremitätenhaltung zurückzuführen. 

E. A. Spiegel (Wien)., 

Rogge, Christian: Der wirkliche Wert der Lautphysiologie für die Sprach wissen- 
sehalt und Medizin. Zur Verständigung zwischen Spraehwissenschaft und Medizin. 
Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 55, H.5, 8. 307—319. 1924. 

Die physiologische Auffassung des Lautwandels, die auf Brücke, Merkel und 
Scherer zurückgeht, erklärt die Verdrängung eines Lautes durch einen anderen 
auf Grund der Darwinschen These, daß der stärkere Laut den schwächeren ver- 
dränge oder zu sich herüberzieht. Es trete der neue Laut, ohne daß der Sprecher es 
weiß, auf, und zwar meist durch eine geringe Veränderung der Stellung der Artikulations- 
organe. Der Autor weist demgegenüber vor allem darauf hin, daß die Beweise für die 
kleinen Stadien des Überganges vom Alten zum Neuen fehlen. Er ist Anhänger einer 
psychologischen Erklärung des Lautwandels. Der Russe sagt statt Theologie Feologie 
nach Rogge, weil er an Ph(F)ilosophie gedacht hat. Lingua entsteht aus Dingua, 
weil der Sprecher lingere (lecken) i im Sinne hatte, Guten Nabend kommt von gute Nacht 
und nicht von dem ‚n“ in guten. Daher gibt es auch keine Übergangsformen, wie 

]* 


un fe e 


H. Paul meint, weil die Neubildung mit einem Schlage nach dem Muster des irgendwie 
verwandten Wortes erfolgt. Jungfer ist nicht über Jungfre und Jungfr aus Jungfrau. 
sondern plötzlich nach Junker gebildet worden. Physiologisch erklärte der Autor 
den psychologisch veranlaßten Lautwandel durch Übertragung der Muskelbewegungen 
von dem einen Wort auf das andere. (Warum berücksichtigt er nicht auch die nicht 
kinästhetischen Sinnestypen? Anm. d. Ref.) Auch der Akzent wird psychologisch 
beeinflußt und wandert unter diesem Einfluß; z. B. geht er in ‚lebendig‘ von der 
l. auf die 2. Silbe unter der Wirkung von ‚„leibhaftig‘‘, Verkauf statt Verkauf ist auf 
Einkauf zurückzuführen. Vokal- und Konsonantenwandel sind auf analoge Quellen 
zu beziehen (gescheut nach klug, night nach light; Knappe aus Knabe nach Ritter, 
Rappen aus Raben nach Ritter). (In W u ndts Völkerpsychologie ist die psychologische 
Theorie, wenn auch als eine unter zahlreichen anderen unter dem Titel ‚,Begriffliche 
Angleichungen“ bereits ausführlich besprochen. Anm. d. Ref.) Fröschels (Wien)., 


Biologie, Konstitution, Rasse, Vererbung : 


Paull, H.: Über den Parallelismus von körperlicher und geistiger Entwicklung der 
Volksschulkinder. Münch. med. Wochenschr. Jg. 71, Nr. 16, S. 526—527. 1924. 

Verf. benutzte in dankens- und nachahmenswerter Weise die anläßlich der Quäker- 
speisung ausgeführten Massenuntersuchungen von Schülern dazu, um der Frage nach- 
zugehen, inwieweit ein Parallelismus von körperlicher und geistiger Entwicklung fest- 
zustellen ist. Er bestätigt, daß die Hilfsschüler und die Sitzengebliebenen auch körper- 
lich zurückgeblieben sind, wie anderseits die höheren Schüler durchschnittlich größer 
sind als die Volksschüler. Verf. sieht die Ursache dafür nicht in Schäden der Umwelt 
oder der Aufzucht, sondern in der Vererbung. Er wünscht, daß dem Problem des im 
Keimplasma begründeten Parallelismus von körperlicher und geistiger Tüchtigkeit 
der Schüler die Aufmerksamkeit gewidmet werde, welche der heutige Stand der Ver- 
erbungslehre erheischt. Tugendreich (Berlin). 

Gottstein, Adolf: Körpermessungen. Naturwissenschaften Jg. 12, H. 19, S. 353 
bis 360. 1924. 

Eine ausgezeichnete kritische Zusammenfassung der wichtigsten Arbeiten auf 
diesem Gebiete, beginnend mit Quetelet, endend mit den jüngsten Veröffentlichungen 
von Pfaundler, Kaup, Martin, Rautmann u.a. Die Feststellung des Körper- 
zustandes auf Grund der Beziehung von Gewicht zu Länge, lange Zeit als ein ver- 
hältnismäßig einfaches und befriedigend gelöstes Problem betrachtet, erweist sich als 
eine sehr komplizierte, theoretisch wie praktisch schwierige Angelegenheit. Die Körper- 
messungen anläßlich der Quäkerspeisung, das Bemühen, die Wirkungen der Blockade 
und des Währungsverfalls auf die Körperentwicklung zahlenmäßig festzulegen, haben 
gerade in den letzten Jahren zu tiefer schürfenden Forschungen Anlaß gegeben. Auf 
Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Nur sei darauf hingewiesen, daß 
auch nach Gottstein eine befriedigende Lösung noch nicht gefunden worden ist, 
ja daß noch nicht einmal eindeutig der Nachweis einer Schädigung durch die Kriegs- 
und Nachkriegszeit zu erbringen war. Erhebliche Fortschritte sind aber erzielt worden, 
und haben die Bedeutung der Körpermessung für die Klinik vielfach in ein neues 
Licht gesetzt. Die Gottsteinsche Arbeit mit zahlreichen Literaturangaben ist vor- 
trefflich geeignet, den Fernerstehenden in das keineswegs leicht sich erschließende Gebiet. 
einzuführen. Tugendreich (Berlin). 

Michelsson, Gustav: Über die Bestimmung der Norm und der Konstitutionstypen 
dureh Messungen und Formeln. Zeitschr. f. d. ges. Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konsti- 
tutionslehre Bd. 9, H. 5, S. 417—433. 1924. 

Michelsson übt in dieser Arbeit eine in vielen Punkten treffende klare Kritik 
an dem bisherigen Vorgehen der Konstitutionsforschung und hebt besonders die 
beschränkte Anwendbarkeit statistischer Methoden, den geringen Wert der vielen 
sogenannten Konstitutionsindices usw. hervor. Es paßt jedoch, nach Ansicht des Ref., 





RE E 


nicht ganz zu diesen wohlbegründeten Anschauungen des Verf., daß er dennoch mit 
Rautmann den Perimeter einer Frequenzkurve als Maßstab der ‚Norm‘ gelten 
lassen will. Die von M. empfohlene Typendifferenzdarstellung nach Mollison hat 
sich in der Anthropologie als Vergleichshilfsmittel bewährt, wird aber wohl in der 
Anwendung auf Konstitutionsprobleme von einer kritischen Betrachtung der zu ver- 
wendenden Mittelwerte abhängig sein und deshalb ähnlichen Bedenken begegnen 
können, wie die von M. mit Recht abgelehnten Verfahren. Scheidt (München). 


Draper, George, Halbert L. Dunn and David Seegal: Studies in human eonstitution. 
I. Clinieal anthropometry. (Studien über die menschliche Konstitution.) (Dep. of med., 
Columbia univ. coll. of phys. a. surg. a. Presby-terian hosp., New York.) Journ. of the 
Americ. med. assoc. Bd. 82, Nr. 6, S. 431—434. 1924. 

Vorläufige Mitteilung der Verff. über konstitutionsforschende Arbeiten am Presbyterian 
Hospital der Columbia Universität. Ziel ist die (zahlenmäßige) Feststellung der Korrelationen 
zwischen morphologischen, physiologischen, psychologischen und Imunitätscharakteren. 
Konstitution definieren die Verf. als „eine Summe von erblichen, mehr oder minder von der 
Umwelt beeinflußten Charakteren, welche die Reaktion des Individuums auf Umweltreize 
bestimmt“. Der Auffassung — nicht dem Wortlaut — nach verstehen sie unter Rasse eine 
Summe von Erbeigenschaften und fordern eine eingehendere Berücksichtigung rassenkund- 
licher Betrachtungs- und Arbeitsweise in der klinischen Medizin. Als Beispiele (aus dem an- 
gekündigten größeren Werk) sind Korrelationen (zum Teil graphisch) angeführt zwischen 
Gallenblasenerkrankungen und Ulcus ventriculi bzw. duodeni, solchen Erkrankungen und 
Rippenbogenwinkel, Unterkieferastwinkel, Thorakalindex, Form der Schneidezähne usw. 

Scheidt (München). - 

Clark, Taliaferro, Edgar Sydenstrieker and Selwyn D. Collins: Weight and height 
as an index of nutrition. Weight and height measurements of 9,973 children elassified 
upon medical examination as „excellent“, „good“, „fair“, or „poor“ in nutrition as 
judged from elinieal evidence. (Gewicht und Größe als Ernährungsindex.) Public 
health reports Bd. 38, Nr. 2, S. 39—58. 1923. 

Bei etwa 10000 Schulkindern im Alter von 6—16 Jahren in South Carolina, Virginia, 
Maryland, Delaware und New York State wurden Untersuchungen über Gewicht und 
Länge angestellt. Zugleich wurden die Ernährungsverhältnisse ärztlich bezeichnet 
aus 4 Prädikaten — ausgezeichnet, gut, mäßig, schwach. Dabei ergab sich, daß die 
Gewichtsverhältnisse allein nicht ausschlaggebend für den Ernährungszustand sind, 
sondern daß stets die ärztliche Untersuchung eines erfahrenen Fachmannes die Ent- 
scheidung treffen muß. Bekanntlich sind wir deutschen Ärzte nach Überwindung der 
äußerst mühseligen Indexmethoden zu der gleichen Auffassung gelangt. Mädchen 
und Knaben zeigten im allgemeinen keine wesentlichen Unterschiede. Noch waren 
die Schwankungen bei Mädchen von oben und unten etwas größer. Eine Reihe von 
lehrreichen Tabellen und Kurven ergänzen die Arbeit, die Zeugnis davon ablegt, daß 
die Amerikaner in der BEINE der ne einen größeren Eifer entfalten. 

Lewandowski (Berlin). 

Stalnaker, Elizabeth M.: A comparison of eertain mental and physical measure- 
ments of school ehildren and college students. II. (Vergleich einiger psychischer und 
physischer Messungen an Schulkindern und Kollegstudenten. II.) (Psychol. laborat., 
Johns Hopkins univ., Baltimore.) Journ. of comp. psychol. Bd. 3, Nr. 6, S. 431 bis 
468. 1923. 

Verf. will feststellen, ob ein körperlich schlechter entwickeltes Kind die gleichen 
geistigen Fähigkeiten zeigt wie ein normal entwickeltes Individuum. Die psychische 
Entwicklung wird mit Hilfe verschiedener Testreihen, aus deren Ergebnis der Intelli- 
genzquotient berechnet wird, die physische mit Hilfe gewisser Messungen, deren pro- 
zentuale Abweichung von der Norm festgelegt wird, geprüft und die Korrelation 
zwischen beiden Reihen errechnet. Das Alter der Prüflinge bewegte sich zwischen 
dem 9. und 22. Lebensjahr. Die experimentellen Untersuchungen der Verf. zeigen 
keine deutlichen Beziehungen zwischen körperlicher Entwicklung und dem Entwick- 
lungsstand der geistigen Fähigkeiten, was indessen das Bestehen solcher Beziehungen 


Zar sr 


nach Ansicht der Verf. nicht ausschließt, vielmehr auf das Ungenügende der verwandten 
Untersuchungsmethoden zurückzuführen sein kann. Erich Stern (Gießen).°° 


Burgerstein, Leo: Anwendungen der Messung und Wägung von Sehulbesuchern 
in Kristiania. Zeitschr. f. Gesundh.-Fürs. u. Schulgesundh.-Pflege Jg. 37, Nr. 3, S. 68 
bis 74. 1924. 

Referat über eine Arbeit von Schiötz und Berghoff. 28 700 Schulkinder in 
Kristiania wurden gemessen und gewogen. Als brauchbarster Anhaltspunkt für die 
Beurteilung des Entwicklungszustandes wurde das „harmonische Gewicht“ von Du- 
moutet angenommen (= das Gewicht, das im Durchschnitt einer bestimmten Körper- 
größe zukommt). Es hat sich herausgestellt, das etwa 1/, der Schulkinder das ‚„harmo- 
nische Gewicht‘ nicht aufwiesen. — Abgesehen davon, daß die Ergebnisse wie überall 
weitgehend von der statistischen Aufarbeitung abhängig sind, durfte wohl auch die 
Annahme von Burgerstein (und den Verff.), daß es sich bei den Schulkindern in 
Kristiania um ein ‚„rassenmäßig hinlänglich gleichartiges Material‘ handle, ebenso- 
wenig zutreffen wie in anderen Großstädten. Scheidt (München). 


Peiser, Julius: Über die körperliche Entwicklung tuberkulosebelasteter Kinder. 
(Kinderstat. d. Tuberkul.-Fürs., Landesversicherungsanst. Berlin.) Monatsschr. f. 
Kinderheilk. Bd. 28, H. 2, S. 146—158. 1924. 

Aus den Kindern der Tuberkulosefürsorge wurden 4 Gruppen ausgesondert: 
1. solche, deren beide Eltern an Tuberkulose gestorben waren; 2. solche, deren Vater 
an Tuberkulose gestorben war; 3. solche, deren Mutter an Tuberkulose gestorben war; 
4. solche, welche mit Tuberkulose nicht belastet waren. Es wurden geprüft Längen- 
wachstum, Gewicht und der relative Brustumfang, der anthropometrische Breiten- 
index m f]zn 73%, der Kinder unter I waren engbrüstig. Fast 
Fast die Hälfte der Kinder unter II und III waren engbrüstig. Fast 60%, der Kinder 
unter IV waren engbrüstig. Dies zunächst überraschende Ergebnis findet seine Er- 
klärung in der Tatsache, daß der Tuberkulosefürsorgestelle naturgemäß meistens nur 
die schwächlichsten Kinder, also eine besondere unterwertige Gruppe zugeführt werden. 
Sie können also nicht als gesunde Vertreter ihres Milieus gelten. Ein Schluß auf die 
Zusammensetzung der Schuljugend kann also nicht gezogen werden. Einige Tabellen 
erläutern die Ausführungen. Lewandowski (Berlin). 


Dudden, Ernst: Über die körperliche Entwieklung des tuberkulösen Kindes. 
(Uniw.-Kinderklin., Hamburg-Eppendorf.) Beitr. z. Klin. d. Tuberkul. Bd. 57, H. 1, 
8. 87—97. 1923. 

Die Tuberkulose des Kindesalters unterscheidet sich wesentlich von der der Er- 
wachsenen. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß tuberkulöse Kinder nur aus- 
nahmsweise „schwindsüchtig‘ aussehen. Auch Verf. stellt auf Grund seiner Vergleiche 
von gesunden und tuberkulösen Kindern fest, daB Unterschiede in Körpergewicht und 
-länge sowie im Fettpolster nicht vorhanden sind. Nur wurde bei den lungentuberku- 
lösen Kindern eine größere Zahl Engbrüstiger festgestellt als bei den übrigen. Für 
die rechtzeitige Zuführung tuberkulosebedrohter Kinder zum Arzt ist es wichtig, daB 
Eltern und Erzieher diese Eigenart der kindlichen Tuberkulose kennen und sich nicht 
durch den guten Allgemeinzustand in Sicherheit wiegen lassen. Tugendreich (Berlin). 


Nacearati, Sante, and Henry E. Garrett: The influence of constitutional faetors 
on behavior. (Der Einfluß der konstitutionellen Faktoren auf das Verhalten.) (Dep. 
of psychol., Columbia univ., New York.) Journ. of exp. psychol. Bd. 6, Nr. 6, S. 455 
bis 465. 1923. 

Ihrer Untersuchung der Beziehung zwischen körperlichem Wachstum einerseits 
und der Geschwindigkeit und Biegsamkeit geistiger Vorgänge sowie von Bewegungen 
andererseits legten die Verff. einen „morphologischen Index“ zugrunde, der aus dem 
Maß der gesamten Körperlänge, der Länge des Brustbeins und der xipho-epigastrischen 


a ER 


Linie gewonnen war. Für die Prüfung des Ablaufs geistiger Prozesse und von Bewegun- 
gen wurde eine Anzahl der üblichen Tests verwandt. Die Verff. sind sich der mannig- 
fachen Einwände, die man im einzelnen gegen ihre Versuche erheben kann, bewußt 
geblieben. Sie glauben aber trotzdem als sicheres Resultat eine positive Beziehung 
zwischen körperlicher Entwicklung und Intelligenz als erwiesen angeben zu können. 
Hinsichtlich Geschwindigkeit und Biegsamkeit der geistigen und motorischen Vorgänge 
übertrafen die Individuen mit hohem morphologischem Index die mit niederem. Bei 
Männern waren die Beziehungen ausgesprochener als bei Frauen. Erwin Straus., 


Die Häufigkeit der jugendlichen Personen unter 16 Jahren, der Nachweise über 
die Erbliehkeit und den Alkoholmißbrauch unter den in alle Anstalten für Geisteskranke 
usw. im Deutschen Reich aufgenommenen Kranken sowie das Verhältnis der gestorbenen 
zu den abgegangenen Kranken überhaupt nach Krankheitsursachen und Geschlecht 
in den Jahren 1914—1916, 1917—1919. Med.-statist. Mitt. d. Reic osgenmnd heitasta 
Bd. 22, H. 2, S. 100—101. 1924. 

Hinsichtlich der Häufigkeit der J ugendlichen unter den in die Heilanstalten Auf- 
genommenen ist folgendes zu entnehmen: eine Zunahme bei den wegen „einfacher 
Seelenstörung‘‘, wegen Paralyse, wegen Schwachsinns, Epilepsie und Tabes Aufge- 
nommen, eine Abnahme bei Hysterie und Chorea; der Alkoholismus als Krankheits- 
ursache ist in den Berichtsjahren stark zurückgegangen, auffallenderweise auch die 
Erblichkeit. Infolge des vermehrten Absterbens der Alkoholisten und ihres geringen 
Zuganges nahm der Bestand an diesen Kranken ab. Doch hat diese günstige Erschei- 
nung, wie schon vorausbemerkt wird, in den Nachkriegsjahren nicht angehalten. 
Der Wert der Statistik kann nur ein sehr beschränkter sein, da sie von sehr verschie- 
denen Bearbeitern stammt, da noch immer mit einer veralteten Bezeichnung wie 
„einfache Seelenstörung‘ gearbeitet wird und das Verfahren sehr summarisch erscheint. 

Villinger (Tübingen). 

Sehlesinger, Eugen: Wachstum, Ernährungszustand und Entwieklungsstörungen 
des Kindes nach dem Kriege bis 1923. (Stadigesundheitsamt, Frankfurt a. M.) Zeitschr. 
f. Kinderheilk. Bd. 37, H. 5/6, S. 311—324. 1924. 

Während der Jahre 1919/1923 verfolgte Verf. an jährlich etwa 3400 Schulkindern 
aus allen Schulgattungen, an Kleinkindern und Säuglingen durch fortlaufende Mes- 
sungen, Wägungen und Beurteilungen das Wachstum, den Ernährungszustand, sowie 
die gesamte körperliche Entwicklung. Hierbei zeigte sich, daß das Zurückbleiben des 
Längenwachstums, das sich seit 1917, und zwar bei den Kindern des Mittelstandes, 
sowie bei den 6jährigen Schulanfängern und bei den 13jährigen vor der Schulentlassung 
stehenden Kindern am stärksten bemerkbar machte, bei den meisten Altersstufen und 
Gruppen seinen Höhepunkt 1920 mit einem durchschnittlichen Rückstand von 3 bis 
5 cm erreichte. 1921 und 1922 setzte mit der Besserung der wirtschaftlichen Verhält- 
nisse ein allgemeiner Wiederanstieg der Durchschnittslängenzahlen in fast allen Alters- 
stufen, bei Volksschülern geradezu eine sprunghafte Wachstumssteigerung ein, dem 
1923 ein fast allgemeiner deutlicher Rückgang, vielfach ein erheblicher Rückschlag 
von dem 1922 erreichten höchsten Stand folgte. Noch früher, bereits 1916, setzte ein 
Zurückbleiben des Gewichts ein, das sich 1917 weiter verschlechterte durch stärkeres 
7urückbleiben des Massenwachstums und durch Ausdehnung auf die bis dahin un- 
berührten Kleinkinder und Säuglinge an Umfang zunahm. Der tiefste Stand der Ge- 
wichtszahlen wurde bald 1918, bald 1919 ermittelt, deutlich um 1 oder 2 Jahre früher, 
als dies beim Längenwachstum der Fall war. Am größten war hier der Fehlbetrag 
bei den 3jähr. Kindern mit etwa 12%, des gesamten Gewichts; 1921 setzte auch hier 
eine Reparation ein, die 1922 ihren Höhepunkt erreichte, 1923 aber wieder einen deut- 
lichen Rückschlag erkennen ließ. Interessant ist das regelmäßige Verhalten des Rohrer- 
schen Index der Körperfülle a]; in einer großen Zahl gleichaltriger Gruppen; 


er zeigte 1918—1920 einen Anstieg, 1921 und 1922 einen steilen Abfall, dem 1923 ein 





ca Re a 


Wiederanstieg folgte, und ließ so in den ersten Nachkriegsjahren eine stärkere 
Hemmung im Wachstum als in der Gewichtszunahme, bei der Reparation 1921/22 
eine stärkere Zunahme des Wachstums, 1923 ein stärkeres Zurückbleiben der Länge 
gegenüber dem Gewicht erkennen. Was die allgemeine körperliche Entwicklung und 
Verfassung betrifft, so konnte eine zahlenmäßige Verschiebung der günstigen oder 
ungünstigen Seite während der letzten Jahre nicht festgestellt werden. Dagegen ließ 
der Ernährungszustand nach einem Gleichbleiben oder einer leichten Besserung im 
Jahre 1921, in den Jahren 1922 und 1923 eine deutliche Verschlechterung erkennen. 
vor allem ein Anwachsen der Zahl der nur mittelmäßig genährten Kinder auf Kosten 
der über dem Durchschnitt stehenden. Desgleichen ist die Zahl der in jeder Weis 
in der Entwicklung, dem Ernährungszustand, dem Aussehen über dem Durchschnitt 
stehenden Kinder kleiner geworden, ohne daß die Zahl der schwach entwickelten, 
mageren und blassen Kinder wohl infolge der intensiven Fürsorge durch Speisungen, 
Erholungskurven usw. zugenommen hätte. Hinsichtlich der Konstitutionsanomalıien 
konnte festgestellt werden, daß die Rachitis bei den Säuglingen und Kleinkindern 
1918 und 1919 ihren Höhepunkt mit 25% erreichte, in den Jahren 1920/192: 
deutlich und stetig bis auf 15% abfiel, um 1923 wieder auf 20%, anzusteigen. Di 
häufigste Anomalie im Schulalter, die sog. Bluarmut fand sich in den letzten Jahren 
gleich häufig, durchschnittlich in 12—20%. Die exsudative Diathese der Säugling: 
und Kleinkinder nahm dagegen 1922 und 1923 von 6 auf 10% zu, in ähnlicher Weise 
die Iymphatischen Erscheinungen bei den Kindern im Schulalter, während die neuro- 
pathischen Erscheinungen in den Jahren 1921 bis 1923 ein mäßiges, aber stetige: 
Seltenerwerden von 7—10%, auf 5—6% erkennen ließen. Floride Manifestationen der 
Tuberkulose wiesen eine geringfügige doch bedeutsame Zunahme von 1,5%, im Jahre 
1921 auf 2,4%, im Jahre 1923 auf, was mit den Beobachtungen an anderen Orten und 
an anderem Material gut übereinstimmt. B. Harms (Berlin). 

Sehlesinger, Eugen: Die Kinder der kinderreichen Familien. Arch. f. Kinderheilk. 
Bd. 73, H. 1, S. 50—68. 1923. 

Die sicb täglich steigernde wirtschaftliche Not betrifft die kinderreichen Familien 
besonders stark, so daß sich die weitesten Kreise zum Kampfe gegen diese Schäden 
verbunden haben. Mehr als 300 Bünde der Kinderreichen haben sich zu einem Reichs- 
verbande zusammengeschlossen. Während die sozialen und fürsorgerischen Bestrebunge? 
und Einrichtungen im wesentlichen nur die Zahl der Kinder einer Familie in Betrachi 
ziehen, nehmen die bevölkerungspolitischen und rassenhygienischen Richtungen mehr 
Bedacht auf die Qualität der Nachkommenschaft, die — allerdings nicht in alen 
Altersstufen — sehr schlecht ist. Über die Anzahl der kinderreichen Familien in 
Deutschland finden sich nur sehr widersprechende Angaben. Die Zahl der organisierten 
Familien wird auf 600 000 geschätzt. Schlesinger zählte in einer Volksschule mi 
verhältnismäßig vielen Kindern aus einer ärmeren Arbeiterbevölkerung die Zahl der 
Geschwister der Schüler: die Hälfte der Kinder gehörte kinderreichen Familien m: 
4 und mehr Kindern an. In 2 anderen großen Volksschulen, die in sozialer Hinsiel: 
mehr dem Durchschnitt entsprachen, kamen 30—40% der Kinder aus kinderreiche" 
Familien. In den Mittelschulen und 2 höheren Schulen stammten nur 16—20% de: 
Kinder aus solchen Familien. Die Anzahl der einzigen Kinder stand in umgekehrte: 
Verhältnis dazu. Die Abnahme der Geburtenhäufigkeit mit dem Anstieg der wirtschaft 
lichen Stellung der Eltern und dementsprechend die Abnahme des Kinderreichtun: 
in den einzelnen Familien ist erst eine Erscheinung der neueren Zeit. Über die Hälft: 
der Kinder aus kinderreichen Familien steht in den Schuljahren. Mit der Zahl de: 
Kinder wächst die Kindersterblichkeit. In Ehen mit 4 Kindern beträgt sie ein Siebentr!. 
bei 5—6 Kindern steigt sie auf ein Viertel, erreicht bei 7 Kindern ein Drittel und hä! 
sich in Ehen bis zu 10 Kindern stets auf 40%. In der Hauptsache betrifft sie das Sãus 
lingsalter, doch wird manchmal das Kleinkindesalter stärker betroffen. Das Optimu:: 
des körperlichen Verhaltens und des Entwickelungszustandes liegt beim 2. und 3. Kinde. 


is Q 


denen das 4. Kind noch kaum nachsteht, während weiterhin sich die Verhältnisse 
langsam verschlechtern. Dagegen findet bei der großen Masse der älteren Schulkinder 
ein bemerkenswerter Ausgleich statt. Die Neugeborenen und jungen Säuglinge aus 
kinderreichen Familien sind im allgemeinen bis hinauf zu hohen Geburtsziffern gut 
entwickelt und gedeihen gut. Die Maße der Neugeborenen nehmen in konstanter Weise 
zu mit dem Alter der Mutter und der Zahl der Geburten bis zur letzten Gruppe und 
bis hinauf zu den höchsten Geburtsziffern werden ®/,—*/, der Säuglinge gestillt, ohne 
daß sich eine Abnahme der Stillfähigkeit der Mutter bemerkbar machte. Schon im 
2. Halbjahr findet eine deutliche Abschwächung im Gegensatze zu dem Befunde beim 
einzigen Kinde statt. Besonders vom 3. bis 6. Lebensjahre ab greift eine sehr deutlich 
fortschreitende Verschlechterung um sich. Sie werden häufig von Krankheiten der 
Atmungsorgane und Infektionskrankheiten befallen. Mit der Zahl der Kinder nimmt 
die Rachitis zu. Meist ist die Hemmung der Entwickelung und die Mehrzahl der Er- 
krankungen im Kleinkinderalter auf die ungünstigen Wohnungsverhältnisse dieser 
Familien zurückzuführen. Die Kleinkinder leiden am meisten unter der Wohnungsnot. 
Der Tiefstand der Entwickelungshemmung fällt in der Regel in das 1. Schuljahr. 
Später findet wieder ein Anstieg statt und die Rückständigkeit kann sich ganz aus- 
gleichen. Dagegen stellen die Kinder des unteren Mittelstandes und besonders die 
unter der Fürsorge des Ausschusses für Kinderreiche stehenden Familien eine außer- 
ordentlich minderwertiges Kindermaterial dar. Noch unter diesen stehen die Jugend- 
lichen aus diesen Familien: 18%, von ihnen sind nach der Entlassung aus der Schule 
noch nicht erwerbsfähig. Diese Hemmung wird später meist wieder eingeholt. Auf 
keinen Fall ist bei einer langen Kinderreihe eine allmähliche Verschlechterung, etwa 
durch Erschöpfung ererbter Vorzüge festzustellen. Eher könnte vom Gegenteil die 
Rede sein. Läßt sich schon bei den älteren Jahresklassen der Volksschüler hinsichtlich 
der körperlichen Beschaffenheit kaum mehr ein Unterschied zwischen Kindern aus 
kinderreichen oder kinderarmen Familien feststellen, so ist das noch weniger der Fall 
bei den Jugendlichen. Während in langen Kinderreihen ein und derselben Familie 
die einzelnen Kinder im Schulalter körperlich meist annähernd gleichmäßig entwickelt 
sind, ist hinsichtlich der intellektuellen Seite — beurteilt nach den Leistungen in der 
Schule — gegen Ende der Reihe nicht selten eine Verschlechterung festzustellen. 
Auch im allgemeinen ist nach dieser Richtung hin bei der Allgemeinheit der Kinder 
aus kinderreichen Familien eine Rückständigkeit bemerkbar. Der Mangel der Erziehung 
offenbart sich nicht selten in Charakterfehlern: auffallend ist bei den Jugendlichen der 
Mangel an Gemeinschaftsgefühl. Für die Fürsorge erwachsen den Kindern der kinder- 
reichen Familien ganz besondere Pflichten. Sie hat in erster Linie den Kampf gegen 
die Schädigungen durch das Wohnungselend aufzunehmen, durch die die Kleinkinder 
am stärksten in ihrer Entwickelung gehemmt werden. Ihnen muß der Besuch der 
Kindergärten, der öffentlichen Spielplätze, der Luft- und Sonnenbadeinrichtungen zu- 
gänglich gemacht werden. Für die Kinder der Kinderreichen im Schulalter muß mehr 
eine Speisung in irgendeiner Form durchgeführt werden. Sie müssen in Ferienkolonien 
untergebracht werden. Kinder aus kinderreichen Familien müssen bei allen Fürsorge- 
einrichtungen jeglicher Art mit in erster Linie berücksichtigt werden. Mönkemöller. 
Berghaus: Wirkung der Teuerungsverhältnisse auf die Volksgesundheit in Baden. 
Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schulgesundheitspfl. Jg. 37, Nr. 2, S. 33—49. 1924. 
Die Erhebungen stammen aus dem November 1923, also aus der Zeit der stärksten 
Inflation. Mit der Stabilisierung der Markwährung ist zwar eine gewisse Erleichterung 
der Wirtschaftslage für die breite Masse des Volkes eingetreten; aber die in den letzten 
Jahren der Volksgesundbeit gesetzten Schäden werden noch lange nachwirken. Die 
Geburtenzahl sinkt seit 1921, wo sie übrigens auch schon hinter der Friedenszahl zurück- 
blieb, unaufhaltsam. Die Todesziffer steigt demgegenüber an. Die Arbeit geht im 
wesentlichen auf die Todesfälle an Tuberkulose ein. Auch in dem wohlhabenden, 
stark landwirtschaftlichen Ländchen nimmt die Tuberkulose ständig zu und nimmt 


2 TO = 


einen bösartigen Charakter an. Die Arbeit bestätigt den alten Erfahrungssatz, daß 
Volkswohlfahrt und Volksgesundheit eng miteinander verknüpft sind. 
Tugendreich (Berlin). 

Voina, Aurel: Die Eugenik und Hygiene der Nation. (Inst. de ig. siig. soc., Cluj.) 
Clujul med. Jg. 5, Nr. 3/4, 8. 92—100. 1924. (Rumänisch.) 

Nach Begriffsbestimmung der Eugenik empfiehlt Verf. — dem Ideengang von 
Moldovan folgend — statt Rassenhygiene die leichter realisierbare Hygiene der 
Nation. Er verlangt eine „nationale Biopolitic‘“ seitens des Staates, welche die Be- 
dingungen der Bekämpfung der zur Degeneration führenden Faktoren (Alkoholismus, 
Lues, Tuberkulose usw.) verwirklicht. Es wird auch kurz der heutige Stand der 
Eugenik besprochen. Urechia (Klausenburg). 

Herwerden, M. A. van: Erbliehkeitserseheinungen beim Menschen und Eugenetik. 
Nederlandsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 68, 1. Hälfte, Nr. 7, S. 712—723. 1924. (Hol- 
ländisch.) 

Sammelbericht über Mendelismus und Vererbung beim Menschen mit Bemer- 
kungen über Wesen, Ziele und Organisation der rassenhygienischen Bewegung, die 
Verf. zusammen mit van der Spek in den Niederlanden ins Leben gerufen hat. 

Rudolf Allers (Wien). 
Ä Fetscher, Rainer: Zur Frage der Knabenziffer beim Menschen. (Hyg. Inst., techn. 
Hochsch., Dresden.) Arch. f. Rassen- u. Gesellsch.-Biol. Bd. 15, H. 3, S. 233 — 249. 1924. 

Fetscher hat die Frage des Knabenüberschusses wieder aufgegriffen und mit 
neuen, wohldurchdachten Methoden versucht nachzuprüfen, ob nicht familiäre Unter- 
schiede des Geschlechtsverhältnisses Anhaltspunkte zur Erklärung der Geschlechts- 
verschiebung gewähren. Da die Fortpflanzungswünsche der Eltern (z. B. das 
Verlangen nach einen „Stammhalter“) die Geburtenverhütung beeinflussen, wurden 
nur Familien mit 4 und mehr Kindern berücksichtigt. In solchen Familien dürfte 
die Geburtenverhütung keine wesentliche Rolle mehr spielen. Bei der Verarbeitung 
des Materiales (1796 Familien mit 11313 Kindern) geht nun F. von der Über- 
legung aus, daß die Wahrscheinlichkeit erstgeborener Knaben größer sein muß bei 
Familien mit einer Neigung zu besonderer Häufung der Knabengeburten, falls es eine 
solche gibt. Die Erfahrung (korrigiert durch Anwendung der Geschwistermethode) 
zeigt nun wirklich eine Knabenziffer von 124,4 bei Familien mit erstgeborenen Knaben, 
eine Knabenziffer von 104 bei Familien mit erstgeborenen Mädchen. (Auch der Gesamt- 
durchschnitt der Knabenziffer von 110 ist größer als der Volksdurchschnitt in Sachsen.) 
Die Gruppierung der Familien nach 3. und 4. geborenen Knaben liefert das gleiche 
Ergebnis. Außerdem zeigt sich eine deutliche Erhöhung der Knabenziffer mit zuneh- 
mendem Alter der Mutter. F. schließt aus seinen Befunden, daß es eine Anlage zu 
erhöhter Zahl von Knabengeburten gibt, die vermutlich erblich ist und deren Aus- 
wirkung vielleicht an das Alter der Frau gebunden ist. Von den biologischen Erklärungs- 
möglichkeiten wird die Fähigkeit der Frau zum Austragen 0" Früchte als eine der 
nächstliegenden Annahmen besprochen. F. denkt dabei an graduelle Verschieden- 
heiten der Abwehrvorgänge gegenüber dem artfremden Eiweiß der Frucht, wobei die 
Abwehrreaktion auch nach dem Geschlecht der Frucht verschieden sein könnte. Wenn 
die Ergebnisse F.s nicht der Ausdruck irgendwelcher nicht erfaßbarer Auslese sind, 
könnte man nach Ansicht des Ref. vielleicht auch daran denken, ob nicht erbbedingte 
Unterschiede in der Konzeptionsfähigkeit der Frauen als Ursache betrachtet werden 
dürfen. Die von Lenz, Bluhm u.a. wohl mit Recht angenommene größere Beweg- 
lichkeit der 0" differenzierten Spermatozoen könnte vielleicht dazu führen, daß bei 
Konzeptionsschwierigkeiten (Retroflexio uteri, Infantilismus u.a. mutmaßlich erb- 
lichen Konstitutionsanomalien) die Knabenziffer erhöht wird. Ein durchschnittlich 
höheres Alter der Mutter würde in solchen Fällen dadurch entstehen können, daß 
die erste Konzeption nicht selten verzögert wird. Es wäre deshalb vielleicht eine belang- 
reiche Aufgabe, einmal denjenigen Konstitutionsanomalien des Weibes vererbungs- 


— 1] — 


wissenschaftlich nachzugehen, welche die Gebärfähigkeit bzw. Konzeptionsfähigkeit 
beeinträchtigen und in entsprechenden Familien das Geschlechtsverhältnis festzu- 
stellen. Außerdem könnte man vielleicht auch dadurch der Frage näher kommen, 
daß man den Zeitabstand der Eheschließung und der ersten Geburt berücksichtigt. 
Scheidt (München). 

© Siemens, Hermann Werner: Die Zwillingspathologie. Ihre Bedeutung,- ihre 
Methodik, ihre bisherigen Ergebnisse. Berlin: Julius Springer 1924. 103 S. G.-M. 3.75. 

Das Büchlein von Siemens, das sich recht glücklich seiner ‚‚Vererbungspathologie‘ 
anschließt, bedeutet zweifellos wieder einen Fortschritt auf dem Gebiete der mensch- 
lichen Erblichkeitsforschung und zeigt, wie noch mancher Sonderzweig derselben 
erfolgreich ausgebaut werden kann. Zwar herrscht gegenwärtig keine vollkommene 
Einigkeit über die sichere Diagnose homologer (eineiiger) Zwillinge — auch das Kri- 
terium des gemeinsamen Chorion ist neuerdings angezweifelt worden —; aber man 
wird sich, solange entscheidende gegenteilige Beweise nicht erbracht worden snd, 
wohl mit S. auf den Standpunkt stellen dürfen, daß weitgehende Ähnlichkeit 
vieler sicher erblicher Merkmale die Annahme eineiiger Zwillinge hinreichend recht- 
fertigt; ganz vereinzelte Ausnahmen würden dabei für die Erblichkeitsforschung 
auch kaum schon einen verhängnisvollen Irrtum bedeuten. S. zeigt, nach Darlegung 
dieser Dinge, welche Fragen der Erblichkeitsforschung besonders, zum Teil ausschließ- 
lich, mit Hilfe der Zwillingsbeobachtung gelöst werden können: Der Nachweis sicher 
nichterblicher Merkmale, die annähernde Feststellung des Maßes parakinetischer 
Einflüsse, andererseits der unter Umständen sonst erschwerte Beweis der Erblichkeit 
einer Eigenschaft, auch der Erblichkeit der Disposition zu nichterblichen Krankheiten, 
in besonderen Fällen der Nachweis der Polymerie u.a. m. Das Vorgehen bei der Deu- 
tung erhobener Befunde wird ausführlich dargelegt und gezeigt, wie der Vergleich mit 
den Befunden bei nichteineiigen Zwillingen und Geschwistern verwertet werden kann. 
Von den speziellen Ergebnissen verdient die Feststellung der Nichterblichkeit der 
Muttermäler und der Linkshändigkeit besondere Erwähnung. Eine umfassende Zu- 
sammenstellung der bis jetzt bei Zwillingen erhobenen pathologischen Befunde und 
ein ausführliches Literaturverzeichnis ergänzen die wertvolle Arbeit, welche für weitere 
Forschungen auf diesem durch die Art der Materialgewinnung begrenzten, aber metho- 
disch begünstigten Gebiet eine unentbehrliche Grundlage sein wird. 

Scheidt (München). 


Talbot, Fritz B.: Grundstoffwechsel im Kindesalter. Neuere amerikanische For- 
sehungen. (Kinderklin., Massachusetts gen. hosp., Boston.) Monatsschr. f. Kinderheilk. 
Bd. 27, H. 5, 8. 465—503. 1924. 

Während wir sonst als Grundstoffwechsel den Stoffwechsel eines Individuums 
mit normaler Körpertemperatur, bei absoluter Muskelruhe und im nachabsorptivem 
Zustande bezeichnen, muß man ihn beim Säugling eher nach der Nahrungsaufnahme 
annehmen, weil das Kind ja nur dann ruhig ist. Die Amerikaner untersuchten deshalb 
das schlafende, satte Kind mit Apparaten (Benedict, Lusk), die auch kurze Beob- 
achtungszeiten erlaubten. Dabei zeigte sich, daß die Muskeltätigkeit den Grundstoff- 
wechsel des Kindes um 30—40% erhöht. Bei 2 sechsmonatigen Säuglingen kamen 
Erhöhungen von 70% vor. Der Grundstoffwechsel läßt sich nach Benedict- Verf. 
nach folgender Formel errechnen: Gesamtkalorien = Lungen x 12,65 (Konstante) 


x10. 3 yw te (Lissauers Oberflächenformel). Der respiratorische Quotient fällt in 
den ersten Lebenswochen schnell bis auf 0,73 (3. Tag) ab, um bei guter Ernährung rasch 
wieder zu steigen. Frühgeborene haben einen geringeren Stoffwechsel als reife Kinder. 
Die Wärmeproduktion ist bei ihnen unter 400 Kalorien pro qm. Körperfläche. Allge- 
mein ließ sich feststellen, daß entgegen Rubners Annahme die Wärmebildung beim 
Kinde proportional der Körperoberfläche ist. Mit zunehmendem Alter und ansteigendem 
Körpergewicht steigt die Gesamtwärmeproduktion. Benedict und Talbot stellen 


— 12 — 


eine Formel auf, nach der sie den Grundstoffwechsel bei Knaben über einem Jahre 
vorausberechnen konnten: Gesamtwärmeproduktion in 24 Stunden (H) = 66,4730 
-+ 13,7516 Gewicht in kg (w) + 5,0033 Länge in cm (s) — 6,7550 Alter (a). Bei jüngeren 
Knaben und bei Mädchen ist sie nicht zuverlässig. Fettere Säuglinge haben einen 
geringeren Stoffwechsel als magere, ältere fastende Kinder geringeren als jüngere 
fette. Die Beziehungen der Wärmeproduktion zur Körperoberfläche haben schwierige 
Berechnungen notwendig gemacht. Es scheint, daß sie pro Quadratmeter Körper- 
oberfläche in den ersten 18 Lebensmonaten schnell ansteigt und dann langsam abnimmt. 
Weibliche Kinder haben anscheinend einen geringeren Stoffwechsel als männliche, 
vielleicht weil sie weniger „aktives Gewebe“, mehr Fett haben. Die Stoffwechsel- 
erhöhung in der Pubertät ist vielleicht auf stärkere Schilddrüsenfunktion zurückzuführen. 
Über den Einfluß der Ernährung sind die Beobachtungen nicht ganz eindeutig, jedoch 
meint Verf. eine stimulierende Wirkung der Nahrung in Höhe von 14%, annehmen zu 
dürfen. Über den 24 Stunden-Stoffwechsel hat Verf. selbst fast ununterbrochene Unter- 
suchungen gemacht. Bei Ernährungsstörungen zeigt die vermehrte Wärmeproduktion 
vermehrten Fettverlust und wohl auch Untergang von Muskelgewebe an. In einer sehr 
hübschen Kurve wird gezeigt, wie das Studium des Grundstoffwechsels wichtige Hin- 
weise für die Ernährung des Säuglings gibt, sei es, um den durch Tätigkeit oder 
Exkrete oder Wachstum bedingten Verlust auszugleichen. Weiter haben die Unter- 
suchungen am yxödematösen Kretinen einen sehr niedrigen, nach Schilddrüsen- 
zufuhr ansteigenden Grundstoffwechsel gezeigt. Die Tyreoidea wirkt also ausgesprochen 
stoffwechselfördernd. Bei einem hemisphärenlosen Idioten war ebenfalls der Stoff- 
wechsel sehr niedrig, ebenso bei je einem Fall von Fettsucht infolge von Dyspituitarismus 
und von familiär-amaurotischer Idiotie. Die Stoffwechseluntersuchungen weisen bei 
Kindern viel größere Unterschiede auf, so daß sie auch geringere Störungen gut erkennen 
lassen, besser jedenfalls als beim Erwachsenen. Das ist der Wert der Bestimmung 
des Grundstoffwechsels bei Kindern, wie sie die neue Methodik der Amerikaner er- 
möglicht. Creutzfeldt (Berlin). 

Staehelin, R., und A. Gigon: Über den Gaswechsel bei Zwergwuchs, verglichen 
mit dem von Kindern ähnlicher Größe und ähnlichen Gewichtes. (Med. Klin., Basel.) 
Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 99, H. 1/3, S. 52—62. 1923. 

Gaswechselversuche an 2 weiblichen zwerghaften Individuen in der Jaquetschen Atmungs- 
kammer, von denen das eine 19 Jahre alt war bei 121 cm und 22,8 kg, das andere 50 Jahre 
bei 128 cm und 33,5 kg. Der Sauerstoffverbrauch betrug bei ersterem 6,43 pro Kilogramm 
und Minute, bei letzterem 5,75 ccm, die Calorienproduktion pro Quadratmeter und 24 Stunden 
1166 bzw. 1244 Cal. In gleicher Weise gewonnene Werte bei einem der ersten Person an Ge- 
wicht und Größe gleichenden 10jährigen Mädchen waren 6,04 ccm O, und 1149 Cal., bei einem 
der zweiten gleichenden 7!/,jährigen Mädchen: 7,21 cem und 1079 Cal. Die Werte weichen 
also bei den Zwergen von den bei den ihnen gleichenden Kindern gefundenen verhältnismäßig 
wenig voneinander ab, wenn man sie auf die Körperoberfläche bezieht, mehr berechnet auf 
das Körperkilo. — Vergleicht man die gefundenen Werte mit den nach Harns und Benedicts, 
Benedict und Talbots, Dreyers, Aub und de Vris’ Formeln berechneten Zahlen, so er- 
geben sich je nach der benutzten Formel mehr oder minder erhebliche Unterschiede, so daß 
wohl diese Formeln für den Zwergwuchs keine Geltung haben. Nach den Ergebnisse der Verff. 
ergibt sich, auf die Körperoberfläche bezogen, eine Wärmeproduktion, die der bei Kindern 
ähnlicher Größe und ähnlichen Gewichtes analog ist. A. Loewy (Davos).°° 

Bauer, Julius: Individual eonstitution: Vs. endoerine glands. (Individuelle Kon- 
stitution und endokrine Drüsen.) Bull. of the Buffalo gen. hosp. Bd. 1, Nr. 3, S. 78 
bis 87. 1923. 

Der bekannte Konstitutionsforscher weist hier nachdrücklich darauf hin, daß es 
neben der vielfach überschätzten Wirkung der endokrinen Drüsen (Hormone) vor allem 
schon in den primären Erbträgern, den Chromosomen, enthaltene Korrelationen seien, 
die diejenigen Wirkungen hervorbringen, die man heute noch ausschließlich den hormo- 
nalen Einflüssen zuschreibt. Die Hormone sind seiner Ansicht nach nur zur Hemmung 
oder Förderung der in den Chromosomen enthaltenen potentiellen Kräfte und Wechsel- 
wirkungen befähigt. Den Nachweis führt er mit Hilfe sehr eingehender Darlegungen 


aa. TE. aa 


über die Grenzen der Keimdrüsenwirkung, wobei er sich u. a. auf das von der endo- 
krinen Tätigkeit der Testikel unabhängige Vorkommen des eunuchoiden Hochwuchses 
und der sexuellen Differenzierung (in der Kindheit) stützt. Außerdem sind biologisch 
experimentelle Untersuchungen (Fütterung von Foetalextrakten bei Zwergwuchs 
und Infantilismus) im Gange, und scheinen seine Ansicht zu bestätigen. Villinger. 

Eekert, Marianne: Über die Häufigkeit des Facialisphänomens im Kindesalter. 
(Uniwv.-Kinderklin., Wien.) Zeitschr. f. Kinderheilk, Bd. 37, H. 5/6, S. 245—251. 1924. 

Verf. hat an 13 854 Kindern Untersuchungen über die Häufigkeit des Facialis- 
phänomens angestellt (Knaben 6573, Mädchen 7281). Ein Unterschied in der Häufig- 
keit zwischen Knaben und Mädchen war nicht nachweisbar, ebensowenig zwischen 
den einzelnen Altersjahrgängen. Die höchste Zahl positiver Befunde ergaben die Unter- 
suchungen in Wien (22,8%, bei Knaben, 20,1%, bei Mädchen, den niedrigsten Wert 
die Befunde in den Provinzialhauptstädten (7,1%, bei den Knaben, 7,8%, bei den Mäd- 
chen). Zwischen beiden Werten lagen jene für die ländlichen Bezirke. Die Unter- 
schiede hängen nach der Verf. wahrscheinlich damit zusammen, daß die Ernährung 
mit frischen Vegetabilien in Wien am ungünstigsten, in den Provinzialhauptstädten 
dagegen am günstigsten liegt. Untersuchungen an Kindern, die den ganzen Sommer 
hindurch auf dem Dach der Wiener Kinderklinik gehalten wurden, zeigten, daß Kinder 
bei ständigem Aufenthalt in freier Luft in viel geringerer Zahl positive Befunde auf- 
weisen als Kinder, die in der Stadt leben. Schob (Dresden). 

Gradenigo, G.: Per lo studio delle leggi della ereditarietà del sordomutismo. (Zum 
Studium der Erblichkeitsgesetze der Taubstummheit.) Arch. ital. di otol. Bd. 35, 
H. 2, 8.159. 1924. 

Verf. bittet um Sammlung und Mitteilung von Stammbäumen bei angeborener Taub- 
stummheit, um die Art der erblichen Übertragung dieser Krankheit zu erforschen. Wenn 
möglich, sind 3—4 aufeinander folgende Generationen zu verfolgen. Besonders wichtig sind 
aber die Angaben über die ganze Verwandtschaft des Taubstummen und seiner Eltern und 
über Blutsverwandtschaft der Eltern. Zingerle (Graz). 

Castelli, Carlo: Contributo allo studio elinieo della fragilità ossea congenita. (Bei- 
trag zur klinischen Erforschung der angeborenen Knochenbrüchigkeit.) Pediatria 
Jg. 82, H. 6, S. 351—360. 1924. 1 

14 Monate altes Mädchen, deren Mutter eine Erstgebärende mit Iymphatischer Konsti- 
tution und Neigung zu Magendarmstörungen war. Brachycephalie (Längsdurchmesser 12, 
Querdurchmesser 12,5cm, Umfang 36 cm). Bruch beider Oberarme im mittleren und des linken 
Oberschenkels zwischen erstem und zweitem Drittel. Konsolidierte Brüche beider Unterschenkel. 
Im Blut 3,96 Millionen Erythrocyten, 8570 Leukocyten, davon 62%, Lymphocyten, 36%, große 
und kleine Mononucleäre, 4%, neutrophile Polynucleäre, 2%, Eosinophile, 1%, Mastzellen. 
Kalkstoffwechsel nicht untersucht. Stuhl o. B. Im Röntgenbilde wurden noch Brüche der 
3., 4., 5. Rippe gefunden mit zum Teil resorbiertem Callus. Im ganzen sah man 17 Frakturen: 
3 an den Rippen, 1 am linken, 2 am rechten Oberarm, 1 am rechten Radius, 1 an der rechten 
Ulna, 4 an beiden Oberschenkeln, 2 am linken, 1 am rechten Unterschenkel. Die ersten Brüche 
scheinen unter mächtiger Callusbildung in 10—12 Tagen, der letzte Bruch in etwa 20 Tagen 
konsolidiert zu sein. Das Kind hat nur die 4 mittleren Schneidezähne, kann sitzen, aber nicht 
stehen. Die Schädelknochen sind verknöchert. Im Röntgenbilde sah man sehr deutlich die 
dunkle Knochenrandlinie. Die Phosphortherapie hatte keinen Erfolg. Es wird eine Organo- 
therapie mit Thymus versucht. Creutzfeldt (Berlin). 

Reyher, P.: Über prämatur-synostotische Stenocephalie beim Kinde. (Zugleich 
ein Beitrag zur Indikationsstellung für die Entlastungstrepanation.) Zeitschr. f. Kinder- 
heilk. Bd. 87, H. 5/6, S. 283—310. 1924. 

Als „prämatur-synostotische Stenocephalie“‘ bezeichnet Verf. jene Fälle von 
prämaturer Synostose kindlicher Schädelknochen, welche zu krankhaften Er- 
scheinungen führen. Die klinischen Symptome bestehen vor allem in 1. einer Abartung 
der Schädelformen, 2. allgemeinen cerebralen Symptomen: anfallsweise auftretender 
Kopfschmerz von meist migräneartigem Charakter, zeitweiliges cerebrales Erbrechen, 
Bewußtseinsstörungen, ja selbst epileptiforme Krampfanfälle, vereinzelt auch Geruchs- 
und Gehörsstörungen (Intelligenzdefekte gehören im allgemeinen nicht zum Bilde) 
und 3. okulären Symptomen (postneuritische Atrophie der prominenten Stauungspapille 


=s WI: 


bzw. der nicht prominenten Neuritis optica oder einfache Atrophia nerv. opt., mehr 
oder weniger regelmäßig konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung, Strabismus und Ny- 
stagmus (meist oscillatorius horizont.). Wichtig zum 3. Punkt ist die Tatsache, daß 
die Sehstörungen gewöhnlich im frühen Kindesalter, in der Regel zwischen dem 2. und 
5. Lebensjahre, durchweg aber nicht mehr nach dem 7. einsetzen und daß nach dieser 
Zeit die einmal bestehende Sehstörung nicht mehr fortschreitet. Gewöhnlich führt 
die Sehnervenerkrankung nicht zur völligen Amaurose. Diagnostisch von Wichtigkeit 
ist das Röntgenbild, das — infolge des Mißverhältnisses von Schädel- und Gehirnvolum 
und der dadurch mehr oder weniger vertieften Impressiones digitatae — förmlich plastisch 
wirkt. Als weitererintegrierender Bestandteil des Röntgenogramms gehört hierher, daß die 
vorzeitig obliterierte Naht nicht erkennbar ist. Variable Eigentümlichkeiten des Krank- 
heitsbildes sind ferner: eine Verkürzung und Vertiefung der vorderen Schädelgrube, 
. gelegentlich eine stärkere Einbuchtung der mittleren. Die Sella kann normale Größe 
und Konfiguration haben, mitunter aber erscheint ihr Boden erweitert und vertieft. 
Die Sattellehne ist bald normal, bald verdünnt, bald ihr oberes Ende rabenschnabel- 
artig nach vorn umgebogen. Therapeutisch kommt nur die Entlastungstrepanation 
in Frage. Jedoch kann diese nur Erfolg haben, wenn sie 1. rechtzeitig, d. h. möglichst 
im Beginn der Sehstörung ausgeführt wird. Der günstigste Zeitpunkt dürfte das 
3.—4. Jahr sein. 2. Wenn sie an richtiger Stelle vorgenommen wird. Beim brachy- 
cephalen Turmschädel ist dies meist — aus naheliegenden Gründen — das Occiput. 
Schilderung eines 3jährigen Kindes mit gutem Erfolg der Operation. Der Abhandlung 
sind 8 Bilder, darunter sehr schöne Röntgenogramme, beigefügt. Dollinger., 


Tonina, Teodoro A.: Die kindliche Schwäche. Semana med. Jg. 31, Nr. 8, S. 351 


bis 361. 1924. (Spanisch.) 

Verf. definiert den Begriff der Schwäche. Unter kindlicher Debilität ist zu verstehen 
die ungenügende Entwicklung, die funktionelle Schwäche, die geistige Zurückgebliebenheit. 
Des weiteren behandelt Verf. die Ursachen dieser Schwäche und die Folgen, wie die leichte 
Empfänglichkeit für Krankheiten. Ganter (Wormditt). 


Psychologie: 
Algemene una Re T ynog 7 M Aoa 
e Müller, G. E.: Abriß der Psychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 
1924. 124 S. G.-M. 3.60. 

Wir sind G. E. Müller zu Danke verpflichtet, daß er die Leitsätze seiner V orle- 
sungen in einem eigenen Abriß, in etwas erweiterter Form, veröffentlicht hat und sie 
somit weiteren Kreisen zugänglich machte. Uns fehlten kurze, neuere Darstellungen 


über das Gesamtgebiet der Psychologie, um so mehr, ist es zu begrüßen, wenn uns eine 
solche aus berufener Hand geschenkt wird. von Kuenburg (München). 


Allport, Gordon W.: Die theoretischen Hauptströmungen in der amerikanischen 
Psychologie der Gegenwart. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25. 
Nr. 5/6, S. 129—137. 1924. 

Zu diesem, im Psychologischen Laboratorium der Hamburger Universität ge- 
haltenen, Vortrag gibt W. Stern einige einleitende Worte. Die durch die äußeren 
Verhältnisse der letzten Jahre gelockerten amerikanisch-deutschen Beziehungen auf 
dem Gebiete der Psychologie beginnen langsam wieder festere Formen anzunehmen. 
Lehrende und lernende Psychologen treten wieder in gemeinsamen Austausch; ge- 
drucktes amerikanisches Material ist uns einigermaßen wieder zugänglich. Meinte 
man bis vor kurzem, daß die Intelligenz und Testprüfungen einerseits, die Lehre vom 
Behaviorismus andererseits, das ganze Gebiet der Psychologie in Amerika beherrschen, 
so belehren uns die neueren Strömungen und Strebungen der theoretischen amerika- 
nischen Psychologie eines anderen. Bei näherer Betrachtung sehen wir eine deutliche 
Anlehnung an englisches, französisches, aber ganz besonders an deutsches Denken. 
Hat doch die Mehrheit der amerikanischen Psychologen in Deutschland studiert (ins- 





z I a= 


besondere bei Wundt und Stum pf). Die einzelnen Richtungen haben aber dennoch 
ihre besondere Eigenart, ihre Hypothesen, ihre eigenen Gesichtspunkte und Unter- 
suchungsmethoden. 1. Der ,Functionaslism“ ist die Schule, die am meisten Einfluß 
besitzt. Nach James und den Funktionalisten hat die Psychologie den „dynamischen 
Charakter“ des Bewußtseins zu studieren. Das Bewußtsein ist eine ‚Funktion‘ (im 
mathematischen Sinne des Wortes) der durch den Wahrnehmungsprozeß gelieferten 
Empfindungen. Kennzeichnend für diese Auffassung ist die Jamessche Gefühlstheorie; 
nach ihr folgt die körperliche Veränderung in Sekretion und Muskeltonus direkt der 
Wahrnehmung des dargebotenen Objektes. Das Bewußtwerden dieser körperlichen 
Veränderungen ist dann das Gefühl. Auch übernehmen die Funktionalisten Münster- 
bergs Theorie, die den motorischen Faktor als den primären ansieht, d. h. die Bereit- 
schaft des Körpers auf einen Reiz zu reagieren, die Reizschwelle, die Aufmerksamkeit, 
die Klarheit der Perzeption wie den ganzen Sinn der Erfahrung zu bestimmen. Zu 
dieser Theorie bekennen sich Ladd, Judd, Angell und Pillsbury. Auch W. Mc 
Dougall gehört dazu, der darin alleinstehend wieder das Leib-Seele-Problem behandelt 
und Teleologie und Wechselwirkungshypothese vertritt. Die funktionalistische Rich- 
tung hält sich frei von jeder Einseitigkeit und berücksichtigt ganz besonders die Ganz- 
heit des geistigen Lebens. 2. Der „Strukturalism“ stellt sich die Aufgabe, den ‚Quer- 
schnitt‘‘ durch das Bewußtsein zu studieren, das ist der Inhalt des Bewußtseins im 
Augenblick der Selbstbeobachtung. Titschener ist der Hauptvertreter dieser Art 
Strukturpsychologie. Auch Boring ist ihr zuzurechnen und Dodge. Die Arbeiten 
auf dem Gebiete der Sinnes- und Wahrnehmungspsychologie sind sehr bedeutend; 
andere Gebiete des Seelenlebens, die Prozesse des Denkens z. B. werden vernachlässigt. 
(Die deutsche Strukturpsychologie im Sinne Köhlers hat nichts mit dieser Art ameri- 
kanischer Strukturpsychologie zu tun, steht sogar im Gegensatz zu ihr.) 3. Der ‚‚Be- 
haviorism“, die radikalste moderne Richtung, behauptet, das Bewußtsein sei überhaupt 
nicht Gegenstand der Psychologie. Der lebende, sich in Tätigkeit befindliche Organis- 
mus sei zu studieren, nur die motorische Seite unseres psychischen Lebens sei zu be- 
achten. Quellen des Behaviorism sind aus Deutschland die Richtungen der „objek- 
tiven Psychologie, wie sie von Beer, Bethe, von Üxküllund Nuel vertreten werden, 
und von Rußland die Theorien der ‚Reflexologie‘‘ von Pawlow und Bechterew. 
Bedeutende Anregungen kamen dem Behaviorism von der Tierpsychologie Loebs 
und Thorndikes. Die Hauptmethode des Behaviorism ist die der bedingten 
Reflexe; letztere beruhen auf der Überlegung, daß jeder Hauptreflex unseres Körpers 
durch einen dazugehörigen, normalen oder adäquaten Reiz hervorgerufen wird, aber 
die neueren Untersuchungen haben bewiesen, daß fast alle primären Reflexe ohne Ein- 
wirkung eines adäquaten oder normalen Reizes auftreten. Die Assoziation mit irgend- 
einem Nebenreiz führt zu demselben Effekt wie die Assoziation mit dem Normalreiz. 
Der Behaviorism ist.eine neue Form der Assoziationspsychologie, die sich aber nicht 
auf die alte englische Assoziationspsychologie, sondern auf die Tatsachen der Physio- 
logie und Biologie stützt. John Watson ist Begründer dieser Schule. Der Behaviorism 
hat den größten Einfluß auf die pädagogische Psychologie, denn, wenn das Kind nur 
Werkzeug in der Hand der bedingten Reflexe ist, so besteht die alleinige Aufgabe der 
Erziehung darin, günstig bedingte Reaktionen zu ermöglichen und ungünstige zu ver- 
meiden. Geisteskrankheiten sind verzerrte Reaktionen. Auch auf sozialpsycholo- 
gischem und ethischem Gebiet erstrecken sich die Folgerungen dieser Lehre. F.H. All- 
port, Holt, R. B. Perry vertreten diese Richtung. 4. Die 4. Hauptrichtung in der 
Psychologie empfängt ihre Anregungen aus der Psychoanalyse, Psychopathologie und 
Biologie, sie hat auch in manchen Vertretern gemeinsames mit dem Behaviorism. 
Sie wird weniger von Freud, als von Jung und Adler beeinflußt. Von den Psycho- 
pathologen haben Kempf, Meyerson, Patons, Rermans und Wells eingehende 
Darstellungen ihrer Grundsätze veröffentlicht. Wells macht Anwendungen seiner 
Probleme auf Pädagogik und Psychiatrie. Außerhalb dieser festumschriebenen Rich- 


= JO a= 


tungen nimmt die Testpsychologie in Amerika einen breiten Raum, besonders in den 
Fachzeitschriften, ein. Auch das Problem der Instinkte und die Diskussion über die 
Vorzüge und Nachteile der Verhaltens- und Bewußtseinspsychologie sind immer wieder- 
kehrende Themen. In den vielverzweigten praktischen Auswirkungen zeigt sich 
das Streben, die Psychologie in engste Fühlung mit Industrie und Handel, mit Er- 
ziehungs- und Kriminalwissenschaft, Hauswirtschaft und soziale Arbeit zu bringen. 
von Kuenburg (München). 

Koffka, K.: Théorie de la forme et psychologie de Penfant. (Gestalttheorie und 
Psychologie des Kindes.) Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 10 
bis 111. 1924. 

K. Koffka, der bekannte Gießener Professor, entwickelt in einer kurzen, gedrāngte:: 
Zusammenstellung seine Gestalttheorie an Hand einiger Beispiele aus der Kinderpsycholog* 
und den Versuchen an Anthropoiden. Neues zur Theorie ist hier nicht gesagt, es sei somit für 
die Darstellung der Köhler-Wertheimer-Koffkaschen Gestalttheorie auf K.s Werk: „Di 
Grundlagen der psychischen Entwicklung 1921“ verwiesen. v. Kuenburg (München). 

Wheeler, Raymond Holder: A psyehologieal description of intelligence. (Ei 
psychiologische Beschreibung der Intelligenz.) Psychol. review Bd. 31, Nr.: 
8. 161—174. 1924. | 

Die Ansätze der Intelligenzsind in Vorgängen des tierischen beh a vio u r enthalter. 
Nämlich in der P. rzeption, im Unterscheiden und im R agieren auf denselben Re: 
bei sich wiederholenden Situationen. Beim Menschen gilt es dazu die höheren Stufe: 
des Wiedererkennens, Begreifens. Die Intelligenz liegt darin, daß man um sein be- 
haviour auch weiß. Intelligenz ist demnach mehr als bloßes „Denken“ oder auch 3: 
„abstraktes Denken“. Auch bloßes Bewußtsein ist nicht notwendig mit Intelliger: 
verbunden, die vielmehr Bewußtsein von etwas involviert. Lipps (Göttingen). 

Sterzinger, Othmar: Zur Prüfung und Untersuchung der abstrakten Aufmerksan- 
keit. (Psychol. Laborat., Univ. Graz.) Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 23, H.3: 
S. 121—161. 1924. 

Während durch den allgemein angewandten Durchstreichversuch von Bourd:: 
nach Ansicht des Autors die „sinnliche Aufmerksamkeit“ geprüft wird, versu: 
Sterzinger durch eine Versuchsanordnung die „abstrakte Aufmerksamkeit‘‘ zu unte 
suchen. (Man würde besser von Aufmerksamkeit auf sinnliche oder abstrakte Inbai 
sprechen.) St. legt seinen Versuchspersonen eine Texttafel mit sinnlosen But: 
stabengruppen von 1—4 Buchstaben vor. Die Aufgabe besteht darin, folgend: 
zu durchstreichen: 1. jeden Einzelbuchstaben zwischen 2 Vokalen, 2. jeden But 
staben, der einem gleichen folgt, 3. alle Gruppen zu 2 Buchstaben, 4. alle Ein: 
buchstaben, die zwischen 2 Konsonanten stehen, 5. die Buchstaben, die zwischen zw 
gleichen stehen, 6. die Gruppen von Buchstaben denen eine Gruppe von 3 vorauskt‘ 
Diese Aufgaben wurden an 300 Versuchspersonen beiderlei Geschlechts vom 10. Leber: 
jahr ab (Hochschülern, Gymnasiasten, Hilfsschülern) angestellt. St. sucht die p 
chischen Regelmäßigkeiten festzustellen, die sich bei Lösung dieser Aufgaben ergeb: 
Es entsteht zunächst für die Aufgabe ein abstraktes „Leitgebilde‘‘, das zuerst u 
vollständig ist. Hilfen anschaulicher (optischer, akustischer) Art werden herangezi“ 
die während des Übungs- und Rückbildungsganges zurückgehen und einem allger:: 
neren „Wissen“ und bestimmten ‚„Gestaltvorstellungen‘ Platz machen. Während £> 
Arbeitens sind entweder die Regeln bewußt und wird der Einzelfall ihnen jew 
untergeordnet, oder die Regel wird durch den Einzelfall zur Reproduktion gebra:: 
wobei ein „teilinhaltliches Wiedererkennen“ (G. E. Müller) entsteht. Es entwich 
sich, nach der Verschiedenheit der Anlagen, ein Ordnungsprinzip. Die Vielheit © 
Aufgaben verursachte oft Verwirrung (‚da kenne ich mich nicht mehr aus‘) oder aw 
affektive Hemmungen, was besonders bei Jugendlichen deutlich wurde. Das „Richt: 
keitsbewußtsein‘ in bezug auf die Lösung hat keine Korrelation zur Güte der Leisttt: 
Prüfungen mit sukzessiver Darbietung der einzelnen Aufgaben (Aufgabenwech: 
zeigten, daß die Reihenfolge der Aufgaben nicht gleichgültig ist. Das Verhältnis &' 


zs IN c 


Anzahl der zu durchstreichenden Buchstaben zu den nicht zu durchstreichenden 
(Reizdichte) ergab eine höhere Fehlerzahl bei den niedrigen als bei den höheren Reiz- 
zahlen. Es werden Schlußfolgerungen auf Schulleistungen und Berufseignung gezogen. 
— Die Schrift bietet manche .arbeitspsychologisch nicht unwichtige Einzelheiten, 
wegen deren der Interessent auf die Arbeits St. selbst verwiesen werden muß. 

E. Feuchtwanger (München). 

Guillaume, P.: Problème de la perception de P’espace et la psychologie de Penfant. 
(Das Problem der Raumanschauung und die Kinderpsychologie.) Journ. de psychol. 
norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 112—134. 1924. 

Empiristische und nativistische Theorie stehen sich seit langem gegenüber. Die 
Wahrnehmung und das Erfassen der richtigen Verhältnisse des Raumes, der Lagen, 
der Formen, der Größen, der Richtungen werden durch dazugehörige Reaktionen, 
durch die Vorstellung und durch sprachliche Äußerungen beantwortet. Die genetische 
Psychologie wird vornehmlich die motorischen Reaktionen, welche den äußeren Reizen 
entsprechen, beobachten, ohne sich die Einseitigkeit der behavioristischen Betrach- 
tungen zu eigen zu machen. Die hier geschilderten zahlreichen Einzelbeobachtungen 
erstrecken sich auf die allerersten Regungen und Reaktionen gegenüber den statischen 
Reizen, den taktilen, den visuellen, den akustischen; ferner wird das Verhalten bei 
entfernteren Objekten und bei fehlenden Gegenständen, die Anwendung von äußeren 
Stützpunkten bei subjektiver Lageänderung, der Gebrauch von Gegenständen, die 
Orientierung bei Bewegungsrichtungen, das Bilden von homogenen Ganzheiten in 
der Vorstellung, das Erfassen von schematischen und symbolischen Gebilden beobachtet. 
In all diesen Wahrnehmungsleistungen zeigt sich ein erstmaliges spontanes, richtiges 
Erfassen der räumlichen Gegebenheiten und spricht sich Verf. zugunsten der nativi- 
stischen Theorie aus. von Kuenburg (München). 

Decroly, 0.: Quelques considerations à propos de l’inter&t chez Penfant. (Einige 
Gedanken über Kinderinteressen.) Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, 
S. 145—160. 1924. 

Die Interessenrichtung der Kinder mit dem Schulplan zu verbinden ist eine wich- 
tige Aufgabe der Volksschule. Theoretiker entwerfen mehr oder weniger eingehende 
Übersichten über die Interessen der Kinder in jedem Lebensalter von 0 bis 18 Jahren. 
Aber tatsächlich geht die Entwicklung der Interessen nicht nach dem Schema, es zeigt 
sich vielmehr große Variation besonders in den ersten Jahrgängen der Schule. Die 
Ursachen dieser Differenzen innerhalb einer Schulklasse sind verschiedenartig je nach 
der individuellen Entwicklung und dem Milieu aus dem das Kind hervorwächst. Be- 
rücksichtigung aller Interessen würde zu einer weitgehendsten Individualerziehung 
führen (im Sinne Rousseau, Emile). Vorschläge, die das schwierige Problem zu 
lösen suchen, bezieben sich auf die Organisation von Gruppen und auf die Behandlung 
des darzubietenden Stoffes; nur die lebensnotwendigsten Bedürfnisse, Gewohnheiten 
und Betätigungen, die allgemeinsten Lebensinhalte, die allen Kindern gemeinsam sind, 
wären anfangs zu behandeln. Die zu erstrebenden Gewohnheiten sind auf die latenten 
Instinkte aufzubauen und zu pflegen.: Die Behandlung der materiellen, wirtschaft- 
lichen und sozialen Beziehungen des täglichen Lebens gehen vor der intellektuellen, 
moralischen und ästhetischen Bildung. Der Lebenskreis, in dem das Kind zu leben hat, 
soll vom Kinde selbst induktiv erfaßt werden. von Kuenburg (München). 

Weimer, Hermann: Wesen und Arten der Fehler. I. Der Fehlerbegriff. Zeitschr. 
f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 23, H. 1/2, S. 17—25. 1922. 

Der Begriff des Fehlers wird von dem der Täuschung und von dem des Irrtums 
abgegrenzt. Der Irrtum ist ein seelischer Zustand, ein Fürwahrhalten des Falschen, 
das bedingt ist durch die Unkenntnis gewisser Tatsachen, die für die richtige Erkenntnis 
von wesentlicher Bedeutung sind. Der Fehler ist eine Handlung, die gegen die Absicht 
ihres Urhebers vom Richtigen abweicht und deren Unrichtigkeit bedingt ist durch ein 
Versagen psychischer Funktionen. Verf. fordert eine Analye der versagenden Funk- 


2 


Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ref. 


ie IE Ze 


tionen, eine Erforschung nicht nur der Fehlerform, sondern auch der Fehlerarten 
(Perseveration, assoziative Mischwirkung, Gewohnheit u. dgl.). Storch (Tübingen)., 

Weimer, Hermann: Wesen und Arten der Fehler. Il. Teil. Zeitschr. f. pädag. 
Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, H. 3/4, 8. 84—104. 1923. 

Weimer, Hermann: Wesen und Arten der Fehler. III. Teil. Zeitschr. f. pädag. 
Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, H. 9/10, S. 267—282. 1923. | 

Im 2. Teil seines Aufsatzes betont Verf. zunächst die Inhalts-, Gestalts- und Funk- 
tionsähnlichkeit der Fehler mit der richtigen Leistung und behandelt dann die gewohn- 
heitsbedingten Geläufigkeitsfehler, die auf der stärkeren Bereitschaft des Gewohnheits- 
mäßigen beruhen. Im 3. Teil werden die perseverativen Fehler untersucht, die in 
Nachwirkungs- und Vorwirkungsfehler (Perseverationswirkung des bereits Gedachten, 
aber noch nicht sprachlich formulierten) und ferner in Einstellungsfehler gegliedert 
werden. Storch (Tübingen)., 

Ziegler, K.: Von den Gefahren des Veransehauliehens. Hilfsschule Jg. 17, H. 5, 
S. 65—72. 1924. 

Ziegler ist nicht gegen die Anschauung und Veranschaulichung, sondern spricht 
sich nur gegen den falschen Gebrauch und das falsche Maß und gegen eine Veran- 
schauung um jeden Preis aus. Er führt aus, daß unnötig veranschaulicht wird, daß 
manche Art der Veranschaulichung in Methode und Mittel viel zu kompliziert ist, 
daß nicht jede Veranschaulichung auch den Kern einer Sache trifft und daß durch 
gekünstelte Anschauungsmittel eine Überwucherung des Unterrichts stattfinden 
kann. Z. warnt im Grunde nur vor ÖOberflächlichkeit, mit welcher das Veranschau- 
lichte betrieben werden kann. Er warnt, daß Sache und Wirklichkeit durch Künsteleien 
verdrängt und verdunkelt werden, oder daß man am Äußerlichen und Nebensächlichen 
hängen bleibe. Zwischen Anschauen und geistigem Erfassen liegt die große Kluft, 
die nur durch geistiges Wachstum überbrückt werden kann. Egenberger (München). 

© Lobsien, Max: Schülerkunde auf Grund von Versuchen. 2. Aufl. Leipzig u. 
Berlin: B. G. Teubner 1923. 210 S. G.-M. 3.—. 

Diese zweite Auflage zeigt gegenüber der ersten („Experimentelle praktische 
Schülerkunde‘“, 1916) folgende Veränderungen: Die ersten beiden Abschnitte (,Körper- 
maße‘“ und „Geistige Fähigkeiten des normalen Schulkindes‘‘) sind etwas eingeengt. 
Im dritten Abschnitt („Die Arbeit des Schulkindes‘‘) sind neu hinzugekommen die 
Kapitel „Einzel- und Gesamtarbeit‘‘ und „Seelische Berufseignung‘‘. Der Beitrag von 
Mönkemöller über „Das pathologische Kind“ ist weggefallen, ebenso das Schluß- 
kapitel über ‚„Personalbogen‘‘ und zwei Anhänge, enthaltend Testmaterial. Die Fremd- 
worte sind durch deutsche Worte ersetzt. Der Charakter des Buches ist derselbe ge- 
blieben: es stellt ein umfangreiches Sammelreferat über experimentell-pädagogische 
Verfahrungsweisen dar, deren praktische Verwertbarkeit im Schulbetrieb nicht immer 
kritisch genug geprüft wird. Manche wichtige Probleme der pädagogischen Psycho- 
logie finden in dieser „Schülerkunde‘“ keinen Platz. Das Buch als Ganzes mutet etwas 
veraltet an. Bobertag (Berlin). 

Koch, Helen Lois: The influenee of mechanical guidance upon maze learning. 
(Der Einfluß einer mechanischen Führung auf das Lernen in Irrgartenversuchen.) 
(Psychol. laborat., univ., Chicago.) Psychol. monographs Bd. 32, Nr. 5, S.1—113. 1923. 

Eine sehr sorgfältige tierpsychologische Untersuchung mittels der Methode der 
sog. „Reaktionsfindung‘“ (Labyrinthversuche). Es soll der Einfluß eines lenkenden 
Eingriffes während der kritischen Phase des Versuchs auf die Zahl der notwendigen 
Versuche, auf die Dauer der Erlernung und auf die Fehlerzahl beobachtet werden. 
Der lenkende Eingriff besteht im Verschließen bestimmter Ausgänge des Labyrinths, 
um falsch orientierte Bewegungen zu verhüten. Möglichst ähnliche Bedingungen wurden 
zur Untersuchung erwachsener Vpn. hergestellt, wobei es sich natürlich nur um die 
Untersuchung eines sehr eng umschriebenen motorischen Bewegungsgebietes handeln 
konnte. Wie zu erwarten war, sind die Ergebnisse der Versuchstiere (40 Albinoratten) 


— 19 — 


und der menschlichen Vpn. nicht die gleichen. In 61 Tabellen und Kurvenzeichnungen 
werden für beide Gruppen die erzielten Resultate dargestellt und gezeigt, unter welchen 
bestimmten Bedingungen eine von außen kommende Lenkung günstige, wann ver- 
wirrende oder schädigende Situationen schafft. von Kuenburg (München). 

Piñerúa, Osear: Die Spiele der Kinder. Siglo méd. Bd. 72, Nr. 3649, S. 1104 
bis 1107, Nr. 3650, S. 1135—1138 u. Nr. 3651, S. 1161—1163.. 1923. (Spanisch.) 

Verf. gibt eine übersichtliche Darstellung der Theorien über die Entstehung der 
Spiele (nach Spencer, Claparède, Groos usw.), beschreibt die verschiedenen 
Arten der Spiele, bringt eine Einteilung derselben und schildert ihren Einfluß auf 
Geist, Körper und Charakter der Kinder. Er befürwortet die Anlegung öffentlicher 
Spielplätze und die Beiziehung von Lehrern und Ärzten, um den Spieltrieb der Kinder 
in die richtigen Wege zu leiten. Ganter (Wormditt). 

Cramaussel, E.: Ce que voient des yeux d’enfant. (Was Kinderaugen sehen.) 
Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 161—169. 1924. 

Allgemein wird heute angenommen, daß Kinder in ihren Wahrnehmungen auf 
das Allgemeine achten, das Ganze vor den Teilen erfassen, die Gesamtheit (wenn auch 
nebelhaft) vor den Einzelheiten, den Typus vor dem Individuellen. Dagegen wendet 
sich Verf. und zeigt in seiner Untersuchung, daß die Kinder nur dasjenige an den ihnen 
vorgelegten Bildern ‚sehen‘, was ihren Lebenserfahrungen entspricht; sie assimilieren 
das aus ihrem Leben Bekannte mit dem unbekannten des Bildes. Einige Beispiele: 
griechische Masken werden als Affen angesehen, ein 3armiger Leuchter als Gabel, 
ein Pfau als Taube, eine Libelle als Schmetterling, undifferenziertte Baumgruppen 
einer Landschaft als Wind, Nebel und Wolken als Wasser und ähnliches mehr. M. E. 
werden die Antworten der Kinder durch das Anschauungsmaterial und die Versuchs- 
anordnung beeinflußt. Das Alter der Kinder beträgt 27—31 Monate. Einer weiteren 
Gruppe von 4 und 5jähr. Kindern wurde die bekannte französische Briefmarke (la 
semeuse) dargeboten. Die Antworten entsprechen den oben genannten Erfahrungen. 
Die Versuchsanordnung erfaßt nicht die Gesamtheit der einschlägigen Probleme. 

von Kuenburg (München). 

Luquet, G.-H.: La narration graphique chez Penfant. (Die graphische Darstellung 
des Kindes.) Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 183—218. 1924. 

Aus den reichhaltigen Sammlungen von Kinderzeichnungen von Earl Barnes 
(mit 6393 Zeichnungen), von Sophie Partridge (mit 3056) ‚von Levinstein (mit 
4943), von Lamprecht (15000) und aus eigenen Beobachtungen heraus stellt Verf. 
Kindertypen auf, die in ihren Zeichnungen teils einen intellektuellen, teils einen vi- 
suellen Typus verraten. Vom Standpunkt der Analyse der Zeichnung erkennt Verf. 
1l. einen „type symbolique“ (bei Levinstein sind es die Stimmungsbilder, die diesem 
Typus entsprechen), 2. einen „type d’Epinal‘ (nach Levinstein die Erzählungsbilder, 
Wickhoff nennt ihn den distinguierenden Typus), 3. einen „type à répétition“ (nach 
Wickhoff.ein kontinuierender) und endlich 4. einen type à juxteaposition (nach 
Wickhoff ist es der komplementierende T., bei Levinstein sind es die Fragment- 
bilder). Dieselben 4 Typen findet Verf. an ethnographischem Material und in der Kunst. 
Mit dem Lebensalter wechselt der Typus der Darstellung und vollzieht sich mit zunehmen- 
dem Alter der Übergang vom intellektuellen zum visuellen Realismus (vom schema- 
tischen zum erscheinungstreuen Bild; dazu Bühler, Die geistige Entwicklung des 
Kindes. 3. Aufl., S. 236—298). von Kuenburg (München). 

Alberti, Angelo: Il problema dell'istruzione religiosa dal punto di vista psicologico. 
(Das Problem des Religionsunterrichtes vom psychologischen Standpunkt.) Note e 
riv. di psichiatr. Bd. 11, Nr. 3, S. 599—606. 1923. 

In Italien wurde der obligatorische Religionsunterricht in den Volksschulen von 
Staats wegen eingeführt. Verf. frägt nach der psychologischen Bedeutung dieses 
Unterrichtes und meint, nur auf Grund emotiver Reaktionen, somit auf dem Wege 
des Religiösen sei das Kind zum Pflichtbewußtsein zu erziehen. Zwischendurch gute 


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— 0 — 


Bemerkungen zur Frage des geistigen Kontaktes zwischen Lehrer und Schüler, im 
Anschluß an eben den Gentile, der jenes Gesetz veranlaßte.. Rudolf Allers (Wien). 

© Wunderle, Georg: Frühkindliehe religiöse Erlebnisse im Liehte späterer 
Erinnerung. Psychologische Studie im Anschluß an eine Umfrage. (Abh. z. Philosophie 
u. Psyehol. d. Religion. Hrsg. v. Georg Wunderle. H.4.) Würzburg: C. J. Becker, 
Univ.-Druckerei 1923. 61 S. G.-M. 1.60. 

Die Methode der Untersuchung ergibt sich aus dem Titel. Die Antworten und 
Aussagen der Versuchspersonen berechtigen zu dem Schluß, daß die genaue Fest- 
stellung der ersten religiösen Kindheitserlebnisse trotz sorgfältigsten Besinnens sehr 
schwer ist, sie aber dennoch, wenn auch selten, auftreten. Ferner geht hervor, daß die 
Unterscheidung von ‚schlichten‘ religiösen Erlebnissen und von ‚„prägnanten“, im 
modernen Sinne, methodisch durchwegs zu beachten ist, letztere aber im frühkindlichen 
Erleben äußerst selten vorkommen. Verf. gibt zu, daß seine Versuchspersonen in ihren 
Schilderungen zwischen der Angabe schlichter und prägnanter Erlebnisse schwanken 
(die Versuchspersonen also wahrscheinlich die Fragestellung zu eng fassen). In seiner 
vorsichtigen und fein abgewogenen Analyse der Protokolle und seinen kritisch-theore- 
tischen Überlegungen berührt Verf. das Problem der Aktivität und Passivität im re- 
ligiösen Erleben, die Gefahr der Suggestion, die auslösenden Momente, die Zeit des erst- 
maligen Auftretens selbständigen Überlegens, die Beteiligung anderer seelischer Äu- 
Berungen, wie Gefühle, Affekte, Stimmungen; vor allem aber behandelt Verf. die, 
Schwierigkeiten, die sich durch die Erinnerung nach den Erinnerungsaussagen der 
Erwachsenen über ihre ersten Erlebnisse ergeben. Der erfahrene Religionspsychologe 
ist sich des relativ ‚bescheidenen Bausteines‘‘ bewußt, der sich aus vorliegender Unter- 
suchung ergibt, aber auch dieser liefert einen Beitrag zur erfahrungsmäßigen Erkenntnis 
des kindlichen Seelenlebens. Uns erscheint die Studie ergänzungsbedürftig, nicht wegen 
der relativ geringen Anzahl der Versuchspersonen (es sind 32 männliche und weibliche 
katholischer Konfession), wohl aber durch weitere Erfahrungen, die auf anderen metho- 
dischen Wegen gefunden, gesammelt und verwertet werden müßten. von Kuenburg. 

Wildermuth, Hans: Sehizophrene Zeichen beim gesunden Kinde. Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 86, H. 1/2, S. 166—173. 1923. 

Eine erste Ähnlichkeit zwischen der Schizophrenie und der Geisteshaltung des 
gesunden Kindes besteht in der doppelten, zwischen Spiel und Ernst schwebenden 
Wirklichkeitseinstellung (Gegenstandsbewußtsein).. Sodann in auffallenden Wort- 
neubildungen in der unreflektierten emotionalen Art des Ichbewußtseins, ferner in 
der ausgesprochenen autistischen Verhaltungsweise, was für die Art des Witzes aus- 
geführt wird. Als Ursache für die Parallelen wird an die ungenügende bzw. fehlende 
Tätigkeit der Sexualdrüsen gedacht. Verf. zieht für die Schizophrenie Arbeiten aus der 
neueren Literatur heran. Eingehendere Beobachtungen an Kindern werden nicht mit- 
geteilt. Eliasberg (München). 

Bagby, English: The inferiority reaetion. (Die Reaktion auf das .Gefühl der 
Minderwertigkeit.) (Yale univ., New Haven.) Journ. of abnorm. psychol. a. soc. 
psychol. Bd. 18, Nr. 3, S. 269—273. 1923. 

Der Autor beschreibt 5 Typen der Anpassung, durch die der unter dem Minder- 
wertigkeitsgefühl (Adler) leidende Mensch sich von diesem zu befreien vermag: den 
Typus der adäquaten Anpassung: ein schwächlicher Junge wird durch systematisches 
Training ein guter Fußballspieler und verliert infolgedessen seine schüchterne, unsichere 
Haltung; Anpassung durch Erwerb besonderer Fähigkeiten: ein Patient schreibt Ge- 
dichte in freiem Versmaß, die er nicht veröffentlicht, sondern nur einem kleinen Kreise 
vorliest, unter Hinweis auf die Verständnislosigkeit des Publikums. Anpassung durch 
Entwicklung paranoider Ideen: ein etwas beschränkter junger Mann, der sich in keiner 
Stellung halten kann, glaubt sich von seinem ersten Arbeitgeber verfolgt; Anpassung 
durch neurotische Symptome: ein kleines Mädchen, das von Kindern, mit denen sie 
verkehrte, unfreundlich behandelt wird, entzieht sich weiteren Einladungen durch 


En A ee 


rechtzeitig einsetzende Kopfschmerzen; Anpassung durch Flucht vor der Wirklichkeit: 
die funktionelle Psychose. Der Autor weist darauf hin, daß auf diesem Wege gewisse 
Symptome, die von der Psychoanalyse auf sexuelle Komplexe zurückgeführt werden, 
zwanglos verständlich werden. Erwin Wexberg (Wien)., 

Raspe, Carla: Untersuehungen über Kinderträume. (Psychol. Inst., Univ. Rostock.) 
Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25, Nr. 5/6, S. 156—178. 1924. 

Methode: 533 Schulkinder aus Volks- und höheren Schulen beiderlei Geschlechts 
von 8—15 Jahren wurden unerwartet (im Überrumpelungsverfahren) zur Niederschrift 
ihrer Träume veranlaßt. Es ergaben sich 362 Traumberichte. Eine Tabelle berichtet 
über die hervorstechenden Motive. Dabei sind 65% unlustbetont (Verfolgungsträume, 
Unglücksfälle, Schulträume, Fallträume, über Tod und Krankheit, über kleine mora- 
lische Vergehen, über Feuer). Ausgesprochen lustbetont 28%, Märchen, Feste, Spiel 
und Sport, Wunschträume. Erotische Motive spielen, wenn man von gewaltsamen 
Symbolisierungen Abstand nimmt, kaum eine Rolle. Der Bedenklichkeiten des Ver- 
fahren ist die Verf. sich bewußt. Sie beschränkt sich auf rein statistische Bearbeitung 
und vermeidet bei der Art des Materials mit Recht weitergehende Deutungen. 
Interessant ist ein Anhang über Traumtheorien der Kinder. Die Kinder sollten nach 
der Niederschrift des Traums schriftlich die Frage beantworten: Wie kommt es wohl, 
daß wir träumen? Die kindlichen Theorien beziehen sich auf Perseveration von Er- 
lebnissen, Lektüre und anderem, 2. auf physiologische Vorgänge, 3. auf äußere Reize, 
akustischer und taktiler Art, 4. auf religiöse Faktoren. Beispiel: der liebe Gott hat 
ein Buch, liest uns was vor und das träumen wir (8jähriges Mädchen). Zliasberg. 

@ Missriegler, Anton: Aus der Sprechstunde eines Psyehanalytikers. Radeburg: 
Dr. Marbus & Co. 1923. 135 S. G.-M. 3.—. 

Die flott, im Unterhaltungsstil geschriebene kleine Broschüre bringt eine populäre 
Darstellung der Freudschen Lehre, ohne orthodox oder einseitig zu sein. — Sofern 
man nicht grundsätzlich einer Verbreitung und Popularisierung der psychoanalytischen 
Literatur ablehnend gegenübersteht, ist das Büchlein als Laieneinführung zu emp- 
fehlen. Vıllinger (Tübingen). 

Freud, Sigm.: Die infantile Genitalorganisation. (Eine Einschaltung in die Sexual- 
theorie.) Internat. Zeitschr. f. Psychoanal. Jg. 9, H. 2, S. 168—171. 1923. | 

Der Artikel bringt eine Ergänzung zu den: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 
Während Freund früher annahm, das Primat der Genitalzone setze sich erst in der 
Pubertätszeit durch, findet er jetzt, daß doch schon beim Kinde das Interesse an den 
Genitalien und ihrer Betätigung eine dominierende Bedeutung gewinnt. Indes handelt 
es sich nur um ein „Primat des Phallus‘‘ der bei beiden Geschlechtern fast allein die 
Aufmerksamkeit beschäftigt. Sein Fehlen wird als Folge strafweiser Kastration auf- 
gefaßt, so daß die Knaben und oft anscheinend auch die Mädchen respektierten Frauen, 
z. B. der Mutter den Besitz eines solchen zuschreiben. Busch (Köln). 

Honecker, Martin: Zur Psyehologie und Pathologie der sittlichen Wertung. Zeitschr. 
f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25, H. 3/4, S. 65—75. 1924. 

Verf. untersucht die Stellung und Beteiligung überhaupt von Gefühlen bei der 
sittlichen Wertung. Die Werterlebnisse sind komplizierte Gebilde, denen eine inten- 
tionale Beziehung auf Gegenstände eigen ist, d. i. deren Kern Gedanken sind. Die 
Gefühle sind dabei nur eine Begleiterscheinung. Das sittliche Werten ist vorzüglich 
ein Wertmeinen. Auf Gefühle stoßen wir zweitens, sofern sie als Faktor in der Fun- 
dierung der originären Wertung auftreten. Und schließlich führt die Entwicklung des 
individuellen Wertbewußtseins auf an sinnliche ‚Anlässe gebundene Gefühle als auf 
das Ausgangserlebnis der Wertung. Verf. betont dann die Ichbezüglichkeit der Wer- 
tung als besonderes Moment; die denkbar engste Ichverknüpfung hat die Wertung, 
wo sie im einzelnen Falle konkreter Motivierung eines Willensentschlusses auftritt. 
Im Anschluß an diese normalpsychologischen Untersuchungen wird dann deren An- 
wendung auf die Erklärung der sittlichen Defekte erörtert. Lipps (Göttingen). 


as 99 u 


eLindworsky, Johannes: Willenssehule. (Handbücherei d. Erziehungswiss. Bd. 3.) 
Paderborn: F. Schöningh 1923. VIII, 126 8. G.-M. 1,40. 

Es kann keinem Heilpädagogen erspart bleiben, sich mit Lindworskys Psycho- 
logie des Willens und seiner Willensschule zu beschäftigen. Gerade für den Praktiker, 
namentlich auch in der Fürsorgeerziehung, kommen aus diesen wissenschaftlichen 
Werken sehr wichtige Anregungen. Den Willen, der vom Fühlen, Empfinden und 
Denken verschieden ist, erkennen wir beim Entscheiden, bei innerer Zustimmung. 
Wir bemerken ihn beim zielstrebigen Handeln, das kein zufälliges Zusammentreten 
von Vorstellungsgruppen ist. Der Wille hat aber weder über die Muskelbewegungen, 
noch über die Gedanken eine unmittelbare Herrschaft. L. weist dem Willen 
die Rolle eines Weichenstellers zu. Die psychische Energie ist zu verteilen. Bei 
vermittelten Willkürhandlungen spielt der Wille nicht den allgewaltigen Tyrannen, 
sondern den Generalissimus, der die letzte Entscheidung fällt. Willenskraft ist ab- 
hängig vom Ziel, Wert, Motiv. Wo kein Motiv, da auch keine Willensstärke. Der 
Wille wird bewegt durch das, was sich ihm als Wert darbietet, und diese können nur 
durch Verstand und Gefühl erkannt werden. Motive müssen im Gedankensystem 
fest eingefügt sein und so in Bereitschaft stehen, daß sie im rechten Augenblick wirksam 
werden können. Mit der Vorstellung der Gelegenheit muß auch der Motivgedanke 
assoziiert sein. Die Aufgabe des Erziehers ist, stets neue Motive in die Seele des Kindes 
einzuführen. Das entsprechende Motiv macht den Willen stark. Äußerliche Übung, 
Zwang, Aufsicht nutzen nichts, das Motiv muß der Beweggrund sein. Gegenüber 
Anschauung und Gefühl ist die Überlegenheit des gedanklichen Elementes zu betonen. 
Die Motive sind immer gedanklich gegeben und zwar für oder gegen das Willensziel. 
Der Wille kann Gedanken nicht vernichten. Einen unmittelbaren Einfluß des Willens 
auf den Gedankenverlauf gibt es nicht. Gedanken lassen sich nur durch andere Ge 
danken bekämpfen. Im sittlichen Leben kommt alles auf die Fähigkeit der Gedanken- 
beherrschung an. Gedankenerziehung ist die wichtigste pädagogische Aufgabe. Die 
Mittel der Willenserziehung haben nur dann und nur soweit Wert, als sie zur Bereit- 
stellung von Motiven verwendbar sind. Diese wenigen Proben mögen dartun, daßL. 
ein Wissenschaftler ist, der dem Praktiker sehr viel zu sagen hat. Er bringt tatsächlich 
Sinn und Struktur in die praktischen Bemühungen, aber man muß sich mit ihm so- 
lange beschäftigen, bis man die Materie durch und durch beherrscht. Zgenberger. 

Sehmidt, Eugen: Individualpsychologie und Strafreeht. Internat. Zeitschr. i. 
Individualpsychol. Jg. 2, Nr. 2, 8. 40—41. 1923. 

Die Individualpsychologie setzt sich zum Ziel, das Verbrechen aus der Persönlich- 
keit des Verbrechers heraus zu erklären. Sie ist frei von Vergeltungsmotiven und unter- 
scheidet sich grundsätzlich von der herkömmlichen Anschauung, die rechtswidrige 
und nichtrechtswidriges Handeln einander gegenüberstellt. — Die Leitlinien des Ver- 
brechers sind durch ein außergewöhnlich entwickeltes Minderwertigkeitsgefühl gegeben. 
das ohne Rücksicht auf die Gemeinschaftsinteressen nach Überlegenheit drängt 
Das Ziel der Überlegenheit wird in verschiedenen Richtungen verfolgt; einmal durch 
Trotz und negativistisches Verhalten gegenüber den Gemeinschaftsinstitutionen: 
dann durch die Entwertung des Mitmenschen, durch die Unterdrückung von dessen 
Freiheit; endlich werden Gebiete gemieden, in denen die Überlegenheit nicht gewährt 
ist, vielmehr Niederlagen gefürchtet werden. — Ob die Individualpsychologie, wie 
Verf. meint, dazu imstande ist, durch Befreiung von Minderwertigkeitsgefühl und 
Überlegenheitswahn heilend zu wirken, ist mir zweifelhaft. Sicherlich aber ist sie 
für das Strafrecht von allergrößter Bedeutung. H. Hoffmann (Tübingen). 

Usnadze, D.: Ein experimenteller Beitrag zum Problem der psyehologischen Grund- 
lagen der Namengebung. (Psychol. Inst., Univ. Tiflis, Georgien.) Psychol. Forsch. 
Bd. 5, H. 1/2, S. 24—43. 1924. 

Den Versuchspersonen wurden in je 5 Sekunden dauernder Exposition nacheinander 
6 sinnlose Zeichnungen und darauf 42 sinnlose Lautkomplexe mit der Aufforderung 


— 23 — 


vorgelegt, für jede Zeichnung aus diesen Lautkomplexen einen Namen auszuwählen. 
Es ergaben sich 2 Typen für das Finden der Bedeutung, die im indifferenten Material 
gesehen wird: a) es wird ein bekannter Gegenstand zum Träger der Bedeutung; b) irgend- 
ein Teil der Zeichnung wird an etwas Einzelnes angegliedert, das sofort zur Quelle 
der Erzeugung eines Gesamtbildes wird, in das sich jenes Einzelne eingliedert; dieser 
2. Typus ist durch einen mitspielenden lebhaften Gefühlston ausgezeichnet. Vier Unter- 
gruppen: 1. Die Versuchsperson analysiert die angeschaute Figur, stellt die Relation 
ihrer Teile fest und hilft sich mit dem Gedanken dieser Relation. 2. Die Ver- 
suchsperson beschränkt sich auf die allgemeine, manchmal ganz abstrakte Charak- 
terisierung der Zeichnung. 3. Die Versuchsperson gerät bloß in eine emotionelle Gesamt- 
lage. („Es blieb allein der klare Eindruck des Angenehmen.“‘) 4. Es entsteht nur ein 
„allgemeiner Eindruck“. Bei vielen Versuchspersonen geht der Aufbau der Bedeutungs- 
vorstellung der Wortwahl nicht voraus, sondern folgt ihr nach. Auch bei der Wort- 
wahl finden sich emotionale Einschläge, indem jeder Lautkomplex mit einer bestimm- 
ten Gefühlslage verbunden wird, die dann derjenigen des zu benennenden 
Objektes assimiliert wird. Es kommt auch vor, daß einzelne Lautkomplexe in einzelnen 
Versuchspersonen bestimmte Gestaltvorstellungen hervorrufen, die dann mit der 
Zeichnung harmonisieren müssen, damit die Wortwahl erfolge. Der häufigst gangbare 
Weg bei der Wortwahl ist der, daß der Lautkomplex auf seine Ähnlichkeit mit einem 
bekannten Wort hin gewählt wird. Oft wieder ist Emotionelles maßgebend; ein an- 
genehmer Lautkomplex oder ein solcher, der an angenehme Gegenstände oder Erleb- 
nisse erinnert, wird zu einer angenehm wirkenden Zeichnung gewählt. Eine andere 
Gruppe von Versuchspersonen ist durch folgende Angabe charakterisiert: ‚Ich wollte 
der Zeichnung irgendeinen Inhalt verleihen. Einen Teil stellte ich mir als Feuer- 
flammen vor; dies hat das Bild der Magier hervorgerufen, die sich ums Feuer ver- 
sammelt haben, um Prophezeiungen zu machen. Bei der Auswahl der Worte wollte 
ich mich durch dieses Bild leiten lassen. Beim Durchlesen der Liste aber sagte ich 
mir: ‚Nein, hier ist nichts Passendes.‘ Trotzdem lenkte ich meine Aufmerksamkeit 
unwillkürlich auf einen Lautkomplex, und zwar auf evohur, vielleicht deshalb, weil 
er ähnlich dem armenischen Worte Gott klingt; doch bin ich dadurch gar nicht be- 
friedigt... Evohur bleibt sozusagen für sich und die Vorlage auch für sich, sie decken 
sich nicht. Die Vorlage macht den Eindruck von etwas Emporschwebenden, während 
evohur mehr zur Erde gerichtet ist.“ Versuche, ob die Versuchsperson nach einiger 
Zeit noch die gewählte Silbenfolge weiß und ob sie dieselbe oder eine andere wöhlt, 
ergab bei Komplexen, die auf Grund eines assoziativen Faktors gewählt worden waren, 
ein oft festeres Haften im Gedächtnis, aber nur hinsichtlich eines Teiles des Laut- 
komplexes. Waren andere Faktoren maßgebend, so versagte das Gedächtnis, aber 
es wurde derselbe Komplex wieder gewählt. Die Reaktionszeit ist bei Versuchs- 
personen, welche sich nach dem assoziativen Faktor richten, wesentlich größer 
als bei anderen. „Nach all diesen Versuchen scheint der sprachfundierende Wert 
der sachlichen Faktoren viel höher als der des assoziativen Faktors.‘“ Hervorhebenswert 
ist noch, daß 45% der Versuchspersonen für die erste Figur denselben Lautkomplex 
gewählt haben. Daraus schließt der Verf., daß ein objektiver Zusammenhang zwischen 
Gegenstand und Namen bestehen dürfte (im Sinne Curtius).  Fröschels (Wien). 

© Rümke, H. C.: Zur Phänomenologie und Klinik des Glücksgefühls. (Mono- 
graphien a. d. Gesamtgeb. d. Neurologie u. Psyehiatrie. Hrsg. v. O. Foerster u. K. Wil- 
manns. H.39.) Berlin: Julius Springer 1924. 98 S. G.-M. 6.—. 

Die an 9 klinischen Fällen durchgeführten Untersuchungen des Verf. bestätigen 
die Auffassung von Scheler, nach der die Gefühle nicht nur nach Qualitäten zu unter- 
scheiden sind, sondern auch hinsichtlich der Stellung im Aufbau des „Ich“ voneinander 
abweichen. An einem Fall wird demonstriert, wie gleichgerichtete Gefühle verschiedener 
Schichten gleichzeitig erlebt werden können, ohne einander aufzuheben und in das 
Glücksgefühl als in das stärkste positive Gefühl aufgenommen zu werden. Das Glücks- 


— 24 — 


gefühl gehört zu den in eigentlichem Sinne psychischen Gefühlen — im Gegensatz zu 
den vitalen, d. i. nur nicht näher zu lokalisierenden Leibgefühlen. Es hat eine zentrale 
Stellung, und in manchen Fällen ergreift es in der Weise eines geistigen Gefühls (in 
Schelers Terminologie) Besitz von der ganzen Persönlichkeit. Die sog. Fähigkeits- 
gefühle gehören in die Schicht der vitalen Gefühle, aber nicht in diejenige des Glücks- 
gefühls (vgl. dagegen W. Mayer, Zur Phänom. abnormer Glücksgef., Zeitschr. í. 
Pathopsych. 2, 1914). Die Glücksqualität bietet keinerlei Kriterium für das Patho- 
logische oder Nichtpathologische eines Zustandes. Der dem Glücksgefühl vorar 
gehende Zustand „wird höchstens als ein reliefgebender Kontrast in das Erleben mit 
aufgenommen. Ein Motiv für das Glücksgefühl wird fast nie gefühlt; allein die religiösen 
Glücksgefühle finden in ihrem Ursprung ihre Motivierung.‘‘ Das Glückssyndron: 
findet sich vorzüglich bei komplizierten psychogenen Psychosen, bei Degeneration: 
psychosen und ecnoiaartigen Zuständen. Die darin liegende Kontroverse zur üblichen 
Auffassung, nach der Glücksgefühle vorkommen bei der Dementia paralytica, bei de! 
manischen Phasen des manisch-depressiven Irreseins usw., erklärt sich durch die Ver- 
wechslung des Glücksgefühles mit anderen nicht so zentralen Gefühlen wie z. B. der 
Euphorie. Lipps (Göttingen). 

Hirsch, Georg: Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage. Zeitschr 
f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25, H. 3/4, S. 101—117. 1924. 

Vorliegende Abhandlung ist eine Fortsetzung der Ausführungen aus der Zeitschr. í 
pädag. Psychol. u. exp. Pädag. 23, 409 1922, welche dieselben Probleme der Sona: 
psychologie zum Gegenstand haben. Dort wurde der Begriff der Masse entwickelt. hiet 
zeichnet Verf. in lebenswahren Zügen die Einzelpersönlichkeit, die der Masse als ‚Führer 
gegenübersteht. Das Werden, das Streben, die Gestaltung, die Ziele der Einzelpersör- 
lichkeit, ihre psychische Umstellung und Umgestaltung im Sinne einer einseitigen „Uu 
fangssteigerung‘‘, andrerseits einer Verarmung an innerlichen ‚„Lebensgebieten“, di 
Beiseiteschieben des Gefühls- und Willenslebens, das Hervorheben der eigenen Über- 
legenheit und das Unter drücken der Selbständigkeit und der Individualität in è 
Masse; Einflüsse äußerer und innerer Lebensformen schaffen diese Art modern" 
Persönlichkeit. von Kuenburg (München). 


Angewandie Psychologie : 


@ Baudouin, Charles: Suggestion und Autosuggestion. Psychologisch-pädagogisch 
Untersuehung auf Grund der Erfolge der neuen Sehule von Naney. Autorisierte Übersl: 
a. d. Französisehen v. Paul Amann. Dresden: Sybillen-Verlag 1924. 316 S. G.-M. 6.- 

Das Buch berichtet — in breiter sich oft wiederholender Darstellung — von der Therap} 
durch Autosuggestion, wie sie von E. Cou € und in der „neuen Schule von Nancy“ geübt wit. 
Die Absicht des Verf. ist es vorzüglich, zu zeigen, wie durch Erziehung dieses fürs erste late: 
Vermögen der „unbewußten Verwirklichung einer Idee“ entwickelt werden kann. — Die ż- 
Demonstrationsmaterial eingefügten Krankengeschichten sind leider in eine so knappe Fer: 
zusammengezogen worden, daß sie für die Beurteilung der Fälle wertlos sind. Lippi 

Rohden, Friedrich v.: Über Wesen und Untersuchung der praktischen Intellizen 
(Landesheilanst. Nietleben b. Halle.) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. t 
H. 3, S. 317—368. 1924. 

Verf. berichtet ausführlich über seine Versuche an 190 nach Alter und Bild: 
sehr verschiedenen Personen, die zum Teil geistig normal, zum Teil Kriegsbeschādir 
und Hirnverletzte, zum Teil Geisteskranke waren. Er verwendete Aufgaben zur Fr- 
fung a) der Organisationsfähigkeit (Koffertest, Auftragstest, Rangiertest, Absucht« 
Organisatortest), b) der Kombinationsfähigkeit (Stocktest, Basteltest, Umwegte: 
c) der praktischen Aufmerksamkeit (Zahlensuchtest, Figurensuchtest). Schließl. 
verglich er die Ergebnisse dieser Tests mit denen einer Prüfung der ‚‚theoretisci: 
Intelligenz‘ seiner Versuchspersonen. Der Wert der zahlreichen Einzelresultate ¢ 
Arbeit wird durch die große Verschiedenheit der Untersuchten in geistiger Hinsx!' 
die einen genauen Vergleich unmöglich macht, stark beeinträchtigt.  Bobertay. 





da P eS 


Phillips, William: John Locke on the general influence of studies. (Locke und 
der allgemeine Einfluß der Übung.) Brit. journ. of psychol., gen. sect. Bd. 13, Nr. 1, 
S. 1—25. 1922. 

Lockes Stellung zu mancherlei Problemen der Erziehung, insbesondere zu dem 
Problem der. ,‚Mitübung‘ anderer Funktionen wird kritisch erörtert. 

Köhler, Georg: Experimentell-pädagogisehe Untersuehung über die Entwieklung 
der mathematischen Kritikfähigkeit. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25, 
H. 3/4, S. 94—100. 1924. 

Die Arbeit ist ein Auszug aus einer nichtveröffentlichten (Bonner) Dissertation 
und wegen allzustarker Zusammendrängung nicht in allen Einzelheiten völlig ver- 
ständlich. Den Klassen Sexta bis Untersekunda einer Oberrealschule wurden 7—8 ein- 
gekleidete Aufgaben vorgelegt, unter denen sich nur 2 lösbare befanden, mit der An- 
weisung, anzugeben, ob die Aufgabe lösbar sei, und wenn nicht, weshalb sie nicht 
lösbar ist (z. B. „Jemand besitzt 2 Bauplätze; der eine umfaßt 420 qm, der andere 
hat eine Länge von 20 m. Wie groß sind beide zusammen ?“). Die besten Lösungen 
werden in der Sexta von denjenigen Schülern geliefert, die 1 Jahr älter sind als das 
Durchschnittsalter der Klasse; dies ändert sich allmählich so, daß in Untersekunda 
die um 1 Jahr zu jungen Schüler die besten sind. — In Obertertia und Untersekunda 
tritt infolge eines „gewissen Widerwillens gegen kritisches Denken“ ein Rückgang 
der Leistungen ein. Im übrigen war ein besonderer Einfluß der Pubertät auf die Ent- 
wicklung der mathematischen Kritikfähigkeit nicht nachweisbar. — Der Verf. unter- 
scheidet 6 typische Verhaltungsweisen bei der Lösung seiner Aufgaben; doch scheint 
mir diese Aufstellung nicht sehr belangreich zu:sein, weshalb ich sie hier übergehe. 
Zum Schluß werden einige Forderungen bez. schulorganisatorischer Maßnahmen 
(Prüfung für die Aufnahme in Sexta, Ausscheidung der Ungeeigneten, Klassenpensen) 
abgeleitet. Lipmann (Kleinglienicke b. Potsdam). 

Berliner, Anna: Einfluß des Alters auf die Geschwindigkeit bei leichter Arbeit. 
Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 23, H. 3/4, S. 196—204. 1924. 

Psychotechnische Untersuchung zwecks Auswahl neu einzustellender Arbeite- 
rinnen in eine japanische Fabrik. Die Vpn. stehen im Alter von 13—29 Jahren (resp. 
12—28). Es handelt sich um die möglichst rasche Verpackung pharmazeutischer und 
kosmetischer Artikel; die Tests sollten dieser Arbeit angeglichen werden. 11 zweck- 
mäßig ausgewählte Proben sollen die Geschwindigkeit bei der Arbeit „messen“. Als 
Resultat sagt Verf.: „es gibt gewisse leichte Bewegungen, deren Geschwindigkeit eine 
Funktion des Lebensalters ist. Im allgemeinen zeigte sich uns, daß die Zeit bis un- 
gefähr zum 20. oder 21. Jahre (japanisches Alter) abnimmt und dann fortgesetzt an- 
steigt.“ Die Verarbeitung der Tests zielt auf Maximalleistung und analysiert nicht 
den psychischen Vorgang. Der Übungsfaktor wird berücksichtigt, andere Fehlerquellen 
nicht in Betracht gezogen. Den psychotechnisch interessierten Lesern sei die Arbeit 
zur Durchsicht empfohlen. von Kuenburg (München). 

Museio, B.: Motor capaeity with special reference to voeational guidance. 
(Bewegungsleistung und Berufseignung.) Brit. journ. of psychol., gen. sect. Bd. 18, 
Nr. 2, S. 157—184. 1922. 

Versuche mit einfachen Bewegungsleistungen (Zielen, Taktklopfen, Sortieren usw.) 
ergaben keine nennenswerten Korrelationen der Leistungen untereinander. Daraus 
wird gefolgert: es gibt keinen „motorischen Typ‘, keine allgemeine ‚‚Bewegungsgeschick- 
lichkeit“, die sich inellen einzelnen Bewegungstests offenbarte; bei der Berufseignungs- 
prüfung erfordert daher jeder spezifische motorische Arbeitsvorgang seinen spezifischen 
Test. Bobertag (Berlin). 

Sehröder, Fritz: Berufsanalyse der Buchdrueksparten. Zeitschr. f. angew. Psychol. 
Bd. 23, H. 3/4, 8. 188—196. 1924. 

Der Nachdruck in vorliegenden Überlegungen liegt auf der eingehenderen psycho- 
physischen Analyse der Anwärter und ihrer Differenziertheit. Von diesem Gesichts- 


— 2 — 


punkt aus erfolgt im Anschluß an die Ausführungen eine Kritik an den Arbeiten von 
Lipman, Kreis und Huth. von Kuenburg (München). 

Gordon, Hugh: Hand and ear tests. (Hand-Ohr-Tests.) British journ. of psychol. 
Bd. 13, Nr. 3, S. 283—300. 1923. 

Bei Kindern wird die Nachahmung von Bewegungen beobachtet. Es handelt 
sich im wesentlichen um einfache Bewegungen (z. B. rechte Hand zum linken Ohr füh- 
ren). Der Untersucher steht vor der Versuchsperson. Der rechten Hand des Versuchs- 
leiters steht die linke Hand der Versuchsperson gegenüber. Bei jüngeren Kindern 
erfolgt nach Aufforderung, die vorgemachte Bewegung nachzuahmen, meist eine 
„direkte“ Imitation. Sie wählen nicht die entsprechende rechte oder linke Hand, 
sondern gebrauchen die Hand, die der bewegten des Versuchsleiters gegenüberliegt. 
Diese Bewegungen erfolgen prompt und werden als automatische Handlung aufgefaßt. 
Bei älteren Kindern tritt die nachahmende Bewegung verzögert ein; es werden Korrek- 
tionen vorgenommen. Das Kind überlegt und wählt schließlich die gleiche Hand, 
die der Versuchsleiter benutzte. Gordon zieht aus diesen Versuchen den Schluß, 
daß solche Proben anzeigen, wann in der Entwicklung des Kindes die höheren Zentren 
ausschlaggebenden Einfluß auf die niederen gewinnen. Diesen Umschwung in der 
Entwicklung findet G. bei Mädchen früher als bei Jungens und sieht darin eine Über- 
einstimmung mit der früheren somatischen Reife der Mädchen. Head fand unter 
Anwendung ähnlichen Tests bei Aphasischen als häufigsten Fehler ein Fehlschätzen 
der das Gesicht kreuzenden Bewegungen. (Brain, July 1920, XLIII, Nr. 2, 101.) 

Stein (Heidelberg)., 

Allers, Rudolf, und Jakob Teler: Über die Verwertung unbemerkter Eindrücke bei 
Assoziationen. (Physiol. Inst., Univ. Wien.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 
Bd. 89, H. 4/5, S. 492—513. 1924. 

Die Arbeit versucht den Einfluß unbemerkter Elemente der Wahrnehmung 
darzutun. Es werden Bilder tachistoskopisch (40 Sigmen) dargeboten, danach wird 
eingehende Beschreibung verlangt. Am nächsten Tage Assoziationsversuche mit der 
üblichen Instruktion. Etwa erlebte Anschauungsbilder sollten gezeichnet werden. 
Nach Abschluß dieser Versuche wird das ursprünglich gebotene Bild zum zweiten 
Male exponiert. Aus den Ergebnissen und den Protokollen fällt auf, daß die Asso- 
ziationsversuche des nächsten Tages durch eine am vorhergehenden Tag Vierhundertstel 
Sekunden lang gebotene Wahrnehmung stark beeinfluß werden. Das ist doch wohl 
nur möglich, wenn für die Versuchsperson ein Zusammenhang zwischen den beiden 
Versuchsreihen besteht. Mit anderen Worten, es handelt sich gar nicht um freie, sondern 
um gebundene Assoziationen. Dies ist den Autoren auch nicht entgangen. Sie weisen 
aber hin auf eine relative Unabhängigkeit des erlebten Bildes und des Reaktionswortes. 
Unbemerkt bleibt dasjenige, was im Moment des Versuches wortfern ist oder wie die 
Autoren sagen, wofür wir keinen Namen haben, was für die augenblickliche Denksituation 
ohne Wichtigkeit ist. Dies alles ist nicht unbewußt. Die unbemerkten Bestandteile 
der Wahrnehmung werden in der Regel nicht agnostiziert (Bekanntheitsqualität). 
Die Reaktionszeiten bei Assoziationen, in denen nichtbemerkte Ergänzungen be- 
sonders deutlich sind, sind nicht verlängert. Dies scheint gegen eine Komplexwirkung 
(Freud) als Ursache des Nichtbemerkens zu sprechen. Besonders interessant ist, 
daß es gerade (in diesen Versuchen) bildmäßige, anschauliche Elemente sind, die nicht 
beachtet werden. In diesen Situationen ist also gerade das Anschauliche wahrnehmungs- 
flüchtig. Elsasberg (München). 

Claparède, Ed.: Le cinéma eomme méthode d’&tude de Penfant. (Die kinemato- 
graphische Aufnahme als Forschungsmethode der Kinderpsychologie.) Journ. de 
psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, 8. 241—243. 1924. 

Planmäßig hervorgerufene Ausdrucksbewegungen der Freude, der Angst, des 
Erstaunens u. a. m. hat vor etwa 15 Jahren Decroly von seinen Kindern kinematogra- 
phisch aufgenommen. Dadurch angeregt sah Claparède darin eine wichtige For- 


— 27 — 


schungsmethode und machte von normalen und anormalen Kindern, verschiedenen 
Alters, vielfache Aufnahmen. Verschiedene Situation, Spiel und Arbeit, wurden auf 
diese Weise beobachtet. Wiewohl viele Aufnahmen als durchaus gelungen bezeichnet 
werden können, bietet diese Methode doch ihre Schwierigkeit, da nur ein unbewußtes 
Verhalten die wahren Ausdrucksbewegungen erkennen läßt, die Kinder aber gefade 
vor dem Aufnahmeapparat häufig versagen und ganz anders reagieren. Verf. erwartet 
von dieser Methode noch wertvolle Beiträge zur psychogenetischen Forschung. 
von Kuenburg (München). 

© König, Theodor: Reklame-Psyehologie, ihr gegenwärtiger Stand — ihre prak- 
tische Bedeutung. München u. Berlin: R. Oldenburg 1924. VIII., 206 S. 

Die Psychologie der Reklame ist ein Gebiet der angewandten Psychologie, die 
dem Wirtschaftsleben dient und besonders in neuester Zeit größeren Einfluß gewonnen 
hat. In Amerika schon seit mehreren Jahren mit dem größten Interesse behandelt, 
ist sie nach dem Kriege auch in Deutschland als besonders wichtig erkannt worden, 
um den größten Wirkungsgrad der Reklame mit dem geringsten Aufwand von Mitteln 
zu erzielen. Die Forschungen und Ergebnisse der modernen Psychologie sind für die 
Psychologie der Reklame Erkenntnisquellen, Grundlagen und Wegweiser zugleich, 
um die Reklamemittel, ihre Maßnahmen und Einrichtungen zu prüfen und zu fördern. 
Die Erkenntnis über die Gleichförmigkeit des psychischen Geschehens ist der Ausgangs- 
punkt vorliegender Untersuchungen. Verf. verwertet die Resultate experimenteller 
Forschung und bespricht in erster Linie die Gesichtswahrnehmungen, als Grund- 
lagen der psychischen Vorgänge bei der -Wirkung der Reklame (Einfluß der Größe 
und Form des Objektes), die Bedingungen für die günstigste Apperzeptionswirkung, 
Kontrast- und Farbwirkung, Anschaulichkeit im Bild und Text); ferner die Auf- 
merksamkeitsvorgänge (Arten, Eigenschaften der Aufmerksamkeit, die Be- 
dingungen für die Aufmerksamkeitserregung, Beschaffenheit der Reize, deren Eigen- 
schaften, ihre räumliche Lage, Neuheit, Vertrautheit mit dem Reiz, Bedeutsamkeit des 
Reizes, die zu erstrebende Ausschaltung fremder oder schädigender Faktoren, Inten- 
sität, Distribution, Konstanz und Wechsel des Reizes, die zu erzielende Umwandlung 
der unwillkürlichen in willkürliche Aufmerksamkeit); die Assoziationswirkungen 
(hervorgerufen durch die Form einer Ankündigung, durch den textlichen Inhalt, durch 
Wiederholung u. a. m.); die Gedächtnis- und Gefühlswirkungen (Erregung 
der Lustgefühle, der formellen und intellektuellen Gefühle, der ästhetischen Gefühle, 
Symmetrie, Harmonie der Farben und Formen, der Selbstgefühle, Ehrgeiz, Eitelkeit); 
endlich die Willenswirkungen (durch suggestiven Einfluß auf Triebe und Instinkte, 
durch Berücksichtigung der Trägheit im Menschen und der Ermüdung). Es folgt eine 
kurze Zusammenstellung der reklamepsychologischen Methoden. Hinweise auf Vorteile 
und Fehler der Reklame an Hand von Abbildungen geben einen guten Einblick in die 
Methodik der Reklamepsychologie. Wenn auch für Fachkreise bestimmt, so ist dies 
faßlich geschriebene und schön mit vielen Illustrationen ausgestattete Bändchen für 
alle, die durch Anschaulichkeit und Anschauungsmittel auf andere wirken wollen, 
lehrreich und anregend und dürfte auch weiteren Kreisen Ergötzliches und Interes- 
santes zu sagen wissen. von Kuenburg (München). 
Genetische und vergleichende Psychologie: 

Baldwin, Bird T.: Mental development of children. (Geistige Entwicklung des 
Kindes.) Psychol. bull. Bd. 20, Nr. 12, S. 665—683. 1923. 

Verf. gibt eine Übersicht über die Literatur der letzten Jahre, die sich mit der 
geistigen Entwicklung der Kinder beschäftigt. Er behandelt in einzelnen Abschnitten: 
1. Allgemeines über Kinder. 2. Frühe Kindheit. 3. Entwicklung der Sprache. 4. Ex- 
perimente an jungen Kindern. 5. Kurve der geistigen Entwicklung. 6. Faktoren, 
die die geistige Entwicklung beeinflussen. 7. Einzelfragen der Entwicklung. 8. Indi- 
viduelle und Rassenunterschiede.. Kramer (Berlin). 


— 28 — 


© Piaget, Jean: Le langage et la pensée chez Penfant. Préface de Ed. Claparède. 
(Coll. d’aetualites pédagog.) (Die Sprache und das Denken des Kindes.) Neuchätel 
et’ Paris: Delachaux & Niestle S. A. 1923. XIV, 318 S. Fr. 6.—. 

Was will das Kind befriedigen, wenn es spricht? Je einer der Untersucher be- 
obathtete alles, was je ein Knabe während eines Monats sagte. Diese Knaben be- 
suchten eine Klasse des Instituts J. J. Rousseau, in der die Kinder modellieren und 
spielen durften. Pic und Lev sind 61/, Jahre alt. Einteilung I. in egozentrische urd 
soziale Sätze. I. zerfällt in: 1. Echolalie, 2. Monologe, 3. Monologe, bei denen sich 
das. Kind beobachtet weiß — kollektive Monologe. II. zerfällt in: 4. An andere ar- 
gepaßte Information, z. B. Antwort. 5. Kritik, z. B. an der Arbeit anderer. 6. Aui- 
träge, Bitten, Drohungen. 7. Fragen. 8. Antworten auf exakte Fragen. Ad 1. Di 
Echolalie ist eine Art Spiel, in der das Kind gehörte Worte wiederholt. Ad 2. D: 
Monologe sind immer wieder mit Handlungen verbunden. Soziale Worte fehlen. Di- 
Monologe umfassen 5% aller Worte. Ad 3. Charakteristisch für sie ist, daß sie of: 
von den anderen gar nicht beobachtet werden, obwohl der Monologisierende fest davon 
überzeugt ist, daß jeder zuhört. 4. Unterscheidet sich von 3. dadurch, daß in 4. fast 
ausnahmslos von anderen und nur im Falle einer Zusammenarbeit mit dem Gespräch:- 
partner von dem eigenen Tun gesprochen wird. Fast niemals kommen Begründung«: 
vor. Ad 5 (einschließlich Spott). Sie bilden etwa 3%, bei Lev, 7% bei Pic. Ad 6. Etwa 
25%. Ad 7. Oft treten Fragesätze auf, die gar nicht als Fragen gemeint sind, z. B. 
wenn sich der Sprecher die Antwort selbst gibt. Im ganzen etwa 15%. Warum-Fragen 
sehr selten, häufig hingegen Fragen nach Ereignissen, Namen, Zeit. Im Kindesalter 
überwiegt die egozentrische Sprache, und die Sprache überhaupt ist für da» 
Kind selbst gesprochen. Es folgt eine interessante Definition von der egozentrischen 
Logik und der verbindenden Logik. Vor dem Dialog finden sich, wie gesagt, Monolog I 
und Kollektivmonolog (Ia). Die eigentliche Konversation scheidet der Autor in Ila: 
Anschluß an die Arbeit oder das Denken des anderen und Zusammenarbeit bei der 
Arbeit oder dem nicht abstrakten Denken des anderen; IIb Disput und einfache Dis- 
kussion; IIIa Mitarbeit beim abstrakten Denken des anderen und veritable Diskussion. 
Bei Experimenten, welche im Erklären, Erzählen von gehörten Geschichten und Er- 
klären von Zeichnungen bestanden, ergeben sich auch in bezug auf das Verstehen und 
Sichverständlichmachen egozentrische Züge. Die Kinder glauben zu verstehen, auch 
wenn das Experiment deutliche Mängel in dieser Beziehung ergab, und glauben, ver- 
standen zu werden, auch wenn das andere Kind nicht recht verstanden hat. Ihr: 
Worte sind oft vieldeutig. Auffallend ist, daß sie Erzählungen (im Alter von 6—8 Jahrer: 
schlechter verstehen als Erklärungen mechanischer Einrichtungen. Immerhin ist ir: 
8. Jahre ein Fortschritt gegen das 7. zu verzeichnen. In der Rede findet sich ferne 
das System der Juxtaposition; Ereignis nach» Ereignis wird berichtet und eines ar 
das andere mit einem ‚und‘ verbunden (statistische Beschreibung an Stelle der kau- 
salen). Der Ausdruck ist demnach bei Erzählungen besser als bei Erklärung» 
mechanischer Vorgänge. Bezüglich des Verstehens findet sich, daß nach mißver- 
standenen Worten (z. B. für attachée tade) der ganze Sinn des Satzes falsch aufgefaß’ 
wurde. Das Kind — egozentrisch, wie es denkt — hört gewissermaßen von dem einet 
Worte aus das, was ihm dazu paßt. Es wird der ganze Satz — wenn auch nicht de 
wirklich gesprochene — aufgefaßt, nicht etwa ein Wort nach dem anderen (,.synereti:- 
me verbal‘). Die oben erwähnte Juxtaposition erbringt beim zuhörenden Kind eben 
wenig kausales Verständnis, wie der kindliche Erzähler das Bedürfnis nach kausale’ 
Darstellung verriet. Der Synkretismus der Sprache ist einem Synkretismus des Denker- 
verwandt; beiden liegt ein Schema und eine Tendenz zugrunde, welche Verschieden«- 
zur Einheit zusammenfassen. Beiden wieder ist die „unvermittelte Analogie‘ ver- 
wandt, die veranlaßt, daß bloß als ähnlich erschienene Dinge oder Vorgänge unter 
ein Wort zusammengefaßt werden. Für den Synkretismus im Denken kommen 2 Hypo 
thesen in Betracht, erstens daß Analogie Ursache ist (z. B. zwei ähnliche Worte in einen: 





Da -= —— -u M 


— 29 —_ 


Sprichwort und einem anderen Satz verleiten das Kind, den Sinn beider zu identi- 
fizieren), und zweitens, daß eine unmittelbare Verschmelzung auf Grund eines gemein- 
samen Schemas stattfindet. Der Unterschied zwischen den beiden Hypothesen ist 
oft unmerklich, aber durch Untersuchung und Analyse kann man den Synkretismus 
immer nachweisen. Zwischen der Bildung des gemeinsamen Schemas und der Bildung 
der Analogien (die sich oft nur an Details nachweisen lassen) besteht wechselseitige 
Abhängigkeit. Dank der teilweisen Analogie ist das gemeinsame Schema erst möglich, 
aber sie genügt nicht für seine Bildung. Umgekehrt ermöglicht das Schema den Be- 
stand der Analogie, ohne für ihre Bildung ausreichend zu sein. Das egozentrische Denken 
ist determiniert durch das Bedürfnis nach Begründung, wobei das gemeinsame Schema 
auf ein Minimum reduziert wird. Für das Kind darf kein ‚Warum‘ unbeantwortet 
bleiben, die Antwort ‚Das kann man nicht wissen“ bekommt man frühestens von 
11—12jährigen Kindern. Ähnliche Tendenzen bei Erwachsenen, alles zu begründen, 
werden als Rückstreben auf eine kindliche Stufe des Denkens erklärt. Infolge des 
Synkretismus, einer Folge des egozentrischen Denkens, erscheint dem Kinde nichts 
unerklärlich. Der Egozentrismus bestimmt das Kind dazu, sich mit seinem indi- 
viduellen Schema zu begnügen, bei der ersten Erkenntnis zu verharren und sich der 
Analyse zu widersetzen. Das Kind konstruiert aus Details ein Ganzes, der Erwachsene 
kann nur umgekehrt aus dem Ganzen auf Details schließen. Der Synkretismus ist eine 
Zwischenstufe zwischen dem logischen Denken und dem Symbolismus der Psycho- 
analytiker; er bewirkt ‚Verdichtung‘, ‚Übertragung‘, aber weniger absurd wie der 
Traum, er bildet den Übergang zwischen dem Mechanismus des logischen und des 
prälogischen Denkens. Es ist nicht möglich, hier das ganze Werk erschöpfend zu 
referieren. Die besprochenen Punkte mögen genügen, um zum Studium des inhalts- 
reichen Buches anzuregen. Fröschels (Wien). 

Deseoeudres, Alice: La mesure du langage de l’enfant. (Messung des Sprach- 
schatzes des Kindes.) Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 44 
bis 47. 1924. 

Das Vokabularium von Kindern wurde mit 3 Methoden festzustellen versucht: 
1. Ausfragen von 3 Kindern (2%/,,5und 7 Jahre ) nach allen möglichen Gesenständen 
und Erlebnissen. Resultate: Mit 23/, Jahren 639, mit 5 Jahren 1950, mit 7 Jahren 2900 
Worte. 2. Mit kompletten Te ts, angewendet an 60 normalen Kindern zwischen 2 
und 7 Jahren. Es konnten mit zunehmendem Alter regelmäßige Fortschritte ver- 
zeichnet werden. 3. Mit partiellen, einen Teil der vorherigen bildenden Tests, ange- 
wendet an 300 Kindern die gleichen Altersklassen wie in Nr. 2. Hier kam es darauf an, 
Gegenteile von Adjektiven, Farbennamen, Lücken in einem Texte, Namen von Be- 
schäftigungen, Gegenständen usw. zu finden. Die Erfahrung zeigt, daß es genügt, 
die richtigen Antworten mit 40 zu multiplizieren um annähernd den gesamten Wortschatz 
des Versuchskindes festzustellen. (Genaues in der Monographie der Verf.: Le Developpe- 
ment de l’enfant de 2 & 7 ans. Delachaux, Neuchätel.) Fröschels (Wien). 

Bloch, Osear: La phrase dans le langage de Penfant. (Der Satz in der Kinder- 
sprache.) Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 18—43. 1924. 

Die Beobachtung:n wurde ı an den 3 Kindern des Autors gemacht (2 Mädchen J. 
und F., 1 Knabe R.). Die 1. Epoche der artikuli ‘rten Sprache des Kindes ist bekannt- 
lich durch das Satzwort (Gebrauch einzelner Worte für einen Satz) charakterisiert. 
Bei J. erscheint im 22. Lebensmonat eine aus 2 Worten bestehende Wortgruppe, 
bei R. schon im 18., bei F. erst im 23. Lebensmonat. Am Ende des 23. Monats aber 
gruppiert J. schon 7 Worte hintereinander: „tutu ami yèyè papó mané peu papi“ 
= voiture amie Helene chapeau promener pleut paraplui‘. Lieblingsworte herrschen 
in dieser Zeit vor. Die erste Gruppen entbehren die grammatikalische Formulierung 
(vorgrammatische Periode, die aber meist keine scharfe Grenze gegen die grammatische 
aufweist). Nicht selten finden sich unverständliche Sätze, wenn dem Kinde Worte 
fehlen, die seinen Gedanken präzise ausdrücken würden. Man steht plötzlich Anfängen 


u. IN as 


von Grammatik gegenüber: J. sagt im 25. Monat: „papa tin po“ = papa tiens chapeau 
oder „mi ton“ (chemise tombe). In dieser Epoche überwiegt das Haupt- über das 
Zeitwort, wenn auch das Hauptwort oft eine Art von Zeitwortwert zu besitzen scheint. 
Die Bevorzugung der Hauptwörter erklärt der Autor mit ihrer konkreten Bedeutung 
im Vergleich mit den Verben und damit, daß die Verben, zumal die oft gebrauchten 
unregelmäßigen, wegen ihren verschiedenen Formen sich dem Kinde schwer einprägen. 
Man kann auch feststellen, daß die Kinder auch schon von ihnen verwendete Wörter 
auslassen, wenn sie wissen, daß sie sich ohne sie verständlich machen können. Das be- 
trifft keineswegs nur Zeitwörter. Unter diesem ökonomischen Einflusse kommen oft noch 
spät zwei Wortsätze zustande, auch das intensive Affektleben trägt zu der raschesten 
Form des Ausdruckes bei. Das geradezu überstürzte Wachstum des Wort- 
schatzes und der grammatischen Kenntnisse wirken anfänglich verwir- 
rend auf das Kind. (Diese Bemerkung ist für die moderne Theorie des Stotterns 
bedeutungsvoll. Anm. d. Ref.) Der Autor geht ferner auf die Mängel der Grammatik 
des Sprachanfängers ein. Es genügt dem Kinde z. B. 1 Haupt- und 1 Zeitwort einfach 
nebeneinanderzustellen. Auch Umstandswörter werden einfach neben das Haupt- 
wort gestellt (‚‚chebu teu“ = chaise debout fauteuil). Die Beziehung der Abhängigkeit, 
(durch „de“ auszudrücken) bleibt lange unbezeichnet. Worte, welche ein Mittel oder 
Werkzeug ausdrücken sollen, werden lange ohne Präposition verwendet. So erscheint 
bei J. „avec“ (mit) erst mit 21/, Jahren. Lange vertritt „pour“ das pour que. Im Verlaufe 
des 3. Jahres waren alle 3 Kinder in der Lage, Wortgruppen zu bilden, welche die 
Umstände der Ursache, der Zeit, des Zweckes ausdrücken, aber oft werden sie noch ohne 
Umstandswort gebildet. Eine besondere Eigenheit bilden die „Wiederholungssätze“ 
(phrase à répétition): Das Kind wiederholt ein Zeitwort oder ein Wort mit dem Sinne 
eines Zeitwortes (selten auch ein Adjektiv) so oft als Personen oder Objekte an der 
Handlung beteiligt waren. ‚‚Le peti darson tavayé (garçons traveiller) avèt le tèyon 
(crayon), avet lé tó ópul (porte-plumes), avèt lè lif (livres). Auch Negationen, die einer 
Affirmation gegenübergestellt werden, führen zu ähnlichen Wiederholungssätzen. 
Da der Erwachsene gewisse Wortgruppen als einheitlichen Block ausspricht, z. B. 
où es-tu (ausgesprochen: uetü), gebraucht das Kind etü wie ein Wort. Manchmal werden 
reine grammatische Termini als selbständige Wörter verwendet. Der Aufsatz ist eine 
sehr dankenswerte Bereicherung unserer Kenntnisse der Kindersprache und sollte zur 
Nachahmung anregen. Fröschels (Wien). 

Friedjung, Josef K.: Zum Verständnis kindlicher Kriminalität. Med. Klinik Jg. 20, 
Nr. 3, 8. 78. 1924. 

Verf. bringt Beispiele von Eifersucht im frühesten Kindesalter und weist im 
Anschluß darauf hin, wie wichtig es ist, die Stellung des Kindes innerhalb seines sozialen 
Verbandes zu verstehen. Häusliche Verfehlungen, Straftaten und Verstöße gegen 
Schulgesetze rücken dadurch vielfach in ein anderes Licht und mancher erzieherische 
Mißgriff ist zu vermeiden, wenn die kindliche Seele und ihre Handlungen mit tieferem 
psychologischen Verständnis erfaßt wird. Gregor (Flehingen i. Baden). °” 

Sadger, J.: The sexual life of the ehild. (Das Geschlechtsleben des Kindes.) 
Journ. of sexol. a. psychanal. Bd. 1, Nr. 4, S. 337—348, Nr. 5, S. 486—499 u. Nr. 6. 
S. 579—590. 1923. 

Das Sexualleben des Kindes wird eingehend beleuchtet, aber, wie vom Verf. 
nicht anders zu erwarten, rein vom psychanalytischen pansexualistischen Gesichts- 
winkel aus. Als die Haupterscheinungsformen der frühkindlichen und kindlichen 
Sexualität wurde Masturbation, Analerotismus, Urethralerotismus, Haut-, Schleim- 
haut- und Muskelerotismus und Exhibitionismus herausgehoben und besprochen. Die 
masturbatorischen — sehr verschiedenartigen — Handlungen nehmen den breitesten 
Raum ein; sie werden auf die ganze Haut- und Schleimhautoberfläche ausgedehnt, 
können aber auch im Ohreingang oder in den Nasenlöchern (beim Bohren in der Nase) 
stattfinden (!). Analerotische Symptome sind sehr weit verbreitet. Die kindlichen 


EE o 38 


Analerotiker sollen später die seit Freud bekannte Trias von Charakterzügen auf- 
weisen: Pedanterie (Ordnungsliebe), Geiz und Eigensinn. Die vom Verf. selbst ge- 
fundene Harnröhren- oder Blasenerotik besteht in der sexuellen Lust, die bei gewissen 
Kindern durch die Blasenentleerung hervorgerufen wird. Sie führt zu häufigem Harn- 
drang, zu Bett- und Kleidernässen, Harnverhaltung und ähnlichen psychopathischen 
Erscheinungen. Perverse Neigungen auf dem Gebiet des Geruchssinnes werden als 
Geruchserotik zusammengefaßt. Daß selbst die Muskelbewegungen, der natürliche 
Spiel- und Bewegungsdrang des Kindes, zu einer „Erotik“ umgestempelt wird, über- 
rascht den mit der psychanalytischen Literatur Vertrauten kaum. — So anerkennens- 
wert die von Freud und seiner Schule ausgehenden Forschungen sind, die uns das 
bis dahin vernachlässigte Gebiet der kindlichen Sexualität erschlossen haben, und so 
viele gute Beobachtungen und Einzelheiten auch die vorliegende Arbeit enthält, so müssen 
wir doch die Verabsolutierung eines wertvollen Gedankens, wie sie im Pansexualismus 
orthodoxer Freudschüler vorliegt, entschieden ablehnen. Villinger (Tübingen). 


Psychopathologie und Psychiatrie: 


Roubinovitseh, J., H. Baruk et M. Bariéty: La neuro-psychiatrie infantile, ses lois, 
ses facteurs étiologiques; essai de elassification. (Die Neuropsychiatrie des Kindesalters; 
ihre Gesetze, ihre ursächlichen Faktoren. Versuch einer Einteilung.) Presse méd. 
Jg. 32, Nr. 26, S. 281—283. 1924. 

Ganz allgemein gehaltener Klassifikationsversuch der Nerven- und Geisteskrank- 
heiten des Kindesalters (mit allen Schattierungen und Zwischenstufen), der von dem 
Gesichtspunkt ausgeht, daß im Kindesalter eine scharfe Trennung zwischen Nerven- 
krankheiten und psychischen Störungen nicht gut durchführbar sei. Die vorgeschlagene 
Einteilung nach ätiologischen Momenten weicht nicht wesentlich von der unserer 
guten Lehrbücher ab. Auf das Zusammenspiel exogener und endogener (konstitutionell- 
dispositioneller) Momente wird nicht nur bei der jugendlichen Paralyse, sondern auch 
besonders bei der Encephalitis epidemica hingewiesen (worauf Ref. schon 1920 im 
gleichen Sinne nachdrücklich aufmerksam gemacht hatte). Villinger (Tübingen)., 

Boven, W.: Psychopatologie infantile et psyehiatrie. (Psychopathologie des Kindes 
und Psychiatrie.) (Schweiz. Ver. f. Psychiatrie, Genf, Sitzg. v. 2. VI. 1923.) Schweiz. 
Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 14, H.1, 8. 124—125. 1924. 

Verf. führt aus, daß die psychischen Störungen in der Kindheit, wenn man von 
den grob organischen Schädigungen absieht, sich in Störungen des Charakters äußern. 
Er unterscheidet 7 Arten solcher Störungen: 1. gesteigerte Lebhaftigkeit und Impul- 
sivität; 2. Schlaffheit, Passivität, Faulheit, Willensschwäche; 3. Traurigkeit, Unruhe, 
Ängstlichkeit; 4. Hartnäckigkeit, Bösartigkeit; 5. Egoismus; 6. Brutalität, Amoralıtät, 
Bestialität; 7. gesteigerte Phantasie. Kramer (Berlin). 

Boven, William: Recherches sur la psychopathologie des familles „normales“. 
(Untersuchungen über die Psychopathologie ‚normaler‘ Familien.) Schweiz. Arch. 
f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 14, H. 1, S. 34—58. 1924. 

Das Problem, inwieweit die Psychose und der anomale Charakter im Normalen 
verankert ist, erbält durch die Arbeit Bovens statistisches Material. Der Autor 
stellt (analog der Kretschmerschen Einteilung) 2 Gruppen von Psychosen einander 
gegenüber, die Schizophrenen (S. ) und die Cyclophrenen (C.). Die Behafteten sind nach 
ihm nicht nur in der Psychose in charakteristischer Weise getrennt, sondern tragen 
auch schon vor dem Beginn der Psychose entsprechende Züge. (Die S. zeigen schon 
vor der Erkrankung Störungen des Gesellschaftsinstinktes, sind schüchtern, mißtrauisch, 
autistisch, introvertiert, usw., die C. sind vor der Erkrankung übertrieben im sympa- 
thetischen Verhalten, altruistisch, peinlich, skrupulös usw.) Unter den anomalen Charak- 
teren (a. C.) versteht B. Menschen, die nicht geisteskrank sind, aber im gewissen Grade 
die Züge der Psychose in sich haben, also eigentlich nur graduell von den Geistes- 
kranken unterschieden sind (Schizoide und Cycloide). B. sucht im „Psychoplasma 


— 32 — 


der Familie“, wie er den Inbegriff der charakterologischen Disposition innerhalb 
des Familienganzen nennt, beim Normalen die Wurzeln pathologischer Erscheinungen 
innerhalb der Familie zu finden und untersucht zu diesem Zwecke 600 Personen in 
32 ihm als ‚‚normal‘‘ bekannten Familien, d. h. Familien, bei denen in der letzten 
Erwachsenengeneration keine Geisteskrankheiten vorgekommen waren. Die Zahlen, 
die bei normalen Familien sich finden, werden in Beziehung gesetzt zu Zahlen aus den 
Familien von Geisteskranken, die einer früheren Arbeit entnommen werden. Es zeigt 
sich nun, daß die Familien der Normalen in bezug auf die Geburt und Sterblich- 
keit vor dem von B. früher untersuchten geisteskranken Familien keinen Vorsprung 
haben, so daß ein eindeutiger Schluß auf Abstieg und fortschreitende Degeneration 
bei den pathologischen Familien nicht zugelassen werden kann. Eine große Bedeutung 
für die Entwicklung anomaler Charaktere mißt B. äußeren Einflüssen, insbesondere 
der Erziehung bei. Das einzige Kind hat andere Bedingungen für die Entwicklung 
eines abnormen Charakters als das Kind unter Geschwistern, daß verhätschelte, ver- 
wöhnte Kind andere als das brutal behandelte oder auch nur streng gehaltene Kind. 
B. geht soweit, zu sagen, daß die Erziehung, allein durch ihre Einwirkung, anomale 
Charaktere schaffen kann. Eine Parallität zwischen GesichtszügenundCharak- 
terzügen besteht in dem untersuchten Material nicht. Es können sich zwei Leute 
ähnlich sehen wie ein Ei dem andern, und doch in bezug auf die Charakteranlage, 
insbesondere in Beziehung zu den pathologischen Grundtypen vollkommen verschieden 
sein. (Dieses gewiß bemerkenswerte Ergebnis muß in die weitere Diskussion über 
Körperbau und Charakter, sowie über Korrelation körperlicher und psychischer 
Rassenmerkmale wohl aufgenommen werden.) Der Anteil der psychotischen 
Fälle innerhalb der Gruppe von 600 „Normalen“ ist 16, darunter 10 Melancholien. 
(Unter den pathologischen Familien waren es 42 Psychosen unter 30 S.-Familien, 
23 Psychosen in 20 C.-Familien.) Der Prozentsatz der anomalen Charaktere unter 
den normalen Familien ist wesentlich geringer als unter den pathologischen, nämlich 
15% (im Gegensatz zu 40% in den S. und 37% in den C.). Was die Verteilung der 
Neigung zur Psychose unter gewissen Charaktertypen betrifft, so findet B. unter 
den extremen Altruisten die meisten Psychosen (cyclischer Art), unter den herange- 
zogenen Unsozialen gelegentlich Neigung zu paranoiden Psychosen, unter den Egoisten, 
der größten und ‚‚gesündesten‘‘ Gruppe, Neigung zur Trägheit, zur Intoxikation (Al- 
kohol, Syphilis usw.) und zu eingebildeten Krankheiten. An sich ist das ‚Psychoplasma“ 
der normalen Familien nicht mit den Zügen der großen Psychosen behaftet, wenn auch 
pathologische Individuen vorkommen. Eine Änderung ins Pathologische bringen als 
die 3 wesentlichen Faktoren, das Leben mit seinen Schicksalen, die Ehe und Herein- 
nahme pathologischer Ehepartner in die Familie, der Einfluß der Erziehung. Ver- 
erbungstheoretisch lehnt B. den Mendelismus für die psychiatrische Familienforschung 
ab. Ob er den Resultaten des exogenen Faktors (z. B. Erziehung) erbbildende Kraft 
zumißt (was nicht ünpedens lio wäre), geht aus der Schrift nicht mit Sicherheit 
hervor. E. Feuchtwanger (München). 

Paul-Boneour, G.: La seleetion psyeho-morale des anormaux en vue de leur 
adaptation sociale. (Psychomoralische Auswahl Abnormer im Hinblick auf ihre so- 
ziale Anpassung.) Progr. med. Jg. 51, Nr. 42, S. 520—528. 1923. 

Verf. betrachtet anomale Kinder vom Gesichtspunkt ihrer Anpassungsfähigkeit 
an die Forderungen des Lebens. Die nur teilweise Anpassungsfähigen stehen zwischen 
den beiden Polen der Anpassungsfähigkeit oder -unfähigkeit. Nach dem Intelligenz- 
alter teilt er sie in geistig Zurückgebliebene von 2, 3—4 und über 4 Jahren ein. Sein 
2. Einteilungsgrund nach Charaktermängeln berührt sich teilweise mit psychiatrischer 
Gliederung, wenn er auch nur seine melancholisch Verstimmten zu den Psychopathen 
zählt und sie von den asthenisch Verstimmten unterscheidet. Die erregten Anomalen 
schließen Haltlose, Unbeherrtschte, Aufgeregte usw. ein. Psychomotorische Haltlosig- 
keit ist als Persistieren kindlicher Erregbarkeit und Lebhaftigkeit aufzufassen. Die 


Zi, ST -a 


Erfahrung lehrt, daß die Haltlosen sich besonders schwer anpassen, wenn es auch nicht 
möglich ist, die Grenzen der Anpassungsfähigkeit für diese Gruppe so genau zu fixieren, 
wie für die geistig Rückständigen. Eine traurige Prognose wird dem Typus der Unbe- 
herrschten gestellt, die in jene, die nicht folgen können und jene, die nicht folgen wollen, 
eingeteilt werden. Erstere sind vielfach geistig zurückgeblieben, während letztere 
gewöhnlich intellektuell gut ausgerüstet sind, aber durch Charaktermängel asozial 
werden. Verf. nennt sie die paranoischen oder rebellischen Unbeherrschten. Es folgt 
eine Statistik der Anpassung an das Leben von den verschiedenen Stufen geistiger 
Rückständigkeit mit und ohne Charakterdefekte, aus der hervorgeht, daß letztere 
einen großen Einfluß auf die Anpassung haben und der Erfolg nach dem Grade der 
Unbeherrschtheit verschieden ist. Geistiger Rückstand von 2 Jahren mit Haltlosigkeit 
verbunden, ergibt schlechtere Resultate als ein unkomplizierter von 4 Jahren. Bei der 
Einteilung nach moralischer Haltung ist der Hauptwert auf das moralische Gefühl 
gelegt, durch dessen Veränderungen oder Fehlen die moralische Entartung zustande 
kommt. Die erworbene Entartung kann durch äußere (Milieu) Ursachen oder durch innere 
(psychische oder Charakteranomalien) bedingt sein. Die konstitutionelle Entartung be- 
ruht entweder auf dem Mangel selbst primitivster altruistischer Gefühle oder auf dem 
Vorhandensein positiver, schlechter Eigenschaften, wie Böswilligkeit, Grausamkeit, 
Lügenhaftigkeit, Zerstörungstrieb, sexuelle Triebhaftigkeit. Grad und Mischung dieser 
Elemente ergibt die Einteilung in gelegentlich Abirrende und aktiv oder endgültig 
Entartete. Um zu einem richtigen Urteil über moralische und Charakteranomalien 
zu gelangen, stellt Verf. folgende Leitsätze auf: 1. Nur eine längere Beobachtung von 
mehreren Wochen ermöglicht eine ärztlich-pädagogische Entscheidung des Falles. 
2. Die Beobachtung muß in einer natürlichen Umgebung, zwischen Altersgenossen 
und Beschäftigung stattfinden. 3. Da wir für moralische Eigenheiten keinerlei Tests 
besitzen wie für die intellektuellen, soll sie erfahrungsgemäß erfolgen. 4. Nur auf 
eigener ‘persönlicher Beobachtung darf sich das Urteil gründen. 5. Solcher Art Beob- 
achtung setzt eigens zu diesem Zwecke getroffene Einrichtungen und Anstalten voraus. 
Gregor (Flehingen.) 
Geistige Defektzustände : 

Sehlapp, Max G.: Causes of defeetive children. Prenatal development affected 
by glandular disturbances in the mother—indueed by unfavorable environment. (Über 
die Ursachen von Defektzuständen bei Kindern. Störungen der intrauterinen Ent- 
wicklung infolge endokriner Funktionsstörungen bei der Mutter, hervorgerufen durch 
ungünstige Umgebungsverhältnisse.) Journ. of heredity Bd. 14, Nr. 9, S. 387 bis 
397. 1923. 

An der Hand zweier Fälle — es handelt sich einmal um eine aus Italien gebürtige 
und daselbst aufgewachsene Frau, die in der alten Heimat ein normales Kind geboren 
hatte und in Amerika, wohin sie ausgewandert und wo sie fortan unter ungewohnten 
und ungünstigen Verhältnissen zu leben gezwungen war, 2 mikrocephale Idioten zur 
Welt brachte, ferner um eine Frau, die während der 3. Schwangerschaft eine erschöp- 
fende Infektionskrankheit durchmachte und ein mongoloid-idiotisches Kind gebar, 
nachdem sie vorher 2 durchaus normale Kinder zur Welt gebracht hatte und auch 
später nach ungestörter Schwangerschaft noch ein normales Kind erzeugte — sucht 
Verf. den Nachweis zu erbringen, daß endokrine Störungen der Mutter während der 
Gravidität bzw. Infektionen und andere exogene Noxen, die die innersekretorischen 
Funktionen ungünstig affizieren, als ätiologische Faktoren für das Zustandekommen 
körperlicher und geistiger Entwicklungsstörungen der Nachkommenschaft in Betracht 
kommen. Zu den exogenen Schädlichkeiten rechnet Verf. auch Versetzung der Mutter 
in eine ungewohnte Umgebung mit ihren veränderten Lebensbedingungen sowie be- 
sonders auch die Strapazen des gewerblichen Lebens, die, wahrscheinlich auf dem 
Umwege über die Psyche, auf den endokrinen Apparat der Frau wirken. Verf. betont 


Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ref. 3 


— 34 — 


die Notwendigkeit möglichst frühzeitiger und fortgesetzter Behandlung solcher Defekt- 
zustände mit Organpräparaten und berichtet über gute Erfolge besonders bei Schild- 
drüsendefekten. R. Thiele (Berlin)., 

Higier, Heinrieh: Klinik der selteneren frühinfantil erworbenen Demenzformen. 
(Dementia praecoeissima [De Sanetis], Dementia infantilis [Heller] familiaris, Dementia 
postlethargica infantum.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 88, H. 1/3, 
S. 296—304. 1924. 


I. 10jähriger Knabe, bis zum 5. Jahre gesund, von da an Änderung des psychischen Zv- 
standes: verschroben und ungehorsam, wirft sich impulsiv zu Boden, Sprachentstellung, Echo- 
lalie, Echopraxie, Perioden mit Apathie wechseln mit Erregungszuständen. Nach 2 Jahren 
Besserung, 2 Jahre leidlicher Schulbesuch; dann wieder zerstreut, katatonische Gliederstelhur- 
gen, kataleptische Körperhaltungen, sinnloses Aneinanderreihen von Worten. Verf. stellt di 
Diagnose auf Dementia praecocissima nach de Sanctis. — II. 7jähriger Knabe; postencepha- 
litische Charakterveränderung. — III. Brüderpaar: l1jähriger Bruder; seit Ende 5. Jahre 
krank, erregt, launisch, schläft mangelhaft, verbigeriert; spricht immer weniger, zuletzt auct 
Verlust des Sprachverständnisses; unmotivierte Zornanfälle. Verblödet. — 9'/,jähriger Bru- 
der, seit dem 6. Jahre rascher Verlust der Sprachfähigkeit, Sprachentstellung, Grimassieren. 
Verharren in Stellungen, schwerer Verfall der Intelligenz. Higier neigt zur Diagnose Der. 
infantilis ‚Heller‘. Schob (Dresden)... 


Demole, V.: Presentation de malades: Debilite mentale (oxyeephalie, syndrom 
protuberantiel). (Krankenvorstellung: Schwachsinn [Oxycephalie Ponssyndron., 
(Schweiz. Ver. f. Psychiatrie, Genf, Sitzg. v. 2. VI. 1923.) Schweiz. Arch. f. Neure. 
u. Psychiatrie Bd. 14, H.1, S. 124. 1923. 

In dem mitgeteilten Falle handelt es sich um einen Schwachsinnigen, der neben osv- 
cephaler Schädelbildung ein Symptomenbild zeigte, das auf eine Erkrankung der Brücke hir. 
wies: Oculomotoriuslähmung, doppelseitige Pyramidenbahnsymptome; daneben bestas: 
auch Neuritis optica. Kramer (Berlin: 

Comby, Jules: Les séquelles de Pencéphalite aiguë ehez les enfants. (Folgen d:r 
akuten Encephalitis bei Kindern.) Arch. de méd. des enfants Bd. 27, Nr. 1, S.| 
bis 10. 1924. 

Die verschiedenen Formen der Encephalitis, epidemische und Begleitencepha!:- 
tiden verschiedener Genese, werden hier wahllos zusammengestellt; in der Hauptsact: 
scheint der Verf. sog. Großhirnencephalitiden im Auge zu haben. Er gibt eine al- 
gemeine Übersicht über die Folgen dieser Erkrankungen; von 76 Fällen starben 9° . 
völlige Heilung in 19%, Folgeerscheinungen in 71%. Intrauterine Encephalitis ıs 
häufig ‚„hereditär“-syphilitisch; auch andere Erkrankungen der Mutter, wie Gripp 
Typhus, Keuchhusten, können auf den Foetus übergehen. Als Folgeerscheinuns: | 
werden dann genannt: Epilepsie in 12 von 54 Fällen, nicht selten ausheilend, nervi 
„cerebrale‘‘ Erregbarkeit, wohl weniger infolge Entzündung als Kongestion des Hirns': 
mit im ganzen guter Prognose, psychische Störungen, Imbezillität bis Idiotie, angehl:i:: 
auch Dementia praecox. Zum Beweis hierfür wird der Fall eines Kindes genarr: 
das 1905 dreijährig eine Encephalitis durchmachte, ausheilte und erst 1920 an eir 
Dementia praecox erkrankte. Zum Schluß werden die motorischen Störungen, tw 
besondere die spastischen Lähmungen, erwähnt. Als Ursache spastischer Star- 
zustände konnte Verf. schon früher feststellen: in 13 Fällen typischer Little, Fr:: 
geburten, Ursache vielleicht konnatale Lues; in 7 Fällen akute Encephalitis, in 18 Fai 
spastische Lähmungen infolge Geburtsläsion. Therapeutisch wirken Bewegur: 
übungen bei den spastischen Lähmungen günstig. Von Literatur werden einige frs 
zösische Arbeiten genannt. F. Stern (Göttingen).. 

Finkbeiner: Neuere Gesichtspunkte in der Lehre vom Kretinismus. Klin. Woch: 
schr. Jg. 3, Nr. 13, S. 517—520. 1924. 

Der Kretinismus zeigt lokale Verschiedenheiten, wodurch eine Verständist:- 
über das Problem der endemischen kretinischen Entartung und über eine allgen:-. 
annehmbare Kretinentheorie erschwert wird. Bei der Ausschaltung dieser ört!.- 
bedingten Besonderheiten ‚ergibt sich für eine rein biologische Auffassung der enc-- 
mischen Entartung die Formel: Rassenmischung — vergrößerte Variationsbreite - 





wer. 235: us 


(Kontra-) Selektion und Degeneration‘. Diese Punkte bespricht der Verf. der Reihe 
nach. Ein kurzes Referat kann auf die interessanten und inhaltsreichen Ausführungen 
nicht im einzelnen eingehen. Verf. entwickelt in diesen Ausführungen den Standpunkt, 
daß es sich bei der Endemie um eine Degeneration aus innerer konstitutioneller Ursache 
handelt, bei welcher exogene Momente keine große Rolle spielen. Fischer (Gießen)., 
Talbot, Fritz, Karl Sollgruber und Mary Hendry: Calorimetrische Untersuchungen 
an kindlichen Kretinen. (Harvard med. school u. Kinderabt., Massachusetts gen. hosp., 
Boston.) Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 37, H. 1/3, S. 98—104. 1924. 
Respiratorische Untersuchungen an kindlichen Kretinen. Solche Untersuchungen 
erlauben es, die Diagnose auf Kretinismus bereits innerhalb der ersten Lebensmonate 
zu stellen, d. h. zu einer Zeit, in der klinische Symptome noch nicht voll ausgesprochen 
sind, die Behandlung aber von unschätzbarer Bedeutung ist. Auch die Therapie wird 
durch die Untersuchungsbefunde bestimmt und geleitet. O. Wuth (München)., 


Psychopathie, Verwahrlosung : 


Soeekniek, Anna: Kriegseinfluß auf jugendliche Psychopathen. (Psychiatr. u. 
Nervenklin., Univ. Königsberg i. Pr.) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 70, 
H. 2, S. 172—186. 1924. 

Untersuchungen an einem Material von 221 in den Nachkriegsjahren 1920 und 1921 
in die Klinik aufgenommenen jugendlichen Psychopathen, statistisch verglichen mit 
den in der Vorkriegszeit 1913/1914 aufgenommenen. Ergebnis: Die Zahl der Aufnahmen 
an jugendlichen Psychopathen beiderlei Geschlechts hat in den Nachkriegsjahren 
zugenommen. Bei den Männern des ee und den Nichtkriegsteilnehmern 
überwiegen pathologische Schwindler, Asoziale, Imbezill-Forensische, Haltlose; bei 
den Kriegsteilnehmern Erregbare und Hysterische. Unter den Frauen sind dem 
Geschlechtscharakter entsprechend Depressive, Hysterische und Erregbare am stärk- 
sten vertreten. Bei den männlichen Psychopathen beruht die Vermehrung zu einem 
Bruchteil auf direktem Kriegseinfluß; im wesentlichen erweist sie sich als eine Folge 
der indirekten Kriegsnachwirkungen, die sich gerade unter den jugendlichen Groß- 
städtern in Zunahme von Alkoholismus, Nicotinismus, Forensität und Suicidneigung 
äußern. — Der Arbeit, die manche bemerkenswerte Betrachtung über die Ursachen 
der Verwahrlosung in den Nachkriegsjahren enthält, ist ein größeres Literaturver- 
zeichnis beigegeben. K. Berliner (Breslau)., 

Raecke: Beitrag zur sozialen Psychiatrie: Beobachtungen an den Insassen eines 
Mädehensehutzhauses. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 70, H.4, 8. 415 
bis 426. 1924. 

Verf. hat die Insassen eines Mädchenschutzhauses in Frankfurt a. M. psychiatrisch 
untersucht. 8 von ihnen erwiesen sich als imbezill, 22 als debil mit psychopathischen 
Zügen, 9 waren psychopathisch, 8 geisteskrank (davon 7 schizophren, eine zirkulär), 
1 litt an postencephalitischer Charakterveränderung, bei 2 handelte es sich um chro- 
nischen Alkoholismus, bei 4 um stärkere hysterische Zustände. Unter 54 Personen, 
die sämtlich wegen unsittlichen Lebenswandel von der Fürsorgepolizei aufgegriffen 
und eingebracht worden waren, war nicht eine einzige als psychisch vollwertig an- 
zusehen. Ein großer Teil von ihnen war nebenher kriminell geworden. Nur 4 von 
ihnen waren von der Fürsorgeerziehung erfaßt worden. In 12 Fällen wurde Ent- 
mündigung angeraten, aber nur in einem verschwindenden Bruchteil der Fälle 
durchgeführt. Der § 6 BGB. paßt eben nicht auf einfache Psychopathen; außerdem 
besitzt außer bei Trinkern die Kommune kein Antragsrecht. Es ist Pflicht der 
Psychiater, auf diese Mängel, die mit gewissen anderen Unzulänglichkeiten der Jugend- 
fürsorge in engem Zusammenhang stehen, hinzuweisen, damit die berufenen Organe 
der Rechtspflege und der Fürsorge hier Wandel schaffen. Denn die Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten ist eng verknüpft mit der Bekämpfung des asozialen 
Psychopathentums, insbesondere der weiblichen Debilen. Nur die Zusammenarbeit 


3% 





— 36 — 


der übrigen die Geschlechtskrankheiten bekämpfenden Stellen mit dem Psychiater 
kann hier zu einem vollen Erfolg führen. Vorbedingung sind jedoch zeitgemäßere 
Entmündigungsbestimmungen und Schaffung eines besonderen Verwahrungsgesetzes 
mit zweckmäßiger Regelung der Kostenfrage. — Die Arbeit stellt einen sehr begrüßens- 
werten Hinweis auf Unvollkommenheiten und Schwierigkeiten dar, mit denen jeder 
in der sozialen Fürsorge Arbeitende gelegentlich zu kämpfen hat und die dringend der 
Abstellung bedürfen. Villinger (Tübingen). 

Feldner, J., und E. Lazar: Die psyehiatrische Untersuchung kindlicher Ungezogen- 
heiten. (Kinderklin., Wien.) Wien. med. Wochenschr. Jg. 74, Nr.20, S.999 bis 
1001. 1924. 

Bei 36 Kindern der heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik wurde 
die ım klinischen Bilde hervortretende Zerstörungssucht, die teilweise den Einlieferungs- 
grund abgegeben hatte, genauer untersucht. Durchgehend lag bei ihnen eine erbliche 
Belastung vor, wie sie bei Psychopathen gewöhnlich gefunden wird. Im einzelnen 
ließ sich die Erscheinung auf hypomanische Temperamente, auf epileptoide Charaktere, 
auf psychopathische Erregbarkeit, epileptische Verstimmungen, moralische Minder- 
wertigkeit, Schizoidie, kurz, auf Beziehungen zu fast allen Formen von Psychosen 
und Psychoneurosen, zurückführen. „Damit fällt jede Möglichkeit, das Phänomen 
rein psychogen zu erklären.“ (Die darin enthaltene Fragestellung ist für den Psychiater 
nicht recht verständlich.) Es ist unmöglich, die ‚Zerstörer‘ zu einer besonderen Er- 
ziehungsgruppe zusammenzufassen. Villinger (Tübingen). 


Friedjung, Joseph K.: Masturbation in young children. (Masturbation beim Klein- 
kind.) Journ. of sexol. a. psychanal. Bd. 2, Nr. 2, S. 119—122. 1924. 

Masturbation bei kleinen Kindern ist durchaus nicht selten, und zwar bei Kindern 
bis zu 3Monaten hinab. Auch bei den kleinen Kindern wird die Onanie in verschiedenen 
Formen geübt. Nach dem 3. Jahr fängt sie an bewußt zu werden und Schuld- und 
Schamgefühl stellen sich ein, die nun fest mit ihr verknüpft werden. Zwischen Germanen, 
Slawen und Juden ist hinsichtlich der Häufigkeit kein Unterschied festzustellen. Einen 
besonderen Masturbantentypus kann Verf. nicht anerkennen, Irgendwelche erheb- 
liche Folgen sah er in dieser frühkindlichen Onanie nicht. Vıllinger (Tübingen). 


Tausk, Vietor: Masturbation. Journ. of sexol. a. psychanalysis Bd. 2, Nr. 2, S. 122 
bis 144. 1924. 

Onanie ist jeder Sexualakt im weitesten Sinne, auch mit Andersgeschlechtlichen, 
wenn er nicht in der seelischen Verschmelzung mit dem andersgeschlechtlichen Partner 
gipfelt. Beim Kleinkind handelt es sich vielfach lediglich um orientierende Manipu- 
lationen am eigenen Körper, um triebhafte Handlungen, um die Erreichung von Lust- 
gefühlen (von allen erogenen Zonen her), die noch kein eigentlich sexuelles Gepräge 
tragen. Die Veranlassung zu den ersten eigentlichen masturbatorischen Akten bildet 
sehr häufig die Verführung. Dadurch, daß andere die Genitalzone reizen, erwecken sie 
sexuelle Lustgefühle im Kind, und diesen Personen fühlt sich das Kind verpflichtet 
dafür. So wird — und das ist nach des Verf. Ansicht die tiefste Bedeutung der ersten 
masturbatorischen Verführung — im Kinde die Zuneigung zu anderen und damit 
die Liebe geweckt (! Ref.) Aus dem Konflikt zwischen Trieb und Moral entsteht dann 
die Verdrängung. Vom Beginn des Schulalters bis zum Beginn der Pubertät tritt die 
Onanie stark zurück. Von der Pubertät ab trägt nun die Masturbation bewußt sexuellen 
Charakter. Ihre Folgen bestehen hauptsächlich in dem bekannten inneren Konflikt, 
der Angst mit all ihren Folgen bei Neurotikern, und einer Unsicherheit bei der Wahl 
des Sexualziels. Die Aufmerksamkeit des Onanisten konzentriert sich zu sehr auf die 
Geschlechtsorgane. Nicht die Gesamtpersönlichkeit des Sexualpartners und das Ver- 
schmelzen mit ihr ist ihm das letzte Ziel, sondern das andersgeschlechtliche Sexualorgan 
als solches. Dadurch wird auch der Coitus zur Onanie. Die Masturbation verarmt 
das gesamte Liebesleben, raubt das Selbstvertrauen, macht infantil, untergräbt die 


Pr. 


Stellung des Mannes in der Familie und in der Öffentlichkeit und bringt große Ent- 
täuschung für die Frauen. Sie ist ein wichtiger Faktor für die Entstehung der Frauen- 
bewegung gewesen. Der Sinn der Masturbation ist oft die unbewußte Auflehnung 
gegen den Vater. Verf. will sofortiges Aussetzen (nicht Aufhören! Ref.) beobachtet 
haben, wenn der nach seiner zugrunde liegende Sadismus gegen den Vater bewußt- 
gemacht und aufgehoben worden war. Offenheit in der Pubertätszeit ist die beste 
Waffe gegen das Übel. Villinger (Tübingen). 

Gurewitsch, M.: Über die primitiven Psychogenien. (Psychiatr. Kinderklin., 
medico-pädol. Inst., Moskau.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 86, H. 4/5, 
S. 574—584. 1923. 

Verf. hat in der Psychiatrischen Kinderklinik des Medico-pädologischen Instituts 
zu Moskau in den letzten Jahren Gelegenheit gehabt, mehrere Fälle von kindlichen 
Psychogenien zu beobachten, die durch eine gewisse Gemeinsamkeit wesentlicher 
Merkmale von ihm zusammengefaßt werden als primitive Psychogenien. Aus 4 kurzen 
Krankengeschichten geht das Bild, das er im Auge hat, ziemlich deutlich hervor. Es 
handelte sich um eine starke Reizbarkeit ohne jegliche neurologische Zeichen und 
ohne hysterische Beimengungen. Im Gegenteil: ein scharf ausgeprägter Gesundungs- 
willen war jedesmal vorhanden, daneben einige Verdrängungserscheinungen. In allen 
Fällen trat prompte Heilung in geeignetem Milieu ein. Körperliche Ursachen (Er- 
schöpfung u. dgl.) lagen nicht vor. Es handelte sich vielmehr um eine Reaktion der 
Kinder auf schwere Erlebnisse, wie sie die eigenartigen russischen Verhältnisse der 
letzten Jahre in überreichem Maße mit sich brachten. Anschließend gibt der Verf. 
eine Gruppierung der Psychogenien, die er einteilt in hysterische, pseudokatatone, 
solche mit vorwiegender Beteiligung der endokrinen und vasomotorischen Systeme 
und die primitiven. Zu der letzteren Gruppe gehören auch Birnbaums ‚einfache 
reaktive Affekterscheinungen‘“ sowie die ‚primitiven Reaktionen“ Bleulers. Ihr 
Wesen liegt in dem völligen Mangel seelischer Spaltungen und körperlicher Störungen, 
woraus auch ihre Gutartigkeit hervorgeht. Sie sind vom pädagogischen und kriminellen 
Standpunkt aus bedeutungsvoll, da viele der sog. moralischen Minderwertigkeiten 
in diese Gruppe hineingehören. Villinger (Tübingen). 

Comby, J.: Cerebral exeitement in children. (Krankhafte Erregbarkeit bei Kin- 
dern.) Clin. et laborat. Nov.-H. 1923. 

Als angeborener Zustand kommt gesteigerte Erregbarkeit besonders bei neuro- 
pathischer Belastung oder bei Migräne, Fettsucht, Gicht, Diabetes, Alkoholismus, 
Syphilis der Eltern vor, als erworbener Zustand nach Lasionen des Gehirns, Meningitis, 
Encephalitis. Zur Behandlung ist nötig: regelmäßige Ernährung, Einschränkung von 
Fleisch, viel Aufenthalt in freier Luft, Vermeidung von Aufregungen, Vorsicht mit 
Bädern, statt dessen feuchte Packungen, bei Schlaflosigkeit Bromcalcium. Campbell. 


Glueck, Bernard: The concept „nervous child“. (Das nervöse Kind.) Americ. journ. 
of psychiatry Bd. 3, Nr. 3, S. 515—526. 1924. 

Ausführliche Darstellung der Symptomatologie des ‚nervösen Kindes“, wobei Verf. 
zwischen Neuropathie und Psychopathie keine Unterscheidung macht und auch in die feinere 
Psychopathologie nicht eindringt. Neue Gesichtspunkte oder Beobachtungen enthält die 
Arbeit nicht. Villinger (Tübingen). 

Nasso, I.: La patologia del figlio unico. (Die Pathologie des einzigen Kindes.) 
Pediatria Jg. 32, H. 2, S. 101—107. 1924. 

Im Sinne der Auffassung Friedjungs werden die Umgebung des einzigen Kindes, 
die Symptomatologie auf psychischem und somatischem Gebiete (Emotivität, Unruhe, 
Pavor nocturnus, Launenhaftigkeit, asoziales Wesen, übermäßig rasche intellektuelle 
Entwicklung, Ernährungszustand, habituelles Erbrechen, Obstipation, Pollakiurie 
wand Enuresis) beschrieben, sowie der Prophylaxe und Therapie einige Worte gewidmet. 
Yn letzterer Hinsicht spielt die Gemeinschaftserziehung eine große Rolle. Über die 
Atiologie oder Psychogenese wird nichts angemerkt. Rudolf Allers (Wien). 


— 38 — 


Pototzky, Carl: Über nervöse Konstitutions- und Reaktionstypen. Zeitschr. f. 
Kinderheilk. Bd. 37, H. 1/3, S. 24—26. 1924. | 

Pototzky kritisiert eine Einteilung der Kinderneurosen, die Zappert gegeben 
hat, und spricht sich für die Unterscheidung von Neuropathie, Psychopathie und Hysterie 
aus. Man ist über diesen Streit etwas verwundert, da in der allgemeinen Psychiatrie 
inzwischen doch allmählich eine weitgehende Übereinstimmung erzielt worden ist. 

Gruhle (Heidelberg)., 

Seif, Leonhard: Über den Zwang im Leben und in der Neurose. Internat. Zeitschr. 
f. Individualpsychol. Jg. 2, Nr. 2, S. 9—15. 1923. 

Der der Adlerschen Richtung angehörende Verf. kommt in seiner interessanten 
Arbeit über die Wurzeln der Zwangserscheinungen zu folgendem Ergebnis: 1. Jedem 
„Zwang“ zugrunde liegt die Fiktion eines allgemeinen Zwanges, gegen den ein indi- 
vidueller sichernder Gegenzwang errichtet wird. 2. Das letzte Motiv hierfür bildet 
ein ungezügelter Freiheitsdrang, der Wille zur ‚„Allmacht‘‘ oder wenigstens zu ihrem 
Schein, die Überlegenheitstendenz der Pessimistischen. Es baut sich auf auf einer Welt- 
und Lebensangst, einem in der Kinderzeit erworbenen Minderwertigkeitsgefühl. 
3. Eigenliebe und Eitelkeit des zwangsneurotischen Individuums versuchen der Um- 
welt den Maßstab aufzuzwingen, mit dem es gemessen und gewertet sein will, wobei 
es sich durch seine Schwächen zu sichern sucht. 4. Der Zwang (Gegenzwang) der 
Neurose ist bestimmt, das Mitleid, die Fürsorge, die Bewunderung der Umgebung 
in den Dienst der eigenen Person zu stellen, die Umgebung zu quälen, zur Ohnmacht 
zu verdammen und den Zwang der gesellschaftlichen Forderungen wegzuschieben. 
5. Dieselbe Aufgabe wie der Zwang hat der Zweifel, der jenen ersetzt, ergänzt, ver- 
stärkt. 6. Weibliche, passive, pseudomasochistische Züge verschleiern häufig die 
starke Aktivität des Zieles und vor allem die aggressiven Tendenzen. Für die Er- 
ziehung folgt daraus, daß sie sich peinlichst einer Überbetonung der persönlichen 
Autorität und des Zwanges enthalten soll. Villinger (Tübingen). 


Friedjung, Josef K.: Beitrag zum Verständnis der Einschlafstörungen der Kinder. 
Wien. med. Wochenschr. Jg. 74, Nr. 20, S. 1002—1003. 1924. 

Mitteilung einiger Fälle von Einschlafstörungen bei kleinen Kindern, die psychogen 
entstanden sind und deren psychologische Wurzeln leicht aufdeckbar und durchaus verständlich 
. waren: Scelische Erregungen, die aus der Entfernung geliebter Personen aus dem Schlafzimmer 
— oder auch von Puppen u. dgl. aus dem Bett — ferner solche, die aus Eifersucht und die aus 
aufgepeitschter Sexualneugier herauswuchsen. Villinger (Tübingen). 


Krankheiten des Kindesalters (einschl. allgemeine Pathologie und Therapie): 


Dwyer, Hugh L.: Developmental defects of the skull: Aecrocephaly (oxycephaly) and 
anencephaly. (Entwicklungsdefekte des Schädels: Akrocephalie [Oxycephalie] und 
Anencephalie.) Med. clin. of North America Bd. 7, Nr. 4, S. 1205—1209. 1924. 

2 Fälle werden als Beispiele pathologischer Schädelentwicklung mitgeteilt. In dem einen 
(1 monatiges Kind) bestand Schluckschwierigkeit und eine Schädeldeformation, die zusammen- 
gehalten mit röntgenologischen Einzelheiten die Wahrscheinlichkeitsdiagnose der Anencephalie 
ermöglichten. Im zweiten Falle (8jähr. Kind) sprachen klinischer Befund, besonders die Figur 
des Schädels und das typische Röntgenogramm für Turmschädel. Neurath (Wien)., 

© Zondek, Hermann: Die Krankheiten der endokrinen Drüsen. Ein Lehrbuch für 
Studierende und Ärzte. Berlin: Julius Springer 1923. VII, 316 S. G.-M. 16.—. 

Wie Zondek an einer Stelle seines Buches auseinandersetzt, hat er sich die Auf- 
gabe gestellt, das Tatsächliche der Lehre von der inneren Sekretion aus dem nach- 
gerade undurchdringlichen Netzwerke hypothetischer und spekulativer Vorstellungen 
zu lösen und im ganzen nur die Tatsachen hervorzuheben, die ihm mit Rücksicht auf 
die klinische Pathologie wichtig zu sein schienen. Er ist seiner Aufgabe durchaus 
gerecht geworden. Die einzelnen Krankheitsbilder sind kritisch und klar zur Dar- 
stellung gekommen. Der an der Kinderforschung interessierte Arzt wird an diesem 
Buche einen zuverlässigen und anregenden Berater finden. R. Hirschjela. 


— 39 — 


Pfaundler, M.: Über die Entstehungsbedingungen von endemisehem Kropf und 
Kretinismus. (Nach alten und neuen Erhebungen und Erwägungen.) (Univ.-Kinder- 
klin., München.) Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 105, 3. Folge: Bd. 55, S. 223—276. 1924. 

In breit angelegter, den Rahmen einer medizinisch-statistischen Darstellung weit 
übersteigenden Besprechung wird das Thema Kropf und endemischer Kretinismus behan- 
delt. Kritische Überlegungen lassen beim Kropfe sowohl die Nahrungsmittel-, als auch die 
Trinkwasserätiologie als nicht genügend erkennen. Der Jodmangel bei der Ernährung 
kann eine ausschlaggebende Bedeutung nicht besitzen, da leicht erhältliche Nahrungs- 
mittel mehr Jod enthalten als durch jodhaltiges Kochsalz eingeführt wird. Der gün- 
stige Erfolg der Jodtherapie soll nicht in Abrede gestellt werden, aber dadurch wird 
vielleicht nur die Arbeitsmöglichkeit einer anderweitig geschädigten Schilddrüse 
gebessert. Daß das Trinkwasser eine schädigende Substanz enthält, wird ebenso oft be- 
hauptet als geleugnet. Daß das Trinkwasser allein schädigend wirke, ist sehr unwahr- 
scheinlich, hingegen ist die Mitwirkung des Wassers bei anderen örtlich bedingten Ein- 
flüssen möglich. Diese Einflüsse könnten, wie dies Verf. glaubwürdig darlegt, in 
„aktinischen Wirkungen‘ gelegen sein, das ist in Emanationen des Bodens und des 
Wassers, die den Radiumemanationen vergleichbar, wenn auch nicht mit ihnen iden- 
tisch sind. Parallelen zwischen geologischen Tatsachen und der geographischen Ver- 
breitung des Kropfes sind in diesem Sinne verwertbar. Daß Kropf und Kretinismus 
zusammengehören, ergeben die zahlenmäßigen Befunde ihres Zusammentreffens 
am selben Individuum (Syntropie Pfaundler - Seht). Deswegen muß die monistische 
Kretinismus-Theorie noch keineswegs richtig sein (die Auffassung der primären Schädi- 
gung der Thyreoidea), sondern die Struma kann durch Noxen bedingt sein, die ebenso 
auch imstande sind, Kretinismus zu erzeugen. Bei der Struma dürften ebenso wie beim 
Kretinismus endogene Faktoren bestimmend sein, wobei ein echtes Erbmoment (idio- 
typisch) maßgebend sein könnte. Der Nachweis der Vererbung ist beim Kropfe außer- 
ordentlich schwer. Aufzeichnungen des Verf. über sogenannte ‚„Sommerfrischkröpfe‘“, 
das sind Schilddrüsenschwellungen leichter und vorübergehender Art nach Aufenthalt in 
Kropfgegenden, lassen sich im Sinne einer Vererbbarkeit verwerten. Beim Kretinismus 
spielt die Konsanguinität eine große Rolle. Daß hierbei Kropf und Kretinismus in 
innigem Zusammenhange stehen, ergibt sich aus Stammbäumen sowie aus der Erfahrung, 
daß Mütter kretinistischer Kinder nahezu ausnahmslos Dauerstrumen besitzen. Für 
Kropf und Kretinismus dürfte das Erbanlagemoment dasselbe sein. Vielleicht 
bestehen für beide Zustände gleiche Erbanlagen, die aber infolge wechselnder 
äußerer Bedingungen sich ungleich entfalten. Man könnte sich vorstellen, daß äußere 
Schädlichkeiten auf die Entwicklung eines durch Erbanlage disponierten Organismus 
einwirken, um so mehr, wenn die Mutter selbst durch eigene Disposition an der Entfaltung 
bestimmter Schutzleistungen während der Gravidität gehindert ist. Die Schilddrüse 
hat beim endemischen Kropf vielleicht den Zweck, Gewebsschäden auszugleichen, 
welche durch äußere Momente bedingt sind. Zappert (Wien). 

Sehroetter, Hermann: Das Kropiproblem in den Vereinigten Staaten von Nord- 
amerika und England nebst ergänzenden literarischen Notizen. Mitt. d. Volksgesund- 
heitsamtes, Wien Jg. 1923, Nr. 12, S. 440—450. 1923. 

Nach McClenton ist der Kropf in den Vereinigten Staaten im Norden, besonders 

im Gebiet der großen Seen, des Lorenzostromes und in den Nordweststaaten am Großen Ozean 
sehr häufig und nimmt nach Süden gleichmäßig ab. Umgekehrt ist der Jodgehalt der Gewässer 
im Süden am größten, im Norden am geringsten. In Chicago haben 6,2%, der Schulkinder 
Kropf, in der Umgebung 7%, in einer Schule in Chicago wurde bei den Mädchen in 40,1%, bei 
den Knaben in 19,3% Kropf nachgewiesen. Der Michigansee, an dem die Stadt liegt, hat nur 
einen Jodgehalt von 0,28—0,68 Teilen auf eine Billion Teile Wasser, die Gewässer der südlichen 
Staaten haben dagegen 3—20 Teile. In vielen Städten des Nordens werden Jodschokolden- 
tabletten (& 4,3 mg) gegeben. In der Stadt Rochester des Staates New York ist eine Jodierung 
des Trinkwassers beschlossen werden, mittels Zusatz von Jod im Frühjahr und Herbst je 
2 Wochen lang, wofür als Kosten 2 Millionen Dollar berechnet wurden. Auch v. Fellenberg 
hat in der Schweiz in kropfarmen Gegenden höheren Jodgehalt des Trinkwassers als in kropf- 
reichen gefunden. Prinzing (Ulm). °°? 


u A 


Messerli, F.: Contribution à P’&tude de Pétiologie du goitre endémique. Recherches 
sur la fr&quence et la répartition du goitre dans le Bas-Valais d’après les résultats des 
visites sanitaires du reerutement (1910 à 1920). (Beitrag zum Studium der Ursachen 
des endemischen Kropfes. Untersuchungen über Häufigkeit und Verteilung des Kropfe 
in Nieder-Wallis nach den Ergebnissen der Aushebungsuntersuchungen 1910—1920.) 
Schweiz. Zeitschr. f. Gesundheitspfl. Bd. 3, H. 3, S. 375—397. 1923. 

Im ersten Teil gibt der Verf. eine Zusammenstellung von Literaturberichten von 
1574 bis fast zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in denen das Vorkommen des Kropfe 
bezeugt wird. Der zweite Teil enthält eine Zusammenstellung der gefundenen Kropi- 
zahlen in den einzelnen Dörfern und Jahrgängen. Der dritte Teil enthält die Schlub- 
folgerungen: die Orte, die im Talgrund liegen, namentlich an Vereinigungsstellen vor 
Flußläufen, sind am stärksten mit Kropf verseucht, während die Dörfer, die oberhalb 
der vorerwähnten Orte in der Höhe liegen, viel weniger Kropf und Kretinismus sul: 
weisen. Die ganz hochgelegenen Gemeinden sind im allgemeinen kropffrei. Die Kropf: 
endemie zeigt keinerlei Abhängigkeit von einer besonderen geologischen Beschaffer- 
heit. Die geographische Verteilung des Kropfes hängt nur ab von der Verteilung de 
infizierten Wassers. Einwohner und Vieh der hochgelegenen Ortschaften infinere 
durch ihre Exkremente das Trinkwasser der tiefgelegenen Orte. Der Kropf ist im 
allgemeinen das Resultat einer chronischen intestinalen Infektion. Dysenterie ist in 
Kanton häufig und zeigt dieselbe Verbreitung wie der Kropf. Die eine tiefgelegene Ge 
meinde Saxon, die relativ frei ist, hat eine jodhaltige Quelle. Schob (Dresden). 

Quervain, F. de: Cr&tinisme, états hypothyroldiens et système nerveux. (Kretinis- 
mus, Hypothyreoidismus und Nervensystem.) Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatr: 
Bd. 14, H. 1, 8.3—19. 1924. 

Lesenswertes Übersichtsreferat, in dem die Erfahrungen des Verf. an etwa 250 Fällt 
verwertet werden. Er unterscheidet 3 Hauptgruppen von Kretinen: 1. Kretinö« 
Individuen mit gewissen körperlichen und psychischen Stigmaten des Kretinismw. 
jedoch zu selbständiger Arbeit fähig; 2. Halbkretinen, mit ausgeprägten Symptom? 
des Leidens, jedoch nur zur Arbeit unter Aufsicht brauchbar, und 3. ganz arbeitsunfähiz 
Vollkretinen. Auch hier wird wieder die häufig überraschende Dissoziation der Haupt 
symptome hervorgehoben. Die Störungen seitens des Nervensystems gehen nic: 
parallel mit denen des Skeletts, der Haarentwickelung, der Geschlechtsorgane. üb 
es sich dabei um eine individuell verschiedene Empfindlichkeit der Organe handelt. 
oder um Differenzen im Grade der Beeinträchtigung der verschiedenen Schilddrüse 
funktionen bei Atrophie der Drüse oder um gleichzeitige verschiedenartige Beteiligu: 
anderer innersekretorischer Organe, bleibt ungewiß. Die Kniereflexe wie die Sehner 
und Knochenhautreflexe an den Armen fanden sich bei 213 daraufhin untersuchte 
Fällen in 50%, erhöht, eine Steigerung, die mit der Intensität der Symptome des Kr 
tinismus im Einklang zu stehen scheint, ohne daß der Zustand der Schilddrüse - 
ob Atrophie, ob Kropf — von Einfluß dabei wäre. Bemerkenswert sind weiter d: 
Beobachtungen über die Wirkungen der Kropfoperation auf den psychischen Zustar: 
bei Kretinen: In 34 von 56 operierten Fällen blieben die Intelligenzstörungen unt 
einflußt. In 9 Fällen kam es zu einer Verschlimmerung des Gesamtbefundes wie d 
psychischen Verhaltens, trotz Erleichterung der Atmung. In 13 Fällen war eine gewi“ 
Besserung zu verzeichnen. In 9 dieser gebesserten Fälle konnte die Besserung č- 
auf die Entlastung der Luftröhre zurückgeführt werden, in 4 Fällen lag die Annahr' 
einer entgiftenden Wirkung der Operation nahe. K. Berliner (Breslau). 

Nobel, Edmund: Über kindliehes Myxödem. (Univ.-Kinderklin., Wien.) Wë 
klin. Wochenschr. Jg. 37, Nr. 14, 8.333. 1924. 

Bei der Nachuntersuchung von früher klinisch mit Erfolg behandelten Myxökt 
Kindern fiel dem Verf. der Rückschritt bzw. Stillstand der Entwicklung nach der Es: 
lassung aus der Klinik auf. Die Gründe dafür liegen teils in dem Aussetzen der Bebar! 
lung, teils in der Weiterbehandlung mit unwirksamen Präparaten. Man sollte infole- 


=a A 


dessen eine zuverlässige biologische Kontrollmethode für die im Handel befindlichen 

Schilddrüsenpräparate einführen und für sämtliche Fälle von Myxödem staatlicherseits 

eine obligatorische Behandlung bis zur erlangten Großjährigkeit anordnen. 
Villinger (Tübingen). 

Bernheim- Karrer, J.: Rachitis und kongenitales Myxödem. (Kanton. Säuglingsh., 
Zürich.) Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 105, 3. Folge: Bd. 55, S. 31—38. 1924. 

Bei kongenitalem Myxödem sind rachitische Knochenveränderungen sehr selten; 
ja man hat früher an der Möglichkeit des Zusammentreffens beider Krankheitsprozesse 
lange gezweifelt. Besteht doch zwischen ihnen eine gewisse Gegensätzlichkeit: ‚Fehlende 
physiologische Knocheneinschmelzung kennzeichnet die Myxidiotie, oft pathologisch 
aufs äußerste gesteigerte die Rachitis.‘‘“ Eine der Rachitis ähnliche Knochenerkrankung 
stellt die Knochenerweichung, die Osteomalazie, dar. Es ist nun für die Frage des Zusam- 
menvorkommens von kongenitalem Myxödem und Rachitis von Interesse, daß Osteo- 
malazie auch bei erwachsenen Kretinen und beim Myxödem der Erwachsenen vor- 
kommen kann. Doch auch bei Erwachsenen mit Überfunktion der Schilddrüse, bei 
der Basedowschen Krankheit ist Osteomalazie nicht selten. Die Beziehungen der 
Schilddrüse zum Knochensystem sind also wohl recht verwickelt und noch keines- 
wegs geklärt. Bekanntlich hat man Funktionsstörungen anderer endokriner Drüsen, 
der Nebennieren, des Thymus, der Nebenschilddrüsen als Ursache der Rachitis an- 
genommen; ob mit Recht, steht dahin. 

Verf. beschreibt einen Fall vonfkongenitalem Myxödem bei einem 4'/,monatigen Kinde, 
bei dem sich am Schädel oberhalb der linken Lambdanaht eine erweichte Knochenpartie fand. 
Er sieht darin eine rachitische Schädelknochenerkrankung. Im Anschluß daran betont er die 
Wichtigkeit der Feststellung der Körperlänge bei der Geburt für die zuverlässige Beurteilung 
des Längenwachstums während der ersten Lebensmonate. Geht man dabei von den Durch- 
schnittswerten der Geburtslänge aus, so kommt man, wie an diesem Kinde, dessen Geburts- 


länge gemessen war, gezeigt werden konnte, zu ganz unrichtigen Vorstellungen. Schließlich 
mahnt der Verf. zur Vorsicht gegenüber den Aussagen der Mütter über die Seelenregungen 


kleiner Kinder. K. Berliner (Breslau). 
Gibson, Edward T.: Chronie idiopathie tetany. (Chronische idiopathische Tetanie.) 


Med. clin. of North America Bd. 7, Nr. 4, S. 1295—1301. 1924. 

Ein 13jähr. Knabe bot an Dauersymptomen blasses Gesicht, leichte Diarrhöe, verminderte 
Aktivität, leichte Ermüdbarkeit, von zeitweiligen, besonders in der kälteren Jahreszeit auf- 
tretenden Symptomen Anfälle von Dyspnöe, Steifigkeit der Arme und Beine, Haarausfall, 
Attacken von Bewußtlosigkeit. Das Poolsche Manöver: Krämpfe in den Händen bei vertikal 
erhobenen Armen infolge Zugs der Axillarnerven, das Chvosteksche Symptom (1. Phase), 
das Erbsche Symptom waren positiv. Die gesteigerte mechanische und elektrische Erregbarkeit 
ließen nach Kalk- und Parathyreoidbehandlung eine Herabsetzung erkennen, ebenso besserten 
sich der Haarausfall und die anderen Symptome. Diagnose: chronische idiopathische Tetanie. 


Rudolf Neurath (Wien)., 

Lereboullet, P.: L’&piphyse et les syndromes £piphysaires ehez Penfant. (Die 
Epiphyse und die epiphysären Symptome beim Kinde.) Arch. de med. des enfants 
Bd. 26, Nr. 11, S. 649—670. 1923. 

Nach einer kurzen Besprechung der Anatomie und Physiologie der Zirbeldrüse 
schildert Verf. kurz einen von ihm, Maillet und Brizard beobachteten Fall. Es 
handelte sich um einen 12jährigen g’ von 149 cm Länge, mit beschleunigtem Wachstum, 
Pubertas praecox, vermehrtem Haarwuchs, Kopfweh, Stauungspapille, Lähmung 
der vertikalen Blickbewegungen, Doppeltsehen und Erbrechen. Bei der Autopsie fand 
sich ein mandarinengroßes Neuroepitheliogliom des Corpus pineale, das in den 3. Ven- 
trikel weit vordrang, ihn ausfüllte, den Liquorabfluß durch den Aquädukt verhinderte 
und einer starken Erweiterung der Seitenventrikel bedingte. Unter Herbeiziehung 
anderer Fälle wird der Zirbeldrüsensyndrom aufgestellt, der aus folgenden Erschei- 
nungen besteht: 1. Dystrophische Störungen, nämlich beschleunigtes Wachstum ohne 
Riesenwuchs (manchmal mit Zwergwuchs) und Pubertas praecox mit starker Behaarung. 
2. Nervöse Störungen als Folge des Hirndrucks (Kopfweh, Erbrechen, Konvulsionen, 
Sehstörungen.) 3. Vertikale Blicklähmungen infolge Druck auf den vorderen Vierhügel. 


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Dazu können Fettsucht und Polyurie treten. Außerdem beobachtet man eine intellek- 
tuelle Frühreife. Im Radiogramm zeigt oft ein Kalkschatten den Sitz der Geschwulst 
an. Knaben erkranken häufiger als Mädchen. Die meisten Geschwülste sind wohl 
Teratome. Es ist nicht sicher, wodurch der Zirbeldrüsensyndrom zustande kommt. 
Einen Schluß auf die Funktion des Organs läßt es noch nicht zu. Die Behandlung ist 
schwer, die Operation gefährlich und nutzlos. Die Organtherapie war bisher erfolglos. 
Creutzfeldi (Berlin). 

Boyd, Carlisle S.: A case of dystrophia adiposogenitalis in a child two years ol 
age, with results of seven months treatment. With additional observations covering 
a period of two years. (Ein Fall von Dystrophia adiposogenitalis bei einem 2jährigen 
Kinde mit dem Erfolg einer 7 monatigen Behandlung.) (Children’s serv., city hosp.. 
New York.) Arch. of pediatr. Bd. 40, Nr. 11, S. 736—746. 1923. 

Ein 2 Jahre alter Knabe hatte durch viele Monate im Zustand beträchtlicher Atrophie 
plötzlich begonnen, Fett anzusetzen, besonders an den Schenkeln und der oberen Brustpartie. 
Großer hydrocephaler Kopf, leichte rachitische Stigmen, dürftige Entwicklung des Genitales, 
normaler Augenhintergrund, normale Knochenverhältnisse, erhöhte Zuckertoleranz. Die Dia- 
gnose schwankt zwischen Hypopituitarismus und Hypothyreoidismus. Die psychische Evt- 
wicklung schien rückständig, die statischen Funktionen waren mangelhaft. Organtherapeutische 
Behandlung, Hypophysen- und Schilddrüsensubstanz im wechselnder Menge, brachte gute 
Erfolge bezüglich aller Symptome. Neurath (Wien)., 

Stoye, W.: Konstitutionelle Fettsucht mit Riesenwuchs und Polyglobulie. ( Unst.- 
Kinderklin., Halle a. S.) Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 37, H. 1/3, S. 119—124. 1924. 

Verf. beschreibt den sehr eigentümlichen Fall eines 3jähr. Knaben, der neben einem 
Riesenwuchs eine Fettsucht und eine Polyglobulie mit Eosinophilie aufwies. Die Fettsucht 
war diffus, und die Vergrößerung betraf nicht nur die gipfelnden Teile, sondern den gesamten 
Körper. Das Röntgenbild des Schädels war normal. Verf. glaubt, daß die drei Hauptsymptome 
in Beziehung zueinander stehen, und sieht sie als eine Folge der von der des Erwachsenen 
abweichenden Reaktionsform des kindlichen Körpers an. Eine wirkliche Erklärung für diese 
Kombination vermag der Verf. aber nicht zu geben. G. Periz (Charlottenburg)., 

Lindeberg, W.: Chondrodystrophie und Pseudochondrodystrophie. (Un:v.-N erven- 
klin., Dorpat.) Folia neuropathol. Estoniana Bd. 1, H.1, S. 75—94. 1923. 

Bericht über 2 Fälle von Chondrodystrophie, bei einem auch über den histo- 
logischen Befund an den Knochen. Besprechung der vielen Theorien über die Ent- 
stehung des Leidens; als wahrscheinlich wird angenommen, daß endokrine Drüsen- 
störungen auf dem Wege über das Zentralnervensystem die Ursache des Prozesses 
sind; in erster Linie denkt Verf. an geschädigte Funktion der Epiphyse. 

Zum Schluß beschreibt Verf. einen Fall als Pseudochondrodystrophie, den er anfänglich 
als echte Chondrodystrophie aufgefaßt hatte: Körpergröße 90 cm, starke Verdickung der 
Extremitätengelenke, Muskelansatzstellen an den Extremitäten vielleicht verdickt. Gegen die 
Annahme des Verf., daß es sich hier um Folge von Rachitis handelt — wofür der Anblick des 
Individuums spricht — kann die Form der Hände sowie die noch nicht abgeschlossene Ver- 
knöcherung der Epiphysenlinien (Alter: 26 Jahre) geltend gemacht werden. Otto Maas., 


Peiser, Julius: Über die Tuberkulose des Schulkindes. Jahrb. f. Kinderheilk. 
Bd. 102, 3. Folge: Bd. 52, H. 3/4, S. 123—144. 1923. 

Peiser bestätigt an eigenen Zusammenstellungen aus der Tuberkulosefürsorge 
der Landesversicherungsanstalt Berlin die bekannten Zahlen über das Verhältnis der 
tuberkuloseinfizierten zu den tuberkuloseerkrankten und den tuberkuloseverstorbenen 
Kindern. Die Zahl der Infizierten, festgestellt mit der Pirquetschen Hautprobe, steigt 
von der Geburt bis zum Ende der Schulzeit auf etwa 60°% der Schulkinder. Aber nur 
ein Bruchteil der Infizierten zeigt sich erkrankt, auch wenn man in jedem Fall die Rönt- 
genuntersuchung zu Hilfe nimmt, und zwar an Lungentuberkulosen höchstens 1 — 2%, 
der Schulkinder. Der Lungenspitzenkatarrh als Früherscheinung der Lungentuber- 
kulose spielt bei Kindern keine Rolle (0,3%, der Fälle). Drüsen-, Knochen- und ander 
Formen der Tuberkulose kommen noch viel seltener vor. Die Sterblichkeit an Tuber- 
kulose ist auch bei den Kindern während des Krieges fast auf das Doppelte gestiegen. 
nämlich von 5,58 bis zu 9,19 auf 10 000 Lebende der Altersklasse 1—15 Jahre, seither 


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wieder auf 6,64 (1920) gefallen. Bei den Jugendlichen von 15—30 Jahren war sie 
1920 noch erheblich höher als zur Friedenszeit, nämlich 21,29 gegen 16,33 vor dem Kriege. 
Bald nach der Entwicklungsreife beträgt die Sterblichkeit an Tuberkulose fast die 
Hälfte der Gesamtsterblichkeit; und hierfür wird in der Schulzeit durch mit den Jahren 
steigenden Infektionshäufigkeit und Infektionsschwere und absinkende Widerstands- 
kraft der Grund gelegt. Deshalb ist das Schulalter die Zeit der Vorsorge gegenüber 
den tuberkulosebedrohten Kindern, also denen, die in tuberkulosekranker Umgebung 
leben; ferner der Fürsorge gegenüber den tuberkulosegefährdeten Kindern, vor allem 
also denen mit langem flachen Brustkorb, die nach den Zahlen der Versicherungs- 
anstalten dreimal so oft an Tuberkulose sterben als der Durchschnitt der Versicherten. 
Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 

Paterson, Donald: Tubereulous meningitis. — Is it a preventable disease? Based 
on 70 post mortems. (Die tuberkulöse Meningitis — Läßt sie sich verhüten? Auf 
Grund von 70 sezierten Fällen.) Practitioner Bd. 110, Nr. 6, S. 431—441. 1923. 

Die twberkulöse Meningitis ist eine sekundäre Erkrankung im Anschluß an einen 
älteren, meist käsigen Herd im Gehirn oder einer anderen Stelle des Körpers, gewöhnlich 
der Bronchialdrüsen. Sie ist am häufigsten im 2. Lebensjahr und beginnt meist im 
Frühjahr. Vom 3. Lebensjahr ab sinkt die Häufigkeit rasch. Nach dem 10. Lebensjahr 
ist die Krankheit verhältnismäßig selten. Hat man die Entstehung eines primären 
Herdes nicht verhüten können, so hat man die Aufgabe, die Ausbreitung der Krankheit 
von dieser Stelle aus nach Möglichkeit zu verhindern. Es kommt dabei darauf an, 
beizeiten zu erkennen, ob eine primäre Bronchialdrüsentuberkulose vorliegt, besonders 
in tuberkulösen Familien soll man daran denken. Findet man Hinweise darauf, dann 
muß man das Kind durch gute Ernährung und Aufenthalt in frischer Luft über das 
gefährliche 2. Lebensjahr sicher hinwegzubringen suchen und ihm dann noch bis zum 
10. Lebensjahr besondere Aufmerksamkeit schenken. Auf diese Weise läßt sich viel 
zur Verhütung der tuberkulösen Meningitis tun. Campbell (Dresden)., 

Weyraueh, Friedrich: Endemisches Auftreten der übertragbaren Genieckstarre in 
einem Marburger Kinderheim. Gelungener Nachweis der Infektionsquelle. (Inst. f. exp. 
Therap. „Emil v. Behring“ u. Univ.-Kinderklin., Marburg a. Lahn.) Zeitschr. f. Hyg. 
u. Infektionskrankh. Bd. 101, H. 2, S. 197—202. 1923. 

In einem Versorgungshause für uneheliche Kinder wurden seit 1921 in größeren 
Zeitabständen (bis zu 9 Monaten) wiederholte Erkrankungen an Genickstarre beob- 
achtet. Da die ganze Umgebung genickstarrefrei und die Kranken sofort aus dem 
Heime genommen wurden, mußte an die Anwesenheit von Kokkenträgern gedacht 
werden. Eine systematische Durchuntersuchung ergab nur bei einem seit 1921 im 
Hause befindlichen Knaben einen positiven Befund. Die Erkrankungen befielen meist 
neueingetretene Kinder, so daß eine relative Immunität der anderen angenommen 
werden konnte. Das männliche Geschlecht zeigte sich sehr disponiert und ein Einfluß 
des allgemeinen Gesundheitszustandes konnte nicht festgestellt werden. Reiter. 

Becker, Gösta: Beobachtungen über Konstitution und Pathogenese bei der so- 
genannten epidemisehen Eneephalitis. (ZI. med. Klin., Helsingfors.) Zeitschr. f. d. ges. 
Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutionslehre. Bd. 9, H. 6, S. 573—585. 1924. 

Die epidemischen Encephalitiker zeigten etwa doppelt so oft wie die gewöhnlichen 
Influenzakranken Anzeichen einer nervösen Konstitution. Von 39 Encephalitiskranken 
hatten 17 neuropathische Belastung bei den nächsten Blutsverwandten und 22 nervöse 
.Symptome in der eigenen Anamnese (2 Epilepsie, 1 Hysterie, 2 Migräne, 1 Asthma, 
1 Poliomyelitis, 1 Herpes zoster, 2 Alkoholismus, 4 Bettnässen, 1 Homosexualität, 
1 Schlafwandeln, 2 schwere Schlaflosigkeit, die übrigen 4 nur in der Kindheit nervöse 
Symptome). Vergrößerte Lymphdrüsen und vergrößerte Tonsillen scheinen bei epide- 
mischen Encephalitikern häufiger vorzukommen als bei Influenzakranken. Im übrigen 
scheint die Annahme einer Iymphatischen Konstitution als dispositionelles Moment 
nicht sichergestellt. Insgesamt kommen also Anzeichen einer nervösen Konstitution 


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häufig vor, während eine Anhäufung anderer Abweichungen von der Norm nicht mit 
Sicherheit nachzuweisen ist. Kretschmer (Tübingen). 


Grósz, Julius, und Markus Goldberger: Die chronischen Formen der Eneephalitis 
epidemica im Kindes- und jugendlichen Alter. (Siegmund- u. Adele- Brödy-Kinderhosp., 
Budapest.) Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 104, 3. Folge: Bd. 54, H. 6, S. 321—349. 1924. 

Die Arbeit gibt einen knappen Überblick über den Stand der wissenschaftlichen 
Forschung über die Spätzustände der Encephalitis epidemica, soweit sie die Kinder 
und Jugendlichen betreffen. Die wichtigsten psychischen Störungen: die Schlaf- 
störung, die Charakterveränderung, die vorzeitige Pubertät mit ihren Nebenerschei- 
nungen, der Sammeltrieb werden, zum Teil unter Bezug auf eigene Beobachtungen, 
beschrieben und nach klinischen Gesichtspunkten gewertet. Die typische Sprachstörung, 
die Verff. hier anführen, möchte Ref. lieber bei den somatischen, extrapyramidalen 
Erscheinungen untergebracht wissen. Der vielfach vernachlässigte Sammeltrieb findet 
hier verdiente Beachtung. Die Abgrenzung des ganz spezifisch gefärbten postencepha- 
litischen seelischen Gesamtbildes bei Kindern ist, soweit dies heute möglich, versucht 
worden. Interessant ist die Mitteilung von 4 Fällen, wo in der Schwangerschaft eine 
Encephalitis epidemica bestand und die betreffenden Frauen gesunde und wohlent- 
wickelte Kinder zur Welt brachten, die in den ersten 4 Jahren nach der Geburt gut 
gediehen. Hinsichtlich der Behandlungserfolge und der Prognose sind die Verff. sehr 
skeptisch. Vıllinger (Tübingen). 

Paillard, Henri, et Pierre Joannon: Sur quelques troubles visc&raux ou généraux 
au cours de l’ene£phalite épidémique; hoquet et n&vraxite épidémique. (Über einige 
viscerale oder allgemeine Störungen im Verlauf der Encephalitis eptdemica.) Journ. 
med. franç. Bd. 12, Nr. 4, S. 170—176. 1923. 

Die Verff. besprechen eine Reihe von bekannten Störungen, die im Verlaufe der 
Encephalitis epidemica auftreten können. Häufig sind Temperatur-Zirkulations- und 
Atmungssstörungen. Die Zirkulationsstörungen bestehen in Pulsunregelmäßigkeiten 
und niedriger Spannung, die Störungen des Atmungsrhythmus im wesentlichen in 
Polypnöe, seltener in Bradypnöe oder periodischer Apnöe. Durch Nichtbeteiligung 
des Zwerchfells an der Atmung kann es zu ausschließlicher Brustatmung kommen. 
Weiterhin sind krampfartiger Husten, Tics und echte Brustödeme, wahrscheinlich 
nervösen Ursprungs, beschrieben worden. Unter den visceralen Störungen sind Leber- 
erscheinungen, wie Ikterus mit Schwellung und Empfindlichkeit der Leber, und Uro- 
bilinurie am häufigsten. Nierensteine sind selten. Ferner wurden Schädigungen der 
endokrinen Drüsen — Fettleibigkeit, Diabetes insipidus mit enormer Polyurie und vor- 
übergehende Glykosurie- und Ernährungsstörungen beobachtet. Ein besonderes Kapitel 
ist dem glottischen Krampf, dem Singultus, gewidmet. Die Verff. unterscheiden den 
schweren epidemischen Singultus, dem zuweilen Erscheinungen folgen, wie Muskelklonus, 
Empfindungslosigkeit und Augenstörungen, und den gutartigen, epidemischen fieber- 
haften Singultus, bei dem Verdauungsstörungen (Erbrechen, Diarrhöe) häufig sind 
und auch Muskelzuckungen auftreten können. Schlaflosigkeit, Sprech- und Schluck- 
angst sind nicht seltene funktionelle Folgen. Differentialdiagnostisch kommen Hysterie 
und Simulation in Betracht. Gegenüber therapeutischen Eingriffen ist er hartnäckig. 
Heilung tritt meist von selbst ein, ohne Rezidive. Ansteckungsgefahr scheint sicher zu 
bestehen. Die Frage, ob der epidemische, fieberhafte, gutartige Singultus demselben 
Virus zuzuschreiben ist wie die epidemische Encephalo-Myelitis-Neuraxitis, oder ob er 
eine selbständige Erkrankung darstellt, ist noch nicht geklärt. Jedenfalls ist sowohl 
prognostisch als auch prophylaktisch und therapeutisch Vorsicht geboten. Többen. 


Alsjouanine, Th.: Le traitement des formes prolong&es de l’ene£phalite épidé- 
mique. (Die Behandlung der chronischen Formen der Encephalitis epidemica.) Journ. 
med. franç. Bd. 12, Nr. 4, S. 177—180. 1923. 


Eine spezifische Behandlung der epidemischen Encephalitis gibt es noch nicht: Rekon- 
valeszentenserum, Autohämatotherapie, intravenöse Injektionen des eigenen Liquors der 


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Patienten haben versagt, desgleichen die subcutane Injektion wässerigen Extraktes von Pons 
und Striatum Encephalitiker. Urotropin (intravenös, lange Zeit fortgesetzt) kann Besserung 
bringen, desgleichen Natr. salicyl. (auch intravenös injiziert), Natr. jod., Chinin. Hingegen 
sind Serumbehandlung, Proteintherapie, Fixationsabscesse wirkungslos. Als symptomatische 
Therapie kommen in Betracht: Scopolamin (1/,—1 mg per os, besser als subcutane Injektion 
1/,—?/, mg), Tinctura arnicae, Natr. kakodyl., Luminal. Zwecks Vermeidung von Ansteckung 
ist der Nasen- und Mundhöhle sorgfältige Antisepsis anzuempfehlen. Kurt Mendel.°° 


Prissmann, J.: Ein Fall von dysbatiseh-dystatischer Form der Torsionsdystonie. 
(Nervenklin., I. Staats-Univ. Moskau.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 88, 
H. 1/3, 8. 348—351. 1924. 

13jähriger Knabe, nicht belastet, arische Abstammung. Bis zum 8. Jahr gesund, konnte 
von da ab mit dem Schreiben nicht fertig werden, allmähliche Verschlimmerung, schrieb 
schlechter, konnte schlechter essen. Seit Winter 1920/21 Krampferscheinungen in den Fingern; 
seit Anfang 1921 auch gezwungene Schiefhaltung des Kopfes, der Finger und des linken Fußes. 
Schnelligkeit der Bewegungen beiderseits herabgesetzt. Sehnenreflexe normal, Feblen von 
Pyramidenstörungen, Intelligenz und Sprache normal. Verf. möchte seinen Fall zur dysbatisch- 
dystatischen Form der Torsionsdystonie rechnen. Schob (Dresden). 


© Die Syphilis. Kurzes Lehrbuch der gesamten Syphilis mit besonderer Berück- 
siehtigung der inneren Organe. Hrsg. v. E. Meirowsky u. Felix Pinkus. (Fachbücher 
für Ärzte. Bd. 9.) Berlin: Julius Springer 1923. VIII, 572 S. G.-M. 27.—. 


Das vorliegende Buch gibt uns in dem relativ knappen Umfange von 572 Seiten eine um- 
fassende Übersicht über das Gesamtgebiet der Syphilis. Die einzelnen Kapitel sind von ver- 
schiedenen Autoren behandelt. Das Buch ist besonders auch vom Standpunkte des praktischen 
und nicht spezialistisch auf syphilidologischen Gebiete tätigen Arztes zu begrüßen, da es ge- 
eignet ist, ihm mit den modernen Anschauungen und den neueren Methoden auf dem Gebiete 
der SU gm vertraut zu machen. Für die Leser unserer Zeitschrift sind insbesondere die 
Kapitel über die Syphilis des Nervensystems (Steiner), die kongenitale Syphilis (Davidsohn), 
über Syphilis und innere Sekretion (Beth) von Interesse. Kramer (Berlin). 


Herz, Osear: Trennung der Lues congenita in eine maligne (= fötal anbehandelte) 
und in eine benigne Form und deren Therapie. (Kinderkrankenh., Hamburg- Rothenburgs- 
ort.) Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 28, H. 2, S. 159—163. 1924. 


Bei der Therapie der kongenitalen Lues ist der größte Wert auf die Art der vor- 
angegangenen Behandlung der Eltern zu legen. Mangelhafte Behandlung der Eltern 
schafft therapieresistente Spirochätenstämme, provoziert zu besonders bösartigem 
Verlauf, während die Kinder gut vorbehandelter Mütter auf die Therapie günstig 
reagieren und sogar relativ hohe Dosen gut vertragen. Wichtig ist daher die Sorge 
für ausreichende Behandlung der Mutter und genaue Anamnese, um die geeignete 
Therapie einschlagen zu können. Martin Gumpert (Berlin). 


Meyer, Gertrud: Bericht über das Schieksal ausgiebig behandelter  Syphiliskinder. 
(Städt. Friedrichs-Waisenh., Berlin- Rummelsburg.) Arch. f. Kinderheilk. Bd. 74, H. 2/3, 
S. 172—187. 1924. 


Die Beobachtungen bilden die Fortsetzung einer früheren ähnlichen Untersuchung, 
die um 5 Jahre zurückliegt. Berücksichtigt sind nur Kinder, die das 1. Lebensjahr 
überschritten haben, und bei denen das Ende der Behandlung länger als 1 Jahr zurück- 
liegt, im ganzen 123 Kinder. Von diesen wurden 73 im 1. und 2. Jahr, 24 im Klein- 
kindesalter, 26 im Schulalter antisyphilitisch behandelt. Je früher die Behandlung 
einsetzte, desto rascher und vollkommener der Erfolg. Hinsichtlich der seelischen 
Fähigkeiten teilte Verf. ihre Kinder in 4 Gruppen ein, und zwar 1. normal; 2. leicht 
herabgesetzt; 3. stark herabgesetzt; 4. idiotisch. (Genaue Angaben über die Art der 
Untersuchung und die Gruppenbildung fehlen leider.) 89,7%, der ausreichend be- 
handelten Kinder gehörten in Gruppe I und II, 7,9% in Gruppe III, 2,4% in Gruppe IV. 
Die Gruppen I und II umfassen solche Kinder, die noch imstande sind, einen einfachen 
Beruf auszufüllen. Nur der kleinere Teil der zu Ende behandelten Kinder ist als geistig 
ganz normal anzusehen. Sozial unbrauchbar dagegen sind nur 10,3%. Die über- 
wiegende Mehrzahl ist also als brauchbar für einen Lebensberuf zu bezeichnen. Viele 


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der Kinder sind Psychopathen, was Verf. in erster Linie auf erbliche Belastung und 
Milieuwirkung zurückführen will. 30 der Kinder sind in zufriedenstellender Weise 
berufstätig, ein Mädchen hat ein uneheliches Kind, das keine Zeichen von Syphilis 
aufweist. Es ist also festzustellen gewesen, daß die schweren Folgen angeborener 
Syphilis durch systematische, ausgiebige Behandlung so herabgemindert werden 
können, daß die Kinder zum weitaus größten Teil einigermaßen brauchbare Glieder 
der Gesellschaft werden. Interessant wäre eine spätere Nachuntersuchung vom psy- 
chiatrischen Standpunkt aus, wie auch vom soziologischen. Villinger (Tübingen). 


Szirmai, Friedrieh: Über die Bedeutung der neueren serologischen Untersuehungs- 
methoden bei Lues congenita. (Univ.-Kinderklin., Budapest.) Jahrb. f. Kinderheilk 
Bd. 104, 3. Folge: Bd. 54, H.5, S. 257—276. 1924. 

Bei der hereditären Lues ist die Wassermannsche Reaktion empfindlicher als die 
Ausflockungsreaktionen. Trotzdem macht der Autor den Vorschlag, die Ausflockungs 
reaktionen anzuwenden, da sie manchmal positiv ausfallen, wenn die Wassermannsche 
Reaktion negativ ist und damit den Verdacht einer bestehenden Lues erhärten. Bei 
den symptomenlosen Müttern luetischer Kinder erwiesen sich die neueren Methoden, 
besonders die M.T.R., sehr wertvoll, denn durch die mit mehreren Methoden parallel 
angestellte serologische Untersuchung wird die Erfassung der Lues latens im all- 
gemeinen, somit auch bei Schwangeren, wesentlich erleichtert; hierdurch könnte die 
Verhütung der Lues congenita gefördert werden. de Crinis (Graz)., 


Biesalski, K.: Der physiologische Gedanke bei der Beurteilung der Kinderlähmung. 
Nederlandsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 67, 1. Hälfte, Nr. 21, S. 2234—2239. 1923. 
(Holländisch.) 

Das ideale Ziel bei Erkrankungen der Bewegungsorgane ist, physiologische Ver- 
hältnisse zu schaffen. Am ‚Motor‘ sind die Erkrankungen der Nerven einer Behand- 
lung so gut wie nicht zugänglich, wohl aber die der Muskeln. Sehr wichtig ist die Ver- 
hütung bzw. Beseitigung der Überdehnung. Durch individuelle elektrische Behandlung 
kann nach vielen Jahren noch eine bessere Funktion erzielt werden. Die Behauptung, 
daß ein Muskel, der sich nach 1 Jahre noch nicht erholt hat, verloren ist, ist unzutreffend. 
Zur Verrichtung der vollen Muskelarbeit gehört vor allem Unversehrtheit des Gelenk- 
apparats. Die Verhütung bzw. Beseitigung von Contracturen ist daher die vornehmste 
Aufgabe bei der Behandlung der Kinderlähmung. Der Verhütung dient im Anfange 
richtige Lagerung, nach einigen Wochen Aufstehen, nötigenfalls in Apparaten, und Übun- 
gen. Zur Beseitigung einer bereits entstandenen Contractur dient eine vom Verf. und 
Mommsen ausgearbeitete Methode langsamer Dehnung des geschrumpften Gewebes. 
Tenotomien und Sehnenverlängerungen sollten nur in dringenden Fällen ausgeführt 
werden. — Es ist notwendig, den ganzen Körper als eine statische Einheit zu betrachten 
und nicht nur ein einzelnes Gelenk zu berücksichtigen. Der Kranke lernt oft mit der 
ihm gebliebenen Muskelkraft stehen und laufen. Diese in Jahren gelernte Lauftechnik 
soll man nicht stören, wenn man nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen hat. Eine 
solche Störung kann durch eine nur ein einzelnes Gelenk berücksichtigende Operation 
bewirkt werden, da es oft lange dauert, bis der Kranke sich den neu geschaffenen 
Verhältnissen anpaßt. — Von in Betracht kommenden Operationen, die erst erfolgen 
dürfen, wenn eine weitere Kräftigung des unter physiologische Bedingungen versetzten 
und elektrisch behandelten Muskels nicht mehr zu erwarten ist, bespricht Verf. die 
Arthrodese und die Sehnenüberpflanzung. Bei letzterer sind auch alle das betreffende 
Gelenk bewegenden Muskeln zu berücksichtigen. Auf ein den normalen Verhältnissen 
möglichst entsprechendes Gleiten der Sehnen ist sorgfältig zu achten; Verwachsungen 
sind unbedingt zu vermeiden. 5 Tage nach der Operation Beginn mit passiven Be- 
wegungen, vom 10. Tage ab Elektrisieren des verpflanzten Muskels. Die gesonderte 
Innervation bisher synergistisch, nach der Operation aber antagonistisch wirkender 
Muskeln wird gewöhnlich ohne Mühe gelernt. Reich (Breslau)., 


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Nobécourt, P., et P. Duhem: Le traitement de la paralysie infantile doit être organisé 
méthodiquement. (Die Behandlung der spinalen Kinderlähmung muß methodisch 
organisiert werden.) Presse méd. Jg. 32, Nr. 19, S. 201—202. 1924. 

Die Folgezustände machen die akute spinale Kinderlähmung zu einer furchtbaren 
Krankheit. Wegen ihrer Häufigkeit ist sie eine Krankheit, die soziale Bedeutung hat. 
Die Behandlung ist eine lange und muß nach einem bestimmten Heilplan je nach dem 
Stadium der Krankheit ausgeführt werden. (Die medizinischen Einzelheiten müssen 
im Original nachgelesen werden. E.) Die Behandlung muß in Anstalten durchgeführt 
werden; aber die Krankenhäuser und die Kinderkliniken eignen sich nicht. Die Be- 
handlungszeit dauert Jahre. Infolgedessen muß außerdem für die geistige und mora- 
lische Erziehung gesorgt werden. Es müssen Spezialhäuser in der Nähe der Stadt er- 
richtet werden. Sie müssen unter Leitung von Spezialisten stehen, die die elektrischen, 
radiotherapeutischen, besonders die hydrotherapeutischen Methoden beherrschen. Es 
müssen aber auch chirurgisch-orthopädische Fachärzte zur Verfügung stehen. Diese 
Fachärzte müssen gemeinsam den Krankheitsverlauf beeinflussen, und nicht wie bisher 
vielfach gegeneinander arbeiten. Der Unterrichtsplan muß so eingerichtet sein, daß 
die Kinder gesundheitlich gefördert werden. Den Anstalten müssen Werkstätten an- 
gegliedert werden, in denen die Zöglinge eine Handfertigkeit erlernen entsprechend 
dem Sitz und der Ausdehnung der Krankheit. Die Behandlungsart der Kinder, die 
an den Folgen der spinalen Kinderlähmung leiden, ist ein Teil der Behandlungs- und 
Fürsorgemaßnahmen für Krüppel. Engelmann (Kiel). 

Orrico, Juan: Die Krämpfe des ersten Kindesalters.. Semana méd. Jg. 30, Nr. 14, 
S. 624—629. 1923. (Spanisch.) 

Verf. erörtert die in den ersten Lebensjahren auftretenden Krampfformen unter 
Anlehnung an die bekannten Einteilungen und weist, gestützt auf eigene Beobachtungen, 
in dankenswerter Weise auf die meist ungünstig verlaufenden, mit Acetonämie zu- 
sammenhängenden tonisch-klonischen Krämpfe des Frühkindesalters hin; desgleichen 
auf die im ersten Halbjahre vorkommenden Krämpfe ohne ersichtliche Ätiologie, in 
welcher er den Ausdruck einer noch latenten Spasmophilie erblickt. Pfister., 

Adie, W. J.: Pyknolepsy: A form of epilepsy occurring in children, with a good 
prognosis. (Über die bei Kindern vorkommende Form der Epilepsie mit guter Prognose.) 
(R. soc. of med., sect. of neurol., London, 8. XI. 1923.) Brain Bd. 47, Nr. 1, S. 96 
bis 101. 1924. 

Adie berichtet über diese, ohne irgendwelche Folge für die geistige Entwicklung 
verlaufende, keine Therapie erfordernde, durch Brom ungünstig beeinflußte Form 
der Epilepsie, die bis jetzt anscheinend nur von deutschen Autoren (M. Friedmann, 
Heilbronner und E. Stern) beschrieben ist. In der anschließenden lebhaften Dis- 
kussion war nur ein Redner der Ansicht — .D. Parkes Weber — daß kein Grund 
vorliege, diese prognostisch gutartige Form von der übrigen Epilepsie abzusondern. 
Das Richtige dürfte D. James Collies treffen, der die wohl allgemein angenommene 
Ansicht ausspricht, daß ‚Epilepsie‘ allgemeiner als das „Symptomeiner Störung“ 
(dyscrasia) anzusehen sei; unter dem Namen werden eine große Zahl Krankheits- 
typen zusammengefaßt. v. Düring (Frankfurt a. M.). 

Thomson, John: Peeuliar fatal eonvulsions in four children, whose father suffered 
from lead-poisoning. (Merkwürdige tödliche Konvulsionen bei 4 Kindern eines an Blei- 
vergiftung leidenden Vaters.) Brit. journ. of childr. dis. Bd. 20, Nr. 238—240, 8. 193 
bis 196. 1923. 

4 Kinder eines an Bleivergiftung erkrankten und verstorbenen Vaters waren in 
den ersten Lebensmonaten unter merkwürdigen allgemeinen Krämpfen, die die Atmung 
in hervorragendem Maße betrafen, bei intaktem körperlichen und geistigen Befinden 
erkrankt und gestorben. Die Mutter war gesund. Ähnliches findet sich bei alkohol- 
vergifteten Affen. Es handelte sich um Plumbismus, der vom Vater auf die Kinder 
übergeht. Neurath (Wien)., 


— 48 — 


Zappert, J.: Zur Lehre vom Spasmus nutans. Med. Klinik Jg. 20, Nr. 11, S. 335 
bis 337. 1924. 

Zur Erklärung des durch Kopfwackeln, Nystagmus und Srhiefhaltung des Kopfes 
gekennzeichneten Syndroms hatte Raudnitz den Vergleich mit dem Bergarbeiter- 
nystagmus herangezogen und das Hauptgewicht auf die Erfahrungstatsache gelegt, 
daß der Sp. n. vornehmlich bei Kindern auftritt, welche den Winter in dunkeln Woh- 
nungen verbringen und hierdurch eine Verminderung des Lichtsinnes und eine Fixations- 
schwäche bekommen. Diese Theorie vermag aber jene Fälle nicht zu erklären, in denen 
das Kopfwackeln vor dem Nystagmus auftritt. Zappert sucht diese Lücke durch 
Anschluß an die neue von Ohm aufgestellte Theorie des Bergarbeiternystagmus aus- 
zufüllen. Ohm unterscheidet äußere Ursachen (Vestibularreize, die von der gebückten 
Haltung der Arbeiter und von den Geräuschen und Erschütterungen ausgehen, und 
ferner die ungenügende Beleuchtung) von inneren Ursachen (Übererregbarkeit des 
Vestibularis, welche mit der Zeit bei den Bergarbeitern entsteht, auch wenn kein 
Nystagmus auftritt, und Herabsetzung des Lichtsinnes). Die Analogie zu diesem 
Faktorendoppelpaar sieht Z. in der mangelhaften Beleuchtung der Wohnung und den 
ungewohnten Anforderungen, welche das Gehen- und Stehenlernen an den Vestibular- 
apparat des Kindes stelle (äußere Umstände), in dem noch unentwickelten Lichtsinn 
und der von Langsteins Schüler Scheer nachgewiesenen vestibularen Übererregbar- 
keit der Kinder im Alter von 4 Monaten his zu 2 Jahren (innere Umstände). Von diesem 
Autor wird die labyrinthäre Übererregbarkeit in diesem Alter, welches sich mit der 
Zeitspanne des Auftretens des Sp. n. deckt, auf das 11/,—21/,fache des er- 
wachsenen Alters geschätzt. Mit der Tatsache, daß Kopfwackeln nicht zu den 
geläufigen Symptomen bei Störungen des inneren Ohres gehört, findet sich Z. durch 
den Hinweis auf die Beobachtung mehrerer Autoren ab, welche bei Säuglingen und 
bei Tieren nach künstlichen Labyrinthreizungen kurze Kopfbewegungen sahen. Er 
nimmt also an, daß im Säuglingsalter eine später sich verlierende Neigung besteht. 
auf labyrinthäre Reize mit Kopfbewegungen zu antworten. (Bestätigt sich diese 
Annahme, so hätten wir hier einen weiteren dem Säuglingsalter eigenen Reflex- 
mechanismus kennen gelernt, dessen Verstärkung oder überlanger Dauer eine be- 
sondere Bedeutung in der Entwicklung des Aufbaus der motorischen Apparate 
zukommen kann. Ref.) Homburger (Heidelberg)., 

Pototzky, Carl: Die diagnostische und therapeutisehe Differenzierung der Enuresis- 
fälle. Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 37, H. 1/3, S. 12—23. 1924. 

Die Enuresis ist ein Symptom des nervengestörten Kindes. Es sind 3 Gruppen 
zu unterscheiden, die der neuropathischen, der psychopathischen und der intelligenz- 
gestörten Kinder. Die neuropathischen Kinder reagieren auf alle äußeren Reize oder 
affektbetonte Erlebnisse abnorm stark. Eine lokale Übererregbarkeit der Blasen- 
sphäre begünstigt den Eintritt der Störungen, es können daher auch exogene Faktoren 
bei empfindlichem Organ zur Enuresis führen. Unter den psychopathischen Kindern 
sind zu unterscheiden: 1. die trotzig Hemmungslosen, die sich einnässen, um Eltern 
und Erzieher zu ärgern, 2. die gehemmt Ängstlichen, die sich beim geringsten unlust- 
betonten Ereignis naß machen, oft aus Angst vor dem Einnässen selbst. 3. die Zer- 
streuten, die so ablenkbar sind, daß sie aus Mangel an Konzentration das Wasserlassen 
vergessen. 4. die Gleichgültigen, die unter der Störung gar nicht leiden, so daß sie 
nicht von ihr befreit zu werden wünschen. Die Behandlung muß bei den neuropathischen 
Kindern darauf gerichtet sein, die Reizschwelle heraufzusetzen. Neben seelischer Be 
einflussung können leichte hydriatische Prozeduren, Schonung gewisser Blasenpartien 
durch Hochstellung des Fußendes des Bettes, Warmhaltung, Entfernung exogener 
Schädlichkeiten, Gymnastik, schwache galvanische Ströme in Frage kommen. Medı- 
kamente spielen lediglich eine Hilfsrolle, sind aber bisweilen doch recht nützlich. Der 
Kalk, unter Umständen mit Atropin oder Campher, leistet die besten Dienste. Auf- 
geregte Spiele sind besonders des abends zu vermeiden, die Kinder sollen gegen 5 bıs 


— 49 — 


6 Uhr nachmittags sich zu einer ruhigen Beschäftigung zurückziehen oder bereits 
zeitweilig um 6 Uhr zu Bett gelegt werden. Die Wasserzufuhr soll besonders von den 
Nachmittagsstunden an beschränkt werden. Nach den ersten Tagen oder Wochen der 
Behandlung sollen diätetische Hilfsmittel entbehrlich werden und das Kind die seinem 
Alter und seiner Konstitution entsprechende Kost erhalten. Bei den psychopathischen 
Kindern steht die Psychotherapie im Vordergrunde. Die gleichgültigen Kinder sind 
am schwersten zu behandeln. Bei ihnen gilt es zunächst, an das Schamgefühl zu appe- 
lieren. Wachsuggestion, Milieusuggestion, Hypnose sind heranzuziehen. Bei abnormer 
Schlaftiefe ist darauf zu achten, daß die Kinder beim Aufnehmen vollständig geweckt 
werden. Bei intelligenzgestörten. Kindern ist selbst in sehr schweren Fällen durch 
stetige Einwirkung oft eine Regelung der körperlichen Funktionen herauszubilden. 
Erwin Straus (Charlottenburg)., 


Benzing, R.: Erfahrungen über Enuresis und Enuresisbehandlung im Kindes- 
alter. (Univ.-Kinderklin., Würzburg.) Zeitschr. f. ärztl. Fortbild. Jg. 20, Nr.18, 
S. 541-548. 1923. 

344 in den letzten Kriegs- und Nachkriegsjahren beobachtete Fälle von kindlicher 
Enuresis ergaben Unabhängigkeit der Erkrankungsziffer von der Jahreszeit. Die 
Häufung der Enuresis in den Kriegsjahren, besonders 1914, ist auf die kohlenhydrat- 
und salzreiche Kost zurückzuführen. Das Übergewicht der Knaben an der Erkrankung 
tritt deutlich hervor (205 männliche, 139 weibliche Bettnässer). In 22 Fällen bestand 
Pollakisurie, 57 mal auch Enuresis diurna. Adenoide Vegetationen und Würmer sind 
häufige Nebenbefunde, deren kausale Bedeutung aber durch Vergleich ihrer Häufigkeit 
bei Untersuchung an unausgesuchten Schulkindern sehr herabgemindert wird. Eine 
degenerative psychopathische Konstitution im Sinne Ziehens konnte nicht festgestellt 
werden. Keine körperlichen Degenerationszeichen, keine hervorstechenden psychischen 
Symptome. Häufiger fand sich neuropathische Anlage, d. h. eine allgemein gesteigerte 
pathologische Sensibilität. Es ergab sich keine Zugehörigkeit zur Hysterie, auch nicht 
zur im Kindesalter häufigen monosymptomatischen Form, da hysterische Charakter- 
veränderung stets vermißt wurde. Über die Hälfte der Patienten zeigten große Schlaf- 
tiefe. Trotz des ätiologisch sicher nicht einheitlichen Charakters der Enuresis schlägt 
Verf. für die Praxis vor, sich an ein bestimmtes Behandlungsschema zu halten. Ein 
Beispiel cines solchen Heilplanes, der die meisten der üblichen Behandlungsverfahren 
miteinander kombiniert, wird mitgeteilt und erläutert. Erna Ball (Berlin)., 


Saizelf, Helene: Beitrag zur Enuresis infantum. (Kinderspit., Basel.) Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 90, H. 1/2, S. 1—26. 1924. 

Im Baseler Kinderspital wurden 1917—1923 54 Kinder wegen Bettnässen be- 
handelt, 30 Knaben und 24 Mädchen. Auf den Winter fielen 30 Fälle, auf die übrigen 
Jahreszeiten 23. 16 Fälle wurden geheilt, 27 gebessert, 11 ungeheilt entlassen. Über 
30 Kinder wurden später Nachforschungen angestellt. Dabei ergab sich, daß einige 
Fälle, die geheilt entlassen wurden, später wieder näßten, und daß andererseits solche, 
die nur gebessert entlassen worden waren, mit der Anleitung zu weiterer häuslicher 
Pflege, bald darauf geheilt wurden. Der weitere Verlauf war in erster Linie davon ab- 
hängig, in welche Verhältnisse und in was für eine Pflege die Kinder kamen. Die 
11 Kinder, die ungeheilt entlassen wurden, waren alle psychisch abnorm. — Der Haupt- 
grund für die Entstehung der Enuresis ist fehlende oder mangelhafte mütterliche Pflege. 
19 Kinder waren mutterlos, in 5 Fällen war die Mutter chronisch krank, in 4 Fällen 
tagsüber außer Hause. Auch die Zunahme der Enuresis während des Krieges ist darauf 
zurückzuführen, daß die Mütter sich weniger um ihre Kinder kümmern konnten. 
Neuropathische Veranlagung spielt insofern eine Rolle, als mangelhafte Erzichung 
sich hierbei noch ungünstiger bemerkbar macht. — Am meisten zu empfehlen ist die 
Wecktherapie. Das Kind wird nach Spitaleintritt die erste Nacht überhaupt nicht 
geweckt. Wenn es naß gemacht hat, dann wird es in der folgenden Nacht zwischen 9 


Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ref. 4 


— 50 — 


und 10 völlig geweckt und auf den Topf gesetzt, bis es uriniert hat. Wenn es trotz des 
Weckens genäßt hat, dann wird es in der nächsten Nacht um 12 Uhr ein 2. Mal geweckt. 
Das 2. Wecken verlegt man dann allmählich später, bis man herausgefunden hat, zu 
welcher Zeit das Einnässen stattfindet. Auf diese Weise wird das Kind evtl. wochen- 
lang geweckt. Von 4 Uhr nachmittags ab erhalten die Kinder keine Flüssigkeit mehr. 
Campbell (Dresden). 


Comby, J.: Traitement de Pineontinenee d’urine chez les enfants. (Behandlung 
des Einnässens bei Kindern.) Bull. et mem. de la soc. med. des höp. de Parıs 
Jg. 40, Nr. 9, S. 282—286. 1924. 

Verf. empfiehlt außer den bekannten allgemein-therapeutischen und diätetischen 
Vorschriften Atropin oder Phosphorsäure als wirksame Mittel (Ref. hat Atropin mehr- 
fach ohne Erfolg verwendet) gegen das Bettnässen. Villinger (Tübingen). 


Heilpädagogik und Anomalen - Fürsorge: 


Thomson, John: On the symptoms and home treatment of mentally defective 
infants and young ehildren. (Über die Symptome und die Behandlung der geistig ab- 
normen Säuglinge und Kleinkinder.) Edinburgh med. journ. Bd. 31, Nr. 5, S. 285 
bis 306. 1924. 


Über die Erkennung und Behandlung der geistigen Abweichungen im Säuglings- 
und Kleinkindesalter liegen bisher verhältnismäßig wenige Arbeiten vor. Deswegen 
sind die Ausführungen des Verf., die sich auf Beobachtungen an 1200 Kindern, darunter 
952 unter 5 Jahren, des Kgl. Kinderkrankenhauses in Edinburg stützen, besonders 
beachtenswert, zumal er das Ergehen vieler Kinder bis in die späteren Lebensjahre 
verfolgen konnte. Zunächst bietet die Klassifikation der zahlreichen Krankheiten, 
welche zu geistigen Defekten führen können, viele Schwierigkeiten, weil über das 
pathologische und klinische Bild vieler derselben noch zu wenig bekannt ist; dann 
versagt für die ersten Lebensalter die gebräuchliche Einteilung der abnormen Kinder 
in Idioten, Imbezille und Geistesschwache, die erst vom schulpflichtigen Alter ab gelten 
kann. Schwierig ist ferner die Diagnose. Der Arzt muß sich bei ihrer Feststellung 
im wesentlichen auf die Angaben der Mutter über die Familie, Schwangerschaft, Ge- 
burt, Entwicklung des Kindes stützen, während die objektive Untersuchung nur in 
seltenen Fällen zu einem brauchbaren Ergebnis führt. Ist doch vielfach weder das 
Aussehen noch das Verhalten geistig abnormer Kinder ein typisches. In anderen Fällen 
sind auf den ersten Blick auffällige Symptome festzustellen. Eigentümliche Gesten, 
Grimmassieren, Bewegungen des Kopfes und der Augen, apathisches Verhalten, fehlen- 
des Lächeln, dauerndes Schreien, wiederholte epileptiforme Anfälle ohne erkennbare 
Ursache u. a. sind als schwerwiegende Zeichen zu bewerten. Bedeutsam ist ferner das 
Zurückbleiben in der geistigen Entwicklung, das verzögerte Eintreten des Kopfhebens, 
Sitzens, Kriechens, Stehens, Laufens, Greifens, das Fortbestehen planloser Spontan- 
bewegungen, das Ausbleiben der Reaktion auf das Verhalten der Umgebung besonders 
der Mutter, das dauernde grundlose Schreien, das Beibehalten schlechter Gewohnheiten 
wie Daumenlutschen, Nicken und Schütteln des Kopfes, schaukelnde Bewegungen des 
Körpers mit gelegentlichem Einhergehen von Masturbation, Essen von Schmutz, 
Wiederkäuen usw. Wenn auch diese Anzeichen oft in mäßigem Grade bei normalen 
Kindern beobachtet werden, so bestehen sie doch nie lange Zeit fort, wie es bei abnormen 
Kindern der Fall ist, die zudem verzögertes Sprachverständnis und -vermögen, mangelnde 
Beherrschung der Blasen- und Darmfunktion zeigen. Die Behandlung der geistig 
abnormen Säuglinge und Kleinkinder ist schwierig, mühsam und erfordert viel Geduld 
besonders von seiten der Mutter, welcher die Hauptaufgabe zufällt, während der Arzt 
nur eine belehrende, beratende und aufmunternde Tätigkeit entfalten kann; sie bietet 
jedoch, richtig aufgefaßt und beharrlich durchgeführt, mehr Aussicht auf Erfolg 
als die bei geistigen Abweichungen des späteren Alters. B. Harms (Berlın). 


| M Ger 


— Į — 


Decroly: Le traitement et éducation des enfants irréguliers. (Erziehungsprin- 
zipien abnormer Kinder.) Gaz. des hôp. civ. et milit. Jg. 96, Nr. 85, S. 1366—1367. 
1923. 

Decroly entwickelt seine Erziehungsprinzipien nach folgenden Gesichtspunkten: 
sensorische, motorische, affektive, sprachliche und berufliche Erziehung. Seine Aus- 
führungen in den einzelnen Punkten gehen nicht über das Niveau der Selbstverständ- 
lichkeit hinaus. Gregor (Flehingen i. Baden). 

Michälek, Eduard: Geisteskrankenfürsorge. Věčstnik českých lékařů Jg. 35, Nr. 37, 
S. 517—519. 1923. (Tschechisch.) 

Es gibt eine klinische Psychiatrie, die sich mit dem kranken Individuum zu be- 
fassen hat und eine soziale Psychiatrie, welche ihre Aufmerksamkeit dem Verhältnisse 
des Kranken zu seiner Umgebung, insbesondere zur Familie, Schule, Staat zu widmen 
hat. Die Fürsorge hat zu bestehen in der Gründung von Vereinen, Beratungsstellen — 
alles nach deutschem Muster — und in der Familienpflege. Zwecks der Fürsorge soll 
es sein, die Anstalten zu entlasten, die Kranken bald zu entlassen und nur unruhige 
Kranke sollen in den Anstalten belassen werden O. Wiener (Prag)., 


Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien: 


Voorthuijsen, A. van: Der Wilde von Aveyron. Tijdschr. v. buitengewoon onder- 
wijs Jg. 4, Nr. 10, S. 161—168. 1923. 

Verf. macht auf den jungen Arzt Itard aufmerksam, der den ‚Wilden von Aveyron“ 
erziehen wollte und dafür im Prinzip dieselbe Methode, welche auch jetzt noch für 
den Unterricht der Schwachsinnigen gebraucht wird, anwandte; er muß deshalb als 
einer der Gründer desselben angesehen werden. S. T. Heidema (Amsterdam). 

Manthey, H.: Welche Forderungen stellt das Problem der Aufmerksamkeit an 
den Hilfssehullehrer? Hilfsschule Jg. 16, H. 8, S. 118—121, H. 9, S. 133—135 u. 
H. 10/12, S. 150—153. 1923. 

Nach Diskussion der bekanntesten Aufmerksamkeitstheorien kommt Verf. zu dem 
Ergebnis, daß die Kinder der Hilfsschule auf der Entwicklungsstufe unwillkürlicher 
Aufmerksamkeit stehengeblieben sind. Die schwere Weckbarkeit und der geringe 
Umfang ihrer latenten Reproduktionsmassen ergeben nur selten eine günstige Asso- 
ziationsbedingung. Ferner fehlt es ihnen an Gefühlsbetonung, also an einem für die 
Richtung der Aufmerksamkeit maßgebenden Faktor, dadurch gewinnen Vorstellungs- 
komplexe, welche sich auf das eigene Ich beziehen, ein abnormes Übergewicht. Auf 
diese Weise wäre das zuweilen antisoziale Verhalten solcher Kinder zu erklären. Verf. 
fordert von Hilfschullehrern objektive Registrierung der abnormen Erscheinungen 
während der ganzen Schulzeit, um den jeweiligen Krankheitssymptomen wirksam 
entgegenzutreten. Gregor (Flehingen)., 

Albertini, A.: L’assistenza mediea e pedagogiea ai faneiulli anormali psichiei, 
nella scuola „Z. Treves“ del eomune di Milano. (Die ärztliche und erziehliche Hilfe 
für die geistig anomalen Kinder in der Schule ,Z. Treves“ der Stadt Mailand.) 
Infanzia anorm. Jg. 16, Nr. 2, S. 34—43, Nr. 3, S. 49—57 u. Nr. 5, S. 103 
bis 116. 1923. 

In Mailand wurde 1915 eine selbständige Sonderschule für „geistig anomale, aber 
erziehbare und nicht gefährliche‘ Kinder eröffnet. Nach 8jähriger Entwicklung der 
Anstalt wird hier über ihre Ziele und Methoden berichtet. Wir erhalten genaue Nach- 
richt über die Art der ärztlichen Untersuchung, einen sehr ausführlichen Lehrplan 
der ersten Vorbereitungsklasse (prima sezione preparatoria), die durchschnittlich 
aus 12 Kindern besteht, und deren Stundenplan (von 9—5 Uhr, Donnerstags ist frei, 
das Schuljahr geht von Oktober bis Mai). Vor 3 Jahren wurde eine zweite Vorklasse 
eingerichtet, weil es sich zeigte, daß die Zöglinge in der Oberklasse wegen der kurzen 
Lehrstunden nicht mitkamen. In dieser Klasse wird das Pensum der ersten Klasse 
vertieft, außerdem lernen die Schüler gleichzeitiges Lesen und Schreiben nach der 


4* 


== 59. „u 


Methode und mit dem Material Montessori (im Oktober Vorbereitung, November und 
Dezember die Vokale, Anfang Januar r und 1, gegen Ende t und 2, Februar v und 3, 4, 
März n und 5, 6, April p und 7, 8, 9, Mai s). In der Oberklasse (grado superiore) 
versammeln sich alle Schüler in dem Hauptsaal (sala di convegno), wo eine Lehrerin 
die schwierige Aufgabe hat, sie in aller Freiheit je nach ihrer Individualität zu be- 
schäftigen, anzuregen, zu beruhigen und gruppenweise zusammenzustellen, mit einem 
Wort geeignet zu machen, daß sie frisch und ohne Ermüdung in die eigentlichen Lehr- 
stunden hineinkommen. Hier unterrichten nach dem Rotationssystem 3 Lehrerinnen 
jede Gruppe je nach ihrer Aufnahmefähigkeit !/,—?/, Stunde, dazwischen kommen die 
Schüler wieder in den Hauptsaal, um aufgefrischt und beruhigt zu werden. Vormittags 
haben sie Singen, Rechnen, Lesen und Schreiben, nachmittags Zeichnen, Gymnastik, 
Hand- und Gartenarbeit, Spiel usw. Die Schule entspricht also zum Teil unsern Schul- 
kindergärten oder Vorklassen, zum Teil unsern Hilfsschulen, ihr eigentümtlich ist die 
Organisation des Unterrichts in der Oberklasse. Nohl (Berlin). 


Fuchs, A.: Der gegenwärtige Stand des deutschen Hilfsschulwesens. Pädagog. 
Zentralbl. Jg. 4, H.3, S. 121—123. 1924. 

Der weitbekannte A. Fuchs, Berlin gibt hier einen Überblick über den Stand 
des Hilfsschulwesens in den letzten Jahren. Wichtig ist der Hinweis auf: ‚„Dienstblatt 
der Stadt Berlin v. 9. II. 1924. VIII. ‚Bestimmungen über die Sonderschuleinrich- 
tungen.“ Weiter bringt dieser Bericht: Heilpädagogischer Kongreß, die wichtigsten 
Aufsätze und Schriften über Hilfsschule in den letzten 3—4 Jahren, Hinweis auf neue 
Lehrpläne, neue Personalbogen, neue Lernmittel usw. Der Verband der Hilfsschulen 
Deutschlands ist nicht vergessen. F. berichtet, daß der äußere Hilfsschulbestand über 
die Not der Zeit hinübergerettet ist, daß überall mit großer Treue gearbeitet wird, 
daß aber die Sorge für das allgemeine und persönliche Lebensinteresse viel Kraft auf- 
gesaugt hat, so daß die innere Entwicklung der Hilfsschulpädagogik an nachdrücklicher 
Kraft, Regsamkeit und Beharrlichkeit ein auffallend ruhiges Maß der Bewegung zeige. 

Egenberger (München). 

Blackader, A. D.: The problem of the nervous ehild. (Das Problem des nervösen 
Kindes.) Public health journ. Bd. 15, Nr. 3, S. 97—105. 1924. 

Das Problem des nervösen Kindes hat nicht nur für die Familie, sondern auch 
für den Staat eine außerordentliche Bedeutung erlangt. Hat doch die Zahl der nervösen 
Kinder durch die fortschreitende Zivilisation und ihre Begleiterscheinungen, gedrängte 
Wohnverhältnisse in den Städten, gesteigerter Verkehr, Vergnügungen, erhöhte An- 
forderungen der Schule usw. erheblich zugenommen. Zur Lösung des Problems müssen 
Eltern, Lehrer und Ärzte in enger Zusammenarbeit beitragen durch sorgfältige Über- 
wachung der Aufzucht von den ersten Lebensanfängen ab, geeignete Ernährung, 
Fernhalten aller Milieuschäden usw. Dann werden sich die Kinder zu Menschen ent- 
wickeln, die mit gesundem Körper und Geist den Schwierigkeiten des Lebens gewachsen 
sind. B. Harms (Berlin). 


Sinnendefekte, Sprachstörungen : 


Foucault: Les acuités sensorielles et les enfants arriérés ou retardés. (Sinnes- 
schärfe und zurückgebliebene oder in der Entwicklung verzögerte Kinder.) Journ. de 
psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 219—235. 1924. 

Verf. hat an Kindern von Kinderbewahranstalten, Volksschulen, Förderklassen 
Untersuchungen über die Seh- und Hörschärfe angestellt (Methode: Sehtafeln und 
Taschenuhr). Die normalen Kinder kommen mit 10 Jahren zur Vollentwicklung der 
Sinnesschärfe bzw. Sinnesleistung. Von 17 zurückgebliebenen (z. T. wohl schwach- 
sinnigen) Kindern hatten 6 schw: re Gehörsfehler, die Hälfte überhaupt Fehler der Sinnes- 
organe; Verf. schließt daraus, daß Sinnesfehler eine sehr wichtige Ursache für das 
Zurückbleiben der geistigen Entwicklung sind. Verf. fordert, daß alle Kinder von den 
Lehrern auf Seh- und Hörschärfe geprüft — die ausgesprochenen Fälle von Störungen 


is, Be 


sollen auch dem Schularzt vorgestellt werden — und nach der Entwicklung ihrer 
Sinnesorgane gesetzt werden sollen. Schob (Dresden)., 

MeAuliffe, George B.: Studies of the deaf ehild. (Studien über das taube Kind.) 
New York state journ. of med. Bd. 24, Nr. 5, S. 197—200. 1924. 

Auch in New-York ist das schwerhörige und taube Kind noch nicht immer der 
schulärztlichen Sorge anvertraut. Man muß die Lehrer aufklären, damit sie Hör- 
defekte feststellen können. In der Taubstummenschule gibt es 3 Jahrgänge mehr als 
in der Normalschule, denn das taube Kind von 6 Jahren entspricht an Kenntnissen 
und Verstandesausbildung dem 3jährigen normalen. Die Statistik an 314 tauben 
Kindern ergab etwa 50% angeborene Taubheit. Die Grippe erzeugt immer mehr Acusti- 
cusläsionen. Immer wieder werden taube Kinder mit Laesio auris internae adeno- 
tomiert; natürlich ohne Nutzen! Als ein verläßliches Zeichen der Taubheit eines Kindes 
erklärt der Autor eine monotone Stimme mit verlängerten Vokalen. Wer das Akuometer 
auf Armlänge hört, wird in der Normalschule belassen. Flüstersprache muß für die 
Normalschule auf mindestens 6 Fuß gehört werden. Ein interessanter Fall: Der Bruder 
einer Taubstummen wurde für taub gehalten, bis der Autor ihn als Normalhörenden er- 
kannte. Seifenblasenmachen wird zur Aktivierung tiefer Atmung behufs Vermeidung 
der Tuberkulose empfohlen. Wir in Österreich empfehlen Atemübungen und vor allem 
das Erlernen der Lautsprache. (Der Autor erwähnt nur „lip reading‘, Lippenlesen; 
ob damit auch die Lautsprache gemeint ist, kann ich nicht erkennen. Anm. d. Ref.) 
Wichtig ist die Augenuntersuchung wegen des Lippenlesens. ‚„Pintner“-Intelligenz- 
tests wurden verwendet, um die Lernmöglichkeiten der Einzelnen festzustellen. 52% 
wurden in dieser Beziehung als normal befunden. 60%, der tauben Kinder haben keine 
oder herabgesetzte Drehreaktion. In Anbetracht der großen Schwierigkeit, bei kleineren 
Kindern Taubheit festzustellen, kann die Vestibularprüfung zur Erleichterung der 
Diagnose herangezogen werden. (Es gibt aber bekanntlich, wenn auch selten, fehlende 
Dreh- und kalorische Reaktion bei gutem Gehör. Anm. d. Ref.) Fröschels (Wien). 

Saareste, E.: Richtlinien zur Fürsorge für das Hörorgan der Schulkinder. 
Eesti Arst Jg. 2, Nr. 11/12, S. 315—317. 1923. (Estnisch.) 

Das Hörorgan muß in der Schule ebenso systematisch untersucht werden, wie es 
jetzt für die Augen geschieht. Bei heilbaren Ohrenleiden muß Behandlung bei einem 
Facharzt veranlaßt werden, für unheilbare Schwerhörige müssen Sonderklassen oder 
Schwerhörigenschulen eingerichtet werden. Wichtig ist eine systematische Unter- 
suchung der Hörschärfe, leider sind die Methoden, auch die beste, die Flüstermethode, 
sehr subjektiv. Der Verf. ist eben mit derartigen Untersuchungen beschäftigt, die 
noch nicht abgeschlossen sind. G. Michelsson (Narva). 

Alden, Arthur M.: The results of the funetional tests of the vestibular and audi- 
tory apparatus in forty-four ehildren with eongenital or early aequired deafness. (Er- 
gebnisse der Gleichgewichts- und Hörfunktionsprüfung bei 44 Kindern mit kongeni- 
taler oder erworbener Taubheit.) Laryngoscope Bd. 33, Nr. 9, S. 665—670. 1923. 

Die Ätiologie der Taubheit verteilte sich bei den untersuchten Kindern wie folgt: 
kongenital 22, Meningitis 5, Scharlach 5, Diphtherie 1, zweifelhaft 6. Geprüft wurde 
in der üblichen Weise auf dem Drehstuhl und durch kalorischen Reiz, die Hörfunktion 
mit der Edelmannschen Tonreihe. Die Ergebnisse bringen sowohl für die kon- 
genitalen als auch für die erworbenen Taubheiten nichts Neues. Es wird durch sie 
wieder bewiesen, daß bei vollständig aufgehobener und sehr stark herabgesetzter 
Vestibularisfunktion meist auch kein Hörvermögen vorhanden ist. Bei normaler oder 
nur wenig gestörter Funktion des Vorhofsnerven finden sich in fast allen Fällen auch 
noch Hörreste, die allerdings nur bei sorgsamer Prüfung festzustellen sind. Weiss.°° 

Henning, Martha P: son: Über die Notwendigkeit spezialärztlicher Behandlung 
von Ohren-, Nasen- u. Halskrankheiten an unsern Taubstummensehulen. Svenska läkar- 
tidningen Jg. 21, Nr. 11, S. 241—248. 1924. (Schwedisch.) 

Von 602 Taubstummen litten 48 an Öhrenfluß oder Mittelohrkatarrh, 98 an 


en HA dm 


Nasen- oder Halsleiden, so daß 146, d. h. 24,2%, der Untersuchten hals-nasen-ohren- 
leidend und der Behandlung durch einen Spezialarzt bedürftig befunden wurden. 
Von den 48 Ohrleidenden konnte bei 22 eine sichere Besserung durch die Behandlung 
erwartet werden. Daher erscheint es dem Verf. ratsam, daß alle Taubstummen- 
anstalten und Schulen systematisch und regelmäßig von Ohren- und Nasenspezialisten 
untersucht und behandelt werden, wo es erforderlich erscheint. In den Orten, wo 
keine Spezialärzte wohnen, sollen solche aus anderen Orten zweimal jährlich hinzu- 
gezogen werden. Eine einmalige Untersuchung der Zöglinge durch Nerven- und Augen- 
ärzte ist ebenfalls jährlich einmal erforderlich. S. Kalischer (Berlin-Schlachtensee). 

© Gutzmann, Hermann: Sprachheilkunde. Vorlesungen über die Störungen 
der Sprache mit besonderer Berücksichtigung der Therapie. 3. Aufl. Bearb. u. hrsg. 
v. Harold Zumsteg. Berlin: H. Kornfeld 1924. XI, 730 S. G.-M. 18.—. 

Es muß als sehr bedauerlich bezeichnet werden, daß die neue, zum Teil vom ver- 
storbenen, hochverdienten Gutzman, zum Teil von H. Zumsteeg herausgegebene 
Neuauflage in wichtigen Abschnitten über den Stand der vor 12 Jahren erschienenen 
nicht fortgeschritten ist. Die Literatur z. B. über Stottern, die, wie ich vor kurzem 
in einem Referate gezeigt habe, in den letzten 10 Jahren aus fast 100 Veröffentlichungen 
besteht, wird einfach ignoriert. Wesentlich Neues enthält nur der Abschnitt über 
Defektpsychosen von Nadoleczny und vor allem der über symptomatische Sprach- 
störungen von H. Stern; dieser letzte muß als mustergiltig bezeichnet werden. Es 
wird dem Werte des Buches schaden, daß es fast nur den einen, Gutzmannschen 
Standpunkt vertritt; insbesondere was das Stottern betrifft, ist das, weil wesentlich 
abweichende Ansichten viel verbreitet sind, geradezu als irreführend zu bezeichnen! 

Fröschels (Wien). 

Stein, L.: Über die verbreitetsten Theorien des Stotterns. (Garnisonspit. Nr. 1, 
Wien.) Wien. med. Wochenschr. Jg. 74, Nr. 28, 8. 1467—1470. 1924. 

Sehr übersichtliche Zusammenstellung und Beleuchtung der verschiedenen Theo- 
rien des Stotterns, insbesondere der von Kussmaul-Gutzmann (Krampftheorie) 
und der von Hoepfner-Fröschels, daß bloß überwertige mit dem Willen zu- 
sammenhängende Bewegungen vorliegen: Hinweis darauf, daß die Wiener Schule 
die Diagnostik verfeinert, die zahlreichen Stadien des Leidens zeitlich festgelegt und 
gezeigt hat, daß die psychologische Deutung, welche sie vertritt, diese einzelnen Ent- 
wicklungsetappen wohl zu erklären vermag (Rothe, Stein u.a.). Fröschels. 

Seripture, E. W.: The nature of stuttering. (Das Wesen des Stotterns.) Practi- 
tioner Bd. 112, Nr. 5, 8. 318—326. 1924. 

Mit der bekannten Methode des Schreibens der Luftvibrationen, welche durch 
die Stimmbandschwingungen, und der Luftstöße, welche durch die Artikulations- 
bewegungen entstehen, erhält Scripture charakteristische Kurven vom Stottern. 
Sie sind je nach dem Fall sehr verschieden, während organische Leiden des Nerven- 
systems immer typische Kurven ergeben. Die Melodiekurven zeigen einen Mangel 
an Biegsamkeit, ähnlich wie die der Epileptiker. S. erklärt Stottern wie Epilepsie 
für Krankheiten des Charakters, und zwar Stottern im Sinne eines Widerstandes gegen 
die Umgebung und des Versuches, sich von ihr abzuschließen, indem eine lächerliche 
Sprache produziert war. Fröschels (Wien). 

Greene, James Sonnett: The problem of the stutterer. (Das Stotterproblen.) 
New York state journ. of med. Bd. 24, Nr. 8, S. 337—339. 1924. 

An der Hand der Leidensgeschichte eines Stotterers, der unzählige „Behand- 
lungen‘‘ durchgemacht hatte, die aber alle nicht dem Menschen, sondern den Lippen 
oder der Zunge galten, wird gezeigt, wie der Stotterer ein psychisch Kranker ist, der 
nur durch eine langdauernde Psychotherapie geheilt werden kann. Mit Recht weist 
der Autor auf den Fehler hin, der in der Verwechslung von Stammeln und Stottern 
liegt; er betont, daß es höchste Zeit war, daß die Ärzte sich der Sprachkranken wieder 
annahmen, und empfiehlt die Gründung eigener Spitalabteilungen. Fröschels. 


wu 95: 


Sachs, M.: Zur Ätiologie des Stotterns. Wien. klin. Wochenschr. Jg. 87, Nr. 5, 
S. 113—114. 1924. 

Sachs stellt die Hypothese auf, daß durch ein Hineinspielen der rechten Hemi- 
sphäre (bei Rechtshändern) in den Vorgang der Lautbildung eine Art Interferenz 
auftritt, welche es veranlaßt, daß das betreffende Wort unter Iterationen bzw. über- 
mäßig lange dauernden einzelnen Artikulationsbewegungen zustande kommt. 

Emil Fröschels (Wien)., 

Lellep, K.: Die Psychologie des Stotterns. Eesti Arst Jg. 2, Nr. 11/12, S. 317 
bis 318. 1923. (Estnisch.) 

Drei ätiologische Momente kommen in Betracht: 1. Erkrankung der Sprech- 
werkzeuge, 2. Erkrankungen der Nerven, 3. psychogene Momente. Lellep schreibt 
den letzteren die größte Bedeutung zu. Es ist bekannt, daß Kinder sich das Stottern 
in der Schule aneignen, ferner sind von Knapp funktionelle Psychosen mit vorüber- 
gehendem Stottern beschrieben, schließlich erwähnt Titus 2 Kranke, die von Geburt 
an stottern, aber bei Erregung unbehindert sprechen. L. hat einen Schüler der 8. Klasse 
beobachtet, der seit dem 11. Jahre stotterte, aber nur im Gespräch mit Menschen, 
die er kennt, bei der ersten Begegnung spricht er ganz unbehindert. Es fehlt offenbar 
ein genügendes Selbstvertrauen. Der Kranke meint mit wirklichen Schwierigkeiten 
kämpfen zu müssen, daher gebraucht er viel Kraft. Bei Angstvorstellungen schwindet 
bei ihm das Stottern, tritt aber dann mit um so größerer Intensität wieder auf. 

G. Michelsson (Narva). 


Wilheim, Ilka: Zur individualpsyehologischen Deutung des Stotterns. (Ambulat. 
f. Sprach- u. Stimmstörungen, Wien.) Wien. med. Wochenschr. Jg. 74, Nr. 28, S. 1475 
bis 1479. 1924. 

Diese sehr fesselnde Abhandlung muß im Original gelesen werden, da kurze, 
referierende Bemerkungen in Anbetracht dessen, daß Adlers Lehre vielen Ärzten 
noch unbekannt ist, nicht genügen. Fröschels (Wien). 


Stein, Leopold: Entwieklungsgeschiehtliehe Deutung der Entstehung des Silben- 
wiederholens. (Garnisonsspit. Nr. 1, Wien.) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. 
Bd. 70, H. 5, S. 573—578. 1924. 

Es kann heute als ziemlich sichergestellt gelten, daß als erstes Symptom des sog. 
Entwicklungsstotterns der ,„Klonus“‘, d. i. das Wiederholen von Lautfolgen, auftritt. 
Verf. sucht nun durch Vergleichung mit verschiedenen Sprachperioden bzw. Sprach- 
zuständen die Frage zu beantworten, warum der Stotternde die durch Gedanken 
nicht ausgefüllte Zeitspanne gerade durch Wiederholen von Silben ausfüllt, und warum 
dieses Vorkommnis sowohl beim Entwicklungsstottern als auch bei den Verlegenheits- 
sprachstörungen so selbstverständlich erscheint, daß an andere Möglichkeiten (z. B. 
Dehnung der Silbe usw.) nicht gedacht wurde. Es ergibt sich, daß dieses rhythmische 
Wiederholen eine im Reiche des Anorganischen häufige Erscheinung ist, daß es 
weiter auch bei den Lebewesen eine der primitivsten Bewegungsformen ist, die sich 
auch in den höchsten Entwicklungsstufen findet. Sie ist auch die primitivste Form 
der Wortbildung überhaupt. Je älter eine Sprache ist, desto mehr Reduplikationen 
weist sie auf. Dementsprechend nehmen sie auch in der Kindersprache einen breiten 
Raum ein. Ebenso ist dieses Phänomen bei Aphatikern und Hörstummen häufig. 
Es ist also das einmalige Aussprechen einer Silbe vielleicht ein dynamisch schwerer 
zu beherrschender und entwicklungsgeschichtlich späterer Vorgang als das Wieder- 
holen. Nicht immer ist das Einfache, d. i. in unserem Falle das einmalige Aussprechen, 
auch das Primitive. Das iterative Sprechen ist ebenso wie zahlreiche andere wieder- 
holende Handlungen der Ausdruck des primitiven, wenig gehemmten, mehr emotio- 
nellen als kognitiven Denkens. Diesen Denk- und Sprachzustand findet man sowohl 
in der Entwicklung des Individuums und der Rasse, als auch beim denkreifen Menschen 
unter gewissen das normale Denken störenden Bedingungen. Fröschels (Wien)., 


u: a 


Stoekert, F. G.: Zur Ätiologie der Mitbewegungen beim Stottern. (Garnisonspit., 
Wien.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 88, H. 4/5, S. 459—466. 1924. 

Stotterer wurden angewiesen, vor Aussprache eines Wortes, das ihnen Schwierigkeiten 
bereitete, mit jedem Arme einen leichten Sessel seitwärts zu stemmen. Während dieser ‚an- 
geordneten Mitbewegungen‘“ sprachen einige Patienten mit „tonischem‘“ Stottern besser, die 
„Klonische‘‘ Form des Stotterns hingegen steigerte sich. Ein sonst normal sprechender 12jähr- 
riger Knabe stotterte „klonisch‘“‘, nachdem er längere Zeit einen Sessel vor sich hingehalten 
hatte. Der Autor vermutet die gemeinsame Wurzel der Steigerung des ‚‚klonischen‘“ und der 
Herabsetzung des „‚tonischen“ Stotterns in der Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Sprechakt. 
„Zusammenfassend können wir feststellen, daß die Mitbewegungen des tonischen Stotterns, 
wie schon Fröschels hervorgehoben, als mehr oder minder bewußte zweckmäßige Hand- 
lungen zu betrachten sind und der Einfluß auf die Sprache in erster Linie in der Ablenkung 
der Aufmerksamkeit vam Sprechakt besteht. Die Form dieser Ablenkung ist gleichgültig, 
solange sie eben noch Ablenkung ist.“ Fröschels (Wien). 


Hoepfner, Th.: Ein Fall von gestörter Koordination der Atmung. Wien. med. 
Wochenschr. Jg. 74, Nr. 28, S. 1462—1466. 1924. 

Encephalitisfall mit krampfartigen Kopfverdrehungen und Grimassen. Brady- 
teleokinese bei der Absicht, laut zu sprechen, plötzlicher Übergang zum Flüstern. 
Starke Störung der Willküratmung. Nach 6 Wochen Ruheatmung unterbrochen 
durch Seufzen, Willküratmung frei, Sprache normal. Annahme von Einwirkung 
striär-pallidärer Automatismen in die Willkürleitung. Die starke intracorticale 
Atemstörung hat keinerlei Stottern erzeugt, was gegen die Spasmentheorie 
des Stotterns verwertet wird. Fröschels (Wien). 


Gifford, Mabel Farrington: Speech defeets. Classification and treatment at the 
university of California hospital. (Sprachstörungen. Einteilung und Behandlung im 
kalifornischen Universitätsspital.) Journ. of the Americ. med. assoc. Bd. 82, Nr. 21. 


S. 1673—1675. 1924. 

Die Sprachklinik der kalifornischen Universität wurde 1915 gegründet. Die Sprachstö- 
rungen werden eingeteilt in nervöse (Stottern, nervöses Hängenbleiben), verlangsamte Sprach- 
entwicklung, Ersatz von fehlenden Lauten ohne und mit Veränderung des Mundes, nicht- 
organische und postoperative Stimmstörungen, fehlerhafter Aussprache bei teilweiser Taubheit, 
Aphonie, Ersatz von Lauten durch solche fremder Sprache und falsche Aussprache bei fehler- 
hafter Muskelkoordination. Wer ein modernes Buch über Logopädie auch nur flüchtig ge- 
lesen hat, wird über diese Einteilung erstaunt sein. Stottern wird, so liest man weiter, in deutschen 
Büchern als rein mechanisch bedingte Sprachstörung hingestellt. Das ist eine völlig frei er- 
fundene Behauptung der Verf. Denn es gibt kein deutsches Buch — von denen, die von Kur- 
pfuschern stammen, abgesehen — welches das Stottern nicht wenigstens teilweise psychisch be- 
dingt sein läßt. Angeblich wird auf den Wiener, Berliner und Pariser Kliniken mit rein mecha- 
nischen Methoden behandelt — was meine Abt., wahrscheinlich auch die anderen anbelangt, 
so ist auch das frei erfunden Die normale Spr achentwicklung endet nach der Verf. manchmal 
mit 2, manchmal mit 9 Jahren, während die deutschen Autoren eine Sprachentwicklung, 
die länger als bis zum 3. Jahre dauert, als verzögerte Sprachentwicklung erklären. Jeder Un- 
befangene sieht, daß hier nomenklatorische Differenzen vorliegen, die zu einem Gegensatz aus- 
gebaut werden. Die Erfahrung, daß die Operation eines Uranoschismas die Sprache nicht so 
günstig beeinflußt als die Anbringung einer Obturation, beruht nach all unseren Erfahrungen 
auf falschen Schlüssen. Daß komplette Aphasien keine Aussicht auf Besserung bieten, wie 
die Autorin behauptet, ist falsch. Außer Fehlern bietet der Aufsatz kein neues Wort. 
Man sollte es sich ersparen. dadurch Originalität vorzutäuschen, daB man andere Forscher 
falsch zitiert. Fröschels (Wien). 


Seripture, E. W.: The speech elinie. (Die Sprachklinik.) Lancet Bd. 206, Nr. 13, 
S. 647. 1924. 

Der Autor erwähnt Gutzmanns Verdienste um die Sprachheilkunde. In England 
herrsche auf diesem Gebiete völlige Unkenntnis. Das betrifft auch die organisch-neuro- 
logischen Fälle mit Dysarthrie. Scripture hat z. B. darauf hingewiesen, daß die 
Sprache bei multipler Sklerose keine Ataxie, sondern eine „Änataxie“ sei. Man hat 
in England keine Ahnung, was der Paralytiker tut, wenn er silbenstolpert. Die Stimme 
des Epileptikers ist nach S. Ansicht eine ganz charakteristische; der Neurologe weiß 
es noch immer nicht. Der Laryngologe bescheidet sich damit, was er sehen kann. 
Aber die inneren Ursachen der Funktionsstörungen der Stimme sind ihm gleichgültig. 


Zu 


BIER e 


Ärzte überhaupt sind nicht imstande — von den wenigen Sprachärzten abgesehen — 
irgendeine Sprachstörung genau zu diagnostizieren. Es müssen Sprachkliniken ge- 
gründet werden. Dort wird man frühzeitig Paralyse erkennen, multiple Sklerose von 
Hysterie unterscheiden. Dort wird auch rationell behandelt werden. 600 Fälle von 
Laryngektomie wurden in dem Wiener phonetischen Laboratorium behandelt und 
zum großen Teile mit lauter Sprache entlassen. Da und in Berlin wird auch das 
Stottern fachmännisch bekämpft. Die Apparatur (Kymograph, Sprachschreiber usw.) 
wird jetzt von geschulten Kriegsinvaliden in Wien besser und billiger als anderswo 
erzeugt. Fröschels (Wien). 

Rothe, Karl C., und E. Fröschels: Die Fürsorge für sprachkranke Kinder in den 
städtischen Volks- und Bürgerschulen Wiens. Wien. med. Wochenschr. Jg. 74, Nr. 28, 
S. 1466—1467. 1924. 

Historischer Überblick als Einleitung. Die neue Fürsorge unterscheidet sich von 
der früheren: }. durch die Zusammenarbeit von Spracharzt und Lehrer; alle in den 
Sonderklassen und Kursen für sprach- und stimmgestörte Kinder der Stadt Wien 
vereinigten Schüler sind im Einvernehmen mit dem Arzte aufgenommen worden, 
werden von ihm mehrmals im Jahre untersucht und im Einvernehmen mit ihm ent- 
lassen; 2. durch die Freiheit der therapeutischen Methoden; 3. eben durch das Bestehen 
von Sonderklassen und 4. durch das Fehlen einer zeitlichen Beschränkung der Therapie 
in den Kursen. Fröschels (Wien). 


Frösehels, E., und F. Trojan: Experimentalphonetische Beobaehtungen während 
des spreehtechnisehen Unterriehtes. (Physiol. Univ.-Inst., Wien.) Wien. med. Wochen- 
schr. Jg. 74, Nr. 28, S. 1458—1461. 1924. | 

Versuche, Sprechschüler nach den Ergebnissen der Analyse ihres Vorstellungs- 
typws auszubilden, ergaben die Richtigkeit und Wichtigkeit dieses Vorgehens. Zu 
vollem Erfolge kann man aber in einzelnen Fällen erst durch pädagogische Beein- 
flussung auch der psychischen Komponenten gelangen, die sich bei der Analyse als 
funktionell nicht höchstwertig herausgestellt hatte.  Fröschels (Wien). 


Dantzig, Braneo van: Mitteilungen über den Sprechunterrieht. Tijdschr. v. 
buitengewoon onderwijs Jg. 4, Nr. 7, S. 120—121. 1923. (Holländisch.) 

Ausgehend von der großen Schwierigkeit, Schülern einfache, zuverlässige, plastische 
Vorstellungen vom Kehlkopf und der Stellung der Stimmbänder zu vermitteln, und 
ausgehend von der Tatsache, daß die vorhandenen Kehlkopfmodelle unzulänglich 
sind, hat der Verf. 4 Kehlkopfmodelle konstruiert, deren jedes einzelne eine verschiedene 
Stellung der Stimmbänder demonstriert: den gewöhnlichen Atemstand, tiefen Atem- 
stand, Stimmstand und phonetischen Flüsterstand. Hergestellt wird das Modell in 
der Anatomischen Lehrmittelanstanlt von Marcus Sommer in Sonneberg (Sachsen- 
Meinigen). Walther Riese (Frankfurt a.M.). 

Fröschels, Emil: Fortschritt der Stotterforschung. Wien. klin. Wochenschr. 
Jg. 37, Nr. 4, S. 82—84. 1924. 

Da Stotterer einzelne Laute fürchten und für schwerer halten als andere, hat der 
Autor nach einer Behandlungsmethode gesonnen, welche den Kranken nicht, wie die 
sog. Übungstherapien, jeden Laut durch genaue physiologische Beschreibung als 
Einzelindividuum vor Augen führt, vielmehr die gemeinsamen Eigenschaften aller 
in den Vordergrund rückt. Wenn man z. B. A sagt und die Unterlippe der Oberlippe 
langsam nähert, so entstehen statt des A der Reihe nach A E I ÖUOUWBM. 
Ähnliche geringfügige Veränderungen der Form des Ansatzrohres sind auch die ein- 
zigen Unterschiede zwischen den anderen Lauten. Also sind alle gleich leicht, insbe- 
sondere bestehen zwischen Vokalen und Konsonanten keine prinzipiellen phonetischen 
Unterschiede, so daß die Konsonantenfurcht der meisten Stotterer unbegründet ist. 
Über die feineren psychologischen Maßnahmen zur Behebung des Leidens muß auf 
die Originalarbeit verwiesen werden. Fröschels (Wien). 


= BR: 


Eliasberg, W.: Die Praxis der Aphasiebehandlung. Klin. Wochenschr. Jg. 3, Nr. 6, 
S. 234—239. 1924. 

Der Verf. weist auf die fürchterliche Lage hin, in der sich ein Aphasischer befindet, 
zumal die Intelligenz nicht gestört sein muß. Die Untersuchung muß betreffen: 
die allgemeine klinische Diagnose, periphere organische Defekte an den Artikulations- 
und Receptionsorganen der Sprache, zentrale Komplikationen und die besondere Form 
der Sprachstörung. Ferner die (psychische) Gesamtpersönlichkeit vor und nach der 
Erkrankung, die Reaktion auf den Schaden, Intelligenzzustand, Lernfähigkeit, Vor- 
stellungstypus, Gedächtnis und Lernfähigkeit der einzelnen Sinnesgebiete, die „Ge- 
staltungsfunktion“. „In besonderen Fällen kommen auch besondere Gewohnheiten 
auf dem Gebiete irgendeiner der Teilfunktionen der Sprache in Frage“ (z. B. bei Viel- 
sprachigen die am häufigsten gebrauchte Sprache). Als wichtigste Punkte der eigent- 
lichen Aphasieuntersuchung kommen in Betracht: Spontansprache, Nachsprechen, 
Reihensprechen, Wortfindung, Sprachverständnis, Schreiben (Diktat, spontan, Ab- 
schreiben), Lesen (laut, leise, Text, tachistoskopisch), Rechnen, ferner die Untersuchung 
der Resterscheinungen; diese betreffen 1. Zerlegung und Zusammenfassung sprach- 
licher Gebilde, 2. den amnestischen Rest, 3. das Reihensprechen, 4. Unterscheidung 
des Erlernens akustischen Materiales von dem des rein optischen sprachlichen Materials, 
5. sensorische Resterscheinungen und solche im Gebiete der Zahlen und des Rechnens. 
Die Behandlung soll möglichst früh beginnen, die Dauer der Einzelübung muß sich 
der starken Ermüdbarkeit des Pat. anpassen. Die Prognose hängt von der klinischen 
Form der Aphasie und dem Lebensalter ab. Vorwiegend motorische Symptomen- 
komplexe bei jugendlichem Alter geben die beste Prognose. Auch der Autor bestätigt, 
daß Monod-Froments Methode (Hörübungen) nicht so viel hilft wie die optisch- 
taktile. Einige interessante Beispiele von Aphasiebehandlung vervollständigen die 
Arbeit, welche ihren informativen Zweck sehr gut erfüllt. Fröschels (Wien)., 

Hoepfner, Th.: Die Behandlung der assoziativen Spraehstörung im vorschulpflich- 
tigen Alter. Hilfsschule Jg. 17, H.2, S. 20—24 u. H.3, S.40—42. 1924. 

Hoepfner entwirft zuerst ein Bild der inneren Bedingungen des ersten Auftretens 
von „ataktischem Sprechen“ (Silbenwiederholen), die sich als Fehlen von Worten oder 
nicht präzise Einstellung von Gedanken erweisen. Nimmt das Kind das Ergebnis 
dieser mehr sensorischen Ausfälle fälschlich als motorisch abnorme Sprache zur Kennt- 
nis, so besteht eine ‚„‚Störungsvorstellung‘“, die durch die noch relativ unfertige Sprache 
des genannten Alters leicht vermehrt und verlebendigt werden kann. H .empfiehlt in 
erster Linie Hörübungen mit deutlicher Sprache regelmäßig zu bestimmten Stun- 
den eine bestimmte Zeitlang unter Ausschaltung aller Ablenkungen. Man soll langsam 
sprechen, bis auch das Kind langsamer zu reden beginnt. Fernhalten von Verspottenden. 
Der Ataktiker erwirbt so auch einen reicheren Wortschatz, bessere Satzbildung, bessere 
Assoziation von Worten und Dingen. Ohne Therapie geht er häufig bald in das Stadium 
des „Pressens“ über, in welchem er die Wiederholungen von Silben durch Anstrengung 
vermeiden will (Dynamisierung). Empfehlenswert sind Spiele mit Raumsinnbeschäf- 
tigung, Zusammensetzspiele zur Übung der Aufmerksamkeit, Umwelterklärung, Sing- 
und Reigenspiele unter beaufsichtigten (!) normalen Kindern. Da die „assoziative‘ 
Sprachstörung (in diesem Stadium Assoziation mit der Vorstellung, „ich muß mich 
sprachlich anstrengen‘‘, bald darauf mit der, „es geht nicht“) zu allerlei Abwehrsystemen 
zum Zweck der Spracherleichterung führt, muß man trachten, das Kind von dem Glau- 
ben an die Schwere seiner Sprachstörung dadurch abzubringen, daß man sie selbst 
— scheinbar — nicht tragisch nimmt und überhaupt nichts dazu tut, um den kleinen 
Menschen die Überzeugung beizubringen, es stehe wegen der Sprachstörung im Mittel- 
punkte der Familie. Zweck der Beeinflussung muß sein, „‚dieschockierenden Erinnerungs- 
bilder mißlungener Wort- und Silbenanfänge zugunsten einer Belebung der normalen 
Wortklangbilder“ auszulöschen. Allerlei Neigung zu Geheimnissen ist gefährlich, da 
solche Kinder leicht den psychischen Ballast, der sich aus dem Mißlingen ergibt, wie 


er HE. u 


etwas Angenehmes als Geheimnis in sich verschließen und nicht gern wieder vermissen. 
Vorsicht im Tun und Reden vor solchen Kleinen, die gern alles als Sensation haschen 
ohne es schließlich verdauen zu können, wodurch sich evtl. neuer Ballast assoziativ 
dem Denk-Sprechen angliedert. Fröschels (Wien). 


Frösehels, Emil: Über operative Behandlung des Lispelns. Dtsch. med. Wochenschr. 
Jg. 50, Nr. 12, S. 375. 1924. 


Gegen Franke, der die Amputation der Zungenspitze bei Lispeln empfiehlt, führt 
Fröschels ins Treffen, daß ihm unter vielen Hunderten von Lisplern keiner untergekommen 
sei, der nicht nach der von ihm abgegebenen Plattenmethode ohne jeden operativen Eingriff 
in wenigen Wochen geheilt worden wäre. Frankes Indikationsstellung käme erst in Betracht, 
wenn einmal diese Behandlungsart versagen würde und ist sonst abzulehnen. Fröschels., 


Kruppa 

Jones, Robert: The problem of the eripple. (Das Problem des Krüppels.) Practi- 
tioner Bd. 112, Nr. 1, S. 1—12. 1924. 

Der Artikel befaßt sich speziell mit der „Krüppelfrage“ in England, die besonders 
nach dem Kriege brennend geworden ist. Die Erfahrungen, die man bei der Heilung 
verkrüppelter Kinder erworben hatte, dienten als Grundlage bei der Behandlung ver- 
stümmelter Soldaten. Die Hauptlast trägt in England die freiwillige Hilfe, der Staat 
und Städte Unterstützung gewähren. Von besonderer Bedeutung ist der „Hilfsverein 
verkrüppelter Kinder“, der im Jahre 1888 gegründet wurde. Im 1. Jahre seiner Tätig- 
keit bearbeitete er 554 Fälle, im Jahre 1920 ca. 3300. Besonders unterstützte er noch 
den „Wohlfahrtsverein für Mutter und Kind“. Weiter ist das „Central Comité für 
Krüppelfürsorge‘“ bemerkenswert. Die 1. Krüppelschule wurde im Jahre 1900 gegründet. 
Zur Zeit bestehen etwa 60 Schulen für externe Schüler und 35 Residenzschulen. Unsere 
Krüppel zerfallen in 4 Gruppen, die sich aus den Krankheitsursachen ergeben: 1. Gruppe: 
Tuberkulose, 2. Gruppe: Rachitis (engl. Krankheit), 3. Gruppe: Lähmung, 4. Gruppe: 
Vererbung. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die (nicht sterilisierte!) Milch 
in 70% als Träger des Tuberkelbacillus anzusehen ist. Gute Ernährung, frische Luft 
und Sonnenschein sind die besten Heilungsmittel für obige 4 Gruppen. Im Jahre 1902 
wurden zum 1. Male Kinder im Beschurch Hospital in Shropshire Tag und Nacht unter 
freiem Himmel zu jeder Jahreszeit behandelt. Dieses Verfahren ist bekannt unter dem 
Namen „Vollständige Freiluftbehandlung‘“. Das Kapitel schließt mit einem Organi- 
sationsvorschlag, dessen Durchführung das Krüppelproblem lösen könnte: Die „Orga- 
nisation des Krüppelsystems besteht“ aus: a) einem Hauptverein, der mit dem Gesund- 
heits- und Kultusministerium zusammenarbeiten soll; b) einem Lokalkomitee für Krüp- 
pelfürsorge in jedem Bezirk; c) den Hospitalschulen, sowie dem Shropshire Orthopoedic 
Hospital mit Liegehallen im Freien. Jede Schule sollte geleitet werden von ihrem eigenen 
Lokalkomitee, von Unterrichtskörperschaften und Handwerksarbeitsstätten; d) Kli- 
niken für ambulante Patienten und Anstalten für Nachbehandlung. Többen (Münster). 


Bauer, Felix: Krüppelfürsorge auf dem Lande. Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- 
u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 11, S. 202—203. 1923. 

Der leitende Arzt der Krüppelfürsorgestelle am orthopädischen Spital in Wien 
berichtet über Erfahrungen aus der Krüppelfürsorge auf dem Lande, die ebenso not- 
wendig sei wie in der Stadt, in mancher Beziehung aber viel schwieriger, weil die bäuer- 
liche Bevölkerung an sich schon einen fast unüberwindlichen Widerwillen gegen die 
Inanspruchnahme eines Arztes hat. Der Schwerpunkt der Krüppelfürsorge auf dem 
Lande müßte bei der Fürsorgerin liegen, die nicht nur für Aufklärung zu sorgen hätte, 
sondern auch die Zuführung zum Facharzt und bei der Entlassung des Patienten 
aus der fachärztlichen Behandlung auch die weitere Betreuung übernehmen müßte. 
Deshalb erscheint es notwendig — und ist in einer Reihe von Fällen schon geschehen — 
daß die in Betracht kommenden Fürsorgerinnen einen Teil ihrer Ausbildung in einer 
orthopädischen Beratungs- und Behandlungsstelle verbringen. Richard Liebenberg. 


ax 60 = 


Biesalski, K.: Die Verminderung des Krüppeltums dureh Vorbeugung. Zeitschr. 
f. Krüppelfürs. Bd. 16, H. 3/8, S. 19—26. 1923. 

Verf. erörtert zunächst die Wichtigkeit und Vorteile der Prophylaxe des Krüppel- 
tums sowohl für den Staat als für die Patienten. Der Klumpfuß, die angeborene 
Gliederstarre sollen am Ende des 1. Lebensjahres, der Schiefhals im 2. Lebensjahr 
beseitigt sein; englische Krankheit, Tuberkulose, Rückgratsverkrümmung, Kinder- 
lähmung müssen sofort beim ersten Auftreten behandelt werden. Kein Kind mit dieser 
Krankheit soll unbehandelt zur Schule kommen. Betonung der Notwendigkeit be- 
sonderer orthopädischer Ausbildung der Ärzte, der Wichtigkeit von Aufklärungs- und 
Fortbildungsvorträgen für Hebammen, Schwestern, Pflegerinnen und Eltern. Schwab. 


Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung: 
Allgemeines: 

@ Weber, Heinrich: Jugendfürsorge im Deutschen Reieh. Einführung in Wesen 
und Aufgaben der Jugendfürsorge und das neue Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. (Schriften 
zur deutschen Politik. Hrsg. v. Georg Sehreiber. H. 6 u. 7.) Freiburg i. Br.: Herder & Co. 
1923. XII, 131 S. G.Z. 2,50. 

Nach einer kurzen Übersicht über Wesen und Bedeutung der Jugendfürsorge (10 
Seiten) folgt eine eingehende Kommentierung des RJWG. (110 Seiten) mit vielfachen 
Vergleichen zwischen dem früheren und dem jetzigen Zustand der Jugendwohlfahrts- 
pflege und mit besonderer Berücksichtigung der juristischen Fragen. K. Mende. 

Wehn, Otto: Der Erziehungsgedanke beim Aufbau großstädtiseher Jugendämter. 
Zentralbl. f. Jugendrecht u. Jugendwohlfahrt Jg. 16, Nr. 2, S. 30—32, 1924. 

Mitten aus der Jugendamtspraxis heraus ertönt dieser Mahn- und Sehnsuchtsruf 
eines Klumkerschülers nach dem pädagogischen Ethos als der Licht-, Wärme- und 
Kraftquelle aller Jugendamtsarbeit. Sie soll den Aktenstaub verscheuchen oder wenig- 
stens vergolden; ihre Bedeutung soll aber auch im Aufbau des Amts zum Ausdruck 
kommen: ein verständnisvoller, sachkundiger, in sich gefestigter Jugendfreund und 
energischer Verteidiger der Amtsrechte an der Spitze, ihm zur Seite neben dem fach- 
ärztlichen der fachpädagogische Referent; beruflich gut vorgebildete, nicht über- 
arbeitete, ausreichend besoldete und vom gleichen Ethos getragene Außenbeamte 
als Fürsorger bzw. Leiter der Bezirksstellen des Amts; durch Bilder und Blumen 
freundlich gestimmte Verhandlungsräume zur persönlichen Aussprache mit den Jugend- 
lichen, Sichtungsstellen und Heilerziehungsheime als Rüstzeug und Waffen im eigenen 
Amtsverbande — das etwa sind die Forderungen, für deren Verwirklichung sich ıhr 
Vorkämpfer ritterlich und mit offenem Visier einsetzt. Einzelnes mag in seiner Zweck- 
mäßigkeit bestritten werden, z. B. die hier geforderte vollständige Dezentralisation 
einschließlich der Berufsvormundschaft, im ganzen und in der Hauptsache hat der 
Verf. vollständig recht: kein Amt verträgt Formalismus, Bureaukratismus, Fiskalismus 
so wenig, in keinem Amte wirken diese drei Würgeengel der sozialen Arbeit so sinn- 
widrig und verheerend, wie gerade im Jugendamt. Ob es damit freilich in der Praxis 
gar so schlimm aussieht, ob nicht aus der Mußehe von Psyche und Bureaukratismus 
wenigstens mit der Zeit eine wirkliche Liebesehe werden kann, wagt Ref. nicht zu 
entscheiden. Hoffentlich hat die kleine Arbeit bald nur noch historischen Wert. Heute 
klingt sie, wenigstens empfindlicheren Ohren, fast wie der Notschrei eines heißen 
Herzens, das in der Gletscherwüste der Bureaukratie friert. Möge es nicht erfrieren; 
möge sein Ruf recht bald zur allgemeinen Stimme werden und sich Beachtung und 
Verwirklichung erzwingen. Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 

Polligkeit, W.: Die gegenwärtige Notlage und drohende Katastrophe in Deutsch- 
land. Soz. Praxis u. Arch. f. Volkswohlfahrt Jg. 32, Nr. 49, S. 1022—1024 u. Nr. 50, 
S. 1038—1039. 1923. 

Die Arbeit ist zur Zeit der stärksten Inflation, Ende des Jahres 1923, geschrieben. 
Inzwischen ist durch die Stabilisierung der Mark zweifellos eine gewisse Besserung 


wer T a 


eingetreten, wenngleich die Arbeitslosigkeit eher zu- als abgenommen hat. Die Arbeit 
des Verf. hat also mehr eine historische Bedeutung. Polligkeit unterscheidet fol- 
gende Arten des Notstandes: Ernährungsnot, Heizungsnot, Bekleidungsnot, Gesund- 
heitsnot. Mit Recht hebt er hervor, daß die Schädigung der Gesundheit sich keines- 
wegs gleich in Fällen von Hungertod zu dokumentieren brauche, daß sie vielmehr 
in der Regel als schleichendes Dahinsiechen sich zeige. Infolge der Geldnot haben 
natürlich die Leistungen der öffentlichen und privaten Fürsorge in Deutschland sehr 
gelitten. Trotzdem muß für die dringendste Not Abhilfe geschaffen werden. In erster 
Linie ist für ausreichende Ernährung hungernder und unterernährter Volkskreise 
Sorge zu tragen, wobei es empfehlenswert ist, den Familien Lebensmittel zum Selbst- 
verbrauch unentgeltlich oder zu ermäßigten Preisen zu liefern; Einrichtungen für 
Massenspeisung werden, wenngleich sie nicht entbehrt werden können, ungern auf- 
gesucht. Für Kinder empfiehlt sich Trocken- oder kondensierte Milch und Lebertran. 
Einen Maßstab für den Grad der Not einzelner Orte bietet die Arbeitslosenziffer. 
G. Tugendreich (Berlin). 

Gregor, Aldalbert: Erziehungsanstalt und Fürsorgebehörde. Zentralbl. f. Vormund- 
schaftswesen, Jugendger. u. Fürsorgeerz. Jg. 15, Nr. 10, S. 179—181. 1924. 

Erziehungsanstalt und Behörde treten dem Zögling in ganz anderer Weise entgegen, 
sind psychologisch verschieden eingestellt Die Auffassung des Jugendlichen durch die 
Behörden leitet sich von bestimmten Vorgängen, der besonderen Verhaltungsweise, 
den Straftaten usw. oder vielmehr deren aktenmäßiger Darstellung ab. Für die Anstalt 
gilt die reine, unmittelbar erfaßte Persönlichkeit mit ihrer Entwicklungs- und Wand- 
lungsfähigkeit, ihrer Reue und ihren Besseryngsabsichten. Derartige Gegensätze müssen 
im Interesse der Jugendwohlfahrt überwunden werden. Die Anstalt muß ein einwand- 
freies Erziehungssystem üben, ihre Leistungen durch objektive Registrierung in Er- 
ziehungsbogen durchsichtig gestalten, die Behörde über jeden Zögling auf dem laufenden 
halten. Meinungsdifferenzen sind alsbald prinzipiell zu klären und ein vertrauensvolles 
Zusammenarbeiten anzustreben. Die Behörde muß über Beamte verfügen, welche 
in der besonderen Disziplin, welche die Fürsorge umfaßt, genügende Kenntnisse und 
Erfahrungen besitzen, namentlich ist Anstaltspraxis unerläßlich. Autoreferat. 

© Grundriß der Gesundheitsfürsorge. Zum Gebrauch für Sehwestern, Kreis- 
fürsorgerinnen, Sozialbeamtinnen und andere Organe der vorbeugenden offenen Für- 
sorge. Hrsg. v. Marie Baum. 2., umgearb. u. verm. Aufl. München: J. F. Bergmann 
1923. XXIV, 374 S. u. 1 Taf. G.-M. 10,50. 

Die erste Auflage dieses Sammelwerkes erschien 1919. Es entstand aus der Ein- 
sicht, daß nur die rationelle Fürsorge imstande sein könne, den Wiederaufbau des 
Volkskörpers nach den Opfern des Krieges und dem Geburtenverlust, den er mit sich 
brachte, allmählich auszugleichen. Der Stand der Volksgesundheit aber hängt weit- 
gehend vom Verständnis der Bevölkerung für hygienische Fragen und Aufgaben ab. 
In dieser Hinsicht, insonderheit, was die Kenntnis über den Einfluß sozialer Zusammen- 
hänge auf gesundheitliche Verhältnisse anlangt, ist die heutige Vorbildung von Arzt 
und Pflegerin, schon gar der weiteren gebildeten Kreise noch durchaus unzulänglich. 
Diese notwendigen Kenntnisse will der vorliegende Grundriß vermitteln. Er enthält 
auch wirklich alles Wissenswerte und ist höchst zweckmäßig auf die praktischen Be- 
dürfnisse eingestellt (z. B. werden alle zur Ausstattung eines Säuglings erforderlichen 
Gegenstände aufgezählt u. dgl. m.). Im allgemeinen Teil behandeln M. Baum und 
E. Moritz die Grundlagen der Volksgesundheit — Ernährung, Bekleidung, Arbeit und 
Erholung, Fortpflanzung und Vererbung. Es wäre wünschenswert gewesen, hier der 
Arbeitsgesetzgebung, ihren Leitlinien de lege lata et de ferenda einige Worte zu widmen. 
M. Kröhne und H. Kampffmeyer haben das Kapitel Wohnung und Wohnungs- 
fürsorge verfaßt, das zu den besten des Buches zählt. Im speziellen Teil enthält der 
erste Abschnitt nebst einleitenden Vorbemerkungen von M. Baum eine ausführ- 
liche Darstellung der Säuglingskunde und Säuglingsfürsorge von L. Turnau und 


== 02 = 


M. Baum, von denselben Verff. die der Gesundheitsfürsorge für Kleinkinder, dann 
die gesundheitliche Fürsorge für Schulkinder von A. v. Gierke und von H. W.Gruhle 
die Gesundheitsfürsorge im Pubertätsalter und für psychopathische Kinder, von 
E. Moritz die Gesundheitsfürsorge für die Frau. Der zweite Abschnitt bringt die 
Tuberkulosefürsorge (I. Höber), Fürsorge für Geschlechtskranke (A. Pappritz), 
Trinkerfürsorge (Schellmann), Fürorge für entlassene Geisteskranke (Gruhle), 
für Krüppel und Mindersinnige (L. Turnau), Fürsorge im Anschluß an Beruf und 
Erwerb und zusammenfassende, volksgesundheitliche Familienfürsorge (M. Baum). 
Im dritten Teile gibt M. Baum eine ausgezeichnete Darstellung der Organisation; 
Träger der Gesundheitsfürsorge sind die Sozialversicherung, die Kriegsbeschädigten- 
und Kriegshinterbliebenenfürsorge, Gemeinden und Gemeindenverbände, schließlich 
die freie Wohlfahrtspflege. Zum Schlusse werden die Organe der Gesundheitsfürsorge 
behandelt. Wenn auch der eine oder der andere Leser, wie bei solch umfassender 
Darstellung nicht anders möglich, hier und da Ergänzungen wünschen möchte, so ist 
die Gesamtanlage doch als durchaus gelungen zu bezeichnen und dem Grundniß die 
größte Verbreitung zu wünschen. Wenn Ref. für eine sicherlich zu erwartende dritte 
Auflage einen Wunsch äußern darf, so wäre es der nach einer Berücksichtigung seelischer 
Faktoren in den Maßnahmen zur Ertüchtigung des Volksganzen. Auch hinsichtlich 
zahlreicher, oft von schwerwiegenden Folgen begleiteter Erziehungsfehler, hinsichtlich 
der Neurosenprophylaxe könnte bei entsprechender Vorbereitung gerade das Organ 
der Fürsorge, der Familienfürsorge außerordentlich Ersprießliches leisten. 
Rudolf Allers (Wien). 

Doernberger, E.: Gesundheitliche Fürsorge für Sehüler und Jugendliche. Blätter 
f. Gesundheitsfürs. Jg. 1, H. 6, S. 161—178. 1924. 

Einer der beiden Herausgeber der Blätter für Gesundheitsfürsorge, die seit Ok- 
tober 1922 hatten eingehen müssen und nunmehr wieder, wenn auch zunächst nur 
zweimonatlich, erscheinen sollen, bietet seinem Leserkreis, in erster Linie wohl der 
bayrischen Ärztewelt, einen kurzen Überblick über die wichtigsten Einrichtungen 
und Forderungen auf dem Gebiete der ärztlichen Fürsorge für Kinder und Jugendliche. 
Er legt dabei vorwiegend seine Münchner schulärztlichen Verhältnisse zugrunde. Dort 
geht jetzt der Beobachtungsbogen der Kleinkinderfürsorge an die Schulen über. Be- 
sondere Einrichtungen für schulunreife Schulrekruten, wie sie übrigens auch an anderen 
als an den vom Verf. erwähnten Orten vorhanden sind, scheinen in München noch 
zu fehlen. Eifrigste Mitarbeit der Ärzte auf dem Gebiete der körperlichen Erziehung 
tut not; der Unfug der Turnbefreiungen muß aufhören. Für Schwächliche werden 
besondere ‚‚Schonungsgruppen“ zu bilden sein. Wanderungen, Schwimmen, auch im 
Winter, soweit Schwimmhallen zur Verfügung stehen, freie Spielnachmittage usw. 
sind dringend erforderlich; das Minutenturnen innerhalb der Unterrichtszeit mub | 
ergänzend hinzutreten. — Die Ausdehnung der schulärztlichen Fürsorge auf das 
Land, auf die Fortbildungsschulen, die höheren Schulen darf nicht abgebaut werden. 
Auf allen Gebieten des Jugendschutzes sollen vollbezahlte, aber auch gut fortgebildet- 
Ärzte (sozialhygienische Vorbereitung, Jugendforschungsstellen, Sportlaboratorer: 
haupt- und nebenamtlich ihren ganzen Einfluß geltend machen zur Hebung der Jugeni- 
not und zur Sicherung eines körperlich und seelisch kräftigen und widerstandsfähigeı 
Nachwuchses. Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 

© Kármán, E. v.: Die Diebstähle der Kinder, ihre Ursachen, Erkennung uni 
erzieherisehe Behandlung. (Bruchstück zu einer moralischen Heilkunde.) (Entschieden 
Schulreform. Hrsg. v. Paul Oestreich. H. 13.) Leipzig: Ernst Oldenburg 1923. 103 S 
G.-M. 1.20. 

Verf. sucht den Diebstahl des Kindes als ein Symptom einer krankhaften Ver 
änderung des Erwerbsinstinktes zu begreifen, als eine Entwicklungsstörung, ein Zurück- 
bleiben auf einer tieferen Stufe des sozialen Verhaltens in bezug auf das Eigentum. 
In der Stammesentwicklung des Eigentums unterscheidet er in Analogie zu geologischer. 


u N o 


Schichten 3 Stufen: die paläosoziale des Vermögensverhaltens (Kommunismus des 
Stammes), die mesosoziale des Besitzerhaltens (Lehnsherrschaft), die känosoziale des 
Privateigentums. Das Kind wiederholt die Stammesentwicklung, so daß die Dieb- 
stähle der Kinder rudimentäre Verhaltungsweisen sind. Aufgabe der Erziehung ist es, 
ım Kinde, ohne es auf eine höhere Stufe zu zwingen, für die es noch nicht reif ist, eine 
günstige Auslese der sozialen Verhaltungsweisen herbeizuführen. Die kindlichen 
Diebstähle sind also nicht auf eine direkte Veranlagung zum Verbrechen und Vererbung, 
oder auf somatische und psychische Krankheiten zurückzuführen, sondern sind eine 
Erkrankung der Erwerbsanlage, hervsrgerufen durch Fehler in der Erziehung. Bei 
der Behandlung kommt es zunächst auf die richtige Diagnose an, ob das Verhalten des 
Kindes seiner Entwicklungsstufe entspricht oder ihr entgegengesetzt ist, mit anderen 
Worten, ob es sich um ein einfsches Wegnehmen, das der paläosozialen Stufe angehört, 
handelt, oder um einen Verstoß gegen den schon entwickelten Eigentumsbegriff. Sodann 
ist nach den Ursachen der Fehlentwicklung zu forschen (Vernachlässigung, Verwöhnung, 
une) und ‘die Therapie danach einzurichten. Strafe ist als Besserungsmittel 
unbrauchbar. Erzieher muß sich an die Regenerationskraft der kindlichen Seele 
wenden. Als a schwebt Verf. vor, die Verbrecher nicht in Strafanstalten, 
sondern in mgfalischen und pädagogischen Kliniken, ähnlich den medizinischen Kliniken 
behandeln fu lassen und den primitiven Racheinstinkt, der der Bestrafung zugrunde 
liegt, gägZlich außer Kraft zu setzen. Else Voigtländer (Machern b. Leipzig). 
Oliya, S.: Fürsorgetätigkeit der Hauptstadt. Abteilung für die frühere Kindheit. 
über das Jahr 1923. (Buenos Aires). Semana med. Jg. 31, Nr. 14, 8. 613 
bis 623. 1924. (Spanisch. 
as Jahr 1923 brachte einen Zuwachs von 3942 Pfleglingen, so daB im ganzen 
20 685 Kinder in 23 Dienststellen gesorgt wurde. Die Fürsorge richtet ihr Augen- 
erk auf die Verabreichung geeigneter Milch (Milchküchen) und die Unterstützung 
nd Belehrung stillender Mütter. Besonders segensreich erwies sich die Aufnahme 
ron Mutter und Säugling in den Heimen der Fürsorge, eine Einrichtung, die in dieser 







ist in Buenos Aires besonders deutlich. 1914 kamen auf 1000 Geburten 94, 1923 auf 


fi keine andere Hauptstadt besitzt. Die Abnahme der Todesfälle im 1. Lebensjahre 


ld 


1000 Geburten 78 Todesfälle. Besonders sind die Todesfälle an Magen-Darmkatarrhen 
zurückgegangen (1921: 1156; 1923: 990). Eine ständige ärztliche Aufsicht ist in allen 
Pflege- und Beratungsstellen vorhanden. Vor allem wird eine genaue Untersuchung 
der Ammen durchgeführt. Die angefügten statistischen Tabellen geben ein anschau- 
liches Bild der mustergültigen Arbeit der Säuglingsfürsorge in Buenos Aires. 
Creutzfeldt (Berlin). 

Colin, A.: The international association for the promotion of child welfare. (Inter- 
nationale Vereinigung zur Förderung der Jugendwohlfahrt.) Child Bd. 14, Nr. 4, 
S. 106--109. 1924. 

Der Grund der Vereinigung wurde 1913 beim Internationalen KinderschutzkongreB 
in Brüssel gelegt, die Fortführung der Vorbereitungen durch den Krieg verzögert; bis 
1921, beim 2. Kongreß in Brüssel, die Vereinigung offiziell gegründet werden konnte 
unter dem Vorsitz des belgischen Ministers Carton de Wiart. Bisher sind 10 Staaten 
der Vereinigung beigetreten; auch die Staaten, deren Regierung nicht vertreten ist, 
können Nationalkomitees bilden, wenn die genügende Zahl von Mitgliedern vorhanden 
ist: 20—50 je nach der Bevölkerungszahl des Landes. Die Hauptziele der Ver- 
einigung sind: sie will als Verbindungsglied aller derer dienen, die in den verschiedenen 
Ländern sich für Jugendwohlfahrt interessieren; sie will das Studium der Fragen der 
Jugendwohlfahrt erleichtern, den Fortschritt der Gesetzgebung und den Abschluß inter- 
nationaler Vereinbarungen fördern; sie.will Gesetze, Verordnungen und andere Doku- 
mente, die Jugendwohlfahrt betreffend, sammeln und veröffentlichen. Die Vereinigung 
wird geleitet durch ein Komitee, das aus Vertretern der angeschlossenen Regierungen, 
der Nationalkomitees und zugewählten Mitgliedern besteht. Dies Komitee tritt jährlich 


= p 


einmal zusammen. Bei der letzten Tagung, in Genf 1923, waren 2 Sektionen, eine 
hygienische und eine juristische, gebildet worden. Die erste beschäftigte sich mit der 
Beaufsichtigung der auf dem Lande untergebrachten Pflegekinder, mit der Verbesserung 
der Krippen und der Schulhygiene, nahm dazu einige Resolutionen an, deren Verwirk- 
lichung für uns keinerlei Fortschritt bedeuten würde. Die juristische Sektion arbeitete 
den Entwurf einer Konvention über die Repartiierung von hilfsbedürf- 
tigen und verwahrlosten Jugendlichen aus, die in 12 Artikeln eine Reihe von 
wichtigen Vorschlägen bringt und nach ausf“hrlicher Beratung von der Vollversamm- 
Jung der Tagung angenommen wurde. Die Konvention legt den Vertragsstaaten die 
Verpflichtung auf, sich wegen Rückbeförderung an den Heimatstaat zu wenden. 
wenn ein ausländischer Minderjähriger auf ihrem Gebiet ohne Mittel und ohne Auf- 
sicht gefunden wird, oder ein Minderjähriger, der durch behördliche Entscheidung 
seines Landes seinen Eltern oder Gewalthabern weggenommen worden ist. Ebenso 
soll ein Jugendlicher, der seinen Eltern oder Gewalthabern weggenommen worden ist 
und dem es gelungen ist, zu entfliehen, auf Verlangen des Heimatstaates, von dem 
Staat, bei dem er aufgefunden wird, zurückbefördert werden. Jeder Vertragsstaat ist 
verpflichtet, an seinen Grenzen einige Orte zu bezeichnen, von wo Jugendliche weiter- 
geschickt werden können. Diese Orte werden durch das Bureau der Vereinigung den 
andern Staaten mitgeteilt werden. — Der Staat, auf dessen Gebiet ein Minderjähriger 
sich befindet, soll diesem allen Schutz und alle Unterssützung einschließlich ärztlicher 
Behandlung angedeihen lassen, die er bedarf, um die Grenze zu erreichen. Dı Kosten 
dafür können nicht aus öffentlichen Kassen zurückverlangt werden, wohl akr von 
verpflichteten Angehörigen. Die Konvention soll sobald als möglich ratifiziert wden. 
E. v. Liszt (Charlottenbur; 
Ackroyd, T. R.: „Lord Shaftesbury’s legaey‘: eighty years’ record of the Shafr- 


bury society and ragged sehool union. (Lord Shaftesbury’s Vermächtnis. Bericht üb: 
die achtzigjährige Tätigkeit des Shaftesbury-Vereins und des Vereins für Armer 


schulen.) Child Bd. 14, Nr. 7, S. 193—199. 1924. 


Der Aufsatz bringt einen Auszug aus dem Buch von D. Williamson ‚‚Lord 
Shaftesbury’s Legacy“ (London 1924, Verl. Hodder u. Stoughton). Verf. schildert 
Werden und Wachsen des von dem bekannten Sozialpolitiker und Menschenfreundt 


im Jahre 1844 gegründeten Vereins f. Armenschulen, der nach Einführung der unent- 
geltlichen Volksschulen (1870) sich anderen Wohlfahrtsmaßnahmen für die ärmstet 
Kinder zuwandte und jetzt an ca. 140 Stellen in London Tausenden von Kinder 
Aufenthalt, Spiel, Beschäftigung, wirtschaftliche Fürsorge zukommen läßt. Besonder 


ausgebaute Arbeitsgebiete der in tiefreligiösem Geist wirkenden Vereinigung sind u. 4. 
Ferienfürsorge und Krüppelfürsorge für Kinder. K. Mende (Berlin). 


Société internationale pour l’&tude des questions d’assistanee. (Internationale Ce 


sellschaft zum Studium des Fürsorgewesens.) Nourrisson Jg. 12, Nr. 3, S. IX- X\ 


1924. 
Die oben genannte Gesellschaft hat sich einen Bericht über die Jugendwohlfahrtspfe-t 


in den verschiedenen Ländern nach dem Kriege erstatten lassen. Die vorliegende Wiederzah | 


des Berichtes enthält leider nur zusammenhangslose Notizen, von deren Oberflächlichke' 
die Angaben über das RJWG. einen hinreichenden Begriff geben. Francke (Berlin! 


Frantäl, Jos.: Jugendfürsorge in der Slowakei. Věstník českých lékařů Jg ® 


Nr. 27, S. 405—407 u. Nr. 28, S. 417—419. 1923. (Tschechisch.) er 

Der Verf. macht eine Reihe von Vorschlägen für die Durchführung der Jugendfüreon” 
von denen der wichtigste die Übernahme derselben durch den Staat und deren geset nr 
Regelung ist. Er empfiehlt eine Evidenzhaltung aller Kinder, ähnlich wie zum Schulbean 
mit Berücksichtigung der gesundheitlichen Verhältnisse, der Heredität und der sozialen sr 
hältnisse, bzw. der evtl. sozialen Gefährdung. Es sollen Institute zur Besserung der hygen™ in 
Verhältnisse sowohl in körperlicher als auch in geistiger Beziehung, mit Heilabteilung 2 
Abteilungen für Säuglinge, jugendliche Verbrecher und blinde Kinder errichtet werden 5 
Ursachen der sozialen Bedrohung sind zu erforschen und zu beseitigen; dies gilt in emter *3 
für die Arbeit Jugendlicher, für Bettel und ähnliches. Durch eine Rechtsabteilung 


— 65 — 


Jugendlichen Rechtshilfe zuteil werden, die gesetzlich bestimmten Erhalter und Erzieher 
gollen durch dieselbe zur Beitragsleistung herangezogen werden, erziehungsfähigen Kindern 
sollen die Mittel bei bestehender Befähigung beschafft werden, sie sollen bei der Berufswahl 
beraten sein. Für körperlich und geistig Defekte sollen Sanatorien errichtet werden, ins- 
besondere Heilanstalten für jugendliche Verbrecher. O. Wiener (Prag). 

Tartakoff, Samuel: A community mental hygiene elinie. (A preliminary report.) 
(Eine kommunale Klinik für geistige Hygiene.) Boston med. a. surg. journ. Bd. 189, 
Nr. 24, S. 972—975. 1923. 

Es handelt sich hier um eine städtische psychiatrische Klinik, die in ebenso aus- 
gedehntem Maße Kindern wie Erwachsenen dienen soll und die deshalb mit den Organen 

der öffentlichen und besonders der Jugendfürsorge in enger Fühlung steht. Zu ihrem 
Stab gehören außer dem Psychiater ein Psychologe und 2 Sozialbeamte. Sie versieht 
ım übrigen die gleichen Funktionen wie die städtischen Irrenabteilungen in unseren 
Großstädten, ist aber stark sozialpsychiatrisch, heilpädagogisch und therapeutisch 
gerichtet. Vıllinger (Tübingen). 

St6enholf, G.: Die Entwieklung der Arbeit der Fürsorgestellen. Svenska läkartid- 
ningen Jg. 21, Nr. 9, S. 193—200. 1924. 

Ein interessanter Bericht über die weitverbreiteten schwedischen ärztlichen Für- 
sorgestellen, deren es 1923 ungefähr 200 gab. Die Ausgaben werden auf ca. 2 Millionen 
Kronen geschätzt. Besonders der Kampf gegen Tuberkulose wird nachdrücklich ge- 
führt, aber auch viele andere Kranke (Gesamtzahl etwa 20 000 i. J. 1920) finden dort 
Rat und Hilfe. Oft ist die Arbeit erschwert durch die weiten Entfernungen der dünner 
bevölkerten Landesteile. Mende (Berlin). 

- Heagerty, J. J.: Education in relation to prostitution. (Erziehung und Prostitu- 

_ tion.) Journ. of soc. hyg. Bd. 10, Nr. 3, S. 129—138. 1924. 
ll Erziehung in Schule und Elternhaus sind das beste Vorbeugungsmittel gegen 
à die Prostitution. Die Prostituierten geraten fast ausschließlich in sehr jugendlichem 
„~ Alter auf abschüssige Bahn. Der Schulbesuch müßte bis zum 16. Lebensjahr aus- 
“ gedehnt werden. Gründliche und sachgemäße Aufklärung ist nötig. Der Charakter 
ı der Prostituierten ist schwankend und infantil, sie sind „Kindfrauen“. In Canada 
- besteht ein gut organisiertes System der öffentlichen Aufklärung über sexuelle Pro- 
bleme. Charakterfestigkeit, Schutz durch die Behörden und Wissen sind die wich- 
tigsten Faktoren bei der Verhütung sexueller Schäden. Martin Gumpert (Berlin). 

Lennox, Wm. 6.: Child mortality with reference to the higher education of parents. 
(Kindersterblichkeit und ihre Beziehungen zur höheren Bildung der Eltern.) Americ. 
journ. of hyg. Bd. 4, Nr. 1, 8. 52—61. 1924. 

Die vorstehende Arbeit gibt für ein umschriebenes Gebiet bestimmte Angaben, 
die eine bekannte eigenartige Tatsache bestätigen: In Amerika ist die Kontinuität des 
Kulturaufstieges dadurch erschwert, daß die Eltern der intellektuell eingestellten 
Klassen praktisch nicht das Zweikindersystem, sondern höchstens ein Ein- 

kindersystem betätigen! Dadurch wird das Heben der sozial unentwickelteren Schichte, 
aus der bei uns oft der Mann zu der kulturell höher stehenden Frau heraufgehoben 
und so die Kontinuität der Kultur gewahrt wird, praktisch sehr verlangsamt: die ent- 
sprechende weibliche Schicht ist außerordentlich spärlich der Zahl nach. vertreten. 
Fast interessanter als die gleich wiederzugebenden Schlüsse ist eine am Anfang der 
Arbeit stehende Tatsache: Akademisch ausgebildete Frauen (im Osten der U.S.) 
sind nur zum dritten Teil, höchstens zur Hälfte verheiratet, während zwei Drittel der 
Frauen über fünfzehn Jahre verheiratet sind. Auf jede verheiratete akademisch ge- 
bildete Frau kommt !/,, auf jeden Mann ?/, Kind! Eine Statistik über eine Gruppe 
von 939 Familien mit 2475 Schwangerschaften, die zu einer medizinischen oder sonst 
allgemeinbildenden Erziehung der Eltern in Beziehung gesetzt wird, ergibt.: 1. Familien, 
in denen der Vater Arzt ist, haben keine niedrigere Mortalitätsziffer als andere Berufe 
oder Arbeitsgruppen. Die kleine Gruppe von Fachärzten weist eine auffallend hohe 
Sterblichkeitsziffer auf. Die Fehlgeburtenzahl für Frauen von Ärzten ist hoch, wahr- 


Zeitschrift für Kinderforschung. 5 


— 6 — 


scheinlich aber deshalb, weil die Angaben von anderen Berufsgruppen nicht zuverlässig, 
falsch sind. 2. Akademisches Studium oder Jahre dauernde Ausbildung hat eine etwas 
erhöhte Sterblichkeitsziffer für die Kinder zur Folge. Trifft diese Voraussetzung bei 
beiden Eltern zu, so ist die Sterblichkeitsziffer etwas niedriger. Eine unverhältnis- 
mäßig große Sterblichkeitsziffer für Kinder an Infektionskrankheiten ist bei den Eltern 
festzustellen, die kaum Volksschulbildung haben. Die obigen Zahlen beziehen sich auf 
die verhältnismäßig geringe Zahl der hierauf untersuchten Personen, Die damit auf- 
geworfene Frage ist nun doch von solcher Bedeutung, daß das gleiche Studium an größe- 
ren Gruppen in verschiedenen Gegenden des Landes zur Feststellung gesicherterer 
Ergebnisse gemacht werden sollen. v. Düring (Frankfurt a. M.). 


Säuglings- und Kleinkinderfürsorge : 


Tietze, Felix: Die öffentliche gesundheitliche Säuglings- und Kleinkinderfürsorge 
in Österreich 1922 und 1923. Mitt. d. Volksges.-Amtes Jg. 1924, Nr. 3, S. 115—119. 1924. 
Überblick über die Entwicklung, die die Säuglings- und Kleinkinderfürsorge in Österreich 
genommen hat, nachdem die Quäker im Frühjahr 1922 ihre Tätigkeit eingestellt hatten. Es 
wurde im Einvernehmen mit dem Volksgesundheitsamt das Exekutivkomitee der Säuglinge- 
und Kleinkinderfürsorgeaktion in Österreich gegründet, und in jedem Bundesland ein Landes- 
komitee. Von den 8 Landeskomites werden zur Zeit 116 Fürsorgestellen verwaltet, die rund 
50 000 Kinder, darunter rund 22 000 Säuglinge, betreuen. Tugendreich (Berlin.) 
Schweizer, Fernando: Einige mit der physischen Erzielung des Säuglings ver- 
bundene Fragen. Semana med. Jg. 30, Nr.47, S.1105—1110. 1923. (Spanisch.) 
. Neben der hygienischen Behandlung des Säuglings ist auch die psychische nicht 
zu unterlassen. Das Stillen durch die Mutter hat unter anderem auch den Vorteil, 
daß ein engeres Band zwischen Mutter und Kind geknüpft wird. Das Stillen durch 
eine Amme entfremdet das Kind der Mutter und bewirkt, daß der Säugling etwaige 
schlechte Angewohnheiten der Amme annimmt. ‚Im Falle der Flaschenernährung soll 
ebenfalls die Mutter selbst die Flasche reichen. Kin Fehler in der Erziehung liegt vor, 
nicht nur wenn die Mutter sich zu wenig, sondern auch wenn sie sich zuviel mit dem 
Säugling beschäftigt und ihn so immer neuen Reizen aussetzt. Wichtig ist, den Säugling 
an die Nachtruhe zu gewöhnen. Schreit er anhaltend, so liegt manchmal ein Fehler ın der 
Ernährung, meist Unterernährung, vor. In Fällen, wo der Säugling nervös, hypersensibel 
ist, muß man zu den alten Beruhigungsmitteln greifen: Wiegen, Herumtragen, Singen, 
Lutschenlassen. Der Gummilutscher ist unschädlich. Wird er verweigert, so fangen 
manche Säuglinge an, an ihren Fingern zu lutschen, was zur Deformierung der Kiefer 
führen kann. Auch das Verbringen der Säuglinge in die frische Luft wirkt beruhigend 
und schlafbringend. Zur Gewöhnung der Säuglinge an Ordnung trägt die Nahrungsauf- 
nahme zu bestimmten Zeiten viel bei, was besonders bei Flaschenkindern wichtig ist. 
Frühzeitig ist der Säugling an Gehorsam zu gewöhnen, indem man ihm nicht alles gibt, 
was in seinem Bereich liegt und er verlangt. Vor Beendigung des 1. Jahres ist er an 
Reinlichkeit zu gewöhnen. Verf. beleuchtet die Erziehungsgrundsätze Czernys durch 
die Erfahrungen seiner eigenen Praxis. Ganter (Wormditt). 


Garrido-Lestache, D. Juan: Der Kinderschutz in Spanien. Pediatria española 
Jg. 12, Nr. 134, S. 325—332 u. Nr. 135, S. 365—380. 1923. (Spanisch.) 

In Spanien sterben jährlich 200 000 Kinder. Dabei nimmt die Zahl der Geburten 
ab. Auf 1000 Einwohner kamen 1903 36 Geburten, 5 Jahre später nur 34,2 und in 
den letzten Jahren sank die Zahl immer mehr. Die Gründe hierfür sind dieselben 
wie in anderen Ländern: uneheliche Geburt, krankhafte Anlage, Kinderkrankheiten, 
Tuberkulose, künstliche und fehlerhafte Ernährung der Säuglinge, Unwissenheit, 
Armut, mangelnde Hygiene. Nachdem Verf. die gesetzlichen Bestimmungen über 
Mutter- und Säuglingsschutz in den anderen Ländern erwähnt hat, bemerkt er, daß 
es auch in Spanien nicht an dergleichen Bestimmungen fehle, daß aber nicht genügend 
Mittel zur Verfügung ständen, sie in die Tat umzusetzen, bekommt doch eine bedürftige 
Wöchnerin nur 50 Pesetas zur Unterstützung. Ganter (Wormditt.). 


en A m 


Gesundheitsministerium, Abteilung für Kinderfürsorge: Tätigkeitsbericht. Rev. 
de obstetr., gynecol. si puericult. Jg. 3, Nr. 5/6, S. 135—139. 1923. (Rumänisch.) 

Im Laufe des Jahres 1922—23 wurden an verschiedenen Orten des Landes 61 
ständige und 2 ambulante Dispensaires für Säuglinge organisiert. Die untersuchten 
Säuglinge wurden teilweise aufgenommen, teilweise zu Hause unter ärztlicher Kontrolle 
behandelt, mit Arzneimitteln, Kleidern usw. versehen. — Die Wirkung, trotz der kurzen 
Zeit und der Schwierigkeiten des Anfangs war eine erfreuliche. — Die Statistik der ein- 
zelnen Spitäler — die sonst wegen der verhältnismäßig geringen Zahl der beobachteten 
Fälle mit gewissem Vorbehalt betrachtet werden muß (die größte Zahl der in einem 
Spital untersuchten Kinder war 404) — zeigt eine geringe Mortalität, Maximum 
33,1%, Minimum 0,7%, durchschnittlich 8—10%,. Außerdem wurden Sommerkolonien 
für Kinder mit einer Fachschule für Säuglingspflegerinnen errichtet. Urechia. 

Chapman, W. D.: Maternal and infant welfare without government bureaueraey. 
(Mütter- und Säuglingsfürsorge ohne behördliche Bürokratie.) Americ. journ. of obstetr. 
a. gynecol. Bd. 7, Nr. 3, S. 314—319. 1924. 

Ein scharfer Protest gegen die kürzlich in Amerika erlassene Gesetzgebung auf 
dem angegebenen Gebiete, wodurch nach Ansicht des Verf. die Ärzte in ihrem Wirken 
gehemmt werden. Mende (Berlin). 


Berufsberatung : 


Lipmann, Otto: The prineiples of voeational guidance. (I.) (Grundsätze der Berufs- 
beratung.) Brit. journ. of psychol. Bd. 14, H. 4, S. 321—335. 1924. 

Burt, Cyril: The principles of voeational guidance. (II.) Brit. journ. of psychol. 
Bd. 14, H. 4, 8. 336—352. 1924. 

Thurstone, L. L.: The principles of vocational guidanee. (III.) Brit. journ. of psychol. 
Bd. 14, H. 4, S. 353—361. 1924. 

3 Referate über dasselbe Thema, welche auf dem 7. Internationalen psychologischen 
Kongreß in Oxford im Juli 1923 gehalten wurden. 1. Lipmann unterscheidet Berufs- 
auslese (Berufsberatung, Vocational guidance) und Personenauslese (Konkurrenz- 
auslese, vocational selection). Die Berufsauslese geht von der Personenkunde und 
Eigenschaftskunde einer Person aus und weist ihr einen Beruf an, während die Personen- 
auslese zu einem bestimmten Beruf bei Vorhandensein bestimmter Eigenschaften die 
brauchbarste Persönlichkeit auswählt. L. will vom psychologischen und vom sozial- 
politischen Gesichtspunkt aus die Berufsauslese gegenüber der Personenauslese in 
den Vordergrund gestellt wissen. Nicht unbeeinflußt durch die Theorien der Gestalt- 
psychologie gibt L. der Methode der Beobachtung des spontanen Verhaltens gegenüber 
der experimentellen Methode, die unter künstlichen Bedingungen ihre Feststellungen 
über den Prüfling gewinnt, den Vorzug. Wichtig ist für L. die Unterscheidung von 
komplexen, zentralen und peripheren oder akzidentellen Eigenschaften, besonders im 
Hinblick auf die Untersuchung der Prüflinge im Pubertätsalter, denn die ganze Berufs- 
beratung ist nicht nur ein diagnostisches, sondern auch ein prognostisches Problem. 
Daher stellt L. die Hypothese auf: ‚Je zentraler eine Eigenschaft ist, in desto höherem 
Grade erhält diese Eigenschaft sich auch über längere Zeiträume konstant.“ Daraus 
ergeben sich bedeutsame Folgerungen für die Methodik der Berufsberatung. 2. Burt 
stellt sich vornehmlich die Frage, welches Lebensalter für die Berufsberatung am 
geeignetsten ist und kommt zu dem Ergebnis, daß eine zu späte Berufsberatung die 
Möglichkeit einer weiteren fachlichen Ausbildung unmöglich macht, eine zu frühe 
hingegen läßt nicht immer die zentralen Eigenschaften (im Sinne L., dem Verf. in 
vielen Punkten beipflichtet) erkennen, so daß Verf. die Forderung einer Untersuchung 
vor und nach dem Pubertätsalter aufstellt. 3. Das dritte Referat behandelt mit 
kritischer Einstellung die Brauchbarkeit und Wert der Tests und stellt Richtlinien 
auf für ihre gültige Anwendung und für die Berechnung der durch sie gefundenen 
Werte. Zu begrüßen ist bei den neueren theoretischen Ausführungen und bei den prak- 


5% 


— 68 — 


tischen Ergebnissen der Berufsberatung die stärkere Betonung des qualitativen 
Verhaltens, das tiefere Eindringen in die Persönlichkeit des Prüflings und das in etwa 
Zurückstellen der quantitativen Leistungsergebnisse. von Kuenburg. 

Couvé, Richard: Organisation und Aufbau der Lehrlingseignungsprüfung bei der 
Deutschen Reichsbahn. Prakt. Psychol. Jg. 4, H. 11, S. 328—334. 1923. 

Die deutsche Reichsbahn bemüht sich in den letzten Jahren mit wachsendem 
Erfolg, sowohl auf dem eigentlichen verkehrstechnischen Gebiet als auch im Werk- 
stättenbetrieb wieder allen Anforderungen gerecht zu werden. Geleitet von der Ein- 
sicht, daß die Leistungen des Betriebes in erster Linie von der Güte und Eignung des 
Personals abhängen, ist die deutsche Reichsbahn gleich anderen industriellen Unter- 
nehmungen dazu übergegangen, für die richtige und zuverlässige Auslese des erforder- 
lichen Personals, insbesondere des beruflichen Nachwuchses, psychotechnische Eignungs- 
prüfungen einzuführen. Mit der eigentlichen Durchführung solcher Prüfungen für das 
gesamte Gebiet der Reichsbahn wurde vom Reichsverkehrsministerium die psycho- 
technische Versuchsstelle der deutschen Reichsbahn bei der Reichsbahndirektion Berlin 
betraut, die mit dem 1. Februar 1921 ihre Tätigkeit aufnahm. Als besondere Aufgaben 
für diese Stelle kommen in Betracht: Eignungsprüfungen für Stellen des Werkstätten- 
betriebes, für den Aufstieg Begabter, Ausarbeiten von Vorschlägen für die praktische 
Ausbildung von Beamten und Arbeitern, besonders in den Werkstätten und im Betrieb, 
Anleitung für psychotechnische Lehr- und Ausbildungsverfahren, Rangiererprüfung u. a. 
Die Durchführung dieser Aufgaben wird von einem verhältnismäßig kleinen Stab 
sachverständiger Beamten übernommen. Den Prüfstellen bei den einzelnen Eisenbahn- 
direktionen wird in völlig gleicher Ausfertigung das Prüfgerät, die Prüfungsanweisung 
und die Bewertungsanweisung übergeben. Die Eignungsprüfung selbst gliedert sich 
in Gruppen- und Einzelprüfungen und dauert 2 Tage. Ihre Ausführung wird durch 
den Leiter und die Hilfsarbeiter der psychotechnischen Versuchsanstalt überwacht. 
Besonders wird darauf geachtet, daß die Prüfung sich für alle Bewerber unter möglichst 
gleichen Bedingungen vollzieht. Bei der Auswertung werden natürlich auch die per- 
sönlichen Verhältnisse und die Schulkenntnisse mit berücksichtigt; so dürfen z. B. inner- 
halb der am Schluß der Auswertung aufzustellenden Rangreihe auch Söhne von ver- 
storbenen oder infolge eines Eisenbahnunfalles dienstunfähiger Eisenbahnbedienstetn 
und im Falle der Bedürftigkeit Söhne im Krieg Gefallener oder Kriegsbeschädigter 
eingestellt werden, sofern sie in der Eignungsprüfung mindestens eine Durchschnitts- 
leistung aufweisen können. Richard Liebenberg (Berlin). 

Sehultz-Bascho, Paula: Die besonderen Momente bei der weiblichen Berufswahl. 
Schweiz. Zeitschr. f. Gesundheitspfl. Jg. 4, H. 2, S. 135—140. 1924. 

Die Verf. erörtert vom Standpunkt der Ärztin die Voraussetzungen, welche die 
weiblichen Jugendlichen bei ihrer Berufswahl unbedingt beachten sollten. An die 
Spitze ihrer Ausführungen setzt sie die Tatsache, daß die berufstätige Frau eine volle 
Befriedigung und ein wirkliches Glücksgefühl nur in einer Arbeit zu erringen vermag. 
in der sie die spezifisch weiblichen, also mütterlichen Eigenschaften ihres Wesens ein- 
setzen und ihre Leibeskräfte betätigen könne. Da diese Tatsache in sehr vielen Fällen 
außer acht gelassen wird, ist meist das Gefühl der Unbefriedigtheit und Leere ıhres 
Lebens eine unausbleibliche Folge. Deshalb sollte jede Berufsberatung stets von dieser 
Grundtatsache des weiblichen Daseins ausgehen. Sodann muß berücksichtigt werden. 
daß die meisten Mädchen, die einen Beruf ergreifen, sich im Alter von 15—17 Jahren, 
also mitten im körperlichen und seelischen Reifungsprozeß befinden, dessen Symptome 
nicht aufmerksam genug beachtet werden könnten, um vorbeugend zu wirken. In 
diesem Zusammenhang fordert die Verf. eine viel stärkere Berücksichtigung der Ge- 
sundheitslehre sowohl im Unterricht der allgemeinen Schule und der Fortbildungs- 
schule als auch in der beruflichen Ausbildung selbst und beweist ihre Notwendigkeit 
an Hand einiger treffender Beispiele. Zum Schluß betont sie das besondere Erfordernis 
einer gründlichen und umfassenden Berufslehre, um später im Beruf gerade diejenigen 


— 69 — 


guten Leistungen hervorbringen zu können, die man von der berufstätigen Frau er- 
wartet. Richard Liebenberg (Berlin). 

Sehoedel, Joh.: Wer ist geschickt für soziale Frauenberufe? Zeitschr. f. Säug- 
lings- u. Kleinkinderschutz Jg. 15, H.12, S. 446—449. 1923. 

Sehr beherzigenswerte Ausführungen! Verf. wendet sich gegen die Bestrebungen 
des Proletarıiats, die sozialen Berufe mit Frauen aus seinem Kreise zu füllen. Die For 
derung, nur die Proletarierin verstände die Not des Volkes und könne an ihrer Behebung 
mitwirken, wird von der Verf. kritisch beleuchtet. Die soziale Arbeit sollte überhaupt 
aus dem Bereiche der Politik ausscheiden. Die Forderungen, die sie an die soziale 
Arbeiterin stellt: körperliche Kraft, Wissen, vollkommene Gemütsbildung, sittliche 
Höherstellung, finden sich zusammen überhaupt nicht oft verwirklicht, im allgemeinen 
zur Zeit aber noch häufiger bei der aus bürgerlicher Umwelt stammenden Frau, als 
bei der dem Proletariat entstammenden. Stellt man aber an den Platz der Sozial- 
beamtin aus politischen Gründen ungeeignete Menschen, so sind sie ein Hemmnis für 
die Sache und ein Unglück für sich selbst. Tugendreich (Berlin). 

Coerper, Carl: Über ärztliche Berufsberatung. Klin. Wochenschr. Jg. 8, Nr. 16, 
S. 685—687. 1924. 

Die Mitwirkung des Arztes bei der Berufsberatung erscheint dem Verf. hinsichtlich 
ihrer Methode jetzt schon so weit gesichert, daß er glaubt, von dem bisher meist geübten 
„negativen“ Ausleseverfahren zu einer ‚positiven‘ Beurteilung der gesundheitlichen 
Berufseignung übergehen zu können. Voraussetzung dazu ist selbstverständlich eine 
umfassende Kenntnis sowohl der Berufskunde als der Berufsschädigungen; und im 
Mittelpunkt des neuen Verfahrens dürfte nicht mehr wie bisher die Untersuchung 
pathologischer Teilfunktionen, sondern eine Diagnose der Gesamtpersönlichkeit stehen, 
und zwar einmal unter dem Gesichtspunkt der Erforschung der Erblichkeit im Beruf, 
um möglichst die „Leitlinie‘‘ des Berufswunsches und der Berufsentwicklung zu finden 
und sodann unter dem Gesichtspunkt der Erforschung der Sondergestaltung der 
Persönlichkeit. Auf jeden Fall müsse dabei der Neigung des Ratsuchenden Rechnung 
getragen und er über die Hygiene im bestimmten Beruf mit Berücksichtigung der indivi- 
duellen Mängel belehrt werden. Die Notwendigkeit der eigenen Tatkraft des Anwärters 
bei der Berufsentscheidung dürfe nicht aufgehoben werden. ‚Wir können und sollen 
Berufsschicksale wohl aufdecken, nicht aber konstituieren.‘“ 

Richard Liebenberg (Berlin). 

Lienek: Berufswahl der Hilfssehüler. Hilfsschule Jg. 17, H.1, S.2—8. 1924. 

Es zeigt sich immer wieder, daß bei den Hilfsschülern die Berufseignung in den 
meisten Fällen weit hinter der Berufsneigung zurückbleibt. Um hier größere Klarheit 
zu schaffen und den Berufsämtern brauchbare Unterlagen für die Berufsberatung, 
insbesondere für die Beurteilung der Berufsneigung und -eignung zu liefern, hat der 
Verf. den Versuch unternommen, an der Hand verschiedener Methoden (Aufsatz über 
das Thema: Was willst du werden und warum? Fragebogen in Anlehnung an Erich 
Stern und Lehrerbeobachtungsbogen) zweckmäßige und zuverlässige Hilfsmittel 
auszuprobieren. Nach seinen Erfahrungen ist dabei der Lehrerbeobachtungsbogen 
das weitaus beste und wertvollste Mittel, Aufschluß über die Neigung und Eignung 
der vor der Berufswahl stehenden Hilfsschüler zu erhalten. Liebenberg (Berlin). 


Unehelichen fürsorge 2: 


Worthington, George E.: Stepping stones to an improved law for children born 
out of wedloek. (Zum Gesetzentwurf uneheliche Kinder betr.) Journ. of soc. byg. 
Bd. 10, Nr. 3, S. 164—176. 1924. 

Unter diesem Titel bespricht Verf. einen Gesetzentwurf zugunsten der unehelichen 
Kinder, der vor kurzem im Staate New York einer eigens zur Prüfung von Jugend- 
wohlfahrtsgesetzen eingesetzten Kommission vorgelegt worden ist. Verf. schildert ein- 
gangs kurz die gegenwärtige Regelung im Staate New York und weist darauf hin, daß 


— 70 — 


eine Hilfe zur Zeit nur für solche Mütter und unehelichen Kinder vorgesehen ist, die 
sonst dauernd der Allgemeinheit zur Last fallen würden. Ein Gedanke, der dem alten 
englischen Armenrecht entstammt und weit mehr den Schutz der Allgemeinheit als das 
Wohl des Kindes bezweckt. Im Sommer 1923 schloß sich in New York eine Gruppe von 
führenden Persönlichkeiten aus den Kreisen der Wohlfahrtspflege zu einer Kommission 
zusammen, um unter dem Gesichtspunkt des Unterhaltsanspruchs des Kindes 
gegenüber seinen Eltern die Frage der Fürsorge für Uneheliche zu prüfen. Zahlreiche 
Erhebungen ergaben, daß in einer großen Anzahl von Fällen die Vaterschaft nicht 
anerkannt war und in vielen anderen Fällen der Armenpfleger mit dem Kindesvater 
befreundet war und eine sehr geringe Abfindungssumme vereinbarte. Das Ergebnis 
der Beratungen war der Entwurf zu einem neuen Artikel XI des „Domestic Relations 
Law“ (wohl unserem „Familienrecht“ im Bürgerlichen Gesetzbuch entsprechend), 
dessen Inhalt nachstehend kurz wiedergegeben wird. Der Entwurf bezeichnet im 
Gegensatz zu dem deutschen Recht den Erzeuger des unehelichen Kindes durchweg 
als seinen Vater und stellt als obersten Satz die Verpflichtung der „Eltern“ des unehe- 
lichen Kindes auf, dem Kind den notwendigen Unterhalt einschließlich der Erziehung 
zu gewähren. In derselben Bestimmung wird die Pflicht des Vaters zur. Bestreitung 
der Kosten der Entbindung und aller infolge der Schwangerschaft der Mutter erwachsen- 
den Kosten ausgesprochen. Die Ansprüche können unter bestimmten Voraussetzungen 
auch gegen den Nachlaß des Vaters geltend gemacht werden. Wichtig erscheint, daß 
bei der Bemessung der Höhe des Anspruchs das Gericht die Fähigkeit der Mutter, 
selbst für das Kind zu sorgen, in Betracht ziehen soll. Entzieht der Vater sich seinen 
Verpflichtungen, so hat die Mutter oder ihr gesetzlicher Vertreter das Recht, Klage 
zu erheben. Dasselbe Recht steht der städtischen Behörde zu, der das Kind ohne die 
Zahlungen des Vaters zur Last fallen würde. Im letzteren Fall soll die Mutter als 
Nebenkläger beteiligt werden. Das Verfahren kann schon während der Schwanger- 
schaft eingeleitet werden, doch soll eine gerichtliche Vernehmung des als Vater Be 
zeichneten nur mit seiner Einwilligung schon vor der Geburt des Kindes stattfinden. 
Auf Grund der Klage soll das Gericht den Vater vorladen, nötigenfalls zwangsweise 
vorführen und über die angebliche Vaterschaft vernehmen. Befindet sich der Vater 
in einem anderen Bezirk, so wird die dort zuständige Behörde beauftragt, von ihm ein 
Pfand von mindestens 500 Dollar zu verlangen. Stirbt die Mutter oder wird sie aus 
irgendwelchen Gründen vernehmungsunfähig, nachdem sie die Klage erhoben und 
ihre Aussagen unter Eid erstattet hat, so soll das Kind als Kläger an ihre Stelle treten. 
Nach einer Reihe von Verfahrensvorschriften, die nach deutschem Recht nicht in einen 
Abschnitt des Familienrechts aufzunehmen wären, folgen Bestimmungen über den 
Inhalt des Urteils. Der Vater soll verpflichtet werden, bis zum 16. Jahre des Kindes 
jährlich eine bestimmte Summe zu zahlen, deren Höhe unter Berücksichtigung seiner 
sonstigen Verpflichtungen festzusetzen ist. Dabei soll auch die Verpflichtung zur 
Tragung der der Mutter infolge von Schwangerschaft und Entbindung erwachsenen 
Kosten ausgesprochen werden. Die Zahlung erfolgt grundsätzlich an die Mutter selbst; 
das Gericht kann aber verlangen, daß an einen Vertrauensmann gezahlt wird, dies soll 
insbesondere geschehen, wenn die Mutter nicht im Bezirk des Gerichts wohnt. Der 
Vertrauensmann hat jährlich dem Gericht Rechnung zu legen. Das Gericht kann von 
dem Vater Sicherheitsleistungen oder Bürgschaften verlangen. Die Zahlung einer 
einmaligen Abfindungssumme ist nur dann gültig, wenn das Gericht die Höhe als aus- 
reichend genehmigt hat. Ein weiterer Abschnitt des Entwurfs behandelt die Ver- 
pflichtung der Mutter, für den Unterhalt des Kindes aufzukommen, falls sie Vermögen 
besitzt. Kommt sie dieser Verpflichtung nicht nach, so kann der Gerichtshof von den 
Fflegeeltern oder sonstigen Personen angerufen werden; er ist berechtigt, die Mutter 
zu wöchentlichen Unterhaltszahlungen heranzuziehen. Auch kann er von ihr wie vom 
Vater Sicherheitsleistungen verlangen. Schließlich enthält der Entwurf noch weit- 
gehende Strafbestimmungen, wie sie das deutsche Recht nicht kennt. Entzieht der- 


jenige Elternteil, in dessen Obhut sich das Kind befindet, sich seiner Unterhaltspflicht, 
so finden die für die Unterhaltspflicht gegenüber ehelichen Kindern geltenden Be- 
stimmungen des Strafgesetzbuchs Anwendung. Entzieht sich der Vater seiner Unter- 
haltspflicht, obwohl die Vaterschaft gerichtlich festgestellt ist, so ist er, falls nicht 
gesetzlich vorgesehene Gründe die Zahlung verhindern, mit Geldstrafe bis zu 1000 Dollar 
oder mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit beidem zu bestrafen. Hilde Eiserhardt. 


Popenoe, Paul: Some eugenie aspects of illegitimaey. (Einige eugenische Gesichts- 
punkte zur Illegitimität.) Journ. of soc. hyg. Bd. 9, Nr. 9, S. 513—527. 1923. 

Die dem europäischen Standpunkt absurd erscheinende Ansicht des Verf. geht 
dahin, daß das uneheliche Kind ausnahmslos minderwertig sei, sowohl in körperlicher als 
seelischer Beziehung, allzu viel Fürsorge widerlaufe daher den eugenischen Erfordernissen. 
Die unehelichen Kinder bilden eine ständige Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft, 
sie sind eine lebende Beleidigung der monogamen Gesellschaftsform, der keine Unter- 
stützung gewährt werden darf. In gleicher Weise ist die uneheliche Mutter als sozial 
minderwertig zu betrachten. Der Plan der Reformer, daß nur das Gericht über die 
uneheliche Geburt des Kindes Auskunft geben darf, wird scharf abgelehnt, die Gesell- 
schaft habe ein Interesse daran zu wissen, welche ihrer Mitglieder einer eugenisch 
minderwertigen Herkunft sind. Ebenso werden die Verantwortung des Vaters für das 
unehelich gezeugte Kind, die Namengebung durch den Vater und die Beteiligung am 
Erbe abgelehnt. Der Staat kann nicht viel zur sozialen Hebung dieser Geschöpfe, 
die zwar Mitleid verdienen, tun, denn die Gesellschaft würde ihnen doch das ihnen 
gebührende Stigma aufdrücken. Als einzige Abwehrmaßnahme werden Internierung 
der Schwachsinnigen, Überwachung der Haltlosen, Hebung der Sittlichkeit, Unter- 
drückung der Prostitution bezeichnet. Vorschläge zu einer besseren Aufzucht der un- 
ehelichen Kinder werden nicht gemacht. Martin Gumpert (Berlin). 


Hofmann, Edmund: Statistisehes über Geschlechtskrankheiten, Prostitution und 
uneheliche Geburten im besetzten Rheinland. (Univ.-Klin., Bonn.) Dermatol. Zeitschr. 
Bd. 40, H. 4, S. 201—212. 1924. 

Untersuchungen in Bonn und Köln haben ergeben, daß die Geschlechtskrankheiten 
seit der Revolution in den Rheinlanden beträchtlich an Umfang gewonnen haben. 
Von größter Wichtigkeit ist die Beteiligung der jugendlichen Mädchen an den Er- 
krankungszahlen. In Bonn erreicht die Kurve der aufgegriffenen Mädchen vom 18. 
bis 21. Jahre ihre größte Höhe. In Köln waren 1914 bis 1920 bis zu 55% der Auf- 
gegriffenen zwischen 14 und 20 Jahren. Der Berufszweig der Hausangestellten ist 
bei weitem am zahlreichsten vertreten. Verf. weist auf mehrfach beobachtete Kinder- 
infektionen mit Lues und Gonorrhöe hin. Die Geschlechtskrankheiten breiten sich 
mehr als früher auf dem flachen Lande aus, mehrfach wurden Familienendemien be- 
obachtet, bei denen sämtliche Familienmitglieder bis zum Säuglingsalter ergriffen 
waren. Die Überweisung solcher Kinder in Heime, Anstalten usw. führt mitunter zu 
gefährlichen Epidemien, so stellte Schreus in einem Waisenhaus die Syphilisinfektion 
von 33% der Insassen fest. Die Unkenntnis des Pflegepersonals in diesen Dingen muß 
energisch bekämpft werden. "Martin Gumpert (Berlin). 


Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches : 


Ellger: Das Jugendgerichtsgesetz und der Strafvollzug. Zentralbl. f. Vormund- 
schaftswesen, Jugendger. u. Fürsorgeerziehg. Jg. 15, Nr. 2, 8. 25—29. 1923. 

Ellger, der ehemalige Leiter des Wittlicher Jugendgefängnisses, begrüßt das 
Jugendgerichtsgesetz besonders wegen der Herabminderung der Freiheitsstrafen, vor 
allem der kurzfristigen, und der Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters vom 12. 
auf das 14. Lebensjahr. Er wünscht, daß ähnlich wie beim englischen Borstalsystem 
eine relativ bestimmte Strafdauer (1—5 Jahre) vom Jugendrichter verhängt werden 
kann. Nicht einverstanden ist er mit der Fassung des $ 16, Abs. 1, da in ihm der Ab- 


— 72 — 


schreckungsgedanke neben dem wichtigeren positiven Erziehungsgedanken als Zweck 
der Strafe nicht betont sei. Hieraus ergibt sich die dann folgende Betrachtung über 
das Verhältnis von. Fürsorgeerziehung und Jugendgefängnis, die nicht nur quantitativ, 
sondern auch qualitativ verschieden sein müßten. Auf die Wünsche des Verf. betr. 
Ausgestaltung des Strafvollzugs für Jugendliche braucht nicht näher eingegangen zu 
werden, da die als Vereinbarungen der Landesregierungen inzwischen aufgestellten 
Grundsätze über den Vollzug der Freiheitsstrafen vom 7. VI. 1923 (R.G.Bl. 1923, 
Nr. 23, Teil II) in den §§ 196— a2 besondere Vorschriften für Jugendliche und Minder- 
jährige enthalten. | =. Curt Bondy (Hamburg). 


ar 


Göring, M. H.: Einfluß der neuen EA auf die Beratungen über ein neues 
Strafgesetzbueh. Monatsschr. í. Kriminalpsychol. u.  Strafrechtsreform Jg. 14, H. 8/12, 
j 298—300. 1924. 

‘Von ausschlaggebender Bedeutung bei der Beratung des neuen Strafgesetzbuches 
wird $3 des Jugendgerichtsgesetzes werden; in ihm heißt es, daß ein Jugendlicher 
nicht strafbar ist, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner geistigen und sittlichen Ent- 
wicklung unfähig war, das Ungesetzliche der Tat einzusehen oder seinen Willen dieser 
Einsicht gemäß zu bestimmen. Es ist ausgeschlossen, daß das neue Strafgesetzbuch 
in seiner Bestimmung über die Unzurechnungsfähigkeit eine andere Fassung erhält als 
das Jugendgerichtsgesetz; entweder muß der Passus „oder seinen Willen dieser Ein- 
sicht gemäß zu bestimmen‘ schwinden, oder wir erhalten ihn auch im Strafgesetzbuch, 
was sehr zu bedauern wäre. Ein günstiger Einfluß der Jugendgesetze auf das Straf- 
gesetzbuch ist zu erhoffen hinsichtlich der Bestimmungen über die Schutzaufsicht, die 
ärztliche Mitwirkung und die Schaffung eines Rechtsmittels, wenn auf Verwahrung in 
einer Heil- und Pflegeanstalt erkannt wird. Eigenbericht. 


~ Liepmann: Die Psychologie der Vernehmung des Angeklagten im deutschen Straf- 
prozeß. Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswiss. Bd. 44, H. 6, S. 647—683. 1924. 

Die doppelte Aufgabe des Strafprozesses, die Gesellschaft vor dem Verbrechen 
zu schützen, ebenso aber den Angeklagten gegen Übergriffe und Irrtümer der Justiz 
zu sichern, ist im Verlaufe der Rechtsentwicklung sehr verschieden geregelt worden. 
Im alten Inquisitionsprozeß überwog der erste Gesichtspunkt in solchem Maße, daß 
eine Sicherung der Verteidigung fast ganz fehlte. Für das Gericht galt der Grundsatz 
der Heimlichkeit, für den Angeklagten die Pflicht zur wahren Aussage, die nötigenfalls 
durch die Folter erzwungen wurde. Die confessio war die regina probationum. Einem 
primitiven psychologischen Denken erscheint eben ein „Schuldbekenntnis“ als not- 
wendige Voraussetzung und zugleich als hinreichende Rechtfertigung des Urteils- 
spruchs. — Der Verf. legt eingehend die falschen psychologischen Voraussetzungen 
des alten Inquisitionsprozesses dar und zeigt die grundlegende Wandlung des jetzigen 
Strafprozesses, wie sie bedingt ist durch eine völlig neue Auffassung vom Staat und 
vom Verhältnis des Bürgers zum Staate. Die freiere Stellung des Beschuldigten ım 
Prozeß verlangt allerdings, daß die Mittel der Wahrheitsfindung verbessert werden, 
was wesentlich eine Sache psychologischer Schulung des Richters ist. Für dieses 
bisher noch sehr vernachlässigte Gebiet gibt Liepmann wertvolle Anregungen. Der 
Grundgedanke ist, daß der Beschuldigte wie ein Zeuge behandelt werden muß, der 
zur Verweigerung seiner Aussage berechtigt ist. Seiner Ansicht nach wirkt ın der 
psychologischen Einstellung des Richters zum Angeklagten immer noch die Erinnerung 
an den alten Inquisitionsprozeß nach. Ebenso ist zu warnen vor blindem Mißtrauen 
gegenüber dem bestreitenden Angeklagten, wie umgekehrt vor blındem Vertrauen 
gegenüber dem geständigen Angeklagten. „Die Psychologie der Bequemlichkeit: und 
der Reiz der Spannung, aus einem Beschuldigten, wenn es irgend geht, ein Geständnis 
herauszuholen, wirken als Gegengewicht und sorgen dafür, daß die Irrtümer von 
Jahrhunderten nicht so leicht verschwinden.“ Vor allem ist zu beachten, aus welchen 
Motiven ein Geständnis abgelegt wird. Dabei wird sich ergeben, daß echte Reue ziem- 


Sdr , .. BES 


lich selten ist. An Beispielen wird schließlich die Gefahr erpreßter Geständnisse ang 
falscher Selbstbeschuldigungen dargelegt. Walter Hoffmann (Leipzig). ' 

Reisinger, Franz: Die geistesverwirrten Verletzten: die Stiefkinder des Rechte, 
Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswiss. Bd. 44, H. 5, S. 598—602. 1924. 

Der Verf., ein Rechtsanwalt in Arad (Rumänien), sucht auszuführen, daß die ae 
Minderwertigen zwar als Subjekte von Rechtsverletzungen dem doppelten Eingriffe 
der Strafen und Sicherungsmaßregeln unterliegen, aber als Objekte von Rechtsver- 
letzungen, insbesondere bei Rechtsgeschäften, eines hinreichenden Schutzes gegen 
Ausbeutung entbehren. Francke (Berlin). 


Fürsorgeerziehung: 


Backhausen, W.: Produktiver Umbau der Fürsorgeerziehung. Zentralbl. f. Jugend- 
recht u. Jugendwohlf. Jg. 16, Nr. 1, S. 1—4. 1924. 

Die Ausführungen beruhen auf einer Rundfrage über den Abbau der Fürsorge- 
erziehung. Nicht Abbau, sondern produktiver Umbau ist der entscheidende Gesichts- 

punkt. Durchaus abzulehnen sind die mechanischen Abbauverordnungen betr. Ent- 
lassung von Zöglingen (20—25%,), Abbau des Erzieherpersonals, Sparmaßnahmen 
bei Beaufsichtigung der Außenzöglinge, unvorbereitete Entlassung nach Hause, Ent- 
lassung der sog. Unverbesserlichen ohne weitere Fürsorge. Der produktive Umbau 
muß unter dem Grundsatz stehen, daß die beste Erziehungsarbeit die billigste ist. Es 
ist kurzsichtig, zu sparen an Säuglingsheimen, Krippen, Kinderhorten usw. und es 
bedeutet eine produktive Sparmaßnahme, wenn die Schutzaufsicht ausgebaut und 
die Psychopathenfürsorge erweitert wird. Die Anstalten müssen in bezug auf die 
Dauer der Anstaltsbehandlung elastischer werden, Beobachtungsabteilungen, Indi- 
vidualisierung sind notwendig. Eine Verkürzung der Anstaltserziehung bedeutet 
Intensivierung des Anstaltsbetriebes, dies bezieht sich auf die Vorbildung usw. der 
Erzieher; auf die Behandlung, die Unterbringung, den Unterricht und die Beschäftigung 
der Zöglinge. Eine weitere Folge ist die Forderung nach Verbesserung der Familien- 
pflege und dem Suchen nach neuen Stellen. Unerziehbare gehören in besondere 
Bewahranstalten. Solcher Umbau ist nur möglich, wo eine fachmännisch geleitete 
Zentralbehörde die F. E. ausübt. -Curt Bondy (Göttingen). 

Planloser Abbau oder planmäßige Ersparnisse in der Fürsorgeerziehung. Nach- 
richtendienst d. dtsch. Ver. f. öffentl. u. priv. Fürs. Jg. 1924, Nr. 45, S. 11—12. 1924. 

Es wird gewarnt vor übereilter Entlassung von Fürsorgezöglingen aus Sparsam- 
keitsgründen, die nur zu Rückfällen führt, und für den Abbauauf den allein richtigen 
Weg besserer Organisation verwiesen, insbesondere auf das Vorbild des Landesdirek- 
toriums Hannover (vgl. Hartmann, dies. Zeitschr. 28, 46) und Hamburgs. Besonders 
erwähnenswert erscheint der Versuch Hamburgs, die Kosten der Anstaltserziehung 
ohne Schädigung der Erziehungsarbeit dadurch herabzumindern, daß man an die Stelle 
einzelner Erzieher Praktikanten (Lehrer, junge Akademiker) einstellt, die bei einer 
Verpflichtung auf ein Jahr neben der praktischen Arbeit auch theoretischen Unterricht 
erhalten. Die Hamburgische Oberschulbehörde beabsichtigt, den Lehrern dieses Jahr 
auf ihre Dienstzeit anzurechnen. Wenn dieser Weg zu einer wirklichen Ausbildung 
der Praktikanten führt und nicht auf eine bloße Ausnutzung der Arbeitskraft der 
jungen Akademiker hinausläuft, dann ist diese Lösung auch vom Standpunkt der Aus- 
bildungsfrage nicht bloß unsrer neuen Sozialbeamten, sondern auch unsrer Lehrerschaft 
sehr zu begrüßen. Nohl (Göttingen). 

Eine Kolonie für kriminelle Jugendliche in Italien. Zeitschr. f. Kindersch., 
Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 9, S. 157—158. 1923. 

Die kurze Mitteilung betrifft die im November 1922 eröffnete Erziehungsanstalt 
in Arese bei Mailand. Die Zöglinge werden in Werkstätten und in der Landwirtschaft 
beschäftigt. Von Interesse ist, daß unter Mitwirkung des Arztes der Gruppeneinteilung 
der Zöglinge besondere Aufmerksamkeit zugewandt wird, wobei einerseits die seelische 


ur fe ee 


Anlage, andererseits der Grad der Verwahrlosung entscheidet. Die Psychopathen 
werden getrennt in dem „‚mediko-pädagogischen Institut“ untergebracht. Francke. 


Gesetzgebung : 


Ausführungsanweisung zum Beichsgesetz für Jugendwohlfahrt vom 9. Juli 1922 
(Beichsgesetzbl. I S.647) in der Fassung der Verordnung vom 14. Februar 1924 
(Reichsgesetzbl. I S.110) und zum Preußischen Ausführungsgesetz zum Reichsgesetz 
für Jugendwohlfahrt vom 29. März 1924 (Preuß. Gesetzsamml. S. 180). Volkswohlfahrt 
Jg. 5, Nr. 8, S. 167—179. 1924. 

Der preußische Minister für Volkswohlfahrt, der in $ 34 AG. RJWG. mit der Aus- 
führung des Gesetzes beauftragt ist und der für Preußen die vom Gesetzgeber der 
„obersten Landesbehörde‘ übertragenen Aufgaben wahrzunehmen hat (RJWG. $ 77), 
macht in der vorliegenden Verordnung von den ihm erteilten Ermächtigungen Ge- 
brauch; zugleich gibt er aber auch den mit der Jugendwohlfahrtspflege betrauten 
örtlichen Behörden, die dieser Aufgabe bisher zum Teil fremd gegenüberstanden, 
eine klare und gemeinverständliche Erläuterung der Grundgedanken und Haupt- 
vorschriften der Gesetze, verbunden mit einer Anleitung zu ihrer zweckmäßigen Hand- 
habung. Besonders eingehend sind die Vorschriften über die Zusammensetzung der 
Jugendämter behandelt. Höchst erfreulich ist, daß das Ministerium -die der Jugend- 
wohlfahrt aus der Reichsverordnung vom 14. Februar 1924 drohenden Gefahren durch 
maßvolle Handhabung der ihm erteilten Ermächtigungen einzudämmen gewußt hat: 
die Anträge auf Befreiung von der Jugendgerichtshilfe (RJWG. § 3 Nr. 5), auf Herab- 
setzung der Altersgrenze für die Pflegekinderaufsicht (RJWG. $ 19) und auf Befreiung 
von der gesetzlichen Amtsvormundschaft (RJWG. $$ 35—40) haben nur in engen 
Grenzen Aussicht auf Erfolg. Der ausführlichste Abschnitt der Verordnung ist 
der letzte, der sich mit Abschnitt VI des RJWG. befaßt; hier waren die außer 
Kraft getretenen umfangreichen Ausführungsbestimmungen vom 18. Dezember 1900 
zum FEG. vom 2. Juli 1900 durch neue Vorschriften zu ersetzen. Den geschicht- 
lichen Wandel der Anschauungen möge folgende Gegenüberstellung der Leitsätze 
über Ziele und Mittel der FE. veranschaulichen: die Ausf.-Best. von 1900 gipfeln 
in dem Satz: „Bei der FE. ist das Hauptaugenmerk darauf zu richten, daß 
die Zöglinge, der Verwahrlosung entnommen, zu religiös-sittlichen Menschen er- 
zogen und zu brauchbaren Arbeitern, vorzugsweise für die Landwirtschaft 
ausgebildet werden.“ Jetzt heißt es dagegen (VI 16): „Ziel der FE. ist der an 
Leib und Seele gesunde, von Gemeinsinn erfüllte, tüchtige Mensch. Das Ziel ist 
noch nicht gesichert, wenn der Jugendliche unter äußerem Zwange Fleiß und Wohl- 
verhalten betätigt. Nachhaltiger Erfolg ist nur dann zu erhoffen, wenn es gelingt, 
den Jugendlichen auch innerlich zu festigen, seinen Willen auf das Gute zu lenken 
und ihn zur Selbsterziehung anzuleiten. Diese schwierige Aufgabe setzt Erzieher 
voraus, die mit der erforderlichen Seelenkunde und Erfahrung warme Liebe und un 
ermüdliche Geduld verbinden. Erleichtert wird sie, wo Erzieher und Zöglinge in der 
Religion Erhebung des Gemütes und sittliche Stärkung zu finden wissen. Da die 
Verwahrlosung häufig auf Arbeitsunlust beruht, ist die Erziehung zur Arbeit, besonders 
bei den Schulentlassenen, wichtig. Die Erfahrung hat gezeigt, daB gelernte Arbeiter 
weniger leicht arbeitslos werden als ungelernte. Außerdem ist gerade die Handwerks- 
lehre ein ausgezeichnetes Erziehungsmittel. Es ist deshalb die Erlernung eines Berufes 
durch die Minderjährigen tunlichst zu fördern.“ Francke (Berlin). 

Erlaß vom 15. Mai 1924, betr. Anträge auf Befreiung von der Durehführung der 
Vorsehriften des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt — III F 1127, I M —. Volkswohl- 
fahrt Jg. 5, Nr. 11, S. 223—224. 1924. 

Der Erlaß des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt überträgt den Regierungs- 
präsidenten und für Berlin dem Oberpräsidenten die nach Art.8 EGRJWG. in der 
Fassung der Verordnung vom 14. II. 1924 der obersten Landesbehörde erteilten Er- 


u TO = 


mächtigungen hinsichtlich 1. der Durchführung der Jugendgerichtshilfe; 2. der Herab- 
setzung der Altersgrenze bei der Pflegekinderaufsicht; 3. der Befreiung von der Durch- 
führung der Bestimmungen über die gesetzliche Amtsvormundschaft. Die bezeich- 
neten Dienststellen haben die Ermächtigungen nach ausführlichen, gleichzeitig mit- 
geteilten Richtlinien auszuüben und in zweifelhaften Fällen dem Minister zu berichten. 
Aus den Richtlinien ist im einzelnen hervorzuheben: Von der Durchführung der 
Jugendgerichtshilfe kann ein Jugendamt nur dann befreit werden, wenn andere ge- 
eignete und bewährte Einrichtungen oder Stellen vorhanden sind, die die Aufgaben 
der Jugendgerichtshilfe übernehmen oder weiterführen können, und wenn auch im 
Falle der Befreiung die Durchführung des JGG. gewährleistet ist; eine Äußerung 
des zuständigen Jugendgerichts über diese Frage ist dem Befreiungsantrag beizu- 
fügen. Das Schutzalter für die Pflegekinderaufsicht kann nicht unter die bisher auf 
Grund örtlicher Regelung vorgeschriebene Altersgrenze und keinesfalls unter das 
vollendete 6. Lebensjahr herabgesetzt werden. Von der Durchführung der gesetzlichen 
Amtsvormundschaft können nur Landkreise befreit werden, soweit in ihnen eine 
amtliche Berufsvormundschaft bisher nicht bestanden hat. Die Befreiung kann er- 
folgen entweder wegen Bewährung der Einzelvormundschaft, worüber eine Äußerung 
des zuständigen Vormundschaftsgerichts beizubringen ist, oder wegen erheblicher 
finanzieller Mehrbelastung des Landkreises. Francke (Berlin). 

Erlaß vom 17. Mai 1924, betr. Richtlinien für den Erlaß von Anordnungen auf 
Grund der $8 22, 24, 25 und 26 des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt — III F 1150, 
IM —. Volkswohlfahrt Jg. 5, Nr. 11, S. 224—226. 1924. 

Der preußische Minister für Volkswohlfahrt hat die Befugnisse zur Regelung der 
Pflegekinderaufsicht, die in $$ 22, 24—26 RJWG. ursprünglich den Landesjugend- 
ämtern zugewiesen waren, jedoch in Preußen auf Grund von $ 77 RJWG. in der Fassung 
der Verordnung vom 14. Februar 1924, $§ 12, Abs. 2, 34 AG. dem Minister zustehen, 
durch die Ausführungsanweisung vom 29. März 1924 den Regierungspräsidenten und 
für Berlin dem Oberpräsidenten übertragen. Der vorliegende Erlaß gibt den nach- 
geordneten Stellen ausführliche Richtlinien für die Ausübung ihrer Befugnisse. Zwei 
Richtpunkte sind an die Spitze gestellt: 1. Ausgleich zwischen dem Schutzbedürfnis 
der Pflegekinder und dem Interesse der Pflegepersonen an einer Begrenzung des Ein- 
dringens in ihre persönlichen Verhältnisse und 2. Sorge für das Vorhandensein einer 
genügenden Anzahl sozialpflegerisch vorgebildeter Kräfte. Für die Erteilung der 
Erlaubnis zur Aufnahme eines Pflegekindes sind Mindestforderungen in gesundheit- 
licher, sittlicher und wirtschaftlicher Beziehung hinsichtlich der Wohnung, der Pflege- 
personen und des Kindes aufzustellen. Befreiungen von der Aufsicht sollen in der 
Regel erst auf Grund einer zweijährigen Bewährung der Pflegestelle für das Pflegekind 
ausgesprochen werden. Francke (Berlin). 

Maier, Hans: Der Entwurf eines Verwahrungsgesetzes. Monatsschr. f. Kriminal- 
psychol. u. Strafrechtsereform Jg. 14, H. 8/12, S. 224—230. 1924. 

Der Entwurf bringt das Ergebnis der im Sommer 1922 stattgefundenen Tagung 
eines Fachausschusses des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 
sowie einer Nov. 1922 im Reichstag abgehaltenen Tagung. $ 1 spricht den Zweck aus 
„Bewahrung vor körperlicher oder sittlicher Verwahrlosung‘. Voraussetzung ist, 
daß die betreffenden Personen nach $6, Z.1 oder Z. 3 BGB entmündigt sind. Der 
Sinn des Gesetzes erfordert allerdings eine Auslegung dieses Paragraphens, nach der 
unter ‚Angelegenheiten‘ nicht bloß die Ordnung des Vermögens, sondern auch alle 
persönlichen Dinge, wie Wahrung von Anstand und Würde verstanden werden. In 
erster Linie handelt es sich um ein Fürsorgegesetz, welches der zu verwahrenden Person, 
die durch ihr Verhalten ihre Unfähigkeit zur selbständigen Lebensführung erwiesen 
hat, die Menschenwürde sichern und wenn möglich, ihr den Weg zu einer geordneten 
Lebensführung bereiten soll. Der Schutz der Öffentlichkeit vor den Folgen des 
asozielen Verhaltens ist nur mittelbarer Zweck. In den Kosten sieht Verf. keinen 


ur Jo ae 


Hinderungsgrund, da es sich doch um keine neue Belastung, sondern im wesentlichen 
bloß um eine Umschichtung handelt; wobei noch durch Zuführung der zu Verwahrenden 
zu geregelter Arbeitstätigkeit der Gesamtwirtschaft ein direkter Gewinn erwächst. 


Gregor (Flehingen). 
Erzieher, Fürsorger, Ausbildungstragen: 

© Lämel, Carl: Der Gemeinde- und Fürsorgearzt. Eine Einführung in den Dienst. 
Berlin w Wien: Urban & Schwarzenberg 1924. VIII, 139 S. G.-M. 3.—. 

Verf., Stadt- und Fürsorgearzt in dem niederösterreichischen Städtchen Bern- 
dorf, bekannt durch die A. Kruppschen Fabriken, gibt in dem Büchlein einen ge- 
ordneten Überblick über sein Arbeitsfeld. Mit Recht hofft er dem Anfänger und Neu- 
ling damit eine praktische Anweisung gegeben zu haben. In Österreich sind be- 
kanntlich den Gemeindeärzten auch alle die Aufgaben übertragen, .die in Deutschland 
noch in Händen der staatlichen Kreisärzte liegen (Sanitätspolizei; Straßen-, Wasser-, 
Lebensmittelhygiene usw.; Bestattungswesen;; Viehmärkte u. a. m.). Der österreichische 
Gemeindearzt vereint also, nachdem in steigendem Umfange auch sozialhygienische 
Aufgaben (Säuglings-, Schulkinderfürsorge usw.) von ihm übernommen werden mußten, 
tatsächlich in seinem Amte alle Zweige des öffentlichen Gesundheitswesens. Ab- 
gesehen von dieser ja auch in Deutschland erstrebten Vereinigung der beiden Zweige 
des öffentlichen Gesundheitswesens, sind grundsätzliche Unterschiede zwischen Öster- 
reich und Deutschland nicht vorhanden. Bemerkenswert erscheint im einzelnen, daß 
in Österreich bereits sämtliche Krankenkassen die Familienversicherung ein- 
geführt haben. Tugendreich (Berlin). 

Stoltenberg, L.: Aktive oder passive Schularzttätigkeit. Med. revue Jg. 41, Nr. 6, 
S. 238—248. 1924. (Norwegisch.) 

Nach Stoltenberg soll die Schularzttätigkeit so aktiv als möglich sein. Sie soll 
unter anderem in Betracht ziehen den Bau der Schulen, die Heizung, Ventilation, Be- 
leuchtung, Größe der Klassenzimmer, die Art der Lüftung, die Bänke, Tische, die 
Tuberkulosebekämpfung und Verhütung, die Refraktionsanomalien, die Gymnastik 
und orthopädische Maßnahme! Die Untersuchung der neu Aufgenommenen kann nicht 
gründlich genug sein und soll die erblichen und häuslichen Verhältnisse mit berück- 
sichtigen und auf einem Gesundheitsbogen fixiert und von Klasse zu Klasse dem Kinde 
folgen. Gehör, Sehkraft sind dabei im Auge zu halten. Periodische Messungen der 
Körperlänge und des Gewichtes sind unbedingt nötig und schließlich in Tabellen und 
Kurven zu verwerten. Der Index von Rohrer für Höhe und Gewicht wird besonders 
empfohlen. Die Behandlung der Schulkinder soll der Schularzt nicht übernehmen, aber 
Berichte nach Hause senden. Die Fragen der Ferienkolonien, Hilfsschulen, Spezial- 
klassen, Schulbücher, Schulbespeisung sind weitere Gebiete für den Schularzt. 

S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 

Hepp, J.: Schaffung eines heilpädagogischen Seminars in der Schweiz. Hilfsschule 
Jg. 17, H.1, S.11—13. 1924. 

Nach einem Rückblick über die Veranstaltungen zur Sonderausbildung von Lehr- 
kräften an heilpädagogischen Schulen und Anstalten, in der Schweiz erörtert der Verf. 
die Notwendigkeit und Möglichkeit eines heilpädagogischen Seminars an Stelle kurz- 
fristiger Ausbildungskurse. Der skizzierte Arbeitsplan des in Zürich erstehenden 
Seminars läßt erkennen, daß auf eine gründliche und zeitgemäße heilpädagogische Aus- 
bildung Wert gelegt wird. W. Raatz (Charlottenburg). 


Liefmann, E.: Der Arzt als Lehrer — ein Beitrag zur hygienischen Volksbelehrusg. 
Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schulgesundheitspfl. Jg. 37, Nr. 3, S. 81—85. 1924. 

Liefmann, Freiburg ı. B., baut seine früheren Vorschläge (Dtsch. med. Wochen- 
schr. 1923, Nr. 24, S. 793) weiter aus. Der Schularzt soll den Lehrer in der Gesundheits- 
pflege nicht ersetzen, sondern ergänzen. Der Unterricht in der Menschenkunde (Anatomie. 
Physiologie) verbleibe dem Lehrer wie bisher, nur die eigentliche sozialhygienische 


= HN 


Belehrung und der Unterricht in der persönlichen Gesundheitspflege auf der Oberstufe 
der höheren Schulen und auf den Fortbildungs-, Handels- und Gewerbeschulen gehört 
in die Hand des Schularztes, allerdings erst, wenn dieser sich die erforderliche Unter- 
richtstechnik (durch Hospitieren, Ergänzungsstudium, durch dreimonatigen Besuch 
einer sozialen Akademie) angeeignet und eine besondere Venia legendi (Unterrichts- 
erlaubnis) erworben hat. Der Schularzt sollte wie in Ungarn Mitglied der Lehrer- 
konferenz, das Schularztwesen in Deutschland auf eine gesetzliche Grundlage gestellt 
und allgemein in Stadt und Land geregelt, zur Durchsetzung hygienischer Volksfragen 
sollten Ärzte in die Parlamente gewählt werden. Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 

Foote, John A.: What should a physieian know of the psyehology of childhood? 
(Was muß der Arzt von der Psychologie des Kindesalters wissen?) Internat. clin. 
Bd. 4, Ser. 33, S. 129—133. 1923. 

In der richtigen Erkenntnis, daß ein genaues Eindringen in die kindliche Psyche 
für die Beurteilung abnormer Kinder und für die Unterweisung der Eltern in der rich- 
tigen Erziehung derselben unerläßlich ist, hat man in verschiedenen Städten der Ver- 
einigten Staaten, wie Minneapolis, Philadelphia, Boston, New Haven, besondere Für- 
sorgestellen für geistig abnorme Kinder errichtet, die außer als Beratungsstellen für 
die Eltern in hohem Maße dem Unterricht von Studierenden und Ärzten dienen. 
Auch im Interesse des Staates sind solche Einrichtungen zu begrüßen, da durch recht- 
zeitiges Erkennen der psychischen Abweichungen und eine richtige Erziehung unter 
Mitwirkung des Arztes viele später auftretende ernsthafte Schäden verhindert und ein 
Anwachsen der Zahl minderwertiger Staatsbürger vermieden werden kann. 

B. Harms (Berlin). 

Lapie, Paul: Psychologie et pédagogie. (Psychologie und Pädagogik.) Journ. de 
psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 1—3. 1924. 

Lapie wünscht eine innigere Arbeitsgemeinschaft zwischen Psychologie und 
Pädagogik. Der Pädagoge habe die psychischen Gesetzmäßigkeiten zu kennen und 
an methodischen Untersuchungen teilzunehmen. Die Lösung der Fragen, die sich 
mit der Gestaltung des Lernplanes befassen, kann nur durch fachpsychologische Er- 
fahrungen beantwortet werden. Nicht der Laie darf über pädagogische Maßnahmen 
entscheiden; letztere dürfen nur auf wissenschaftlich-psychologische Ergebnisse fun- 
diert sein. von Kuenburg (München). 

Haythorn, Samuel R.: The problem of preventive medicine in practice and in 
medical edueation. (Das Pıoblem der vorbeugenden Heilkunde in der Praxis und der 
ärztlichen Ausbildung.) Journ. of the Americ. med. assoc. Bd. 80, Nr. 13, S. 885 bis 
890. 1923. 

Es gibt in den Vereinigten Staaten 7243 Beratungsstellen, die zum Teil auch 
ärztlich behandeln; rund 4000 sind an Fabriken usw. angeschlossen ; 8 000 000 Patienten 
(Gesamtbevölkerung 100 000 000) wurden behandelt. Nach den Arbeitsgebieten gibt 
es außer den auch bei uns eingeführten noch Beratungsstellen für Diagnostik. Neu 
aufgetauchte Behandlungsstellen, die gegen Krankheit bei ihr Versichterte behandeln, 
werden als unberechtigt und im Erfolg zweifelhaft beurteilt. In der Praxis läßt die 
Zusammenarbeit mit den praktischen Ärzten aus ähnlichen Gründen wie bei uns zu 
wünschen übrig. Man versucht durch Aufklärung, Kurse für Ärzte und durch Ver- 
tiefung im Studium Wandel zu schaffen. Es gibt Lehrinstitute, die nach besonderem 
4—5jähr. Studium den Doktorgrad für öffentliche Gesundheitspflege verleihen; für 
die verstärkte Belehrung der Medizinstudierenden hat sich keine bestimmte Form 
Anerkennung verschafft; Vertiefung und überall Einstellung auf öffentliche Gesund- 
heitspflege und vorbeugende Heilfürsorge in allen Studienfächern wird in erster Linie 
gefordert, dazu noch ein zusammenfassender Kurs des Spezialfachs. Klare Arbeit. 

The schocl of hygiene. (Die Schule für Hygiene.) Brit. med. journal Nr. 3279, 
8. 825. 1923. 

Einführungsbericht bei Gelegenheit der Gründung einer großen Unterrichts- und 


— 78 — 


Forschungsanstalt für Hygiene und vorbeugender Gesundheitsfürsorge in London, 
verbunden mit einem großen hygienischen Museum. Nicht der Inhalt an sich hat 
Bedeutung, sondern die hohe Wertschätzung der neuen Disziplin, die aus der Wärme 
des Berichts spricht. Mainzer (Nürnberg). 

© Die Hochschulbildung der Lehrer in Sachsen. Pläne und erste Erfahrungen. 
Leipzig: Dürrsche Buchhandlung 1923. IV, 42 S. G.-M. —.75. 

Dieser Plan der neuen Lehrerbildung, den der Lehrerbildungsausschuß des säch- 
sischen Lehrervereins in Dresden herausgibt und der an der Technischen Hochschule 
in Dresden seit Ostern 1923 durch R. Seyfert realisiert wird — wesentlich aber doch 
mehr „Plan“ als „Erfahrung‘‘ — schickt einen Abschnitt über die neue Volksschule 
voraus, die auf den Grundgedanken größerer Berücksichtigung des körperlichen Zu- 
standes des Kindes, Gemeinschaftserziehung, Arbeitsschule und Gesamtunterricht 
beruht. Die Lehrerausbildung wird dann geteilt an Universität (allgemeine berufliche 
Ausbildung) und pädagogisches Institut (spezielle Einführung in den Beruf), eine 
Teilung, die nur als vorläufig betrachtet wird, bis in einer künftigen pädagogischen 
Fakultät das pädagogische Institut mit seiner Schule und den von ihr ausgehenden 
Fragestellungen das Zentrum der Ausbildung abgeben wird. Die Schule des päda- 
gogischen Instituts soll nicht ,„Übungsschule“ sein, sondern, wie sehr richtig formuliert 
wird, „die Anschauungs- und Erlebnisgrundlage für das gesamte Berufsstudium“ 
bilden. Der Studienaufbau für die Universitätsausbildung mit „einer dem Zweck 
angepaßten Auswahl von Kapiteln aus den verschiedenen Wissenschaften“ zeigt leider 
wieder den peinlich dilettantischen Zug, den solche von den Lehrern aufgestellten 
Studienpläne fast immer haben. Hier ist die Forderung gar nichts, die Leistung alles. 
Bei diesen Forderungen, Systematisierungen, Behauptungen, was die Wissenschaft „‚darf“ 
und ‚nicht darf‘, „muß“ und ‚soll‘, wird der Hochschullehrer den Kopf schütteln. 
Auf diese Weise überwindet der Lehrer seine Halbbildung nicht. Wesentlich besser, 
weil aus wirklicher Sachkenntnis stammend, erscheint der Plan des pädagogischen 
Instituts, den man sehr beachten muß. Charakteristisch für die Schwierigkeit, die in 
der Universitätsausbildung des Lehrers liegt, ist aber doch, daß hier selbst von den 
Lehrern des Instituts gesagt wird: die Forderung der wissenschaftlichen Fakultas 
für ihr Fach als Voraussetzung für die Erteilung des Unterrichts in der Methode des 
eigenen Lehrfachs sei sachlich nicht berechtigt! Eine stärkere Waffe wird man den 
Gegnern der Universitätsausbildung der Lehrer kaum in die Hand geben können als 
die, daß ihre Hauptvertreter selbst eine wissenschaftlich-fachliche Ausbildung sogar 
für die Lehrer der Methodik nicht für nötig halten. Nohl (Göttingen). 

© Die Bestimmungen für die Fortbildung der Lehrer und Lehrerinnen in Preußen. 
H. 1. Die zweite Lehrerprüfung. Die Arbeitsgemeinschaften. Das Universitätsstudium. 
Nach amtl. Quellen zusammengest. v. G. Menzel. Breslau: Ferdinand Hirt 1924. 35 S. 
G.-M. 0,70. 

© Die Bestimmungen für die Fortbildung der Lehrer und Lehrerinnen in Preußen. 
H.2. Prüfung für Mittel- und Hilfsschullehrer, für Lehrer an Blinden- und Taub- 
stummenanstalten. Nach amtl. Quellen zusammengest. v. G. Menzel. Breslau: Ferdinand 
Hirt 1924. 45 S. G.-M. 1.—. 

Die Hefte geben eine Zusammenstellung der maßgebenden Ministerialerlasse, für 
deren Sorgfältigkeit der Name des Herausgebers, der Ministerialrat im Unterrichts- 
ministerium ist, bürgt. In Heft 1 vermisse ich nur den Erlaß U I 1486 vom 11. Juli 
1921, der den $ 2 der „Verordnung über die Zulassung von Volksschullehrern zum 
Studium an den Preußischen Universitäten“ vom 19. IX. 1919 dahin interpretiert, 
daß die Fakultäten durch ihn „ermächtigt“ werden, Lehrer und Lehrerinnen unter den 
angeführten Bedingungen zur Promotion zuzulassen, daß es aber „in ihrem Ermessen 
steht, in welchem Umfang sie von dieser Ermächtigung Gebrauch machen“. Bei einer 
neuen Auflage wäre es nützlich, diesen Erlaß mitaufzunehmen, da er manche falsche 
Hoffnung und unnütze Schreiberei erspart. Nohl (Göttingen). 





== 90: 


Beerensson, Adele: Zum Ausbildungsproblem männlicher Kräfte für die Wohl- 
fahrtspflege. Soz. Prax. u. Arch. f. Volkswohlfahrt Jg. 83, Nr. 10, S. 199—201. 1924. 

Die Literatur behandelt eigentlich immer nur die Fragen der Fortbildung und 
Nachschulung der männlichen Kräfte in der Wohlfahrtspflege, während die Frage 
der Ausbildung der Männer niemals von Grund aus erörtert wird. Dem entspricht, 
daß sich in der praktischen Fürsorge nur ein ganz geringer Prozentsatz Männer und 
meist ohne jede Vorbildung befindet. Den etwa 40 Wohlfahrtsschulen für Frauen 
steht keine für Männer gegenüber, denn die Diakonenanstalten und Caritasschulen 
erfassen nur einen beschränkten Kreis und bilden nur für ein begrenztes Arbeitsgebiet 
aus. Eine systematische Ausbildung ist hier dringend notwendig, die der Ausbildung 
der weiblichen Kräfte gleichwertig ist, Die Einrichtung besonderer Ausbildungs- 
stätten erscheint der Verf. zur Zeit aus Sparsamkeitsgründen nicht zu befürworten 
und überhaupt kaum durchführbar. Es wären also vorhandene Einrichtungen zu be- 
nutzen. In Frage dafür kämen einerseits die konfessionellen Anstalten, die auf ihren 
Lehrplan zu prüfen und evtl. „anzuerkennen“ seien wie die „sozialen Frauenschulen“. 
Andererseits — und das ist der Nerv des Aufsatzes — müßten diese sozialen Frauen- 
schulen in „gemischte Wohlfahrtsschulen‘ umgewandelt werden. Diese Schulen sind 
zwar unter einer bestimmten Idee der Frauenbildung entstanden, und bei solcher Um- 
wandlung würde ihr Charakter als einer für die Frau und ihre Eigenart geschaffenen 
Bildungsstätte verlorengehen. Aber die Verf. meint, daß sich auch bei solcher Um- 
wandlung in eine gemischte Schule ein Teil von den ursprünglichen Gedanken ver- 
wirklichen läßt. Die Gewöhnung an die männliche Arbeitsgemeinschaft in der Schule 
würde der künftigen Zusammenarbeit günstig sein, die Geschlechter würden das gleiche 
Berufsethos entwickeln, und die Gemeinsamkeit der Ausbildung würde auch eine Berei- 
cherung für Lernende und Lehrer bringen. Wo man Versuche nach dieser Richtung ge- 
macht bat, waren die Ergebnisse günstig. Schließlich werden nach der Meinung der Verf. 
die Männer, die sich diesen sozialen Berufen zuwenden, immer nur einen kleinen Prozent- 
satz der gesamten Schülerschaft bilden. Sie verweist auf das amerikanische Buch 
Education and training for social work von James H. Tufts, New York, Russel Sage 
Foundation 1923, nach dem in diesem Lande, in dem die Männer seit Jahren viel stärker 
an sozialer Arbeit beteiligt sind als in Deutschland, in den Ausbildungsanstalten auf 
10 Frauen nur 1 Mann kommt. — Bei genereller Aufnahme von Männern in die sozialen 
Frauenschulen wäre die Prüfungsordnung zu revidieren, insbesondere müßten die Be- 
dingungen, die den Eintritt in eine solche Schule regeln, für die Männer in vielen Teilen 
anders aussehen. Nohl (Göttingen). 

Ausbildung von männliehen Kräften für die Wohlfahrtspflege. Nachrichtendienst 
d. dtsch. Ver. f. öffentl. u. priv. Fürs. Jg. 1924, Nr. 45, S. 11—12. 1924. 

Ergebnis einer Konferenz über diese Ausbildungsfrage, die das preußische Wohl- 
fahrtsministerium am 11. Januar 1924 einberufen hatte. Die Notwendigkeit einer 
Bildungsmöglichkeit für männliche Kräfte, die den bestehenden Einrichtungen und 
Vorschriften für die Ausbildung weiblicher Berufsarbeiter entspricht, wurde allgemein 
anerkannt. Die Aufnahme männlicher Personen in die sozialen Frauenschulen sei nur 
vorübergehend als Notbehelf möglich, ebenso genüge eine einfache Übernahme von 
Methode und Unterrichtsplan der Frauenschulen auf die männliche Ausbildungsstätte 
nicht. Zur weiteren Klärung wurde eine Kommission gewählt, die dem Ministerium 
Vorschläge machen soll. Nohl (Göttingen). 

Programme d’enseignement des écoles d’infirmitres-visiteuses. (Ausbildungsvor- 
schriften für Krankenschwesterschulen.) Rev. de phtisiol. Jg. 5, Nr. 3, S. 183—206. 1924. 

Das Nationalkomitee für die Bekämpfung der Tuberkulose hat neuerdings in 
Paris (250 Boulevard Raspail) eine Schule eingerichtet, die zur Ausbildung solcher 
Krankenschwestern dient, die sich dem Dienst seiner Ziele widmen möchten. Der 
Lehrgang umfaßt 2 Jahre. Das 1. Jahr soll nur die allgemeine Grundlage für die Spezial- 
ausbildung des 2. Jahres sein und wird darum für alle diejenigen erlassen, welche schon 


— 8&0 — 


anderweitig Kenntnisse in der allgemeinen Krankenpflege erworben haben. Die 
Schülerinnen müssen praktisch vor allem die Abteilung für innere Medizin (5 Monate), 
die chirurgische Abteilung (3 Monate), die Entbindungsanstalt (1 Monat) und die Sta- 
tion für ansteckende Krankheiten (1 Monat) kennenlernen. Im theoretischen Unter- 
richt wird von einer geprüften Lehrerin die Pflege der verschiedenen Kranken ein- 
gehend behandelt. Der Eintritt in die engere Berufsvorbereitung des 2. Jahres wird 
abhängig gemacht von zwei Prüfungen, von denen die erste sofort und die zweite 
nach 2 Monaten erfolgt, weiter muß ein ärztliches Zeugnis beigebracht werden. Als 
Altersgrenzen gelten 21 einer- und 40 Jahre andererseits. Praktischer und theoretischer 
Unterricht gehen wieder Hand in Hand. 2 Nachmittage gehören dem theoretischen 
Unterricht, sämtliche Vormittage und die übrigen Nachmittage der praktischen Unter- 
weisung. Die Schülerinnen sind 5 Monate in der Abteilung für Tuberkulosebekämpfung 
(1 Monat im Dienst der Kranken selbst, 4 Monate in den Filialen), sie müssen an allen 
Arbeiten teilnehmen; in der Filiale müssen sie selbständig vorgehen lernen, indem 
sie bei den Familienbesuchen auf die geeignetste Weise zu helfen suchen. 4 Monate 
gehören der Kinderfürsorge im umfassendsten Sinne des Wortes, im letzten Monat 
beschäftigt man sich mit Hautkrankheiten. Im theoretischen Unterricht wird nicht 
nur das in der Praxis Gesehene besprochen (allgemeine und besondere Kinderhygiene, 
Verdauung, Alkohol, ansteckende Krankheiten, speziale Unterweisung), es werden 
außerdem noch wesentliche Richtlinien gegeben für die spätere Tätigkeit. Das Schluß- 
zeugnis berechtigt zur Tätigkeit in einer Filiale des Office public d’hygiene sociale, 
entweder als Sanatoriumsschwester oder als Schulschwester; letztere dürfte unserer 
Kreisfürsorgerin entsprechen. Maria Tippelmann (Göttingen). 

Hackel, Bertha: Erfahrungen bei ländlichen Wanderkursen. Zeitschr. f. Kindersch., 
Familien- u. Berufsfürs. Jg. 15, Nr. 7/8, S. 137—138. 1923. 

Eine trotz ihrer Kürze ausgezeichnete Arbeit, die die von der Verf. gewünschte rege 
Aussprache nach sich ziehen sollte. Verf. erteilte 12—14jährigen Schulmädchen 
Oberösterreichs als Wanderrednerin Unterricht in Säuglings- und Kleinkinderpflege. 
Sie hat über die beste Methodik Erfahrungen gesammelt und gibt sehr beachtenswerte 
Hinweise über die Verschiedenartigkeit des Schülermaterials und über den verschie- 
denen Wert der einzelnen Methoden. So hat z. B. der Film nur wenig nachhaltig ge- 
wirkt. Die wichtigen Lehren, die der Film vermitteln sollte, waren schnell vergessen, 
die Erinnerung haftete an irgendwelchen Nebensächlichkeiten. Bei dem Schülerinnen- 
material macht es einen bedeutenden Unterschied für die einzuschlagende Lehrmethode, 
ob das Kind diesseits oder jenseits der Pubertät steht. Vor der Pubertät ist am besten 
ein möglichst anschaulicher methodischer Unterricht geeignet, für die anderen Mädchen 
empfiehlt sich, mehr das Gemüt aufzurufen, möglichst viel gefühlsbetonte Vorstellungen 
zu wecken. Die Stillungsfrage vor Schulmädchen, besonders katholischen zu behandeln, 
ist nicht leicht. Verf. schlägt vor, dies Thema mit Hilfe schöner Madonnenbilder 
(„Die stillende Mutter in der bildenden Kunst‘) zu behandeln. Die Arbeit der Verf. 
ist nicht sowohl ihrer Ratschläge wegen wertvoll — daneben kann und soll ja eine Aus- 
sprache einsetzen — als vielmehr deshalb, weil hier eine tiefer schürfende Überlegung 
über die Methodik volkstümlicher Gesundheitsbelehrung stattgefunden hat. Darüber 
liest man leider nur ganz selten etwas! Noch seltener etwas über die Erfolge der Be- 
lehrung und Aufklärung. Bei dem verhältnismäßig großen Aufwand an Kraft, Zeit. 
Geld, der gegenwärtig von der gesundheitlichen Volksbelehrung beansprucht wird, würde 
es Ref. sehr begrüßen, wenn ähnliche Erfahrungen und Beobachtungen, wie die der Verf. 
recht oft mitgeteilt würden. — G. Tugendreich (Berlin). 

Tagesgeschichte. 


Neue Schulräte. Ernann: wurden der Seminaroberlehrer Richard Keese aus 
Alfeld zum Schulrat in Schlüchtern, Regierungsbezirk Kassel, der Seminarstudienrat 
Richard Michelis aus Pr. Eylau zum Schulrat in Landsberg, Regierungsbezirk Königs 
berg und der Rektor Johannes Zahrt aus Hannover zum Schulrat in Rotenburg. 
Regierungsbezirk Stade. 


Referatenteil der Zeitschrift für Kinderforschung. 


30. Bd., H. 2 S. 81—176 


Normale Anatomie und Physiologie: 


Sherman, Mandel: Motor responses to sensory stimuli in infants. (Motorische 
Reaktionen auf sensorische Reize bei Säuglingen.) (Chicago neurol. soc., 17. V. 1924). 
Arch. of neurol. a. psychiatry Bd. 12, Nr. 2, S. 245—247. 1924. 


An 96 ausgetragenen Neugeborenen wurden unter genau denselben äußeren 
Bedingungen folgende Reflexe geprüft: 1. Der Pupillarreflex. Der Reflex fehlte noch 
13/; Stunden nach der Geburt; nach 7,7 Stunden war er langsam und erst mit 331/, 
Stunden war er bei allen Kindern gut, d. h. prompt. 2. Der Plantarreflex. In gegen 60% 
der Fälle erfolgte eine Beugung, in über 40% die Streckung der Großzehe. Wurde der 
Reiz wiederholt, so folgte der Streckung in 75% sofort eine Beugung. In rund 90% 
aller Fälle bestand demnach die Reaktion in der Beugung und nicht in der Streckung. 
3. Reaktion auf Nadelstich. Die Anzahl der zu setzenden Reize bis zum Eintritt der 
Reaktion nahm mit der Zahl der Stunden nach der Geburt ab. 76 Stunden nach der 
Geburt reagierten alle Kinder auf einen Stich. Die Gegend des Gesichts ist am 
frühesten und stärksten schmerzempfindlich, die der Beine am spätesten und schwäch- 
sten. 4. Koordination der Augenbewegungen. Das Neugeborene ist wohl fähig, ein 
Licht zu fixieren, aber die Koordinationsmöglichkeit ist gering. Erst nach 34 Stunden 
ist die Koordination einigermaßen möglich. 5. Koordination der Arme. Kein Kind 
unter 21 Stunden führte eine koordinierte Armbewegung aus. Zwischen 21 und 
41 Stunden wurden bei allen Säuglingen koordinierte Bewegungen beobachtet. Mit 
zunehmendem Alter nehmen die koordinierten Zweckbewegungen neben den un- 
koordinierten dauernd an. Vıllinger (Tübingen). 


Garrahan, Juan P., und S. I. Bettinotti: Über den Ernährungszustand in den 
Schulen. Arch. latino-americ. de pediatr. Bd. 18, Nr.3, S. 129—137. 1924. (Spanisch.) 


Die Verff. haben in Buenos Aires über 2000 Schulkinder im Alter von 6—14 Jahren 
in bezug auf Größe, Gewicht und Brust- und Kopfumfang untersucht und das Ergebnis 
in ausführlichen Tabellen niedergelegt. Sie berechneten aus den gewonnenen Zahlen 
den Koeffizienten nach Pignet und Mayet: Von der Größe in Zentimetern wird die 
Summe aus dem Gewicht in Kilo und dem Brustumfang in Zentimetern abgezogen. 
Desgleichen berechneten sie den Index nach Pirquet (,Pelidisi“). Die ‚‚Pelidisi‘ 
schwankt normalerweise zwischen 0,94 und 1. Nach den Verff. betrug die ‚Pelidisi‘ 
bei 9—12jährigen Knaben 94, bei den Mädchen 92,5; bei 13—15jährigen Knaben 96, 
bei den Mädchen 94. Die Verff. verglichen bei denselben Kindern den Pirquetschen 
Index und den Pignetschen Koeffizienten mit der Verhältniszahl aus Gewicht und 
Größe und fanden, daß der Pignetsche Koeffizient besser mit dieser übereinstimmt. 
Um ein bestimmtes Urteil über den Wert dieser Indices zu fällen, halten die Verff. 
weitere Untersuchungen für erforderlich. Vorläufig genügt in der Praxis zur Feststel- 
lung des Ernährungszustandes die Berechnung des Verhältnisses zwischen Gewicht 
und Größe. Ganter (Wormditt). 


Bauer, Virginia, and Katharine Blunt: Effeet of a small breakfast on the energy 
metabolism of ehildren. (Wirkung eines kleinen Frühstücks auf den Kraftstoffwechsel 
von Kindern.) (Dep. of home econom., univ., Chicago.) Journ. of biol. chem. Bd. 59, 
Nr. 1, S. 77—82. 1924. 

Mehrfache Beobachtungen an 7 Kindern ergaben, daß 4 Stunden nach einem kleinen 
Frühstück der Sauerstoffverbrauch nur 0,6%, größer ist als morgens nüchtern vor dem Früh- 
stück. Wenn das Frühstück nicht mehr als 470 Calorien und 40 g Eiweiß enthält und mindestens 
4 Stunden seit den Frühstück verstrichen sind, so kann man dem Grundumsatz auch mittags, 
und zwar mit der gleichen Genauigkeit, bestimmen, wie morgens nüchtern. Aron (Breslau), 


Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ret. 6 


— 8&2 — 


Biologie, Konstitution, Rasse, Vererbung : 


@ Lederer, Riehard: Kinderheilkunde. (Konstitutionspathol. in d. med. Spezial- 
wiss. Hrsg. v. Julius Bauer. H. 1.) Berlin: Julius Springer 1924. VII, 160 S. 
G.-M. 6.90. 

Die vorliegende konstitutionspathologische Studie hat es sich zur Aufgabe gemacht, 
die Ergebnisse der Konstitutionslehre auf dem Gebiete der Kinderheilkunde zur Dar- 
stellung zu bringen. Diese Aufgabe scheint glänzend gelöst. Nach einem einleitenden 
Kapitel, das sich mit allgemeinen begrifflichen Fragen beschäftigt — mit dem Be- 
griff Konstitution wird nur das bezeichnet, was schon im Moment der Befruchtung 
anlagemäßig gegeben ist —, werden im 2. Kapitel die Beziehungen zwischen Kon- 
stitution und Wachstum entwickelt. Als Quellen des Wachstums und der Wachs- 
tumsstörungen sind unterschieden: der autochtone, in der Keimanlage begründete 
Wachstumstrieb, die Keimschädigung, die Tätigkeit einiger innersekretorischer Drüsen 
und äußere Faktoren. Im folgenden 3. Kapitel wird der Körperhabitus in seinen 
konstitutionellen Grundlagen untersucht. Hier ist den 4 Sigaudschen Typen (Typus 
respiratorius, digestivus, muscularis und cerebralis) ein größerer Abschnitt gewidmet. 
Es werden schöne Beispiele dieser Typen beim Säugling demonstriert in reiner und auch 
in gemischter Formen. Ferner wird die Vererbung bestimmter Habitusformen nach- 
gewiesen. Das letzte Kapitel befaßt sich mit der chemischen Zusammensetzung 
des Körpers, d.h. mit den auf konstitutioneller Basis beruhenden Abweichungen dieser 
chemischen Zusammensetzung. Auf diesem recht interessanten und komplizierten 
Gebiete erfahren wir manche wichtige Tatsache und manch neuen Gedanken. Mit 
besonderer Sorgfalt wird hier die exsudative Diathese, die Rachitis und die 
Spasmophilie behandelt. Ein kurzer Abschnitt über die Neuro- und Psychopathie 
in ihren Beziehungen zur Ernährung beschließt das Werk. In Anbetracht der flüssigen 
und außerordentlich übersichtlichen Darstellung ist das Buch dem Forscher und auch 
dem Praktiker auf dem Gebiete der Kinderheilkunde ganz besonders zu empfehlen. 

H. Hoffmann (Tübingen). 
© Kehrer, Ferdinand, und Ernst Kretschmer: Die Veranlagung zu seelischen Stô- 
rungen. (Monogr. a. d. Gesamtgeb. d. Neurol. u. Psychiatrie. Hrsg. v. O. Foerstr u. 
K. Wilmanns. H. 40.) Berlin: Julius Springer 1924. 206 S. u. 1. Taf. G.-M. 12.—. 


Der Stoff ist so geteilt, daß Kretsch mer die Veranlagung zur genuinen Epilepsie, 
Dementia praecox und zum manisch-depressiven Irresein behandelt hat. Der übrige 
spezielle Teil ist von Kehrer. Ebenso der allgemeine Teil, wo u. a. die von Klages 
gegebene Theorie des Aufbaues der Persönlichkeit herangezogen und das manisch- 
depressive Irresein als eine isolierte Erkrankung der Persönlichkeitsstruktur be- 
stimmt wird gegenüber den übrigen Prsychopathien, Zwangs- und Wahnkrankheiten 
und insbesondere der Schizophrenie, die vorwiegende Erkrankungen der Persönlichkeits- 
qualität sind. — Aus der Fülle des herangezogenen Materials und der daran ent- 
wickelten Problemstellungen sei an dieser Stelle noch das folgende referiert: Bei der 
genuinen Epilepsie war im allgemeinen der recessive, in vereinzelten Fällen aber der 
dominante Vererbungsmodus nachzuweisen. Daraus wäre evtl. auf das Vorhandensein 
mehrerer getrennter epileptischer Veranlagungstypen zu schließen. Der Alkoholismus 
der Eltern kommt nur als eine untergeordnete Mitursache für die Epilepsie der Nach- 
kommen in Frage. Die Epileptiker haben mit der Schizophreniegruppe gemeinsam 
das Hervortreten dysglandulärer Körperbaustigmen. — Bei den zykloiden und sch: 
zoiden Psychopathen wird nachdrücklich hingewiesen auf die „hereditäre Durch- 
mischung der Konstitutionskomponenten und ihre Wechselwirkung mit exogenen 
Faktoren“. Der schizoide und der entartungshysterische Konstitutionskreis haben 
eine Anzahl von Aufbauclementen gemeinsam. — Beim manisch-depressiven Irresein 
liegt eine höhere direkte Erblichkeit vor als bei der Dementia praecox, deren Erbganz 
wahrscheinlich recessiv ist — auch im Unterschied zu der „kontinuierlichen fast domi- 


u. DO 2 


nant aussehenden Forterbung des schizoid-psychopathischen Elements‘‘. — Sehr merk- 
würdig sind die Mitteilungen über den Verlauf „überkreuzter‘‘ Psychosen. Von 7 Fällen 
klinischer Schizophrenie mit pyknischem Körperbau zeigten 6 einen ausgesprochen 
periodischen Verlaufstypus. Die zirkuläre und schizophrene Erbanlage schließen ein- 
ander nicht aus. Eine Reihe von atypischen endogenen Psychosen sind sicherlich nichts 
anderes als ‚echte Mischpsychosen aus manisch-depressiven und schizophrenen Ele- 
menten“. Lipps (Göttingen). 

Claude, Henri, A. Borel et Gilbert Robin: La constitution schizofde. (Etude elinique 
et diagnostie différentiel.) (Die schizoide Konstitution; klinische und differential- 
diagnostische Betrachtungen.) Encéphale Jg. 19, Nr. 4, S. 209—216. 1924. 

Die französischen Autoren wenden sich gegen eine Überspannung des Begriffs 
Schizoidie. In recht vager Weise erklären sie, für sie sei diese „nicht eine seelische Ein- 
stellung‘‘ (attitude), sondern ein gewohnheitsmäßiger Zustand (état habituel), eine 
nicht sehr ‘zahlreiche Gruppe von Menschen umfassende „Konstitution“, wie die 
mythomanische, paranoische, psychasthenische u. a. Kehrer (Breslau)., 

Buseo, Juan: Neuropsychische Entwicklung des Kindes. Arch. latino-americ. 
de pediatria Bd. 18, Nr. 5/6, S. 315—316. 1924. (Spanisch.) 

Die neuropsychische Entwicklung steht in enger Beziehung zur Konstitution. 
Es gibt ein alternierendes und kompensierendes Gesetz zwischen der neuropsychischen 
Entwicklung und dem Wachstum. Kinder und Jugendliche, deren körperliche Ent- 
wicklung hinter der ihrer Altersgenossen zurückbleibt, zeigen auch eine geringere 
psychische Entwicklung. Die Mikrosplanchnischen weisen eine bessere intellektuelle 
Entwicklung auf. Die psychische Entwicklung des Kindes vollzieht sich intra- und 
extrauterin unter dem Einfluß unbewußter assoziativer Reflexe. Die Tätigkeit der 
niederen Zentren stellt die unterbewußte Erfahrung dar. Die Libido (Freud) läßt 
sich bei manchen Neurasthenischen nicht feststellen, ebenso ist sie nicht latent in den 
Träumen normaler Kinder nachzuweisen. Der sexuelle Einfluß auf die moralische 
und intellektuelle Entwicklung des Kindes wird durch andere wichtige Lebensvorgänge 
modifiziert, wie Ernährung und Wachstum. Die phylogenetischen Untersuchungen 
bestätigen das höhere Alter und die größere Wichtigkeit der Ernährung, die die conditio 
sine qua non für Wachstum, Entwicklung und Fortpflanzung ist. Der Instinkt des 
Menschen wandelt sich später zum Gefühl der Arbeitspflicht. Die Libido besteht 
weiter als impulsive Kraft oder sublimiert sich zu höheren Vorstellungsgebilden. 
Manche Kinder besitzen Anlagen, die latent bleiben können, wenn sie nicht durch 
günstige Umstände zur Entfaltung gebracht werden. Von 30—40 Jahre alten Vätern 
stammende Kinder zeigen eine bessere geistige Entwicklung als solche von älteren 
Vätern. Bei Blutsverwandtschaft der Eltern können die Kinder durchschnittlich 
oder höher begabt sein, oder sie können pathologisch disponiert sein. Bei eineiigen 
Zwillingen können Ähnlichkeiten oder große Unterschiede in psychischer Hinsicht 
bestehen. Ganter (Wormditt). 

Tredgold, A. F., Erie Pritehard, Robert Hutchison and W. A. Potts: Discussion 
on the prevention of mental defieeney. (Diskussion über die Prophylaxe geistiger 
Minderwertigkeit.) Brit. med. journ. Nr. 3321, S. 316—322. 1924. 

Tredgold: Da geistige Minderwertigkeit unheilbar ist, ist die Prophylaxe von 
größter Bedeutung. Wenn auch manche geistig Minderwertige Nachkommen geistig 
minderwertiger Eltern sind, so ist doch die prozentuale Zahl dieser Fälle verhältnis- 
mäßig klein. Man kann deshalb nicht hoffen, die Erzeugung Minderwertiger dadurch 
unmöglich zu machen, daß man Minderwertige verhindert, Nachkommen zu bekommen. 
Immerhin würde ihre Zahl dadurch etwas vermindert werden. Den gewünschten Zweck 
kann man durch Sterilisation oder Internierung erreichen. Letztere ist vorzuziehen. 
Viele geistig Minderwertige können ohnehin nicht in der Freiheit gelassen werden. 
Bei diesen ist die Sterilisation überflüssig. Bei den in Freiheit lebenden kann die 
Sterilisation, weil sie vor Nachkommenschaft schützt. zu einen: schrankenlosen Ge- 


6* 


— 84 — 


schlechtsverkehr und starker Verbreitung der Geschlechtskrankheiten führen. Ein 
anderes Mittel, um die Erzeugung von geistig Minderwertigen einzuschränken, ist der 
Kampf gegen alle Krankheiten und Gifte, die eine keimschädigende Wirkung haben. 
Eine Aufgabe der Geburtshilfe ist es, Geburtstraumen mit ihren schädlichen Wir- 
kungen auf das Gehirn zu verhindern. Gegen die entzündlichen Erkrankungen des 
Gehirns bei Kindern ist man zur Zeit noch ziemlich machtlos. — Pritchard: Auch 
Nährschäden, vor allem Vitaminmangel, wirken keimschädigend. Die Untersuchungen 
von Habertsma über Mongolismus bei Zwillingen sprechen dafür, daß auch dem 
Mongolismus eine Keimschädigung zugrunde liegt. — Hutchison: Geistige Minder- 
wertigkeit ist in den meisten Fällen eine ungünstige Variation der menschlichen Gattung. 
Vererbungsregeln lassen sich nicht aufstellen. Auch wenn man alle Minderwertigen 
an der Fortpflanzung hindert, so wird doch jede Generation von neuem ihre Quote 
Minderwertige hervorbringen, ebenso wie andererseits Leute von hervorragender Be- 
gabung. — Potts: In manchen Fällen ist die Annahme hereditärer Entstehung 
das Wahrscheinlichste. Man hat sogar manchmal den Eindruck, daß eine Vererbung 
nach den Mendelschen Regeln stattfindet. Keimschädigungen können durch Krank- 
heiten der Mutter während der Schwangerschaft stattfinden. Zur Verhütung von 
Geburtstraumen ist eine bessere Ausbildung der Studenten in Geburtshilfe nötig. 
Sehr häufig findet man, daß das erste Kind in einer Familie geistesschwach ist, während 
die folgenden gesund sind. Die erste Geburt ist für Mutter und Kind gefährlicher als 
die folgenden. 20°, der geistig Defekten sind Erstgeborene. Alle Redner geben der 
Internierung vor der Sterilisation den Vorzug. Campbell (Dresden). 

Peller, Sigismund: Das intrauterine Wachstum und soziale Einflüsse. (Allg. 
Krankenh., Wien.) Zeitschr. f. d. ges. Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutionslehre 
Bd. 10, H. 3, S. 307—320. 1924. 

Peller glaubt mit seinem Material statistisch nachgewiesen zu haben, daß die 
Kinder unehelicher Mütter nicht konstitutionell minderwertig sind, sondern durch 
ungünstige Umweltverhältnisse intrauterin geschädigt werden. Die Maße der Kinder 
aus unchelichen Verbindungen stellten sich besser bei der Gruppe unehelicher Mütter, 
welche die letzten Monate vor der Entbindung in der Klinik gepflegt worden sind 
(Hausschwangere). Dabei ergab sich u. a. die auffallende Erscheinung, daß ‚‚bei Besser- 
stellung der Schwangeren während der letzten Zeit vor der Entbindung der Rohrersche 
Index der Körperfülle“‘ (und der Geborenen) ‚steigt, während er bei Besserstellung 
der Graviden in den mittleren Schwangerschaftsmonaten sinkt“. Die ‚„beweisende” 
Tabelle dazu enthält leider (wie so manche andere) keine Angabe der mittleren Fehler 
der Zahlen, so daß der von Zange meister dagegen erhobene Zweifel ganz berechtigt sein 
dürfte. Auch sonst ist die Nachprüfung der Zuverlässigkeit durch unvollständige An- 
gaben erschwert; wo aber mittlere Fehler angegeben sind, hält sie Ref. aus eigenen 
Erfahrungen für unwahrscheinlich niedrig; es ist (Tabelle II) kaum möglich, bei beispiels- 
weise 318 Neugeborenen (!) Maße der Körperlänge von solcher Geschlossenheit zu er- 
halten, daß der mittlere Fehler nur 0,07 (bei 128 Kindern nur 0,11, bei 81 Kindern nur 
0,18 usw.) beträgt; bei den Messungen an Schulkindern (die viel zuverlässiger zu machen 
sind als bei Neugeborenen!) im Anthrop. Inst. München findet sich beispielsweise bei 
ca. 300 Kindern ein mittlerer Fehler von 0,35, bei 180 Kindern von 0,39, bei 126 Kinder! 
von 0,54 usw.! Bei den Gewichten der P.schen Statistik sind die mittleren Fehler über- 
haupt nur selten angegeben. Überdies muß der mittlere Fehler zur Prüfung der Brauch- 
barkeit errechneter Werte bekanntlich mit 3 vermehrt werden, wodurch manche vot 
den Unterschieden ohnedies unverwertbar werden. Dazu kommen noch zwei Eim 
wände: Folgte die Messung der Körperlänge dem in geburtshilflichen Kliniken ziem 
lich allgemein üblichen Verfahren, so ist sie schon aus technischen Gründen so gut we 
wertlos. Und: würden die errechneten Unterschiede tatsächlich bestehen, so ist damit 
zwar gesagt, daß die Kinder der unehelichen Hausschwangeren zwar günstigere Maß 
aufweisen als die der Nicht-Hausschwangeren, es ist aber noch lange nicht gesagt, daß 


u; 395. a 


diese Unterschiede auf Einflüsse der Pflege und Ernährung allein zurückgeführt werden 
können; denn es ist doch wohl zweifelsfrei die Gruppe der erblich ganz allgemein besser 
veranlagten unehelichen Mütter, welche die Klinik frühzeitig aufsucht, während die- 
jenigen, die es bis auf den letzten Augenblick ankommen lassen, wohl nicht nur die 
gleichgültigeren, sondern auch schlechter veranlagten Mütter sein dürften. — Mit solchen 
„Statistiken“ ist nach Ansicht des Ref. der Klärung der betr. Flagen nicht nur nicht 
genützt, sondern eher geschadet und man kann wohl das bekannte englische Sprich- 
wort von der Statistik darauf anwenden. Walter Scheidt (Hamburg). 


Pilez, Alexander: Die weiteren Lebensschieksale von Kindern, welche während des 
Bestehens einer mütterliehen Geistes- oder Nervenkrankheit geboren worden sind. 
I. Mitt. Jahrb. f. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 43, S. 103—112. 1924. 

Pilcz verfolgt die Schicksale von Kindern, deren Mütter zur Zeit der Geburt 
an Paralyse, Tabes, Kretinismus, Morbus Basedowii, Eklampsie litten. Bei der 
Paralyse ergab sich für das 1. Lebensjahr eine Mortalität von 51,5 —60,7%, während 
die gleiche Zahl bei normalen Müttern gleichen Milieus 28,58%, beträgt. Hinsichtlich 
der Eklampsie bestätigt P. die Ergebnisse von Reuss, nach denen eine Beeinträch- 
tigung des weiteren Gedeihens „nicht zu befürchten ist‘, wenn das Kind die ersten 
Tage überlebt. Die Mortalität ist nach P. für das 1. Lebensjahr hoch, mindestens 
40,19%. Gregor (Flehingen i. Baden). 

Bean, Robert Bennet: Die Morphologie und die Erkrankungen des Menschen. 
(Anatom. Laborat., Univ. v. Virginia, Charlottesville.) Zeitschr. f. d. ges. Anat., Abt. 2: 
Zeitschr. f. Konstitutionslehre Bd. 9, H. 5, S. 439—459. 1924. 

Der erste Teil der Arbeit enthält eine doch wohl etwas gewagte Parallelsetzung 
zwischen den antiken Temperamentstypen und den europäischen Rassetypen. Weiter- 
hin werden die Menschen dann in Epitheliopathen und Mesodermopathen eingeteilt, 
je nachdem ihre Morbidität mehr auf dem Gebiet des Ektoderms und Entoderms, 
oder auf dem Gebiet der mesodermalen Organe liegt. Der Epitheliopath ist unter der 
gewöhnlichen Größe, schwach, mit schwachen Knochen und Muskeln, sowie kleinen, 
aber sehr elastischen Arterien. Der Mesodermopath ist groß und schwer, mit großen 
Knochen und Muskeln, sowie großen, aber nicht sehr elastischen Arterien. Die Epithelio- 
pathen neigen stärker zu Lungen-, Darm-, Nerven- oder Gelenkerkrankungen, die 
Mesodermopathen mehr zu Erkrankungen der Herzens, der Nieren und der Blutgefäße. 

Kretschmer (Tübingen)., 

Koehmann, Rudolf: Bemerkungen zum Problem der Konstitution, insbesondere der 
neuropathisehen. Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 104,3. Folge: Bd. 54, H. 1/2, S. 79—86. 1924. 

Eine Häufung von Hinweisen auf die Abhängigkeit körperlich-nervöser Symptome 
bei Kindern von ihrer psychischen Konstitution und von Einflüssen der Familie und 
sonstigen Umwelt und ein nicht durchgeführter Versuch, die neuropathische von der 
psychopathischen Veranlagung abzugrenzen. Warnung vor körperlicher Behandlung 
psychisch begründeter Krankheitserscheinungen; Empfehlung der Psychotherapie 
insbesondere der Psychoanalyse, Aufforderung zur lückenlosen Verfolgung des gesund- 
heitlichen Lebenslaufes der Kinder bis ins erwachsene Alter als Material einer besser 
als bisher begründeten Erforschung der Einzelkonstitution und der Konstitutionstypen. 

Homburger (Heidelberg)., 

Bauer, Julius: Gibt es eine konstitutionelle Veranlagung zur Zeugung von Nach- 
kommen vorzugsweise eines Geschleehtes? (Allg. Poliklin., Wien.) Klin. Wochenschr. 
Jg. 3, Nr. 21, S. 928—931. 1924. 

Es sollte festgestellt werden, ob die gelegentlich beobachtete Häufung eines Geschlechtes 
in bestimmten Familien öfters vorkommt, als es der Wahrscheinlichkeit entspricht. Unter- 
sucht wurden 2348 Familien mit zusammen 12330 Kindern. Es ergab sich, daß die Häufung von 
Kindern desselben Geschlechtes in einer Familie nicht öfters vorkam, als es nach den Gesetzen 
des Zufalls zu erwarten war. Eine konstitutionelle Veranlagung zur Zeugung von Nach- 


kommen vorzugsweise eines Geschlechtes ließ sich also nicht nachweisen. In den Familien 
mit 6—8 Kindern war das Verhältnis von Knaben zu Mädchen deutlich niedriger, als es der 


— 8&& — 


Wahrscheinlichkeit entsprach. Verf. erklärt diese Erscheinung mit dem Wunsche vieler Fami- 
lien nach männlicher Nachkommenschaft. In knabenarmen Familien werde die Zeugung länger 
fortgesetzt als in knabenreichen. Infolgedessen hätten diese Familien mehr Kinder und ver- 
änderten das Geschlechtsverhältnis. A. Peiper (Berlin)., 


Plantenga, B. P. B.: Konstitution und Ernährungsfrage. (Säuglingskrankenh.. 
Haag.) Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 106, 3. Folge: Bd. 56, H. 2/3, S. 130—140. 1924. 

An Stelle der anerkannten Diathesen stellt Verf. die neuen Begriffe der konstitu- 
tionellen Harmonie und Disharmonie auf und gruppiert die letzteren nach ihrem 
Verhalten gegenüber einfachen Nahrungsmitteln; dabei sind die Reaktionsunterschiede 
abhängig von der Qualität oder der Quantität der einfachen Nahrungsmittel oder von 
ihrer Korrelation mit anderen gleichzeitig anwesenden Stoffen. Unter den typischen 
klinischen Bildern — mit übereinstimmender Familienanamnese — werden genauer 
beschrieben die disharmonische Reaktion auf Fett, im wesentlichen die exsudative 
Diathese, mit guter Gewichtszunahme, Trägheit, Ruhe, vor allem Ekzem, später 
Empfänglichkeit gegenüber Infektionen. Die konstitutionelle Disharmonie in bezug 
auf Eiweiß, deren Familienanamnese sehr mit der Diathese neurarthritique überein- 
stimmt, ist ausgezeichnet durch Akrocyanose, Neuropathie, Unruhe, Magendarm- 
störungen, ungenügende Gewichtszunahme, Ekzem. Die Kohlehydratdisharmonie 
zeigt in der Familienanamnese Neurasthenie, klinisch ungenügende Entwicklung, 
Unruhe, häufige Magendarmstörungen, die Salzdisharmonie Spasmophilie. 

Schlesinger (Frankfurt a. M.)., 

Pearson, Karl, and L. H. C. Tippett: On stability of the eephalie indiees within 
the race. (Über die Beständigkeit der Kopfindices innerhalb der Rasse.) Biometrica 
Bd. 16, Nr. 1/2, S. 118—138. 1924. 

Der bekannte Leiter des Galtoninstituts legt in dieser Arbeit interessante Er- 
gebnisse über das Verhalten des Längenbreitenindex und des Längenhöhenindex des 
Kopfes in verschiedenem Alter vor. Es zeigte sich, daß die Indices im Alter von mehr 
als 5 Jahren eine statistisch nachweisbare Änderung nicht mehr erfahren. Bei 313 
Schülern zwischen 5 und 20 Jahren aus akademischen Kreisen fand sich ein Korre- 
lationskoeffizient von + 0,020 -- 0,018 zwischen Alter und Längenbreitenindex und 
von + 0,008 + 0,014 zwischen Alter und Längenhöhenindex. Bei 2189 Schulmädchen 
waren die entsprechenden Zahlen — 0,060 + 0,014 und — 0,053 + 0,014. Die An- 
deutung einer negativen Korrelation bei den Mädchen könnte nach Ansicht des Verf. 
durch die größere Schwierigkeit einer genauen Messung der Kopflänge bei Mädchen 
(wegen des dichten Haares) entstanden sein. Der Längenbreitenindex bei den Knaben 
betrug im Mittel 78,9, bei den Mädchen 78,4. Ein anderes Material, 3377 männliche 
Individuen im Alter zwischen 5 und 80 Jahren, die noch unter Galton gemessen 
wurden, ergab einen Korrelationskoeffizienten von 0,001 -+ 0,012, ließ also ebenfalls 
eine Korrelation vermissen; der Längenbreitenindex betrug bei diesem stark gemischten 
Material 78,5. Pearson hat an seinem Schülermaterial auch die Frage einer evtl. 
Korrelation zwischen Kopfindex und Haar- bzw. Augenfarbe untersucht und bemerkens- 
werterweise keine solche Korrelation gefunden. Verf. setzt sich mit Angaben von Miß 
Fleming auseinander, nach denen bei Mädchen bis zum Alter von 8Jahreneine , rapide“ 
Zunahme des Längenbreitenindex und bei Knaben im Alter von 10 Jahren aufwärt: 
eine „rapide“ Zunahme zu verzeichnen wäre. Diese Angaben müssen nach P.s sorg- 
fältiger Untersuchung als widerlegt angesehen werden. Andererseits finde ich P.s 
Einwände gegen den amerikanischen Anthropologen Boas nicht zwingend. Boas 
hat bekanntlich angegeben, daß in Amerika geborene Kinder eingewanderter jüdischer 
Eltern in der Kopfform der eingesessenen amerikanischen Bevölkerung ähnlicher seien als 
die Eltern und ihre in Europa geborenen Kinder. Diese Angaben werden durch P.s Be- 
funde nicht widerlegt; denn P. hat erstenskeine kleinen Kinder in den ersten Lebensjahren 
gemessen und zweitensden Index nur innerhalb desselben Landes untersucht. Es könnte 
aber sehr wohl sein, daß die von Boas berichtete Änderung der Kopfform schon vor der 
Geburt oder in den allerersten Lebensjahren eintrete und dann fixiert werde. Lenz., 





— I — 


Baekman, Gaston: Über die Möglichkeit einer atavistischen Deutung der Bathro- 
und Klinocephalie beim Menschen. Upsala läkareförenings förhandl. Bd. 29, H. 3/4, 
S. 165—214. 1924. 

Die beiden Formen der gewöhnlichen Schädelverbildungen beim Menschen, die 
Bathro-undKlinocephalie,sind wahrscheinlich nicht aufirgendwelche Einwirkungen 
durch den Geburtsmechanismus zurückzuführen, wie Verf. früher angenommen hat. 
Vielmehr spricht der Umstand, daß die Deformationen auch bei den primitiven Tieren 
vorkommen und bei diesen meistens innen besser entwickelt sind als außen, für die 
Annahme einer endogenen Ursache. Verf. möchte sie beim Menschen als in der Regel 
atavistische Bildungen betrachten, die schon längst verschwundene primitive Zu- 
stände im Bau des Schädels wiederholen. H. Hoffmann (Tübingen)., 

© Martin, Rudolf: Richtlinien für Körpermessungen und deren statistische Ver- 
arbeitung mit besonderer Berücksichtigung von Schülermessungen. München: J. F. Leh- 
mann 1924. 59 S. u. 4 Taf. G.-M. 2.—. 

Das Buch wird zweifellos dank seiner gründlichen Systematik vorzüglich geeignet 
sein, das Interesse an der anthropometrischen Forschung in weiten Kreisen zu fördern 
und den, der nach seinen Richtlinien arbeitet, zu einwandfreien Ergebnissen zu führen. 
An zuverlässigem, nach einheitlichen Gesichtspunkten gewonnenem und verarbeitetem 
Material, das uns ein abgerundetes, klares Bild von der körperlichen Entwicklung 
und Konstitution unserer Jugend in der Nachkriegszeit zu geben vermag, hat es uns 
bis heute vielfach gefehlt. Das ist zu bedauern, denn so lange es uns an solchem Ma- 
terial mangelt, werden unsere sozialhygienischen und pädagogischen Maßnahmen 
zur körperlichen Ertüchtigung unserer Kinder mit dem Mangel der Unzulänglichkeit 
behaftet und mehr oder weniger von Mißerfolg begleitet sein. Hier werden die „Richt- 
linien“ eine Lücke ausfüllen. Die Anleitungen, die der Verf. bietet, sind trotz aller 
notwendigen Einzelheiten über Zahl der zu Beobachtenden, Ort und Zeit der Beobach- 
tung, Ausfüllen der Beobachtungsblätter und Meßgeräte klar und verständlich. Die 
Verarbeitung der gewonnenen Ergebnisse zu Statistiken, Tabellen und graphischen 
Darstellung wird unter den verschiedensten Gesichtspunkten in Angriff genommen: 
so nach Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand, sozialer Lage, Gebürtigkeit und Ab- 
stammung. Die Anschaulichkeit der Ausführungen gewinnt vorteilhaft durch die 
zahlreichen Abbildungen, Mustertabellen, graphischen Darstellungen und Berech- 
nungsformulare. Wenn wir — wie der Verf. — auch nicht glauben, daß sämtliche in 
dem Buche angegebenen Richtlinien überall zur Durchführung gelangen werden, 
Mangel an Zeit, Geld und geeigneten Persönlichkeiten werden das vielfach verbieten, 
so ist es doch dringend wünschenswert, daß überall da, wo Körpermessungen vorge- 
nommen werden, und sei es unter den einfachsten Bedingungen, die Richtlinien An- 
wendung finden. Többen (Münster i. W.). 

Peiser, Julius: Zur Kenntnis der Körperproportionen des wachsenden Kindes. 
Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 28, H. 3, S. 227—231. 1924. 

Die Differenz zwischen Sitzhöhe und halber Körperlänge wird bei normalen 
Schulkindern von Jahr zu Jahr geringer. Es bestehen überdies gewisse Geschlechts- 
verschiedenheiten. Die relative Kürze der Beine ist ein sekundäres Merkmal des weib- 
lichen Geschlechtes. Sie tritt im 11. Lebensjahre in Erscheinung und offenbart den 
Beginn der Präpubertät. Pfaundler (München)., 

Prinzing: Körpermessungen und -wägungen deutscher Schulkinder und ein Vor- 
sehlag, diese vergleichbar zu machen. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 50, Nr. 30, S. 1026 
bis 1027. 1924. 

Es haben schon in Leipzig (1921), in Alt-Berlin (1923) und in München (1921) 
Schulkinderuntersuchungen stattgefunden, denen Methoden zugrunde lagen, die es 
gestatten würden, diese Ergebnisse mit denen an anderen Orten zu vergleichen. Da 
diese Methoden nicht einheitlich waren, war ein Ergebnisvergleich, z. B. zwischen 
Berlin und München, unmöglich, das Alter war nicht einheitlich. Prinzing macht 


— 8&8 — 


ferner darauf aufmerksam, daß am Orte der Messung auch zugleich ein Sollmaß (Norm) 
bestehen müßte, um die beobachtete Messung mit der zu erwartenden vergleichen 
zu können. Damit werde der praktische Zweck der Statistik: zugleich ein Werturteil 
zu geben, erreicht. Für die Normen müßten Normaltabellen ausgearbeitet werden, 
z. B. Stammesnormen, Reichsnormen usw. Die Art seiner Berechnung sei an folgendem 
Beispiel nur angedeutet. Es sei das Gewicht 7—8jähriger Kinder einer Schule ver- 
gleichbar zu machen. Zunächst wird das arithmetische Mittel des Gewichts bestimmt. 
Sodann werden, um die Beteiligung der verschiedenen Gewichte an diesem Mittel 
zu veranschaulichen, Gewichtsgruppen aufgestellt, wie sie um dieses Mittel sich ver- 
teilen (mittlere Abweichung nach Prinzing). Diese Gewichtsgruppen sind etwa fol- 
gende: Eine, deren Zahlen in der Höhe des 10. Teiles vom arithmetischen Mittel um 
dieses herumliegen (+10%), eine andere + 10 bis 20%, über diesem Mittel, eine andere 
l0'bis 20% unter diesem Mittel usw. Dadurch, daß die Gewichtsgruppen in Prozent- 
zahlen des Mittels ausgedrückt werden (Variationskoeffizient), ist die unter sie fallende 
Anzahl vergleichbar. Die Normaltabellen hätten dann nach P. auch die Normal- 
abweichungen mit gleichem Variationskoeffizienten zu enthalten. Die große Bedeu- 
tung der vergleichbaren Messungen für das Gesundheitswesen leuchtet unmittelbar 
ein. Die Verbreitung solcher Messungen wäre eine dankbare Aufgabe der Schulärzte. 
Többen (Münster i. Westf.). 

Freudenberg, Karl: Größe und Gewicht der Berliner Schulkinder. Klin. Wochen- 
schr. Jg. 3, Nr. 31, S. 1411—1413. 1924. 

Verf., der sich eingehend mit der Verarbeitung der Ergebnisse von Schulkinder- 
messungen und Wägungen befaßt und grundlegende Arbeit auf diesem schwierigen 
Gebiete leistet, berichtet über die an Berliner Kindern gewonnenen Ergebnisse, 
die das Reichsgesundheitsamt als 3. Teil seiner Veröffentlichungen 1924, Nr. 11 mit- 
teilt. Gemessen und gewogen wurden 16 203 Gemeindeschulkinder und 24 087 Schüler 
und Schülerinnen höherer Lehranstalten. Veranlaßt wurde diese Erhebung von Ab- 
teilungsdirektor Dr. Schweers vom Hauptgesundheitsamt, die in 12 umfangreichen 
Tabellen zusammengestellt ist. Die errechneten Durchschnittswerte werden in Ver- 
gleich gesetzt mit den von Rietz 1902 und 1903 gewonnenen Zahlen. Die Tabellen 
können natürlich im Referat nicht wiedergegeben werden. Wer sich der nicht kleinen 
Mühe ihres genauen Studiums unterzieht, wird vieles Wichtige als Gewinn davon- 
tragen. Bei den Schülern höherer Schulen ist Länge und Gewicht im allgemeinen höher 
als bei gleichaltrigen Gemeindeschülern, wofür nicht nur die günstigere soziale Lage. 
sondern auch endogene Verhältnisse zur Erklärung herangezogen werden können. 
Die wirtschaftliche Not der gebildeten Klassen zeigt sich daran, daß im Vergleich 
zur Vorkriegszeit zwar nicht die wohl schwerer beeinflußbaren Längen, wohl aber die 
Gewichte um 10,2— 12,8%, niedriger waren. Einzelheiten müssen im Original nachge- 
lesen werden. Die wissenschaftliche Ausbeute des vorliegenden Materials ist übrigens 
im September 1924 erfolgt durch die Veröffentlichungen des „Deutschen Zentral- 
ausschusses für Auslandshilfe E. V.“ durch dessen ärztlichen Beirat. Auch hier hat 
Freudenberg wertvolle Mitarbeit geleistet. Lewandowski (Berlin). 

Baekman, Gaston: Körperlänge und Tageszeit. (Anat. Inst., Univ. Riga.) Upsala 
läkareförenings förhandl. Bd. 29, H. 3/4, S. 255—282. 1924. 

Wie nach früheren Untersuchungen feststeht, pflegt die Körperlänge während des 
Tages zu schwanken. Es findet eine allmähliche Abnahme der Körperlänge statt, 
die bis 4,5 ja 7 cm gehen kann. Sie beruht auf einer Reihe von inneren Faktoren, 
wie der Elastizität der Zwischenwirbelscheiben, der Elastizität der Wirbelsäule als 
Ganzes (mehrfach gekrümmte Feder), der Elastizität des Gelenkknorpels sowie der 
Elastizität des Fußgewölbes. Verf. hat versucht, für diese Erscheinung bestimmte 
Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Er fand, daß die Abnahme einen Maximalwert von 
durchschnittlich 2,436 cm zustrebt, der meistens echon nach 12 Stunden erreicht ist. 
Er stellt hierfür auch eine bestimmte mathematische Formel auf, die sich an dieser 


' — 89 — 


Stelle nicht näher entwickeln läßt. Das Körpergewicht spielt keine nennenswerte 
Rolle, auch sind die Altersdifferenzen sehr gering (1—1,5 mm). Es gibt wahrscheinlich 
konstitutionell bedingte abweichende Typen, die entweder als ‚steifer Rücken“ 
überhaupt sehr wenig, wenn auch kontinuierlich im Laufe des Tages abnehmen, oder 
als „schwacher Rücken“ beträchtlich abnehmen, aber dies schon im Laufe der ersten 
Stunden nach dem Aufstehen, ohne später noch weiter zusammenzusinken. Die Resti- 
tution der Körperlänge in der Nacht geschieht nach ganz demselben Gesetz wie die 
Abnahme. H. Hoffmann (Tübingen)., 

Bondi, S., und F. Sehreeker: Über Variabilität und zeitliche Wandlung konstitu- 
tioneller Merkmale bei Erwachsenen. II. Über Abhängigkeit des Brustumfanges von 
den Faktoren Körperlänge und Alter und über die Rangordnung der Faktoren. Zeitschr. 
f. d. ges. Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutionslehre Bd. 9, H. 6, S. 565—572. 1924. 

Die Verff. haben ihr Material früherer Massenmessungen nach verschiedenen 
Gesichtspunkten (Brustumfang, Körperlänge, Lebensalter) zergliedert, so daß die 
einzelnen Faktoren miteinander in Beziehung gesetzt werden konnten. Es hat sich 
z. B. gezeigt, daß in jeder Altersklasse der relative Brustumfang kleiner wird mit dem 
Wachstum der Körperlänge. Daraus würde im Zusammenhang mit der früheren Arbeit 
die Tatsache hervorgehen, daß mit zunehmender Körperlänge der Brustumfang zwar 
wächst, aber nicht in proportionaler Weise, sondern daß er weit hinter dem Maß zurück- 
bleibt, welches auf Grund des Verhaltens von Körperlänge zu Brustumfang bei klein- 
wüchsigen Menschen zu verlangen wäre. Daraus folgt, daß kleine Menschen 
einen relativ größeren Brustumfang aufweisen als große Individuen. Andere 
Fragestellungen konnten noch nicht endgültig beantwortet werden, da das Material 
noch erweitert werden muß. Sicher ist, daß der Brustumfang sich beim erwachsenen 
Menschen auch mit dem Fortschreiten des Lebensalters fast ständig ändert. Über die 
näheren Umstände gibt das vorliegende Material noch keine eindeutige Auskunft. 

H. Hoffmann (Tübingen)., 

Reich, H.: Klinische Testikelmessungen bei Kindern. (Univ.-Kinderklin., Zürich.) 
Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 105, 3. Folge: Bd. 55, S. 290—300. 1924. 

Verf. hat eine größere Zahl von Hodenmessungen bei 221 Knaben vorgenommen, 
um normale Vergleichszahlen für die klinische Bewertung zu bekommen (Längen- und 
Dickenmessung bei glattgespanntem Scrotum). Er stellt fest, daß die Hodengröße 
in den ersten 11 Lebensjahren merkwürdig konstant bleibt, sowohl unter den einzelnen 
Knaben wie in den verschiedenen Altersjahren. Eine nennenswerte Abweichung von 
der gefundenen Durchschnittsgröße kommt in dieser Zeit höchst selten vor und ist dann 
als angeboren zu betrachten. Der Hoden befindet sich im Ruhestadium, es findet 
sozusagen kein Wachstum statt. Die Maße betragen vom 1. Lebensmonat bis zum 
11. Lebensjahr ungefähr 1,6—1,7 Länge und 0,8—0,9 Breite. — Dann folgt die zweite 
Periode des raschen Hodenwachstums, die vom 11. oder 12. Jahr bis ungefähr zum 
16. Jahr dauert, in welchem gewöhnlich die normale Größe des geschlechtsreifen Organs 
erreicht wird. Die Maße mit 16 Jahren betragen: 3,5—3,6 Länge und 2,0 Breite. 
Während der Wachstumsperiode weisen die einzelnen Individuen starke Differenzen auf. 
Erst in dieser Zeit, also jenseits des 11. Lebensjahres, beginnt gewöhnlich auch bei 
Konstitutionskrankheiten eine deutliche Differenzierung der Hodengröße. 

Kretschmer (Tübingen), 

Navarro, Juan Carlos: Über Neugeborene in Argentinien. Arch. latino-americ. 
de pediatria Bd. 18, Nr. 5/6, S. 241—246. 1924. (Spanisch.) 

Verf. hat Anfangsgewicht und Gewichtszunahme bei 370 argentinischen Neu- 
geborenen untersucht. Das Durchschnittsgewicht der männlichen Neugeborenen 
betrug 3310, das der weiblichen 3193 g. Bei 87,56%, bewegte sich das Gewicht zwischen 
2500 und 4000 g, bei 4,05% lag es unter 2500, bei 8,37%, über 4000 g. Das höchste 
Gewicht betrug 5020 g. Der Gewichtsverlust der Neugeborenen in den ersten Tagen 
schwankte zwischen 150 und 200 g. Bei 52 Neugeborenen beschränkte sich der Gewichts- 


— 90 — 

verlust auf die ersten 24 Stunden. Bei 163 war der Gewichtsverlust mit dem 3., bei 
63 mit dem 4. Tag beendet. Die Mütter kommen gewöhnlich am 5. bis 8. Tag aus der 
Entbindungsanstalt zur Entlassung. Am 8. Tage waren von den 370 Neugeborenen 
255 entlassen. Trotz der Kürze der Zeit konnte Verf. Untersuchungen über die Ge- 
wichtszunahmen anstellen. Von 370 Neugeborenen erreichten 27,29%, vor dem 8. Tage 
ihr Anfangsgewicht wieder. Die Untersuchungen haben ergeben, daß die Gewichts- 
verhältnisse der argentinischen Neugeborenen mit den von europäischen und nord- 
amerikanischen Autoren gefundenen übereinstimmen. Ganter (Wormditt). 

Siemens, Hermann Werner: Über Linkshändigkeit. Ein Beitrag zur Kenntais 
des Wertes und der Methodik familienanamnestischer und korrelationsstatistischer 
Erhebungen. (Hautpoliklin., Univ. München.) Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. 
Physiol. Bd. 252, H. 1, S. 1—24. 1924. 

Auf Grund seiner an 300 Zwillingen, deren Geschwistern und Eltern gemachten 
Erhebungen kommt Verf. zu folgenden überraschenden Ergebnissen: Entgegen der 
allgemein angenommenen Lehrmeinung ist die Linkshändigkeit nicht erblich be- 
dingt, da in 25 Fällen eineiiger Zwillingsschaft, für die bekanntlich weitestgehende 
Erblichkeit besteht, 21 mal nur der eine Zwilling linkshändig war. Die familiäre Häu- 
fung der Linkshändigkeit erklärt sich nicht durch erbliche Bedingtheit, sondern haupt- 
sächlich durch das an sich schon sehr häufige Vorkommen der Linkshändig- 
keit (nach Verfs. Erhebungen: bei 11%, der Kinder und 4,6 bzw. 6,5%, der Erwach- 
senen). Das statistische Moment der Wahrscheinlichkeit ist in den bisherigen Sta- 
tistiken nicht genügend berücksichtigt worden. Zwischen Linkshändigkeit und Sprach- 
störungen besteht eine nicht unerhebliche Korrelation. Unter den Linksern sind 
22,5%, unter den Rechtsern nur 6,9%, Sprachgestörte. Diese Korrelation beruht aber 
nicht auf Erblichkeit, sondern auf physiologischen Wechselbeziehungen der Organe. 
Die Tätigkeit der rechten Hand, besonders das Schreiben, wirkt auf eine Lokalisierung 
des Sprechzentrums in der linken Hemisphäre hin. Bei Kindern, die von Natur links- 
händig, also rechtshirnig sind, muß mit steigendem Gebrauch der rechten Hand ein 
Konkurrenzkampf der beiden Hirnhemisphären um die Vorherrschaft eintreten: 
ein Ausdruck dieses Sichkreuzens der Willensimpulse ist dann die Sprachstörung der 
linkshändigen Kinder, die meist bald vorübergeht. Zwischen Linkshändigkeit und 
Bettnässen konnte Verf. keine Beziehung feststellen. Hingegen sind Beziehungen 
zwischen ihr und der Epilepsie wahrscheinlich; vielleicht ist die Linkshändigkeit. eine 
Folge, ein Symptom der Epilepsie. Da Verf. unter den Zwillingen viel mehr Linkser 
fand als unter ihren Geschwistern, so möchte er — mit aller Vorsicht — vermuten. 
daß in der Zwillingsschwangerschaft eine von den Bedingungen für die Entstehung 
der Linkshändigkeit liegt (Lageanomalie? Frühgeburt? Geburtsschädigung ?). 

G. Tugendreich (Berlin). 

Maurer, E.: Aus der Bevölkerungsbewegung der Kriegs- und Naehkriegsjahre. 
V. Säuglings- und Kleinkindersterbliebkeit. Münch. med. Wochenschr. Jg. 71, Nr. 29. 
S. 987—988 u. Nr. 30, 8. 1029-1030. 1924. 

Die Säuglingssterblichkeit ist bekanntlich vor und nach dem Kriege sehr günstig 
im Gegensatz zu den übrigen Altersgruppen. Daß hierfür wesentlich die Zunahnm- 
der Stillung als Grund zu bezeichnen ist, geht aus der auffälligen Tatsache hervor. 
daß die Sterblichkeit des 1. Lebenshalbjahres erheblicher abgenomnien hat als die de: 
2. Lebenshalbjahres. Sobald also die Brustnahrung durch künstliche Ernährung ersetzt 
wird, kommen die Schädlichkeiten der Kriegs- und Nachkriegszeit zu ungehemmter 
Auswirkung. Diese braucht sich keineswegs allein in Ernährungsstörungen, sondem 
kann sich auch in herabgesetzter Widerstandsfähigkeit gegen andere Krankheiter 
offenbaren. Die Überbelastung des 2. Lebenshalbjahres findet ihre Fortsetzung in. 
Kleinkindesalter. Hier setzt schon 1915 ein starker Sterblichkeitsanstieg ein. Setzt 
man 1913 = 100, so betrug die Sterblichkeit der Altersklasse 1—5 im Jahre 1914 für 
Bayern 100, 1915 136. 1916 128, 1917 137, 1918 194, 1919 142, 1920 112, 1921 79. 


— 9] — 


Infektionskrankheiten haben daran keine Schuld, vielmehr die Auswirkung der Not 
in und nach dem Kriege. Der Rückgang der Sterblichkeit seit 1919 darf nicht zu dem 
Trugschluß führen, daß diese Wirkung überwunden sei. Wenn auch die Sterblichkeit 
zurückgeht, der Gesundheitszustand hat den Friedensstand noch lange nicht erreicht. 

G. Tugendreich (Berlin). 
Maurer, E.: Aus der Bevölkerungsbewegung der Kriegs- und Naehkriegsjahre. 

IV. Geburtenziffer. Münch. med. Wochenschr. Jg. 71, Nr. 28, S. 950—951. 1924. 
Die Geburtenziffer sinkt nach kurzem Anstieg im Jahre 1920 wieder beständig. 
Setzt man die Geburtlichkeit Bayerns im Jahre 1913 = 100, so betrug sie 1920 104, 
1921 99, 1922 84. Besondere Beachtung verdient, daß der Rückgang auf dem Lande, 
dem Kräftespeicher des Staates, nicht geringer ist wie in den Städten. Verf. berechnet 
die Fruchtbarkeitsziffer für Bayern, d. h. die Zahl, die angibt, wieviel Geburten auf 
eine Eheschließung treffen. Setzt man diese Ziffer für 1917 = 100, so ergibt sich für 
Bayern im Jahre 1920 in Stadt 61, Land 43; 1921 in Stadt 50, Land 49; 1922 in 
Stadt 61, Land 60. Also ein Absinken der Fruchtbarkeit um 40—50% , und zwar auf 
dem Lande stärker als in der Stadt. Für das Land kann man die Wohnungsnot als 
Ursache nicht heranziehen. Vielmehr — und das ist das Bedrohliche dieser Erschei- 
nung — kommen hierfür „schwerlich mehr ausrottbare Sitten und Ansichten“ in Be- 
tracht. Die Mittel zur Verhütung der Empfängnis sind heute auf dem Lande nicht 

weniger in Gebrauch als in der Stadt. G. Tugendreich (Berlin). 


Sehröder: Hat die Arbeit der Hilfsschule rassenhygienische Bedeutung? Hilfs- 
schule Jg. 17, H. 4, S. 49—53. 1924. 

Die Frage nach der rassenhygienischen bzw. eugenischen Bedeutung der Hilfs- 
schule wird aufgeworfen und ihre von manchen Seiten behauptete kontra-selektorische 
Bedeutung mit dem (etwas schwachen — Ref.) Argument bestritten, daß eine gewisse 
Aussicht bestehe, durch heilpädagogische Arbeit diese Kinder über den Stand des un- 
gelernten Arbeiters hinaus zu fördern und in ihnen ein wirtschaftliches Vorwärtsstreben 
zu wecken, das bekanntlich fruchtbarkeitsmindernd wirkt. — Die größere rassen- 
hygienische Gefahr stellen die Mädchen dar, die man deshalb in besonderem Maße 
vor der Fortpflanzung bewahren sollte. Vellinger (Tübingen)., 


@ Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Hrsg. v. Emil Abderhalden. 
Abt. IX, Methoden zur Erforsehung der Leistungen des tierischen Organismus, TI. 3, 
H. 1, Liefg. 116. Methoden der Vererbungsforschung. Vererbungsforschung. — 
Bauer, Julius: Methoden der Konstitutionsforsehung. — Kammerer, Paul: Methoden 
zur Erforsehung der Vererbung erworbener Eigenschaften. — Kammerer, Paul: 
Methoden der experimentellen Variationsforschung. — Haeeker, Valentin: Methoden 
der Vererbungsforsehung beim Mensehen. — Sommer, Robert: Methoden der Familien- 
forsehung. Berlin u. Wien: Urban & Schwarzenberg 1923. 210 S. G.-M. 5.85. 

In J. Bauers Abschnitt ist die Problemstellung und die Gebietsabgrenzung 
der Konstitutionsforschung sehr weitläufig getroffen worden, so daß eigentlich alle 
auf den Menschen überhaupt anwendbaren biologischen Untersuchungsmethoden ein- 
bezogen werden müssen. Demgemäß bestehen auch die Abschnitte über Variabilität, 
Variabilitätsstatistik, Ursachen und Genese der individuellen Variabilität und Disposi- 
tionsforschung mehr in allgemeinen Hinweisen. Für ein Handbuch der Arbeits- 
methoden wäre es wohl wünschenswert gewesen, daß der Kern des Konstitutions- 
problems begrifflich schärfer gefaßt worden wäre, so daß dem Leser die besondere 
Art des Vorgehens und das wohl prägnanter zu bezeichnende besondere Ziel der 
Konstitutionsforschung klar geworden wäre; die Technik im einzelnen wird dabei 
naturgemäß immer allen möglichen Gebleten entlehnt sein müssen. Unter den an- 
geführten Arbeiten hätte wohl die Arbeit v. Pfaundlers über den Konstitutions- 
begriff Erwähnung verdient. Der Wiener Zoologe P. Kammerer leitet seinen Ab- 
schnitt über die Methoden zur Erforschung der Vererbung erworbener Eigenschaften 


— 92 — 


mit Bemerkungen ein, welche zugestehen, daß die Mehrheit der Biologen einen solchen 
Abschnitt für überflüssig halten wird. In der Tat werden die wenigsten aus dem In- 
halt Anderes lesen können als (zum Teil wenigstens) Angaben über die Wege zur Er- 
forschung der Erbänderungen, welche jedoch der Fassung nach von der Betrachtungs- 
weise der heutigen experimentellen Erblichkeitsforschung erheblich abweichen. Der 
Abschnitt des gleichen Verfassers über die Methoden der experimentellen Variations- 
forschung ist begrüßenswert, weil er geeignet ist, die Massenstatistik in die (meist über- 
schätzten) Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zurückzuweisen. Nach Ansicht des Ref. 
wäre es jedoch diesen Ausführungen sehr von Vorteil gewesen, wenn die von E. Baur 
eingeführte und jetzt ziemlich allgemein übliche Unterscheidung von Mischvariationen, 
Paravariationen und Idiovariationen durchgeführt worden wäre; sie gehört jedoch 
leider auch zu den Anschauungen der ‚Mehrzahl heutiger Biologen“. So, wie die Dinge 
hier abgehandelt sind, werden sie nicht durchwegs klar verständlich sein, wenigstens 
demjenigen Leser nicht, der auch andere als Kammerers Anschauungen kennt oder 
sie mit dem Inhalt des folgenden Abschnitts in Einklang zu bringen sucht. V. Haecker 
behandelt in seinem Beitrag über Methoden der Vererbungsforschung beim Menschen 
die biometrische Massenstatistik hinsichtlich ihrer Verwertung zur Varistionsforschung, 
auf dem Boden der modernen Erblichkeitslehre, wobei allerdings diesmal die (erblich- 
keitstheoretischen) Voraussetzungen für die Deutung ihrer Ergebnisse zwar gemacht, 
aber auch nicht erläutert sind. Die Einbeziehung der ‚„Phänogenetik‘“ dürfte die 
Darstellung etwas verwickelter gemacht haben, als sie sein müßte, zumal man vielleicht 
doch im Zweifel sein kann, ob die Phänogenetik Haeckers zur Erblichkeitslehre im 
e. S. gehöre. Etwas umständlich lesen sich auch die Ausführungen über Korrelation, 
die durch eine schärfere Unterscheidung von Erscheinung und Deutung wohl ver- 
einfacht werden könnten. Die wichtigsten rechentechnischen Verfahren sind an Hand 
neuerer Beispiele der Erblichkeitsforschung erklärt. Ein weiterer Abschnitt ist der 
genealogischen Arbeitsweise und der Auswertung von Stammtafeln gewidmet, die 
letztere ist hauptsächlich an Hand der Haecker-Ziehenschen Arbeit über die Ver- 
erbung der musikalischen Begabung erläutert. Der Abschnitt über die cytologische 
Methode bringt die Hauptergebnisse der Chromosomenzahl-Forschung beim Men- 
schen. Schließlich entwickelt H. die Hauptsätze seiner. Phänogenetik. R. Sommer 
hat noch einen besonderen Beitrag über die Methoden der Familienforschung ge- 
liefert, in dem das Wichtigste von der Arbeitsweise der geschichtlichen Genealogie, 
außerdem noch einmal die Anlage von Ahnentafeln usw. besprochen wird. Der Band 
macht im ganzen einen ziemlich uneinheitlichen Eindruck, nicht nur wegen der Richtungs- 
verschiedenheit der Mitarbeiter und der gegenständlichen Wiederholungen, sondern 
auch deshalb, weil manches darin enthalten ist, was man nicht bei der Erblichkeits- 
forschung und bei Methoden, sondern bei der Physiologie, Pathologie usw. und bei der 
Technik suchen würde, während anderes, Erblichkeitsmethodisches, fehlt oder doch 
in den Hintergrund rückt. W. Scheidt (München). 

Bonnier, G.: The Morgan theory of heredity and its eonsequences for medieal 
hereditary research. (Die Morgansche Theorie und ihre Konsequenzen für die medi- 
zinische Erblichkeitsforschung.) (Zootom. inst., uniw., Stockholm.) Acta med. scandinav. 
Bd. 60, H. 4/5, S. 471—476. 1924. 

Verf. zeichnet zunächst mit wenigen klaren Strichen die Grundzüge des Mendelns, 
bespricht die Erscheinungen der Koppelung und spricht sich dahin aus, daß die auf die 
Analyse der Koppelungserscheinungen gegründete Morgansche Theorie als wissen- 
schaftlich sichergestellt gelten könne. Er knüpft speziell an die Erfahrung der Morgan- 
Schule an, daß von einer Erbeinheit, die auf Grund der Koppelungsverhältnisse als 
topographisch zwischen zwei anderen Erbeinheiten von bekanntem Erbgang lokalisiert 
erwiesen sei, eben auf Grund dieser Lokalisation der Erbgang bis zu einem gewissen 
Grade vorausgesagt werden könne, auch wenn dieser als solcher nicht analysiert. sei 
oder infolge geringer Lebensfähigkeit der Träger der betreffenden Erbeinheit schwer 


— 93 — 


analysiert werden könnte. Er glaubt, daß auf ähnlichem indirekten Wege der Erbgang 
mancher krankhafter Erbanlagen beim Menschen, der direkt schwer zu erforschen ist, 
festgestellt werden könne. Zu dem Zwecke solle man zunächst daran gehen, die Lokali- 
sation der normalen Erbanlagen des Menschen auf Gsund ihrer Koppelungsverhältnisse 
zu bestimmen und dann die Koppelung einer zu analysierenden krankhaften Erbanlage. 
Es sei methodologisch überhaupt verfehlt, daß man beim Menschen zuerst mit der 
Erforschung der krankhaften Erbanlagen begonnen und darüber die der normalen ver- 
nachlässigt habe. Der Ref. hält diesen vom Verf. vorgeschlagenen Weg für praktisch 
ungangbar. Verf., der von Fach Zoologe ist, ist sich anscheinend der Schwierigkeiten, 
welche einer Erforschung des Erbganges normaler menschlicher Anlagen entgegenstehen, 
nicht recht bewußt. Normale Anlagen sind in der Regel polymer, krankhafte monomer 
bedingt. Es ist daher kein Zufall, auch keine Willkür, daß die menschlichen Erblich- 
keitsforscher bisher hauptsächlich krankhafte Erbanlagen verfolgt haben; die Er- 
forschung der normalen ist ganz ungleich schwieriger. Dazu kommt, daß der Koppe- 
lungsgrad zweier Erbeinheiten beim Menschen praktisch niemals mit einer für die 
Lokalisationsbestimmung genügenden Genauigkeit wird festgestellt werden können. 
Das würde ungleich größere Geschwisterzahlen voraussetzen, als sie beim Menschen 
vorkommen. Mithin ist die direkte Analyse des Erbganges krankhafter Anlagen beim 
Menschen immer noch lange nicht so schwierig als die indirekte auf Grund der Koppe- 
lungsverhältnisse. Damit aber wird der Vorschlag des Verf. methodologisch hinfällig. 
Fritz Lenz (München)., 

Nissen, Karl: Über Generationsrhythmen in der menschlichen Vererbung. Zeitschr. 
f. Sexualwiss. Bd. 11, H.1, S.1—7. 1924. 

Vor einigen Jahren stellte Hans Günther (Leipzig) die Theorie auf, daß bei 
bestimmten erblichen Anomalien in einer Geschwisterserie kranke und gesunde Indi- 
viduen immer in einem Intervall von je 21/, Jahren abwechseln. Verf. versucht diese 
Beobachtung auch bei der Thomsonschen Krankheit nachzuweisen. Die angeführ- 
ten Beispiele lassen in 1/ der Fälle eine Ausnahme von dieser „Regel“ erkennen. Die 
Idee des Generationsrhythmus ist interessant und wohl einer weiteren gewissenhaften 
Prüfung wert. Sollte er in der von Günther behaupteten Form sich bewahrheiten, 
so wäre diese Tatsache natürlich von größter Bedeutung für den Rassenbiologen und 
Deszendenzhygieniker. H. Hoffmann (Tübingen). 


Sehreiner, Alette: Zur Erbliehkeit der Kopfform. (Anat. Inst., Kristiania.) Gene- 
tica Bd. 5, Nr. 5/6, S. 385—454. 1923. 

Auf Grund der vorhandenen Literatur und eigener Messungen bei einer Reihe von Fa- 
milien gelangt Verf. zu dem Ergebnis: „Die Kopfform kommt durch ein Zusammenwirken 
mehrerer Erbfaktoren und auch anderer Momente zustande, über deren Natur und Bedeutung 
noch alles Nähere zu ermitteln ist.“ Eugen Kahn (München)., 

Lücker, Fritz-Carl: Über Vererbung von Mißbildungen, insbesondere Hasenscharte 
und Polydaktylie, und ihre Beziehungen zur Geburtshilfe. (Univ.-Frauenklin., Göttingen.) 
Monatsschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol. Bd. 66, H. 6, S. 327—336. 1924. 

Die relativ seltene Weitervererbung der Hasenscharte ist als eine Auslesewirkung 
anzusehen in dem Sinne, daß fraglos besonders Mädchen ungleich geringere Aussicht 
auf Heirat haben als gesunde. Den 100 aus der Literatur bekannten Stammbäumen 
fügt Verf. 2 weitere hinzu. Die geschlechtsgebundene Vererbung ist mit ziemlicher 
Sicherheit auszuschließen. Vermutlich spielt die Dominanz in irgendeiner Form 
(unregelmäßig) eine Rolle. Man findet in Hasenschartenfamilien gelegentlich Individuen 
mit einer ganz leichten Andeutung dieser Mißbildung (leichte rinnenförmige Vertiefung 
des Gaumens). Wahrscheinlich handelt es sich in diesen Fällen um Träger der Anlage 
zu Hasenscharte, die aber aus irgendwelchen Gründen fast vollständig latent geblieben 
ist. Bei der Polydaktylie nimmt Verf. einen im allgemeinen einfach dominanten 
Erbgang an, der nur in einzelnen Fällen durch Unregelmäßigkeiten durchbrochen ist. 

H. Hoffmann (Tübingen). 


— 94 — 


Herrman, Charles: The relation of heredity to the diseases of infaney and ehildhood. 
(Die Beziehungen zwischen Erblichkeit und den Krankheiten des Säuglings- und 
Kindesalters.) Arch. of pediatr. Bd. 41, Nr. 5, S. 301—314. 

In dem sehr lesenswerten Vortrag versuchte der Verf. den Mitgliedern der 
Newyorker ärztlichen Gesellschaft die Bedeutung der Erblichkeitsforschung, be- 
sonders der Aufstellung biologischer Familiengeschichten, für die Kinderheilkunde 
darzulegen. Zahlreiche Beispiele erblicher Krankheitsanlagen illustrieren die Aus- 
führungen. Ohne daß wesentlich Neues gebracht wird, hat der Vortrag doch seine 
volle Berechtigung durch die Verhältnisse, wie sie (anscheinend überall) sind und die 
der Verf. durch einen Ausspruch Pearsons kennzeichnet: ‚Doctors we are told do 
not believe in heredity. If that be so, they have small idea of the most plentiful harvest 
yet reaped by modern science.“ Scheidt (Hamburg). 

Valkema Blouw, H. C.: Der Einfluß der mütterliehen Hormone aul geistige und 
körperliche Entwicklung. Nederlandsch tijdschr. v. geneesk. Jg. 68, 1. Hälfte, Nr. 1. 
S. 1039—1043. 1924. (Holländisch.) 

In wenig überzeugender, ebenso kurz wie oberflächlich dargestellter Weise ver- 
sucht der Autor die Arbeiten von van den Brock, Goldschmidt, Kronfeld, 
Weil u. a. zur Aufstellung einer Arbeitshypothese zu verwenden, die er in Form eines 
Schemas zusammenfaßt. Danach ist die Entwicklung eines Individuums außer von 
der Anlage der väterlichen bzw. mütterlichen Zelle auch von dem hormonalen mütter- 
lichen Einfluß abhängig, und zwar in dem Sinne, daß z. B. ein Individuum bei normaler 
väterlicher Zelle, geschwächter mütterlicher Zelle und geringem hormonalen Einfluß 
stark der männlichen Seite zuneigen würde. In ebendiesem Sinne werden eine Reihe 
Variationsmöglichkeiten aufgeführt. König (Bonn)., 

Creutzfeldt, H. G.: Heredodegeneration des Nervensystems. Jahreskurse f. ärzt!. 
Fortbild. Jg. 15, H.5, S. 37—48. 1924. 

Creutzfeldt gibt zunächst einen Überblick über die wesentlichsten Theorien, 
die über die Begriffe Erblichkeit und Entartung vorgebracht worden sind, wendet sich 
gegen Schaffers Ansicht, nach der die Heredodegeneration auch morphologisch 
definiert sein soll, und bespricht die wesentlichsten Einteilungsversuche, die bisher 
gemacht worden sind. C. selbst definiert die Heredodegenerationen als eine erblich 
bedingte Schädigung der Anlage der nervösen Elemente, die einerseits den Aufbau 
des Systems stört, andererseits seine Funktionsfähigkeit im Leben herabsetzt, letzten 
Endes das Leben des Individuums gefährden kann. Sie kann an bestimmte Systeme 
gebunden sein, aber auch mehr oder weniger diffus wirken. Erkennbar wird sie, wenn 
sie schon intrauterin ihre Wirkung entfaltet hat, an Hemmungsmißbildungen der 
Zentralorgane und peripheren Nerven, oder, wenn sie erst im extrauterinen Leben 
ihre Folgen zeitigt, in den oft ausgesprochen systematischen, fortschreitenden Stö- 
rungen der nervösen Funktionen, den heredodegenerativen Krankheiten.‘ (Dem 
letzten Satz vermag ich nicht vollkommen beizustimmen. Es gibt zweifellos auch 
fortschreitende Heredodegenerationen, die schon im intrauterinen Leben einsetzen; 
solche früh einsetzende Erkrankungen können höchstwahrscheinlich auch sekundäre 
Hemmungsmißbildungen erzeugen. Ref.). Im Erbgang erscheinen nicht immer gleiche 
Krankheitsbilder. Außerdem wird bei manchen Erkrankungen ein von Generation 
zu Generation früheres Auftreten (Progression) der ersten Symptome beobachtet. 
z. B. bei Huntingtonscher Chorea (neuerdings von Entres stark bestritten. Ref.). 
Es wird rezessive und dominante Vererbung mit und ohne Geschlechtsgebundenheit 
beobachtet. — Prophylaktisch schlägt C. ın besonderen Fällen (z. B. Huntingtonsche 
Chorea) die Sterilisation vor. i Schob (Dresden). 

Kroon, H. M.: Die Erbliehkeit der Trunksueht in der Familie X. Nederlandsch 
tijdschr. v. geneesk. Jg. 68, 1. Hälfte, Nr. 17, S. 1855—1862. 1924. (Holländisch.) 

Der Erbmodus der Trunksucht wird an Aszendenz und Deszendenz einer Familie 
untersucht. Die Eltern waren in bezug auf Trunksucht gesund, mehrere der Söhne 


— 95 — 


aber wiesen das Leiden in ausgesprochenem Maße auf. Intermediäre Formen des Leidens 
gibt es hier nicht. In der Verwandtschaftstafel finden sich keine trunksüchtigen Frauen; 
nur Männer sind betroffen. Es liegt auf der Hand (Verf. will keine exogenen Faktoren 
in Betracht ziehen) die Erblichkeit der Trunksuchtsanlage in Beziehung zu bringen 
mit der Erblichkeit des Geschlechtes. Eine recessive geschlechtsgebundene Vererbung 
wäre als Erbmodus anzunehmen, wenn nicht in 4 Fällen trunksüchtige Väter ebenfalls 
trunksüchtige Söhne hätten bei ganz gesunden Frauen. Anstatt einer „sex linken“‘- 
Vererbung kommt also eine ‚sex limited“-Vererbung vor, wie Wood bei seinen Schaf- 
kreuzungen beobachtete. Die Anlage geht in diesem Falle beim einen Geschlechte 
dominant, beim andern recessiv. Die Hälfte der Söhne einer Nachkommenschaft ist 
trunksüchtig, falls kranke Väter normale Frauen und falls normale Väter scheinbar 
normale Frauen heiraten. Die Voraussetzungen einer geschlechtsbeschränkten Ver- 
erbungsweise sind im gegebenen Falle verwirklicht. 15 von 32 Söhnen aus 9 dergleichen 
Kreuzungen sind trunksüchtig, aber keine der Töchter. Es wäre interessant, nun auch 
noch homozygote Kreuzungen zu studieren. Diese gibt es in der beschriebenen Ver- 
wandtschaftstafel nicht. Verf. erkennt die Möglichkeit, daß anlagehemmende, am Ge- 
schlecht gebundene Faktoren zur Erklärung der beschriebenen Tatsachen heran- 
zuziehen seien. H. C. Rümke (Amsterdam)., 


Ruf, Sepp: Familienbiologie eines Schwarzwalddorfes mit besonderer Berüeksieh- 
tigung der letzten 100 Jahre. (Anat. Inst., Freiburg i. Br.) Arch. f. Rassen- u. Gesell- 
schaftsbiol. Bd. 15, H. 4, S. 353—382. 1924. 

Die Ausführungen des Verf. geben eine ausgezeichnete Vorstellung davon, wie 
weitgehend das Schicksal einer Gemeinde biologisch begründet und gelenkt ist. Aus 
den einzelnen Familiengeschichten geht hervor, daß vor allem ererbte Eignung Richtung 
und Erfolg der Berufstüchtigkeit bestimmt: familiäre Zusammenhänge konnten für 
mehrere intellektuelle und moralische Eigenschaftskomplexe aufgezeigt werden. Die 
Kinderforschung mag durch diese Arbeit wieder einmal auf die hervorragende Be- 
deutung familienbiologischer Untersuchungen hingewiesen werden. Scheidt. 


Carle: Quelques données nouvelles sur la transmission héréditaire de la syphilis. 
(Einige neue Angaben über die hereditäre Übertragung der Syphilis.) Journ. de méd. 
de Lyon Jg. 4, Nr.76, S. 125—132. 1923. 

Für die Übertragung der Syphilis auf die Nachkommenschaft kommt der Mutter der 
Hauptanteil zu. Daß nur der Vater syphilitisch ist, ist äußerst selten; gewöhnlich sind beide 
Eltern infiziert. Das Collessche Gesetz ist hinfällig; jede Mutter eines syphilitischen Kindes 
ist syphilitisch; sie kann das Kind nähren, ohne infiziert zu werden. Wenn Sekundärerschei- 
nungen während der Schwangerschaft auftreten, so handelt es sich um eine während der 
Schwangerschaft erworbene Infektion, wo der Primäraffekt unbemerkt blieb, was auch sonst 
bei der Frau sehr häufig der Fall ist. Das Profetasche Gesetz ist hinfällig; das Kind einer 
syphilitischen Mutter ist nicht immunisiert, sondern syphilitisch oder gesund und kann dann 
infiziert werden. Hieraus ergeben sich folgende therapeutische Regeln: Jede Mutter eines 
syphilitischen Kindes muß behandelt werden. Jede schwangere Frau eines syphilitischen 
Mannes soll im Zweifelsfalle behandelt werden. Der Ehekonsens muß bei der syphilitischen 
Frau länger hinausgeschoben werden als beim Mann. Bei der Luesübertragung auf die Kinder 
handelt es sich um Übertragung von Spirochäten und nicht von Dystrophien. 

Fritz Lesser (Berlin). °° 


Husler,I.: Über „Lues nervosa“ und über idio- und parakinetische Syphiliswir- 
kungen in der Deszendenz (Kritik und Familienuntersuehungen). (Univ.- Kinderklin., 
München.) Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 37, H.4, 8. 200—221. 1924. 

Verf. konnte eine blastophthore Wirkung der Lues zwar nicht feststellen, möchte 
diese aber nicht gänzlich verneinen. Auch eine Lues nervosa läßt sich für die angeborene 
Syphilis nicht erweisen. Gegenüber der häufig behaupteten Degeneration der Para- 
Iytikerkinder stellt sich Verf. auf folgenden Standpunkt: Die Paralyse kommt von der 
Lues und letztere kann bei den Nachkommen auch Lues erzeugen; das Schicksal 
solcher Kinder ist in erster Linie davon abhängig, ob die Mutter infiziert ist und wenn 
ja, ob eine intrauterine Übertragung stattfindet oder nicht. Jahnel (Frankf. a. M.)., 


— 96 — 


Wilmer, W. H.: Hereditary faetors responsible for development of optic atrophy 
and retinitis pigmentosa. (Erbliche Anlage für die Entwicklung von Opticusatrophie 
und Retinitis pigmentosa.) Arch. of neurol. a. psychiatry Bd. 12, Nr. 2, S. 137—148. 
1924. 

Der Aufsatz ist eine Art von Referat über die in der Überschrift genannten 
beiden Krankheiten. Verf. bemerkt, daß er sich auf die Erfahrung einer Privatpraxis 
von 34 Jahren stützt. Die umfangreiche neuere Literatur über den Gegenstand ist fast 
gar nicht berücksichtigt. Die statistischen Angaben über Anstaltsinsassen sind metho- 
dologisch unzulänglich. Von Interesse wäre der erste der drei abgebildeten Stamm- 
bäume; leider aber geht aus dem Text nicht hervor, auf was für ein Leiden er sich be- 
zieht. Auch sonst bleibt manches unklar in dem Aufsatz. Lenz (München). 

Mandolini, Ernani: Amieizia ed omoerotismo. (Freundschaft und Homoerotik.) 
Rass. di studi sess. Jg. 3, Nr. 6, 8. 393—399. 1923. 

Zwischen der Freundschaft im spezifischen Sinne und den ausgesprochenen homo- 
sexuellen Beziehungen bestehen zahlreiche Übergänge. Das hat seinen Grund in der 
mehr oder weniger ausgeprägten konstitutiven Bisexualität. Eine genaue Analyse 
dieser Verhältnisse führt in die Probleme des physiologischen Gleichgewichtes und 
seiner Störungen, in Sonderheit zu Fragen der Endokrinologie. Rudolf Allers., 


Psychologie: 
Allgemeine und spezielle Psychologie. — Methodisches : 

© Ewald, G.: Temperament und Charakter. (Monogr. a. d. Gesamtgeb. d. Neurol. 
u. Psyehiatrie. Hrsg. v. 0. Foerster u. K. Wilmanns. H.41.) Berlin: Julius Springer 
1924. 156 S. G.-M. 9. — 

Verf. macht den Versuch einer Strukturanalyse der Persönlichkeit. Er 
unterscheidet den Biotonus, d. h. die Energiespannung, deren verschiedene Grade 
mit einer besser bzw. schlechter beheizten Maschine verglichen werden; und ferner 
die besondere Konstruktion, den individuellen Aufbau der Nervenelemente. 
Der Biotonus ist gegeben durch die Güte und die Schnelligkeit des Stoffumsatzes; 
er kann sich quantitativ ändern nach Intensität und Tempo. Menschen mit gutem 
Biotonus tragen eine durch äußere Ursachen nicht begründete gute Stimmung zur 
Schau; die mit schlechtem Biotonus sind ernste, stille Melancholiker. Die Tönung dieser 
Vitalgefühle bezeichnet Verf. als Temperament; Temperament ist Lebensgrundstimmung. 
Wesentlich für die Regulation des Biotonus soll ein Zentrum im Höhlengrau sein. 
Dem Temperament steht der Charakter gegenüber. Dieser gründet sich auf die 
feinere bzw. gröbere Konstruktion des Nervensystems, die ihrerseits die nervöse An- 
sprechbarkeit und Reaktionsart bedingt. Der Charakter ist in weit höherem Maße 
als das Temperament abhängig von den Faktoren der Umwelt, wenn auch der anlage- 
mäßig gegebenen Basis wohl die wesentlichste Bedeutung zukommt. Selbstverständ- 
lich können Charakter und Temperament in vielen Fällen gleichermaßen am Aufbau 
einer Eigenschaft beteiligt sein. Insbesondere übt das Temperament auf die charakter- 
lichen Qualitäten einen starken Einfluß aus. Auf dem Gebiet des Pathologischen 
steht zum Temperament das manisch-depressive Irresein in inniger Beziehung; es ist 
im wahrsten Sinne des Wortes eine Temperamentskrankheit. Es werden drei Haupt- 
gruppen von Tempergmenten unterschieden: 1. Das sanguinische oder hypo- 
manische Temperament mit straffem Biotonus, gesteigertem psychischen Tempo 
und heiterem Stimmungshintergrund; 2. das melancholische oder depressive 
Temperament mit schlechtem Biotonus, mit herabgesetztem psychischem Tempo 
und düsterem Stimmungshintergrund; 3. das besonnene oder normale Tem- 
perament mit durchschnittlichem Biotonus, psychischem Tempo und Stimmungs- 
hintergrund. Ausnahmen bilden z. B. die Menschen mit zweifellos hochgestellten 
Biotonus (Vitalkraft) ohne stärkere Lustbetonung der Vitalgefühle. — Ein besonderes 
Kapitel beschäftigt sich mit den biologischen Grundlagen von Temperament und 











er GM 


Charakter. Auf diesem Gebiet überwiegen vorläufig noch die Vermutungen über die 
positiven Kenntnisse. — Die hauptsächlichste Bedeutung des ganzen Buches liegt in 
dem umfangreichen Abschnitt der Charakteranalyse. Verf. legt hier ein Schema 
zugrunde, das sich sehr stark an Kretschmer anlehnt. Er unterscheidet: 1. Die 
Eindrucksfähigkeit (empfindsam-gleichgültig); 2. die Retentionsfähigkeit 
(belehrbar-unbelehrbar); 3. die intrapsychische Aktivität (beweglichen Geistes — 
trägen Geistes); 4. die Ableitungsfähigkeit (sich durchsetzend — nachgebend oder 
ausweichend). Es ergeben sich auf diese Weise vier große Gruppen: 1. Eindrucks- 
fähige Stheniker (aktive, handelnde Naturen); 2. Eindrucksfähige Astheniker (aus- 
weichende, passive Naturen); 3. Gefühlskalte Stheniker; 4. Gefühlskalte Astheniker. 
Es würde zu weit führen, die vielen Unterformen, die nicht nur nach den vier Eigen- 
schaften, sondern auch noch nach Triebstärke (Egosentrizität) und nach absoluter Höhe 
der einzelnen Komponenten differenziert werden, hier näherauszuführen. Jede Unter- 
gruppe ist durch gut gewählte, anschauliche Beispiele belegt. Etwas eigentümlich muß es 
den Leser anmuten, daß die verschiedenen Eigenschaften in ihrer Intensität zahlenmäßig 
festgelegt werden (Retentionsfähigkeit = Stärke 12 oder intrapsychische Aktivität 
= Stärke 25). Hier wäre wohl eine andere Form der gradmäßigen Unterscheidung 
zweckmäßiger gewesen. Bei den einzelnen Komponenten fällt auf, daß unter ‚intra- 
psychischer Aktivität‘ neben der geistigen Lebendigkeit auch die verstan- 
desmäßige Steuerung der Affektivität verstanden wird, daß ferner die Ablei- 
tungsfähigkeit einmal das affektive Abreagieren und ferner die Willens- 
sphäre (Energie — Nachgiebigkeit) umgreift. Dies sind doch jeweils recht verschiedene 
Dinge. Der Gedanke einer Strukturanalyse ist’ zweifellos richtig und gut und 
deshalb sehr zu begrüßen. Doch ist diese Aufgabe allein nicht nach meiner 
Meinung auf dem Wege eines rein begrifflichen Schemas zu lösen. Andere 
Autoren haben mit demselben Rechte andere Schemata gewählt (Klages und A pfel- 
bach). Ohne biologische Kontrolle, die vorerst nur auf dem Wege der Erblichkeits- 
forschung möglich ist, werden wir der Natur nicht auf die Spur kommen. Wir müssen 
bei einer Strukturanalyse, die mordernen Anforderungen genügen soll, nach selbständig 
vererbbaren Eigenschaften bzw. Eigenschaftskomplexen suchen; d. h. wir müssen 
für unsere Analyse eine biologische Kontrolle hoben. Außerdem würde sich eine Erweite- 
rung auf die anlagemäßig gegebene Richtung und Qualität der Triebe und Tendenzen 
empfehlen. — Die letzten Kapitel beschäftigen sich mit der Bedeutung der Struktur- 
analyse für die Psychiatrie. Hier ist ein Mißverständnis zu berichtigen, das die Auf- 
fassung der sog. schizoiden Psychopathen betrifft. Nicht so ist der Begriff des 
Schizoiden entstanden, daß man manche Psychopathen mit postpsychotischen Zu- 
ständen bei Schizophrenen gleichgesetzt hat; vielmehr war hierfür in erster Linie die 
Ähnlichkeit mancher Psychopathen mit der präpsychotischen Vearnlagung bei den 
Schizophrenen maßgebend, ferner die Beziehungen der psychologischen Struktur 
dieser Psychopathen zu manchen psychologischen Phänomenen bei den schizophrenen 
Erkrankungen selbst. Niemals ist, wie Ewald annimmt, behauptet worden, daß alle 
Psychopathen schizoid sind. Es gibt daneben noch allerhand andere Psychopathen- 
typen, die niehts mit dem schizophrenen Formkreis zu tun haben. — Das Buch gibt 
viele interessante Anregung enund ist jedem Psychopathologen, jedem psychiatrischen 
Konstitutionsforscher aufs wärmste zu empfehlen. H. Hoffmann (Tübingen). 

Prandtl, Antonin: Die Koordination der Gehirn- und der Bewußtseinsvorgänge. 
Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., I. Abt.: Zeitschr. f. Psychol. Bd. 94, 
H. 1/2, S. 54—100. 1924. 

Philosophisch fundierte Betrachtung über das Verhältnis der psychischen Er- 
scheinungen zu den physischen. Wechselwirkungstheorie und psychophysischer Par- 
allelismus werden abgelehnt, an ihre Stelle tritt die Lehre von der Koordination der 
Bewußtseinsvorgänge.. Im Anschluß an Mach und Avenariussche Gedankengänge 
wird an dem Physischen und dem Psychischen kein Unterschied numerisch verschie- 


nd 


Zeitschrift für Kinderforschung. %, Ref. í 


— 98 — 


dener Dinge gesehen, sondern hier handelt es sich bloß um einen Unterschied der Be- 
trachtung oder der Wahl eines Standpunktes. Die Annahme eines gegenseitigen ,Wir- 
kens“ aufeinander im kausalgesetzlichen Sinne könne die bewußten Erlebnisse nicht 
erklären, auch könne von einer gegenseitigen Abhängigkeit nicht gesprochen werden; 
an ihre Stelle tritt ein streng eindeutiger Zusammenhang und nur die Wahl des Stand- 
punktes bestimmt es, ob ein Inhalt des Erlebten als physisch oder als psychisch be- 
wertet wird. von Kuenburg (München). 

Müller, Armin: Das Individualitätsproblem und die Subordination der Organe. 
Zugleieh ein Beitrag zum Descensus der Keimdrüsen der Säugetiere. Arch. f. d. ges. 
Psychol. Bd. 48, H. 3/4, S. 290—381. 1924. 

Eine naturphilosophische Studie, die, ausgehend von der Voraussetzung der ob- 
jektiven Geltung des Ganzheits- und Subordinationsbegriffes und seiner Behandlung 
in der Psychologie (Dilthey, Spranger), in der Philosophie (Driesch), in der 
Psychiatrie (Bumke) und in der Psychopathologie (Jaspers), zu dem Versuch einer 
„verstehenden‘“ Biologie führt. Ältere und neuere Ergebnisse und Betrachtungen 
der biologischen Einzeldisziplinen kommen in reichhaltiger Weise zur Geltung; sie bilden 
die Grundlage zur Behandlung der Probleme der Einheit, des Funktions- und Struk- 
turzusammenhanges der Ganzheit und der Subordination und Rangordnung der Or- 
gane und führen zu der Anerkennung eines außerzweckhaften künstlerischen Prinzips 
in der organischen Natur. Zugleich wird ein Überschreiten der von Kant gezogenen 
Erkenntnisgrenzen gefordert und werden gewisse Beziehungen zu den Entwicklungs- 
richtungen der neuesten deutschen Philosophie (Scheler, Spranger) festgestellt. 

von Kuenburg (München). 

Dürekheim, Karlfried Graf v.: Erlebensformen. Ansatz zu einer analytischen 
Situationspsychologie. Ein Beitrag zur Psyehologie des Erlebens. Arch. f. d. ge. 
Psychol. Bd. 46, H. 3/4, S. 262—350. 1924. 

Eine aus dem Kieler psychologischen Institut hervorgegangene und in der Fest- 
schrift zu G. Martius 70. Geburtstag erschienene Arbeit. Die von Martius (Über 
synthetische und analytische Psychologie, 1912) beeinflußten Gedankengänge behandeln 
das Problem des Erlebens in seinen vielfältigen Formen unter werttheoretischen Ge- 
sichtspunkten in systematischer analysierender Beschreibung. von Kuenburg. 

© Erismann, Theodor: Die Eigenart des Geistigen. Induktive und einsichtige 
Psychologie. Leipzig: Quelle & Meyer 1924. XII, 251 S. Geb. G.-M. 10.—. 

Die wissenschaftliche Forschungsmethode der modernen Psychologie war bis in 
die neueste Zeit vornehmlich die induktive, die der naturwissenschaftlichen nachge- 
bildete, Methode. Es bestand wohl neben dieser sogenannten „atomistischen Psycho- 
logie‘ von jeher die Psychologie der Menschenkenner und Dichter; sie wurde aber al: 
nicht wissenschaftlich bezeichnet. Auch an Versuchen und Forderungen, die Psycho- 
logie unter anderen methodischen Gesichtspunkten zu erforschen, fehlte es seit langem 
nicht. Nichtsdestoweniger mehren sich in jüngster Zeit die Gegner der induktiven 
Forschungsrichtung, sie vergessen häufig, wieviel die wissenschaftliche Psychologie 
ihr zu verdanken hat und verkennen, daß ihre großen Vertreter sich wohl der Schwierig- 
keiten, ja der Unmöglichkeit bewußt waren mit dieser Methode an gewisse Probleme 
des Psychischen heranzutreten. — Vorliegendes Buch würdigt zwar die Ergebnisse der 
naturwissenschaftlich orientierten Psychologie, will aber an Hume anknüpfend den 
Beweis erbringen, daß neben der Induktionsmethode, die als uneinsichtig gelten muß, 
auch die Methode ‚einsichtiger‘‘ Erkenntnis, neben dem bloßen Registrieren der Avf- 
einanderfolge seelischer Prozesse auch ein Eindringen in ihrem sinngemäßen Zusammen- 
hang, ein Verstehen der psychischen Geschehnisse möglich, ja notwendig ist. Die 
prinzipielle Stellungnahme zu den beiden Forschungsmethoden wird an einzelnen 
Beispielen (III. Kap. Zur einsichtigen Psychologie des Denkens, IV. Zur einsichtigen 
Psychologie des Wollens, V. Zur einsichtigen Psychologie des Fühlens, VI. Zur ein- 
sichtigen Psychologie der Entwicklung) eingehend behandelt. Wiewohl der eın- 








— 99 — 


sichtigen Methode, gegenüber der induktiven (uneinsichtigen), der Vorzug gegeben 
wird, verkennt Verf. nicht, daß mit ihrer alleinigen Anwendung das ganze Gebiet 
des Psychischen niemals vollständig erforscht werden kann und daß neben der ein- 
sichtigen auch die Induktionsmethode immer Verwendung finden wird. Beide For- 
schungsarten schließen sich ihrem Objekte nach, nicht aus, sondern haben sich zu 
ergänzen. von Kuenburg (München). 

@ Moses, J.: Vom Seelenbinnenleben der Kinder. (Friedrieh Manns pädag. Magaz. 
H. 105.) 2.umgearb. Aufl. Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1924. 24 S. G.-M. 0.35. 

Die vor 25 Jahren erschienene kleine Schrift des Verf., die jetzt wieder neu auf- 
gelegt ist, ist auch heute noch lesenswert. Behandelt sie doch ein häufig schwer zu- 
gängliches Gebiet der Kinderseele, dessen Kenntnis jedoch für den Psychologen, 
Pädagogen und Pädiater unerläßlich ist. Unter ,Seelenbinnenleben““ versteht Verf. 
das kindliche Phantasieleben, insofern es sich um die eigene Person dreht und sich in 
Träumen von Größe, Macht, Märtyrertum u. dgl. niederschlägt. Dies Phantasieleben, 
das wie ein zweites Dasein das reale Leben heimlich begleiten kann, blüht, wie Verf. 
zeigt, besonders auf dem Boden charakterologischer Schüchternheit oder sozialer 
Entbehrungen und hat eine kompensierende Ausgleichsfunktion; indem es Trotz- und 
Ressentimenteinstellungen mildert. In der Überwachung und Leitung des Seelen- 
binnenlebens sieht Verf. eine wichtige Aufgabe der Pädagogik. Storch (Tübingen). 

© Bäumer, Gertrud, und Lili Droeseher: Von der Kindesseele. Beiträge zur Kinder- 
psyehologie aus Dichtung und Biographie. 5. Aufl. Leipzig: R. Voigtländer 1924. 
XI, 512 S. G.-M. 8.—. 

Die beiden Autorinnen können mit Genugtuung eine 5. Auflage verzeichnen. 
In der Tat hat die jugendkundliche Richtung, der sie mit ihrer Sammlung von Selbst- 
biographien und künstlerischen Darstellungen dienen wollten, in den letzten 15 Jahren 
neben der experimentellen Pädagogik nicht nur nicht verloren, sondern sich sogar 
durchzusetzen gewußt. Haben doch inzwischen Sprangers Lebensformen zu wirken 
begonnen, in denen zum erstenmal eine Psychologie der geistigen Verbundenheit der 
Persönlichkeit gegeben wird. Man kann dem Buche von Bäumer und Droescher 
ohne Einschränkung dankbar sein. Wer es gelesen hat, wird reichste Anregung emp- 
fangen und wird das Leben der Kinder, die ihm anvertraut sind, mit den Augen des 
„Vverstehenden“ Psychologen ansehen lernen. Das Buch ist kein Lehrbuch der Psycho- 
logie; das wäre ein Mißverständnis, woran allerdings die Anmerkungen nicht immer 
ganz unschuldig sind, denn B. und D. sagen uns zwar öfter, daß jedes dieser Stücke 
von der Ganzheit einer Individualität zeugen soll. Dennoch sind weniger in den Über- 
schriften als in den Anmerkungen einzelne psychologische Funktionsweisen stark 
herausgehoben. Die Hinweise auf Literatur aus den Gebieten des Romans, der 
Novelle, der Selbstbiographie und der psychologischen Einzel- und Sammelforschung 
ergänzen die gegebene Auswahl. Eliasberg (München). 

Raspe, Carla: Kindliehe Selbstbeobachtung und Theoriebildung. (Psychol. Inst., 
Univ. Rostock.) Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 23, H. 5/6, S. 302—328. 1924. 

Verfasserin untersucht die kindliche Selbstbeobachtung an den Phänomen des 
optischen Sukzessivkontrastes, der Vorstellungsbilder und bei Reaktionsversuchen 
und stellt sich im Anschluß daran die Frage, ob das Kind fähig ist, selbständig kausale 
Beziehungen der beobachteten Phänomene zu finden. Die kindliche Beobachtung 
gelingt, wegen der Schwierigkeit der Konzentration, weniger gut bei den Versuchen 
über negative Nachbilder und bei den Vorstellungsbildern, besser bei einfachen Re- 
aktionsversuchen; vom 8. Lebensjahr an sind jedoch die Kinder imstande, entsprechende 
richtige Angaben zu machen. Die Theoriebildung steht noch auf seiner sehr primi- 
tiven Stufe; die meisten Kinder ziehen die Eigenschaften des Versuchsmaterials zu 
ihrer Erklärung heran, einige suchen sie in den einfachen, physikalischen Erschei- 
nungen; nur wenige Kinder betonen die subjektive Erscheinung als Erklärungsgrund, 
während eine vierte Gruppe mystische Kräfte und Zauberei annehmen. v. Kuenburg. 

72 


— 100 — 


© Rehmke, Johannes: Gemüt und Gemütsbildung 2. umgearb. Aufl. (Friedrich 
Manns pädagogisches Magazin. Abhandl. v. Gebiete d. Pädagogik u. ihrer Hilfswissen- 
sehaften. H. 974.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1924. 38 S. G.-M. —.45. 

Nachdem flüchtig das Gegenständliche und Zuständliche im Seelenleben unter- 
schieden und als zusammengehörig dargestellt werden, findet sich eine ebenso knappe 
Erörterung über den Gefühlsbegriff, in dem das Zustandserlebnis als Kern aufgefaßt 
wird. Die Stimmung soll sich vom Gefühl dadurch unterscheiden, daß sie „dunkel“, 
dieses aber „deutlich“ ist. Außer Gefühl und Stimmung noch Affekte zu unterscheiden. 
hält Rehmke für überflüssig. ‚Das Leben der Seele, soweit es auf dem Wechsel von 
Gefühlen, sowie von Gefühl und Stimmung beruht, nennen wir das Gemütsleben und 
das Gefühl sowie die Stimmung des jedesmaligen Augenblicks den Gemütszustand 
der Seele“ (33f.). Als Aufgabe der Gemütsbildung betrachtet es R., den Stimmungen 
zu wehren und zu deutlichen Gefühlen zu verhelfen, da dies im Interesse einer Be- 
herrschung des Bewußtseins liege. Ch. Bühler (Wien). 

Stern, William: Das „Ernstspiel“ der Jugendzeit. Zeitschr. f. pädag. Psychol. 
u. exp. Pädag. Jg. 25, Nr. 8, S. 241—252. 1924. 

Schon seit längerer Zeit hat W. Stern ein größeres Werk über ‚Das Seelenleben 
der reifenden Jugend“ in Aussicht gestellt. Inzwischen hat er einzelne Abschnitte 
hieraus in der Zeitschrift für pädagogische Psychologie veröffentlicht. Den Abhand- 
lungen „Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen‘ und „Über die Entwicklung der Ideal- 
bildung in der reifenden Jugend“ läßt er jetzt eine weitere wertvolle Untersuchung 
über „Das Ernstspiel der Jugendzeit‘ folgen. Er betrachtet das Spiel des Jugendlichen 
als eine Zwischenform zwischen der kindlichen Spieltätigkeit und der ernsten Be- 
tätigung des Erwachsenen. Die Tatsache, daß der Jugendliche sein Tun subjektiv 
ernst nimmt, ohne daß ihm auch objektiv eine Ernstbedeutung zukäme, soll durch den 
Begriff „Ernstspiel‘‘ angedeutet werden. Vom Standpunkt der von ihm vertretenen 
Persönlichkeitspsychologie unterscheidet Stern drei Sinnbeziehungen des Ernst- 
spieles: Es hat den Charakter der „Vorübung“ für später gebrauchte lebenswichtige 
Verhaltungsweisen. Seine weitere Bedeutung liegt im „Vorausdruck“ individueller 
Züge, die sich zuerst spielerisch ankündigen. Schließlich dient es der „Vortastung“ 
künftiger Lebensziele, insofern der Jugendliche verschiedene Möglichkeiten der Lebens- 
gestaltung an harmlosem Material gewissermaßen durchexperimentiert. — Diese 
Grundgedanken veranschaulicht Stern an verschiedenen Beispielen jugendlicher 
Lebensformen. In erster Linie verweist er auf die Erotik des Jugendalters, bei der die 
Liebe durchaus als Selbstzweck auftritt, während die Person selbst (insbesondere Alter 
und Geschlecht) und die Form des erotischen Verhaltens keine ausschlaggebende 
Bedeutung haben. Auch die Berufswahl wird unter einer ähnlichen Einstellung voll- 
zogen, darum selbst bei Studenten in den ersten Semestern noch der häufige Fakul- 
tätenwechsel, und für Mädchen behält die Berufswahl regelmäßig den Charakter de: 
Vorläufigen. Besonders anschauliche Beispiele liefern das Gemeinschaftsleben in der 
Jugendbewegung sowie der Sportbetrieb unserer Jugend. Man darf alle diese Veran- 
staltungen nicht nach ihren objektiven Leistungen werten, die oft in starkem Mib- 
verhältnis zu der von der Jugend aufgewandten Mühe und Kraft stehen. Auch hierbe: 
ist das Wichtigste die Vorübung lebenswichtiger Verhaltungsweisen an einem harmloser. 
Stoffe. Auf der Beachtung dieses Grundsatzes beruhen die pädagogischen Erfolg 
der amerikanischen ‚„Jugendrepubliken“. Dagegen wird im Sport vor allem die Un 
endlichkeit aller Zielsetzung erlebt und der Begriff des „Ideals“ dem Jugendlichen 
näher gebracht. Er dient einer Läuterung des Trieblebens, insofern Geltungsbedürfni:. 
Machtverlangen und gewisse soziale Instinkte sich in erzieherisch geeigneter Weis 
auswirken können. Trotz aller Vorzüge des Sportes muß doch vor schrankenloser 
Hingabe gewarnt werden, weil die „Unendlichkeit der Aufgabe“ leicht zu seelischer 
Verödung führen kann. Die Sportleidenschaft ergreift viele Jugendliche ..mono- 
manisch“: die Wertung der Leistungen nach willkürlichen Regeln einer bestimmten 


— 11 — 


Gruppe läßt obendrein einen bedenklichen Konservativismus und Mangel an Eigen- 
artigkeit aufkommen. Der Jugendbewegung und dem Sport entsprechen daher zwei 
ganz verschiedene Typen jugendlicher Entwicklung, die Stern als revolutiven und 
evolutiven Typ kennzeichnet. Zahlenmäßig ist der evolutive, zum Sport neigende 
Typ heute in der Jugend stärker vertreten, aber der entgegengesetzte in der Jugend- 
bewegung zu findende Typ scheint dem eigentlichen Sinn der Jugendlichkeit näher zu 
stehen. Walter Hoffmann (Leipzig). 


Gilehrist, Olive B.: A new view of mental development. (Eine neue Lehre über 
geistige Entwicklung.) Psychol. review Bd. 31, Nr. 4, S. 297—310. 1924. 

Die Gestalttheorie (vertreten von Wertheimer, W. Köhler, Koffka) findet in 
Amerika Würdigung-und Verständnis. Sie wird in vorliegendem Artikel dargelegt, die 
Einzeluntersuchungen Köhlers besprochen, in Parallele gezogen und in Einklang be- 
funden mit den Instinkttheorien von Stout und Mc. Dougall, in Gegensatz gestellt 
zu den mechanistischen Theorien von Watson, Thorndike und Lloyd Morgan. 
Wiewohl die Gestalttheorie in manchen Punkten noch Schwierigkeiten biete, so tue 
sie den bekannten Tatsachen doch keine merkliche Gewalt an; sie scheine die stärkeren 
Erklärungsgründe beizubringen und zeige aus den Ergebnissen der besprochenen Unter- 
suchungen, daß die alte Theorie (Thorndike u.a.) in ihren Fundamenten unhaltbar 
sei. von Kuenburg (München). 


Linde, Ernst: Die Seele der Jugendliehen. Dtsch. Schule Jg. 28, H. 5, S. 193 
bis 204. 1924. 

Aufsätze wie der obige von E. Linde über das jugendliche Seelenleben waren 
vor etwa 10 Jahren an der Tagesordnung. Heute, nachdem es mehrere größere wissen- 
schaftliche Werke über die Psychologie der Pubertät gibt, sind derartig äußerliche Zu- 
sammenstellungen von ein paar Beobachtungen nicht mehr statthaft. Es ist zu wün- 
schen, daß der Verf. zu seiner geplanten ausführlichen Bearbeitung des Themas mit 
der ausgedehnten Literatur mehr Fühlung nimmt, als es bisher der Fall zu sein scheint. 
Die im vorliegenden Aufsatz berichteten Tatsachen sind allgemein bekannt. 

Ch. Bühler (Wien). 
© Croner, Else: Die Psyche der weiblichen Jugend. (Sehriften z. Frauenbild. Hrsg. 
v. Jakob Wyehgram. H. 6.) (Friedrich Manns pädag. Magaz. H. 996). Langensalza: 
Hermann Beyer & Söhne 1924. 63 S. G.-M. 0.90. 

Als Zentralpunkt der Jungmädchenseele hebt Verf. die Mütterlichkeit und damit 
zusammenhängend die unbewußte Todesbereitschaft, die Hingabe der Lebenskraft 
für ein neues Leben hervor. Die Pubertät wiegt daher für das Mädchen schwerer 
als für den Knaben. Haupttypen von jungen Mädchen sind: der mütterliche, der 
erotische, der romantische, der nüchterne und der intellektuelle Typ. Die religiöse 
Einstellung der Mädchen wird durch ihre Mütterlichkeit, das Gefühl für die Heiligkeit 
alles Lebens bestimmt. Freundschaft, die nicht als Vorstufe der Liebe, sondern als 
Erlebnis von eigenem Wert zu betrachten ist, ist ihnen in diesem Alter Lebensbedürfnis. 
Des jungen Mädchens tiefstes Erlebnis ist die Liebe. In der Kunst wird Lyrik, Theater, 
Musik, besonders die Oper bevorzugt. Der Kunstgenuß ist stark subjektiv, oft nur in 
Träumereien bestehend. Nach dieser Betrachtung der Stellung des jungen Mädchens 
zu den Menschheitsfragen wird seine Natur als soziologisches Wesen behandelt. Fami- 
lienleben steht dem jungen Mädchen näher und Familienerziehung ist für dieses uner- 
setzbarer wie für den Knaben. In der Schule ist die Persönlichkeit des Lehrenden 
wichtig, um Interesse für das Fach zu erwecken. Gemeinsamer Unterricht der Geschlech- 
ter in.den Entwickelungsjahren kann nur Notbehelf, nicht Ideal sein. Aus inneren Grün- 
den werden besonders soziale Berufe gewählt; andere Berufe werden vielfach nur als 
Verdienstquelle gewertet. Nach dem geistigen Aufschwung der Pubertätszeit bringen 
die 20er Jahre einen geistigen Stillstand, eine innere Krise. Nur bei einem Teil der 
Frauen geht die intellektuelle Entwickelung nach dieser Zeit weiter. Der Beginn 


- 12 — 





weiblicher Produktivität liegt erst nach dieser Periode. Zur Beleuchtung dieser Theorie 
wird eine kleine Tabelle über den Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung weiblicher 
und männlicher Schriftsteller gegeben. Else Voigtländer (Machernibei Leipzig). 


eRust, Hans: Das Zungenreden. Eine Studie zur kritischen Religionspsychologie. 
(Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Hrsg. v. Kretschmer. H. 118.) München: 
J. F. Bergmann 1924. 74 S. G.-M. 3.60. 

Die kulturhistorisch so bedeutsame Erscheinung des Zungenredens wird vom 
Verf. durch Berichte und Selbstzeugnisse u. a. auch aus neuester Zeit belegt. Verf. 
sucht verschiedene Arten des Zungenredens typologisch zu unterscheiden und den 
Vorgang des Zungenredens psychologisch zu klären. Es handelt sich um ein unter Aus- 
schaltung des Willens vor sich gehendes intentionsloses zwangsmäßig-anatomisches 
Sprechen bei mehr oder weniger herabgesetztem oder eingeengtem Bewußtsein. Der 
Zungenredner überläßt sich der Selbstätigkeit des Unbewußten, aber nach bewußter 
willensmäßiger Vorbereitung durch Gebet, Fasten und dergleichen und erfährt die 
Entlastung von gewissen ihm selbst vielfach unbewußten inneren Spannungen. Inter- 
essant sind die Beziehungen des stammelnden oder phantasiesprachlichen Zungen- 
redens zu den ersten Sprechversuchen und spielerischen Sprachgestaltungen der Kinder. 
Wie Kinder gern spielerisch Worte abschleifen, Silben und Buchstaben vertauschen 
und so sich eine eigene Sprache bilden, so auch der Zungenredner. Oft fließen aus der 
Kinderzeit stammende halb verstandene eigentümlich umgebildete Satzbrocken in 
das Zungenreden ein. So in einem Beispiel Pfisters, der Zungenredner analysierte. 
das Wort disgudenei, das dem Satz entsprach: dies ist gut, ein Ei — nach Angabe des 
Analysierten eine Äußerung seiner Mutter aus seiner Kindheit. Überhaupt scheint dem 
Zungenreden eine infantile Einstellung zugrunde zu liegen, entsprechend der von der 
Religion gepriesenen „frommen Einfalt“. — Die reichhaltige Monographie, die auch die 
in der antiken, alt- und neutestamentlichen Literatur überlieferten Zungenreden einer 
psychologischen Erklärung zu unterziehen sucht, verdient das lebhafte Interesse auch 
weiterer wissenschaftlich interessierter Kreise. Storch (Tübingen). 


© Birnbaum, Karl: Grundzüge der Kulturpsyehopathologie. (Grenzfragen des 
Nerven- u. Seelenlebens. Begr. v. L. Löwenfeld u. H. Kurella. Hrsg. v. Kretschmer. 
H. 116.) München: J. F. Bergmann 1924. 70 S. G.-M. 2.40. 

Der bekannte Verf. der psychopathologischen Dokumente unternimmt es in der 
vorliegenden Arbeit, die Kulturpsychopathologie als eine neue Grenzwissenschaft zu 
begründen, ihre Methoden, Probleme und Fragestellungen zu entwickeln. Er sieht die 
Hauptaufgabe der Kulturpsychopathologie in der Aufhellung der Zusammenhänge 
zwischen kulturellen und pathologischen Erscheinungen. Es sollen die kultureller 
Niederschläge im Pathologischen und die pathologischen Niederschläge im Kulturellen 
aufgesucht werden. Die Resonanz des Pathologischen für kulturelle Einwirkungen 
und die des Kulturellen für pathologische Einflüsse wird untersucht und die patho- 
logisch-kulturellen Verknüpfungsweisen werden näher bestimmt, seien diese nun rein 
äußerlicher Art, z. B. wenn eine kulturell prominente Persönlichkeit zufällig vor. 
einer Geistesstörung befallen wird oder mag es sich um innere Affinitäten wie zwischer. 
melancholischem Gemütszustand und religiösen Gedankenkomplexen oder um Wesens- 
gemeinsamkeiten handeln, z. B. zwischen den mystischen Erlebnissen religiös Ver- 
anlagter und Schizophrener. Es wird gezeigt, wie das Pathologische und das Kulturelle 
auch voneinander unberührt bleiben können (das Pathologische muß sich in der Kultur- 
schöpfung des abnormen oder erkrankten Individuums nicht unbedingt auswirken). 
Bedeutsamer ist die Verschmelzung beider Seiten zu kulturpathologischen Einrheits- 
gebilden dadurch, daß das Abnorme produktive Kräfte frei macht oder daß kulturell’ 
Momente günstige Bedingungen für das Auftreten pathologischer Phänomene abgeber. 
‘(Begünstigung von Zwangsphänomenen durch die starke Belastung des moderner 
Menschen mit Verantwortung u. dgl.) Erforderlich ist bei jeder Untersuchung eine: 


——m ll i i M M M f E . Aa Er as. a — ` nn j 


— 103 — 


kulturpathologischen Gebildes von der äußeren Erscheinungsferm, der die Beteiligung 
pathologischer Faktoren nicht immer anzusehen ist, zum inneren Aufbau vorzudringen. 
Schließlich werden die kulturpathologischen Vorgänge vom Wertgesichtspunkt behan- 
delt. Pathologisches und Hochwerte sind keine sich ausschließenden Gegensätze. 
Aber die pathologischen Hochwerte enthüllen sich oft genug als Scheinwerte oder sie 
sind mit Minderwerten verknüpft, oft genug stammen die Hochwerte überhaupt von 
den normalen Anteilen der pathologisch veränderten Persönlichkeit. Soweit psychisch 
Abnorme kulturschöpferisch wirksam sind, sind sie es nicht zum wenigsten durch 
Seelenkräfte, die ihnen aus der Normalität geblieben sind. Dennoch würde mit dem 
Wegfall des Pathologischen das menschliche Kulturleben an Lebenswert verlieren. 
Die grundlegende Schrift verdient das besondere Interesse der Vertreter kultur- 
wissenschaftlicher Gebiete ebenso wie dasjenige des Psychiaters und Psychologen. 
Storch (Tübingen). 

Klopfer, Bruno: Das Problem der seelisehen Hemmungen. Arch. f. d. ges. Psychol. 
Bd. 47, H. 1/2, S. 45—93. 1924. 

Im Hinblick auf die pädagogisch-psychologische Wichtigkeit des Problems sucht 
Verf. in vorliegender Untersuchung durch eine kritische Auseinandersetzung mit den 
vielfachen Formulierungen und Behandlungen des Hemmungsproblems in den ver- 
schiedenen psychologischen Richtungen, zu einem einheitlichen Bilde über dasselbe 
zu gelangen. Zunächst erfolgt eine Begriffsbestimmung, die sich aus den naiv ein- 
gestellten, den emotional verstehenden, den phänomenologischen und den naturwissen- 
schaftlich gerichteten Anschauungen der Psychologie ergibt. In einem zweiten Ab- 
schnitt werden die Ergebnisse der grundlegenden Arbeiten der neueren experimentellen 
Psychologie verwertet (Heymans, Rauschburg, All, Schulz und Grünbaum, 
insbesondere über die Tatsachen der äußeren ‚unmittelbaren‘ Reizwirkung und der 
„willkürlich“ herbeigeführten Reaktionen; G. E. Müller und Pilzecker über die 
„Konditionalen““ Reizwirkungen der Reproduktion und Determinationsvorgänge; 
N. Ach über die Willensvorgänge u. a. m.). Durch die experimentellen Forschungen 
wurden die seelischen Hemmungserscheinungen objektiv als Effekt interferenter Reiz- 
wirkungen festgestellt, die sich subjektiv teils in Zustands-, teils in Tätigkeitserleb- 
nissen, bisweilen jedoch gar nicht repräsentieren. Die Ergebnisse der genannten Unter- 
suchungen hängen innerlich zusammen, beeinflussen sich gegenseitig und spiegeln die 
geistigen Grundströmungen und den jeweiligen Entwicklungsstand der modernen 
Psychologie, wie sie an den Namen Ebbinghaus, Schumann, Külpe, Stumpf 
orientiert ist, wieder. In einem dritten Abschnitt wird die Frage nach dem Wesen der 
seelischen Hemmungen vom phänomenologischen Standpunkte aus, an Hand deskrip- 
tiver Feststellungen neuerer Arbeiten, zu erfassen gesucht. Die Hemmung wird als 
ein entscheidender Faktor im Zusammenwirken der verschiedenen Teilfunktionen des 
seelischen Organismus angesehen. Im vierten Abschnitt werden die Lehren Freuds, 
Adlers und Jungs kritisch betrachtet und der Begriff der Verdrängung behandelt. 
Endlich wird, unter Berücksichtigung der pädagogischen Ziele, von der Festlegung 
einer Theorie im Sinne einer Kausalerklärung abgesehen und nur die finale Bedeutung 
der Hemmungsvorgänge im Gesamtzusammrenhang des menschlichen Seelenlebens 
hervorgehoben (W. Stern). Man kann in dem Gesamtkomplex von Fähigkeiten 
und Eigenschaften einer Persönlichkeit, den man unter dem Begriff Charakter zu- 
sammenfaßt, ein wohlorganisiertes und funktionierendes System von Hemmungs- 
möglichkeiten nach der positiven und nach der negativen Seite hin erblicken; anderer- 
seits zeigen sich die Hemmungsvorgänge von biologischer Betrachtungsweise aus, daß 
sie in ihrer zentripetalen Form die Einheit des individuellen Organismus gegenüber der 
Außenwelt garantieren, während die zentrifugalen Formen für den Übergang zu den 
höheren Organisationsformen menschlichen Seins die fundamentale Bedeutung ab- 
geben. — Die pathologischen Formen der Hemmungserscheinungen werden in der ge- 
nannten Studie nicht berücksichtigt. von Kuenburg (München). 


— 104 — 


Müller, Johanna: Versuehe über die Einwirkung von Motiven auf körperliche und 
geistige Leistungen bei Sehulkindern. (Psychol. Inst., Univ. Köln.) Zeitschr. f. angew. 
Psychol. Bd. 24, H.2, S. 81—128. 1924. 


Es sollte die Beziehung des Motivs zur Willenshandlung untersucht werden. Dies 
geschah an folgenden Leistungen: 1. Kraftleistungen (Ergograph), 2. Geschicklichkeits- 
leistungen (Sternschneiden), 3. dem Kraepelinschen Addierversuch. Es wurden Arbeits- 
kurven hergestellt, um die Dauer des Einflusses des Motivs festzustellen. Die Motive 
waren Ehrgeiz, Nutzen und ein altruistisches Motiv. Beim Ehrgeiz (Wetteifer) arbeitete 
jedes Kind allein in Gegenwart der Vl., um massenpsychologische Einflüsse auszu- 
schalten. Die mitgeteilten Selbstbeobachtungen der Schülerinnen von 6—13 Jahren 
scheinen zu ergeben, daB trotzdem Wetteifer als Motiv wirksam war. Die Leistung 
wurde in 3—4 Vorversuchen maximal vorgeübt, dann erst wurde im Hauptversuch 
das Motiv gegeben. Mit dem Einwand, daß Veränderungen der Kurve auf die Übung 
zu beziehen seien und nicht auf die Motive, hat sich Verf. eingehend auseinandergesetzt. 
Hierbei ergeben sich wertvolle Beiträge zur Übungspsychologie und zur Technik des 
Arbeitsversuches mit fortlaufender Arbeit. Dies muß nachgelesen werden. Nicht ge- 
nügend berücksichtigt hat dagegen Verf. den Einwand, daß auch in den Vorversuchen 
schon Motive verschiedener Art wirksam sein können, ja, daß es eine gänzlich ‚‚un- 
motivierte“, nur auf die Übung zu beziehende Kurve eigentlich gar nicht gibt. So 
kann auch die Art der Tätigkeit, je nachdem sie der vorhandenen Begabung, der allge- 
meinen Lebenslage entspricht oder nicht, zu starken Motivwirkungen führen. Ehrgeiz. 
Nutzen usw. können dann ganz sekundär sein, sie können aber auch im Gegenteil 
primäre starke Motive bilden selbst zum Ausgleich von Unterbegabung. Man denke 
an das Beispiel von Demosthenes. Auf die Wirkungen der ersten Motivreihe ist die 
Verf. nicht eingegangen. Die Wirksamkeit eines Motivs zeigt sich beim 6jährigen 
Kind schon so stark wie bei dem 13jährigen. Am gleichmäßigsten und stärksten ist 
bei allen Lebensaltern das altruistische Motiv entwickelt (durch gute Leistungen dıe 
Möglichkeit zu bekommen, irgend jemand eine Freude zu bereiten). Der Ehrgeiz is: 
auch schon beim 6jährigen Kind vorhanden, aber nicht für alle Gebiete gleichmäßig 
entwickelt (siehe das eben über Begabung und Lebenslage Ausgeführte). Die Mädchen 
ım Pubertätsalter sprechen allgemein am schwächsten auf Motive an, schwächer ais 
die Sechsjährigen. Ausdauer und Gleichmäßigkeit fehlen bei ihnen am meisten. Die 
Auswertung der Kurve wurde ergänzt durch vorsichtige, methodisch durchdachte 
Heranziehung der Selbstbeobachtungen der Vpn. Danach gehört zu den wesentliche: 
Komponenten des erfolgreichen Handelns, daß der Motivgedanke willkürlich im B«- 
wußtsein gehalten, erforderlichenfalls erneut reproduziert und auftauchenden Geger- 
motiven keine Möglichkeit zur Entwicklung gegeben wird. Kontrollen verschiedener 
Art ersparen übermäßige Zufuhr psychophysischer Energie. Sie regulieren auch das 
Tempo. Alle diese komplizierten Leistungen lassen sich als Bewußtseinsgegebenheitet 
schon bein 6jährigen nachweisen. Die Arbeit Mülllers stellt auf diesem Gebiete ein: 
Bestätigung anderer Untersuchungen an Kindern dar. Ref. möchte besonders an dir 
Untersuchung Karl Köhns: Über die Arbeitsweise des intelligenten Kindes (1915: 
erinnern. Eliasberg (München). 


Terman, Lewis M.: The mental test as a psyehologieal method. (Die Testversuct: 
als eine psychologische Methode.) Psychol. review Bd. 31, Nr. 2, S. 93—117. 1%: 


Der Test hat nicht nur diagnostische Bedeutung für die psychologische Forschung. 
sondern er hat auch die Bedeutung eines reinen Forschungsexperiments. Mit der Tes- 
methode sind besonders die individuellen und Rassenunterschiede, die Erscheinun«:: 
des psychischen Wachstums, die Grenzen der Erziehbarkeit, die Psychologie des Geniu: 
ebenso wie die der geistigen Schwäche untersucht worden. Die Anwendung ist nich’ 
auf die Intelligenzprobleme beschränkt, sondern auch im Bereich des Gefühl- un: 
Willenlebens, der wissenschaftlichen Erforschung von Temperament und Charakte’ 





— 105 — 


möglich. In den Augen mancher Forscher ist sie die wichtigste psychologische Methode 
überhaupt. Erwin Straus (Charlottenburg)., 

Löwi, M.: Schwellenuntersuehungen. Theorie und Experiment. Arch. f. d. ges. 
Psychol. Bd. 48, H. 1/2, S. 1—73. 1924. 

Eine für Fachpsychologen wertvolle theoretische Abhandlung, die auf Grund 
von begrifflichen und methodischen Gesichtspunkten der Psychophysik ihre Stellung 
innerhalb der geisteswissenschaftlich gerichteten Psychologie verschaffen will. An der 
Hand von Schwellenuntersuchungen und deren analysierender Auswertung wird gezeigt, 
daß der Messung keine psychischen Tatsachen entsprechen; es soll dem Begriff der 
Schwelle die rechtmäßige Stellung innerhalb der experimentellen Psychologie gegeben 
und gezeigt werden, daß Psychophysik nur als Gestaltspsychologie möglich ist. 

von Kuenburg (München). 

Fox, Charles: A study in prepereception. (Eine Studie der Auffassung.) Brit. 
journ. of psychol. a. gen. sect. Bd. 15, Nr. 1, S. 1—16. 1924. 

Versuchspersonen waren Studenten (graduates). Es wurden Bilder fernerliegenden 
Inhalts, Ritterrüstungen, geboten. Die Beschreibungen aus dem Gedächtnis wurden 
benotet. Wurde vor dem zweiten Versuch in einer Gruppe ein Text mit Bezug auf 
diesen Gegenstand gelesen und unmittelbar danach ein entsprechendes Bild exponiert, 
so ergab sich kein Unterschied in der objektiven Leistung beider Gruppen. Dagegen 
war der Unterschied sehr deutlich, wenn eine Woche zwischen Lektüre und zweiter 
Exposition lag. Gegen den Einfluß willentlicher Momente spricht (Ref.), daß der 
Variationskoeffizient bei der Gruppe mit der verbesserten Leistung kleiner ist als 
bei der Zweitleistung der unvorbereiteten Gruppe. Auch wurde, um die willentlichen 
Momente in beiden Gruppen aufs Röchste zu steigern (Wetteifer), mit beiden Gruppen 
gleichzeitig im selben Raum gearbeitet. Die Selbstbeobachtungsprotokolle ergaben 
als Ursache für das Ausbleiben des Erfolges nach kurzem Intervall, daß den Versuchs- 
personen die Ausdrücke noch nicht geläufig geworden waren. Sie mußten nach den 
neuen Worten suchen und waren dadurch in der Beobachtung gestört. In der Versuchs- 
enordnung mit langem Intervall bestand die Hilfe darin, daß an Hand des vertrauten 
Stoffes ein Beobachtungsplan benutzt und die Beobachtung systematisch vorge- 
nommen werden konnte. Die Worte waren hier gründlich eingeübt. Die Lektüre 
bewirkt dann, „daß die Details aus dem Bilde geradezu herausspringen“. Waren die 
Bilder auf diese oder auf andere Weise vertraut geworden, so stellte sich auch leichter 
eine ästhetische (subjektive) Auffassungsweise ein. Eliasberg (München). 

Drever, James: The elassifieation of the instinets. (I.) (Die Einteilung der In- 
stinkte. [I.]) Brit. journ. of psychol., gen. sect. Bd. 14, Nr, 3, S. 248—255. 1924. 

Das Wort Instinkte sollte nur gebraucht werden in Beziehung auf angeborene 
Reaktionen, nicht aber hinsichtlich der Elemente der Bewegung, sondern allein der 
Formen des Verhaltens. Der innere oder psychische Aspekt der Instinkthandlungen 
ist ein bestimmter Trieb oder Zwang, durch den allein die Erscheinungen erklärt 
werden können. Auf einer psychologischen Grundlage sind die Instinkte einzuteilen 
in allgemeine und spezifische, diese in begehrende und gegenwirkende, und diese 
wieder in einfache und emotionale. Erwin Straus (Charlottenburg)., 

Jones, Ernest: The elassifieation of the instinets. (II.) (Die Einteilung der In- 
stinkte. [II.]) Brit. journ. of psychol., gen. sect. Bd. 14, Nr. 3, S. 256—261. 1924. 

Der englische Psychoanalytiker entwirft im Anschluß an die Lehren seiner Schule 
ein eigenes Schema in das, wie er meint, alle einzelnen Arten der Instinkte, ursprüng- 
liche wie abgeleitete sich einordnen ließen. Die Hauptgesichtspunkte der Einteilung 
sind die nach Attraktion und Repulsion bzw. nach Gefallen und Mißfallen. Zu den 
ersteren gehört Hunger und Sexualität, mit den von ihnen abgeleiteten Formen der 
Neugier und der Gier nach Besitz. In die 2. Gruppe gehören die Ichinstinkte: Ab- 
neigyng, die in Ekel übergehen kann, Flucht mit allen ihren verschiedenen Variationen 
und Kampflust. Erwin Straus (Charlottenburg)., 


— 16 — 


Ellwood, Charles A.: The relations of sociology and social psyehology. (Die Be- 
ziehungen der Soziologie zur Sozialpsychologie.) Journ. of abnorm. psychol. a. soc. 
psychol. Bd. 19, Nr. 1, S. 3—12. 1924. 

Kantor, J. R.: The institutional foundation of a seientifie social psyehology. 
(Grundlegung einer wissenschaftlichen Sozialpsychologie.) Journ. of abnorm. psychol. 
a. soc. psychol. Bd. 19, Nr. 1, S. 46—56. 1924. 

Allport, Floyd H.: The group fallacy in relation to soeial seience. (Die Täuschung 
über das Gruppenproblem in bezug auf die Sozialwissenschaft.) Journ. of abnorm. 
psychol. a. soc. psychol. Bd. 19, Nr. 1, S. 60—73. 1924. 

Drei nicht unbedeutende Abhandlungen prinzipieller Stellungnahme zu den Problemen 
der Sozialpsychologie. Sie geben ein deutliches Bild von den theoretisch-peychologischen Rich- 
tungen der Autoren. von Kuenburg (München). 

Goldenweiser, Alexander: Diseussion of professor Allport’s paper. (Diskussion 
über Professor Allports Abhandlung.) Journ. of abnorm. psychol. a. soc. psychol. 
Bd. 19, Nr. 1, S. 74—76. 1924. 

Kritische Auseinandersetzung über obengenannte sozialpeychologische Abhandlung 
Allports, insbesondere über Allports Ablehnung der Lehre von einer überindividuellen 
Gruppen- oder Sozialseele (social-psyche). von Kuenburg (München). 

Bernard, L. L.: Diseussion of professor MeDougall’s paper. (Diskussion über 
Professor McDougalls Abhandlung.) Journ. of abnorm. psychol. a. soc. psychol. Bd. 19, 
Nr. 1, S. 42—45. 1924. 

Polemisch gehaltene Kritik über Mc Dougalls Theorie von den Instinkten und seiner 
kritischen Behandlung der Lehren Deweys und Dunlaps über das Problem der Instinkte. 

von Kuenburg (München). 

Saupe, Walther: Erfahrung und Gestaltung. Wertpsyehologische und wertpäd- 
agogische Betraehtungen. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25, Nr. 7, 
S. 218—223 u. Nr. 8, S. 281—287. 1924. 

Die Arbeit will den Kampf zwischen Theorie und Praxis beheben durch eine Theorie, 
die der Erfahrung nicht entgegen ist, weil sie die methodische Grundlage aller Erfahrung 
ist, und sie will der Frage der Konzentration unserer zerspalteten Bildung durch ein „Prinzip 
der schaffenden Intension“ beikommen. Wenn ich richtig verstanden habe, was der Verfasser 
überhaupt will! Denn seine Auseinandersetzung geschieht so aphoristisch in den Formeln 
der verschiedensten philosophischen Schulen und so terminologisch maskiert, daß ihr alles 
andere wie eine Klärung zu entnehmen ist. Wenn die alte pädagogische Literatur durch ihren 
Mangel an begrifflicher Konzentration oft unerträglich wurde, so bedeutet dieses Gegenspiel 
wahrhaftig keine Besserung, das zwar in einem neuen Stil, aber im Grunde doch genau so 
wie jene mit den zusammengerafften, halbverstandenen Einsichten, Formeln und vor allem 
Zitaten der wirklichen Forscher arbeitet. Nohl (Göttingen). 


Pauli, R.: Der Umfang und die Enge des Bewußtseins. (Psychol. Inst., Unir. 
München.) Zeitschr. f. Biol. Bd. 81, H. 3/4, S. 93—112. 1924. 

Der Bewußtseinsumfang sagt lediglich etwas aus über die Gleichzeitigkeit von Be- 
wußtseinsvorgängen. Die Tatsache des Bewußtseinsumfanges ist nicht notwendig 
gebunden an das Vorhandensein von Enge des Bewußtseins. Hierunter versteht Verf. 
die Tatsache, daß unveränderliche zeitliche Ausschlußbeziehungen von Einzelvorgängen 
des Bewußtseins bestehen. Die Untersuchung der Enge ist ein mittelbares Verfahren 
zur Erfassung des Bewußtseinsumfanges. Die Versuche von Eliasberg und Mager 
weisen die Enge des Bewußtseins als Tatsache nach. Dabei sind die Modalitätsverhält- 
nisse der Empfindungen gleichgültig, ob z. B. bei der Prüfung der Möglichkeit einer 
Doppelleistung optische Reize verwendet werden zusammen mit taktilen Reizen. Es 
liegt ein primitives Ordnungsgesetz darin, daß bestimmte Bewußtseinsvorgänge nicht 
zusammen mit gleichartigen ablaufen können. Verf. hält es für wahrscheinlich, daß 
die Enge des Bewußtseins physiologisch als eine Hemmungserscheinung im Sinne der 
Theorie von Verworn erklärt werden kann. Lipps (Göttingen)., 

Jong, H. de: Palaeo- und Neo-Intellekt. Psychiatr. en neurol. bladen Jg. 1924, 
Nr. 1/2, S. 46—59. 1924. (Holländisch.) 

In einer Versuchsreihe, angestellt bei Kindern, mit dem auch bei tierpsychologi- 
schen Experimenten verwendeten Box von Thorndike, hat sich ergeben, daß bei 





— 17 — 


normalen Kindern das Vermögen, auf neue Situationen adäquat zu reagieren, mit un- 
gefähr 1!/, Jahren zur Entwicklung kommt. Verf. legt Wert darauf, das Vermögen, 
durch Dressur zu lernen, als phylogenetisch ältere Funktion, als Palaeointellekt zu 
bezeichnen, während er dem Vermögen, auf neue Situationen adäquat zu reagieren, 
den Terminus Neointellekt beilegt. — Verf. sieht in seiner Methode eine Ergänzung 
der Skala von Binet-Simon nach unten, eine Methode, unabhängig vom Vermögen, 
sich durch Wörter zu äußern. Die Methode gibt ein Mittel an die Hand, die niedere 
Stufe des Schwachsinns essentiell zu differenzieren. H.C. Rümke (Amsterdam)., 

Thomson, Godfrey H.: The nature of general intelligence and ability (I). (Das 
Wesen der allgemeinen Intelligenz und Fähigkeit [I].) Brit. journ. of psychol., gen. 
sect. Bd. 14, Nr. 3, 8. 229—235. 1924. 

Thomson bestreitet, daß es einen einzigen Faktor gäbe, der als „allgemeine 
Fähigkeit“ bezeichnet werden dürfte. Wo bei einzelnen Individuen ein übereinstimmen- 
des Verhalten in einer Reihe von einzelnen Vorgängen zu der Annahme eines solchen 
Faktors drängt, handelt es sich nur um die Leichtigkeit, mit der vorhandene alte Ant- 
wortmechanismen mit neuen Situationen verknüpft werden, und die Leichtigkeit, mit 
welcher eine Reaktion noch vor ihrer Durchführung abgebrochen wird, wenn sie zu 
einem Mißerfolg führen müßte. Die besten Methoden zur Feststellung dieses Ver- 
haltens beim Menschen sind der Ebbinghaus-Test und der Analogietest von Burt. 

Erwin Straus (Charlottenburg)., 

Claparède, Ed.: The nature of general intelligence and ability (II). (Das Wesen 
der allgemeinen Intelligenz und Fähigkeit [II].) Brit. journ. of psychol., gen. sect. 
Bd. 14, Nr. 3, S. 236—242. 1924. 

Die wahre integrierende Intelligenz sollte definiert werden als ein Vorgang der Lö- 
sung eines neuen Problems durch das Denken. Es handelt sich um einen Vorgang des Ver- 
suchens, der 3 einzelne Operationen einschließt: Frage, Hypothese und Bewahrheitung 
der Hypothese. Die Bezeichnung der allgemeinen Intelligenz sollte auf die durchschnitt- 
lichen geistigen Fähigkeiten eines Individuums beschränkt bleiben, wie sie sich durch 
die Prüfung mit einer Reihe reiner Intelligenztests als auch solcher Tests, die sich nicht 
ausschließlich an die Intelligenz wenden, ergibt. Um Verwirrung zu vermeiden, sollte 
Spearmans Faktor g nicht als allgemeine Intelligenz bezeichnet werden. Die Frage 
nach der Bestimmung des Grades der allgemeinen Intelligenz, nach der Bedeutung der 
Übung und Erfahrung, des Einflusses des Willens, der Ausdauer, des Interesses ist 
noch nicht spruchreif. Auch ist es noch nicht entschieden, ob die Geschicklichkeit in 
vielen Berufszweigen von der allgemeinen Intelligenz abhängig ist, wie es durch die 
Massenuntersuchung bei der Rekrutierung in den Vereinigten Staaten wahrscheinlich 
gemacht worden ist und auch nach Spearmans Theorie erwartet werden müßte. 

Erwin Straus (Charlottenburg). 

Thurstone, L. L.: The nature of general intelligence and ability (III). (Das 
Wesen der allgemeinen Intelligenz und Fähigkeit [III].) Brit. journ. of psychol., 
gen. sect. Bd. 14, Nr. 3, S. 243—247. 1924. 

Zur Bestimmung des Begriffs geht Verf. von dem Gegensatz der intelligenten und 
unintelligenten Handlung aus. Die offenbare Bewegung aufs Geratewohl, ohne Voraus- 
sicht ist die unintelligenteste Art des Verhaltens. Aus diesem Handeln nach Versuch 
und Irrtum (Trial and Error) sucht Verf. die Wahrnehmung, Vorstellung, den Begriff 
als ihre Modifikationen abzuleiten. Die Entwicklung soll in dem Sinne vor sich gehen, 
daß die versuchten Bewegungen in dem Versuch- und Irrtumsprozeß immer mehr an 
Intensität verlieren und an Möglichkeiten der Wahl gewinnen. Das intelligente Ver- 
halten wird daher definiert als ein Versuchs- und Irrtumsprozeß, der in dem Bereich 
der lebendigen Antriebe stattfindet, in dem nur unvollständige und annäherungsweise 
durchgeführte Handlungen auftreten. Das Maß der Intelligenz wird also bestimmt 
durch den Grad der Unvollständigkeit der Wahlhandlungen in dem tatsächlichen Ver- 
suchs- und Irrtumsleben des Handelnden. Erwin Siraus (Charlottenburg)., 


— 108 — 


Bartsch: Methode der Intelligenzprüfung nach Sante de Sanctis. Hilfsschule 
Jg. 17, H.9, S. 138—139. 1924. 

Sante de Sanctis läßt 1. aus 6 verschieden gefärbten Glaskugeln eine beliebige 
auswählen. Aufforderung: Gib mir eine Kugel! 2. Diese nach Vermischung aus den 
anderen wieder heraussuchen. (Gib mir dieselbe Kugel noch einmal!) 3. Von fünf 
Fröbelschen Würfeln, unter die drei Kugeln und zwei Pyramiden gemengt sind, zeigt 
er einen, das Kind soll einen gleichen heraussuchen. (Gib mir einen gleichen Würfel!) 
4. Auf einem Karton, auf dem Dreiecke, Quadrate und Rechtecke gezeichnet sind, 
muß das Kind mit einem Stäbchen alle die Figuren zeigen, die dem vorgezeigten Würfel 
ähnlich sind. (Zeige alles, wie dies!) Die Aufgabe gilt als erfüllt, wenn alle Quadrate 
gezeigt sind, auch dann, wenn ein Rechteck mit angegeben sein sollte, das einem 
Quadrat sehr ähnlich ist. 5. Hat das Kind von zwölf verschieden großen Würfeln, 
die auf dem Tisch in verschiedener Entfernung aufgestellt sind, anzugeben: a) wieviel 
es sind; b) welches der größte ist; c) welcher der entfernteste ist. (Wieviel sind es? 
Welcher ist der größte? Welcher ist am weitesten entfernt von dir?) 6. Wird von dem 
Kinde verlangt, aus der Vorstellung heraus (die Würfel sind durch einen Schirm ver- 
deckt) die Frage zu beantworten: a) Sind die größten Würfel auch die schwersten? 
b) Sind die entferntesten auch die kleinsten? c) Wiegen die großen Sachen mehr oder 
weniger als die kleinsten ? d) (nur, wenn die vorigen Fragenrichtig beantwortet werden) 
Woher kommt es, daß manchmal ein kleines Ding mehr wiegt als ein großes? e) Er- 
scheinen die entferntesten Dinge größer oder kleiner als die nahen? f) Erscheinen sie 
bloß kleiner oder sind sie kleiner? Mit diesen Aufgaben sollen geprüft werden: 1. Die 
Anpassung an den Versuch, an die vorliegende Arbeit und an bestimmte Bedingungen 
der Aufmerksamkeit, der Perzeption und des Willens. 2. Das unmittelbare Gedächtnis 
für Farben. 3. Die Fähigkeit, verschiedene Formen und Farben zu unterscheiden 
und wiederzuerkennen und das Erkennen der Identität einer ebenen und einer stereo- 
metrischen Figur. 4. DieAusdauer der Aufmerksamkeit. 5. Die Fähigkeit, die Objekte 
zu zählen und ihre Quantität, Größe und Distanz zu beurteilen. 6. Die Fähigkeit, 
über die Qualität der Objekte zu urteilen, wenn sie nicht mehr vor den Sinnen der 
Versuchsperson stehen, wobei Phantasie, Urteil und Abstraktion beobachtet. werden. 
7. Die Schnelligkeit der Perzeption, der Überlegung und des Handelns (mit. Fünftel- 
sekundenuhr gemessen). Sante de Sanctis gliedert: 1. Intelligenzstufe: Wer nicht 
über 2 hinauskommt, zeigt den höchsten Grad geistiger Unfähigkeit. 2. Intelligenz- 
stufe: Wer nicht über 4 hinauskommt, zeigt den zweiten Grad geistiger Unfähigkeit. 
3. Intelligenzstufe: Wer 5 erfüllt, 6 aber nicht, zeigt den geringsten Grad von Schwach- 
sinn. 4. Intelligenzstufe: Wer 6 erfüllt, ist kein Geistesschwacher, kann aber in der 
Erziehung zurückgeblieben und sonst abnormer Charakter sein. Prüfungsversuche in 
Hilfsschulen an denselben Kindern mit den Methoden von Sante de Sanctis und 
Binet-Siımon gaben im wesentlichen übereinstimmende Ergebnisse. Mönkemöller. 

Anderberg, R., Th. Persson, E. Dahr, Th. Thorssell und H. Siegvald: Intelligenz- 
prüfungen. I. Arkiv f. psykol. och pedagogik Bd. 2, H. 3/4, S. 160—173. 1923. 

Die Untersuchungen sind an Volksschülern in Lund (Schweden) angestellt. Es 
wurde zunächst eine Nachprüfung der von Jaederholm revidierten Binetscher 
Methode vorgenommen. Nach Jaederholms Berechnung fand man ein Intelligenz- 
durchschnittsalter von 10 Jahren, während das physische Durchschnittsalter 10.4 
betrug. Diese Zahl liegt noch unter derjenigen, welche die Stockholmer Kinder auf- 
wiesen. Anderberg macht sodann einen Vorschlag für neue Texte, die ausführlich 
beschrieben und durch Abbildungen erläutert werden. Das 75%, -Prinzip wurde dabe! 
angewandt. S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 

© Ziehen, Th.: Die Prinzipien und Methoden der Begabungs-, insbesondere der 
Intelligenzprüfung bei Gesunden und Kranken. Mit einem Anhang über Prüfung der 
ethischen Gefühle. 5. umgearb. Aufl. Berlin: S. Karger 1923. 90 S. G.-M. 2.40. 

Vergleicht man die 1908 erschienene 1. Auflage mit der jetzt vorliegenden b., 


— 109 — 


so überblickt man die Bereicherung an Hilfsmitteln und Wegen, die uns in den Stand 
setzen wollen, Begabung und geistigen Besitz zu prüfen und ein Urteil über die geistige 
Leistungsfähigkeit zu gewinnen. Was nach dieser Richtung allmählich hinzugekommen 
ist, hat Ziehen nach den ihn leitenden Grundsätzen dem alten Bestande seines Buches 
hinzugefügt. Er hat aber in der neuen Auflage mehr als früher dem Gesichtspunkt 
Rechnung getragen, von möglichst vielen Seiten her an die Individualität heranzu- 
kommen und hat die Prüfung der ethischen Gefühle der Prüfung der intellektuellen 
Leistungen angefügt, nicht nur als Bestandstücke, sondern auch in Hinsicht auf die 
Lebensführung. Die beigegebenen Schmata für die klinische Intelligenzprüfung und 
«lie Begabungsprüfung sind nach praktischen Erfahrungen zusammengestellt und 
sehen von systematischen Gesichtspunkten mit Absicht ab. Dem Urteil Z.s über die 
Methode von Binet - Simon: ‚So selbstverständlich der Ausfall jeder einzelnen Probe 
nach dem Alter des Individuums bewertet werden muß, so unzulässig und widersinnig 
ist jede Gesamt,,eichung‘. Die intellektuellen Funktionen und ihre Produkte sind keine 
gleichartigen Größen, die sich quantitativ verrechnen lassen.‘ — Diesem Urteil möchte 
ıch ebenso zustimmen wie der Bemerkung, daß mit der Aufrechnung der Korrelations- 
koeffizienten „jetzt ein geradezu unerhörter Unfug getrieben wird“. Homburger. 


Thorndike, E. L.: Measurement of intelligenee. I. The present status. (Intelli- 
genzmessungen. I. Gegenwärtiger Stand des Problems.) Psychol. review Bd. 31, 
Nr. 3, S. 219—252. 1924. n 

An Einzeluntersuchungen über das Intelligenzproblem und über die Methoden 
der Intelligenzprüfung besteht kein Mangel; was wir brauchen, ist zweifellos eine 
kritische Untersuchung der Grundlagen. Eine solche strebt der Verf. an, und er legt 
hier eine erste Abhandlung vor, die den gegenwärtigen Stand des Problems behandelt, 
vor allem die Mängel der bisherigen Verfahrungsweisen hervorhebt. Wir wissen zunächst 
nicht immer, welche Funktionen wir mit den Tests erfassen, wir wissen nicht, wie Test 
und tatsächliche Intelligenz korrelieren. Unsere Einheiten und Meßzahlen sind absolut 
willkürlich; streng genommen besitzen wir überhaupt keine Einheiten, auf die wir 
unsere Werte beziehen können. Der Test mißt direkt nur den Eindruck, den der Unter- 
sucher von der Leistung der Versuchsperson hat. Wir nehmen an, daß die Versuchs- 
person sich bemüht, eine möglichst hochwertige Leistung zu vollbringen; wir wissen 
aber nie, ob dies in der Tat der Fall ist: wir kennen nicht den Grad der Anstrengung 
der Versuchsperson. Weiterhin messen alle Tests intellektuelle Leistungen, aber nicht 
die Intelligenz. Wir wissen aber nicht, ob Leistung und Intelligenz korrelieren. Alle 
Messungen der Intelligenz mit unseren üblichen Tests schließen eine Bewertung der 
Leistungen ein; diese ist durchaus nicht immer selbstverständlich. Man könnte In- 
telligenz definieren als die Fähigkeit, Wahrheit zu erkennen. Aber sind die Tests darauf 
abgestellt? Auch die Beziehungen zwischen dem Alter und der Intelligenzentwicklung 
sind nicht eindeutig klar. Man hat alle psychischen Eigentümlichkeiten der verschie- 
denen Altersklassen zu berücksichtigen. Bei den höheren Altersstufen geben die Tests 
meist individuelle Differenzen und nicht Grade der Intelligenz. Intelligenz ist nicht. 
die Fähigkeit, schwierigere Dinge zu lernen. Verf. bespricht dann noch eine Reihe von 
Besonderheiten einzelner Tests bzw. Verfahrensweisen. E. Stern (GieBen)., 


Anderberg, R., Th. Persson, H. Siegvald und V. Lahne: Intelligenzprüfungen. II. 
Experimentelle Untersuchungen. Arkiv f. psykol. och pedagogik Bd.3, H.1, 8.52 
bis 62. 1924. (Schwedisch.) 

Die Verff. machen hier einen Vorschlag für die Einführung neuer Texte zur In- 
telligenzprüfung der Schulkinder. Sie wandten 91% Tests an bei Kindern im Alter 
von 10,5 Jahren, 75% Tests bei Kindern von 3,5 Jahren und 50% Tests bei 9,5jährigen 
Kindern. Eine vollständige Testskala für Kinder von 7,5—10,5 Jahren wird angegeben. 
Während Jaederholm annimmt, daß die Intelligenzentwicklungen linear verlaufen im 
Alter von 6—12 Jahren, scheinen den Verff. diese Ansicht sehr problematisch und vor 


— 110 — 


allem sich nicht auf die allgemeine Intelligenz oder die Intelligenz im allgemeinen zu 
beziehen. Die Intelligenz besteht aber aus einer Menge einzelner psychischer Faktoren 
und ob alle diese sich linear entwickeln, muß erst bewiesen werden; wahrscheinlich ent- 
wickeln sich nicht alle speziellen Funktionen in gleichem Grade linear. Äalischer. 


Merriman, Curtis: The intelleetual resemblanee of twins. (Ähnlichkeit von Zwil- 
lingen in intellektueller Hinsicht.) Psychol. monogr. Bd. 33, Nr. 5, S. 1—58. 1924. 
Die Untersuchung von 204 Zwillingspaaren mit verschiedenen Testmethoden 
ergab, daß Zwillinge gleichen Geschlechts auch in intellektueller Hinsicht sich viel 
ähnlicher sind als solche verschiedenen Geschlechts. Als Ursache der Ähnlichkeit 
spielt die Gleichheit des Milieus keine nennenswerte Rolle. Eine intellektuelle 


Minderwertigkeit von Zwillingen im Vergleich mit anderen Kindern ergab sich nicht. 
Campbell (Dresden)., 


Brown, William M.: A study of the „eaution“ factor and its importance in intelli- 
gence test performance. (Untersuchung des Faktors „Vorsicht“ bei Intelligenz- 
prüfungen; Einfluß auf die Leitung.) Americ. journ. of psychol. Bd. 35, Nr. 3, 
S. 368—386. 1924. 

Bei allen Leistungen und Intelligenzprüfungen spielt die Sorgfalt, mit welcher die 
Versuchsperson arbeitet, die Vorsicht eine Rolle. Wahrscheinlich handelt es sich dabei 
um eine Charaktereigenschaft, die auch für die Lösung von Tests von Bedeutung 
ist. Verf. untersucht 375 Studenten, 193 Kinder und 166 psychisch abnorme Individuen; 
für mangelnde Vorsicht“ spricht falsche Lösung eines Tests. Es zeigt sich, daß eine 
Korrelation besteht zwischen Schulleistung und Sorgfalt, ebenso zwischen Sorgfalt und 
dem Ergebnis der Intelligenzprüfung, zwischen Schulleistung und Intelligenzprüfung, 
zwischen Lösungszeit und -weg und Sorgfalt. Vorsichtige Schüler weisen in der Regel 
bessere Leistungen auf als andere. Neben Intelligenztests sollten Charaktertests ein- 
geführt werden. Erich Stern (Gießen)., 


Day, Mildred E.: The influence of mental aetivities on vascular processes. (Der 
Einfluß geistiger Betätigung auf Gefäßvorgänge.) (Psychol. laborat., Johns Hopkins 
uniw., Baltimore.) Journ. of comp. psychol. Bd. 3, Nr. 5, S. 333—378. 1923. 

Der Einfluß, den körperliche und geistige Betätigung auf den Blutdruck und 
die Pulsfrequenz haben, wurde an 5 erwachsenen Studenten (darunter 1 Frau) und 
an 14 Kindern (7 Knaben und 7 Mädchen), von denen 11 im 4. und 5. Schuljahr und 
3 im 6. Schuljahr standen, geprüft. Die Untersuchungen wurden 9 Tage fortgesetzr. 
Es wurde ein Lesetext vorgelegt, der für Erwachsene und Kinder verschieden war. 
Dieser Text wurde an jedem Versuchstag in 10 Lesungen mit Zwischenpausen von 
3 Minuten gelesen. An den ersten 3 Versuchstagen wurden 10 ‚„Normallesungen’ 
vorgenommen und Blutdruck und Pulsfrequenz in den Pausen gemessen. Zur Prüfung 
der Blutdruck- und Pulsverhältnisse bei körperlicher Arbeit wurden in der Zeit, di: 
bei Normallesungen auf die 5., 6. und 7. Lesung fiel, Hantelübungen in der 1. Minute 
der jeweiligen Lesungszeit gemacht und dann noch die 8. bis 10. Lesung angeschlossen. 
Zur Prüfung der Wirkung der geistigen Arbeit wurde in der Zeit der 5. bis 7. Normal- 
lesung statt der Lesungen ein Nummerntest oder ein Buchstabenergänzungstest vor- 
gelegt. An Kurven wurden die Resultate in instruktiver Weise dargestellt. Als Er- 
gebnis wurde festgestellt, daß bei Erwachsenen und Kindern die Pulsfrequenz be! 
körperlicher Arbeit deutlich stieg und nach Aufhören derselben wieder abfiel; be: 
geistiger Arbeit war dieses Fallen und Steigen ebenfalls vorhanden, jedoch weniger 
stark ausgeprägt. Die Schwankungen des Blutdruckes bei körperlicher und geistiger 
Arbeit gingen jedoch nicht denen der Pulsfrequenz parallel. Es war insbesondere eine 
Blutdrucksteigerung bei körperlicher Arbeit und Blutdrucksenkung bei geistiger Arbeıt 
nicht mit Regelmäß gkeit festzustellen, wie dies von früheren Autoren behauptet war. 
Man kann mithin in den Veränderungen des Blutdruckes keinen entsprechenden Aus- 
druck geistigen Arbeitens schen. E. Feuchtwanger (München). 





— 11 — 


Wells, F. L.: Notes on „false“ reaetions. (Bemerkungen über „falsche“ Reaktionen.) 


Psychol. review Bd. 31, Nr. 4, S. 311—320. 1924. 

„Falsche“ Reaktionen im Reaktionsexperiment, insbesondere in Abhängigkeit von der 
Reaktionszeit haben vielfache Ursachen und lassen sich nicht auf einfache Gesetzmäßigkeiten 
bringen. Gewiß können Fehler durch vorzeitige Reaktion (Henmon) oder gerade durch 
verringerte Promptheit der Reaktion (Grace E. Bird) auftreten. Bei größeren Versuchsserien 
werden aber alle Gradunterschiede im Zusammenhang von Reaktionszeit und Sicherheit der 
Reaktion beobachtet. Nach den Untersuchungen des Autors kommen noch Faktoren der Ver- 
suchsanordnung selbst in Betracht. Wells stellte Wahlreaktionen unter sonst gleichen Bedin- 
gungen einmal mit einem Spiegeltachystoskop und einmal mit einem Pendeltachystoskop 
nach Dodge an. Der Unterschied zwischen den Versuchsanordnungen bestand darin, daß 
der aufzufassende Reiz (schwarz oder weiß) beim einen Apparat auf schwarzem, beim anderen 
auf weißem Grunde erschien. Der Erfolg war der, daß die Fehlerhäufigkeiten bei beiden Ver- 
suchsanordnungen in umgekehrtem Verhältnis zueinander standen. Das kam daher, daß die 
Aufmerksamkeit sich in bevorzugter Weise dem zum Grunde differenten Reize zuwandte. 
Außer solchen Faktoren sind aber auch als Ursachen persönliche Unterschiede der Versuchs- 
personen, „Idiosynkrasien‘‘ gegen bestimmte Aufgaben u. ä& heranzuziehen. Fehlreaktionen 
bei Störungsversuchen sind keine eigentlichen „falschen“ Reaktionen, weil sie in den Absichten 
des Versuches liegen. Solche und ähnliche Erwägungen müssen bei der Auswertung von Resul- 
taten berücksichtigt werden. E. Feuchtwanger (München). 

Blondel, Ch.: La documentation psyehiatrique dans „L’intelligenee“ de Taine. 
(Die psychiatrischen Belege im Buche „L’intelligence‘‘ von Taine.) Journ. de 
psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 4, S. 356—376. 1924. 

Die systematische Verwendung von Berichten über ‚„Irrsinnige‘“ und Beobach- 
tungen an Kindern in seiner Psychologie verarbeitet zu haben, bezeichnet Taine (in 
einem Brief vom Jahre 1872) als das Neuartige an seinem Werk „L’intelligence“. 
Darin zeigt sich ein für wissenschaftliche Werke oft folgenschwerer Fehler, der leider 
auch heute noch wohl mehr in umgekehrter Weise z. B. in Lehrbüchern für medi- 
zinische Psychologie, Studien für Vererbungsforschung u. ä. zu finden ist, daß näm- 
lich anfechtbare, noch nicht durchgereifte Ergebnisse und Theorien der Einzelwissen- 
schaften oder noch heißumstrittene philosophische Anschauungen dogmatisch über- 
nommen werden. Ch. Blondel unterzieht sich der Mühe, alle Zitate und klinischen 
Berichte auf ihre Genauigkeit und wissenschaftliche Brauchbarkeit zu prüfen. Es hat 
sich herausgestellt, daß die Seitenzahlen der Hinweise niemals exakt stimmen und 
der Inhalt der Zitate meist modifiziert wiedergegeben ist; auch werden gewisse Tat- 
sachen vernachlässigt, die im Hinblick auf seine positivistisch-philosophische Anschau- 
ung nicht zu passen scheinen. Die Auswahl des verwendeten Materials, der unter- 
schiedliche psychiatrische Wert der Belege und die oft mangelnde Wissenschaftlichkeit 
der von Taine benutzten Autoren zeigt, daß ihm das richtige klinische Verständnis 
fehlt; die zu seiner Zeit im Vordergrund des Interesses stehenden anatomisch-patho- 
logischen und klinischen Studien über die Aphasieforschung eines Trousseau, Char- 
cot, Duval, Jaccond, Broca entgehen ihm. Erst im Jahre 1878 in der 3. Auflage 
erwähnt er den Namen Broca in einer kurzen Notiz, behält aber die zweifelhaften 
Berichte eines heute längst vergessenen Autors bei. von Kuenburg (München). 


Pyle, W. H.: A theory of learning. (Zur Theorie vom Lernen.) Psychol. review 
Bd. 31, Nr. 4, S.321 —327. 1924. 

Es wird der Versuch gemacht, eine Zuordnung einfacher assoziativer Lernvorgänge 
zu hypothetischen Hirnprozessen auf dem Wege rein theoretischer Überlegung vor- 
zunehmen. Der gute Lerner zeichnet sich nach dieser Darstellung vor dem schlechten 
Lerner dadurch aus, daß er klarere assoziative Bindungen simultaner und sukzessiver 
Glieder bildet, daß er den Bindungen größere Kraft gibt, besonders unter dem Ein- 
fluß stärkerer Konzentrationsfähigkeit, und daß er das Wesentliche aus unterschiedenen 
Inhalten rasch und sicher finden soll. Im Hirn werden Prozesse angenommen, durch die 
„Simultane Hirntätigkeiten verknüpft“ und herdmäßig begrenzt (focalized) werden, 
andere Hirnvorgänge ausgeschaltet werden, wodurch eine Erleichterung aller Vorgänge 
erzielt wird. Vergleiche mit elektrischen Strömen und Hypothesen von Neuronen- 


— 11 — 


verbindungen müssen herhalten. Das Hirn des guten Lerners erhält durch entsprechende 
Organisation die Vorbedingungen zu den genannten Fähigkeiten. Æ. Feuchtwanger. 

Fox, Charles: The influence of subjeetive preferenee on memory. (Der Einfluß 
der Lustbetonung auf das Merken.) Brit. journ. of psychol., gen. sect. Bd. 13, H. 4. 
S. 398—404. 1923. 

24 Personen mußten 2 Sonette auswendig lernen. Es zeigte sich, daß das jeweils 
positiv bewertete (vorgezogene) Gedicht leichter gelernt und besser behalten wurde, als 
das weniger gefallende. Gruhle (Heidelberg.) 

Reed, H. B.: The effect of training on individual differences. (Die Wirkung der 
Schulung auf individuelle Differenzen.) Journ. of exp. psychol. Bd. 7, Nr. 3, S.186 
bis 200. 1924. 

Reed weist nach, daß die Behauptung ‚.gleiche Schulung vergrößere die indivi- 
duellen Differenzen“, welche namhafte, führende Psychologen (Thorndike, Starch. 
Henmon) vertreten, nicht zu Recht bestehe. R. zieht die experimentellen Unter- 
suchungen der genannten Autoren zum Gegenbeweise heran, ergänzt sie durch eigen® 
und zeigt, daß sich der Fehler durch die Art der Berechnung und Auswertung der ge- 
wonnenen Resultate aufdecken läßt. Innerhalb der einfachen Fertigkeiten und Kennt- 
nisse (Zeichnen, Rechnen, Alphabeterlernen u. a. m.) werden die individuellen Diffe- 
renzen durch Übung geringer, bei schwereren Aufgaben jedoch dürfte dies nicht mehr 
nachweisbar sein. von Kuenburg (München). 

Stinchfield, Sara Mae: The formulation and standardization of a series of graded 
speech tests. (Formulierung und Aichung einer Reihe von abgestuften Sprachtests.) 
Psychol. monogr. Bd. 33, Nr. 2, S. 1—54. 1923. 

Unter 600 untersuchten Sprachstörungen unterscheidet der Autor folgende Typen: 
Ersatz von Lauten und Inaktivität des Mundes, Stottern, seelische und organische 
Sprachstörungen. Sie betrafen vorschulpflichtige und schulpflichtige Kinder, Mittel- 
und Hochschüler und ältere Menschen. 80%, der Universitätshörer gehörten dem 
visuell-auditiven (52% dem visuell-auditiven, 28% dem auditiv-visuellen), 13°, 
dem auditiv-motorischen oder visuell-motorischen Typ an. Unter 17 Psychopathen 
zeigte sich ein höherer Prozentsatz des visuell-auditiven Typus als bei Nichtpsycho- 
pathen. (Darin liegt ein Gegensatz zu Baerwalds Befunden. Anm. d. Ref.) Der 
Mittelwert beim Lesen von Psychopathen waren 2,8 Wörter in der Sekunde, der von 
Normalen 3,2. Die Prüfung mit sinnlosen Silben erwies sich wegen zu häufigen Ver- 
sprechens als untunlich. Psychopathen zeigten auch bei der Definition von Worten 
und bei der Prüfung auf Wortschatz nach Whipples Tests eine geringere Leistung. 
Bei der Artikulationsprüfung muß, wie die Autorin mit Recht hervorhebt, jeder Konso- 
nant am Anfang, in der Mitte und am Ende einer Silbe geprüft werden. Wenn möglich. 
soll das zu Lernende in phonetischer Schrift dargeboten werden, damit kein Laut 
assoziativ durch andere beeinflußt werde. Es wurden nervöse Erscheinungen (Tics). 
Haltung, Gewicht, Atmung (Spirometrie), Tonqualitäten der Stimme, allgemeine: 
Gehaben festgestellt, ehe die speziellen Sprachtests zur Verwendung kamen. Diese 
bestanden aus Artikulationsprüfungen, freier Assoziation auf ein gegebenes Bill 
(Zahl der Wörter in 30 Sekunden), Feststellung der laut in 30 Sekunden gelesenen 
Wörter, Feststellung, was von einem still gelesenen Stücke in einer gewissen Zeit erfaßt 
wurde, Zählung der bei der Spontansprache gebrauchten Worte und des Vokabular: 
(nach Terman). Die Resultate müssen in der Abhandlung selbst gelesen werden. 

Emil Fröschels (Wien).. 

Meuer, H.: Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Wortgedächtnis nach der 
Methode der Polyeidoskopie. (Hyg. Inst., Univ. Gießen.) Arch. f. d. ges. Psychol 
Bd. 47, H. 1/2, S. 14-44. 1924. 

An Kindern und Erwachsenen wurde die Dauerhaftigkeit des Gedächtnisses für 
einmalige akustische Eindrücke auf experimentellem Wege untersucht. Es wurden 
in verschiedenen Abständen 5, 10, 20 und 30 einsilbige Worte konkreten Inhalts 





— 13 — 


dargeboten. Die Versuchsbedingungen wurden jeweils nach dem unmittelbaren Zweck 
der Versuchsreihen variiert. Festzustellen war die absolute Höhe der Leistung; Kon- 
trollversuche prüften die zuerst gewonnenen Ergebnisse nach; ferner wurden die Er- 
müdungserscheinungen, die Pausenwirkung, der Einfluß der Zeit auf das Haften der 
Gedächtniseindrücke beobachtet. Die Hauptergebnisse decken sich zum größten Teil 
mit den gewonnenen Erfahrungen anderer ähnlicher Arbeiten. von Kuenburg. 
Kochmann, Rudolf: Über musikalische Gedächtnisbilder. 1. Mitt. Experimen- 
telle Untersuehungen an Schülern. Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 28, H. 5/6, S. 329 
bis 351. 1924. Ä 
Es wird der Versuch eines Nachweises akustischer Anschauungsbilder gemacht, 
wie sie auf dem Gebiet des Optischen durch die Untersuchungen an Eidetikern nach- 
gewiesen sind. Es wird festzustellen versucht, ob sich aus dem Kriterium der Deut- 
lichkeit bzw. Undeutlichkeit eine Scheidung der akustischen Gedächtnisbilder in An- 
schauungsbilder und Vorstellungsbilder ergibt. Versuchspersonen waren 10— 17-jährige 
Schüler verschiedener Schulgattungen, die einzelne Töne, Tonreihen, Zwei- und 
Dreiklänge nach längeren Zeiträumen zu wiederholen hatten, und zwar so, daß in die 
Reproduktion früher eingeprägter Gebilde die Einprägung anderer Tongebilde zwischen- 
geschaltet wurde. Subjektive akustische Gedächtnisbilder sind in der untersuchten 
Altersstufe sehr häufig. Sie erhalten sich bis zu 30 Minuten, sind aber äußerst labil. 
Die akustischen Gedächtnisbilder werden immer im Kopf, niemals aber außerhalb 
der Versuchsperson lokalisiert. Eine eindeutige Differenzierung in Anschauungs- 
und Vorstellungsbilder gelang in den vorliegenden Versuchen nicht; es wurde auch 
keinerlei objektives Kriterium bei der verwendeten Methode für objektive Anschau- 
ungsbilder gefunden. Die gute Reproduktion der Gedächtnisbilder hängt mit der 
musikalischen Begabung, mit der Gewöhnung an das Hören von Musik und mit der 
Geübtheit im Singen zusammen. Hellmuth Bogen. 
Kiesow, F.: Si verificano nei bambini e nei faneiulli immagini consecutive eontrarie? 
(Lassen sich bei Kindern und Jugendlichen negative Nachbilder nachweisen?) (Isti. 
di psicol. sperim., univ., Torino.) Arch. ital. di psicol. Bd. 3, H. 2/3, S. 121—132. 1924. 
Die Feststellungen von Urbantschitsch über das Vorkommen von subjektiven 
Anschauungsbildern und die weitere Erforschung ihres Bestehens und ihrer Ge- 
setze durch E. R. Jaensch und die Marburger Schule, sowie die Behauptung Lind- 
worskys, daß in einem frühen Stadium der Kindheit die optischen Gegebenheiten 
noch nicht in Wahrnehmungen und Vorstellungen geschieden seien, geben dem Turiner 
Psychologen Anlaß zu experimenteller Nachprüfung. Kiesow geht von dem Kriterium 
aus, daß Eidetiker nach Betrachten eines optischen Bildes unmittelbar darauf ein 
Anschauungsbild (von Wahrnehmungscharakter), nicht dagegen ein negatives Nach- 
bild haben. Er sucht nun festzustellen, in welchem Alter negative Nachbilder bei 
Kindern und Jugendlichen auftreten. Es wird eine farbige Scheibe (in einer der vier 
Grundfarben) auf weißem Hintergrunde exponiert; nach dem Verschwinden hat die 
Versuchsperson die nun folgende Erscheinung zu beschreiben. K. findet unter 32 Mäd- 
chen einer Mittelschule im Alter von 6—14 Jahren vier (11- und 13jährige) Kinder, 
bei denen das negative Nachbild nicht aufs erstemal, sondern erst nach der zweiten 
Exposition gesehen wurde. Alle übrigen Versuchspersonen haben das negative Nach- 
bild sofort. Bei 26 Knaben im Alter von 10—14 Jahren ist das negative Nachbild in 
allen Fällen vorhanden. Dagegen findet sich unter zehn 3—5jährigen Kindergarten- 
zöglingen nur ein Kind, das prompt das negative Nachbild sieht, eines, bei dem es 
nur schwach ist, eines, bei dem es erst nach der zweiten Exposition erscheint. Ein 
Kind hat kein negatives Nachbild, wohl aber einen Simultankontrast (Florkontrast). 
Alle übrigen Zöglinge lassen keine negativen Nachbilder nachweisen. Der Autor glaubt 
daraus das Bestehen der eidetischen Anlage und der Wahrnehmungsunbestimmtheit 
im Sinne Lindworskys im frühen Kindesalter bestätigen zu können. Inwieweit 
bei den Altersdifferenzen Unterschiede zwischen südlichen und nördlichen Rassen eine 


Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ref. 8 


— 114 — 


Rolle spielen und noch manche andere offenen Fragen können erst durch weitere Unter- 
suchungen entschieden werden. E. Feuchtwanger (München). 

Garth, Thomas R.: A eolor preferenee seale for one thousand white children. (Die 
Reihe der Farbenvorliebe bei 1000 weißen Kindern.) Journ. of exp. psychol. Bd. 3, 
Nr. 3, S. 233—241. 1924. 

Die hier nicht näher erörterten Versuchsreihen schließen sich an die 1922 gemach- 
ten Untersuchungen an 559 Vollblut-Indianern (Full-Blood Indians) an. Sie unter- 
suchten die Farbenvorliebe, den Einfluß des Alters, der Erziehung und des Geschlechtes 
bei der Wahl der Farben. Die Resultate ergaben einstimmig die Skala: Blau, Grün, 
Rot, Violett, Orange, Gelb, Weiß. Leichte Verschiebungen ergaben sich bei den höheren 
Altersstufen und den beiden Geschlechtern. von Kuenburg (München). 

Werner, Heinz: Studien über Strukturgesetze. I. Werner, Heinz: Über Struktur- 
gesetze und deren Auswirkung in den sogenannten geometrisch-optisehen Täusehungen. 
(Psychol. Laborat., Hamburg.) Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg., Abt. 1: 
Zeitschr. f. Psychol. Bd. 94, H. 5/6, S. 248—264. 1924. 

Werner, Heinz: Studien über Strukturgesetze. II. Werner, Heinz: Über das 
Problem der motorischen Gestaltung. (Psychol. Laborat., Hamburg.) Zeitschr. f. Psychol. 
u. Physiol. d. Sinnesorg., Abt. I: Zeitschr. f. Psychol. Bd. 94, H. 5/6, S. 265—272. 1924. 

Werner unterscheidet homogene und unhomogene, zentrierte und unzentrierte, 
gegliederte und ungegliederte Figuren und zeigt, daß anschauliches Material durch die 
Verschiedenheit seiner Strukturierung die Auffassung bedingt und zur Erklärung für 
die geometrischen optischen Täuschungen Anlaß bietet; andererseits aber die Aus- 
prägung von Strukturgesetzlichkeiten in den betreffenden Figuren wesentlich durch die 
Ausgeprägtheit der subjektiven Gestaltungstendenzen mitbedingt ist. Die im 1. Teil 
gewonnenen Gestaltungsgesetze gelten nicht bloß für das optische Gebiet ; analoge Tat- 
sachen findet man auf anderen Sinnesgebieten; im II. Teil zeigt dies W. für die Probleme 
der motorischen Gestaltung beim Zeichnen. Dieselben Prinzipien der Angleichung 
oder Assimilation und der Differenzierung oder Dissimilation seien nichts anderes als 
Gestaltungsprinzipien, die darauf hinzielen, das eigentümliche Wesen der Figur auch 
im Motorischen genau so wie in der perzipierten Wahrnehmung zur Ausprägung zu 
bringen. Dieselben psychologisch wichtigen und interessanten Probleme will W. 
in einer späteren Arbeit für die Sprachgestaltung behandeln. von Kuenburg. 

Ahlmann, Wilhelm: Zur Analysis des optischen Vorstellungslebens. Ein Beitrag 
zur Blindenpsyehologie. Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 46, H. 3/4, S. 193—261. 1924. 

Das Vorstellungsleben des im Kriege, durch Schußverletzung, erblindeen Autors 
wird einer genauen Selbstbeobachtung unterzogen; diese wird durch gedankliche, 
innere Experimente, also durch zielsetzende Aufgaben über das Vorstellungs- und 
räumliche Gesamterleben ergänzt. Aus den reichhaltigen Beobachtungen sei einzelnes 
hervorgehoben: a) die Orientierung in den allgemeinsten Bestimmungen ist immer 
möglich (z.B. weiß Ahlmann, ob er sich im Zimmer oder auf der Straße befinde), ın 
Sondersituationen unterscheidet A. eine objektive Orientiertheit (Relationszusammen- 
hang von Gegenständen der Umwelt) und eine subjektive Orientiertheit (Beziehung 
zwischen dem Standort des Ich und der Gegenstände). Subjektive und objektive Orien- 
tiertheit stehen in der Regel in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Die 
Einordnung in konkrete Situationen stellt sich als ein gedanklicher Prozeß perzeptiver 
Erlebnisse in einem wissensmäßigen Zusammenhang dar und erfolgt durch perzeptive 
Gegebenheiten akustischer und taktiler Qualität. In normalem Zustand ist das Wissen 
um die objektive Körperhaltung gegeben, während in Ermüdungszuständen der Körper 
als Schema empfunden wird und die Perzeptionen in eine unmögliche Ordnung ge- 
bracht werden. Auch fehlt im Zustande gedanklicher Konzentration das Wissen um 
Räumliches, ebenso fehlt das eigene Körperbewußtsein; der Gesprächspartner wind 
nicht als körperliches Wesen, sondern als sprechende Denkfunktion erfaßt; ein dureh 
akustische Perzeptionen geleitetes Richtungsbewußtsein ist dabei vorhanden. Die 





— 115 — 


eigene Ausgedehntheit, die Körperlichkeit, wenn sie erlebt wird, steht immer in Be- 
ziehung zu einem „Herum“ taktiler, akustischer, kinästhetischer Erlebnisse. Subjektiv 
wird der allgemeine, schematische, folgernde Charakter der Orientierung als unsicher 
und unbestimmt erlebt, das aktive Verhalten aber innerhalb einer vertrauten Um- 
gebung ist durchaus sicher. Unorientiertheit ist stets von großer Unlust und affekt- 
betontem Unbehagen begleitet. b) Das optische Vorstellungsleben wird als verhältnis- 
mäßig unlebendig empfunden, die Zahl der assoziativ auftretenden Vorstellungen ist 
gering, nur selten besteht das Interesse, einen Inhalt optisch zu haben. Die Anlässe zu 
optischem Erleben richten sich nach der Gesamtdisposition, der Einstellung und dem 
Thema. Das aktuelle Dahinleben ist unoptisch; klare optische Vorstellungen sind nur 
das Resultat von Sonderaufgaben. Auch die aufmerksame taktile Erfassung eines 
neuen Gegenstandes führt nicht regelmäßig zu dessen optischer Veranschaulichung. 
Beim Wiedererkennen eines bekannten Gegenstandes durch aufmerksame taktile 
Erfassung ist die optische Vergegenwärtigung häufiger. Aufgabefreie optische Ver- 
gegenwärtigung der Umwelt erfolgt nur selten und dann nur fragmentarisch, ‚flüchtig 
und in einem Raume, der in keinerlei Adäquatheit zum realen Raume steht. Das Bich- 
besinnen auf eine Situation führt leichter zur Veranschaulichung als das reale Erleben 
derselben. Relativ häufiger erfolgt die optische Reproduktion nicht gegenwärtiger Si- 
tuationen und solcher, die affektiv und aufmerksam erlebt waren. Die Rückerinnerung 
ist Anlaß für das Auftreten von Optischem. c) Die Struktur der optischen Situationen 
ist abhängig von dem jeweiligen affektiven und intellektuellen Gesamtverhalten des Ich, 
so daß sich ein funktionales Verhältnis zwischen dem ungegenständlichen Ich und dem 
gegenständlichen gehabten Optischen ergibt. Zwei Grundformen charakterisieren die 
optischen Erlebnisweisen: einmal handelt es sich um das warme Erleben einer malerisch 
das Ich umfangenhaltenden Gegebenheit; das optisch Gegebene ist tiefenmäßig, plastisch 
aufgebaut, wie in einem eckenlosen, komplexen Raum, einer Art Raumhöhle, gelegen. 
Darin wird das Ich und das Gegenständliche in perspektivischer Beziehungsform 
zwischen dem fiktiven Blickauge und der Umwelt erfaßt. Im andern Fall handelt es 
sich um ein nüchternes, intellektuelles Erleben einer unpersönlich gegenüberstehenden, 
flächenhaften, linearen und mathematisierten Aufrißzeichnung. Hier liegt eine affektive 
Gesamtbeteiligung nicht vor, das Ich wird nicht kompakt, ohne festen Standort, ge- 
wissermaßen als intellektuelles Blickauge erlebt. d) Aus der weiteren Schilderung der 
Gegebenheits- und Ablaufformen sowie der Veränderungen der Vorstellungen geht 
hervor, daß das ganze Vorstellungsleben stark reduziert erscheint. Die Umwelt ge- 
staltet sich mehr und mehr zu vagen, schematischen, unanschaulichen Wissenszusammen- 
hängen. Die wertvollen und eingehend geschilderten Beobachtungen sind nicht nur ein 
wichtiger Beitrag zur Blindenspychologie, sie sind eine bedeutungsvolle Bereicherung 
auch für die Normalpsychologie. von Kuenburg (München). 

Vidoni, Giuseppe: Osservazioni sul disegno nelle seuole per faneiulli deficienti. 
(Beobachtungen über das Zeichnen in den Schulen für schwachsinnige Kinder.) 
(Laborat. di antropol. crim., Genova.) Quaderni di psichiatr. Bd. 10, Nr. 11/12, S. 225 
bis 236. 1923. 

Das Studium der Zeichnungen gibt wichtige Einblicke in die Eigentümlichkeiten 
der kindlichen Seele und läßt Schlüsse zu über die Ideengänge, die vorherrschenden 
Interessen, die Beobachtungsgabe und Auffassungsfähigkeit, ebenso über die Gedächt- 
nisanlagen und die Phantasie. Die Zeichnungen bilden jedoch keinen sicheren Maßstab 
für die Intelligenz und ist die beste Zeichnung durchaus nicht der Beweis einer besseren 
Intellektualität. Verf. prüfte bei seinen Untersuchungen schwachsinniger Kinder 
die spontanen Zeichnungen, das Nachzeichnen und Zeichnungen auf Grund von ge- 
lesenen Erzählungen. Keines von den Kindern versagte vollkommen, wenn auch manche 
in den ersten Anfängen stecken blieben, andere erst nach allmählicher Gewöhnung 
bessere Resultate gaben. Die meisten zeigten großes Interesse. Entgegen anderen 
Beobachtungen ließ sich beim freien Zeichnen nicht das Bevorzugen der menschlichen 


ge 


— 116 — 


Figur feststellen, sondern bezog sich dies zum größten Teile auf Eindrücke und Er- 
lebnisse der gewohnten Umgebung. Bei Knaben spielten besonders Ereignisse des 
Krieges und der Politik eine große Rolle, während die Mädchen ihre geistige Eigenart 
im Zeichnen von häuslichen Episoden, Spielen, Puppen zum Ausdrucke brachten. 
Es fehlte ihnen auch die Neigung zur Darstellung dramatischer Massenszenen und kom- 
plexen Handlungen, wie sie Knaben lieben. In keinem Falle kam eine echte Farben- 
blindheit zur Beobachtung, Fehler entstanden durch Irrtümer in der Verwendung 
der Farben infolge von Unwissenheit und Unaufmerksamkeit. Für hochgradig schwach- 
sinnige Kinder mit geringer Neigung zum Zeichnen empfiehlt Verf. die Methode von 
Tarelli, bei welcher die Schüler abgebildete Gegenstände durchpausen müssen. Er 
rühmt auch den besonderen erziehlichen Wert des Zeichnens überhaupt für die Ent- 
wicklung der geistigen Fähigkeiten der schwachsinnigen Kinder, das sich in Verbindung 
mit anderen Methoden sehr fördernd für die Anregung der Arbeitslust und freien Be 
tätigung erweist. Zingerle (Graz)., 

Elze, Curt: Reehtslinksempfinden und Rechtslinksblindheit. (Anat. Inst., Uni. 
Rostock.) Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 24, H.2, S. 129—135. 1924. 

Auf Grund einer großen Reihe von Beobachtungen kommt Verf. zu dem Schluß. 
daß die Unterscheidungsfähigkeit für rechts und links (am eigenen Körper und im 
Raum) eine primäre unabhängige Funktion ist, ähnlich dem Tonempfinden. Voll 
kommener oder unvollkommener Mangel des Rechtslinksempfindens ist häufig, be- 
sonders im Kindesalter; später wird er durch Gedächtnishilfen kompensiert. Er kann 
verbunden sein mit Gedächtnismangel für zusammenhängende Dinge. Für Intelligenz- 
prüfungen ist die Frage nach rechts und links nicht geeignet. Erich Stern (Gießen). 

Sereni, Enrico: Contributo all’analisi della serittura speculare. (Beitrag zur Analyse 
der Spiegelschrift.) (Istit. di fisiol., univ., Roma.) Riv. di psicol. Jg. 19, Nr. 34. 
S. 135—144. 1923. 

Die Spiegelschrift der linken Hand erscheint als ein Ausdruck des symmetrischen 
Baues unseres Körpers. Verf. beobachtete einen 45jährigen, hochgebildeten Mann. 
bei dem vor 2 Jahren infolge eines Traumas der rechte Ellbogen eingegipst worden war 
und nicht wieder beweglich wurde. Er erlernte das Schreiben mit der linken Hand, 
ohne je in Spiegelschrift zu verfallen. Aufgefordert, mit beiden Händen zugleich zu 
schreiben, schreibt er rechts Spiegelschrift; er konnte aber auch rechts normal und 
zugleich links spiegelverkehrt schreiben. Die rechtsseitige Spiegelschrift gleicht in 
ihren Schriftzügen der linkshändigen normalen. Die Spiegelschrift ist die Übertragung 
der von der einen Extremität erlernten Bewegungsform auf die andere, was in symme- 
trischer Weise geschieht. Beim Schreiben wirken zusammen ein willkürlicher Fakter, 
ein ideokinetischer, ein optischer, ein kinästhetisch-taktiler und ein motorischer. Ihre 
Wirkungsweise ist verschieden beim Neuerlernen einer Schrift oder beim Schreiben 
einer schon erlernten; im letzteren Falle überwiegen die kinästhetisch-ideokinetischen 
Momente. Bei der Entstehung der Spiegelschrift auf der nicht das Schreiben unmittelbar 
übenden Seite müssen unilaterale Zentren die entscheidende Rolle spielen; vornehmlich 
kommt der Scheitellappen als Sitz der ideokinetischen Engramme in Betracht. Wenn 
diese Engramme in dem dominierenden linken Zentrum nur der Form nach, obne 
räumliche Beziehungen registriert würden, letztere erst beim Übertritt der Impuls 
in der motorischen Region hinzukämen, so würde sich die Spiegelschrift erklären lassen. 
Eine solche Dissoziation von Form und Raumstellung besteht tatsächlich bei Kindern. 
für welche Drehungen um 90° oder 180° keine Bedeutung zu haben scheinen. Es 
findet keine „Mitübung“ der linken Hand statt, denn die Anfänge der Spiegelschrit 
sind unbeholfen. Die primäre Spiegelschrift erklärt sich entweder daraus, daß dies 
die natürliche Bewegungsform der Linken sei, oder aus einer Nachahmung der rechts- 
händigen Bewegungen des Schreiblehrers; da die primäre Spiegelschrift nur bei Links- 
händern auftritt, könnte auch eine Einseitigkeit der optischen Funktion dabeı eine 
Rolle spielen. Rudolf Allers (Wıen)., 


— 117 — 


Angewandte Psychologie : 


© Offner, Max: Das Gedächtnis. Die Ergebnisse der experimentellen Psychologie 
und ihre Anwendung in Unterricht und Erziehung. 4. verm. u. umgearb. Aufl. Berlin: 
Reuther & Reichard 1924. XXXII, 200 S. G.-M. 4.50. 


Nach 10jähriger Pause ist das bekannte Werk in einer neuen Auflage erschienen. 
Es ist dem Verf. gelungen, durch die Verwertung der gesamten in diesem Zeitraum 
entstandenen deutschen Literatur und eines Teils der ausländischen, einen vollständigen 
Überblick über die Ergebnisse der experimentellen Gedächtnispsychologie zu geben. 
Das Buch hat seine Vorzüge in jeder Weise zu erhalten vermocht. Die streng wissen- 
schaftliche Formulierung, die übersichtliche Anordnung des Stoffes machen es zu einem 
wertvollen Hilfsmittel in der Hand des Forschers; durch die Hinweise auf die praktische 
Verwendung der Untersuchungsergebnisse ist es für Pädagogen, Lehrer, Berufsberater 
wichtig. Die theoretischen Auffassungen des Verf. sind durch die experimentelle Frage- 
stellung und Methodik entscheidend beeinflußt. Erwin Straus (Charlottenburg). 


Wolfer, Leo: Über die Sehwankungen der psychisehen Leistungsfähigkeit bei 
Schulkindern. Zugleich ein Beitrag zur Wochenkurve. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. 
Psychiatrie Bd. 90, H. 1/2, S. 41—68. 1924. 


Wolfer hat mit einer Knabenklasse einer Bürgerschule in Salzburg an 48 Schülern 
von 11—12 Jahren seine Versuche derart angestellt, daß er sie auf 3 Wochen in ver- 
schiedenen Jahreszeiten verteilte. Es wurde je 1 Woche (Mo mit Sa) im November 
1922, im April und Juli 1923 gewählt und schließlich noch eine Ferienwoche im August 
hinzugefügt. Die Versuche, deren Einzelheiten im Original nachzulesen sind, wurden 
in Form der Ketten-Reaktionen angestellt. Als wesentlichstes Ergebnis wurde fest- 
gestellt, daß die Leistungen der einzelnen Tage während der Schulwochen von dem 
schlechtesten zum besten Tage fortschreitend die Reihenfolge Mo, Sa, Do, Di, Mi, Fr 
aufweisen und zwar unabhängig von der Jahreszeit. Wochenanfang und Wochenende 
zeigen durchweg schlechtere Leistungen als die Wochenmitte. W. kommt nach Be- 
sprechung der verschiedenen Ausdeutungsmöglichkeiten seiner Einzelergebnisse und 
des mitgeteilten Allgemeinergebnisses zu der Auffassung, daß die Lust- und Unlust- 
momente weit stärker auf die Leistungen wirken als Jahreszeit, barometrische Schwan- 
kungen, Temperatur, Witterungscharakter, Müdigkeit, Körpergewicht, Nahrungs- 
wechsel usw. Und zwar meint er diejenigen Lust- bzw. Unlustmomente, welche an 
die Wocheneinteilung des Unterrichts geknüpft sind, also an den freien Mittwochnach- 
mittag und die l1!/,tägige Wochenendpause; so sei der Freitag deshalb der beste Tag, 
weil ihm einerseits Übung und Antrieb der Vortage zu gute kommen und andererseits 
die freudige Erwartung des Wochenendes, der Samstag hingegen schlecht, weil die 
Einstellung auf das Wochenende schon ein erhebliches Übergewicht über die leistungs- 
steigernde Wirkung der Vortage gewonnen hat. Den freien Tagen folgt ein Unlust- 
gefühl. Homburger (Heidelberg). 


Dawson, Shepherd: Variations in the mental elfieieney of children during school 
hours. (Schwankungen der Leistungsfähigkeit bei Kindern während der Schulstunden.) 
Brit. journ. of psychol. Bd. 14, H. 4, S. 362—369. 1924. 


Die 2. Stunde der Tagesarbeit gilt allgemein als die beste zu geistiger Arbeit; deshalb 
werden die schwierigen Lehrfächer (Arithmetik) meist um 9 Uhr resp. 9,30 auf den 
Stundenplan gesetzt. Um dies nachzuprüfen, wurdenan 6 Klassen mit über 1000 Kin- 
dern eine Woche lang Rechenaufgaben gestellt, die jeweils an verschiedenen Stunden 
des Tages zu lösen waren. Die gewonnenen Ergebnisse stimmen mit der herkömmlichen 
Ansicht überein, zeigen jedoch deutlich die Wirkung der Gewöhnung an einen festgeleg- 
ten Stundenplan. Die Stunde, die normalerweise dem Rechenunterricht gewidmet 
war, sei auch diejenige gewesen, in welcher die höchsten Versuchsresultate gewonnen 
wurden. von Krenburg (München). 


— 18 — 


Gates, Georgina Stiekland: The effect of an audience upon performance. (Der 
Einfluß von Beobachtern auf die Arbeitsleistung.) Journ. of abnorm. psychol. a. soc. 
psychol. Bd. 18, Nr. 4, S. 334—344. 1924. 

Drei Gruppen von Vpn. wurden unter verschiedenen Bedingungen (teils unter 
Aufsicht des Vl. allein, teils unter der Kontrolle von 4—6 und 27—37 Beobachtern) 
mit drei einfachen Tests (Koordinationstest, Woodwill-Wells Farbnamentest und 
Analogietest) geprüft. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen vor allem, daß die 
Aussagen der Beobachter über angeblich oder tatsächlich beobachtete Zeichen von 
Nervosität und emotionaler Ablenkung der Vpn. stark auseinandergehen. So wurde 
z. B. an einer Vp. von einem Beobachter gar kein Zeichen nervöser Ablenkung beob- 
achtet, während die übrigen zusammen 57 an ihr entdeckten. Die unter Aufsicht von 
Beobachtern gemachten Aufgaben ergeben bessere Resultate als die allein gemachten: 
die schwächeren Vpn. haben dabei noch bessere Leistungen; die besser begabten Vpn. 
scheinen durch die Beobachter mehr abgelenkt zu werden als die schwächeren: hin- 
gegen hat die Anzahl der Anwesenden (ob 4—6 oder 30—40) nur wenig Einfluß auf die 
Leistung. Ähnliche Resultate wie die hier gewonnenen haben A. Mayer (Über Einzel- 
und Gesamtleistung des Schulkindes) und W. Moede (Der Wetteifer, seine Struktur 
und sein Ausmaß) gefunden: Schulkinder leisten in den Gruppen von Mitarbeitenden 
Höheres als bei Einzelarbeiten. Hier zeigen sich die ‚sozialen Einflüsse“, die Ein- 
flüsse der Umwelt, die in unserem Fall fördernd auf die Arbeitsleistung wirken. 

von Kuenburg (München). 

Willis, C.: The uses of intelligence tests in the sehools. (Die Anwendung von In- 
telligenztesten in den Schulen). Public health journ. Bd. 15, Nr. 2, S. 68—71. 1924. 

Willi's Mitteilungen sind kasuistischer Art und etwas summarisch, mit Bemerkun- 
gen über den Wert von Intelligenzprüfungen in sozialer Hinsicht, die eine eingehendere 
Ausführung verdient hätten. Die von W. angewandten „Termans Tests“ sind tat- 
sächlich recht brauchbar. Eine Bedingung setzen aber auch sie voraus, die bei allen 
Tests (was heute vielfach nicht genug gewürdigt und empfohlen wird) für eine ge- 
rechte und verläßliche Anwendung verlangt werden muß: die zu Untersuchenden 
müssen bis zu einem gewissen Grade dem Untersucher bekannt, von ihm beobachtet 
sein. Darin hat W. recht, daß sowohl im Hinblick auf die Richtung der Erziehungs- 
ausbildung wie auch selbstverständlich bei der Berufsberatung Testfeststellungen von 
großer Bedeutung sind, und daß in diesem Sinne die Einrichtung auszubauen ist und 
auf breiter Grundlage Anwendung finden muß. E. v. Düring (Frankfurt a.M.). 

Pisani, Domenico: Critica sperimentale dei reattivi di intelligenza applieati ai frena- 
steniei. (Experimentelle Kritik der Intelligenzprüfung in ihrer Anwendung auf 
Schwachsinnige.) (Laborat. di psicol. sperim., univ., Roma.) Note e riv. di psichiatr. 
Bd. 11, Nr. 3, S. 485—517. 1923. 

Versuche nach Binet-Simon an 19 Normalen und 15 Schwachsinnigen von 
verschiedenem Typus führen den Verf. im großen und ganzen zu einer Ablehnung 
dieser Methoden quantitativer Intelligenzbeurteilung, von denen er mit Sante de 
Sanctis meint, sie seien in der Psychiatrie weder notwendig noch zureichend. Die 
Beurteilung des Schwachsinnes auf Grund der Lernleistungen, der Sprache, der Hand- 
lungsweise usw. sei viel zuverlässiger. Auch die Tests von de Sanctis zur Prüfung 
der logischen Funktionen besitzen nur einen relativen Wert und diesen nur zusammen- 
gehalten mit einer Gesamt.beurteilung der Persönlichkeit. Immerhin eignen sich die 
„Reattivi“ von de Sanctis für den Nachweis der intellektuellen Insuffizienz, da 
zwischen ihrem Ausfall und dem Gesamteindruck eine starke positive Korrelation 
besteht. Rudolf Allers (Wien)., 

Malsch, Fritz: Die Vorstellungsentfaltung und ihr Zusammenhang mit Begabunss- 
schätzung und Schulleistung. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 21. 
Nr. 11/12, S. 315—353. 1923. 

Wird einem Individuum von außen oder innen eine Aufgabe gestellt, so beobachten 


— 119 — 


wir Arbeiten des Assoziations- und Reproduktionsmechanismus, der unter Einsatz des 
schlußfolgernden Denkens, der Beziehungserfassung, womöglich auch der Phantasie, 
zur Lösung der Aufgabe führt. Die pädagogische Arbeitsweise ist ein ständiges Stellen 
von Aufgaben, weshalb der Schüler eine ziemlich bewegliche Vorstellungswelt haben 
muß. Für diese Beweglichkeit kommen in Betracht die Assoziation von der Erfahrung 
bereitgestellter Vorstellungen, die Sicherheit und Geschwindigkeit, mit der diese erfolgt, 
die Beziehungserfassung an die bereitstehenden Vorstellungen und die phantasievollen 
Verknüpfungen möglicher Kombinationen. Verf. prüft 43 Untersekundaner zwischen 
15 und 17 Jahren, indem er ein Reizwort gibt und die Beziehung bestimmt, in der die 
Reaktionswörter zu diesem stehen sollen (z. B. „hoher Lohn‘‘ — Wirkung). Es zeigt 
sich, daß die Gewandtheit in der Vorstellungsentfaltung bei den einzelnen Versuchs- 
personen ganz verschieden ist, daß zwischen ihr und der Schulleistung nur eine geringe 
Korrelation besteht, die beste in der Mathematik. Ferner läßt sich der Einfluß der 
sozialen Lage feststellen. Die Schüler gehobener Schichten zeigen eine größere Be- 
weglichkeit der Vorstellungswelt, weiterhin des Alters, insofern die älteren Schüler mit 
abstrakten Begriffen besser zu arbeiten in der Lage sind. Die intelligenteren Schüler 
spezialisieren die Begriffe, die weniger intelligenten arbeiten mehr mit allgemeinen 
Begriffen. Erich Stern (Gießen)., 

Heinis, H.: Die psychologische Auswahl der Befähigteren für einen Beruf. (Psychol. 
Inst., Univ. Genf.) Schweiz. Zeitschr. f. Gesundheitspfl. Jg. 4, H.2, S. 160-172. 1924. 

Erörtert einige Fehlerquellen der psychotechnischen Eignungsprüfung, verlangt 
Berücksichtigung der Übung bei der Bewertung des Prüfungsresultats (,,‚Ein.Test besitzt 
erst dann prognostischen Wert, wenn er seine Übungskurve zu bestimmen gestattet‘), 
empfiehlt die Verwendung der Psychoanalyse bei der Berufsberatung und fordert, daß 
der Psychotechniker in den Berufen, für die er prüft, selbst gearbeitet hat. 

| Bobertag (Berlin). 

Gault, Robert H.: Minor studies from the psyehological laboratory of Northwestern 
university. III. Cady, Helen Mary: On the psychology of testimony. (Zur Psychologie 
der Zeugenaussage.) Americ. journ. of psychol. Bd. 35, Nr. 1, S. 110—112. 1924. 

Mehrere Klassen von Schülern und Studenten beiderlei Geschlechtes werden in 
eine nach der üblichen Art bestimmter Tatbestandsprüfungstests angeordnete Situation 
versetzt (Unterbrechung des Unterrichtes durch einen eintretenden Herrn usw.). 
In jeder Klasse wird der einen Klassenhälfte die Aufgabe gestellt, den Vorgang schrift- 
lich frei zu schildern, die andere Klassenhälfte bekommt einen Bogen mit 42 Fragen 
zur Beantwortung über den Vorgang. In einigen Klassen werden die Methoden kom- 
biniert, indem nach der ersten Erfüllung die Aufgaben in den Klassenhälften nochmals 
xetauscht werden. Daß überhaupt ein Bericht gegeben werden soll, wird in einem Teil 
ler Klassen angekündigt, in einem anderen nicht. Es stellt sich heraus, daß das beste 
Trgebnis in bezug auf Fülle und Richtigkeit der Einzelheiten erzielt wird durch die 
Xombination des (vorausgehenden) freien Berichtes mit der Fragenbeantwortung. 
Tierauf folgen in absteigender Güte: die Methode der „Überraschung“, d. h. ohne 
\nkündigung der Berichtsaufgabe, dann die Methode mit Vorbereitung und als letzte 
lie einfache Fragenbeantwortung. Ein Unterschied zwischen den Geschlechtern wird 
icht konstatiert. E. Feuchtwanger (München). 

@ Eliasberg, Wladimir: Grundriß einer allgemeinen Arbeitspathologie. (Sehrift. 
. Psychol. d. Berufseignung u. d. Wirtschaftslebens. Hrsg. v. Otto Lipmann u. William 
tern. H.28.) Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1924. 41 S. G.-M. 1.50. 

Unter Arbeitspathologie versteht Verf. die Psychopathologie der arbeitenden 
'ersönlichkeit. Es sollen die abwegigen Gestaltungen der Wechselbeziehungen von 
‚rbeit und Individuum verfolgt werden, indem 1. die Arbeit als Ursache der patho- 
‚gischen Veränderung der Persönlichkeit, 2. die pathologische Persönlichkeit als 
'rsache veränderter Arbeitsabläufe untersucht werden. Im 1. Abschnitt werden die 
olgen der Übung, Ermüdung, Pausenwirkung, die Bedeutung der Erholung (passive 


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Erholung durch Sport, Alkohol usw., aktive Erholung im Nebenberuf und Kompen- 
sationsberuf) geschildert. Die pathogene Bedeutung der Arbeit im Sinne der Neur- 
asthenisierung und Hysterisierung (Unfallneurose) wird erörtert. Im 2. Abschnitt 
wird gezeigt, wie der Einfluß abnormer Individuen ‚die wichtigste Quelle der (sozialen) 
Neuordnung“ darstellt (Max Weber). Die Wirkung der einzelnen pathologischen 
Typen im Arbeitsleben wird näher geschildert; schließlich wird die Bedeutung der 
Arbeitstherapie hervorgehoben, und deren großer Wert selbst für verblödete Kranke 
betont. Wenn die Schrift auch nur in einzelnen Abschnitten über den Rahmen einer 
Programmschrift hinausgeht, so bietet sie doch dem Soziologen, dem Arzt und besonders 
dem Psychiater reiche Anregung. Storch (Tübingen). 

Sehultze, F.E.Otto: Über die Bedeutung der psyehopathologischenGrenzerseheinungen 
für den Lehrer. Pädagog. Zentralbl. Jg. 4, H. 2, S. 49—55. 1924. 

In lebhafter ansprechender Form schildert Schultze die Abhängigkeit des Cha- 
rakters von der Umwelt und die Notwendigkeit, den Einzelnen aus Anlage und Um- 
welt zu verstehen. Zu diesem Verstehen gehöre aber beim Lehrer durchaus eine Kennt- 
nis der psychopathischen Symptome. Gruhle (Heidelberg). 

Wettstein, B.: Aus der Praxis der Psyehotechnik. Schweiz. Zeitschr. f. Gesund- 
heitspfl. Jg. 4, H. 2, S. 151—160. 1924. 

Veranschaulicht an einer Reihe von Beispielen aus der Praxis der Berufsberatung 
den Nutzen der psychotechnischen Eignungsprüfung. In der anschließenden Dis- 
kussion werden einige wertvolle Gesichtspunkte vorgebracht. Bobertag (Berlin). 

Suter, J.: Die Psyehotechnik im Dienste der Berufsberatung. Schweiz. Zeitschr. 
f. Gesundheitspfl. Jg. 4, H. 2, S. 141—151. 1924. 


Kurze Übersicht über die Aufgaben und Verfahrungsweisen der psychotechnischen 
Eignungsprüfung, die nichts Neues enthält. Bobertag (Berlin). 
Genetische und vergleichende Psychologie : 

Galant, Johann Susmann: Über die natürliche Einteilung des Kindesalters in drei 
Perioden: Das Säuglings-, Kleinkindes- und schulpfliehtige Kindesalter. Monatsschr. 
f. Kinderheilk. Bd. 28, H. 6, S. 498—502. 1924. 

Der Inhalt des Artikels ist im Titel angegeben. Verf. hält diese Einteilung für neu und 
bezeichnet sie als „das von mir hier angeschnittene und m. E. befriedigend gelöste Problem 
einer natürlichen Einteiluug des Kindesalters“, das sich „bald aus einem Problem in einen 
allgemein anerkannten feststehenden Erwerb der Wissenschaft umwandeln dürfte‘‘. Man 
weiß wirklich nicht, ob hier der Originalität der Gedanken oder der Bescheidenheit, mit der 
sie vorgetragen werden, der Vorrang gebührt. Homburger (Heidelberg). 

Woodbridge, Freueriek J. E.: Mental development. (Geistige Entwicklung.) 
Journ. of philosophy Bd.21, Nr. 17, S. 449—456. 1924. 

Kurze philosophisch orientierte Abhandlung über das Problem der Entwicklung in der 
Rasse und im Individuum. Die „Entwicklung‘‘ der Rasse (und der Menschheit) ist metaphc- 
risch zu verstehen; tatsächlich liegt keine Entwicklung, sondern eine Selektion (Auswahl. 
Auslese) vor; ähnlich sind die Verhältnisse beim Individuum. Das Individuum erbt nicht die 
Erfahrungen seiner Eltern und Vorfahren, sie werden ihm anerzogen. Auch hier handelt es 
sich um Selektion und nicht um einen Prozeß der Entwicklung. von Kuenburg. 

Fornaseri, Guido: Osservazioni sullo sviluppo psiehieo di un bambino nei primi 
sette mesi di vita. (Beobachtungen über die psychische Entwicklung eines Kindes in 
den ersten 6 Lebensmonaten.) Arch. ital. di psicol. Bd. 2, H. 2, S. 93—101. 1922. 

Verf. stützt sich auf seine Aufzeichnungen über das psychische Verhalten seines 
Söhnchens im 1. Lebenshalbjahre. Er beobachtet das Funktionieren der Sinnessphärer. 
(Gesicht, Gehör, Geschmack), das erstmalige Auftreten von Wahrnehmungs-, Erken- 
nungs- und Unterscheidungsvorgängen, das Verhalten der Instinkt- und Ausdrucks- 
bewegungen, insbesondere mimischer Art und das Entstehen der Willkürbewegunger 
im eigentlichen Sinne. (Seine Resultate stehen zeitlich nicht immer ganz im Einklang 
mit denen anderer Autoren.) Fornaseri ist der Ansicht, daß ungefähr mit der: 
6. Lebensmonat eine Etappe im kindlichen Leben abgeschlossen wird, in der die an- 
geborenen, atavistischen, instinktiven Bewegungen vorgeherrscht haben und demgemäd 





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das Sinnes- und Verstandesleben auf verhältnismäßig niedriger Höhe steht. Ihr folgt 
eine neue Etappe, in der durch Wirksamkeit der willkürlichen Motorik das für die 
Weiterentwicklung so wichtige Spielalter eingeleitet wird. E. Feuchtwanger. 

Lutz, William Filler: The relation of mental to physical growth. (Die Beziehungen 
zwischen geistiger und körperlicher Entwicklung.) Psychol. clin. Bd. 15, Nr. 5, 
8.125—129. 1924. 

Untersuchungen an 100 Knaben ergaben folgendes: Geistig gute Entwicklung geht 
mit hohen Werten des Längen-Gewichtsindex einher. Auch der Blutdruck scheint 
durchschnittlich bei den Intelligenteren höher zu sein. Verzögerte Entwicklung der In- 
telligenz läuft meist auch mit verzögerter Pubertätsentwicklung parallel. 

Gruhle (Heidelberg). 

Delaeroix, H.: L’aetivit& linguistique de Penfant. (Die sprachbildende Kraft des 
Kindes.) Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 4—17. 1924. 

Delacroix befaßt sich hauptsächlich mit der Worterfindung der Kinder, die 
deswegen selten vorkommt, weil sie nicht notwendig ist; sie biegen vielmehr die Sprache 
der Erwachsenen nach ihren Bedürfnissen, wie es übrigens auch die Großen tun; es 
wird auf die Schwierigkeiten verwiesen, die sich der Deutung der Absicht des Sprach- 
anfängers bei der Wortbildung in den Weg stellen. Soll Mama wirklich Mutter sein — 
vom Standpunkte des kleinen ‚Sprachschöpfers‘‘ —, wo dieses Wort z. B. im Georgi- 
schen den Vater bezeichnet? Es ist ferner richtig, daß Kinder die Tendenz zeigen, 
Geräusche nachzuahmen, aber es ist unsicher, ob ihm seine onomatopoetischen Aus- 
drücke nicht von Erwachsenen geboten werden. Im Verlaufe des Artikels kommt 
Verf. auch auf die verzögerte Sprachentwicklung, von welcher er die seltene Form 
erwähnt, daß nach völliger Stummheit plötzlich ein ganzer Satz auftaucht. Auch 
die Geheimsprache mancher Kinder findet Erwähnung, insbesondere die, welche auf 
Vernachlässigung mehrerer Geschwister durch die Umgebung beruht. Ein Exkurs 
über die Sprachveränderungen, welche Propheten und Pseudopropheten in der Extase 
vornehmen, und die doch nichts anderes als Abänderungen der ihnen geläufigen Spra- 
chen sind, und eine Erwähnung der Sprache der Paranoiker vervollständigen die geist- 
reiche Abhandlung. Fröschels (Wien). 

Sehüssler, Heinrieh: Die Entwicklung des verallgemeinernden Denkens bei Kindern 
und Jugendlichen. (Vereinig. f. Kinderkunde, Frankfurt a. M.) Zeitschr. f. angew. 
Psychol. Bd. 23, H. 3/4, S. 204—207. 1924. 

Die Entwicklungskurven des verallgemeinernden und schlußfolgernden Denkens 
gleichen sich darin, daß bis zum 15. Lebensjahr die Mädchen den Knaben überlegen 
sind. Nach der Pubertätskrisis tritt eine Umkehr ein. Die Hauptfortschritte liegen bei 
den Mädchen im 12., 15. und 19. Jahr, bei den Knaben im 12—13, 16. und 19. Lebens- 
jahr. In der Entwicklungskurve sind Rückschritte bei den Mädchen im 12. bis 13, bei 
den Knaben im 13. bis 15. Jahr festzustellen. Erwin Straus (Charlottenburg)., 

Lipmann, Otto: Psychische Gesehlechtsuntersehiede. Ergebnisse der differentiellen 
Psychologie. Tl. I. Zeitschr. f. angew. Psychol. Beih. 14a, S. 1—108. 1924. 

Lipmann, Otto: Psychische Gesehlechtsunterschiede. Ergebnisse der differentiellen 
Psyehologie. TI. II. Zeitschr. f. angew. Psychol. Beih. 14b, S. 1—192. 1924. 

Freunde der statistischen und messenden Psychologie werden die 2. Auflage vor- 
liegenden Werkes begrüßen. Reiches veröffentlichtes und unveröffentlichtes Material 
aus allen Kulturstaaten der Welt diente dem Autor als Grundlage der Arbeit. Die um- 
fangreiche Literatur zu der Frage nach den Geschlechtsunterschieden und zu dem 
Koedukationsproblem ist bis 1924 ergänzt worden. von Kuenburg (München). 

Meagher, J. F. W.: The child family relation: a psyehosexual study. (Die Be- 
ziehungen zwischen Kind und Familie. Eine psychosexuelle Studie.) Med. journ. a. 
record Bd. 119, Nr. 8, S. LXXXVIII—XCII. 1924. 

Die ersten 5 Lebensjahre sind für die Charakterentwicklung die wichtigsten. 
Wenn auch die Erlebnisse aus dieser Zeit vergessen werden, ihre Nachwirkung durchs 


— 12 — 


ganze Leben bleibt erhalten. Heredität allein erklärt den Charakter nicht, die Erleb- 
nisse sind von größter Bedeutung. Es ist zu unterscheiden zwischen fundamentalen 
und kompensatorischen Charaktereigenschaften. Versuche, fundamentale Eigen- 
schaften und biologisch fundierte Tendenzen zu unterdrücken, können leicht eine 
Neurose herbeiführen. Die heutige Zivilisation überreizt einerseits die Sexualität, 
andererseits verlangt sie ihre Unterdrückung. Die meisten Menschen werden dadurch 
ordinär oder prüde. Es wird vielfach dem Kinde ein Ideal gezeigt, das seiner Natur 
widerspricht. Vom Weibe wird noch mehr Unterdrückung der Gefühle verlangt als 
vom Manne. Die Folge ist, daß bei den Psychosen der Frauen die sexuellen Hallucı- 
nationen eine viel größere Rolle spielen als beim Manne. Ein besonders schlimmer 
Fehler ist, jungen Leuten beibringen zu wollen, alles Geschlechtliche sei erniedrigend. 
Manche Mädchen heiraten dann überhaupt nicht oder sie empfinden die Ehe als eine 
Erniedrigung und sind unglücklich. Ein Kind soll zu seinem eignen Besten erzogen 
werden, nicht zum Vergügen und Nutzen der Eltern. Hinsichtlich der Triebe muß 
das Ziel sein, ihnen eine Richtung auf das Edle zu geben, nicht aber sie unterdrücken 
zu wollen. Campbell (Dresden). 


© Schneerson, F.: Die katastrophale Zeit und die heranwachsende Generation. 
Berlin: C. A. Schwetschke & So. 1924. 142. S. 


Schneerson legt zunächst eingehend seine Untersuchungsmethoden dar. Von 
seinen Darlegungen und Ergebnissen sei nur kurz einiges hervorgehoben. Katastrophale 
Ereignisse rufen beim normalen Kinde gewöhnlich relativ schwache, nicht lang- 
anhaltende emotionale Reaktionen hervor. Sobald aber katastrophale Ereignisse 
das Kind persönlich in unmittelbare Mitleidenschaft ziehen, vermögen sie sehr leicht 
das Kind zu erschüttern und langandauernde Störungen hervorzurufen. Frühreife 
Kinder sind empfänglicher für die Wirkung katastrophaler Ereignisse. Nervöse und 
psychopathische Kinder sind nicht im Besitze der normalen biopsychischen Schutz- 
mittel und darum derartigen Erschütterungen in starkem Maße ausgesetzt. Die Mög- 
lichkeit einer sog. Spätwirkung ist eingehend dargelegt. Von den pädagogischen 
Gegenmitteln sind insbesondere behandelt die Verhütung der Erinnerung, die Ab- 
lenkung und Erfüllung der Seele mit neuen, freundlicheren Inhalten. Die unter- 
suchten und beobachteten Kinder befinden sich in der Ukraine. Krieg und Pogrome 
sind die katastrophalen Ereignisse, die zu vorliegender Untersuchung Anlaß gaben. 

Egenberger (München). 

Baynes, H. G.: Primitive mentality and the uneonseious. (Psyche der Primitiven 

und das Unbewußte.) Brit. journ. of med. psychol. Bd. 4, H. 1, S. 32—49. 1924. 


Verf. will die ins Unbewußte gebannten psychischen Prozesse durch Analogie 
mit der Psyche der Primitiven begreiflich machen. . Er fixiert, daß der Mythus nur 
intuitiv verstanden, aber nicht rational abgeleitet werden kann, und wie aus der Mytho- 
logie Einsicht zu gewinnen ist in die Gestaltung unserer instinktiven Einstellung. 
Die participation mystique von Levy - Brühl, zufolge deren der Primitive mit seiner 
Umgebung eins ist, erkläre einerseits die erstaunliche Geschicklichkeit und Feinheit 
des primitiven Empfindungsvermögens und mache es doch auch andererseits gerade 
begreiflich, wie der Primitive so merkwürdig indifferent ist gegenüber der allererst 
durch Abstraktion herausgestellten Realität an sich. Die Subjekt-Objekt-Identität 
ist die Wurzel solcher Mythen wie z. B. der ägyptischen Erzählung von dem Heros Bata. 
Ein Analogon zu der participation mystique gäbe es in der Biologie; nach Haldane 
ist es kein kleinerer Irrtum, das Leben in der Struktur des Organismus zu lokalisieren 
als das Bewußtsein im Gehirn. Die teleologische Bedeutung der participation mystique 
sei offenkundig. Die Richtung der Libido drücke sich aus in einer bestimmten Subjekt- 
Objekt-Beziehung, wobei unter „Objekt‘‘ auch innere, psychische Gebilde gemeint 
sind. Die ganze instinktive Einstellung ist letztlich bestimmt durch angestammie 
Vorstellungen. Lipps (Göttingen)., 


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Psychopathologie und Psychiatrie: 


© Meyer, E.: Psychiatrie. 2. verb. Aufl. (Diagnostische und therapeutische Irr- 
tümer und deren Verhütung. Innere Medizin. Hrsg. v. J. Schwalbe. H.2.) Leipzig: 
Georg Thieme 1923. 119 S. G.-M. 2.60. | 

Der Zweck dieses, in 2. Auflage erscheinenden Heftes ist, wie der der ganzen Samm- 
lung, dem ärztlichen Praktiker die wichtigsten Klippen in der Beurteilung schwieriger 
spezialistischer Fälle eindringlich vor Augen zu führen; dieser Zweck wird auch von 
dem vorliegenden Heft sehr wohl erreicht. An die Differentialdiagnose der einzelnen 
Symptome und Syndrome, sowie die Beratung in den wichtigsten, in der öffentlichen 
Praxis sich ergebenden Fragen der Versorgung Geisteskranker schließt sich die Be- 
sprechung der einzelnen klinischen Krankheitsbilder an. Daß die Besprechung eines 
sonst etwas vernachlässigten Gebietes, der Simulation und Dissimulation von Geistes- 
störung, ausführlich an die Spitze gerückt ist, ist sehr zweckmäßig. Kretschmer. 

Ilberg, Georg: Psychische und nervöse Erkrankungen bei Jugendlichen. Neue 
Jahrbücher Bd. 54, H. 2, S. 81—96. 1924. 

Verf. gibt in dieser Arbeit eine Übersicht über die psychischen und nervösen Stö- 
rungen, welche bei Jugendlichen vorkommen können, ohne indessen näher auf die 
besonderen Erscheinungsformen der Störungen im Jugendalter einzugehen. Er behan- 
delt kurz den Selbstmord Jugendlicher — in Preußen jährlich etwa 50 Knaben und 
10 Mädchen —, dann das manisch-depressive Irresein, Angstzustände (besonders 
Pavor nocturnus), die nach Infektionen auftretenden Psychosen, die endokrin bedingten 
Störungen, Chorea, hysterische und epileptische Dämmerzustände, die Hysterie, die 
verschiedenen Schwachsinnsformen, die Schizophrenie, moral insanity, Vagabundage, 
die Psychopathie. Der Aufsatz wendet sich in erster Linie an Erzieher und will diesen 
eine Kenntnis der wichtigsten Formen der Störungen jugendlichen Seelenlebens ver- 
mitteln; dazu hätte aber die Darstellung der Symptomatologie wesentlich ausführ- 
licher sein müssen. Manches scheint mir an den Ausführungen unzutreffend, so etwa 
das über den Pavor nocturnus, über die Hysterie, die Zwangsvorstellungen, die Mastur- 
bation Gesagte. In dieser Beziehung hat die Psychoanalyse wesentlich tiefere Ein- 
sichten zutage gefördert. Einen Hinweis auf diese, heute nicht mehr totzuschweigende 
Forschung vermißt man an vielen Stellen der Arbeit. Erich Stern (Gießen)., 

Michel, Rudolf: Zur Psychologie und Psychopathologie der Strafhaft. (Univ.-Znst. 
f- gericht. Med., Graz.) Monatsschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsreform Jg. 15, 
H. 1/4, 8. 58—83. 1924. 

Der Verf. hat 355 Sträflinge (Schwerverbrecher) eingehend untersucht. Die meisten 
waren dauernd in depressiver Stimmung, wollten allein sein und über ihr Schicksl 
nachgrübeln, litten an Heimweh. „Verschlagenheit, Trotz, Verlogenheit, Heuchelei 
und Faulheit sind die Kardinaleigenschaften des Verbrechers,““ ferner Rachsucht. 
Korpsgeist ist nur bei wenigen vorhanden. Die meisten sind krasse Egoisten, was wohl 
mit der durchschnittlich geringen Intelligenz zusammenhänge. Die sog. Eliteverbrecher 
sind stark ichbetont und eitel. — „Die Erregbarkeit und Reizbarkeit der Verbrecher 
ist enorm.“ — Hypochondrie und Querulantentum sind häufig; sie sind durch die starke 
Icheinstellung bedingt. — Das religiöse Gefühl der Sträflinge ist gering. — „Die Füh- 
rung in der Haft ist bei den meisten ziemlich gut.“ — ‚Die Gewohnheitsverbrecher, 
bei denen in der Mehrzahl Arbeitsscheu ein Hauptmerkmal ist, verlangen in der Anstalt 
nach Arbeit.“ — Die sexuelle Abstinenz wird von sehr vielen, auch jungen Sträflingen 
nur wenig empfunden. Schwerer wird im allgemeinen das Rauchen vermißt. — ‚Die 
arbeitsfreie Zeit verbringen die meisten stumpfsinnig.‘“ (Hier werden einige ziemlich 
belanglose Proben von Dichtungen eingefügt.) — „Als Verkehrssprache ist unter den 
Sträflingen die Gaunersprache sehr verbreitet,‘ die aber in der Freiheit nur von einem 
geringen Bruchteil der Verbrecher gesprochen wird. — „Bei den zu längerer Haft 
Verurteilten sind die Gedanken oft auf Entweichung gerichtet.“ „Auch Selbstmord- 
versuche sind nicht selten, von denen meiner Überzeugung nach aber viele nicht ernst 


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gemeint, sondern nur auf Effekt berechnet sind.“ — Von den zu lebenslänglicher Kerker- 
strafe Verurteilten arbeiteten die meisten fleißig; die Hälfte von ihnen fiel durch eine 
gewisse Abschwächung, Stupidität auf, und es kann wohl keinem Zweifel unterliegen. 
daß die lange Haft bei den meisten einen Abbau der intellektuellen Fähigkeiten bewirkt. 
— Ein großer Teil der in den Strafanstalten befindlichen Gewohnheits- und Beruí:- 
verbrecher ist geistig minderwertig, und von diesen reagieren viele infolge ihrer geringer. 
Widerstandskraft gegenüber äußeren Einflüssen in schwerer Weise auf die Strafnoxen. 
Viele Sträflinge hatten eine 3 Jahre währende Einzelhaft gut vertragen uud erklärter. 
die Einzelhaft der Gemeinschaftshaft vorzuziehen. Viele aber ertragen die Einzelhat: 
schwer, besonders im Anfang. Erstbestrafte, die nur in Einzelhaft ihre Strafe abbüßen, 
werden seltener rückfällig. — Die Strafschäden äußern sich vorwiegend in funktione] 
nervösen Störungen. Die meisten Sträflinge schlafen sehr unruhig und träumen sel: 
lebhaft, meistens von Verbrechen im allgemeinen, nur verhältnismäßig selten von dex 
eigenen begangenen Verbrechen. — „Bei den psychopathisch Minderwertigen bestelt 
ziemlich oft eine haftpsychotische Disposition, auf deren Boden es dann unter deri 
Einflusse der Strafnoxen zum Ausbruche einer Geisteskrankheit, sei es einer trans- 
torischen, sei es einer chronischen kommen kann.“ (9 kurze Krankengeschichten.) - 
„Einwandfreie Simulation von Geisteskrankheit habe ich während meiner Arbeitszeit 
in der Strafanstalt nicht gesehen.“ — Von den 355 Sträflingen erschien bei 44 (meist 
Affekt- oder Augenblicksverbrechern) nach ihrer charakterologischen Artung und ihrem 
Verhalten in der Strafanstalt eine besondere Strafwirkung wahrscheinlich, d. b. en 
Rückfall unwahrscheinlich. 172 behaupteten, Besserungswillen zu haben; doch erschien 
dies bei den meisten ziemlich unglaubwürdig. Viele geben unumwunden zu, daß a: 
wieder Verbrechen begehen werden. — Die Einsicht für das Strafbare der verbrechen- 
schen Handlung ist bei den meisten sehr gering, aufrichtige Reue ist sehr selten, Leugnet 
der Schuld häufig. — Die Anstaltsstatistik zeigt, daß man den Erfolg der Strafe nur 
sehr gering einschätzen darf. — Der Verf. zieht zum Vergleich mit seinen Beobachtungen 
sehr zahlreiche Beobachtungen anderer Autoren heran. Der Arbeit ist ein 70 Arbeiten 
aufzählendes Literaturverzeichnis angefügt. Lipmann (Kleinglienicke b. Potsdan). 

Rothschild, Sally: Das Gestaltungsprinzip und seine Bedeutung bei der Sehizoidir. 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 92, H. 3/4, S. 401—417. 1924. 

Verf. bringt in geistreicher Weise Deutungen schizoider Erscheinungen, wob 
er allerdings mit einer noch recht hypothetischen psychischen Mechanik arbeitet. 

Gregor (Flehingen i. Baden). 

Bresowsky, M.: Ungewöhnliche hebephrenische Endzustände. Monatsschr. £ 
Psychiatrie u. Neurol. Bd. 57, H. 1, S. 1—9. 1924. 

Verf. veröffentlicht einige interessante Fälle von chronischen Defektzustände 
nach Dementia praecox, die nicht den gewöhnlichen Endzuständen gleichen, sonder! 
den Typus bestimmter Psychopathieformen aufweisen. In dem einen Fall handelt » 
sich um eine Frühschizophrenie: Ein Junge von 14 Jahren macht einen schizophrea®: 
Schub durch und bietet nachher, bei intakten Verstandesleistungen und typisch het- 
phrenischen Einzelzügen, das ausgesprochene Bild eines Hypomanischen. Auch bi 
den 3 anderen Affektzuständen fehlt die sonstige Apathie, Antrieblosigkeit, Verschrobz!- 
heit und sie weisen gegenüber der ursprünglichen, vorkranken Persönlichkeit nev, 
typisch psychopathische Züge auf. Das Ergebnis eines hebephrenischen Krankhaäts 
prozesses kann also auch eine „psychopathische Persönlichkeit‘ sein. Filinger. 

Mattauschek, E.: Epikritische Bemerkungen zum Verhalten der Geisteskrask 
heiten in der Nachkriegszeit. Mitt. d. Volksgesundheitsamtes Wien Jg. 1923, Nr. 1. 
S. 397—399. 1923. 

Der Weltkrieg brachte den Beweis für die weitgehende Anpassungsfähigkeit ds 
gesunden menschlichen Gehirnes. Unter den Geisteskrankheiten zeigten die Parals” 
und die in die Gruppe der Dementia praecox gehörigen keine Vermehrung Die Bë 
deutung exogener Faktoren für die Auslösung geistiger Erkrankungen muß demna: 





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noch weit mehr in den Hintergrund treten gegenüber den konstitutionellen. Auch in 
der Nachkriegszeit zeigt sich eine Abnahme der Paralysen. Seit 1919 ist ein Ansteigen 
der verschiedenen Formen der Alkoholvergiftung, des Morphinismus, Cocainismus usw. 
wahrzunehmen. Die verderblichen Folgen des Krieges und der Nachkriegszeit zeigen 
sich „weniger auf dem Gebiete der eigentlichen Geisteskrankheiten, als in der psycho- 
pathischen Veränderung eines großen Volksteiles, in dem Herabsinken der Massen 
auf eiv primitives, tieferes seelisches Niveau, sowie in der schädlichen Beeinflussung 
der Erbmasse, für die der Verlust einer Unzahl physisch und psychisch gesunder 
Männer von schwerer Bedeutung ist“. Albrecht (Wien). => 
Carp, E. A. D. E.: Über Selbstmord. (Psychiatr. -neurol. Klin., Rijks-Unww., Leiden.) 
Nederlandsch maandschr. v. geneesk. Jg. 11, Nr. 11, S. 709—732. 1923. (Holländisch.) 
Bei Besprechung der Bedingungen, unter denen es zum Selbstmord kommt, weist 
der Verf. auf die Erblichkeit desselben bzw. auf die Vererbung der Prädisposition zu 
demselben hin und führt die eigenartigen Fälle an, in denen mehrere Mitglieder ein 
und derselben Familie — Großvater, Vater und Sohn — auf dieselbe Weise (Erhängen) 
Selbstmord verübt haben. Er erklärt diese Erscheinung mit Suggestivwirkung einer- 
seits und Nachahmungstrieb andererseits. Manchmal scheint dem Suicid eine Art 
Identifikation mit einer anderen Persönlichkeit zugrunde zu liegen, bei deren Ableben 
dann Selbstmord verübt wird. Auch die Übertragung der Eigenliebe auf eine andere 
Person, wodurch das ‚Ich‘ an Eigenliebe verarmt, scheint in gewissen Fällen eine Rolle 
zu spielen. Besonders hervorgehoben und an Beispielen erläutert werden die Kinder- 
selbstmorde, solche aus religiösen Motiven und die im Krieg, bei Hungersnot usw. vor- 
kommenden Selbstmorde, in denen dieselben eine Aufopferung für andere darstellen. 
In der Erklärung der Selbstmorde bei den Melancholischen und Schizophrenen bringt 
der Verf. Freudsche Gedankengänge, ohne über das, was dieser Autor gesagt hat, 
hinauszugehen oder es plausibler zu machen. Aus den Statistiken Hollands verdient 
hervorgehoben zu werden, daß die Selbstmorde in den katholischen Gegenden viel 
spärlicher sind als in den evangelischen. König (Bonn)., 


Geistige Defektzustände : 

Vries, Ernst de: Etwas über Typenunterschiede bei Zurückgebliebenen. Tijdschr. 
v. buitengewoon onderwijs Jg. 5, Nr. 8, S. 125—129. 1924. (Holländisch.) 

Vgl. dies. Zeitschr. 29, 181. 

Verf. referiert die Untersuchungen Vermeylens (G. Vermeylen, Les debiles 
mentaux, Bull. de l’inst. gén. psychol. 143, Boul. St. Michel, Paris 1923). Vermeylen 
arbeitete mit 15 Tests (7 gerichtet auf Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und Gedächtnis, 
6 auf Vorstellungsvermögen, Urteil und Phantasie, 2 auf Geschicklichkeit). Jeder Test 
besteht aus 10 Fragen von steigender Schwierigkeit. Für jeden Test wird eine Ziffer 
(1—10) gegeben. Diese Ziffern werden in Kurven gebracht. Bei Normalen liegen die 
Kurven verschiedener Altersstufen untereinander, sie zeigen jedoch keinen absoluten Par- 
allelismus. Im 6. und 7. Jahre zeigt der 8. Test (Beurteilung von Bildern) eine Sen- 
kung, welche im 8. Jahre wieder verschwunden ist. Die Kurven ergeben einen typischen 
Unterschied zwischen Zurückgebliebenen und Normalen. Die ersteren kann man 
auf Grund dieser Untersuchungen in zwei Gruppen einteilen: 1. eine Gruppe, deren 
Kurve wie bei Normalen einer niederen Altersklasse verläuft, die sog. harmonischen 
Zurückgebliebenen. In dieser Gruppe werden (wie, ist nicht recht deutlich — Ref.) 
passive, aktive und puerile Typen unterschieden. 2. Eine Gruppe, deren Kurve sich 
ganz unregelmäßig gestaltet, die unharmonischen Zurückgebliebenen. In dieser Gruppe 
findet man die Untergruppe der Instables, der Dummen und der Emotionellen. 

H. ©. Rümke (Amsterdam)., 

Liebers, M., und S. Maass: Neurologiseh-serologische Untersuchungsergebnisse aus 
einer Idiotenanstalt. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurol. Bd. 56, H. 1, S. 33—42. 1924. 

Von 203 Kindern erwiesen sich nur 20% als neurologisch völlig normal. Die 
Untersuchungen von Blut und Liquor, in 178 Fällen angestellt mit der WaR.-Original- 





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methode, nach Sachs-Georgi, Meinicke und mit der Goldsol- und Mastix-Reaktion, 
ergaben im Blut nur 4,5%, im Liquor nur 3% positive Ausfälle. Die Verff. -heben 
dementsprechend auch hervor, daß der serologische Luesnachweis viel seltener gelingt 
als man erwarten sollte. Außerdem wurden die von dem Ref. in den letzten Jahren 
beschriebenen motorischen Besonderheiten und die Rückständigkeiten der Bewegungs- 
entwicklung bei Schwachsinnigen nachgeprüft und bestätigt. Homburger., 

Simon, Th., et G. Vermeylen: Une des formes de l’enfance anormale: La debilite 
mentale. Limites et évolution, formes et eomplications. (Eine der Formen von 
Kinderanomalie: Die Debilität, ihre Grenzen, Entwicklung, Formen und Kompli- 
kationen.) (Congr. des alien. et neurol. de France et des pays de langue jrarç.. 
Bruxelles, 1.—7. VIII. 1924.) Rev. neurol. Bd. 2, Nr. 4, S. 382—385. 1924. 

Der Kongreßvortrag legt die übliche Dreiteilung des Schwachsinns und ihre me- 
thodische Festlegung durch die Intelligenztestprüfungen nach Binet-Simon den 
Ausführungen zugrunde. Als die obere Grenze der Idiotie wird das Intelligenzniaß 
eines 2jährigen, als die der Imbezillität das Intelligenzmaß eines 7jährigen Kindes 
angenommen. Die obere Grenze der Debilität ist schwer festzulegen, da sie mit dem 
Lebensalter schwankt. Je weiter das Lebensalter fortschreitet, um so größer muß die 
Differenz zwischen diesem und dem Intelligenzalter gesetzt werden. Oder mit dem 
Intelligenzquotienten genauer ausgedrückt: I.Q. = 0,85—0,80 bestimmt schon die 
obere Debilitätsgrenze beim kleinen Kind, 0,75 beim 12jährigen, 0,65 beim 14 jährigen 
Kinde. Was die Zukunftsaussichten des zurückgebliebenen Kindes in verschiedenen 
Altersstufen betrifft, so werden hierfür die Ergebnisse aus statistischen Erhebungen 
wiedergegeben: Beim Debilen vom 5. bis 12. Lebensjahr wachsen die Aussichten auf 
Fortschritt mit Erhöhung des Intelligenzquotienten. In reiferem Jugendalter erhöhen 
sich die Aussichten nur in dem Maße als der Quotient 0,70 nicht übersteigt, verringern 
sich aber mit einem I.Q. von 0,80. Die Aussicht auf Vorwärtskommen im praktischen 
Leben ist abhängig von der Zugehörigkeit zu bestimmten vorläufigen qualitativen 
Typen: 1. Der ausgeglichene Debile, dessen Züge, wenn auch reduziert, trotzdem 
insbesondere auch nach der gemütlichen Seite hin, harmonisch sind, ergibt die beste 
berufliche Prognose. Es folgen in absteigender Reihe: 2. der Dumme (sot), der eine 
Unausgeglichenheit der Selbsteinschätzung hat; 3. der unbeständige D. mit Dis- 
harmonie der Aktivität, Labilität der Eindrücke und Wünsche; 4. der kindische 
D., der dem vorausgehenden Typ in vielen Punkten ähnlich ist; 5. der emotive D., 
dessen reduzierte intellektuelle Leistungsfähigkeit noch durch jede Gefühlsregung 
aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Komplikationen mit organischen, besonders 
cerebralen Leiden werden besprochen. Die Diskussion bringt in bezug auf die Binet- 
Sımon-Methode manches Für (Boulanger, Decroly u. a.) und Wider (Hesnarüı. 
besonders in Zusammenhang mit der klinischen Untersuchung. Es wird der Einfluß 
der Rasse, des Kolonialklimas, von Hirnschädigung u. a. besprochen. Die Notwendig- 
keit des weiteren Ausbaus der Typen wird im Schlußwort betont. E. Feuchtwanger. 

Pick, A.: Über längeren Stillstand der kindliehen Sprachentwicklung im Stadium 
der Eehosprache (Eeholalie) mit schließlich günstigem Ausgang. Med. Klinik Jg. 2, 
Nr. 21, S. 706—707. 1924. 

Es gibt kongenitale Entwicklungshemmungen verschiedener psychischer Funk- 
tionen beim Kinde, z. B. die Hemmung der expressiven Sprachentwicklung, die Hör- 
stummheit, der infantile Agrammatismus, die kongenitale Wortblindheit, die akustische 
Unerweckbarkeit. Charakteristisch für diese Gruppe von Erkrankungen ist das Fehlen 
eines Intelligenzdefektes und die günstige Prognose: nach längerer Zeit wird die normale 
Entwicklung eingeholt. Die kindliche Sprachentwicklung kann auf verschiedenen 
Stufen stehenbleiben. Pick fand in der Literatur den Fall zweier Geschwister erwähnt, 
deren Sprachentwicklung im Stadium der Echolalie stehengeblieben war. Auch hier 
war die Intelligenz ungestört. Die von Pick erhobene Katamnese ergab, daß die 
Sprache dieser beiden Personen jetzt normal ist. Bekanntlich gibt es in der kind- 


ur r 


lichen Sprachentwicklung normalerweise ein Stadium der Echolalie. Die Echolalie 
ist ein bedingter Reflex vom cerebralen Gehörorgan auf das Sprachorgan, der mit der 
Entwicklung der Willkürsprache verschwindet. Der beschriebene Fall ist der Gruppe 
der kongenitalen Entwicklungshemmungen einzureihen, Defekt durch Herderkrankung 
ist nicht anzunehmen. Sittig (Prag)., 

© O’Flaherty, William: A study of the overage child in school distriets 17 and 
18 eity of New York. (Eine Untersuchung über das in der Schule zurückbleibende 
Kind in den Schuldistrikten 17 und 18 in New York.) New York: Committee of princi- 
pals in school districts 17 and 18. 1924. 32 S. 

Auf Veranlassung des Verf. sind in 2 der seiner Aufsicht unterstellten Distrikten 
an Schulen sehr sorgfältige Untersuchungen über die in der Schule zurückbleibenden 
Kinder angestellt worden. Es hat sich herausgestellt, daß 12%, der Kinder um 2 
oder mehr Jahre zu alt für ihre Klassen sind. 78%, dieser Kinder zeigen auf Grund 
von Testprüfungen eine unternormale Intelligenz (Intelligenzquotient unter 90). Die 
Prüfungen der Schulleistungen ergeben, daß die Leistungen dem Intelligenzalter ent- 
sprechen, das geringer ist als das Lebensalter. Verf. fordert für diese Kinder Sonder- 
klassen und einen besonderen Lehrgang, wodurch man sie schneller und besser fördern 
könnte, als es im gemeinsamen Unterricht mit den Gutgebabten geschieht, die zudem 
dadurch gehemmt werden. Der größere Kostenaufwand, der durch die dann erforder- 
liche größere Anzahl kleiner Klassen entstehen würde, wird ausgeglichen durch die 
bessere soziale Leistungsfähigkeit der Kinder im späteren Leben. Erna Lyon. 

Jarden, Ellen M.: „What are little boys made of?“ (Welcher Art sind kleine 
Knaben?) Psychol. clin. Bd. 15, Nr. 5, S. 138—143. 1924. 

Green, Beatrice: The spotless child. (Das fleckenlose Kind.) Psychol. clin. Bd. 15, 
Nr.5, S. 149—153. 1924. 

Murphy, Ross D.: Reginald. Psychol. clin. Bd. 15, Nr.5, S. 154—156. 1924. 

Drei oberflächliche Schilderungen von schwachsinnigen Kindern im Plauderton, die 
nicht genügend Einzelbeobachtungen bringen, um dem Leser die Kinder lebendig zu machen 
und eigene Schlüsse zu ziehen. Lotte Nohl (Berlin). 

Urechia, C.-I., et S. Mihaleseu: Sur un eas de démence infantile. (Ein Fall von 
Dementia infantilis.) Arch. internat. de neurol. Bd. 2, Nr. 1, S. 1—5. 1924. 

Der geschilderte Fall, ein 8jähriger, vorher normaler Knabe, änderte plötzlich sein Wesen, 
wurde depressiv, verweigerte die Nahrung, zeigte starke Schweißausbrüche und lebhafte 
Salivation. In der Klinik zeigte er subfebrile Temperaturen, eine zweiwöchige Phase von 
Negativismus mit Mutismus und Stereotypien. Liquor und Blut negativ, ebenso die cutane 
Tbe.-Reaktion. Bald darauf ausgesprochener Parkinsonismus der Haltung, aber ohne Rigi- 
dität, an den Fingern Bewegungen, die zwischen Athetose und Myoklonie stehen. Der Gesichts- 
ausdruck blieb intelligent. Völliger Mutismus, der 1 Jahr lang besteht, mit Stupor, dann 
heftige Angst, die 3 Monate das Bild beherrschte. Hierauf begann er stammelnd wieder Mama 
und Papa zu sagen, blieb gerne am Boden liegen, wurde aggressiv, zeigte Schlaflosigkeit, In- 
telligenzalter ®/,. Verf. kommt zu dem Schluß, daß wie in dem vorstehenden Fall, so über- 
haupt die Encephalitis epidemica bei der Entstehung der Dementia infantilis, sei’s am Heller- 
schen, sei’s am Sanctischen Typ, ätiologisch eine Rolle spiele. Villinger (Tübingen). 

Lemaire, H.: Mongolisme et syphilis héréditaire. (Mongolismus und hereditäre 
Syphilis). Bull. de la soc. de pediatr. de Paris Bd. 22, Nr. 1, S. 11—20. 1924. 

Verf. hat in den letzten Jahren 21 Fälle von Mongolismus untersucht und davon 
in 11 Fällen Lues congenita mit Sicherheit nachweisen können; in 4 weiteren Fällen 
konnten sie als wahrscheinlich erwiesen werden. Einmal fand sich Diabetes bzw. 
Tuberkulose bei den Eltern, in einem Falle’standen schwere seelische Erschütterungen 
der Mutter während der Schwangerschaft im’ Vordergrund, und nur ein einziges Mal 
war trotz allem Suchen nicht der geringste ätiologische Anhaltspunkt zu finden. Daraus 
wird der Schluß abgeleitet, daß ein Kausalzusammenhang zwischen Mongolismus 
und Erbsyphilis bestehe, wennschon die bisher als Ursachen angeschuldigten ätiologi- 
schen Faktoren wie Erschöpfung der Mutter durch zu hohes Alter oder zu häufige 
bzw. zu rasch aufeinanderfolgende Geburten sowie seelische Erschütterungen während 
der Schwangerschaft nicht ganz abgelehnt werden. Vıllinger (Tübingen)., 


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Comby, J.: A propos du mongolisme. (Zur Frage des Mongolismus.) Bull. de la 
soc. de pediatr. de Paris Bd. 22, Nr. 1, 8. 20—36. 1924. 

Hier wird zu dem oben referierten Vortrag Stellung genommen und die Annahme 
der hereditären Lues als des ursächlichen Moments für die Entstehung des Mongolismus 
zurückgewiesen. Die Diagnose des Mongolismus allein sei nicht so einfach. Weder 
Blutsverwandtschaft der Eltern, noch Syphilis, noch Alkoholismus, noch Tuberkulose, 
noch Arthritis, noch Nervosität spielen eine große Rolle. Wassermann und Pirquet 
ist bald positiv, bald negativ. Von entscheidendem Einfluß sind dagegen die Verhält- 
nisse der Mutter während der Schwangerschaft: Alter, Zahl der vorangegangenen 
Geburt, zeitlicher Abstand von der letztvorhergegangenen, Not und Entbehrungen 
und vor allem Kummer. Allerdings findet sich der Mongolismus auch bei den günstigsten 
mütterlichen Verhältnissen, ja es kommt vor, daß von Zwillingen der eine gesund, 
der andere ein mongoloider Idiot ist. In der anschließenden Diskussion weist Schrei- 
ber darauf hin, daß Lenn & unter 15 Mongoloiden nur einen Luetiker fand. Außerden 
wird der diagnostische Wert der einzelnen Symptome der Erbsyphilis von mehreren 
Rednern besprochen, ohne neue Gesichtspunkte. Vıllinger (Tübingen)., 

Goldbladt, Hermann: Bruchstücke zur Kenntnis der familiären Mikrocephalie. 


Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 70, H. 5, S. 579—585. 1924. 
Kasuistische Mitteilung von je 3 Fällen von Mikrocephalie-Idiotie in 2 Familien. In der 

ersten 3 gesunde Geschwister, Vater Alkoholist, bei einem Falle WaR. in Blut und Liquor 

stark positiv, beim Bruder desselben WaR. im Blut unbestimmt. Mangelnde Ausbildung de: 


Großhirns bei normal entwickeltem Kleinhirn, ‚„tierähnliches Aussehen mancher Teile“. 
Kehrer (Berlin)., 


Jörger jun.: Ergebnisse einer Rundfrage über Kinder mit posteneephalitischen 
Sehädigungen. Schweiz. med. Wochenschr. Jg. 54, Nr. 30, S. 679—680. 1924. 
Eine Rundfrage bei den Schweizer Ärzten ergab, daß die Encephalitis epidemica 
mit Vorliebe das 7. bis 10. Altersjahr gefährdet mit auffallendem Überwiegen der männ- 
lichen Patienten. Die Folgezustände lassen sich in zwei Gruppen einteilen: 1. Die 
„aktiven Formen“; bei ihnen stehen Aufregungszustände, Defekte der moralisch- 
ethischen Qualitäten im Vordergrund, daneben bestehen organische Schädigungen 
wie Andeutungen von Parkinsonismus, Atemstörungen, Speichelfluß, Lähmungen usv. 
2. Die „apathischen Formen“ mit den ausgeprägten Bildern des Parkinsonismus, 
von Lähmungen usw. Große Schwierigkeiten bereitet die Unterbringung und Ver- 
sorgung der Postencephalitiker und sind eigene Anstalten für beide Formen ein dringen- 
des Bedürfnis. F. Hofstadt (München)., 
Gerstmann, Josef, und Otto Kauders: Über den Mechanismus der posteneepha- 
litischen „‚psychopathieähnlichen“ Zustandsbilder bei Jugendlichen. (Psychiatr.-neurol. 
Klin., Wien.) Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. Bd. 71, H. 2, S. 165—182. 194. 
Die bei Jugendlichen nach Encephalitis auftretenden psychopathischen Zu 
standsbilder werden von den Verff. als Auswirkungen der psychomotorischen Störunget 
aufgefaßt. Die psychomotorischen Anteile dieser Zustandsbilder bestehen in erster Line 
in einer Regression des individuellen motorischen Persönlichkeitsgepräges, d. h. x 
Wiedererscheinen einer früheren Kindheitsstufen verwandten, infantilen Weise der 
motorischen Äußerungen. Diese Regression wird möglich durch Antriebssteigerun: 
und Enthemmung im strio-gallidären System; instinktive Bewegungsantrieb 
erhalten durch sie erhöhte Wirksamkeit; komplexe Hyperkinesen bes. Hypermetamor 
phosen kommen so zustande. Der impulsive Faktor der Regression verstärkt „da: 
infantile Gepräge‘“ das mit dem erreichten und hier unversehrt gebliebenen intellek- 
tuellen Entwicklungsgrade in auffälliger Weise kontrastiert. Die psychische Persönlich 
keit der Kranken identifiziert sich weder mit der Vermehrung der motorischen Aube- 
rungen, der Bewegungsunruhe, noch mit der Triebhaftigkeit, sondern erklärt naci- 
träglich die Hyperkinese als etwas Unabänderliches und den Antrieb als unwidersteb’ 
lichen Drang; der Triebhaftigkeit vermögen die Kranken auch bei größter Willen 
anstrengung keinen genügenden Widerstand entgegenzusetzen. Die Stimmungslagt 


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war bei den 3 zugrunde gelegten Fällen-eines 15- und eines 14jährigen Mädchens und 
eines 11jährigen Knaben euphorisch-heiter und das Gesamtbild dadurch dem manischen 
sehr ähnlich. Diese äußere Ähnlichkeit kommt nach Ansicht der Verff. dadurch zu- 
stande, daß die Hypermotilität eine gewisse Euphorie nach sich zieht. Von den Be- 
ziehungen zur Außenwelt, von den vorliegenden äußeren Situationen, hängt es ab, ob 
das Verhalten der Kranken asozialen Charakter annimmt. Aber auch dann liegt keine 
Änderung des Wesens der Persönlichkeit vor, sondern nur ein äußerlich psychopathie- 
ähnliches Bild. Die Verff. geben übrigens zu, daß mit dieser etwas schematisierenden 
Darstellung das Problem nicht erschöpfend geklärt ist. Homburger (Heidelberg). 

Bolsi, Dino: La sindrome psicopatica dei faneiulli e degli adolescenti da encefalite 
epidemica. (Das psychopathische Syndrom bei Kindern und Jugendlichen nach 
Encephalitis epidemica.) (Clin. d. malatt. nerv. e ment., istit. di studi sup., Firenze.) 
Riv. di patol. nerv. e ment. Bd. 29, H. 3/4, S. 142—170. 1924. 

Bei den 3 mitgeteilten Fällen war 2 mal der Vater ein Trinker, einmal dazu Ge- 
wohnheitsdieb, einmal die Familie ganz gesund. Das Alter der Kranken (19, 2 0‘) 
war 11, der andern beiden 14 Jahre. Stets war die geschlechtliche Frühreife bzw. ge- 
schlechtliche Hemmungslosigkeit sehr ausgesprochen. Im übrigen war das Bild meist 
früh einsetzender Charakterveränderung, der Ungehemmtheit, Reizbarkeit und Asoziali- 
tät dasselbe allgemein bekannte. Das Mädchen (Fall 2) versuchte mehrmals sich zu 
erhängen. Im ersten Falle blieben Anisokorie und träge Konvergenzreaktion als 
neurologische Restsymptome, im dritten Falle eine gewisse Starrheit und langsame, 
eintönige Sprache. Die formale Intelligenz war niemals wesentlich geschädigt. Verf. 
versucht die nach der Encephalitis auftretenden psychischen Störungen hauptsächlich 
als emotionale zu erklären und führt sie zurück auf Schädigungen der vegetativen 
Zentren im Zwischenhirn, die übererregbar werden, während die jugendliche Hirn- 
rinde in ihrer funktionellen Ausbildung gehindert wird und nicht die Herrschaft über 
die Triebe gewinnt. Die Prognose ist ungewiß, doch theoretisch darf man an eine 
späte Erholung der Rindenfunktionen denken. Die bisherigen Erfahrungen aller- 
dings stimmen wenig hoffnungsvoll. Creutzfeldt (Berlin). 

Vermeylen, G.: Les troubles du caractère chez les enfants à la suite d’ene&phalite 
épidémique. (Störungen des Charakters bei Kindern im Gefolge der Encephalitis 
epidemica.) Journ. de neurol. et de psychiatrie Jg. 23, Nr. 5, S. 81—88. 1923. 

Die an der Hand von 6 Fällen geschilderten postencephalitischen Charakterver- 
änderungen bei Kindern gleichen in allen Stücken den in Deutschland gemachten Er- 
fahrungen. Besonders wird die Ähnlichkeit mit der primär antisozialen Veranlagung 
und in der Pubertät die sexuelle Unbeherrschtheit hervorgehoben. Leichtere psycho- 
pathische Züge bot ein Teil der Kinder schon vor der Erkrankung an Enc. epid., andere 
waren unauffällig und gutgeartet gewesen, so daß eine völlige Verkehrung ihres 
seelischen Wesens durch die Erkrankung eintrat. Verf. wirft schließlich die Frage auf, 
ob etwa die Encephalitis unsozialen Anlagen zur Äußerung verhelfe, die später doch 
zum Durchbruch gekommen wären. Homburger (Heidelberg)., 


Beverly, Bert I., and Mandel Sherman: Posteneephalitic behavior disturbance 
without physical signs. (Postencephalitische Charakterveränderung ohne körperliche 
Symptome.) Americ. journ. of dis. of childr. Bd. 27, Nr. 6, S. 565—568. 1924. 


Mitteilung zweier Fälle von Charakterveränderung nach Encephalitis epidemica, bei denen 
sich zunächst keinerlei neurologische Veränderungen feststellen ließen. Erst !/, Jahr bzw. 
2 Jahre nach der ersten Untersuchung traten nun parkinsonähnliche Erscheinungen auf. 
Verf. vergleicht den Gesamtverlauf der Encephalitis epidemica bei den Kindern mit den 3 Sta- 
dien der Lues. Aus den typischen Späterscheinungen erschließt er auch da, wo eine unge- 
nügende Anamnese oder bei genügender Anamnese kein akutes Stadium vorliegt, das Vor- 
handensein einer Encephalitis epidemica. Veränderung der Umgebung ist ohne Einfluß auf 
das Verhalten der charakterveränderten Kinder. Villinger (Tübingen)., 


Claude, Henri, et Gilbert Robin: Le syndrome mental post-ene£phalitique de Penfant 
et la notion de dégénérescence mentale. (Das psychische postencephalitische 


Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ref. 9 


— 10 — 


Syndrom des Kindes und die Entartungsfrage.) Ann. med.-psychol. Bd.1, Nr.5. 
S. 407—422. 1924. 


Zwischen den Charakterveränderungen des postencephalitischen Kindes und dene 





des angeborenen Entarteten, insbesondere des „moralisch Schwachsinnigen, bestehen 


nur äußerliche Ähnlichkeiten. Bei den Encephalitikern handelt es sich nicht um eiz 
Fehlen des ‚moralischen Sinnes“, um eine Störung der sozialen Tendenzen selbst. 
sondern um eine Störung der Exekutive, um eine Störung von Hemmungstaktorer. 
wodurch es zu automatischen Handlungen kommt. Diese Störung ist durch die Ver- 
änderungen des Mittelhirns bedingt, in dem regulatorische Zentren für die Psvch- 
liegen. Es handelt sich also mehr um Störungen des Verhaltens, als um wirklich 
Störungen des Charakters. Beim Kind treten die Störungen mehr als beim Erwachsene: 
wegen der Dürftigkeit der intellektuellen Entwicklung beim ersteren hervor. Dies 
Störungen treten auch bei hereditär nicht belasteten und konstitutionell vor der Krant- 
heit normalen Kindern auf; erbliche Belastung war nur in 5 von 15 Kindern feststellbar 
F. Stern (Göttingen). 
Psychopathie, Verwahrlosung : 


Zappert, Julius: Zur Neurosenfrage im Kindesalter. Bemerkungen zu dem Avi- 
satze Pototzkys „Über nervöse Konstitutions- und Reaktionstypen“ in dieser Zeitschrilt 
Bd. 37, H. 1/3. Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 38, H.2, S. 139—145. 1924. 

Vgl. dies. Zentrlbl. 30, 38. Zappert bemüht sich, unter den psychopathische 
Erscheinungen des Kindesalters dadurch eine Ordnung vorzunehmen, daß er unter- 
scheidet: Neuropathie, Psychopathie, Gewohnheitsneurosen, Imitationsneurosen, Angst- 
neurosen, Zwangsneurosen, Hysterie, Neurasthenie. Und dann gibt es noch Unterformen. 
Er sucht diese Gruppierung zu verteidigen, erklärt sie aber selbst nur als provisorisch. 
Aber die Grundlage seiner Gedanken ist nicht recht klar; bald ist der Gesichtspunkt 
seiner Einteilung psychologisch, bald kausal, bald klinisch symptomatisch. Sollen seine 
Namen nur einer vorläufigen Verständigung dienen, dann ist ja nichts gegen sie einzu- 
wenden, dann bedarf es aber auch keiner Disputation über ihre Abgrenzung. Gruhle.. 


Chassé, J. Verploegh: Das nervöse Kind. Internat. Zeitschr. f. Individualpsych.. 
Jg. 2, Nr. 1, S. 33—40. 1923. 

Eine individualpsychologische Studie, die an der Entwicklung eines Knakr. 
der ein typischer „nervöser Charakter‘ im Adler’schen Sinne ist, durchgeführt wir. 
Ein Sorgenkind, aber ein Musterkind. Das typische Bild eines einzigen, schwächliehen. 
ängstlichen, verwöhnten, nervenzarten Kindes mit seinen Konflikten, Problemes. 
Lösungsversuchen wird entrollt und die Behandlung individualpsychologisch-hel 
pädagogisch bestimmt: Aufklärung, Versöhnung mit der Umwelt, die überkomper- 
satorisch vom Patienten abgelehnt wird, Behebung der Minderwertigkeitsgefüll‘. 
Berichtigung falscher Wartungen, Förderung des Mutes und Selbstvertrauens, Hebuu: 
der körperlichen Entwicklung. Entmutigte, trotzige, ängstliche Kinder dieses Typ- 
die vorher schlechte Schüler waren und als unbegabt gelten, verwandeln sich dur! 
solche Behandlung in gute, ja bisweilen sehr befähigte Schüler. Eine dogmatisch- 
Vererbungslehre, die nur festgelegte, angeborene, unausweichliche Charakteranlag: 
und Entwicklungsmöglichkeiten kennt, ist unter diesem Gesichtspunkt zurückz- 
weisen. Villinger (Tübingen). 

Kraßmöller, W.: Das nervöse Schulkind. Fortschr. d. Med. Jg. 42, Nr.4: 
S. IX XIII. 1924. | 

Das häufige Auftreten nervöser Erscheinungen bei Schulkindern führt Verf. 2% 
den Einfluß der Schule zurück, in dem Sinne, daß die Schule die Nervosität erzeuf 
oder begünstigt bei degenerativ veranlagten und hereditär belasteten Kindern. Folger 
Symptome werden als Kennzeichen der kindlichen Nervosität, wie sie besonders !. 
der Schule auftritt, geschildert. Nervöse Zerstreutheit und mangelnde Aufmerksamk?'' 
übermäßig schnelle Ermüdbarkeit, motorische Unruhe, unmotivierte Gefühlsausbrüc' 


— 131 — 


und labile Stimmung, Zwangszeremonien und Zwangshandlungen. Diese Eigenheiten 
setzen die Leistungsfähigkeit der Kinder herab und machen sie disziplinschwierig. 
‚Als häufige Erscheinungen bei nervösen Kindern nennt Verf. ferner Tics, Nägelkauen, 
Nahrungsscheu, die er aber mehr auf Fehler in der häuslichen Erziehung zurückführt, 
Bettnässen, das häufig durch seelische Emotionen besonders Schulangst hervorgerufen 
wird, plötzlich einsetzende Augenschwäche durch seelische Erregung und Übermüdung, 
Sprachstörungen, die auch besonders im Schulunterricht hervortreten. Das nervöse 
Kind gehört in ärztliche Behandlung, die aber nur Aussicht auf Erfolg bietet, wenn 
Eltern und Erzieher Hand in Hand mit dem Arzt arbeiten. Erna Lyon (Hamburg). 

© Freud, Sigm.: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. Leipzig, Wien, 
Zürich: Internat. psychoanalyt. Verlag 1924. 131 8. G.-M. 4,—. 

Es wird über den Krankheitsfall eines jungen Mannes berichtet, der in seinem 
18. Lebensjahr nach einer gonorrhoischen Infektion zusammenbrach und vorüber- 
gehend gänzlich existenzunfähig war, bis er später in psychoanalytische Behandlung 
trat. Seine Jugend vor dem Zeitpunkt der Erkrankung hatte er in annähernd normaler 
Weise durchlebt und die Schule ohne viel Störungen erledigt. Aber die Jahre der 
ersten Kindheit waren von einer schweren neurotischen Störung beherrscht, 
die kurz vor seinem 4. Geburtstage als Angsthysterie (Tierphobie) begann, sich 
dann in eine Zwangsneurose mit religiösen Inhalten umsetzte und mit ihren Aus- 
läufern bis in sein 10. Jahr hineinreichte. Diese infantile Neurose ist der Gegen- 
stand der Arbeit. Verf. demonstriert an dem sehr eingehend analysierten Fall die 
Grundideen seiner psychoanalytischen Theorie (verschiedene Stufen der Sexualorgani- 
sation, orale und anale Phase, narcistische Vateridentifizierung, das Nebeneinander 
von sadistischen und masochistischen Triebkomponenten, die homo- und heterosexuelle 
Einstellung), die sich im Referat nicht wiedergeben läßt, im allgemeinen wohl auch 
als bekannt vorausgesetzt werden darf. Der Fall ist sehr instruktiv, ein Musterbeispiel 
für die analytische Forschung. Es muß jedoch immer wieder die Frage auftauchen, 
ob das allgemein Triebpsychologische der ersten Kinderjahre ohne weiteres mit dem 
speziell sexuellen Triebleben der Erwachsenen gleichgesetzt werden soll; vielleicht 
wären hier doch andere Begriffe angezeigt. — Mit den Pubertätsjahren trat bei den 
Patienten eine normal zu nennende, stark sinnliche, männliche Strömung mit hetero- 
sexuellem Ziel auf, die sich nach und nach die volle Männlichkeit erkämpfte. Die 
organische Affektion des Genitales führte später zum Aufleben alter Komplexe und 
hatte so eine zweite neurotische Phase zur Folge. Es wurde durch die Behandlung 
vollkommene Heilung erzielt. H. Hoffmann (Tübingen). 

Stier, Ewald: Über das gewohnheitsmäßige nächtliche Kopfsehütteln der Kinder. 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 90, H. 1/2, 8. 212—234. 1924. 

Auf Grund seiner Untersuchungen an 15 einschlägigen Fällen kommt Stier zu 
folgenden Ergebnissen: Die Neigung zu nächtlichem Kopfschütteln entwickelt sich 
meist schon im 1. Lebensjahr, bisweilen schon in den ersten Lebenswochen; die Dauer 
beträgt meist mehrere Jahre; mit der Pubertät scheint das Symptom fast immer zu 
schwinden; anscheinend tritt es häufiger bei Knaben als bei Mädchen auf. Das Sym- 
ptom besteht in pendelartigem, rhythmischem Hin- und Herdrehen des Kopfes, meist 
in Rückenlage. Arme und Oberkörper sind oft beteiligt; bisweilen werden gleichzeitig 
unartikulierte Laute dabei ausgestoßen. Meist werden die Bewegungen, auch im 
tiefen Schlaf, stundenlang, bisweilen die ganze Nacht hindurch, fortgesetzt. In der 
Verwandtschaft finden sich vielfach psychopathische Züge; !/, der Kinder hat Rachitis 
durchgemacht; fast alle haben psychopathische bzw. neuropathische Stigmen; ?/, sind 
schwachsinnig; auch Einnässen und anderweite schlechte Angewohnheiten, wie Nägel- 
kauen, Tics, Daumenlutschen, sind vorhanden. Die Erscheinung ist den Tics verwandt; 
sie entsteht in Nachahmung des Wiegens und Schüttelns durch die Pflegerin bei gleich- 
zeitiger Gewinnung von Lustgefühlen als Beruhigungs- und Einschläferungsmittel. 

Schob (Dresden)., 


g+ 


— 132 — 


Federn, Paul: Masturbation. Journ. of sexol. a. psychoanal. Bd. 2, Nr. 3, 
S. 251 —266. 1924. 

Verf. bestimmt die Masturbation als das autoerotische Äquivalent des Coitus; 
sie muß umschließen sexuelle Erregung, Vorlust, Endlust und den Abschluß in den 
körperlichen Akt. Beschränkt man den Begriff der Masturbation in dieser Weise. 
so kann es nicht als erwiesen angesehen werden, daß in der Kindheit die Mastur- 
bation allgemein vorkommt. Der Höhepunkt sexueller Erregung beim Kinde kanı 
an der plötzlichen Veränderung des Gesichtsausdruckes, und an vasomotorischen Er- 
scheinungen erkannt werden. Inkontinenz kann als Äquivalent der Masturbation 
aufgefaßt werden. Verf. gibt eine Reihe von Beispielen, an denen er zeigt, wie die 
Masturbation im Zeitpunkt der Ausführung wirkt, und wie sie die spätere Entwicklun: 
beeinflußt. Die Masturbation bewahrt das Kind vor der Fixierung der analen und 
sadistischen Komponenten. Man kann also zweifeln, ob eine Unterdrückung der 
Masturbation ratsam ist. Man kann indessen auch Fälle anführen, in welchen di: 
Masturbation die Ursache späterer Impotenz oder Frigidität ist. Wenn der sexuelle 
Impuls sehr stark ist, bietet die Masturbation ein Sicherheitsventil. Leben solchr 
Individuen abstinent, so kann die entstehende Spannung zu pathologischen Erschei- 
nungen führen. Bei Kindern führt die Masturbation sehr oft ein Schuldgefühl herbe! 
und die sexuelle Spannung wird ersetzt durch eine moralische. Die Masturbation führt 
im allgemeinen zu einer längeren Ruhepause, die günstig wirkt. Die Masturbation führt 
häufig auch eine Art Selbstbeschränkung der sexuellen Entwicklung herbei. Als Folgen 
exzessiver Masturbation beobachten wir Schlaflosigkeit, sexuelle Neurasthenie, Ge- 
mütsdepressionen. Die gleichen Erscheinungen treten auch in den Fällen ein, in denen 
die Masturbation nicht zur Befriedigung führt. Die Gründe für eine exzessiv betriebene 
Masturbation liegen häufig in pathologischen Veränderungen in der Genitalgegend. 
die oft im Adlerschen Sinne als Zeichen einer Organminderwertigkeit aufzufassen 
sind; oft handelt es sich um Kinder, die unbefriedigt und unglücklich sind. Die Pro- 
gnose ist im allgemeinen günstig. Drohungen und gewaltsame Unterdrückung wirken 
meist schädlich. Das Aufkommen des Schuldgefühls liegt zum Teil in kulturellen 
Momenten, die dem Sexuellen überhaupt nicht sehr günstig sind, es liegt aber auch 
in den Bedingungen des Familienlebens, wo inzestuöse Neigungen aufkommen und zu 
perversen Phantasien führen. E. Stern (Gießen)., 

Rosenstein, Gaston: Masturbation. Journ. of sexol. a. psychoanal. Bd. 2, Nr. 3. 
S. 266—270. 1924. 

Verf. legt sich die Frage vor, ob die schädlichen Wirkungen, welche bei übertne- 
bener Masturbation zu beobachten sind, toxische Ursachen haben oder psychisch bi- 
dingt sind. Eins schließt das andere nicht aus. Wir wissen, daß toxische Ursache 
eine große Rolle bei nervösen Störungen spielen; so sind solche bei endokrin bedingtet 
Affektionen zu beobachten. Aber ohne Zweifel spielen bei der Masturbation auch 
psychische Komponenten mit, vor allem das Schuldgefühl, aber auch die Nichtbe- 
friedigung gewisser Komponenten des Geschlechtstriebes. Eine Beseitigung der hieraus 
erwachsenden Störungen durch die Analyse ist möglich. E. Stern (Gießen).. 

Valkema Blouw, H. C.: Homosexualität. Nederlandsch tijdschr. v. geneesk 
Jg. 68, 1. Hälfte, Nr. 14, S. 1501—1509. 1924. (Holländisch.) 

Kurze Darstellung der verschiedenen bekannten Theorien über Homosexualität 
Prinzipiell Neues wird nicht geboten. Verf. bekennt sich zu der Anschauung, daß ır 
jedem Menschen homosexuelle und heterosexuelle Komponenten, in individuel 
wechselndem Verhältnis, vorhanden sind. Therapeutisch am besten zu beeinflusst 
sind diejenigen, bei denen eine etwa 30 proz. homosexuelle Anlage durch Einwirkung 
exogener apeıt geworden ist. Von den von 30—70% Homosexuellen 1 
jeder Fall für sich zu beurteilen. Die Prognose ist dubia. In den schwerere 
Fällen ist von Psychotherapie wenig zu erwarten. Dem Steinachschen Verfahren 
steht Verf. sehr skeptisch gegenüber. Der Arzt kann jedoch auch in diesen Fällen 


— 133 — 


durch taktvolle Aufklärung der Sachlage und evtl. soziales Eingreifen viel Gutes 
leisten. H. C. Rümke (Amsterdam)., 

© Langenberg, Hans: Jugendverwahrlosung und Erziehungsschule. Ein Beitrag 
zur Sozialpädagogik auf Grund von psyehologisehen und soziologisehen Untersuehungen 
in Volksschulklassen der Stadt Köln. (Handbücherei d. Erziehungswiss. f. Lehrer u. 
Lehrerinnen u. ihre Arbeitsgemeinsch. Hrsg. v. Friedrieh Schneider. Bd. 5.) Paderborn: 
Ferdinand Schöningh 1923. XII, 228 S. G. Z. 2,20. 

Zu den Vorzügen dieses sehr stoffreichen und mit großer Vielseitigkeit durch- 
gearbeiteten Buches gehört vor allen Dingen das lebendige und tatkräftige Interesse, 
das der Verf. in der Ausübung dieses Berufes für die Fragen der Jugendverwahrlosung 
betätigt hat. An Schülern der verschiedenen Klassen ist eine große Reihe von Unter- 
suchungen über häusliche Verhältnisse, Wohnung, gesundheitliche Lage, Anlage der 
Kinder und der Eltern, Erwerbstätigkeit, sittliche Gefährdung, von ihm angestellt 
worden. Freilich leidet der wissenschaftliche Wert erheblich darunter, daß nicht 
stets die gleiche Anzahl oder auch nur die identischen Kinder befragt sind. In der 
Auswertung des Materials stützt sich der Verf. in zahlreichen und zum Teil recht in- 
struktiven Vergleichen auf die einschlägige Literatur, die auf Grund ausgebreiteter 
Kenntnis mit großer Gründlichkeit — freilich nicht immer mit der notwendigen kriti- 
schen Einstellung — studiert worden ist, ohne daß doch die Selbständigkeit in Metho- 
den und Schlüssen des Verf. beeinträchtigt wird. Freilich wird der erfahrene praktische 
Fürsorger seinen Ausführungen in zahlreichen Dingen widersprechen müssen. Als 
ein Beispiel sei angeführt, daß der Verf. die von 1915/19 gesunkene Zahl der Über- 
weisung von Schulkindern in FE (Seite 10) als erfreulich begrüßt, während doch ihr 
prozentualer Anteil an der Gesamtzahl (47 im Jahre 1915 gegen 38 im Jahre 1919) 
gegenüber dem der Schulentlassenen (48 bzw. 56%) von den Fürsorgeerziehungsfach- 
leuten nicht etwa als Zeichen für die Besserung, sondern in zahlreichen Fällen leider 
als eine zu spät einsetzende Überweisung gedeutet werden muß. Desgleichen werden 
die Spezialisten gegenüber des Verf. Ausführungen betreffs der Schwachsinnigen- und 
besonders der Psychopathenfürsorge (Erkennung, Erblichkeit usw.) recht viele und 
schwerwiegende Einwände zu machen haben. So sehr eine Weckung des Interesses 
innerhalb der Lehrerschaft und ihre Heranziehung zur Betätigung in der Jugendfür- 
sorge zu begrüßen ist, so dürfte doch ein in der Art des Buches empfohlenes Vorgehen 
nur bei wenigen gründlich durchgebildeten Menschen einem wirklichen Segen für die 
Kinder werden. Solche Einführungen, die doch nicht eigentlich auf der Praxis der 
Arbeit beruhen, können leicht zu einer nicht unbedenklichen dilettantischen Viel- 
geschäftigkeit führen. Ohne Zweifel gehören die wiederholten warmen Aufrufe an die 
Lehrerschaft zur Mitwirkung und zur Orientierung über diese Dinge zu einem großen 
Hauptvorzug des Buches, jedoch sollte eine derartige Arbeit auf keinen Fall ohne 
gesicherte methodologische und sachliche Grundlagen ausgeführt werden. Immer- 
hin besitzt das Buch in seiner Vielseitigkeit und der Anführung interessanter Bei- 
spiele über die sittliche, wirtschaftliche und gesundheitliche Lage großstädtischer 
Volksschüler Wert und ist in dieser Hinsicht zu empfehlen. Mende (Berlin). 

Raimann, Emil: Über Verwahrlosung beim weiblichen Geschleeht. Wien. med. 
Wochenschr. Jg. 73, Nr. 38, S. 1677—1682 u. Nr. 39, S. 1729—1732. 1923. 

Raimann gibt neben einem kurzen Überblick über die wichtigste Literatur eigene 


Erfahrungen mit weiblichen Verwahrlosten bekannt, ohne nähere Angaben, aber in ansprechen- 
der, allgemein gehaltener Form. Gruhle (Heidelberg). , 


Lenroot, Katharine F.: Soeial responsibility for the care of the delinquent girl and 
the unmarried mother. (Die Verantwortlichkeit der Allgemeinheit für Versorgung des 
verwahrlosten Mädchens und der unverheirateten Mutter.) Journ. of soc. hyg. Bd. 10, 
Nr. 2, S. 74—82. 1924. 

Kurze Aufzählung der erforderlichen Maßnahmen, wie Heilung venerischer Er- 
krankungen, Schutzaufsicht in der elterlichen Familie durch Schule oder Vereins- 
tätigkeit, psychiatrische Untersuchung und pekuniäre Sicherstellung durch Heran- 


— 134 — 


ziehung des unehelichen Vaters. Die wichtigsten vorhandenen Einrichtungen werden 
dabei kurz angegeben und auf die Fortschritte der sozialen Fürsorge in den letzten 
Jahren hingewiesen. Reiss (Dresden). 


Psychosen i 


Decroly: Parallèle entre les troubles mentaux de Padulte et de Penfant. (Ver- 
gleich der geistigen Störungen des Erwachsenen und des Kindes.) Journ. de neurol. 
et de psychiatrie Jg. 23, Nr. psychiatr. 2, S. 30—34 u. Nr. psychiatr. 3, S. 41 bis 
45. 1923. 

Endokrine Störungen wirken beim Kinde viel folgenschwerer als beim Erwach- 
senen, weil sie die Gehirnentwicklung schwer und vielfach endgültig schädigen. — 
Ausfälle von Sinnesorganen und motorischen Funktionen desgl., weil sie zur Entwick- 
lung der höheren geistigen Leistungen und des seelischen Gleichgewichts erforderlich 
sind. Die kindliche Aufmerksamkeit ist auf andere Gegenstände gerichtet als die des 
Erwachsenen; sie muß das primitive Wissen aufbauen, ihre Schwäche beeinträchtigt 
also die Sammlung grundlegenden geistigen Stoffes. — Das Kind besitzt noch kein 
intellektuelles und moralisches Gegengewicht gegen seine Neigungen und sein Ver- 
langen. — Störungen der Sprache sind besonders schwerwiegend, weil von ihrer Ent- 
wicklung die geistige Entwicklung überhaupt weitgehend abhängt. Diese Besonder- 
heiten der kindlichen Psychologie begründen nach Ansicht des Verf. auch Unterschiede 
in den geistigen Störungen, über die aber nichts Genaueres gesagt wird. Schließlich wird 
noch auf die auf der geistigen Unreife beruhende strafrechtliche und soziale Sonder- 
stellung des Kindes und auf die Milieufrage hingewiesen. Manche Störungen, wie der 
Mongolismus, kommen beim Erwachsenen überhaupt nicht vor, weil die davon be- 
fallenen Kinder gewöhnlich früh sterben. — Der Vortrag, gehalten bei der Übernahme 
des Vorsitzes eines fachärztlichen Vereins, bleibt ganz an der Oberfläche der eigent- 


lichen Probleme. Homburger (Heidelberg). 


Henderson, D. K.: Discussion on the prognosis of psyehoses oecurring during ado- 
leseence. (Diskussion über die Prognose bei Psychosen des Jünglingsalters.) Brit. 
med. journ. Nr. 3284, S. 1090—1095. 1923. 

Ausgehend von den beiden großen Gruppen des manisch-depressiven Irreseins 
und der Dementia praecox in der ursprünglichen Kraepelinschen Abgrenzung gibt 
Verf. eine Übersicht über die in den letzten beiden Jahrzehnten unternommenen 
Versuche, die Betrachtungsweise durch Heranziehen neuer Gesichtspunkte zu ver- 
tiefen. Im Mittelpunkte. des Interesses steht für das hier besprochene Lebensalter 
die Dem. praecox. Bei ihr haben sich die verschiedensten Theorien fruchtbringen: 
erwiesen; denn alle verfolgten, wenn auch einseitig, eines der wesentlichen ätiolog- 
schen Momente. Intoxikation, innere Stoffwechselstörung, konstitutionelle Anlage 
und individuelle psychische Reaktion sind alles gleichwertige ätiologische Faktorer. 
Sie müssen in jedem einzelnen Fall gegeneinander abgewogen und jeder Fall als selb- 
ständiges Problem aufgefaßt werden, wenn ein Fortschritt erzielt werden soll. Verf. 
selbst erscheint dabei die Berücksichtigung der persönlichen Anlage in ihrer Aus 
wirkung auf die psychischen Störungen als das wichtigste Problem, vor allem für d:: 
Prognose, weil das Vorhandensein einer greifbaren abnormen Veranlagung die Prognos 
stark trübt. Völlige Heilung im medizinischen Sinne ist selten, dagegen kann verhältr:-- 
mäßig häufig soziale Brauchbarkeit erzielt werden, die praktisch einer Genesung gleict: 
allerdings nur wenn die Behandlung frühzeitig einsetzt und intensiv genug ist. So ır 
frühzeitiges Erkennen entscheidend für die Prognose. Doch fehle den englische. 
Ärzten vielfach ausreichende psychiatrische Kenntnis. Dies wird auch von ander: 
Seite in der Diskussion hervorgehoben und für bessere psychiatrische Ausbilder: 
eingetreten. Die wichtige Frage, ob tatsächlich durch rechtzeitige Behandlung bei d+: 
Dem. praecox wesentliche Erfolge zu erzielen sind, wurde in der Diskussion nic:’ 
genügend erörtert. Reiss (Dresden: 


— 15 — 


Löpfe: Über kindliche Schizophrenien. (Schweiz. Ver. f. Psychiatrie, Genf, Sitzg. 
v.2.VI. 1923.) Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 14, H. 1, S. 123—124. 1924. 

Verf. berichtet über Schizophrenien in der Kindheit. Unter 125 Patienten der 
Kinderstation Stephansburg in Burghölzli befanden sich 8 Schizophrene. Verf. unter- 
scheidet 3 Gruppen: 1. die schweren organischen Katatonien mit Ausgang in Demenz; 
2. die chronischen Hebephrenien und Katatonien m t bedeutend weniger ausgeprägten 
schizophrenen Symptomen; 3. mehr oder weniger akute Erregungszustände mit Ge- 
sichtshalluzinationen und Dämmerzuständen hysterischer Färbung. Von der 2. Gruppe 
bringt er ein interessantes Beispiel. Es handelt sich um einen lOjährigen Knaben, 
der in seinem äußeren Verhalten an die moralisch defekten Psychopathen erinnert, 
bei dem jedoch die autistische Einstellung, der mangelnde affektive Kontakt und die 
Unbeeinflußbarkeit durch psychische Momente die schizophrene Natur erkennen 
ließen. Erst die Beobachtung brachte Klärung über den endogenen Ursprung des 
Leidens. Allgemein fügt Verf. noch hinzu, daß bei Kindern Wahnideen nur selten 
gebildet werden. Zu den häufigsten Symptomen gehören Negativismus, Impulsiv- 
handlungen, bizarre Einfälle und läppisches Benehmen. Kramer (Berlin). 

Lenz, Fritz: Einige grundsätzliehe Bemerkungen zur Fragestellung nach der erb- 
liehen Bedingtheit der Sehizophrenien. Arch. f. Rassen- u. Gesellsch.-Biol. Bd. 15, 
H. 3, S. 273—279. 1924. 

Lenz, der die Schizophrenien für biologisch nicht einheitlich hält, ist der Meinung, daß 
eine Rezessivität für den Erbgang bei Schizophrenie nicht erwiesen sei, daß vielmehr Dominanz 
im Erbgang schizophrener Erkrankungen entscheidend mitwirke. Er sucht von seinem Stand- 
punkt aus die von ihm und zum Teil auch untereinander abweichenden Anschauungen Rüdins, 


Hoffmanns und des Ref. unter einen Hut zu bringen. Vielleicht kann bei anderer Gelegen- 
heit zu den Auseinandersetzungen des Verf. Stellung genommen werden. Eugen Kahn.°° 


Krankheiten des Kindesalters (einschl. allgemeine Pathologie und Therapie): 


Mingazzini, G., und F. Giannuli: Klinischer und pathologisch-anatomischer Bei- 
trag zum Studium der Aplasiae eerebro-cerebellospinales. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. 
u. Psychiatrie Bd. 90, H. 3/5, S. 521—572. 1924. 


Mitteilungen des klinischen und anatomischen Befundes eines seltenen Falles: Bei einem 
männlichen Individuum mit zahlreichen morphologischen Degenerationszeichen (niedrige 
Stirn, Fehlen der Ohrlappen, schlechtgesetzte Zähne, Kryptorchidie, Fehlen der Gesichts- 
und Schamhaare, krankhaftes Stirnrunzeln) bestanden seit frühester Kindheit neben epilep- 
tischen Anfällen und einem Blödsinn mittleren Grades schwere neurologische Symptome von 
gemischt spinalem, cerebellarem und cerebralem Charakter: Nystagmus, eine mit schwerer 
Atonie einhergehende Parese der Rumpfmuskel, dynamische Ataxie der oberen Glieder und 
Parese der Hände, Parese und Ataxie der unteren Glieder, besonders beim Gehen, ausgeprägte 
Atrophie der Unterschenkelmuskel, Fehlen der unteren Sehnenreflexe, Babinski beiderseits, 
allgemeine choreo-athetoide Hyperkinese in der Gesichts-, Hals-, Zungen- und Extremitäten- 
muskulatur. Unter Zunahme der neurologischen und psychischen Ausfallserscheinungen 
und allmählichem Schwund der oberen Sehnenreflexe Tod mit 27 Jahren. Anatomisch handelt 
es sich um einen aplastisch degenerativen Krankheitsprozeß, der im Rückenmark in un- 
systematischer Weise Bündel des Pyramidenseitenstrangs und der Kleinhirnbahnen und in 
systematischer Weise einige Wurzelzonen der Hinterstränge, verschiedene Gebilde des Hirn- 
stammes und des Kleinhirns befallen hat und im Großhirn Aplasie und Mißbildungen grauer 
Rindenteile aufwies. Dazu finden sich noch im Vorderhorn des Rückenmarks Veränderungen 
ähnlich einer chronischen Poliomyelitis. Zum Schluß wird eine eingehende pathophysio- 
logische Erklärung der Symptome gegeben. 4. Jakob (Hamburg). 

Conkey, Ogden F.: Complieations of labor — a eause of intraeranial hemorrhage. 
(Geburtskomplikationen als Ursache intrakranialer Blutungen.) Arch. of pediatr. 


Bd. 40, Nr. 4, S. 239—245. 1923. 

Der Anteil, den die hämorrhagische Diathese am Zustandekommen intrakranialer 
Blutungen bei Neugeborenen hat, wird nach Annahme des Autors vielfach überschätzt. 
Hauptsächlich seien mechanische Ursachen im Spiele, die durch abnorme Deformation 
des Schädels zu Gefäßrissen im Tentorium und in der Falx führen. Solche Ursachen 
sind: Disproportion zwischen der Größe des Schädels und der des mütterlichen Beckens; 
abnorme Lage (Gesichts-, Stirn-, Hinterhauptlage); Rigidität des Cervix- und Vulva- 


— 16 — 


ringes; Frühgeburt; Kompression des Schädels im anterio-posterioren Durchmesser 
beim Dammschutz durch Pressen des Hinterhauptes gegen den Arcus pubis, sowie 
in Fällen, wo sich das Hinterhaupt zur Konkavität des Kreuzbeins dreht und die Ge- 
burt bei hinterer Hinterhauptlage durchgeführt wird: die Stirn stößt an die Unter- 
fläche der Symphyse, und das Hinterhaupt wird gegen das Perineum gepreßt. Ist 
dieses sehr resistent, dann erfolgt die anterio-posteriore Kompression. Gelegentlich 
spielt fehlerhafte Anlegung des Forceps eine Rolle. Sehr häufig sind Blutungen bei 
sehr raschem Geburtsverlauf. Die Häufigkeit der intrakranialen. Blutungen bei Früh- 
geburten ist auf die mangelhafte Ossification, die eine größere Deformation des Schädel: 
ermöglicht, und auf die unvollkonımene Entwicklung der Dura und der Gefäße zurück- 
zuführen. Zweifellos spielt die Asphyxie eine Rolle und mit ihr alle ihre Ursachen. 
Bei der Wendung auf den Arm, bei der intrakraniale Blutungen sehr häufig sind, ıst 
vor allzu großer Hast zu warnen. Schließlich können auch zu energische Wieder- 
belebungsversuche bei Asphyxie die Ursache sein. — Der Autor teilt 4 Fälle mit und 
geht vor allem auf die ursächlichen Momente in jedem der Fälle ein. Wexberg (Wien). 

Schwartz, Philipp: Erkrankungen des Zentralnervensystems nach traumatischer 
Geburtssehädigung. Anatomisehe Untersuehungen. (Senckenberg. pathol. Inst., Unir. 
Frankfurt a. M.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 90, H. 3/5, S. 263 bis 
468. 1924. 

Sorgfältige Forschungen über die Frage der Geburtsschädigung des Gehirns und 
ihrer Folgen an einem großen Material des Frankfurter pathologischen und des neuro- 
logischen Instituts. Die Arbeit bietet vor allem eine eingehende Analyse von Gewebs- 
veränderungen im Säuglingsgehirn, die bald zur Auflösung größerer Bezirke und zu 
Narbenbildungen, bald zu herdförmigen oder diffusen Auflockerungsprozessen führen. 
Besonders eingehend wird die Beteiligung des Stützgewebes des Zentralnervensvstene. 
der Neuroglia, an diesen Gewebsreaktionen geschildert. Dabei bestätigt es sich wieder. 
daß „irgendeine traumatische Schädigung am unreifen Zentralnervensystem eine 
größere Verwüstung verursacht, als die gleiche Schädigung amı reifen Zentralnerven- 
system‘. In dem ausführlichen Kapitel über die „Entstehung von angeborenen De- 
fekten und Mißgestaltungen des Gehirns, die bekanntlich in der Idiotielehre eine wici- 
tige Rolle spielen, kommt der Verf. zu der Anschauung, ‚daß die weit überwiegende 
Mehrzahl der sog. ‚angeborenen‘ Porencephalien und der verschiedenen ausgedehnt: 
‚angeborenen‘ diffusen Verödungsprozesse durch traumatische Schädigungen des G~ 
hirns bei der Geburt entstehe“. Ob diese Auffassung zutrifft, müssen weitere Fe’ 
schungen prüfen. Der Verf. unterschätzt die Schwierigkeiten der ätiologischen De 
tung der Befunde keineswegs (vgl. den besonders lesenswerten Abschnitt „Traum . 
Infektion oder Vergiftung“). — Sorgsame Verarbeitung der gesamten einschlägg : 
Literatur. Zahlreiche recht instruktive Abbildungen. K. Berliner (Breslau). 

Lumsden, Thomas: On the effects of haemorrhages into the brain stem. (Üb 
die Wirkung von Hirnstammblutungen.) Proc. of the roy. soc. of med. Bd. 17, Nr. . 
sect. of study of dis. in childr., neurol., obstetr. a. gynaecol., a. orthop. S. 15—22. 1% 

Der Verf. berichtet über zahlreiche Tierversuche, bei denen er die Atemstörung 
studierte; er nimmt an. daß die Atemstörungen, die bei Neugeborenen infolge von Hır 
blutungen auftreten, sich mit den tierexperimentellen Befunden vergleichen las- 
Oral von der Brücke rufen Läsionen keine Atemstörungen hervor. Bei Brückenläsicn 
kommt es zum „apneustischen” Atmen, zu Inspirationskrampf, der 2—3 Minuten la: 
anhält und erst im asphyktischen Stadium durch CO,-Sättigung des Blutes gek 
wird: bei künstlicher Ventilation der Lungen kann der Inspirationskrampf ?, Stu: 
anhalten. Angenommen wird ein pneumotaktisches Zentrum in der Brücke. welt 
normalerweise den Inspirationstonus hemmt. Die apneustische Atmung ist übneg: 
bei manchen Tieren, z. B. im Wasser lebenden Säugetieren, etwas Normales. F 
Blutungen in die Striae acusticae wird das apneustische Zentrum zerstört, dem T’ 
sind jetzt nur noch Exspiration und „Luftschnappen“ (Gasping) möglich; die Exs}? 


— 187 — 


tion kann krampfartig sein. Bei Schnitten, die noch tiefer liegen, kann das Leben allein 
durch dieses keuchende Atmen, eine Leistung des respiratorischen Zentrums im ‚„‚noeud 
vital‘, eine Zeitlang erhalten bleiben. Zur Behandlung der Atemstörung empfiehlt 
sich künstliche Atmung mit Sauerstoff, dem 5proz. CO, zur Anregung der Atem- 
zentren beigemengt ist. — Myers hat ein 3 Tage altes Kind mit inspiratorischer Apnöe 
gesehen, das starb; bei der Sektion fanden sich vielfache kleine Blutungen, die größten 
dicht oberhalb der (d. h. oral von den) Striae acusticae. Strachau berichtet, daß er 
bei 100 Totgeburten und 50 Todesfällen Neugeborener in 23%, Durarisse gesehen hat; 
der dritte Teil davon betraf Steißgeburten; besonders häufig waren die Risse im Ten- 
torium. Wahrscheinlich kommen auch bei Entbindungsschwierigkeiten kleine Ten- 
toriumrisse, die das Leben nicht gefährden, vor, wenn keine Blutungen mit dem Riß 
verbunden sind. Aitker weist mit Nachdruck auf die Erfolge orthopädischer Therapie 
bei spastischen Lähmungen hin. F. Stern (Göttingen). 

Neurath, Rudolf: Zentrale Störung der affektiven Mimik als Folge des Geburts- 
traumas. Wien. med. Wochenschr. Jg. 74, Nr. 21, 8. 1065—1068. 1924. 

Auf eine geburtstraumatische Schädigung im Gebiete der basalen Ganglien wird eine 
Störung der affektiven Mimik bei einem mittels Zange geborenen Kinde zurückgeführt, das 
bald nach der Geburt ein Unvermögen des Weinens und später eine paradoxe Gefühlsäußerung 
(Mimik eher an Lachen erinnernd) erkennen ließ. Die Affektion ging ohne Tränensekretion 
einher, während das Riechen scharfer Stoffe Tränensekretion auslöste. Der Vergleich mit 
klinischen Erfahrungen und anatomischen Befunden bei Erwachsenen mit Thalamusaffektionen 
und solchen mit krampfhaftem Weinen läßt eine Lokalisation der Hirnblutung im medialen 
Kern des Sehhügels, vielleicht nur einer Seite berechtigt erscheinen. Neurath (Wien)., 

Robertson, George: Further notes on eortical epilepsy exeited upon a damaged 
eortex by peripheral trauma. (Weitere Mitteilungen über corticale Epilepsie als Folge 
eines peripheren Traumas bei geschädigter Rinde.) Practitioner Bd. 110, Nr. 5, 
S. 383—386. 1923. 

Unter Bezugnahme auf eine früher erschienene eigene Mitteilung schildert der 
Autor den Fall eines 4jährigen Kindes, das bei einem Unfall multiple Schädel- 
frakturen und eine Fraktur des linken Beins erlitten hatte. Pat. hatte linksseitige 
Jacksonanfälle. Bei der Operation und bei der nach tödlichem Ausgang erfolgten 
Obduktion erwies sich aber die linke Hemisphäre als durch Contrecoup wesentlich 
schwerer geschädigt als die rechte. Das Auftreten corticaler Reizerscheinungen im 
Bereiche der linken Körperhälfte erklärt der Autor durch den reflektorisch wirk- 
samen Reiz des peripheren Traumas, der linksseitigen Unterschenkelfraktur. Er 
glaubt, daß auch die Muskelspasmen, die bei jeder Fraktur der Extremitätenknochen 
vor der exakten Reposition bestehen, als reflektorısch ausgelöste corticale Reiz- 
erscheinungen zu erklären seien. Erwin Wezberg (Wien)., 

Christin: L’aphasie infantile. (Die Aphasie im Kindesalter.) (Schweiz. Ver. f. 
Psychiatrie, Genf, Sitzg. v. 2. VI. 1923.) Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatrie 
Bd. 14, H.1, S. 122. 1924. 

Es gibt entsprechend P. Maries Meinung keine Aphasien im Kindesalter ohne 
intellektuelle Störung, dies konnte Christin an Kindern feststellen, welche 1—2 Jahre 
in geistiger, aber 2—4 Jahre in sprachlicher Entwicklung zurückgeblieben waren. 

Fröschels (Wien). 

Collier, James: The pathogenesis of cerebral diplegia. (Die Pathogenese der ce- 
rebralen Diplegie.) Brain Bd. 47, H. 1, S. 1—21. 1924. 

Nach Besprechung der verschiedenen Ansichten über die Pathogenese der cere- 
bralen Kinderlähmung formuliert Verf. seine eigene dahin, daß es sich um eine primäre 
Degeneration corticaler Neurone handle, die das Gebirn in irgendeinem Zeit- 
punkt seiner prä- oder postnatalen Entwicklung betrifft. Die verschiedenen Varie- 
täten des Krankheitsbildes hängen ab von der Schwere der Einwirkung, dem von 
Gehirn erreichten Entwicklungsstadium, der Prädilektion der krankmachenden Ursache 
für bestimmte Systeme, endlich davon, ob diese Einwirkung vorübergehender oder 


— 138 — 


dauernder Natur ist. Die Ursache selbst ist unbekannt, wahrscheinlich nicht einbeit- 
licher Natur. Syphilis dürfte eine Rolle spielen. Dem Geburtstrauma schreibt Verf. 
keinerlei Bedeutung zu, eine Einseitigkeit, die noch weit mehr an der Wahrheit vorbei- 
treffen dürfte als die umgekehrte einiger neuerer deutscher Autoren, deren Arbeiten 
Collier völlig unbekannt geblieben sind. Eine pathogenetische Auffassung, die wie die 
C.s die cerebrale Kinderlähmung mit der amaurotischen Idiotie unter ein Fach bringt 
und sie ın die nächste Nähe anderer hereditärer Erkrankungen stellt, dürfte von vorn- 
herein Widerspruch erregen. Zum mindesten müßte sie besser bewiesen sein, als C. 
dies in dieser Arbeit tut. Fr. Wohlwill (Hamburg)., 

Nota, F.: Considerazioni sulla sindrome di Little in relazione alla gravidanza ed 
al parto. (Betrachtungen über das Littlesche Syndrom in Beziehung zu Schwanger- 
schaft und Geburt.) (Istit. ostetr.-ginecol., univ., Torino.) Riv. d’ostetr. e ginecol. 
prat. Jg. 5, Nr.2, S. 60—69. 1923. 

Das Littlesche Syndrom wurde im Laufe der Zeiten bald durch die klinischen 
Symptome, bald durch Faktoren der Ätiologie und der Pathogenese charakterisiert. 
Man kann cs im allgemeinen als den Ausdruck von Veränderungen des cortico-spinalen 
Neurons traumatischer, toxischer oder entzündlicher Ätiologie definieren; diese Schä- 
digungen können während des Fötallebens zur Auswirkung gelangen und die Ent- 
wicklung des Nervensystems hemmen oder verzögern, sie können aber auch im extra- 
uterinen Leben die schon in Ausbildung begriffenen Nervenorgane alterieren oder 
destruieren. Der mitgeteilte Fall repräsentiert die angeborene Form. Es handelt 
sich um ein in Gesichtslage geborenes Kind mit spastischen Contracturen alier Extre- 
mitäten, das nach wenigen Stunden starb. Im Gehirn fand sich eine, die Seitenventrikel 
in ungleichem Maße dehnende Hydrocephalie, gute Ausbildung der Windungen und 
Furchen. Zum Schluß werden die Einflüsse der Schwangerschaft und Geburt auf das 
Zustandekommen der -Littleschen Krankheit erwogen. Neurath (Wien). 

@ Jakob, A.: Die extrapyramidalen Erkrankungen mit besonderer Berücksieh- 
tigung der pathologischen Anatomie und Histologie und der Pathophysiologie der 
Bewegungsstörungen. (Monographien a. d. Gesamtgeb. d. Neurol. u. Psychiatrie. 
Hrsg. v. O. Foerster u. K. Wilmanns. H.37.) Berlin: Julius Springer 1923. X, 419 8. 
Geb. G.-M. 30.—. 

Das vorliegende Buch will den jetzigen Stand unserer Kenntnisse über die extra- 
pyramidalen Erkrankungen wiedergeben, die ja in den letzten Jahren im Anschluß 
an die Encephalitisepidemien im Vordergrunde neurologischen Interesses stehen, und 
an deren Erforschung der Verf. selber einen wesentlichen Anteil hat. Es wird zunächst 
eine kurze klinische Charakterisierung der extrapyramidalen Bewegungsstörungen 
gegeben, dann folgt eine Besprechung der normalen Anatomie und Histologie des 
Systems. In dem nun folgenden Hauptteil gibt der Verf. Darstellungen der einzelnen 
Erkrankungsformen; dabei stützt er sich vorwiegend auf eigene Beobachtungen 
(33 Krankheitsfälle), berücksichtigt aber auch eingehend die Literatur. Entsprechend 
der besonderen Forschungsrichtung Jakobs ist hier der Schilderung der histopatholc- 
gischen Verhältnisse der breiteste Raum gewidmet. — 3 Hauptsyndrome bei extra- 
. pyramidalen Erkrankungen werden unterschieden: das choreatische Syndrom, das 
hypokinetisch-hypertonische Syndrom des Parkinsonismus, das athetotische Syndrom. 
Das choreatische Syndrom wird weiter gegliedert in Huntingtonsche Chorea mit nach- 
gewiesener Vererbung, chronisch-progressive Chorea ohne nachgewiesene Vererbung. 
symptomatische Chorea auf toxisch-infektiöser Basis oder bedingt durch syphilitische, 
arteriosklerotische oder senile Gehirnprozesse. Für das hypokinetisch-hypertonische 
Syndrom gibt J. in der Hauptsache folgende Paradigmen: Genuine Paralysis agitans. 
arteriosklerotische Muskelstarre, senile Muskelstarre, syphilogener Parkinsonismus, 
Wilson-Pseudosklerosegruppe, Nachkrankheiten der Encephalitis epidemica, spastische 
Pseudosklerose. Unter dem dritten Syndrom werden Littlesche Starre, cerebrale 
Kinderlähmung, Status dysmyelinisatus des Pallidum aufgeführt. Daß eine endgültige 


— 139 — 


systematische Einteilung der extrapyramidalen Erkrankungen nicht gegeben werden 
kann, liegt daran, daß viele Dinge in ätiologischer, klinischer, anatomischer Hinsicht 
noch der Klärung bedürfen und so manche komplizierte Krankheitsbilder mit atypischer 
Lokalisation noch große klassifikatorische Schwierigkeiten machen. — Es würde viel 
zu weit führen, J. detaillierte Angaben über Klinik, Lokalisation und Histopathologie 
im einzelnen hier zu referieren; lediglich über einige den an der Kinderforschung Inter- 
essierten besonders angehende Krankheitsformen sei kurz berichtet. Die Chorea 
minor, die hier zunächst in Frage käme, wird leider nur ganz summarisch besprochen. 
Wir wenden uns daher zu der Wilsonschen Krankheit und Westphal-Strümpellschen 
Pseudosklerose. Diese bilden eine große Krankheitsgruppe, deren klinische und ana- 
tomische Grenzen heute noch nicht eindeutig festzulegen sind. Für die sichere Zu- 
gehörigkeit zu ihr muß man vom anatomischen Standpunkt das gleichzeitige Vorliegen 
der beiden Kardinalsymptome fordern: Parenchymveränderungen im Striatum und 
die charakteristische knotige Lebercirrhose. Die Ätiologie ist noch unklar, ebenso die 
Beziehungen zwischen Leber- und Gehirnerkrankung. Weiter gehen wir kurz auf die 
Folgezustände der Encephalitis epidemica ein. Der häufigste Typ, die allmähliche 
Ausprägung eines Parkinsonismus, zeigt eine fortschreitende Parenchymdegeneration 
mit seltenen infiltrativen Erscheinungen, am schwersten in der Substantia nigra, dann 
im Pallidum, seltener im Striatum. Die Rinde bleibt im allgemeinen frei. Die zweite 
seltenere Gruppe führt unter erneutem Fieberanstieg zu einem polymorphen, gleichfalls 
progredienten Krankheitsbild, das diffus im Zentralnervensystem lokalisiert ist und 
mit infiltrativen Erscheinungen einhergeht. Das Kapitel über das athetotische Syndrom 
ist verhältnismäßig kurz; vielleicht hätte sich gerade der an der Kinderforschung 
Interessierte hier eingehendere Angaben gewünscht. Für die Littlesche Starre wird 
lediglich ein klinisches Beispiel gegeben; Verf. nimmt hier an, daß anatomisch der 
Erkrankung der sog. ‚Status marmoratus“ zugrunde liegt, eine von C. und O. Vogt 
zuerst beschriebene eigenartige Veränderung im Striatum. Übrigens bedarf die große 
Gruppe der Krankheitsbilder, die unter dem Namen der Littleschen Starre gehen, 
nach des Verf. Ansicht noch weiterer anatomischer Analyse, ehe eine endgültige Grup- 
pierung möglich wird. Sehr ausführlich bespricht Verf. den Befund eines Kindes ohne 
Großhirn mit 10 monatiger Lebensdauer, das klinisch in die Gruppe der Littleschen 
Krankheit gehört und eine ausgesprochene pallidäre Starre zeigte. Anatomisch fand 
sich eine eigenartige Erweichung fast der ganzen Rinde, die wahrscheinlich geburts- 
traumatisch bedingt war und zu einer fast völligen Degeneration der größten Teile des 
Neencephalon geführt hatte. Auch die Striata waren schwer geschädigt. Das Kind 
schrie, trank, entleerte, zeigte aber keine spontanen Lust- und Unlustäußerungen, 
kein Mienenspiel, überhaupt kein Bewegungsspiel; es bestand eine starke opisthotonische 
Haltung, eine hochgradige Rigidität in der gesamten Muskulatur, ein allgemeiner 
Strecktonus. Diese Erscheinungen erinnern an die pallidäre Starre und sind auf den 
Funktionsausfall der Rinde und der Striata zurückzuführen. Die Lebensäußerungen 
des Kindes müssen als Funktionen des Pallidums und subpallidärer Zentren angesehen 
werden. Ausführlich werden in dem Abschnitt über das athetotische Syndrom einige 
Fälle cerebraler Kinderlähmung dargestellt, denen anatomisch cerebrale Hemiatrophien 
verschiedener Ausprägung zugrunde lagen. (Ob die Einordnung der Erkrankung 
gerade an dieser Stelle sehr glücklich gewählt ist, scheint dem Ref. fraglich.) Die Fälle 
cerebraler Kinderlähmung teilt J. folgendermaßen ein: 1. Fälle mit angedeuteten spa- 
stischen Phänomenen und im Vordergrunde stehenden epileptischen Zuständen und 
progressivem Schwachsinn; anatomisch charakterisieren sie sich als intracorticale 
Hemiplegien mit encephalitischen Rindenherden und deren Narben, wobei die III. Rin- 
denschicht besonders betroffen ist. 2. Klinisch und anatomisch ähnliche Fälle, bei 
denen sich ab und zu Athetoseerscheinungen in den gelähmten Gliedern feststellen 
lassen und bei denen neben der Rindenerkrankung auch eine Degeneration des Striatum 
gefunden wird. 3. Klinisch ähnliche Fälle, bei denen neben der Rinden- und Mark- 


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zerstörung (keine besondere Schichtdegeneration) die Stammganglien in verschiedener 
Ausdehnung mitaffiziert sind. Für die eigentlichen bilateralen kindlichen Athetosen 
bringt Verf. keine typischen Fälle bei. Ätiologisch liegen die Verhältnisse hier ganz 
unklar. Die angeborene Athetose des frühen Kindesalters ist nach J.’s Auffassung 
auf das durch den pathologischen Striatumprozeß bedingte Ausbleiben der striären 
Regulation des Pallidum zurückzuführen, das dann mit unkoordinierten und ver- 
zerrten Massenbewegungen antwortet, wie sie im allerfrühesten Säuglingsalter phy- 
siologisch sind. — Seltene Krankheitsfälle des frühesten Kindesalters, die neben reiner 
progressiver Starre athetotische Bewegungen zeigen, bieten nach C. und O. Vogt 
den „Status dysmyelinisatus‘‘ im Pallidum, eine schwere Parenchymerkrankung mi 
progressivem Faseruntergang. Warum Verf. die Pallidumveränderungen bei Kohlen- 
oxydvergiftung gerade hier anschließend beschreibt, ist nicht recht verständlich, da 
diese pathogenetisch doch wohl anders zu erklären sind und kaum zu einem athetotischen 
Zustandsbild führen werden. — Der dritte Teil des Werkes betitelt sich Pathophysiolog:- 
der extrapyramidalen Bewegungsstörungen. Es werden die Syndrome bei Erkrankungen 
der einzelnen Grisea des Systems besprochen (Syndrom des Striatum, des Pallidum. 
des Corpus Luysi, der Substantia nigra); dann werden die Beziehungen des extrapyra- 
midalen Systems zu anderen grauen Zentren, besonders zu Thalamus und Kleinbirı 
klargelegt. Weiter werden die normalen Funktionsleistungen der extrapyramidalen 
Hauptzentren umrissen; ein Schlußkapitel handelt über die Beziehungen zwischen 
Rinde und extrapyramidalem System. Dieser Absatz läßt die großen Schwierigkeiten 
erkennen, die sich der Lokalisationsfrage bei den komplizierten anatomischen Verhält- 
nissen und den niemals streng an bestimmte Zentren gebundenen Krankheitsprozessen 
entgegenstellen; seine Klarheit leidet freilich unter öfteren Wiederholungen und 
Abschweifungen. Zahlreiche vorzügliche Abbildungen und ein 20 Seiten starkes 
“ Literaturverzeichnis sind dem Buche beigegeben. Im ganzen genommen faßt das Werk 
unser bisheriges Wissen insbesondere über die pathologische Anatomie der extrapyra- 
midalen Erkrankungen in gründlicher Weise zusammen; dem auf diesem Gebiete ar- 
beitenden Histologen wird es als Nachschlagewerk unentbehrlich werden. Neubürger. 

Morquio, L.: Postencephalitischer Parkinsonismus. Arch. latino-americ. de 
pediatria Bd. 18, Nr. 5/6, S. 320. 1924. (Spanisch.) 

Ein 13jähriges Mädchen mit den Symptomen des Parkinsonismus erkrankte vor 3, Jab- 
ren mit Somnolenz, die 1 Monat dauerte. Einen weiteren Monat schlief es tags und wacht 
nachts. Nach Schwinden dieses Symptoms stellten sich zunehmende Störungen der Motilit«t 
ein. Jetzt bietet Pat. das typische Bild des vollständigen Parkinsonismus. Als vor 3t, Jahren 
die Krankheit begann, herrschte in der Stadt eine Epidemie der Encephalitis lethargica. se 
daß also kein Zweifel sein kann über den Ursprung des Parkinsonismus. Gunter. 

Wollstein, Martha, and Frederie H. Bartlett: Brains tumors in young children. 
A elinieal and pathologie study. (Hirntumoren bei jungen Kindern. Eine klinische 
und pathologische Studie.) (Babies’ hosp., New York.) Americ. journ. of dis. of 
childr. Bd. 25, Nr. 4, S. 257—283. 1923. 

Die Verff. teilen 7 Fälle von Hirntumoren in der Kindheit mit, die sämtlich zur 
Autopsie gelangten. In 5 Fällen handelt es sich um Geschwülste der hinteren Schädel- 
grube (Kleinhirntumoren), während die beiden anderen sich über dem Teutonum 
befanden, und zwar der eine die Stammganglien einnahm, der andere sich fast über 
eine ganze Großhirnhemisphäre erstreckte. Es waren sämtlich Gliome. Das Alter 
der Kinder betrug zwischen 2 Wochen und 3 Jahren. In einem Falle war die Geschwulst 
wahrscheinlich kongenital. Die Kleinhirngeschwülste erstreckten sich sämtlich auch 
auf den Wurm. Die Verff. weisen auf die Schwierigkeit der Diagnose der Him- 
geschwülste im frühen Kindesalter hin. Das Fehlen von subjektiven Beschwerden. 
die Anpassung des dehnbaren Schädels an den zunehmenden Inhalt, die Unmögliel 
keit, bei dem noch nicht gehenden Kinde Gangstörungen zu konstatieren, alles die: 
bewirkt, daß die kindlichen Hirngeschwülste meist erst zu einer Zeit bemerkt werden. 
wo sie schon zu erheblicher Größe gelangt und nicht mehr operabel sind. Ausführliche 


— 141 — 


Krankengeschichten mit dem anatomischen und mikroskopischen Befunde sind bei- 
gegeben. Kramer (Berlin)., 

Obarrio, Juan M.: Tumor des linken Oeeipitallappens. Arch. latino-americ. de 
pediatria Bd. 17, Nr. 4, S. 282—295. 1923. (Spanisch.) 

Yjähr. cq". 5. III. 1921 Krampfanfall mit 2stündiger Bewußtlosigkeit. Später gelegentlich 
Kopfweh und Erbrechen, Schläfenschmerzen. 5. und 6. II. 1922 mehrere Anfälle und schwere 
Sehstörung. Stauungspapille Keine neurologischen Ausfalls- oder Reizerscheinungen außer 
den gelegentlichen Krampfanfällen. Also homolaterale homonyme Hemianopsie rechts. 
Kinematographische Gesichtstäuschungen. Diagnose: Tumor der linken Calcarinagegend. 
Bei der Operation fand sich in 3 cm Tiefe eine Cyste des linken Lobus parietalis. Besondere 
Beobachtung verdienen die eigenartigen kinematographischen Halluzinationen (Radfahrer usw.), 
die von der sehenden zur blinden Retinaseite sich bewegen. Creutzjeldt (Berlin)., 

Zimmerli, Erieh: Beiträge zur Symptomatologie der Kleinhirnerkrankungen. 
(Kinderspit., Basel.) Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 76, H. 5/6, S. 251—280. 1923. 

Ausführliche Schilderung des Krankheitsverlaufs in einem Falle von Kleinhirngeschwulst 
bei einem 11 jährigen Mädchen, bei dem zunächst 1/, Jahr lang das Bild des Veitstanzes bestand 
underst später die Symptome der Schädigung des Kleinhirns, besonders schwere Gleichgewichts- 
störungen, eigenartige Veränderungen der Schrift usw. eintraten. Erst nach 11/, Jahren 


zeigten sich die kennzeichnenden Erscheinungen der Hirngeschwulst, die dann bald zum Tode 
führten. 


Der Fall zeigt wie viele andere wieder, daß veitstanzähnliche Symptome auch bei 
Herderkrankungen des Gehirns verschiedenen Sitzes, so auch bei. Lokalisation im 
Kleinhirn, auftreten können. K. Berliner (Breslau). 

Kment, Hans: Zur Meningitis tubereuluosa mit besonderer Berücksiehtigung ihrer 
Genese. (Pathol. Inst., dtsch. Univ. Prag.) Zeitschr. f. Tuberkul., Beih. Nr. 14, 8.1 
bis 54. 1924. 

Die Untersuchungen haben zur Grundlage 27 anatomisch bearbeitete Fälle von 
Tuberkulose und 769 in den Jahren 1900—1923 durchgeführte Sektionen mit Meningitis 
tuberculosa. Sie ergaben das Überwiegen des männlichen Geschlechtes sowohl bei den 
Erkrankungen als auch bei den Todesfällen, die stärkere Sterblichkeit der Kinder bis 
zum 6. Jahre, und nach einer Pause neuerliches Ansteigen der Sterblichkeit im Alter 
zwischen 20 und 30 Jahren. Konglomerattuberkel kommen in den ersten Lebensjahren 
der Meningitis an Häufigkeit fast gleich, später machen sie !/,, nach dem 40. Lebensjahre 
nur mehr !/, der Zahl der Meningitisfälle aus. Bei Kindern tritt fast in der Hälfte aller 
Fälle mit hämatogener Aussaat der Tuberkulose Meningitis auf, bei Erwachsenen kaum 
in !/, der Fälle. Bei Kindern fällt die größte Sterblichkeit an M. tbc. in die Monate 
Januar und April, bei Erwachsenen in die Monate April bis August. Meningitis und 
Genitaltuberkulose kommen fast ausschließlich nur im geschlechtsreifen Alter vor. — 
Die M. tbc. entsteht in einem Teile der Fälle nur von den Plexus choreoid. aus, wobei 
es zur typischen Basalmeningitis kommt, oder nur von der Pia aus, wobei die atypische 
Lokalisation die Regel ist. Der Großteil der Fälle gehört der plexo-meningealen Form 
an. Die M. tbc. ist nicht der miliaren Tuberkulose der übrigen Organe gleichzusetzen, 
sondern ist dieser untergeordnet, da sie ja von der hämatogenen Tuberkulose der 
Plexus und Meningen abhängig ist, also diesen beiden erst sekundär folgt. — In ein- 
zelnen Fällen kommt auch eine Fortleitung der tuberkulösen Entzündung von Konglo- 
merattuberkeln einerseits auf die Leptomennix, andererseits auf das Ventrikelependym 
oder die Plexus vor (encephalitische Form) vor, oder aber geschieht die Fortleitung 
durch direktes Übergreifen von der Dura im Zusammenhang mit einer Pachymeningitis 
tuberc. mit oder ohne gleichzeitige Beteiligung von Knochen (durale Form). Bei allen 
diesen Fällen, bei denen die Plexus und die Tela nicht miterkrankt sind, fehlt die typi-. 
sche Lokalisation und werden die Hauptveränderungen in der Umgebung des zuerst 
ergriffenen Anteiles der Leptomennix gefunden. Bei den 27 anatomisch untersuchten 
Fällen lag bei Erwachsenen chronische Lungentuberkulose vor mit wahrscheinlichem 
Primäraffekt ın diesen. Bei den Kindern konnte mit Ausnahme eines nicht sicheren 
Falles überall der tuberkulöse Primärherd in der Lunge nachgewiesen werden. 

Zingerle (Graz). 


— 12 — 


Sabatini, Luigi: Manifestazioni nervose nel decorso del tifo nell’infanzia, con 
speciale riguardo alla afasia. (Nervenkrankheiten im Typhusverlauf im Kindes- 
alter, mit besonderer Berücksichtigung der Aphasie.) (Istit. di clin. pediatr., univ., 
Roma.) Pediatria Bd. 31, Nr. 21, S. 1156—1171. 1923. 

Die im Kindesalter häufigen nervösen Typhuskomplikationen sind Psychosen. 
Neuritiden, Meningitis oder Meningismus, Myelitis, Encephalitis. Fälle von akuter 
Ataxie, Sprachstörungen, Hemiplegien sind mehrfach beobachtet. Anatomisch finden 
sich meist Embolien, Thrombosen, Hämorrhagien an verschiedenen Stellen des Nerven- 
systems. An Zahl besonders häufig sind Beobachtungen wahrer — nicht durch die 
Schwere der Krankheit vorgetäuschter Aphasie, die meist transitorisch und motorisch 
ist. Unter 153 in 27 Jahren beobachteten Typhusfällen fanden sich 5 mit Aphasie, wir 
sie beim Kindertyphus besonders häufig ist. Sie tritt brüsk ein, ihre Dauer wechselt. 
8 Fälle aus der Erfahrung Sabatinis werden mitgeteilt, 6 mit motorischer, 2? mit 
motorischer und sensorischer Aphasie, kombiniert mit wechselnden nervösen Ausfalls- 
erscheinungen. Das Alter der Kinder schwankte zwischen 4 und 7 Jahren. Es folgen 
schließlich pathogenetische Erwägungen des Autors. Neurath (Wien)., 

Faneoni, G.: Zur Frage des sogenannten infantilen Kernsehwundes (Moebius). 
Ein Fall von angeborener totaler unilateraler Oeulomotorius- und Trochlearislähmunz. 
(Univ.-Kinderklin., Zürich.) Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 104, 3. Folge: Bd. 54, H. 1/2, 
S. 33—38. 1924. 

Bei einem in der Entwicklung etwas zurückgebliebenen Kinde fand sich einerseits ein 
stark ausgesprochener Stridor congenitus, der wahrscheinlich nicht auf einer nervösen Störung 
beruhte, andererseits eine linksseitige totale innere und äußere Oculomotorius- und Trochlearis- 
lähmung, welche kurz nach der Geburt beobachtet wurden und sich unverändert bis beute 


(1!1/, Jahre) erhalten haben. Sonst war das gelähmte Auge normal und lichtempfindlich. 
Kehrer (Breslau).. 


Bloch, C. E.: Blindness and other diseases in children arising from defieient nutrition 
(lack of fat-soluble a faetor). (Blindheit und andere Gesundheitsschädigungen im 
Kindesalter als Folge von Nahrungsmangel [löslich:s Fett „A Factor‘‘].) Americ. 
journ. of dis. of childr. Bd. 27, Nr. 2, S. 139—148. 1924. 

Während in Dänemark die Augeneiterung der Neugeborenen (Gonorrhoe) durch 
geeignete Maßnahmen zur Seltenheit geworden ist, hat dort die Blindheit des Kindes- 
alters — im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern — zugenommen. Die Zunahme 
ist nach Bloch zurückzuführen auf das gehäufte und epidemische Auftreten von 
„Aerophthalmie‘, einer als Folge von Unterernährung lange bekannten schweren 
Erkrankung des vorderen Augenabschnittes. Nach B.’s Untersuchungen ist die Nero- 
phthalmie die Folge von Fettmangel in der Nahrung, von Czerny und Keller als 
„Mehlnährschaden“ bezeichnet. Der Nahrungsmangel ruft eine größere Empfänglich- 
keit für Infektionen hervor; Augenstörungen, die nicht regelmäßig auftreten, zeigen 
sich zuerst als Nachtblindheit und Trockenheit der Augapfelbindehaut: Xerosis. 
die Austrocknung ergreift die Hornhaut, welche zur Nekrotisierung kommen kann. 
Tritt eine Infektion der Bindehaut hinzu, so besteht Lichtscheu und andere Reız- 
erscheinungen. Viele dieser Kinder sterben an Bronchopneumonie, von den Über- 
lebenden erblinden viele. Der Einfluß des Milchmangels ist besonders in Deutschland 
im Krieg deutlich in die Erscheinung getreten. Aber auch in Dänemark stieg infolge 
des Krieges der Preis für die wichtigsten Nährfette (Milch, Butter) so stark, daß dır 
Xerophthalmie bis 1918 zunahm; dann erfolgte infolge Rationierung der Milch prompt! 
Abnahme und nach Aufhebung der Rationierung kanı 1920 wieder ein kleiner Anstieg. 
der bald zurückging, weil die Natur des Leidens erkannt war. Bei geeigneter Behandlung 
(frische Milch, Sahne, Butter, Lebertran) geht zuerst die Xerophthalmie zurück. dann 
folgen die Allgenieinsymptome. Die genannten Erscheinungen befallen nur das wachsende 
Individuum; und da, wie festgestellt worden ist, das Wachstum der Kinder am meisten 
im Frühling fortschreitet, ist diese Jahreszeit auch für die Xerophthalmie bedeutsam; 
hingegen hat das Futter der Kühe keinen Einfluß, soweit es sich um gesunde Milch 


— 148 — 


spendende Tiere handelt. Rhachitis ist nicht die Folge von Fettmangel, sie kommt zu- 
sammen mit Xerophthalmie sehr selten vor. Verf. weist auf die große Bedeutung der 
Milch für die Ernährung der Kinder hin. Zade (Heidelberg). 

Harford, Charles F.: Squint and the ehild mind. (Schielen und seelische Verfassung 
des Kindes.) Child Bd. 14, Nr. 4, S. 97—105. 1924. 

Umfangreiche Erhebungen an schielenden Kindern ergaben einen engen Zu- 
sammenhang dieser Augenmuskelstörung mit Linkshändigkeit und Stammeln bzw. 
verwandten Sprachfehlern, indem entweder mehrere dieser Anomalien sich gleichzeitig 
bei demselben Individuum fanden oder bei den Aszendenten oder Kollateralen der 
Schielenden festzustellen waren. Auch zur Alopecia areata bestehen Beziehungen. 
Verf. will das Zusammentreffen der 3 Anomalien auf eine Steigerung von Eigenschaften 
zurückführen, wie sie normalerweise der psychischen Verfassung des Kindesalters 
zugehören: Suggestibilität, Negativismus und Neigung zur „Selbstbehauptung‘“. Die 
Aufmerksamkeit, die die Umgebung dem Fehler zuwendet, veranlaßt, bei gesteigerter 
Suggestibilität, das Kind, ihn zu akzentuieren, der durch unzweckmäßige Behandlung 
hervorgerufene Negativismus verleitet zur Aggravation, und der elementare ‚Trieb 
zur Selbstbehauptung‘‘ wirkt der Korrektur entgegen. Die Behandlung der Störungen 
hat auf diese psychischen Triebkräfte Rücksicht zu nehmen; sie wird daher in weitem 
Umfange eine pädagogische sein müssen. R. Thiele (Berlin).°° 

Böhmig, Wolfgang: Über zwei Fälle von Ataxie im Kindesalter. (Psych. u. Nerven- 
klin., Univ. Halle a. S.) Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 80, H. 3/4, S. 150—154. 1923. 

Im 1. Fall entwickelte sich das Leiden in den ersten Lebensjahren. Im Alter von 3 Jahren 
bestand skandierende Sprache, Ataxie beider Beine, Unsicherheit beider oberen Extremitäten 
beim Zeigeversuch Babinski angedeutet. 10 Jahre später Nystagmus, temporale Abblassung 
der Papille, Babinski, Intentionstremor, unsicherer Gang, skandierende Sprache, infantile 
Euphorie. Verf. vermutet, daß es sich um eine ungewöhnlich frühzeitig aufgetretene multiple 
Sklerose handelt. Ob diese Diagnose zutrifft, muß wohl bei dem fehlenden anatomischen 
Befunde dahingestellt bleiben. Im 2. Falle handelt es sich wahrscheinlich um einen Hydro- 
cephalus internus mit Hypoplasie des Kleinhirns. Nach Balkenstich trat eine teilweise Besse- 
rung ein. Kramer (Berlin). 

Leredde: La syphilis ignorée de l’enfanee. Le problème de P’arrieration mentale. 
(Die Syphilitisignota [ohne Erscheinungen] der Kindheit. Die Frage des geistigen 
Zurückbleibens.) Bull. de la soc. franç. de dermatol. et de syphiligr. Jg. 81, Nr. 6, 
S. 295—308. 1924. 

Leredde sagt, nach Mitteilung einer größeren Anzahl von Eigenbeobachtungen: 
„Geistiges Zurückgebliebensein (unter dem sowohl angeborener Schwachsinn wie 
verzögerte Entwicklung, Infantilismus begriffen werden muß — Ref.) kann die Folge 
von Syphilis sein, auch in Fällen, in denen keinerlei klinische Erscheinung, auch nicht 
die Wassermannsche Reaktion, das Bestehen der Krankheit, weder beim Kinde noch 
bei den Eltern nachzuweisen ist.“ Als Verdachts-, Wahrscheinlichkeitserscheinungen, 
die wichtig seien und häufiger angetroffen wurden, weist L. auf Blutveränderungen hin, 
die als Folge einer chronischen Infektion überhaupt auftreten. Natürlich ist in allen 
Fällen auch die ganze Familie zu untersuchen, und es muß auf alle möglichen Stigmata 
geachtet werden. Ausgesprochene therapeutische Wirkungen werden selbst in solchen 
Fällen erreicht, in denen das Alter des Kindes einen Erfolg a priori nicht erwarten 
läßt (Ref. ?). Bis wir die Ursachen des Zurückbleibens — außer der Syphilis — kennen, 
bis wir die Syphilis sicher ausschließen können (wofür uns heute die Mittel fehlen), 
hat der Arzt die Pflicht (im Text gesperrt) a priori jeden Zurückgebliebenen als 
Heredosyphilitiker anzusehen und ihn, wie jeden Epileptiker, einer spezifischen Be- 
bandlung zu unterziehen, sobald die ersten Erscheinungen des Zurückbleibens auf- 
treten, und die Behandlung ist ganz energisch und genügend lange durchzuführen. — 
In der Diskussion verlangt Paul Revant, daß bei diesen Kranken (wenn auch noch 
keine Erscheinungen da sind, wenn, in der allerersten Kindheit, noch kein Zurück- 
bleiben festgestellt werden kann), unmittelbar nach der Geburt (? Ref.) die Lumbal- 
punktion im diagnostischen und therapeutischen Interesse gemacht werden muß. 


— 144 — 


„Auch hier wieder‘, heißt es, „wird der Beweis erbracht, daß in der Behandlung der 
Syphilis man immer der Wirkung der Spirochäten zuvorkommen muß“ (ehe die sklero- 
sierenden Prozesse, die Ursache der Ausfallserscheinungen sind, abgelaufen sind). — 
Wenn, wie in der Diskussion auch Fälle angeführt werden, die Syphilis der Eltern eines 
Kindes feststeht, mag man bei einem Kind, auch ohne Symptome, die Lumbalpunktion 
machen, oder mag bei Erscheinungen allgemeiner Intoxikation, d. h. wenn das Kind 
eine ausgesprochene Degeneration oder Dystrophie zeigt, mit einer spezifischen Therapie 
vorgehen. Im übrigen muß man unbedingt vor unkritischer Annahme des Leredde- 
schen Standpunktes warnen. Es lebt da eine alte Diskussion auf. Zur Glanzzeit Alfr. 
Fourniers, dessen Arbeiten L. übrigens — aus den Jahren 1886 und 1898 — anführt. 
wurden alle dystrophischen und degenerativen Erscheinungen kritiklos auf Heredo- 
syphilis bezogen; jede Hasenscharte, Klumpfuß, sechster Finger usw. waren Folgen 
syphilitischer Degeneration. Es wurde auch in diesen Fällen spezifische Therapie gr- 
fordert! Ref., zu jener Zeit mit ausgedehnten Untersuchungen auf Heredosyphilis 
in Kleinasien beschäftigt, ist damals dieser Auffassung entgegen getreten. Es ist doch 
feststehend, daß Alkoholismus, soziales Elend, weiterhin nicht syphilitische psychische 
Erkrankungen der Eltern mindestens (besonders Alkoholismus!) — so häufig die 
Ursache des angeborenen Schwachsinns und des Infantilismus sind wie die Syphilis. 
In diesen Fällen ist es Scharlatanismus, eine spezifische Behandlung einzuleiten, sie 
kann keinen Erfolg haben, sie wird sogar schädlich sein. von Düring (Frankfurt a. M.). 

Cozzolino, Olimpio: Raehitismo ed eredolue. (Rachitis und Erblues.) (/stit. di 
clin. pediatr., univ., Parma.) Pediatria H. 32, Jg. 9, S. 505—512. 1924. 

Cozzolino teilt auf Grund seines großen Beobachtungsmaterials die Ansicht 
Marfans nicht, daß die hereditäre Syphilis die Hauptursache der Rachitis ist. Die 
beträchtliche Vermehrung der Lues nach dem Krieg in Italien hat keine Vermehrung 
der Rachitis mit sich gebracht. Nur bei einer kleinen Zahl von Fällen unterstützt 
die gleichzeitig bestehende Syphilis die Rachitis in ihrem schwereren Verlauf und dem 
stärkeren Hervortreten besonders der Kraniotabes und der Erkrankung der übrigen 
Teile des Skeletts. Schneider (München).. 

Nobl, G., und F. Remenovsky: Untersuehungen über den Ablauf der kongenitalen 
Lues. (Allg. Poliklin., Wien.) Wien. klin. Wochenschr. Jg. 37, Nr. 13, S. 306—309 
u. Nr. 14, S. 341—344. 1924. 

Nachuntersuchung an 38 Fällen kongenitaler Lues, die im 6. bis 55. Lebensjahr 
standen. In 3 Fällen traten die ersten Symptome im 19., 21. bzw. 29. Lebensjahr auf. 
Verff. halten ein Übersehen etwa früher aufgetretener Symptome für ausgeschlossen. 
Von den Symptomen der Spätperiode interessiert die Leser dieser Zeitschrift besonders 
der Einfluß der Krankheit auf die Entwicklung der Intelligenz. Verff. fanden be! 
einem Fünftel ihrer Fälle deutliche psychische Defekte. Neben ausgesprochenen Intel- 
ligenzmängeln sahen sie häufig Böswilligkeit, Streitsucht, Jähzorn, Arbeitsscheu, Vert- 
schwendungssucht u. ä. Ein Patient starb an Epilepsie. Verff. sprechen sich nach- 
drücklich für eine energische Behandlung aus, obwohl Fälle von Selbstheilung bekannt 
sind. Daß es nicht leicht ist, die oft ganz beschwerdefreien Patienten zu Wieder- 
holungen der Kur zu bewegen, haben auch sie erfahren. Hier müssen mehr noch al: 
bisher Fürsorgemaßnahmen einsetzen. G. Tugendreich (Berlin). 

Rosenblüth, Alexander: Ein Jahr Kropfprophylaxe in Österreich. (Univ.-K inder- 
klin., Wien.) Wien. klin. Wochenschr. Jg. 37, Nr. 24, S. 598--599. 1924. 

Das jodierte Kochsalz ist nach dem Vorschlage Wagner-Jaureggs derzeit ır 
Österreich über Wunsch erhältlich, ohne daß eine Verpflichtung zum Bezuge der 
selben besteht. Es ist also dem Ermessen von Einzelfamilien, Schulleitern, Gemeindevor- 
ständen anheimgestellt, dasselbe zu verwenden und demgemäß ist in Österreich desser 
Verbrauch ein sehr ungleichmäßiger. Verf. hat in einer Reihe von österreichischen 
Provinzstädten darüber Umfragen angestellt, wie groß die Verbreitung des jodierter 
Kochsalzes ist und wie für die Kenntnis von seiner prophylaktischen Wirkung m 





— 1335 — 


Schulen usw. Propaganda gemacht wird. Verf. ist mit den Resultaten dieser Unter- 
suchung zufrieden, doch muß man wohl objektiv zugeben, daß das, was er über die ge- 
legentliche Schwererbältlichkeit des Salzes, über den anfänglichen Widerstand der Be- 
völkerung gegen dasselbe mitteilt, nicht gerade erfreulich ist Zahlenmäßige Angaben 
über den Erfolg der prophylaktischen Kochsalzbehandlung verspricht Verf für später, 
doch sind seine Gesamteindrücke günstig. Die regelmäßige irrige Bezeichnung Jod- 
Stearin Tabletten statt Jodostarintabletten ist störend. Zappert (Wien). 

Lang, Käthe: Zur Frage der Kropfprophylaxe in den Schulen. An Hand der an 
der Pforzheimer Sehuljugend gewonnenen Resultate. Klin. Wochenschr. Jg. 3, Nr. 34, 
S. 1546—1548. 1924. 

Wie in vielen Gegenden der Schweiz, Österreichs und Deutschlands zeigen auch 
die Schulkinder in Pforzheim eine beträchtliche Anhäufung von Kröpfen, Bei 12- 
und 13jährigen zeigten über 50%, bei 16jährigen Mädchen über 96% deutliche Struma. 
Interessant, wenn auch nicht eindeutig, ist die Tatsache, daß die untersuchten Schul- 
kinder ein Zurückbleiben des Längenwachstums aufgewiesen haben. Verf. hat die 
Kinder mit innerlichen kleinen Jodgaben und mit Einreibungen von Jodsalbe behandelt, 
wobei letztere Therapie nur bei schweren Fällen und vorübergehend angewendet 
wurde, Die Erfolge waren sehr günstig, unangenehme Jodfolgen wurden nicht beob- 
achtet. Betreffs der allgemeinen Jodprophylaxe macht Verf. einige kluge Bemerkungen. 
Sie möchte für Deutschland, wo wohl Strumen, aber weniger endemischer Kretinismus 
drohen, die Joddarreichung erst im Schulalter beginnen (mit kleinsten innerlichen 
Jodmengen) und erwartet sich von einer allgemeinen Durchführung einer Jodprophylaxe 
weniger Jodschäden als wenn die mit Struma behafteten Patienten sich das als Kropf- 
heilmittel bekannte Jod wahllos aus der Apotheke beschaffen. Die Prophylaxe mit 
jodiertem Kochsalz findet sonderbarerweise in der Arbeit keine Erwähnung. 

Zappert (Wien). 

Nobel, Edmund, und Alexander Rosenblüth: Thyreoidinstudien an myxödematösen 
Kindern. II. Mitt. (Univ.-Kinderklin., Wien.) Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 38, H. 3, 
S. 254—265. 1924. 

Das Studium von 9 Mxyödemfällen sollte die Beantwortung folgender Fragen 
ermöglichen: Nach welcher Zeit tritt nach Verabfolgung einer wirksamen Thyreoidin- 
dosis eine Thyreoidinwirkung auf, wie äußert sich diese klinisch, wie lange besteht 
eine Nachwirkung nach Aussetzen des Thyreoidins, wie verhält sich der Grundumsatz, 
wie äußert sich die Hormonwirkung bei wechselnden Nährwertmengen und in welcher 
Weise ist das Präparat zu dosieren? Es erwies sich die Beobachtung der Nahrungs- 
quantität bei der Beurteilung der Grundumsatzwerte als sehr wichtig, denn in manchen 
Fällen steigt der Grundumsatz auch ohne Thyreoidin auf Erhöhung der Nahrungs- 
menge. Alle Myxödeme zeigen auf Thyreoidin prompte Steigerung des Grundumsatzes. 
Die Wirkung äußert sich bei großen Dosen schon nach 24—48 Stunden und dauert 
wochenlang an. 0,1 g des verwendeten Präparates (Sanabo) bewirkt, als Tagesdosis 
durch etwa 10 Tage gegeben, eine tägliche Grundumsatzsteigerung von 1— 2%, 0,2 g das 
Doppelte, 0,3 g das Dreifache. Pulsfrequenzerhöhung und Grundumsatzanstieg zeigen 
schöne Parallelität, während die Gewichtsabnahme kein so gutes Maß für die Grund- 
umsatzsteigerung bildet. Für die Einleitung einer Thyreoidinbehandlung, für die ersten 
Wochen, wird vorgeschlagen, das Thyreoidinum siccum nach dem Sitzhöhequadrat 
zu dosieren, und zwar 10 u gsq pro Tag (für jedes Quadratzentimeter des Sitzhöhe- 
quadrates 1/10000 8)- Neurath (Wien).°° 

Nobel, Edmund: Über kindliehes Myxödem. (Univ.-Kinderklin., Wien.) Wien. 
klin. Wochenschr. Jg. 37, Nr. 14, S. 333. 1924. 

Die ganz ungleichmäßige Wirksamkeit der Thyreoidinpräparate, die Verschieden- 
artigkeit ihrer Dosierung erfordert bei der Dringlichkeit der Behandlung des kind- 
lichen Myxödems eine genaue Revision der Auswertung des Thyreoidins. Die bisher 
übliche Methodik, der Froschlarvenversuch, kann nur zu bestimmten Jahreszeiten 


Zeitschrift für Kinderforschung. 30, Ref. 10 


— 146 — 


vorgenommen werden. Es wäre wünschenswert, statt dieser Art der Auswertung 
eine klinische Dosierung und Prüfung des Mittels einzuführen, am besten beim myxödem- 
kranken Kinde, wobei mit Zuhilfenahme der Grundumsatzbestimmung und entspre- 
chend großen Dosen innerhalb 2 oder 3 Tagen ein verläßliches Urteil über die Zuver- 
läßlichkeit des Präparates abgegeben werden könnte. Der trostlose Zustand nachunter- 
suchter Myxödemfälle beansprucht die werktätige Mithilfe der Fürsorge und die Unter- 
stützung der obersten Sanitätsbehörden. Myxödemkranke Kinder wären sofort nach 
festgestellter Diagnose, womöglich von der Säuglingszeit an, weit über das Kindesalter 
hinaus, etwa bis zur erlangten Großjährigkeit, von einer maßgebenden Stelle aus evident 
zu führen. Für die dauernde Kontrolle und zielbewußte Behandlung wäre diese Stelle 
verantwortlich zu machen. Da der Staat nicht nur für die geistige Erziehung normal 
entwickelter Kinder, sondern auch für die Entwicklung abnormer Kinder verant- 
wortlich zu machen ist, wäre auf gesetzlichem Wege dafür Sorge zu tragen, daß die Be- 
handlung der in Rede stehenden Kranken, bei etwaiger Indolenz der Angehörigen. 
tatsächlich fruchtbringend durchgeführt werde. E. Nobel (Wien). 

Weber, Richard: Die Verbreitung der endemischen Kropfkrankheit unter den 
Sehulkindern des hinteren Wiesentals. Sozialhyg. Mitt. Jg. 8, H. 3, S. 43—45. 1924. 

In einem ländlichen Distrikt waren unter 1357 Schulkindern nahezu alle mit mehr 
oder weniger großen Strumen behaftet. Hierbei zeigte sich, daß beim Älterwerden 
der Kinder auch die Größe der Struma zunimmt, so daß die niederen Größen bei älteren 
Kindern nur selten mehr vorkommen. Daß bei Mädchen Häufigkeit und Intensität 
des Kropfes stärker sind als bei Knaben, geht aus den Tabellen des Verf. deutlich hervor. 
Verf. hat durch Darreichung von Kropftabletten (2 mg Jodkali) begonnen, die Strumen- 
neigung zu bekämpfen und läßt durch den Lehrer wöchentlich eine Tablette verab- 
folgen. Die Behandlung findet bei der Bevölkerung, welche stark unter Kropfbeschwer- 
den leidet, großes Entgegenkommmen. (Es geht aus der vorliegenden Mitteilung leider 
nicht hervor, aus welcher Gegend sie stammt. Von den erwähnten Ortsnamen findet 
sich Wiesental 9 mal, Waldkirch 5 mal, Zell 6 mal und Schönau 53 mal in deutschen 
und österreichischen Ländern. Ref.) Zappert (Wien). 

Me Graw jr., Theodore A.: Clinieal experiences in organotherapy with speeisl 
reference to the stimulation of body growth. (Klinische Erfahrungen mit Organo- 
therapie unter besonderer Berücksichtigung der Beförderung des Körperwachstums.) 
Endocrinology Bd. 8, Nr. 2, S. 196—234. 1924. 

Im wesentlichen kasuistische Arbeit, welche die verschiedenen Formen der kind- 
lichen Wachstumsverzögerung illustriert und ihre Behandlung mit Hypophysen-. 
Thyreoid- und Ovarienextrakt bespricht. Die Arbeit bringt dem deutschen Leser 
nichts Neues. Von Einzelheiten sei hervorgehoben, daß Verf. wiederholt ein Fort- 
schreiten des durch die Behandlung erzielten Wachstums sah, trotzdem die Organo- 
therapie ausgesetzt wurde. Ferner wurde nach Entfernung adenoider Vegetationen 
eine — auch schon von anderen Autoren beobachtete — Entwicklung der bisher ver- 
zögerten sexuellen Entwicklung gesehen. Vielleicht ist dies durch mechanische £in- 
wirkung auf die Rachenhypophyse zu erklären. Wiederholt war in der Anamnese 
Scharlachfieber oder eine andere Infektionskrankheit vorhanden. Am Schluß der mit 
guten Abbildungen ausgestatteten Arbeit beschwert sich Verf., daß die Organotherapie 
oft viel zu schematisch gehandhabt werde, was zum großen Teil durch die massenhaft 
von den Fabrikanten auf den Markt gebrachten und entsprechend angepriesenen 
fertigen Organpräparate verschuldet sei. Die Verwendung eines möglichst frischen 
und möglichst einfach — unter Schonung der Lipoide — hergestellten Präparate: 
sei anzuraten. Die pluriglandulären Präparate der Versandhäuser sind zu meiden. 
In der Regel würden zu große Dosen Thyreoidea, dagegen zu kleine Dosen der anderen 
Drüsen verordnet. Nach 3wöchiger ununterbrochener Darreichung eines Präparst® 
solle man jedesmal eine Woche pausieren und die Hoffnung nicht cher aufgeben, ehe 
man ca. 3 Monate lang ein Präparat verabreicht habe. Paul Schuster (Berlin)., 





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@ Finkelstein, H.: Lehrbuch der Säuglingskrankheiten. 3. vollst. umgearb. Aufl. 
Berlin: Julius Springer 1924. XV, 898 S. Geb. G.-M. 38.—. 

Finkelsteins „Säuglingskrankheiten‘“ sind ein Monumentalwerk der deutschen 
Pädiatrie. Erweckte schon die erste Auflage im Jahre 1905 allgemeines Interesse und 
ungeteilte Anerkennung, so haben die zweite (1921) und die rasch notwendige dritte 
Auflage des Werkes den Dank der Kinderärzte für die ihnen gebotene Führung und Be- 
lehrung noch beträchtlich verstärkt. Was das Buch besonders auszeichnet, ist — 
abgesehen von einer bis zu Diskussionsbemerkungen sich erstreckenden Verwertung 
der immensen Literatur — die außerordentliche Klarheit und Ruhe der Darstellung. 
Man gewinnt den Eindruck, als ob die Dinge alle einfach und selbstverständlich 
wären und vergißt, welche Erfahrung, welche Überlegung, welche Belesenheit und 
welche Beherrschung der Form dazu gehört, um diesen Eindruck hervorzurufen. Die 
Art, wie F. in jedem einzelnen Abschnitte die Darstellung auf den allgemeinen An- 
sichten und Erfahrungen aufbaut, seine eigenen Meinungen entwickelt und durch 
präzise Beispiele belegt, ist geradezu vorbildlich für eine Lehr- und Handbucharbeit. 
Dabei enthalten manche Abschnitte — es sei nur jene über Meningitis serosa hervor- 
gehoben — so viel Neues und Wertvolles, daß sie in jeder neuen Nummer einer Kinder- 
heilzeitschrift Platz finden könnten. Begreiflicherweise erweckt die Vortrefflichkeit 
des Gebotenen den Wunsch nach mehr. Namentlich der ‚„Kinderforscher‘‘, dessen 
Interesse eher auf die Übergänge zwischen Normalem und Abnormalen als auf das 
ausgesprochen Krankhafte gerichtet ist, hätte gerne über manche Anomalien des 
Säuglingsalters, so über die Erkennung von Schwachsinnsformen, über neuropathische 
Konstitution, über Schlafstörungen, über Rachitis mehr erfahren als der Verf. in vor- 
liegender Auflage zu bieten geneigt ist. Verf. entschuldigt sich selbst in der Vorrede 
mit fehlender „körperlicher und seelischer Sammlung‘‘, wie sie derzeit durch die ärzt- 
lichen Großstadtverhältnisse gegeben sind. So wenig man ein Nachlassen der Kräfte 
aus vorliegendem und anderen Werken des Verf. erkennen mag, so vereinigen sich 
doch alle Verehrer desselben — und dazu gehören wohl alle jüngeren und älteren 
Pädiater — in dem Wunsche, daß F. noch lange und ungeschwächt sein tiefes Wissen 
und sein klares Denken der von ihm so mächtig geförderten wissenschaftlichen Kinder- 
kunde zur Verfügung stellen möge. Zappert (Wien). 

Auricehio, Luigi: Un caso di emofilia in bambina lattante. (Ein Fall von Hämophilie 
beim Säugling.) (Istit. di clin. pediatr., uniw., Napoli.) Pediatria Bd. 31, Nr. 10, 
S. 532—536. 1923. 

Das Vorkommen echter Hämophilie beim weiblichen Geschlecht wird von vielen 
Seiten angezweifelt. Der mitgeteilte Fall betraf einen 7 monatigen weiblichen Säugling, 
ohne nachweisbare hämophile Ascendenz. Öfters spontane Hautblutungen. Im 
5. Monat ein Hämatom der rechten Wange, später am linken Ohr. Die Untersuchung 
ergab eine deutliche Verzögerung der Blutgerinnung; daß diese und nicht eine abnorme 
Gefäßwandresistenz die Ursache war, ergab die Erfolglosigkeit venöser Stauungs- 
versuche. WaR. beim Kinde negativ, bei den Eltern positiv. Neurath (Wien). 

Zanker, Arthur: Suggestivtherapie des Keuchhustens. (Mauiner- Markhofsches 
Kinderspit., Wien.) Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 106, 3. Folge: Bd. 56, H.4, 8.195 
bis 202. 1924. 

Es wird der Versuch gemacht, durch Unterdrückung des Hustens bei der Pertussis 
mit Hilfe einer besonderen Form von kombinierter Anwendung einer Suggestiv- 
methode den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen. Zunächst werden einige 
sehr schmerzhafte Äther-Campherinjektionen intramuskulär an dem keuchhusten- 
kranken Kinde vorgenommen. Nach der wiederholten Injektion (,Drohinjektion‘“), 
die natürlich sehr heftige Abwehr erzeugt, wird- gemahnt, es dürfe jetzt nicht mehr 
gehustet werden, sonst müsse wieder gespritzt werden. Zanker weist 5 Kranken- 
geschichten vor, in denen ein rasches Abfallen der Hustenanfälle und eine baldige 
Besserung des Lungenbefundes verzeichnet werden konnte. Verf. bemüht sich, die 


10* 


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Wirkung ausschließlich dem psychischen Faktor zuzuweisen. Natürlich hat die Kur 
bei den geweckten und ängstlichen Kindern den raschesten Erfolg. Ref. möchte zu er- 
wägen geben, ob nicht der Nachweis einer ganz erheblichen, sicheren und für alle 
Fälle gültigen organischen Besserung und Herabsetzung der Gefahrenquote not 
wendig ist, damit der Nutzen des Verfahrens die Quälerei der kleinen Kranken und 
ihre Abschreckung vor jeder künftigen ärztlichen Maßnahme aufwiegen kann. 

‚ E. Feuchtwanger (München). 

Helmreich, Egon, und Edmund Nobel: Zur Kenntnis der Appetitstörungen im 
Kindesalter. (Kinderklin., Univ. Wien.) Zeitschr. f. Kinderheilk. Bd. 36, H. 4,5. 
S. 164—181. 1923. 

Nach einer Angabe der Oberschwester Panzer werden auf der Kinderklinik Pirquet: 
in die Kurven des Gewichts, der Temperatur, der Nahrungsaufnahme usw. auch Aufzeich- 
nungen über den Appetit der Kinder eingetragen, die verschiedene graduelle Abstufungen 
aufweisen. An einer größeren Anzahl von Krankheiten namentlich des Säuglingsalters wird 
in vorliegender Arbeit der Nachweis zu erbringen versucht, wie sich der Appetit bei ihnen 
verhält bzw. wie die Prognose und der Verlauf der Krankheit durch das Verhalten des Appetite 
beeinflußt werden können. Manchmal, z. B. bei versteckten Lungenentzündungen von Säug- 
lingen, kann eine rasch auftretende Appetitverschlechterung diagnostische Bedeutung er- 
langen. Eine Reihe von Tabellen illustrieren die dargelegten Verhältnisse. Zappert. 

Gartje, E.: Über Überempfindlichkeit bei konstitutionellem Ekzem der Kinder. 
(Kinderklin., Lettländ. Univ. Riga.) Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 26, H.1, 8.57 
bis 64. 1923. 

Die Fragestellung bei vorliegender Arbeit war die, ob Kinder mit konstitutionellem 
Ekzem gegen Einspritzungen von Fett- oder Eiweißlösungen überempfindlich seien, 
d. h. ob sie Lokalreaktionen der Haut geben, welche bei Kontrollfällen ausbleiben. 
Tatsächlich erfolgte nun bei bestimmten Ekzemkindern, und zwar bei mageren mit 
trockenem Hautausschlage nach Buttereinspritzung eine heftige Hautreaktion, wät- 
rend andere Kinder nach der Injektion ohne bedeutende Hautveränderung blieben 
Es dürfte sich bei dieser Kindern um eine angeborene, also wirklich konstitutionelle 
Überempfindlichkeit gegen Milchfett handeln, wie sich dies ja auch aus Ernährung- 
versuchen ergibt. Nicht reagiert haben einige Ekzemkinder, bei denen Umstände 
vorhanden waren, welche einen äußeren Anlaß der Hauterkrankung vermuten ließen. 
Die Fetteinspritzungsversuche sind vielleicht auch von heilendem Wert, da bei Wieder- 
holungen die Reaktionen an Intensität abnahmen und das Ekzem sich besserte. 

Zappert (Wien). 

© Degkwitz, Rudolf: Die Masernprophylaxe und ihre Technik. Zum Gebraucht 

für Krankenhäuser, Fürsorge-, Schul- und praktische Ärzte gemeins. m. d. Auter 
bearb. v. Bernhard de Rudder. Berlin: Julius Springer 1923. 36 S. G.-M. 0.%. 

Die Masern gelten gemeinhin für harmlos, ungefährlich. Das ist ein schwerer 
Irrtum. Ungefährlich sind sie nur für ältere Kinder, vom 5. oder 6. Lebensjahre auf- 
wärts. Für Säuglinge und Kleinkinder, für Kinder mit englischer Krankheit oder Tuber- 
kulose bedeuten die Masern eine ernste Lebensgefahr. Jährlich sterben in Deutschland 
40—50 000 Kinder an Masern, wovon 90%, auf das Säuglings- und Kleinkinderalter 
entfallen. Degkwitz ist es gelungen — und dies Ergebnis ist ein Ruhmeshlatt der 
deutschen Forschung —, aus dem Blut von Kindern, die eben Masern überstanden 
haben, ein Schutzmittel gegen Masern herzustellen, das sich bereits in 
vielen tausenden von Fällen prompt bewährt hat. Dies ‚„Rekonvaleszenten- 
serum‘“ ist bei rechtzeitiger Anwendung regelmäßig imstande, den Ausbruch der 
Masern zu verhüten, oder bei verzögerter Anwendung, den Masernverlauf milde und 
harmlos zu gestalten. Die Masernepidemien nehmen ihren Ausgang häufig von Kinder- 
anstalten, besonders Krippen und Kindergärten. Überhaupt ist überall da, wo cise 
Anhäufung von Kindern statthat, die Gefahr von Epidemien gegeben, die sich dam 
nicht nur auf den Kreis der Kinder beschränken, sondern von diesen auf die Haus- 
genossen und von diesen wieder immer weiter übertragen werden. Die Ausbreitung 
der Masern erfolgt so schnell, weil die Masern bereits 5 Tage vor Auftreten des Aus 





— 149 — 


schlages, bevor noch eindeutige Krankheitszeichen da sind, ansteckend wirken. Degk- 
witz- Rudder fordern die Einrichtung von Zentralstellen in den Gemeinden, wo dies 
Rekonvaleszentenserum, in selbstverständlich völlig gefahrloser Weise für die Blut- 
spender, gewonnen wird. Sie fordern weiter, daß alle maserngefährdeten Kinder, 
also alle Kinder bis zum 5. Lebensjahre sowie alle rachitischen und tuberkulösen Kinder 
gegebenenfalls mit dem Masernserum behandelt werden. G. Tugendreich (Berlin). 

© Weber, L. W.: Neurosen. — Naegeli, 0.: Unfallsneurosen. 2. Aufl. (Diagno- 
stische und therapeutische Irrtümer und deren Verhütung. Innere Medizin. Hrsg. v. 
J. Schwalbe. H. 3.) Leipzig: Georg Thieme 1923. 79 S. G.-M. 1.50. 

Das ‚„Neurosen“heft der bekannten Sammlung enthält zunächst eine Abhandlung 
Webers über die Neurosen mit Ausnahme der Neurasthenie und Hysterie und der 
im 2. Teile des Heftes dargestellten Unfallneurosen. Der breiteste Raum ist der Epilepsie 
gewidmet, deren Abgrenzung gegenüber anderen ähnlichen Erkrankungen in klarer Weise 
nach allen Richtungen besprochen ist. Zweifellos ist es zuweit gegangen, wenn Verf. 
die echte Epilepsie „gewöhnlich“ in der Pubertät beginnen läßt, mindestens 50% beginnen 
früher. Es folgen Kapitel über Muskelkrämpfe, chronische Bewegungsstörungen, Organ- 
neurosen, Neuralgien, Kopfschmerzen und überallgemeine Neurosenbehandlung, dieeinen 
guten Überblick über den heutigen Stand der Diagnostik und Therapie gewähren. 
Im 2. Teil wird in außerordentlich einleuchtenden Darlegungen von Naegeli das Gebiet 
der Unfallneurosen kritisch durchmustert. Er will strenge Scheidung der Unfall- 
neurosen in Kommotionsneurosen mit organischen Veränderungen, Schreckneurosen 
und Hysteriephasen, die bei Unversicherten durchgehends in ganz kurzer Zeit ab- 
heilen, und die eigentlichen Unfallneurosen, die er als Kunstprodukte der Gesetz- 
gebung und der menschlichen Begehrlichkeit bezeichnet. Er warnt eindringlich davor, 
geringfügige Beschwerden sogleich als Unfallneurosen zu bezeichnen. An Stelle der 
Rente müßte allgemein die einmalige Kapitalabfindung treten. Gerade diesem Teil 
des für praktische Ärzte gedachten Büchleins möchte man weiteste Verbreitung auch 
in Laienkreisen wünschen. Villinger (Tübingen). 


Normale Pädagogik : 


Czerny, Ad.: Erziehungsiragen der Gegenwart, zu denen der Arzt Stellung nehmen 
muß. Fortschr. d. Med. Jg. 41, Nr. 11/12, S. 173—175. 1923. 

Es ist nach Ansicht des Verf. Sache des Arztes, sich mit der Kindererziehung zu 
beschäftigen und Einfluß auf sie auszuüben, da sie gewissermaßen die Hygiene des 
Nervensystems darstellt. Die Wichtigkeit dieser Frage tritt gegenwärtig mit der 
Zunahme der kindlichen Nervosität besonders in den Vordergrund. Im Gegensatz 
zum normalen Kind, das fast bei jeder Erziehung gedeiht, reagiert ein psychisch ab- 
normes Kind empfindlich auf falsche Erziehung und ungünstiges Milieu, wie es in 
unserer Zeit durch das Anwachsen der Großstädte, die Beschränkung der Kinderzahl, 
das Loslösen von der Religion und Familientradition und der Sucht nach Erziehungs- 
reformen dargeboten wird, und wird zu einer chronisch leidenden oder asozialen Per- 
sönlichkeit. Eine ganz besondere Gefahr liegt in der heute oft üblichen verfrühten 
Erteilung des Selbstbestimmungsrechtes an die Kinder. Eine erfolgversprechende 
Behandlung muß möglichst in den ersten Lebensjahren einsetzen und besteht in Be- 
lehrung der Eltern oder Entfernung aus dem häuslichen Milieu. Verf. tritt für eine 
vernünftige Handhabung von Belohnung und Strafe, evtl. auch körperlicher, ein und 
sieht die wichtigsten Erziehungsmittel in einer geeigneten Beschäftigung, Tummeln 
im Freien und einem dem Intelligenzgrad der Kinder angepaßten Schulunterricht. 

Erna Lyon (Berlin-Wilhelmshagen). 
© Kossel, H., und Moses: Geteilte oder ungeteilte Unterrichtszeit? (Sozialhyg. 
Abh. Hrsg. v. A. Fiseher. Nr. 6.) Karlsruhe i. B.: C. F. Müller 1923. 17 S. G.-M. 0.50. 

Auf Veranlassung eines Antrags der Lehrerschaft einer südbadischen Stadt hatte 

die Schulkommission dieser Stadt die Badische Gesellschaft für Hygiene um ein Gut- 


— 10 — 


achten über diese Frage gebeten. Das Heft gibt einen Bericht über die Sitzung des 
großen Ausschusses der Gesellschaft mit den Referaten der beiden Redner und der 
Aussprache. Im ganzen sprach sich die Versammlung für die ungeteilte Unter- 
richtszeit aus, wenn auch sie unter den Einflüssen der Kriegs- und Nachkriegszeits- 
zustände gesundheitliche Schädigungen mit sich bringen kann. Örtliche Verhältnisse 
werden bei der Entscheidung zu berücksichtigen sein, zumal ja an der Frage auch 
andere als hygienische Interessen zu beachten sind. Als besonders treffend wird das 
Wort des Dr. Moses hervorgehoben: das Frühstück sei der Angelpunkt des Problems. 
Nachdem die ungeteilte Unterrichtszeit im wesentlichen sich durchgesetzt hat, wird 
der nächste Schritt die sorgfältigste Beachtung des Frühstücks der Kinder vor Beginn 
und während des Schulvormittags sein müssen. Pflegen doch gerade die leicht erschöpf- 
baren Kinder auch die zu sein, die aus Schulangst ihr Frühstück zu Hause nicht essen. 
oder die übererregten, die es ungegessen wieder mit nach Hause bringen. Die Über- 
wachung des Frühstücks sollte zu den pflichtmäßigen Aufgaben der Schule gehören 
und nicht dem Belieben der Kinder überlassen bleiben. Nohl (Göttingen). 

Day, John A.: The ease for eo-edueation in the school life of boys and girls.. (Über 
Koedukation im Schulleben von Knaben und Mädchen.) Child Bd. 14, Nr. 1, S.: 
bis 11. 1923. 

Der Erfolg der Koedukation im Schulheim hängt vollständig ab vom Leiter. 
seinem Ton, Beispiel und Einfluß. Wo der richtige Mann am Posten ist, da bietet die 
Koedukationsschule die beste, weil völlig freie Erziehung. Ihr entscheidender Unter- 
schied gegenüber einer gewöhnlichen Schule liegt in der Atmosphäre, sie hat mehr von 
einem Heim und weniger von einer Schule und bei gemeinsamer Arbeit, Leben und 
Spiel lernen sich Knaben und Mädchen als Partner kennen, statt sich, wie früher. 
fremd zu bleiben. Und gegenüber der Behauptung, daß nur die alte Schule das Monopol 
in der Aufzucht von Wissenschaftlern, Sportsmännern und Männern der Verwaltung 
habe, nennt der Verf. eine Anzahl bekannter Persönlichkeiten Englands, die ein 
Keedukationsschule besuchten und trotzdem ihren Mann standen. Nohl (Göttingen). 

Klüver, Heinrich: Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr. Zeitschr. í. 
pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, Nr. 7/8, S. 215—219. 1923. 

In 2 Schulen in Altona, einer Knaben- und einer Mädchenschule werden die 
Schüler nach ihrer Begabung in 3 Züge geteilt und getrennt unterrichtet. A-Zue 
begabte, B-Zug mittelbegabte, C-Zug schwachbegabte Schüler. Nach Ablauf des 
1. Schuljahres wurden die Kinder mit einer Testserie geprüft. Die Prüfung des einzelnen 
Kindes dauerte ca. ®/, Stunde. Es ergab sich, daß die mit psychologischer Method 
vorgenommene Begabungsdifferenzierung nicht erheblich von der durch die Lehrer 
angestellten Differenzierung abwich. Bei den Mädchen war die Übereinstimmung 
besser als bei den Knaben. Bei der Besprechung der einzelnen Fälle, in denen sich 
Abweichungen ergeben hatten, stellte sich heraus, daß in der Mehrzahl das Urteil des 
Lehrers mit dem des Psychologen bezüglich der Intelligenz übereinstimmte, und dab 
für die andersartige Bewertung andere Faktoren, zum Teil äußerer Natur, maßgebend 
waren. Kramer (Berlin).”“ 

© Stedman, Lulu M.: Education of gifted children. (Measurement and adjustmen! 
series. Edit. by Lewis M. Terman.) (Die Erziehung begabter Kinder.) New York: 
World book comp. C. W. Hodgson 1924. VIII, 192 S. 

Verf. hat die Begabtenklasse an der Übungsschule der Universität 1918 eingerichtet 
und führt sie seitdem. Die dabei gewonnenen reichen Erfahrungen sind in dem Buche 
niedergelegt. Tabellarische Übersichten wechseln mit eingehenden lebendigen Schilde- 
rungen einzelner Beispiele, so daß man ein gutes Bild von den erreichten Erfolgen 
gewinnt. Einzelsondererziehung scheint danach bei Begabten in den ersten Jahren 
günstig auf Reichtum und Weite der Kenntnisse zu wirken, so daß bei Schuleinrritt 
in 9. bis 10. Jahre auf der Stufe des 6. bis 7. Schuljahres weitergearbeitet werden kann. 
In den mehr mechanischen Fächern fehlt es dabei manchmal, da sie leicht im häus- 


— 151 — 


lichen Unterricht zu kurz kommen und auch den Begabten, soweit sie nicht direkt 
mathematisch talentiert sind, weniger liegen. Im allgemeinen zeigt sich die besondere 
Befähigung am stärksten in Naturgeschichte, Literatur, Kunst und Aufsatz. Um 
die mechanischen Fähigkeiten zu bilden, erwiesen sich am geeignetsten Spiele oder 
Tätigkeiten, die die Erfindungsgabe anregten und wach hielten. Als recht wichtig 
für Art und Schnelligkeit der Entwicklung wurde auch das Niveau der häuslichen 
Umgebung erkannt. Möglichste Berücksichtigung individueller Befähigungen ist an- 
gezeigt. Doch soll ein reiches allgemeines Wissen geboten werden, dessen Lehrplan 
Verf. besonders am Herzen liegt. Um das Schulziel zu erreichen, genügen im all- 
gemeinen 6—7 Jahre. Verf. warnt aber vor zu frühzeitigem Abgang zur Universität. 
Versetzen unter ältere Kameraden unter Überspringen einzelner Schulklassen wirkt 
meist charakterologisch ungünstig. Dem hilft die Begabtenklasse ab, mit deren Er- 
folgen Verf. im ganzen recht zufrieden ist. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Frage 
der Begabtenschulen und daher allen auf diesem Gebiet Interessierten zu empfehlen. 
Reiß (Dresden). 

Feingold, Gustave A.: Correlation between intelligence and scholarship. (Kor- 
relation zwischen Intelligenz und Schulleistung.) (Public high school, Hartford, Conn.) 
School review Bd. 32, Nr. 6, S. 455—467. 1924. 

Behandelt die Frage, wie die Schulleistungen zensiert werden sollen, um mit den 
Ergebnissen einer Intelligenzprüfung möglichst gut übereinzustimmen. Korrelationsbe- 
rechnungen zeigen, daß diese Übereinstimmung von der Art der Zensierung und den 
bei ihr mitspielenden Faktoren stark beeinflußt wird. Empfehlenswert erscheint es, 
die Zensuren für die Leistungen während des Schuljahres mit denen für die Leistungen 
in der Schlußprüfung in einem bestimmten Verhältnisse zu kombinieren, um möglichst 
hohe Korrelationen mit dem Ergebnis der Intelligenzprüfung zu erzielen. 

Bobertag (Berlin). 
© Stählin, Otto: Zwang und Freiheit in der Erziehung. 3., dureh einen Anhang 
über neue Schulversuche Deutsehlands und des Auslands verm. Aufl. München: Verl. 
d. Ärztl. Rundschau Otto Gmelin 1924. 61 S. G.-M. 1.50. 

Die kleine Schrift des Erlanger Ordinarius für klassische Philologie und Gymnasial- 
pädagogik versucht zwischen den Forderungen der Jugendbewegung und der Autoritäts- 
pädagogik der älteren Generation einen Ausgleich zu finden. „Falsch ist die Grund- 
auffassung, daß der junge Mensch sich von selbst zu allem Guten entwickeln würde, 
wenn er ungehemmt und frei von allem Zwang seine Anlagen entfalten könnte.‘ ,Da- 
gegen ist richtig die Warnung vor jedem Zwang, dessen Ziel nicht die Freiheit ist, vor 
Jeder Art von Erziehung, die in dem heranwachsenden Kind und Jüngling nicht ein 
selbständiges Leben von berechtigter Eigenart und eigengesetzlicher Entwicklung 
achtet.‘ Nohl (Göttingen). 

@ Foerster, Fr. W.: Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel. Zürich, München 
u. Leipzig: Rotapfel-Verlag 1923. 424 S. 

Das Buch bringt die Auseinandersetzung der Autoritätspädagogik Försters 
mit dem Selbsterziehungsgedanken der Jugendbewegung, und ist darum für alle, die 
in diesem Gegensatz das entscheidende Problem der Charakterbildung unserer Zeit 
sehen, von größtem Interesse. F. gibt als Unterlage für diese Auseinandersetzung 
eine eingehende Darstellung der Bewegung in ihren verschiedenen Formen, mit Liebe 
und tiefem Blick für Stärke und Schwäche dieser Jugend, eine Darstellung, die in 
der Gegenüberstellung von freideutschem Suchen und katholischer Autorität gipfelt. 
Was hier bereits überall als Kritik sichtbar wurde, faßt er dann in den Schlußkapiteln 
als „Zielsetzungen“ für diese neue Jugend zusammen, ein ‚„ethisches, soziales, poli- 
tisches und religiöses Programm‘. Er wiederholt da im wesentlichen Gedanken, die 
in seinem Buche „Erziehung und Selbsterziehung‘‘ und anderen bereits vorliegen, 
immer charaktervoll, plastisch und seelenführerisch, aber gegen den Schluß — die ganze 
Kriegsschuldfrage wird noch einmal aufgerollt — versandend durch eine zu große Breite 


— 152 — 


und falsche Übersteigerung der Selbsterkenntnisforderung — falsch, weil sie die all- 
gemeine sittliche Übernahme der Schuld, als Bedingung der Erneuerung, verwechselt 
mit einer Anerkennung der spezifisch deutschen Schuld, die eine Unwahrheit wäre. 
Aber abgesehen von diesem quälenden sittlichen Mißverständnis F.s, das nun bereits 
auch hinter der wachsenden Einsicht unserer Feinde zurückbleibt, wird die synthetische 
Energie dieses Buches in die Entwicklung der neuen Generation miteinzugreifen 
vermögen. Nohl (Göttingen). 

© Messer, A.: Die freideutsche Jugendbewegung. (Ihr Verlauf von 1913—1923.) 
5. erw. Aufl. (Philosophisehe u. pädagog. Schriften. Hrsg. v. A. Messer. H. 1.) Fried- 
rieh Manns pädag. Magaz. H.597.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1924. 
179 S. G.-M. 3.20. 

Das bekannte Buch gibt neben dem von Theo Herrle und Otto Stählın die 
beste Darstellung der Jugendbewegung in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Sie ist 
jetzt fortgeführt bis zur Meißner Tagung von 1923. Nohl (Göttingen). 

© Eberhard, Otto: Wie lassen sich die modernen pädagogischen Bestrebungen 
für die evangelische Erziehungssehule fruchtbar machen? (Friedrich Manns pädag. Mag. 
H. 953. Abh. zur Pflege evang. Erziehungs- und Unterrichtslehre. Hrsg. v. D. Bach- 
mann. H. 6.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1923. 71 S. G.-M. 1.—. 

Die Arbeit ist vom Evangelischen Preßverband mit dem ersten Preise gekrönt 
worden, hat also eine gewisse Autorität. Der Verf., Schulrat und Studiendirektor am 
Lehrerseminar und der Aufbauschule in Greiz hat kürzlich auch ein Sammelwerk 
über ‚arbeitsschulmäßigen Religionsunterricht‘“ herausgegeben. 

In 3 Abschnitten: „Pädagogik vom Kinde aus‘, „Pädagogik von den Kulturgütern aus“ 
und „Pädagogik vom Zweck des Lebens aus“ sucht er geschickt den großen alten Besitz der 
religiösen Erziehung mit den neuen pädagogischen Forderungen auseinanderzusetzen. Ver- 
langt er mit der neuen Psychologie „keine Verfrühung‘‘, so heißt es im 2. Abschnitt doch 
„der sittlich-religiöse Kern des Evangeliums bleibt völlig unberührt von den psychologischen 
Rücksichten und das Erziehungsziel des Christentums wird durch keine Kinderpsychologie 
bestimmt oder abgewandelt‘“. „Kein Winkelmaß des Verstandes kann je seine ewigkeits- 
weiten Offenbarungslinien ausmessen oder seine ‚Wunder‘berichte und Heilstatsachen ver- 
biegen.“ Von hieraus fordert er, daß die „glaubenseinige Gesinnungsschule ihren Lebenstypus 
nach allen Richtungen des Schullebens herausarbeitet, eine Einheitlichkeit der Weltanschau- 
ungsrichtung, die alle Schulpersonen, alle Kulturinhalte, alle Erziehungsmaßnahmen und alle 
Bildungsaufgaben einbezieht‘. In dem 3. Abschnitt werden dann die wichtigsten Begriffe 
der neuen Pädagogik Arbeit, Gemeinschaft, Spontaneität, Dienst am Leben für diese religiöse 
Schule besprochen, der einseitigen Betonung der Arbeit, der Spontaneität und des Schaffens 
aber mit Förster auch die Kultur des fruchtbaren Schweigens und des „Inwendiglernens‘“ 
gegenübergestellt und die wesentlichen Einsichten bereits bei Wichern gefunden. So wünscht 
er sich zum Schluß für die Zukunft „evangelische Versuchsschulen‘‘, die solche Auseinander- 
setzung realisieren, und erhofft eine Zeit, wo die Preisfrage einmal umgekehrt gestellt werden 
kann zur Förderung der neuzeitlichen Kulturschule. 

P. Backhausen spricht einmal davon, daß es im 19. Jahrhundert bei uns zwei 
verschiedene Ströme von Pädagogik gebe, die humanistische und die religiöse, die 
unabhängig voneinander ihren Lauf nehmen. Der Verf. gehört ganz der religiösen 
Pädagogik an, der Reiz seiner Arbeit ist, daß in ihr der Versuch gemacht wird, die 
Einheit dieses doppelten Lebens sichtbar zu machen. Nohl (Göttingen). 

© Saupe, Emil: Deutsche Pädagogen der Neuzeit. Ein Beitrag zur Gesehichte 
der Erziehungswissenschalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 2. Aufl. Osterwieck 
a. Harz: A. W. Zickfeldt 1924. 226 S. G.-M. 3.60. 

Von 24 neueren Pädagogen: Barth, Budde, Förster, Gansberg, Gaudig. 
Kabisch, Kerschensteiner, Lay, Lehmann, Messer, Neumann, Natorp. 
Oestreich, Otto, Paulsen, Rein, Rissmann, von Sallwürk, Scharrelmann, 
Seyfert, Spranger, Stern, Willmann, Wundt werden die Hauptgedanken 
ihrer Erziehungslehre kurz dargestellt. So erhält der Leser ein Bild der wichtigsten 
erziehungswissenschaftlichen Strömungen, von Förster und Paulsen bis zu Oest- 
reich. Ein Anhang gibt eine kurze Darstellung des Lebens und der Schriften der 
Männer. NoAl (Berlin). 


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© Schumacher, Henny: Friedrieh Fröbels Ideen im Liehte der Gegenwart. (Die 
Lebenssehule. Sehriftenfolge des Bundes entsehiedener Scehulreformer. Hrsg. v. Franz 
Hilker. H. 13.) Berlin: C. A. Schwetschke & Sohn 1923. 38 S. G.-M. —.50. 

Die Verf. sucht die wichtigsten Gedanken Fröbels, die in seinen Schriften infolge 
seiner Unwissenschaftlichkeit und romantischen Einstellung überwuchert werden von 
heute ungenießbaren Darlegungen, kurz und klar darzustellen. Sie zeigt, daß Fröbel 
auch der heutigen Zeit noch vieles zu bieten hat und nicht hinter Maria Montessori 
zurückzustehen braucht. Sie macht dann in einem Anhang Vorschläge zu einer Neu- 
gestaltung der „kleinkindlichen Erziehung“. Lotte Nohl (Berlin). 

© Rosenthal, Josef: Dr. Koschs Waisenerziehungsanstalt zu Königsberg i. Pr. 
1874—1924. Geschichte der Anstalt bearbeitet und herausgegeben. Königsberg i. Pr.: 
Emil Masuhr 1924. 29 S. G.-M. 3.—. 

Die Waisenerziehungsanstalt wurde im Jahre 1872 laut Testament des politisch 
und sozial vielfach hervorgetretenen Dr. Kosch errichtet. Sie ist eine Stiftung, die zu- 
nächst noch ohne eigenes Haus der Unterbringung und Erziehung bedürftiger jüdischer 
Waisenkinder diente. In gut ausgewählten Pflegefamilien wurden sie in Handwerk 
oder in häuslicher Arbeit ausgebildet; auch Besuch höherer Schulen wurde einigen Be- 
gabten gewährt. Während 19 Jahren (1902—1921) konnte die Stiftung in eigenem 
Hause Kinder erziehen, mußte dies jedoch mit der hereinbrechenden Geldnot in Deutsch- 
land wieder aufgeben. Die Wohltat der Erziehung für arme Kinder in Familien 
kann jedoch fortbestehen, wie in dem Heft anschaulich geschildert wird. Mende. 

© Stieglitz, Hans: Gedanken zur Grundlegung eines Landeslehrplanes. München: 
R. Oldenburg 1924. 92 S. u. 2 Taf. G.-M. 1.60. 

Daß Stieglitz kein Reformer ist, daß er sich meist im bisherigen Rahmen bewegt, 
hätte weiter nichts zu bedeuten, wenn er nur die richtunggebenden uad bahnweisenden 
Grundsätze scharf und bestimmt herausgestellt und abgegrenzt hätte. Jede Aufgabe 
und jeder Satz eines Lehrplans muß auf eine Absicht, auf einen grundsätzlichen Ge- 
danken zurückführbar sein, damit eine zielbewußte Schule entsteht; ein jedes schulische 
Tun und Unterlassen muß Struktur und Sinn beweisen, und die vielen Einzelheiten 
müssen ein zielklares Ganzes geben. Man vermißt namentlich, daß sich St. nicht 
grundsätzlich mit den wichtigsten Strömungen der Gegenwart, mit den Ergebnissen 
pädagogisch-psychologischer Forschung, mit den Bestrebungen der Versuchsschulen 
usw. auseinandersetzt. Die Grundlegung eines Landeslehrplans ist hier nicht völlig 
geglückt. Egenberger (München). 

© Heywang, Ernst: Was ist Arbeitssehule? Antwort in Lehre und Beispiel. (Fried- 
rich Manns pädagogisches Magazin. H. 968.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 
1924. 82 S. G.-M. 1.05. 

Der Verf. versteht unter Arbeitsschule im Gegensatz zu einer Schule mit Hand- 
betätigung ein Lehrverfahren, bei dem das Ziel durch das Kind selbst aufgestellt wird 
und dann auch von dem Kinde selbsttätig erstrebt wird, und vertritt diese Form 
gegenüber andern Schultheorien, wie die Herbart-Zillers und die Gemeinschaftsschule, 
der es an der Führung fehle. Er stellt ferner fest, daß Arbeitsschule nur ein Lehr- 
verfahren bedeutet neben andern, richtiger, daß es auch in der Arbeitsschule die ver- 
schiedensten Spielarten gibt und daß sie eine Grenze hat, wo das Erlebnis redet. End- 
lich untersucht er die Beziehungen der Arbeitsschule zum Stoff und zur Fächerung. 
Der Wert des Büchleins liegt in der gesunden pädagogischen Praxis des Verf., der 
Landschullehrer ist, und tritt deshalb am deutlichsten in den beigegebenen Unter- 
richtsbeispielen heraus. Nohl (Göttingen). 

© Göttler, Joseph: System der Pädagogik. Im Umriß. 3. neubearb. Aufl. Kempten: 
Kösel & Pustet K.-G. 1924. VIII, 171 S. G.-M. 3.—. 

Das Buch des Ordinarius für Pädagogik an der Münchener Universität, das er 
seinen Vorlesungen zugrunde legt, gibt einen wertvollen Überblick über die katho- 
lische Pädagogik der Gegenwart und wird auch anders gerichteten gute Dienste leisten 


— 154 — 


sowohl durch seine Vollständigkeit und durch seine reichen Literaturangaben als auch 
durch seine objektive allseitige Behandlung der pädagogischen Problematik. Nohl. 

Spitzy, Hans: Körperliche Erziehung und ihre Lehrer. (Orthop. Spit., Wien.) 
Wien. klin. Wochenschr. Jg. 37, Nr. 38, S. 920--925. 1924. 

Der großartige Aufschwung, den die körperliche Erziehung, ihre Lehre und Aus- 
übung in den letzten Jahren genommen hat, bezeugt die Wichtigkeit der Frage. Und 
gerade Deutsch-Österreich gehört hierbei unter die führenden Völker. Schon in den 
letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts wiesen österreichische Ministerialver- 
ordnungen von Spiel und Sport, Schwimmen und Schlittschuhlaufen und deren Auf- 
nahme in den Schulplan hin. Aber durch die pädagogische Beharrlichkeit, verschwan- 
den diese wohlmeinenden Anordnungen aus dem Spielplan. Nichtsdestoweniger blieben 
aber die Bestrebungen, die mit den großen Schlagworten „Hebung der Volkskraft, 
Ertüchtigung des Volkes“ geführt wurden, weiter bestehen. Man hatte von einem 
„Höherführen des Volkes‘, von zukünftigen Generationen von muskelstarken, kräftigen 
Einzelwesen, von einer Hebung der Volkskraft in rassehygienischer Hinsicht geträumt. 
Doch von seiten der kritischen Wissenschaft wurden diese Bestrebungen eingeschränkt, 
da rassenbiologische Arbeiten gezeigt, daß die Artentwicklung des Menschen festgelegt 
ist. Der Möglichkeit der Wachstumsbeeinflussung sind durch den Rahmen der mensch- 
lichen Stammesentwicklung so wie durch das Gewicht der Vererbung bestimmte Schran- 
ken gezogen. Nach den bisherigen Bestrebungen scheint eine Einflußnahme auf die 
Keimzellen des Menschen nur in negativem Sinne möglich zu sein. Man kennt den 
schädigenden Einfluß, den Alkoholismus, Syphilis, Tuberkulose, wahrscheinlich auch 
Röntgenstrablen auf das Keimplasma ausüben. Doch scheint es nach den neueren Dar- 
stellungen nicht ausgeschlossen, daß bei einer, durch Generationen fortgesetzten 
ständigen Beeinfkussung des gesamten Volkes durch vernünftige Hygiene der Körper- 
bildung doch eine Spur in der Artung der folgenden Generation zurückbleibt. Trotz- 
dem muß unser Material doch die gegenwärtige Generation bleiben. Da wir auf die 
weitere Entwicklung eines Individuums einen bestimmten EinfluB ausüben können, 
so sind wir verpflichtet, jeden Menschen so zu gestalten, daß seine Entwicklung zum 
Optimum möglich wird. Der Ernährung, der Bewegung in freier Luft und Sorne ist 
das Hauptgewicht in der körperlichen Erziehung zuzusprechen. Die Grundlage aber muß 
gleichzeitig das Optimum der Errährung sein. Und aus diesem Grunde versäumt 
Spitzy niemals in den Hochschulkursen für Turnlehrer über Säuglingspflege, Stillver- 
pflichtung, Ernährung, Reinlichkeit, Schlaf zu sprechen. Einem Organismus, der durch 
Anlage Störungen in seinem Körperhaushalte, oder durch Krankheiten geschwächt ist, 
schaden körperliche Übungen, und vor Übertreibung kann nicht genug gewarnt werden. 
Demgemäß müssen alle Lehrer nicht nur im Turnen, Sport und Gymnastik ausgebildet 
sein, sondern sie müssen sich auch klar sein über die hierzu gehörigen wissenschaft- 
lichen Grundlagen. Der Verf. kommt auf die Notwendigkeit zu sprechen, daß der Turn- 
unterrricht schon in den untersten Klassen in der Volksschule einzusetzen hat und 
demgemäß die Kandidaten der Lehrerbildungsanstalten insbesondere auf die Wichtig- 
keit, aber auch auf die Vorsicht, mit der diese Übungen durchgeführ®werden, aufmerk- 
sam gemacht werden müssen. Er wendet sich gegen die für jede Klasse peinlich vor- 
geschriebenen Übungen, die in dem zu erreichenden Klassenziel, z. B. Erlernung der 
Kippe am Reck, gipfeln. Er tritt für Spielnachmittage, für vernünftig geleitete Schul- 
spaziergänge ein, ebenso soll den Kindern die Möglichkeit geboten werden, sich im 
Freien herumzutummeln, zu spielen, zu schwimmen. Es sollen in den allgemeinen 
Unterricht eingestreute sog. Zwischenübungen angeordnet werden, aber nicht nur für 
die Kinder allein, sondern auch für die angehenden Lehrer. Die Ausbildung der Turn- 
lehrer soll an den Hochschulen erfolgen, die Lehrer müssen über Rassenhygiene, Kon- 
stitutionslehre, praktische Anatomie ausgebildet werden, und das Fach der körper- 
lichen Erziehung soll den wissenschaftlichen Fächern gleichgestellt werden. Das 
Hauptpropagandagebiet bleibt die Schule selbst. O. Wiener (Prag). 


— 15 — 


Heilpädagogik und Anomalen - Fürsorge: 
Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien : 


© Bacher, Georg: Grundlagen und Ziel der Heilpädagogik vom Standpunkte der 
Determinationspsyehologie. Halle a. S.: Carl Marhold 1924. 82 S. G.-M. 2.20. 

Bacher stellt seiner Arbeit ein Literaturverzeichnis voraus und deutet damit 
an, daß er die Kenntnis jener Arbeiten, an die er anknüpft und auf welchen er aufbaut, 
voraussetzt. B. stützt sich namentlich auf N. Ach und F. E. O. Schultze. Der Verf. 
bejaht die Frage einer selbständigen Hilfsschulpädagogik, wenn er auch hier keine 
systematische Heilpädagogik gibt. Er untersucht die von N. Ach als Determination 
benannten Vorgänge im Bereich der kindlichen Anomalien und kommt zu dem Schlusse, 
daß die Entwicklung der Determinationsfähigkeit als Grundlage der geistigen Ent- 
wicklung Anomaler die hervorragendste Aufgabe sei. B. hat in diesem Werke den 
Versuch gemacht, von einer bestimmten psychologischen Einstellung heraus eine große 
Reihe heilpädagogischer Dinge zu beleuchten, zu erklären und zu ordnen, und das ist 
für Fachleute nach vielen Seiten hin lehrreich. Egenberger (München). 


© Sehulze, Ewald: Richtlinien zum Hilfssehullehrplan. Halle a. S.: Carl Marhold 
1924. 31 8. G.-M. 0.80. 

Das Unterrichtsministerium in Thüringen fordert von dem Thüring. Hilfsschul- 
verband die Bearbeitung eines einheitlichen Lehrplans und einheitlicher Lehrbücher. 
Der Verf. bietet dazu eine wertvolle Vorarbeit. — Wenn die Hilfsschule ihre Aufgabe 
erfüllen will, die Schwachsinnigen zu noch brauchbaren Mitgliedern der Volksgemein- 
schaft zu erziehen, muß sie reine Heimatschule sein. Das bedingt die Forderungen 
Gesamtunterricht und Gelegenheitsunterricht. Die Auswahl und Anordnung der 
Unterrichtsstoffe werden bestimmt durch die Bedürfnisse des Hilfsschulkindes in bezug 
auf sein Vorstellungs-, Gefühls- und Willensleben, eingestellt auf die Entwicklungsgrade, 
die mit dem Aufbau der Hilfsschule in drei Stufen gleichlaufen, so daß die Unterstufe 
die Einzelanschauung, die Eigenliebe des Kindes und das Spiel, die Mittelstufe die 
Gesamtvorstellung, die engere Gemeinschaft und die freiere Beschäftigung, die Ober- 
stufe die verstandesgemäße Anschauung, den weiteren Lebenskreis und die Selbst- 
tätigkeit und Zweckmäßigkeit als maßgeblich ansieht. Die innere Stoffgestaltung führt 
zur Arbeitsschule. — Die einzelnen Stoffreihen werden aufgezeigt und in ihrem Umfang 
abgegrenzt. — Lehrplanbeispiele, für alle drei Stufen übersichtlich zusammengestellt, 
zeigen, wie durch Stoffauswahl und Anordnung die Grundgedanken Heimatschule und 
Gesamtunterricht sich dem Hauptzweck der Hilfsschule einfügen, den Denkhemmungen 
des teilnahmlosen und stumpfen Kindes ebenso wie der Gedankenflucht des abschweifen- 
den und flatterhaften Schülers zu begegnen Otto Dreßler (Berlin). 


Bappert, Jakob: Über psychologische Methoden zur Erkennung des Hilfsschülers. 
Hilfsschule Jg. 17, H. 6, S. 84—88 u. H.7, S. 97—102. 1924. 


Bappert vertritt hier den durchaus richtigen Grundsatz, daß dem Heilpädagogen 
mit äußerer Klassifikation (z. B. debil, imbezill, idiotisch) nicht gedient ist, sondern 
daß dieser mittels geeigneter Methoden die Eigenart des jeweils gegebenen Falles kennen- 
lernen muß. — Jene Kinder, welche nie oder nur mit großen Hemmungen und Ver- 
zögerungen den normalen Entwicklungsgang zurücklegen können, zeigen entweder 
Andersartigkeit (welche an sich nicht tieferwertig sein muß), Mangelanseelischer 
Energie (solche Kinder bleiben auf kindlicher Stufe stehen und sind zu jeder Ent- 
wicklung unfähig — es fehlt hier der innere Wachstumstrieb, die Reizwirkung von außen 
löst wenig Energie aus und beeinflußt die Psyche ganz gering) oder Störung der seeli- 
schen Funktionen (z. B. verlangsamter oder beschleunigter Vorstellungsverlauf, 
Wirklichkeit und Phantasiegebilde können nicht unterschieden werden). B. empfiehlt 
als quantitativ klassifizierende Methode die von Binet-Simon-Bobertag, die aber 
durch qualitativ analysierende Untersuchungen ergänzt werden muß, weil es für den 


— 16 — 


Heilpädagogen von ausschlaggebender Wichtigkeit ist, zu wissen, welche psychischen 
Funktionen jeweils ausreichend — zu schwach — gehemmt usw. sind. 
| Egenberger (München). 

Hoffmann: Meißner Riehtlinien zur Auswahl der Hilfsschüler. Zeitschr. f. d. 
Behandl. Schwachsinniger Jg. 44, Nr. 9, S. 139—141. 1924. 

Die Meißener Hilfsschule wurde in ihrer Arbeit durch Zuweisung von Schülern, 
die infolge äußerer Umstände zurückgeblieben waren oder nur langsam lernten oder 
infolge krankhafter Gefühls- und Willensveranlagung erziehliche Schwierigkeiter 
verursachten, stark gehemmt. Die Richtlinien wollen die Hilfsschule als Veranstaltung 
für bildungsfähige Schwachsinnige scharf abgrenzen von Nachhilfeunterricht und 
Förderklassen, Klassen bzw. Schulen für Sprachkranke, Schwerhörige und Sehschwache 
und Heimen fürschwererziehbare Psychopathen. Alle vorgenannten heilpädagogischen 
Einrichtungen können einer Leitung unterstellt werden. Dreßler (Berlin). 

© Horrix, Hermann: Ansehaulicher Rechenunterrieht in der Hilfsschule. Ein 
Beitrag zum Arbeitsunterricht. 2. verb. Aufl. Halle a. S.: Carl Marhold 1924. 144 S. 
G.-M. 3.50. 

Wer die mühsame Kleinarbeit in der Hilfsschule kennen lernen will, studiere 
dieses Buch, und wer in der Hilfsschule Rechenerfolge zeitigen will, tue es dem Verf. 
nach! Besonderen Wert legt er mit Recht auf die Einführung in das erste Rechenver- 
ständnis. Er zeigt, wie die Schwachsinnigen in der richtigen Weise zählen und sıct 
Zahlbegriffe aneignen können, ohne daß sie die Zahlwörter kennen, wie sie rechnen 
lernen, ohne daß sie eine Ahnung davon haben, daß das, was sie tun, „rechnen“ ist. 
Wie auf der Unterstufe, so auch auf der Mittel- und Oberstufe: Langsam und sicher 
schreitet er vorwärts, lückenlos im Aufbau, immer darauf bedacht, den schwachen 
Geist arbeitsunterrichtlich an die Tätigkeit des richtigen Anschauens (Ansehens, An- 
fühlens, Anhörens) und Vorstellens zu gewöhnen. Auf diesem Wege, und nur auf diesem! 
sind die Schwachen zu einer bescheidenen Selbständigkeit zu bringen. W. Raat:. 

Klompmaker, K.: Anzahl der Sehulstunden für Zurückgebliebene. Tijdschr. v. 
buitengewoon onderwijs Jg. 5, Nr.7, S. 120—121. 1924. (Holländisch.) 

Bemerkungen zur Frage von der Anzahl von Pflichtschulstunden auf den Schulen 
für zurückgebliebene Kinder. Verf. bekennt sich für das Erhöhen der Stundenzall 
(jetzt wöchentlich 22—24 Stunden), aber nicht der Anzahl der Lernstunden. Garten- 
arbeit, Spielen, Spaziergänge haben den Lernstunden das Gegengewicht zu halten. 
Lokale Verhältnisse sind dabei genau zu berücksichtigen. Im allgemeinen läßt sıch 
nach Verf. sagen, je länger die Kinder unter Aufsicht stehen, desto besser. 

| H. C. Rümke (Amsterdam). 

Meltzer, Ewald: Sachsens elendeste Kinder. Bilder aus dem Leben, Leiden und 
Lieben im Katharinenhofe. Zeitschr. f. d. Behandl. Schwachsinniger Jg. 44, Nr.5. 
S. 121—134. 1924. 

Der Verf., leitender Arzt des Katharinenhofes — der Anstalt für bildungsunfähis:. 
schwachsinnige Kinder Sachsens —, erzählt in warmherziger Weise von dem „Leber. 
Leiden und Lieben“ in seiner Anstalt. Er weist vor allem auf die Ursachen des Schwach- 
sinns hin, schildert einige bezeichnende Fälle und die Art, in der die Kinder in der As 
stalt leben, und kommt zum Schluß auf die Frage: ob man solche Kinder überhaupt 
am Leben erhalten soll. Er hält das Dasein dieser Kinder, die durch die Schuld der 
Gesellschaft (Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten) geschädigt sind, für Warnunge 
zeichen und hofft, daß das Schicksal dieser elendesten Kinder Veranlassung gibt 
die sozialen Mißstände zu bekämpfen. Lotte Nohl (Berlin). 

Trautmann, E.: Die rhythmische Gymnastik in der Hilfsschule. Hilfsschu: 
Jg. 17, H. 8, S. 113—120. 1924. 

Der Verf. schöpft aus den Werken von Rudolf Bode und Ludwig Klage: 
Trautmann behauptet den günstigen Einfluß der rhythmischen Gymnastik auf Eut- 
wicklung und Elastizität der Muskeln, den Gang, die Haltung, den Geist, die Aufmers- 


— 157 — 


samkeit, den Willen und auf den launenhaften Charakter. Die Asthenie, unter welcher 
Tr. eine Konstitutionsanomalie (Kraftlosigkeit, leistungsschwache Muskulatur, bedingt 
durch Abweichung der Reaktionsfähigkeit auf Reize) versteht, könne durch rhyth- 
mische Gymnastik (Entspannungs- und Spannungsübung) bekämpft werden, für 
geistesmatte und willensschwache Schüler seien solche Übungen ein Antrieb zu Tat- 
kraft, Selbstzucht, Lebensfreude. Der Inkoordination, an welcher Schwachsinnige 
häufig leiden, wird durch Innervation, derzufolge Bewegungen gleichmäßig und gleich- 
zeitig erfaßt und vom Rhythmus getragen werden, am zweckmäßigsten begegnet. 
Durch bewußte, genaue Leistungen lernt der Körper gehorchen und dadurch erhöht 
sich nicht nur die motorische Leistungsmöglichkeit, sondern es entsteht auch Sicherheit 
des Selbstgefühla und Beruhigung aufgeregter Nerven. Egenberger (München). 


Wepster: Aus dem Bericht über die Arbeitseinriehtung für Sehwaehsinnige in 
Dordrecht. Tijdschr. v. buitengewoon onderwijs Jg.5, Nr.7, S. 121—122. 1924. 
(Holländisch.) 

Die Arbeitseinrichtung für Schwachsinnige in Dordrecht bezweckt u. a. der Gemeinschaft 
Geld zu ersparen, notwendig für Pflegekosten in Anstalten für Idioten und Imbezille. Aus 
dem Bericht ergibt sich das nützliche solcher Arbeitseinriohtungen ohne weiteres. 

H. C. Rümke (Amsterdam). 

Batčk, J.: Kinderfürsorge. Včstnik českých lékařů Jg. 36, Nr. 31, S. 477—479. 
1924. (Tschechisch.) 

Bericht über den Besuch bekannter französischer Anstalten zur Erziehung geistig 
abnormer Kinder. O. Wiener (Prag). 


Voorthuysen, A. van: Die Ferienkolonie für Sehwachsinnige als medizinisch- 
pädagogisches Institut. Tijdschr. v. buitengewoon onderwijs Jg. 5, Nr. 2, 8. 18—19. 
1924. (Holländisch.) 

Da ein besonders großer Prozentsatz der schwachsinnigen Kinder zugleich körper- 
lich schwach ist, haben für sie die Ferienkolonien eine viel größere Bedeutung als für 
die geistig normalen Kinder. Nach Dr. v. Voorthuysen spielen hier nicht bloß 
medizinische, sondern auch pädagogische Rücksichten eine Rolle, da die Kinder unter 
diesen Umständen hygienische Gewohnheiten anlernen, die sie weder zu Hause noch in 
der Schule in demselben Maße sich anzueignen im stande sind. Die Ferienkolonien 
eignen sich besonders dazu, einerseits die Widerstandsfähigkeit schwachsinniger Kinder 
zu entwickeln, andererseits ihnen eine regelrechte hygienische Erziehung zu erteilen. — 
Verf. empfiehlt überhaupt die Erziehung in besonderen Kolonien und versucht die 
Nachteile des gemeinsamen Unterrichts und der gemeinsamen Erziehung normaler und 
unternormaler Kinder zu demonstrieren. G. Révész (Amsterdam). 


Daley, Mary Wood: Delinquents and sex-edueation. (Jugendlich-Kriminelle und 
Sexualerziehung.) Journ. of soc. hyg. Bd. 10 Nr. 5, S. 278—283. 1924. 

Verf. leitet eine Erziehungsfarm, auf der 450 sozial gescheiterte junge Mädchen 
untergebracht sind. Das Hauptproblem der sexuellen Erziehung besteht hier darin, 
daß die Zöglinge fast durchgehends über die Einzelheiten des Geschlechtsverkehrs 
ausgiebig orientiert sind. Es kommt darauf an, die geistige und moralische Einstellung 
dem Geschlechtsleben gegenüber grundlegend umzustimmen. Im naturgeschichtlichen 
Unterricht wird in elementarer Weise Aufklärung über Wesen und Einzelheiten der 
Fortpflanzung gegeben, genaue Schilderung der Verhältnisse bei den niederen Säuge- 
tieren, so daß schließlich die Fortpflanzung des Menschen sich selbstverständlich und 
zwanglos erklärt. Die Mädchen werden aufgefordert, über alle Dinge sexuellen Charak- 
ters, die sie bewegen, sich in persönlichen Gesprächen auszusprechen. Geeignete Fragen 
werden, ohne den Namen der Fragestellerin bekanntzugeben, vor der Klasse erörtert. 
Allmählich gelangen die Mädchen so zu einer unbefangenen Einstellung allem Geschlecht- 
lichen gegenüber, die auf einem moralisch und ästhetisch hohem Niveau steht. 

Martin Gumpert (Berlin). 


— 158 — 


Sınnendefekte, Sprachstörungen : 


Holm, Eiler: Special schools for children with defeetive vision in Denmark. 
(Sonderschulen für Schwachsichtige in Dänemark.) Acta ophtb. Bd. 1, H.3, 8.275 
bis 280. 1923. 

Nach dem Vorgange von Mühlhausen 1907 (Redslob) und Berlin 1919 (Levin- 
sohn) hat Lundsgaard in Dänemark Propaganda für den Sonderunterricht der 
Schwachsichtigen gemacht mit dem Erfolg, daß Massenuntersuchungen durch Holm: 
angestellt wurden, durch welche die Schulkinder mit weniger als 6/24 Sehschärfe 
herausgefunden wurden, die niederste Sehschärfe, die berücksichtigt wurde, war 1/60, 
gezählt wurden Kinder vom 7. bis 14. Lebensjahr. Es wurden von 75 000 Schulkindern 
auf diese Weise 26 abgesondert, das sind 0,034% (Berlin 0,06%). Es wurden dann 
nach Besuch der Berliner Schule und nach deren Vorbild in Kopenhagen zwei Schuler. 
für Schwachsichtige gegründet. Die eine Schwachsichtigenschule ging hervor aus einer 
Blindenanstalt, die Zöglinge sind bereits mit blinden Kindern zusammen erzogen 
und sind hochgradig schwachsichtig. In der anderen Schule sind Kinder, welche mit 
gut sehenden zusammengewesen sind, die Sehkraft ist durchschnittlich 5/60 und 
mehr; hier sollen die Ansprüche denen der normalen Kinder gleichen. Berücksichtigt 
sind die bekannten Forderungen: kleine Klassen, gutes Licht, Vermeiden von Er- 
müdung. Besondere Hilfsmittel sind ein gutes Epidiaskop, einfach gehaltene Bilder. 
beim Projizieren wird der Raum nicht ganz verdunkelt, wodurch der Ermüdung ent- 
gegengearbeitet wird. Als Ursache für die Schwachsichtigkeit herrschen angeborene 
Störungen vor. Die Schulen sind bei Schülern und Eltern sehr beliebt. Zade.. 


Winde, Paul: Sehwerhörige und ihre Besehulung. Dtsch. Schule Jg. 28, H. ~. 
S. 362—366. 1924. 

Nach Hartmann hat der 4. Teil der Volksschüler kein normales Gehör. Viele 
davon sind so stark schwerhörig, daß sie dem Unterrichte in der Normalschule nicht 
genügend folgen können oder durch die Unterrichtsarbeit überanstrengt werden. 
Weder die Taubstummenanstalt noch die Volksschule kann die Eigenart dieser Gehör- 
geschädigten genügend berücksichtigen. Das kann nur geschehen in der Schwerhörigen- 
schule, d. i. eine gegliederte Sonderschule mit normalen Volksschulzielen. Ihr gelingt 
es, aus den verschlossenen, verbitterten und vernachlässigten Kindern mitteilsame. 
heitere und lebenstüchtige Menschen zu machen. Sie führt kleine Klassen, ordnet die 
Sitzplätze im Halbkreise oder Rechtecke, nützt allenthalben die Gehörreste aus, pflegt 
als Fach und Prinzip das ‚Vom-Munde-Ablesen‘“ und ebnet in besonderem Maße den 
Schwerhörigen die Wege ins Leben. Hoffmann (Meißen). 


Goldstein, Max A.: The education of the deaf child. (Die Erziehung des taube: 
Kindes.) New Orleans med. a. surg. journ. Bd. 76, Nr. 12, S. 519—522. 1924. 

Man wird in deutschen Landen mit Staunen lesen, daß in New Orleans eine Rlas- 
errichtet wurde, in der 10—15 Taubstumme die Lautsprache erlernen, wo in Deutsch- 
land und Österreich seit Jahrhunderten kein Taubstummer mehr ohne diese Schulun: 
eine Taubstummenanstalt verläßt. Heinicke und der Arzt A m man sind die Gründer 
dieser „deutschen Methode“, was der Autor m. E. hätte erwähnen sollen. Er plädiert 
mit Recht für entsprechende Ausbildung der Taubstummenlehrer und die Mitarbeit 
der Otologen an der Schulung der tauben Kinder. Auch auf die Notwendigkeit von 
Schwerhörigenklassen weist er hin, desgleichen auf den Wert des Lippenlesens für spt 
Ertaubte. Die Hörübungen hingegen werden nicht erwähnt. Einige Worte widmet ¿r 
den anderen Sprachstörungen. Man muß Goldstein dafür dankbar sein, daß er sich al! 
dieser Fälle annimmt, und ich wünsche ihm, daßer Erfolg habe, damit New Orleans wenig- 
stens annähernd die Institutionen schaffe, die hier längst bestehen. 

Emil Fröschels (Wien). 

Frösehels, Emil: Eine neue Art von Hörprüfung bei hochgradiger Sehwerhörigkei 
und Taubstummheit. Bemerkungen zu der gleichnamigen Arbeit von Dr. G. Wetzilka 


— 19 — 


in Heft 10 des Jahrganges 1923. Monatsschr. f. Ohrenheilk. u. Laryngo-Rhinol. Jg. 57, 
H. 12, 8. 1038—1039. 1923. 

Vgl. diese Zeitschr. 29, 124. 

Nach Fröschels ist auch bei den Versuchen von Wotzilka das Vibrationsgefühl nicht 
auszuschalten, da „longitudinale Wellen sich lförmig ausbreiten, so daß auch bei vom 
Gesicht des Untersuchten abgewendeter Pfeifenöffnung das Gehörorgan von ihnen getroffen 
wird“. Erfolgt auf derartig zugeleitete Töne als Reaktion nur ein Reflex des Facialis, so weiß 
man nicht, ob dieser durch den Ton oder das Vibrationsgefühl hervorgerufen wurde. Gegen 
die Annahme der Auslösung des Reflexes durch das Vibrationsgefühl spricht ein Fall von F., 
ein Mädchen, welches von der Abteilung des Herrn Prof. Alexander für taub erklärt war, 
und welches bei wiederholter Prüfung auf alle Töne innerhalb dreier Oktaven reagierte, nur 
nicht auf a!. Es ist unwahrscheinlich, daß einzelne Töne keinen Reflex erzeugen, obwohl in 
der Skala benachbarte ihn hervorgerufen haben. F. hofft, daß es ihm noch gelingen wird, 
die Entscheidung Reflex auf Hören oder Reflex auf das Vibrationsgefühl zu erbringen. 

A. Sonntag (Güstrow)., 

© Sehumann, Paul: Immanuel Kant und die Taubstummen. Zum 22. April 1924. 
Osterwieck i. Harz: Elwin Staudes 1924. 27 S. G.-M. 1.—. 

Kant hat in seinen anthropologischen Vorlesungen (herausgegeben als ‚„Anthro- 
pologie in pragmatischer Hinsicht‘) auch über die Taubstummen gesprochen und 
hat neben einigen treffenden Bemerkungen auch die gemacht, ‚Taubgeborene können 
nie zu etwas Mehreren als einem Analogon der Vernunft gelangen“. In einer Zeit, in 
welcher die Identität von Denken und Lautsprache festzustehen schien, war ein solcher 
Schluß begreiflich. Dr. Schumann erzählt uns nun von dem Streit, der bald darauf 
um diese Meinung Kants entstand und wie er endlich zugunsten der vollen Denk- 
fähigkeit der Taubstummen entschieden wurde. Fröschels (Wien). 

Drach, Erieh: Spreeherziehung. Wien. med. Wochenschr. Jg. 74, Nr. 28, S. 1457 
bis 1458. 1924. 

Die Schulreform ‚„Arbeitsgedanke“ hat den Deutschunterricht von zuviel Historik 
und Grammatik befreit und dafür Sprecherziehung auf logopädischer Grundlage ein- 
geführt. „Aus der physiologisch-hygienischen Richtigkeit des Sprechens leitet sie die 
Richtigkeit der Laut- und Satzform, aus dieser die innere, geistig treffsichere Aus- 
drucksform; aus dieser die Fähigkeit sinnklaren Ausdrucks, hieraus endlich die etwaige 
höhere Leistung in Wort und Schrift ab.“ Dazu bedürfen die Lehrer einer gründlichen 
logopädischen Ausbildung. Fröschels (Wien). 

Suhrmann, Hildegard: Von der Stimmerziehung. Die geistige Einstellung des 
Gebenden und des Nehmenden. Stimme Jg. 19, H.1, S.4—5. 1924. 

Es kommt darauf an, die Seele des Schülers zu erobern. Der Lehrer muß eine Per- 
sönlichkeit sein und sich ganz in den Dienst der Sache stellen. Fröschels (Wien). 

Erben, Hans: Die erste Etappe der idealen Sehulung. Stimme Jg.19, H. 1, S.2—4. 1924. 

Die Gefahren, die aus dem Näseln statt der nasalen Resonanz folgen, werden beleuchtet. 
Bei Motorikern verwendet der Autor Übungen von mp, um den vorher erklärten Unter- 
schied zwischen Nasen- und Explosivlaut tühlen zu lassen. Akustiker werden so unter- 
wiesen, daß man ihnen ihren falschen Ton und nachher den richtigen vorsingt. Hinweis 
auf die Notwendigkeit, alle Muskeln des Ansatzrohres zu entspannen. Fröschels. 

© Schneider, Ernst: Über das Stottern. Entstehung, Verlauf und Heilung. Bern: 
A. Francke A.-G. 1922. 105 8. G.-M. 3.50. 

Der Autor ist Psychoanalytiker. Er lehnt die Erklärungsversuche der Kußmaul- 
Gutzmannschen sowohl, wiederHoepfner-Fröschelschen Richtung ab und hält 
die Freudsche Hypothese der Adlersfür überlegen. Daß Stotterer einzelne Laute nicht 
hemmungslos sagen können, ist nach Schneider ein Tabu. Unbewußter und bewußter 
Wille gehen in entgegengesetzter Richtung; dieser Rede - Schweigekonflikt ist un- 
bewußt, weil verdrängt. (Wie der Autor, der neben anderen ausgezeichneten philo- 
sophischen und psychologischen Bemerkungen auch die macht, daß wir die Welt 
erschaffen, das Unbewußte in diesem Schöpfungsprozeß unterbringen will, wird jedem 
unklar bleiben. Denn wir als Schöpfer können doch von keinem Unbewußten gelenkt 
werden !) Was über Psychoanalyse in dem Buche steht, enthält wenig Neues. Erscheint 
in der Analyse irgendwo ein alter Mann, so ist das der Vater, überall ist Ödipus usw. 


— 10 — 


Die Artikulationshemmungen sollen nach ihm das Zurückhalten des ‚‚Auszu- 
drückenden“ (d.h. von Ausscheidungsprodukten) symbolisieren. Fröschels (Wien). 

Fröschels, Emil: Über die Behandlung der wichtigsten Sprachstörungen. Wier. 
med. Wochenschr. Jg. 73, Nr. 51, S. 2300—2306. 1923. 

Es gibt anatomisch, psychologisch und funktionell bedingte Sprachstörungen, 
weshalb die Therapie eine chirurgische bzw. stomatologische, psychologische, gymna- 
stische oder organische (Organotherapie) sein kann. Es gibt Taubstummhbheit bzw. 
Stummbeit bei hochgradiger Schwerhörigkeit und Hörstummbeit (Stumm- 
heit bei guten Gehör), die in eine motorische und sensorische Untergruppe zerfällt, je 
nachdem ob Sprachverständnis besteht oder nicht. Die Therapie der motorische: 
beruht ebenso wie die der Taubstummheit auf Sehenlassen der Mundbewegungen un: 
Fühlenlassen der Vibrationen, welche bei stimmhaften Lauten am Halse, und den Luft- 
bewegungen, die vor dem Ansatzrohre des Behandelnden auftreten. Die Behandlung 
der sensorischen Hörstummbheit hat auf Erwecken des Lautklangbildzentrums (Hör- 
übungen) bzw. bei Echolalie Übung des Gedächtnisses für Worte und deren Bedeutung 
abzuzielen. Analog den Hörstummen werden Aphatiker behandelt. Stammeln 
(Fehlen bzw. falsche Aussprache von Lauten oder Ersatz eines durch einen anderen 
Laut) ist oft durch bloße Unkenntnis der physiologischen Vorgänge verursacht; man 
hat diese also zu lehren, indem man die richtigen Bewegungen zeigt bzw. die Artikula- 
tionsstellungen mit Handgriffen erzeugt. Bei gewissen Sigmatismen verwendet der 
Autor eine harte Wachsplatte, welche die Zunge in die richtige Stellung zwingt. Das 
offene Näseln, wofern es auf Velumparese beruht, wird mit Elektrizität und Massage 
(Palatoelektromasseur von Fröschels) und Sprachübungen, wenn ein Defekt im 
Knochen oder Velum vorliegt, chirurgisch und nachher logopädisch behandelt. Beim 
geschlossenen Näseln ist vor allem die Diagnose, ob Formveränderungen im 
Nasenrachenraum und der Nase oder Hyperkinese des Velums und anderer Muskeln 
des Ansatzrohres dafür verantwortlich sind, höchst wichtig. Danach ist die Therapie 
eine rhinologische oder eine gymnastische. Als Beispiel für Psychotherapie bringt der 
Autor das vulgär sog. Stottern (assoziative Aphasie) und betont die Notwendigkeit 
strengster Individualisierung. Fröschels (Wien)., 


Jugendwohltahrt, Verwahrlosung: 

Allgemeines : 

© Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinriehtungen 
Deutschlands. Bericht. Hrsg. v. L. Langstein u. O. v. Holbeek. Berlin: Hans Robert 
Engelmann 1924. 68 S. G.-M. 6.50. 

Darstellung der Entstehung und Entwicklung der im Titel genannten Vereinigung. 
Sie verdankt ihre Entstehung der Notlage, in die die privaten Anstalten durch die 
Inflation gebracht wurden. Gegründet Anfang 1920, hat die Vereinigung jetzt bereit: 
den weitaus größten Teil der einschlägigen Anstalten gesammelt. Ein Verzeichni: 
der etwa 200 Anstalten, die der Vereinigung angehören, ist dem Heftchen beigegeben. 

Tugendreih (Berlin). 
© Albath, R.: Jugendwohlfahrt. Sammlung der Gesetzgebung für Jugendwehl- 
fahrt. Für den praktischen Gebrauch der Jugendämter zusammengestellt. Berlin: 
Emil Hartmann 1924. VII, 189 S. G.-M. 4.—. 

Ein handliches Buch, enthaltend das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und da: 
Jugendgerichtsgesetz. An den entsprechenden Stellen des ersteren sind hinzugehörig: 
Gesetze und Verordnungen über einzelne Materien eingefügt, die wohl fast alles Wict- 
tigste enthalten, freilich unter nicht stets ganz verständlicher Auswahl, z. B. ist der ein 
grundlegende Erlaß über Jugendpflege von 1911, nicht aber der ebenso wichtige vor 
1913 eingefügt. Auch den Paragraphen aus dem BGB. ist eine gründliche Durcharbeiturr 
noch zu wünschen, ebenso wie auch das Jugendgerichtsgesetz der inzwischen erschienenrt 
Ausführungsgesetze usw. als Ergänzung bedarf. K. Mende (Berlin). 





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© Sauer, Hugo: Jugendberatungsstellen. Idee und Praxis 1914—1923. (Ent- 
sehiedene Sehulreform. Hrsg. v. Paul Oestreich. H.12.) Leipzig: Ernst Oldenburg 
1923. 96 S. G.-M. 1.20. 

Der Verf., der seit Jahren für die Idee der Jugendberatungsstellen mit Nachdruck 
eingetreten ist, legt in diesem Buch seine Grundforderungen über Art, Organisation 
und Tätigkeit solcher Stellen nieder, die besonders der vorbeugenden Arbeit in seelischen. 
Nöten der Jugendlichen dienen sollen. In sehr ausführlichen Darlegungen schildert 
er den Gang und das Schicksal seiner Bemühungen, die wohl stets etwas getrennt 
von den großen und seit lange ins Tiefe und Breite wirkenden Jugendwohlfahrtsorgani- 
sationen gegangen sind. Sonst wäre es nicht erklärlich, wie er schreiben konnte (S. 50): 
„Im Jahre 1914, als die breite Öffentlichkeit von einer Jugendfrage noch nichts wußte“ 
(!). Der zweifellos im Keim gute Gedanke solcher Beratungsstellen sollte denn auch 
jetzt nur in Verbindung mit den vorhandenen Jugendwohlfahrtsstellen durchgeführt 
werden, was durchaus nicht einer ‚„Veramtlichung‘‘ gleich zu sein braucht. Die dem 
Büchlein beigefügten „Richtlinien der privaten Jugendberatung Nürnberg‘ geben den 
Beweis dafür. Auch in Berlin sind zur Zeit Bestrebungen über Einrichtung solcher 
Stellen im Gange, an denen private und amtliche Kreise zunächst beratend teilnehmen. 

Mende (Berlin). 
© Dieing, J. B.: Das ländliche Jugendamt. Praktische Anregungen für die Durch- 
führung des RJWG. auf dem Lande. (Wegweiser d. Jugendhilfe. H.7.) Freiburgi. Br.: 
Caritasverl. 1924. 44 S. 

Ein lesenswertes Büchlein mit Wärme und Sachverständnis geschrieben. Verf. 
bringt ausführlich einschlägige gesetzliche Bestimmungen und zieht überall fach- 
männische Urteile aus Kommissionsberatungen hinzu. Seinen Ausgangspunkt bildet 
die Feststellung, daß die geläufige Annahme von idealen ländlichen Verhältnissen, 
die eine Jugendfürsorge unnötig machen, falsch ist, hier vielmehr eine wirkliche Jugend- 
not vorliegt. So fanden die in einzelnen Ländern wie z. B. in Württemberg einge- 
richteten ländlichen Jugendämter ein weites Arbeitsfeld, auf dem sie segensreich 
wirken konnten. Wichtig ist es in jeder Hinsicht, nach Anschluß und Anbau der be- 
stehenden Organisationen zu streben; so kann man dort, wo kommunale Wohlfahrts- 
ämter bestehen, auf Errichtung eines besonderen Jugendamtes verzichten und dieses 
zu einer Abteilung des Wohlfahrtsamtes machen, freilich muß dabei die Einstellung 
einer in der Jugendwohlfahrt erfahrenen hauptamtlichen Hilfskraft ins Auge gefaßt 
werden. Später kann aus derartigen Vereinigungen ein für sich bestehendes Jugendamt 
organisch erstehen. Der weite Pflichtenkreis, welchen das RJWG. den Jugendämtern 
vorschreibt, ist durch spätere Verordnungen schärfer umgrenzt und Möglichkeiten, 
ihn einzuengen, geboten worden. Verf. warnt aber vor dem Versuche, unter Berufung 
auf diese Verordnungen das RJWG. auszuhöhlen und unwirksam machen zu wollen. 
Vielmehr soll es das Streben sein, unter Ausnützung bestehender Organisationen und 
wirksamer Hilfskräfte das Ziel vollkommen zu erreichen. Hier bietet sich allerorts 
die Mitarbeit der freien Liebestätigkeit, die dem ländlichen Jugendamte namentlich 
in der Jugendgerichtshilfe unentbehrlich sein wird. Dagegen ist amtliche Mitwirkung 
bei der Beaufsichtigung der Arbeit von Kindern und Jugendlichen nicht zu entbehren, 
und keinesfalls dürfte man sich der gesetzlichen Amtsvormundschaft entziehen, da 
für die Durchkämpfung der Alimentenklagen in ländlichen Gegenden mehr als in der 
Stadt eine amtliche Stelle notwendig ist. Die Durchführung der Vormundschaft 
sollte eine ideale Arbeitsgemeinschaft zwischen Jugendamt und karitativen Ge- 
nossenschaften ergeben, indem das Jugendamt den rechtlichen und technischen Teil 
übernimmt, den erzieherischen der geeigneten Stelle überläßt. 

Gregor (Flehingen i. Bad.). 

© Jourdan, Kurt: Einriehtung eines Jugendamts nach dem R. J. W. G. in Stadt und 
Land unter besonderer Betonung der Amtsvormundsehaft. Im Auftrag des Archivs 
deutscher Berufsvormünder e. V. Frankfurt a. M. (Friedrich Manns pädag. Mag. H. 1006. 


Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ref. 11 


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Fortschritte der Jugendfürsorge. Untersuehungen zur Entwieklung des gesamten Jugend- 
sehutzes. II. Reihe: Reeht und Verwaltung hrsg. v. Chr. J. Klumker. H.5.) Langer 
salza: Hermann Beyer & Söhne 1924. 80 S. G.-M. 1.40. 

Ein aus der Praxis erwachsenes, für Praktiker bestimmtes Buch mit ausgeprobten 
Anweisungen für Außen- und Innendienst. Sehr erfreulich berührt dabei die warme 
Betonung der Arbeit vom Menschen am Menschen, die gerade gegenüber den technischen 
Obliegenheiten des Bürodienstes leicht vernachlässigt oder in den Hintergrund ge- 
schoben wird. Die Gliederung des I. A. in die einzelnen Abteilungen — wobei der Größe 
der Städte Rücksicht getragen wird —, die sehr vielfältigen Musterformulare werden 
dem Jugendamtsarbeiter gern benutzte Ratschläge zu bieten haben. K. Mende. 


© Giese, Eberhard: Volkserzieher statt Bürokrat. Ein Bericht und ein Bekenntnis. 
Berlin: Dtsch. Ver. f. ländl. Wohlfahrts- u. Heimatpflege 1924. 35 S. G.-M.1.%. 

Das kleine Heft bringt unter seinem anspruchsvollen Titel Berichte über die 
Tätigkeit eines kleinstädtischen Wohlfahrtsamts. K. Mende (Berlin). 


Ferreira, Clemente: Organisation der Kinderhygiene in Stadt und Land. Arch. 
latino-americ. de pediatria Bd. 18, Nr. 5/6, S. 259—282. 1924. (Portugiesisch.) 

Verf. gibt zunächst einen Überblick über die Kinderhygiene in den verschiedenen 
Ländern, besonders in England und Nordamerika. Dann macht er Vorschläge, wie 
sich die betreffenden Fürsorgemaßnahmen auf den Staat Sao Paulo übertragen lassen. 
Die Kinderfürsorge zerfällt in vier Abteilungen: 1. In die Fürsorge der Schwangeren; 
2. in die der Säuglinge; 3. in die der Kleinkinder; 4. in die der Schulkinder. Im einzelnen 
werden dann die Errichtung von Fürsorge- und Beratungsstellen, von Krippen, Frei- 
luftplätzen, Kinderkliniken und die Einführung des Schularztsystems besprochen. 

Ganter (Wormditt). 
© Tätigkeitsberieht der deutschen Landesstelle für Kinderschutz und Jugend- 
fürsorge in Schlesien für das Jahr 1923. Troppau: Dtsch. Landesstelle f. Kinderschutz 
u. Jugendfürsorge in Schlesien 1924. 48 S. 

In der Tschechoslowakei wirken mehrere Vereinigungen, die mit größter Hingabe 
der deutschen Kinderschutzarbeit dienen; sie sind zusammengefaßt in dem „Reichs- 
verband für deutsche Jugendfürsorge in der tschechoslowakischen Republik‘. Von 
einer dieser Vereinigungen, der ‚deutschen Landesstelle für Kinderschutz und Jugend- 
fürsorge in Schlesien“ liegt jetzt der Jahresbericht für 1923 vor. Die Stelle ist 1916 ge- 
gründet und hat sich trotz schwerster Verhältnisse tapfer und erfolgreich behauptet 
und entwickelt. Sie ist der Mittelpunkt der deutschen Zweigvereine, 18 Bezirksfür- 
sorger sind ihr angegliedert. Ein ausführlicher Bericht über das eigene Erziehungshein 
der Landesstelle zeigt, wie diese modernen Anforderungen nachzukommen strebt 
(u. a. besitzt das Heim eine eigene Psychopathenabteilung). Von hier aus sollen die 
anderen schlesischen Anstalten, soweit nötig, reformiert werden. Weitere Abschnitte 
des Berichts erzählen von Ferienfürsorge, Berufsberatung u. a.m. Eine interessante 
Karte mit den deutschen Fürsorgeeinrichtungen in Schlesien erhöht den Wert des sehr 
anregenden Heftes. K. Mende (Berlin). 


Inspektorat für private Irrenpflege und Kinderhaus „‚Stephansburg‘“ bei der 
Zürcherischen kantonalen Heilanstalt Burghölzli in Zürich. (Nach dem Rechensehafts- 
bericht für 1921.) Psychiatr.-neurol. Wochenschr. Jg. 26, Nr. 15/16, S. 82—84. 194. 

Der kurze Bericht über das Jahr 1921 betrifft die private Irrenpflege und dr 
Kinderabteilung der Heilanstalt und Klinik Burghölzli. Das Bestreben des Inspekto 
rates ging dahin, die Kranken wenn möglich gegen freie Kost und Wohnung oder ga! 
gegen etwas Lohn unterzubringen. Sofern sich dies nicht machen ließ, wurde da: 
Kostgeld so bemessen, daß ein kleiner Teil davon den zunehmenden Arbeitsleistung?! 
entsprechend allmählich steigend als Lohn rückerstattet wurde. Dies ist nötig, einmal. 
da viele Pfleglinge anfangs nicht an ländliche Arbeit gewöhnt sind, ferner aber, un 
Pfleger und Pflegling an der Arbeit zu interessieren, denn die Anlage eines kleme: 


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Privatbesitzes hat sich auch für Geisteskranke als ein wichtiger Ansporn zu regel- 
mäßiger Tätigkeit und als ausgezeichnetes Erziehungsmittel erwiesen. Auch diejenigen 
Kranken, die seinerzeit die Anstalt nur widerwillig und mit Mißtrauen verlassen 
haben, sind gerne in der privaten Pflege. Da, wo Pat. allzu mißtrauisch waren, hat 
man sie vor der Unterbringung in privater Pflege einfach einmal auf eine Inspektions- 
reise bei den Pflegerfamilien mitgenommen, um ihnen den Betrieb zu zeigen. Für 
arbeitsfähige Kranke, die nicht mehr eigentlich internierungs-, wohl aber noch in ver- 
mehrtem Maße aufsichts- und anlehnungsbedürftig sind, wurde der Versuch gemacht, 
eine Art Arbeitskolonie zu schaffen. Von da aus soll dann eine Überführung in Fa- 
milienpflege folgen. Die ganze Tendenz geht dahin, die Kranken aus teuer zu bezahlen- 
den Unterbringungen (Heilanstalt usw.) in solche mit kleinerem Kostgeld oder freier 
Station oder gar mit Lohn zu verpflanzen. Der Nutzen des Staates, der auf diese 
Weise erzielt würde, ist erheblich. In diesem Berichtsjahr konnte auch eine eigene 
psychiatrische Kinderstation in dem in der Nähe von Burghölzli gelegenen Haus zur 
„Stephansburg‘‘ eingerichtet werden, das auf freier Höhe an einem der schönsten 
Punkte der Stadt liegt. Es hat 25 Betten, von denen nach Möglichkeit aber nur 20 be- 
legt werden sollen. In einem benachbarten Gärtnerhause wurde eine Schreinerwerkstatt 
für die größeren Knaben angelegt. Aufgenommen sollen werden heilbare oder besse- 
rungsfähige Kinder und Jugendliche, die wegen nervöser oder psychischer Leiden der 
Aufnahme in eine Klinik bedürfen. Altersgrenze ist in der Regel das zurückgelegte 
14. Jahr. Um die Kinder richtig zu beschäftigen, bei der Arbeit zu beobachten und 
ferner um zu verhüten, daß sie während der Behandlung in ihrer Schulbildung zurück- 
bleiben, wurde ein Lehrer eingestellt, der eine besondere Vorbildung mitbrachte. 
Außer einem Assistenzarzt und dem Pflegerinnenpersonal arbeiteten eine Anzahl 
freiwillige Helferinnen mit besonderer Vorbildung mit. Der Besuch war ein guter. 
Vıllinger (Tübingen). 

Anderson, V. V.: The demonstration elinies eondueted by the division on the preven- 
tion of delinquency of the national committee for mental hygiene. The first year’s expe- 
rienee. (Die Demonstrationskliniken, welche von derjenigen Abteilung der Nationalen 
Vereinigung für geistige Hygiene geleitet werden, welche sich mit der Verhinderung 
von Verbrechen beschäftigt. Erfahrung des ersten Jahres.) Americ. journ. of psych- 
iatry Bd. 8, Nr. 4, S. 779—790. 1924. 

3 Musterpolikliniken, von denen 2 wandern, sollen Aufklärung über den Wert 
der Psychiatrie für Studium und Behandlung von Kindern mit Störungen des Betragens 
verbreiten. Diese Polikliniken, versehen mit Psychiatern, Psychologen, Fürsorgern, 
Statistikern und Stenographen, halten sich in jeder Stadt etwa 12 Monate auf, um ihre 
Methoden zu zeigen und zur Schaffung moderner Behandlungseinrichtungen anzuregen. 
Jedes Kind, das ihnen da von Angehörigen oder Schule zugeführt wird, erfährt eine 
gründliche körperliche und seelische Untersuchung mit genauer Berücksichtigung 
seiner Umwelt. 3—5 Tage sind der „Physiker“, der Psychiater, der Psychologe, der 
Fürsorger an der Arbeit, ehe das notwendige Material vorliegt, auf Grund dessen ihre 
gemeinsame Konferenz den Heilplan entwirft. Bei seiner Durchführung, zumal beim 
Versuche, das weitere Betragen des Kindes günstig zu beeinflussen, sollen sämtliche 
vorhandene lokale Organisationen mitbenutzt werden. Das Ziel ist Schaffung ent- 
sprechender Dauerpolikliniken in den Demonstrationszentren, und nur solche Städte 
werden aufgesucht, welche sich verpflichten, hierzu ein Jahresbudget von 25 000 Dollar 
bereitzustellen. Wo solche Mittel fehlen, kann immer noch ein ‚„konsultierender Feld- 
dienst“ auf 3—4 Monate gewährt werden, um der Schaffung einer bescheideneren 
Organisation vorzuarbeiten. Als Minimum gilt hier ein Jahresbudget von 15 000 Dollar. 
— Bemängelt wird in der Diskussion das Fehlen klinischer Beobachtungsmöglichkeit. 

Raecke (Frankfurt a. M.)., 
© Vischer, Andreas: Eingabe der medizinischen Gesellschaft Basel an die tit. 
großrätliebe Kommission für die Revision des Sehulgesetzes und den tit. Vorsteher des 


11* 


— 164 — 


Erziehungsdepartements Basel betreffend die körperliche Erziehung in den Schulen. 
Basel: Emil Birkhäuser & Cie. 1924. 28 8. 

Die mangelhafte körperliche Entwicklung und der schlechte Gesundheitszustand 
der Schulkinder veranlaßte die Medizinische Gesellschaft Basel unter Beifügung fach- 
ärztlicher Gutachten nachdrücklich für eine weitgehende Pflege und Erziehung des 
Körpers in den Schulen einzutreten. Gefordert wird von der untersten Klasse an 
täglich eine der Körpererziehung im weitesten Sinne gewidmete Lehrstunde, durch 
welche besonders die Schädlichkeiten des Sitzens ausgeglichen werden sollen. Ferner 
ist der Sport, besonders Schwimmen und Leichtathletik durch aufgabenfreie Nach- 
mittage unter Aufsicht eigens vorgebildeter Lehrer zu fördern. Die Zahl der Lern- 
stunden muß beschränkt werden; sie sollten in den Volksschulen über 12 Sitzstunden 
wöchentlich im ersten Schuljahr nicht hinausgehen, um im 4. Schuljahr bis 18 anzu- 
steigen; für die Mittelschulen sollten 24, für die höheren 26 Sitzstunden genügen. Auf 
den Nachmittag sollten keine anstrengenden Stunden fallen, die häuslichen Aufgaben 
in den höheren Schulen nicht mehr als 2 Stunden täglich in Anspruch nehmen. Die 
Beschränkung der Stundenzahl ist nur möglich, wenn der Lehrstoff vermindert wird, 
worauf auf das entschiedenste zu dringen ist. Bei der zweckmäßigen Anordnung des 
Pensums und auf den Gang des Unterrichts sollen dem Schularzt entscheidende Be- 
fugnisse eingeräumt werden. Die beigegebenen Gutachten behandeln ausführlich die 
Beeinflussung des kindlichen Wachstums durch die Schule (Rössle), die Schädigungen 
der Sehkraft (Knapp), den Einfluß auf das Allgemeinbefinden (Burckhardt) und 
die Wirbelsäulenverkrümmungen und die körperliche Erziehung in der Schule (Vischer) 
wobei überaus beachtenswerte Vorschläge zur Abstellung der Schäden gegeben werden. 

B. Harms (Berlin). 

Smith, Riehard M.: The periodic examination of well ehildren. (Die periodische 
Untersuchung gesunder Kinder. New York state journ. of med. Bd. 23, Nr. 10. 
S. 419—421. 1923. 

Es wird in dem Aufsatz eine Lanze für eine regelmäßige genaue Untersuchung 
sämtlicher gesu nder Kinder gebrochen, und zwar für eine 2 malige im Jahr, immerhin 
eine sehr radikale Forderung. Bei diesen Untersuchungen, die natürlich sich auf alle 
Teile des Körpers beziehen sollen, wird zunächst nach der normalen Entwicklung 
des Körpers gefragt. Größe, Gewicht, Ernährungszustand, Zähne, Knochen, Glieder- 
haltung werden festgestellt, dann der Befund aller Organe einschließlich der Sinnes- 
organe. Es folgt die Feststellung der erfolgten Schutzpockenimpfung. Dann wird es 
als ärztliche Pflicht proklamiert, sämtliche Kinder gegen Diphtherie zwecks Immuni- 
sierung schutzzuimpfen. Die Immunisierung gegen andere Infektionskrankheiten ist 
geplant. Gelegentlich dieser Gesunden-Untersuchung sollen Ratschläge und Anwei- 
sungen über persönliche Hygiene gegeben werden. Auch der Geisteszustand soll be- 
achtet werden; Zeichen von Schwachsinn und Psychopathie. Man sieht also: ein um- 
fassendes großzügiges Programm, dessen Ausführung jenseits des Ozeans ohne weiteres 
möglich ist. Wenn nicht der Fanatismus der Schutzimpfungen dabei wäre, man könnte 
wirklich sagen: Amerika, du hast es besser! Lewandowski (Berlin). 

Katz, S. E., and Horace Gray: Health and growth of ehildren in an institution. 
(Körpergröße und Gewicht von Kindern in einem Heim. Americ. journ. of dis. of 
childr. Bd. 27, Nr. 5, 8. 464—472. 1924. 

Es wird über allgemeine und besondere hygienische Einrichtungen und Ma8- 
nahmen berichtet aus einem Bostoner Heim für jüdische arme Kinder im Alter von 
5—17 Jahren. Auf Grund von jahrelangen Erfahrungen und Beobachtungen ist man 
zu folgenden Ergebnissen gelangt: 1. Kinder aus den ärmsten Klassen erzielen unter 
Heimpflege eine außerordentlich rasche körperliche Entwicklung in normalen Zu- 
ständen. 2. Die untersuchten 156 Kinder waren fast allgemein von unternormaler 
Größe, dagegen in einem guten Ernährungszustand. Nur 3%, waren unterwichtig. 
3. Je länger der Aufenthalt im Heim währte, desto mehr hob sich der Ernährungs- 


— 165 — 


zustand und allgemeine Entwicklung. 4. Der beste Gesundheitszustand fand sich bei 
erstgeborenen Kindern und solchen aus tuberkulosefreien Familien. Der interessante 
Bericht wird durch einige sehr lehrreiche Kurven nützlich ergänzt. Lewandowski. 

Kirehberg, Franz: Die Ausnutzung der deutschen Seeküsten für die Ertüchtigung 
der Jugend. Wert der See für die Gesundheit der Kinder. Veröff. a. d. Geb. d. Medizinal- 
verwalt. Bd. 18, H.6, S.5—56. 1924. 

Preisgekrönte Arbeit von der Deutschen Gesellschaft für Meereskunde. Es wird 
nachgewiesen, daß das Blutbild sich günstig ändert: Anstieg des Hämoglobins, Ver- 
mehrung der roten Blutkörperchen. Die Einatmung wird erhöht, die Ausatmung 
erleichtert; die muskuläre Arbeitsleistung steigt infolge Zunahme der Muskelkraft 
und Erleichterung des Inneroationstriebes. Ferner ist nachgewiesen: gesteigertes 
Längenwachstum, gesteigerte Gewichtszunahme. Bewirkt wird diese günstige Beein- 
flussung des Gesamtorganismus durch den Salzgehalt, die Reinheit, die Bewegung 
der Luft, durch die intensive Belichtung und eine gleichmäßige, durchschnittlich 
höhere Temperatur als im Binnenlande. Auf die Winterkuren wird besonders hinge- 
wiesen. Eine Propaganda unter den Ärzten ist erforderlich. „Schickt die schwächlichen, 
rhachitischen, tuberkulösen Kinder (Gelenk- und Knochentuberkulosen) an die See.‘ 
Vor allem sollen die Krankenkassen die Kinder in Seehospize senden. Auf Grund 
des Krüppelgesetzes müssen Kommunen, die Provinz bei Gefahr der Verkrüppelung 
zu den Kosten herangezogen werden. Das nächste neue Krüppelheim muß an der 
See gegründet werden. Ferienwanderungen der Gesunden an die See! Alle noch vor- 
handenen Militärbaracken an Nord- und Ostsee müssen für Jugendheime gesichert 
werden. Eine Lücke an dieser schönen Arbeit. Ostsee oder Nordsee? Welche von bei- 
den ist „die See“? Besteht nur ein quantitativer oder sicher ein qualitativer Unter- 
schied der Heilfaktoren? Hoffentlich wird die Deutsche Gesellschaft für Meereskunde 
bald auch dieser wichtigen Frage ihre Aufmerksamkeit zuwenden. 

R. Engelmann (Kiel). 

Jaspert: Erzieherische Einwirkung der Erholungsfürsorge auf Jugendliche. Zen- 
tralbl. f. Jugendrecht u. Jugendwohlf. Jg. 16, Nr. 1, S. 11—13. 1924. 

Der auf dem Gebiete der Erholungsfürsorge bekannte Vorkämpfer . betont in 
15 kurzen Sätzen die Notwendigkeit pädagogischer Erziehungsarbeit während 
des Erholungsaufenthaltes der Kinder, sei es in Heimen, im Sonnenbad, bei 
Ferienwanderungen oder während eines Landaufenthaltes. Selbst in Krankenhäusern 
und Tuberkuloseheimen verlangt er sinngemäße Anwendung seiner Forderungen. Die 
Entsendung von Kindern in Landpflegestellen empfiehlt er überhaupt nur, wenn eine 
Gemeinde mehr als 6 Kinder aufnimmt, so daß eine pädagogisch gebildete Persönlich- 
keit als Pflegeperson mit in diesen Ort geschickt werden kann. In diesem letzten Punkte 
dürften die von einem Schulmann diktierten Forderungen wohl doch zu weit gehen. 

Fritz Lade (Hanau-Wilhelmsbad).°° 

Mulon, Clotilde, et Henri Roueehe: Hygiène sociale de la mère et de Penfant 
(1921—1922). (Soziale Fürsorge für Mutter und Kind.) Rev. d’hyg. Bd. 45, Nr. 10, 
S. 914—926. 1923. 

Ausführliche Schilderung des Standes der sozialen Fürsorge für Mutter und Kind 
in Frankreich. I. Abschnitt: Mutterschutz während der Schwangerschaft. Im Durch- 
schnitt von 50 Jahren erfolgen jährlich 41 000 Totgeburten. (In Preußen Durch- 
schnitt 1901—1921 = 36700.) 20000 starben an angeborener Lebensschwäche. 
(Preußen 38 000: 1921.) Auf die große Bedeutung der Syphilis (50%) wird hinge- 
wiesen. Viele Frauen auf dem Lande gebären ohne Hebammenhilfe. Die Hebammen 
sollen auf dem Lande die Säuglingsfürsorge übernehmen. Das Wochengeld beträgt 
nur 1,50 Fr., was beanstandet wird (leider fehlte die Angabe, wie lange es gezahlt 
wird). Infolgedessen hat sich die Sterblichkeit der Entbundenen nicht verringert. 
1913: 465; 1919: 494. Das Versicherungsgesetz sieht nur die Hälfte des oben ge- 
nannten Betrages vor. II. Abschnitt: Schutz für die stillende Mutter. Von größter 


— 16 — 


Bedeutung sind die Heime für stillende Mütter und die Säuglingsfürsorgeanstalten. 
III. Schutz für die Arbeiterkinder. 1. Stillprämien 15 Fr. monatlich (Deutschland 
7,50 M.!). 2. Stillstuben. 3. Ausgleichskassen. Diese werden von den Arbeitgebern 
gespeist und aus ihnen sollen Stillprämien, Säuglingsfürsorgerinnen usw. bezahlt wer- 
den. 4. Krippen. IV. Schutz für das von der Mutter getrennte Kind. Durch das 
(Gesetz-Strauss wird die Fürsorge auf 350 000 Kinder ausgedehnt (bisher 45000). 
In einzelnen Gebieten Frankreichs beträgt die Sterblichkeit der befürsorgten unehe- 
lichen Kinder 80%. Zwei Arten der Hilfe werden vorgeschlagen. Es werden Auf- 
zuchtszentren gebildet, in denen Ammen um einen Arzt und eine Fürsorgerin gruppiert 
sind. Die Fürsorgerin besucht täglich die Säuglinge. Die eine Art hat eine Säuglings- 
fürsorgestelle und eine Säuglingsfürsorgerin; hier werden nur gesunde Kinder in 
Pflege gegeben. Die zweite Art enthält ein Säuglingsheim und Milchküche. Hier wer- 
den tuberkulosegefährdete und schwächliche Kinder untergebracht. V. Säuglings- 
fürsorgerin. Diese hat u.a. die Aufgabe, den Müttern die ärztliche und soziale Hilfe 
zu vermitteln. VI. Unterricht in der Kinderpflege. Kurse für praktische Ärzte und 
Spezialausbildung der Studenten sind erforderlich. Kurse für Mütter, Mädchen und 
Schulkinder müssen eingeführt werden. Ein Kursus wurde für Mädchen vom 5. bis 
11. Jahre abgehalten. Der Erfolg war sehr gut. Nach dem 13. Jahre können die Mäd- 
chen in der Schule nicht wieder erfaßt werden. VII. Zusammenwirken der Bestre- 
bungen. Dieses ist gesichert durch den Obersten Geburtenrat, der in diesen und den 
Obersten Rat für Kinderschutz geteilt ist. Eine internationale Vereinigung für Kinder- 
schutz ist unter dem Vorsitz des belgischen Königs ins Leben gerufen. VIII. Körper- 
liche Ertüchtigung. Die körperliche Ertüchtigung muß mehr betont werden. Sport 
darf nur treiben, wer körperlich voll durchgebildet ist. In der Medizinischen Fakultät 
müssen für die Studierenden besondere Vorlesungen abgehalten werden, um sie für 
die körperliche Erziehung zu befähigen. Engelmann (Kiel). 

Jarrett, Mary C.: Factors in the mental health of girls of foreign parentage. A study 
of 210 girls of foreign parentage who received advice and assistance from a social agene), 
1919—1922. (Faktoren der psychischen Gesundheit von Mädchen fremder [nicht- 
amerikanischer] Abstammung. Eine Untersuchung von 210 Mädchen ausländischer 
Herkunft, die 1919 — 1922 in sozialen Wohlfahrtseinrichtungen Rat und Hilfe er- 
hielten.) Public health reports Bd. 89, Nr. 10, S. 447—472. 1924. 

Der Bericht stellt einen Teil des großen Arbeitsgebietes der staatlichen Gesund- 
heitsbehörden der Vereinigten Staaten dar, allerdings einen anscheinend erst seit kurzem 
in das Arbeitsprogramm aufgenommenen (Ref.). Er umfaßt 210 Mädchen nicht- 
amerikanischer Herkunft, die in den Bereich gewisser Wohlfahrtseinrichtungen kamen 
und sich dort einer Untersuchung unterziehen mußten. Die Untersuchung erstreckt 
sich auf zwei gesonderte Fragen, die aber schließlich wieder gemeinsam münden: Einer- 
seits suchte man festzustellen, in welchem Umfang Not und Eingewöhnungsschwienig- 
keiten der Einwanderer zu psychischen Störungen oder wenigstens Notlagen den Grund 
bilden, und andererseits inwiefern auf dieser Basis soziale Schwierigkeiten und Störungen 
entstanden. Aus der vorwiegend statistisch angelegten Arbeit können nur einige 
Zahlen von allgemeinerem Interesse hervorgehoben werden. Von den 210 Mädchen 
waren 131 kriminell, wobei in über 100 Fällen Vergehungen gemeint sind, die mit der 
Sexualität zusammenhängen. Nur in 65 Fällen hatten die Mädchen ein ordentliche 
Heim, also in knapp 35%, der Gesamtfälle. Mangelhafte Anpassung an die amerika- 
nischen Sitten und Gebräuche hat nur in 24 Fällen allein zu Störungen geführt. Die 
Fälle verteilen sich auf 27 Nationalitäten, so daß bei den geringen auf die einzeln 
Nation entfallenden Zahlen keine Schlüsse auf Eigenschaften der verschiedenen ^Na- 
tionen gezogen werden können. Villinger (Tübingen).. 

Holloway jr., J. W.: Soeial workers and prostitution. (Soziale Fürsorge und 
Prostitution.) Journ. of soc. hyg. Bd. 10, Nr. 4, S. 193—202. 1924. | 

Man muß zu den Quellen sozialer Mißstände vordringen. Es nützt nichts, di 


— 167 — 


schweren Folgen der Prostitution zu bekämpfen, ohne sie selbst auszurotten, und zwar 
sollte man nicht die unglücklichen Insassinnen der Bordelle, sondern ihre Nutznießer, 
die Inhaber, Hauswirte und Geldgeber streng bestrafen, das würde helfen. In Tennessee 
hat sich ergeben, daß der Geldgeber des berüchtigsten Bordells der Superintendent 
der größten Sonntagsschule war. Den Prostituierten muß die Rückkehr in die Gesell- 
schaft ermöglicht werden durch Arbeitsbeschaffung und Unterbringung. 

Martin Gumpert (Berlin). 

Kreutz: Die freie Wohlfahrtspflege im Abwehrkampf gegen die Gesehlechtskrank- 
heiten. Mitt. d. dtsch. Ges. z. Bekämpf. d. Geschlechtskrankh. Bd. 22, Nr.1, S.1 
bis 4. 1924. 

Referat, das der Präsident des Deutschen Caritasverbandes auf der Jahresversamm- 
lung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten gehalten hat. 
Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten sei vor allem Sache der religiösen Wohlfahrts- 
vereinigungen. Besonders die katholische Kirche hat seit Jahrhunderten sich bemüht, sittlich 
Verwahrloste wieder für die Gemeinschaft zu gewinnen. Papst Innozenz III. hat bereits 1198 
zur Rettung und Heilung der unglücklichen Prostituierten aufgerufen. Arzt, Pädagoge und 
Seelsorger müssen gemeinsam arbeiten. Überblick über die katholischen Organisationen, die 
gegenwärtig im Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten tätig sind. Als wirksamste Prophy- 
laxe wird Schutz der Jugend vor Verführung und entsittlichenden Einflüssen angesehen. 
Die Religionsgemeinschaften selber müßten in erster Linie den Aufklärungsdienst übernehmen, 
das Bußsakrament der Kirche sei unter diesem sozialhygienischen Gesichtspunkt als göttliche 
Einrichtung besonders zu preisen. Martin Gumpert (Berlin). 

Bezangon, F., et Léon Bernard: L’organisation antitubereuleuse du département 
de la Seine et P’office publie d’hygiene soeiale. (Die Anstalten zur Bekämpfung der 
Tuberkulose im Seinedepartement und das Gesundheitsamt für soziale Hygiene.) Rev. 
de phtisiol. Jg. 5, Nr. 3, S. 134—147. 1924. 

Es wurde ein Netz von Beratungsstellen (dispensaires) geschaffen zur Aufspürung 
der Krankheit in den Familien durch Hausbesuche und zu ihrer Bekämpfung. Die 
Heilstätten und Genesungsheime wurden vermehrt. Die Kinder aus verseuchten 
Familien wurden, wenn sie noch gesund waren, in Familien untergebracht, leicht er- 
krankte kamen für 4 Monate in geeignete Anstalten (preventoriums). Besondere Aus- 
‚schüsse bestanden für Besserung der Wohnungsverhältnisse und für Aufklärung durch 
volkstümliche Vorträge, Plakate und Verbreitung einschlägiger Bücher. Noh (Berlin). 

© Vortisch, H.: Mutter und Kind. Ein ärztlicher Ratgeber für junge Frauen. 
Hamburg: Verl. d. Agentur d. Rauhen Hauses 1924. 189 S. G.-M. 2.50. 

Vor dem Büchlein muß, wie vor so manchem volkstümlich sein sollenden, eindringlich 
gewarnt werden. Wer sich die große Verantwortung aufbürdet, über Fragen der Körperpflege 
und der Ernährung für Laien zu schreiben, muß unbedingt auf der Höhe der Wissenschaft 
stehen und über eine große kritisch gesichtete Erfahrung verfügen. Diese Forderung muß 
besonders streng erhoben werden, wenn es sich um die schwierigen und verwickelten Fragen 
der Säuglingsernährung handelt. Das Buch enthält zahlreiche grobfehlerhafte Lehren (z. B. 
bei Durchfällen soll 3 Tage lang nur Tee gereicht werden, Auskerbungen an den mittleren oberen 
Schneidezähnen des Milchgebisses sprächen für Syphilis — Kinderlügen sollen streng bestraft 
werden usw. ). Von der Bedeutung der Vitamine verlautet kein Wörtlein. Die ganze wissen- 
schaftliche Naivität des Verf. geht daraus hervor, daß er als Beispiel für die Behandlung von 
Ernährungsstörungen einen von ihm behandelten Fall anführt. Wer die Schwierigkeit der 
Behandlung von Ernährungsstörungen kennt, wird notgedrungen Abstand davon nehmen, 
inein populäres Buch auch die Behandlung von darmkranken Kindern aufzunehmen. Selbst eine 
sachverständige Darstellung würde den Laien nicht in einen Arzt verwandeln. Die Dar- 
stellung des Verf. birgt schwere Gefahren für Gesundheit und Leben der Kinder in sich. 

G. Tugendreich (Berlin). 
Säuglings- und Kleinkinderfürsorge : 


Dementjev, V.: Über die Tätigkeit der Beratungsstelle für Mütter und Säuglinge in 
Narva. Eesti Arst Jg. 8, Nr. 5/6, S. 121—123. 1924. (Estnisch.) 

Die Beratungsstelle hat 1922 besonderes Gewicht auf den systematischen Haus- 
besuch durch die Schwestern gelegt; hier wurde den Müttern in allen Fragen der Kinder- 
pflege mit Rat und Tat beigestanden. Für die Kinder ärmerer Bewohner wurden 
Lebensmittel verteilt. Von den untersuchten Kindern waren 162 gut, 307 mittel- 


— 168 — 


mäßig und 106 schlecht ernährt. Die Mittelwerte für Größe und Gewicht sınd etwas 
kleiner als die Pirquetschen Zahlen. Neben der Beratungsstelle besteht auch em 
Ambulatorium für kranke Kinder und eine Beratungsstelle für Schwangere. Die Unter- 
haltskosten trägt die Stadt und ein Damenkomitee. G. Michelsson (Narva). 

Feidman, W. M.: The past, present and future of the infant welfare movement. 
(Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Säuglingsfürsorge.) Brit. journ. of childr. 
dis. Bd. 21, Nr. 244/246, S. 81—95. 1924. 

Eine kurze, interessante Studie über die Entwicklung der Säuglingsfürsorge 
seit ältesten historischen Epochen. Freilich wird man einigen der Behauptungen 
etwas skeptisch gegenübertreten müssen: z. B. daß Völker in fruchtbaren Ländern. 
mit matriarchalischer Organisation — „demzufolge“ einer höchsten weiblichen Gott- 
heit —, die Säuglinge sorgsam hüteten und pflegten, im Gegensatz zu Bewohnern 
weniger fruchtbarer Landstriche mit Patriarchat und männlicher Obergottheit, die 
Kindermord usw. verübten. Des Verf. eigene sehr eingehende Untersuchungen über dıe 
hochentwickelte Säuglingspflege der Israeliten widersprechen selbst solchen zweifellos 
konstruktiven Schlüssen. Interessant sind Hinweise auf die sehr früh einsetzende 
Stillpropaganda und eugenische Gattenwahl sowie Schwangerenbetreuung, ebenfalls 
auf die von Galen und Hippokrates überkommenen Vorschriften betreffend Säug- 
lingspflege. Mit einem großen Sprung wendet sich der Verf. der neueren Zeit zu. bei 
der er sich auf umfangreiches statistisches Material stützt. Für die in der Überschrift 
erwähnte „Zukunft“ fordert er vor allem weitreichenden und gründlichen Unterricht 
in Hygiene und Säuglingspflege, Wohnungsreform, geordnetere Zusammenarbeit zwi- 
schen Säuglingsfürsorgestellen und praktizierenden Ärzten, genügende Zahl von 
Beratungsstellen und Betten für Schwangere, in Verbindung mit den Säuglingsfürsorge- 
anstalten. Mende (Berlin). 

Renault, Jules, et Georgette Labeaume: Les „orphelins temporaires“. (Die ‚„.Zeit- 
Waisen“.) Rev. d’hyg. Bd. 46, Nr. 7, S. 646—656. 1924. 

Als „Zeit-Waisen‘ bezeichnen die Verff. die Säuglinge und Kleinkinder, die von 
ihren unehelichen Müttern oder ihren von der Erwerbstätigkeit völlig in Anspruch 
genommenen Eltern in fremde Pflege gegeben werden, bis die Eltern sie wieder zu sich 
nehmen können. Des weiteren ist nur von der Säuglingspflege ausführlicher die Rede. 
Neben der Unterbringung in Einzelpflege unter z. T. sehr ungewissen Verhältnissen gibt 
es in Frankreich wenige fachärztlich geleitete Säuglingsheime (private Stiftungen). 
vereinzelt Säuglingsabteilungen bei öffentlichen Krankenhäusern, in denen die Kinder 
längere Zeit verbleiben können, und drittens die in bestimmten Landgemeinden 
zentral organisierte Familienpflege. Die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Pflege- 
formen werden erörtert, die große Säuglings- und Kindersterblichkeit hervorgehoben 
und besonders auf Gewissenlosigkeit und Feindseligkeit gegen Neuerungen sowie auf 
den Mangel an strenger amtsärztlicher Aufsicht als Hemmnisse ihrer Bekämpfung hin- 
gewiesen. Demgemäß werden gesetzliche Neuregelungen in bezug auf Ausbildung der 
Säuglingspflegerinnen und der Ärzte und die Pflichten des Staates und der Gemeinden 
gefordert und ein Gesinnungswandel auf dem ganzen Gebiete für notwendig erklärt 
Englische und belgische Vorbilder werden nachdrücklich hervorgehoben, deutsch: 
Verhältnisse nicht erwähnt. Homburger (Heidelberg). 

Nob&eourt, P., et G. Boulanger-Pilet: Augmentation de fr&quence de la tubereulose 
chez les nourrissons de la elientele hospitalière et erise du logement. (Frequenz- 
steigerung der Säuglingstuberkulose im Spitale und Wohnungskrise.) Bull. de l’acad 
de med. Bd. 92, Nr. 29, S. 906—910. 1924. ° 

In den letzten 3!/, Jahren waren unter 1380 Kindern im Alter von 1 Tag bis zu 
24 Monaten, die in Spitalpflege standen, 90 tuberkulöse (6,52%); die Tuberkulose 
betraf die verschiedensten Organe und wurde durch Hautreaktion, Röntgenverfahrer 
oder Bacillennachweis erkannt. Die größte Häufigkeit (87%) zeigte das Alter vo: 
3—13 Monaten, hauptsächlich der 5. bis 7. Monat. Von 50 Kranken stammte 22 ma! 


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die Infektion von der Mutter, 10 mal vom Vater, 7 mal von anderen Familienmitgliedern, 
2 mal von den Pflegepersonen. Die Frequenzsteigerung der Kindertuberkulose ist der 
seit dem Kriege manifesten Wohnungsnot, dem gedrängteren Zusammenwohnen vieler 
Personen in eingeengten Übikationen zur Last zu legen. Auch in der Mortalität drückt 
sich die Zunahme der Tuberkulosegefahr aus. Neben der Milderung der Wohnungsnot 
ist die Entfernung tuberkulosegefährdeter Kinder aus dem Milieu und evtl. die Tuber- 
kulinbehandlung prophylaktisch in Betracht zu ziehen. Neurath (Wien). 
Schulkinderfürsorge : 

Ljunggren, C. A.: Studien über Schulhygiene und ihre praktische Anwendung in 
den städtischen Volksschulen. Svenska läkartidningen Jg. 21, Nr. 20, S. 465—473 u. 
Nr. 21, S. 497—507. 1924. (Schwedisch.) 

Jedes Kind, das die Schule besucht, ist genau zu untersuchen und über dasselbe 
sind dauernd die Untersuchungsresultate anzuführen. Die Pirquetsche Prüfung 
ist dabei nicht zu unterlassen und wird nicht selten positiv ausfallen. Bei dem Gewicht 
und Körperlänge wandte Ljunggren das Standardschema von Wood an unter 
Berücksichtigung des von Schiötz für Schweden aufgestellten. Bei seinen Messungen 
(mehrmals jährlich) wurde stets die Entwicklung der Kinder in der vorausgegangenen 
Periode mit in Betracht gezogen. Eine 3malige Untersuchung im Jahre (Gewicht und 
Größe) ist nötig, um Fehlerquellen auszuschließen, welche die Entwicklung mit sich 
bringt. Über solche bei 1000 Kindern werden Tabellen angegeben. Ein planmäßiges 
Zusammenwirken mit den Eltern und Lehrern ist unbedingt nötig, ebenso mit den 
Kindern, bei denen Interesse für das Resultat der Untersuchungen (Gewicht und 
Größe) geweckt werden muß. Der Schularzt soll die Schulkinder nicht behandeln. 
Die Zahlen der normalen und zulässigen Gewichts- und Wachstumsstillstände, Ver- 
minderungen, Erhöhungen in den verschiedenen Altern und Jahreszeiten müssen genau 
festgestellt werden. Bei 5—7 jährigen Kindern fand der Verf. im Jahre 1922 bei Knaben 
eine mittlere monatliche Gewichtszunahme von 0,14 Kilo und im Jahre 1923 von 0,6. 
Bei Kindern mit 7%, Untergewicht kommen in Frage ungesunde hygienische Verhält- 
nisse zu Hause, mangelhafte Nahrungszufuhr, Indigestionsstörungen, erbliche Ver- 
anlagung, Lues, Tuberkulose, andere körperliche Defekte, Überanstrengung. 

S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 

Treadway, Walter L.: The place of mental hygiene in the sehools. (Die Stellung 
der geistigen Hygiene in der Schule.) Americ. journ.of public health Bd. 13, Nr. 11, 
S. 928—937. 1923. 

Von 1880—1910 hat die Zahl der Insassen der Irrenanstalten von 81,6 auf 220,1 
für 100 000 Einwohner zugenommen. Ein weiteres drückendes Problem ist das der 
Geistesschwachen, ebenso das der verschiedenen Neurotiker und der Epileptiker. 
Von 68 983 Erstaufnahmen der Zeitspanne 1917—1922 entfallen 37,46% auf orga- 
nische Hirnkrankheiten oder Ernährungsstörungen (1,72% Tumor, Chorea Huntington 
u.a.; 15,72% Senile und Arteriosklerotische, 8,36% toxische, Alkohol- u. a. und soma- 
togene Psychosen, 11,39%, luetische, 0,27% traumatische), 47,69% auf ‚mangelhafte 
geistige Anpassung‘“ (25,75% Schizophrenie, 15,16% zirkuläres Irresein, 2,15% Para- 
noia, 1,77% Psychoneurosen, 2,86%, Angstzustände) und 7,04% auf konstitutionelle 
Störungen (2,61% Epilepsie, 1,66% Psychopathen, 1,77% Schwachsinn); 7,79%, waren 
unklassifizierbar oder gesund. Alkoholismus kann als unterstützende Ursache auch 
bei der Gruppe der Senilen eine Rolle spielen. Hier kann die Schule vorbeugend wirken. 
Ebenso hinsichtlich der luetischen Psychosen durch eine geeignete Erziehung in sexueller 
Hinsicht, welche die soziale Bedeutung des Geschlechtsverkehrs den Kindern ein- 
prägen würde. Ermutigung und Erziehung zu sachgemäßer Zielstrebigkeit könnte 
die Zahl der mangelhaft Angepaßten sicherlich verringern. Es wird auf die Bedeutung 
von Erziehungsfehlern in der Genese der Psychoneurosen verwiesen (Verwöhnung und 
Unterdrückung — stark an A. Adler gemahnende Auffassung). Eine sachverständige 


— 10 — 


Kontrolle der Schulen durch den Arzt könnte nicht nur die Verbreitung von Infektionen 
verhüten und die hygienischen Bedingungen verbessern, sondern auch frühzeitig 
kofrigierend bei ungeeigneter seelischer Entwicklung eingreifen. Rudolf Allers. 


Stephani: Zum Kapitel Gesundheitsbogen. Zeitschr. f. Gesundheitsfürs. u. Schul- 
gesundheitspflege Jg. 37, Nr. 3, S. 85—87. 1924. 

Neben der schulärztlichen Kartei ist ein Gesundheitsbogen unentbehrlich. Die 
Kartei kann sich auf solche Fälle beschränken, in denen der Schularzt ein besonderes 
Interesse an der Kontrolle eines bestimmten Krankheitsbefundes hat. — Der Gesund- 
heitsbogen dagegen ist für alle Kinder anzulegen und für die Hand des Lehrers bestimmt, 
der auch die laufenden Eintragungen zu machen hat. Geschieht dies nicht, so hat ja 
der Arzt, der ein Kind nur 1 oder 2mal im Jahr sieht, gar keine Gewähr, daß ein von 
ihm nunmehr krank befundenes Kind vorher gesund war. Ist der Lehrer nicht an der 
Hand eines von ihm selbst geführten Bogens zur Beobachtung der Schülergesundheit 
erzogen, so wird er auch nicht gewillt und in der Lage sein, dem Arzt mit seinen Be 
obachtungen zu dienen. Bei der engen Wechselbeziehung zwischen Erziehung und 
Gesundheit muß neben der Kartei der Gesundheitsbogen unbedingt gefordert werden, 
wie jedes andere nur einigermaßen geeignet erscheinende Mittel, um dem Lehrer die 
Individualisierung der ihm anvertrauten Klassenangehörigen zu erleichtern. 

Fürstenheim (Frankfurt a. M.). 
Berufsberatung : 


Gonzenbach, W. v.: Der Arzt im Dienste der Berufsberatung. Schweiz. Zeitschr. 
f. Gesundheitspfl. Jg. 4, H. 2, S. 124—135. 1924. 

Gelegentlich einer im Oktober 1923 in Zürich abgehaltenen Berufsberatungstagung 
(fünfte) wurden vom Referenten folgende wichtige Forderungen erhoben. Der beratende 
Arzt muß genau orientiert sein über den zu Beratenden und über die gesundheitlichen 
Anforderungen an die verschiedenen Berufe. Zum ersten Punkt ist erforderlich ge- 
sundheitliche Kenntnis der Familie, die genaue persönliche Lebensgeschichte mit. über- 
standenen Krankheiten, sorgfältige körperliche Untersuchung. Bezüglich der genauen 
Kenntnisse der einzelnen Berufsarten ist eine noch viel gründlichere Erforschung der 
Berufe in physiologischer und psychologischer Hinsicht notwendig. Eventuell muß 
später der Gewerbearzt zur Mitwirkung herangezogen werden. Zunächst kommt der 
Schularzt in Frage, in selteneren Fällen der Hausarzt. Ein Zusammenwirken des ärzt- 
lichen Berufsberaters mit dem Psychotechniker und dem eigentlichen Berufsberater ist 
notwendig, ebenso mit den Eltern. In der Aussprache wurde den Ausführungen des 
Vortragenden im allgemeinen zugestimmt. Lewandowski (Berlin). 


Rose, Gustav: Der psychologische Beobaehtungsbogen in seiner Bedeutung für 
Sehule und Leben. Deutsche Schule Jg. 28, H.7, S. 306—312. 1924. 

Verf. weist nach, daß die Ausfüllung des psychologiechen Beobachtungsbogens, die 
vorzugsweise für die Zwecke der Berufsberatung undim Hinblick auf eine mögliche Um- 
schulung der Kinder (Auslese der Minder- wie der Starkbegabten) gefordert wird. 
auch für die Arbeit des Lehrers selbst von größtem Vorteil ist. Der Beobachtungsbogen 
zwingt den Lehrer zu genauer seelenkundlicher Erforschung jedes Schülers, er schult 
das Beobachtungsvermögen und verhindert eine rein auf den Unterrichtsstoff gerichtet 
Einstellung des Lehrers. Der Bogen ist eine wertvolle Ergänzung zu den Zeugnissen. 
er erleichtert die Beurteilung des Schülers bei der Versetzung und gibt die Grundlagen 
für Beratung der Eltern. Die seelenkundliche Beobachtung bestimmt die Erziehungs- 
und Unterrichtsmaßnahmen, die in jedem einzelnen Fall anzuwenden sind. Dreßler. 


© Bericht des Berufsamtes der Stadt Harburg-Elbe für das Gesehäftsjahr 1922/1923. 
Harburg (Elbe): H. Baerer & Co. 1923. 20 S. 

© Bericht des Berulsamtes der Stadt Harburg-Elbe. Geschäftsjahr 1923/1924. 
Harburg/Elbe: H. Baerer u. Co. 1924. 23 8. 

In den vorstehenden beiden Jahresberichten gibt der rührige Leiter des Berufs- 


— 171 — 


amtes der Stadt Harburg-Elbe, Herr Bues, nicht nur einen zahlenmäßigen Bericht 
über die Tätigkeit seines Berufsamtes, sondern darüber hinaus auch noch mannig- 
fache wertvolle Anregungen für die methodische und organisatorische Ansgestaltung 
der öffentlichen Berufsberatung. Wir werden bekannt gemacht mit den Mitteln und 
Wegen, die einerseits dazu dienen, die vor der Berufswahl stehenden Jugendlichen 
über die Notwendigkeit der rechten Berufswahl und die ihnen offenstehenden Berufs- 
möglichkeiten aufzuklären, und andererseits angewandt werden müssen, um die er- 
forderlichen Ausbildungsmöglichkeiten (Lehr- und Anlernstellen) für die Beratenen 
und hinsichtlich ihrer Eignung geprüften Berufsanwärter zu schaffen. Im besonderen 
interessant sind die Bemühungen, Jugendliche, die Fabrikarbeiter werden wollten, 
für einen gelernten Beruf zu gewinnen. Das ist um so notwendiger, als augenscheinlich 
die Gruppe dieser Jugendlichen von Jahr zu Jahr wächst. Bues gibt dafür folgende 
Zahlen an: Der Fabrikarbeit wandten sich zu: 1921 = 10% aller schulentlassenen 
Volks- und Mittelschüler; 1922 = 13% aller schulentlassenen Volks- und Mittelschüler; 
1923 = 21,4%, aller schulentlassenen Volks- und Mittelschüler. Da dieser Tatsache 
in erster Linie wirtschaftliche Nöte und Schwierigkeiten zugrunde liegen, wurde der 
Versuch gemacht, durck Einrichtung von Berufspatenschaften diesem Mißstand 
zu steuern. Neu ist übrigens auch der Versuch durch Familienhausbesuche das Ver- 
trauensverhältnis zwischen Eltern, Berufsanwärtern, Lehrlingen und dem Berufsamt 
zu fördern. Zum Schluß seien vor allem die in der praktischen Berufsberatung Tätigen 
auf die verschiedenen Übersichtstabellen, Plakatentwürfe und andere Muster von 
Werbemitteln hingewiesen, die den Jahresberichten beigefügt sind und ungemein an- 
regend wirken. Alles in allem legen die Berichte ein erfreuliches Zeugnis dafür ab, 
daß die Berufsberatung kräftig auf dem Marsche ist. Richard Liebenberg (Berlin) 


Thein: Berufsberatungsanstalt in Pardubitz. Vestnik českých lékařů Jg. 36, 
Nr. 38, S. 543—544. 1924. 

Die Anstalt, die erst kurze Zeit besteht, hat im Vorjahre 132 Berufsberatungen auf 
Grund der psycho-physischen Untersuchung vorgenommen. Die Institution beginnt sich nicht 
nur bei der städtischen, sondern auch bei der ländlichen Bevölkerung einzubürgern. 

O. Wiener (Prag). 
© Döring, Oskar: Sehülerauslese und psyehische Berufsberatung an Lübecker 
Sehulen. Lübeck: Charles Coleman 1924. 104 S. G.-M. 4.50. 


Die schwierige Frage der Begabtenauslese ist durch die Maßnahmen der Lübecker 
Schulbehörde wesentlich gefördert worden; Verf. schildert eingehend das Verfahren 
bei der Intelligenzprüfung, das allerdings, besonders durch die Berechnung der Selten- 
heitswerte der Leistungen, recht umständlich ist, dafür aber auch die Gewähr einer 
gerechten Auslese gibt. Um auch die Gefühls- und Willensseite der Schüler zu ihrem 
Rechte kommen zu lassen, wurde ein Beobachtungsbogen entworfen, der von den 
einzelnen Schulen auszufüllen ist und in den nächsten Jahren eine geeignete Unter- 
lage bieten wird. Auch für die psychische Berufsberatung hat Döring Richtlinien 
ausgearbeitet, in welcher Weise die Schule bei der Feststellung der seelischen Berufs- 
eignung der Kinder mitwirken kann. Dazu wurde mit den amtlichen Berufsberatern 
in gemeinsamer Beratung ein Fragebogen hergestellt, wonach die Schule diesen reich- 
liche Angaben über die seelische Eigenart der Kinder verschaffen kann. NoAl (Berlin). 


Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches: 


Ferrero, Gina Lombroso: I tribunali pei minorenni nel Belgio e la loro influenza 
sulla diminuzione della eriminalità. (Die Jugendgerichtshöfe in Belgien und ihr Einfluß 
auf die Abnahme der Kriminalität.) Arch. di antropol. crim. psychiatr. e med. leg. 
Bd. 43, H. 6, S. 507—512. 1923. 

Kurzer Bericht über die günstigen Erfolge hinsichtlich der Abnahme der Kriminalität 
bei Jugendlichen seit Einführung von Jugendgerichten kurz nach dem Kriege in Belgien unter 
Anführung einiger wichtiger Gesetze. M. Meyer (Köppern i. Ts.). `” 


— 17 — 


© The commonwealth fund program for the prevention of delinqueney. (Das Pro- 
gramm der Gemeinnützigen Stiftung zur Verhütung der Straffälligkeit.) New York: 
Joint comm. on methods of prevent. delinquency 1924. 16 S. 

Seit langen Jahren wird viel getan zur Bekämpfung der Kriminalität, aber noch 
nicht lange ist es her, daß man dem Übel an die Wurzel geht und versucht, die Ursachen, 
die zur Begehung von Straftaten führen, zu erkennen und zu bekämpfen. Auf ganz 
neuen Wegen und in großzügiger Weise sucht die Gemeinnützige Stiftung zur Ver- 
hütung der Straffälligkeit ihre Aufgabe zu erfüllen. ‚Die Stiftung hat erkannt, daß 
dem Kinde, das zu Straftaten neigt, das in der Schule nicht mitkommt, das störend 
ist oder schwierig, das zum erstenmal vor den Jugendrichter kommt, nichts so not tut, 
als daß es genau und richtig verstanden wird, daß seine Probleme, Schwierigkeiten 
und Motive anerkannt, kurz, daß die Entscheidung über das, was zu seinem Besten 
geschehen soll, auf genauer Kenntnis begründet ist.“ Die Stiftung will: die psychia- 
trische Untersuchung von schwierigen, verwahrlosten und straffälligen Kindern beı 
den Schulen und Jugendgerichten fördern; und ebenso die Behandlungsmethoden, 
die auf Grund dieser Untersuchungen angewandt werden; sie will Unterrichtskurs 
einrichten für alle, die auf diesem Gebiet arbeiten wollen. Sie wHl weiter in verschiedenen 
Gegenden des Landes den Wert solcher Untersuchungen und Behandlungsmethoden 
aufzeigen. Sie will die Tätigkeit der Schulpflegerinnen (der Ausdruck ‚‚visiting teacher" 
muß in diesem Zusammenhang so übersetzt werden) fördern, durch die die unschätz- 
bare frühe Verbindung mit den Kindern verwertet werden kann. Sie will die Kennt- 
nisse und Nutzbarmachung dieser Methoden verbreiten. Der Erfüllung dieses Pro- 
gramms sollen 4 Abteilungen dienen. I. An der New Yorker Schule für Soziale Arbeit 
sind 15 Freistellen geschaffen worden für Personen, die zur praktischen Arbeit auf 
diesem Gebiet, als psychiatrischer Sozialarbeiter, als Schulpflegerin oder probation 
officer geeignet sind. Diese Personen werden in besonderen Kursen ausgebildet, und 
haben Gelegenheit, an der psychiatrischen Klinik, die dem Kinderwohlfahrtsbureau 
angegliedert ist und mit 5 öffentlichen Schulen in Verbindung steh, zu arbeiten. 
II. hat die Stiftung eine ambulante psychiatrische Klinik mit Leiter, Assistent. 
Psychologen, Sozialarbeiter und den nötigen Schreibkräften eingerichtet, die in ver- 
schiedenen Städten die Bedeutung der Untersuchung und Behandlung der Kinder, 
die von Schulen, vom Jugendgericht und anderen Stellen zugeführt werden, vor Augen 
führen soll. Die Klinik kam zuerst im Mai 1922 nach St. Louis, wurde im Rathaus 
neben dem Jugendgericht untergebracht; die städtischen Behörden, das Gesundheits- 
amt, die gemeinnützigen Vereine, viele Ärzte, eine beträchtliche Zahl von freiwilligen 
Helfern fanden sich zur Mitarbeit bereit. Jedes zugeführte Kind wurde einer genauer 
körperlichen, psychologischen, psychiatrischen und sozialen Untersuchung unter- 
zogen, nach dem Befund die Behandlung eingerichtet und durch probation officer 
und sonstige Sozialarbeiter durchgeführt. Als Ende November 1922 die Klinik in eine 
andere Stadt verlegt wurde, war St. Louis so weit, daß es eine eigene Klinik eröffnen. 
konnte; inzwischen hatte die Stiftung eine zweite Klinik eingerichtet, die nun in einer 
dritten Stadt ihre Arbeit begann. Noch eine andere psychiatrische Klinik ist das 
Werk der Stiftung, die in Verbindung mit einer Jugendwohlfahrtsausstellung in zweı- 
jährigen Perioden hauptsächlich auf dem Lande tätig sein soll. „Diese Klinik wurde 
eingerichtet, um ganz im allgemeinen den Schulkindern zu dienen, um den psychia- 
trischen Dienst an jedes Kind heranzubringen, und durch diese frühe Fühlungnahnx 
Fälle von geistiger Störung, geistiger Zurückgebliebenheit, Erziehungssch wierigket 
zu entdecken und zu behandeln, in einer Zeit, in der das Kind noch beeinflußbar ıst 
und die Behandlung daher voraussichtlich erfolgreich.“ Die III. Abteilung hat Schul- 
pflegerinnen in den 5 Schulen von New York angestellt, die mit dem Kinderwohl- 
fahrtsbureau in Verbindung stehen; sie haben der Klinik die Kinder zuzuführen, dır 
deren Hilfe benötigen, haben bei der Ausführung der Behandlung zu helfen und auch 
den Sozialarbeitern dabei an die Hand zu gehen. Dann hat die Stiftung nach und nac! 


— 173 — 


30 Schulpflegerinnen für je 3 Jahre in 30 Städten eingestellt. Die Frage, warum 
der Schulpflegerin eine so große Bedeutung bei der Verhütung der Kriminalität bei- 
gelegt wird, ist dahin zu beantworten, daß das Programm eben in allererster Linie 
der Vorbeugung dienen will. Etwa 20 Millionen Knaben und Mädchen gehen durch 
die öffentlichen Schulen; die Schule könnte daher die größte Wohlfahrtseinrichtung 
sein; sie kann zuerst erkennen, aus welchen Verhältnissen das Kind stammt, kann 
die ersten Zeichen eines störenden Betragens beobachten. Aber die Lehrer, vor allem 
in den Städten, sind mit ihren nächstliegenden Aufgaben so überlastet, daß sie da- 
neben kaum etwas tun können — daher die Bedeutung der Schulpflegerin. Ihre Auf- 
gabe ist es, aus den Möglichkeiten, die die Schule dem Kinde bietet, das Beste zu 
machen; sie hat Schwierigkeiten und unerwünschte Einflüsse zu beseitigen, sie kann 
zwischen Schule und Eltern vermitteln, kann die Hilfe der verschiedenen Einrichtungen, 
wenn nötig. sofort heranziehen. ‚Wenn eine Schulpflegerin die Freude des Kindes für 
seine Schularbeiten weckt, wenn sie es erreicht, daß die Eltern Interesse an den Fort- 
schritten des Kindes nehmen, daß sie für seine Gesundheit sorgen, es nicht zu sehr 
im Hause anstrengen, dann erreicht sie eine normale Anpassung des Kindes an sein 
tägliches Leben; und das Kind — infolgedessen auch der Erwachsene —, der sich seiner 
Umgebung richtig angepaßt hat, der wird selten straffällig.‘‘ Die IV. Abteilung der 
Stiftung ist endlich diejenige, die die anderen zusammenfaßt, ihre Tätigkeit über- 
wacht, Schriften über die Arbeit herausgibt, die die theoretischen Grundlagen für die 
Arbeit schafft (Begriffsbestimmungen, Fragebogen, Statistik, Untersuchungsmethoden 
für einzelne Fälle usw... Wenn bei uns wohl noch weit in die Zukunft hinein mit 
solch umfassenden praktischen Versuchen und wissenschaftlichen Arbeiten nicht zu 
rechnen ist, so sollten wir doch diese amerikanischen Arbeiten dauernd verfolgen? 
um das daraus zu entnehmen, was wir unter den gegebenen Verhältnissen für uns 
verwerten können. Elsa v. Liszt (Charlottenburg). 

Meyer, Charlotte: Die Behandlung kindlicher und jugendlicher Zeugen bei Sitt- 
liehkeitsprozessen betrachtet vom sozialfürsorgeriseben Standpunkt. Zeitschr. f. d. ges. 
Strafrechtswiss. Bd. 45, H. 2, S. 126—160. 1924. 

Die Verf. bietet in der vorliegenden Arbeit die quellenmäßigen Grundlagen für 
ihr Referat über das gleiche Thema auf dem Heidelberger Jugendgerichtsstag. Im 
1. Teil der Arbeit gibt sie auf Grund einer Umfrage des Deutschen Archivs für Jugend- 
wohlfahrt einen Überblick über die Erlasse der Länder, die Vernehmung jugendlicher 
Zeugen betreffend. Gemeinsam ist den Erlassen das Abzielen auf Einschränkung 
der Vernehmungen unter möglichster Ausschaltung der Polizei; gelegentlich wird 
auch die Zuziehung psychologisch oder pädagogisch geschulter Sachverständiger 
empfohlen. Nur ganz vereinzelt werden sozialfürsorgerische Maßnahmen angeregt 
im Interesse derjenigen jugendlichen Zeugen, die nach dem Untersuchungsergebnis 
selbst gefährdet oder anderen gefährlich erscheinen. Der 2. Teil der Arbeit behandelt 
kurz die Ergebnisse einer Rundfrage des Archivs an eine Reihe von Jugendämtern 
über die gegenwärtige Praxis; die weitestgehenden Erfahrungen mit jugendlichen 
Zeugen hat danach Leipzig aufzuweisen, wo das Institut für experimentelle Pädagogik 
und Psychologie des Leipziger Lehrervereins sich den Behörden des Strafverfahrens 
zur Verfügung gestellt hat. Der 3. Teil schildert die eigenen praktischen Erfahrungen 
der Verf. in Berlin, wo das Jugendamt von Sittlichkeitsprozessen mit jugendlichen 
Zeugen weitgehend Mitteilung erhält und beim Amtsgericht Berlin-Mitte alle Straf- 
sachen aus § 176 Nr.3 StrGB. von einer bestimmten Abteilung unter dem Vorsitz 
eines früheren Vormundschaftsrichters abgeurteilt werden. Durch die Darstellung 
von 13 praktischen Fällen veranschaulicht die Verf., daß hier vielfach traurige Umwelt- 
verhältnisse und geistig abnorme Veranlagungen der Kinder zutage treten, die ein 
fürsorgerisches Eingreifen erfordern. Im Schlußteil werden unter kritischer Ausein- 
andersetzung mit Vorschlägen aus dem Kreise von Pädagogen (Leipziger Lehrer- 
verein), Psychologen (W. Stern) und Psychiatern (F. Leppmann, Zingerle) vom 


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sozialfürsorgerischen Standpunkt 7 Forderungen aufgestellt. Die beiden wichtigsten 
Thesen lauten: ‚6. Alle Straftaten (Strafsachen?), bei denen Jugendliche Objekte 
strafbarer Handlungen sind, sollen nach Möglichkeit im Wege des Geschäftsverteilungs- 
plans bei der Staatsanwaltschaft einem Staatsanwalt und beim Gericht besonderen 
Abteilungen zugewiesen werden, die in enger Verbindung mit dem Jugendamt stehen 
sollen. 7. Die erste Vernehmung bei der Polizei muß von sozialpädagogisch geschulten 
Kräften erfolgen.“ Ein Literaturverzeichnis erhöht den Wert der anregenden Arbeit. 
Francke (Berlin). 
Fürsorgeerziehung: 


© Gregor, Adalbert: Leitfaden der Fürsorgeerziehung. Mit Beiträgen v. Else Voigt- 
länder. Berlin: S. Karger 1924. VI, 184 S. G.-M. 4.80. 

Der Leitfaden, auf den früheren Arbeiten des Verf. und Else Voigtländerz, 
namentlich auf ihrem gemeinsamen Werk ‚Die Verwahrlosung‘“ fußend, führt anschan- 
lich und übersichtlich in die Tatsachen, die Rechtsverhältnisse und die Praxis der Für- 
sorgeerziehung ein. Er ist, da auch einschlägige Fälle und Übersichtstabellen bei- 
gegeben sind, wohl geeignet, den Sozialbeamten und alle in der Jugendfürsorge tätigen 
Privatpersonen mit den für die Fürsorgeerziehung wichtigen psychologischen und 
psychiatrischen Gesichtspunkten vertraut zu machen. Auch der Studierende, der als 
Theologe, Jurist oder Mediziner dem Stoffe nähertreten will, findet hier die gesuchte 
Einführung in einer von Bee Erfahrung und erzieherischer Gesinnung getragener 
Form. Homburger (Heidelberg). 

Ciampi, Lanfranco: Beitrag zur Fürsorgeerziehung. Clin. psicopedagog. Jz. 2. 
Nr. 2, 8.19—37. 1924. (Spanisch.) 

In den Fürsorgeerziehungsanstalten Argentiniens fehlt es noch an einer genauen 
körperlichen und geistigen Untersuchung der Zöglinge. Diese ist aber nötig zur 
Klassifizierung der Zöglinge und zu ihrer individuellen Behandlung. Es müssen dir 
Unerziehbaren von den Erziehbaren, die pathologischen und Grenzfälle von den nor- 
malen Fällen, die verbrecherischen Elemente von den harmlosen getrennt und nach 
ihrer Eigenart behandelt werden. Fortlaufend sind über das Verhalten der Zöglinge 
Eintragungen zu machen. Ihre Eignung für einen Beruf ist zu prüfen. Alle dies 
Untersuchungen sind von einem Arzt vorzunehmen, der zugleich Psychiater und 
Psychologe ist. Ihm ist ein psychologisches Laboratorium zur Verfügung zu stellen. 
Für die nationale Kolonie ‚Marcos Paz“ hat Verf. einen Fragebogen ausgearbeitet, 
der in eingehender Weise Fragen über Anamnese und über den körperlichen uni 
psychischen Zustand und dessen weiteren Verlauf enthält. Ganter (Wormditt). 


© Zillken, Elisabeth: Führer für Vormünder, Pfleger, Beistände und Helfer. (Wez- 
weiser d. Jugendhilfe. H. 3.) Freiburg i. Br.: Caritasverl. 1924. 46 S. 

Die vom Caritasverlag herausgegebenen Wegweiser der Jugendhilfe sollen Wer- 
weiser und Berater für die praktische Helferarbeit im Dienst der Jugend sein. Des 
wegen ist auch vorliegender Führer ganz auf die Praxis eingestellt, indem er in Fragen 
und Antworten kurz über die wichtigsten Aufgaben der Vormundschaft, Pflegschaft. 
Schutzaufsicht usw. unterrichtet. Die im Anhang beigegebenen Muster von Berichter 
und Eingaben an Behörden dürften für die praktische Tätigkeit besonders nützlich sein. 

B. Harms (Berlın). 

George, Ruggles: The teacher as a sehool physieal inspeetor. (Der Lehrer als ärz:- 
licher Überwacher der Schule. Public health journ. Bd. 15, Nr. 4, S. 165—169. 192i 

Eine eigenartige Arbeit! Ein Arzt von der Gesundheitsbehörde in Virginia tntt 
dafür ein, daß die gesundheitliche Beobachtung der in den öffentlichen Schulen be 
findlichen Kinder durch die Lehrerschaft erfolgen soll. Deren Tätigkeit soll bestebet 
in Wägungen und Messungen, Besichtigung der Zähne und Feststellung des Seh- un 


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Hörvermögens. Auf Stellung von Diagnose und auf Behandlung wird verzichtet, 
dagegen erfolgt eine Mitteilung abweichender Befunde an die Familien zwecks Weiter- 
leitung an den Hausarzt. Eine gewisse Erklärung für den Verzicht auf den Arzt bzw. 
den Schularzt liegt darin, daß es sich vorwiegend um ländliche Schulen handelt und 
daß — für Amerika überraschend — keine Mittel für ärztliche Tätigkeit zur Verfügung 
stehen. In einem Jahr wurden so 375 000 Kinder von Lehrern besichtigt. Zwei Schwie- 
rigkeiten zeigten sich dabei: Die Abneigung der Eltern gegen Laienuntersuchungen 
und die der Lehrer gegen Übernahme dieser Untersuchungen. In Detroit soll sich 
gezeigt haben, daß die Lehrerschaft sogar sich geeignet erwiesen hat, um Schilddrüse, 
Mundatmung, Mandeln, Haut, Blutarmut, Drüsenschwellungen, Gaumen und ‚ortho- 
pädische‘‘ Defekte‘ untersuchen zu können. Mehr kann man wirklich nicht verlangen! 
Die unterstützende Schulpflegerin (Nurse) gibt den Studenten regelmäßige Kurse! 
Als eine günstige Folge dieses Laienbetriebes soll sich eine Verbesserung der allge- 
meinen und persönlichen Hygiene angebahnt haben. Lewandowski (Berlin). 


Busehmann, P.: Die Vorbildung der Erzieher für Fürsorgeerziehungsanstalten. 
Zentralbl. f. Jugendrecht u. Jugendwohlfahrt. Jg. 16, Nr. 5, S. 105—108. 1924. 

Die Ausbildung von Erziehern für Fürsorgeerziehungsanstalten soll in einem Lehr- 
gang erfolgen, der mindestens ein Jahr dauert. In der ersten Hälfte dieser Zeit müßten 
die elementaren Kenntnisse aufgefrischt werden, in der zweiten die eigentliche Berufs- 
ausbildung erfolgen. Entsprechend gebildete Persönlichkeiten würden erst zu Anfang 
der zweiten Hälfte eintreten. Vor diesem Seminarjahre müßte jeder zukünftige Schüler 
in etwa 3jähriger praktischer Erziehungsarbeit erproben, ob der erwählte Beruf seinen 
Neigungen und Fähigkeiten entspricht. Gregor (Flehingen i. Baden). 


Kayser-Petersen, J. E.: Die Ergebnisse des Tuberkulose- Unterrichts im Landkreise 
Jena-Roda. (Tuberkul.-Fürs.-Stelle, med. Univ.- Poliklin., Jena.) Tuberkul.-Fürs.-Blatt 
Jg. 11, Nr.7, S. 53—56. 1924. 

Verf. berichtet über Vorträge, welche auf Anordnung des thüringischen Ministeriums 
für Volksbildung im Landkreise Jena-Roda gehalten wurden. Folgende Fragen wurden 
behandelt: 1. Die Erkrankung und ihre Behandlung; 2. die Ansteckung und ihre Ver- 
hütung; 3. Ansteckung und Erkrankung; 4. besondere Aufgaben der Schule. In den 
Mittelpunkt der Betrachtungen wurden die Verhütungsmaßnahmen gestellt. 

Többen (Münster). 
Allgemeines: 


Brown, Franeis E.: Publie health nurses in venereal disease elinies. (Staatliche 
Wohlfahrtspflegerinnen in Kliniken für Geschlechtskrankheiten.) Public health journ. 
Bd. 14, Nr. 2, S. 76—81. 1923. 

Die Wohlfahrtspflegerin sucht die sozialen Schäden der Geschlechtskrankheiten 
auf dem Wege der Fürsorge anstatt durch polizeiliche Maßnahmen zu mildern. In 
der Klinik ist es ihre Aufgabe, durch Gespräche mit den Kranken ihre soziale Lage zu 
erforschen, ihnen die Bedeutung der Geschlechtskrankheiten zu erklären und in ihnen 
Verständnis für den Gang der Behandlung zu erwecken. Ihr hygienisches Gewissen 
soll erweckt werden und der Sinn für die Bedeutung körperlicher Pflege. Die Pflegerin 
soll die „Krankenhausatmosphäre‘‘ bekämpfen und zu den Patienten in menschliche 
Beziehung zu treten versuchen, die den Aufenthalt im Krankenhaus auch zu einer 
seelischen Gesundung führen läßt. Nach der Entlassung sollen die Pflegerinnen regel- 
mäßig den Kranken in seiner Häuslichkeit aufsuchen. Wenn Selbstbehandlung ver- 
ordnet ist, soll die Pflegerin kontrollieren, ob eine solche unte. den gegebenen Um- 
ständen überhaupt regelrecht durchgeführt werden kann. Im Notfall muß alles Er- 
forderliche beschafft werden, die Technik der Behandlungsmaßnahmen (Spülungen usw.) 
wird den Patienten gezeigt. Die Pflegerinnen müssen für Fortsetzung der Behandlung 
sorgen, durch die Hausbesuche soll sich ein Vertrauensverhältnis zu den Patienten 
entwickeln, ihre Lebensbedingungen müssen genau erkundet werden und insbesondere 


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die Quelle der Infektion. Den Kranken wird die große Gefährdung ihrer Mitbewohn 
klargemacht und die Schwere ihrer Verantwortung. Die auf diesem Wege gewonnenen 
Einblicke in das Wesen der Prostitution und alle sozialen Probleme, die mit den Ge- 
schlechtskrankheiten verknüpft sind, werden erfolgreich im Abwehrkampf verwandt. 
Martin Gumpert (Berlin). 

© Zahn-Harnack, Agnes von: Die arbeitende Frau. (Jedermanns Bücherei. 
Abt.: Sozialwiss. u. Wirtschaftswiss. Hrsg. v. Friedrich Glum.) Breslau: Ferdinand 
Hirt 1924. 96 S. Geb. G.-M. 2.50. 

Für die vom Verlag Hirt herausgegebene Schriftenreihe ‚„Jedermanns Bücherei“ 
hat Verf. zu der Abteilung ‚Sozialwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft“ ein: 
kleine Schrift beigesteuert, deren inhaltlichen Bereich sie — gegenüber dem allzuweıt 
reichenden Titel — gleich klug begrenzt auf bestimmte Berufe und Probleme. Nach: 
grundsätzlicher Einführung über Typen und Veranlagung der Frau und, daraus fol- 
gernd, ihre Befähigung für bestimmte Berufe, folgen Kapitel über die sozialen Frauen- 
berufe, die Fabrik-, die Heimarbeiterin, die Frau im Handels- und Verkehrsgewerbe. 
in akademischen Berufen, die Hausfrau. — Unter geschickter Benutzung der vorhar- 
denen reichen Literatur gibt die Verf. in anregender und flüssiger Darstellung Bilder, 
die vor allem für Leser bestimmt scheinen, denen die erörterten Fragen noch fremd sind. 

Mende (Berlin). 
© Kühn, Leonore: Wir Frauen. (Friedrich Manns Pädagogisches Magazin. 
H. 920. Schriften zur Frauenbildung. Hrsg. v. Jakob Wyehgram. H.2.) Langensalzs: 
Hermann Beyer & Söhne 1923. 177 S. G.Z. 4,25. 

Verf. versucht, wie sie im Vorwort sagt, „um jeden Preis das Ideal der alten und 
der neuen Frau zusammenzubiegen, das Ideal der Hingebung und der Selbstbehauptung. 
der Persönlichkeit und der Sachlichkeit, der Anmut und der Tüchtigkeit, der Gebunden- 
heit und der Freiheit‘. Also wieder eine Schrift über die Frau? Man meint. es sei 
schon genug mit den zahllosen, von irgendwelchen Theorien immer einseitig geleiteten 
Interpretationen der weiblichen Wesenheit, und es wäre besser, nun lieber einmal 
unvoreingenommen abzuwarten und zuzusehen, was die Frau aus sich machen will 
und wird. Doch die vorliegende Schrift von L. Kühn - Frobenius dürfte wohl al: 
die erste betrachtet werden, die nicht in das übliche Fahrwasser der Theorien gerät, 
sondern aus wirklichem Erleben heraus Wesenhaftes an der modernen Frau erfaßt — 
allerdings, wissenschaftlich gesprochen, mehr gefühlsmäßig als begrifflich formuliert 
und geklärt. Als der wesentlichste und förderlichste Gedanke tritt klar hervor, dab 
die produktive Kulturleistung der Frau in der Bereicherung der einseitigen Sach- 
kultur der männlichen Welt durch eine zu ihr hinzuzuschaffende persönliche Kultur 
bestehen muß und wird, sobald die neuentbundenen Kräfte der bislang gehemmter 
Frau Gelegenheit zur Entfaltung auf allen Gebieten erlangen. Ch. Bühler (Wien). 


Myers, Bernard: Some suggestions concerning the medieal statisties of ehildren. 
(Einige Ratschläge betreffs medizinische Statistik von Kindern.) Proc. of the roy. 
soc. of med. Bd. 17, Nr. 6, sect. f. the study of dis. in children, S. 14—18. 1924. 

Verf. erörtert zunächst kritisch die Mißstände und Gefahren aller medizinischer 
Statistik mit denselben Einwendungen, die ja allgemein bekannt und gewiß berechtir‘ 
sind. Diese Dinge sind uns ja auch geläufig. Er befürwortet eine individuelle Persona} 
statistik, die eine ganz genaue Vorgeschichte, Krankheitsgeschichte und einen er- 
schöpfenden Befund bringen soll aus Hospitälern, Kliniken, aus schulärztlicher uw 
Wohlfahrtsarbeit. Als Beispiel wird die Wurmverbreitung, die beginnende Tuberkulos 
und die Nervosität des Kindes herangezogen. Die gesamten Meldungen sollen an ei 
statistisches Zentrum in London gehen; ein Schema erläutert instruktiv dieses Vor 
gehen. — In der Aussprache wird noch dem Wunsch Ausdruck gegeben, Erholung“ 
heime einzubezielien. Lewandowski (Berlin). 


Referatenteil der Zeitschrift für Kinderforschung. 


30. Bd., H.3 S. 177—208 





Normale Anatomie und Physiologie: 


Fiseher, F. P.: Über die Verwendung von Kopfbewegungen beim Umhersehen. 
1. Mitt. (Univ.-Augenklin., Leipzig.) v. Graefes Arch. f. Ophth. Bd. 113, H. 3/4, S. 394 
bis 416. 1924. 

Beim Verfolgen der Zeilen während des Lesens wird fast immer der Kopf mit- 
bewegt, besonders bei langen Zeilen. Im allgemeinen wird das Leseobjekt symmetrisch 
gehalten, und die durch dasselbe gelegte Symmetrieebene ist die Medianebene des 
Kopfes. Verf. bestimmt zunächst die Zeilenlänge bei bekannter Leseweite, bei welcher 
eben Kopfbewegungen auftreten. Die Ergebnisse waren individuell ziemlich verschieden. 
Den größten Drehungswinkel der Augen hatte eine Vp. bei 11 cm Zeilenlänge und 20 cm 
Leseweite; es entsprach dies einem Winkel von 15° für das eine, von 16° für das andere 
Auge. Die Kopfbewegungen sind beim lauten Lesen größer. Bei Schulkindern im zweiten 
Jahrzehnt schwankten die Drehungswinkel zwischen 6° 39’ und 11° 25’. Auch bei 
anderen Versuchspersonen wurde im allgemeinen ein Drehungswinkel von 11° als 
größter festgestellt. Die schon 1875 gefundenen Ergebnisse von Ritzmann konnten 
im allgemeinen bestätigt werden. Derselbe fand: 1. daß wir schon bei den kleinsten 
Entfernungen nicht nur die Augen, sondern auch den Kopf drehen, die Kopfbewegungen 
der Entfernung der Blickpunkte annähernd proportional zunehmen und die Beteiligung 
des Kopfes nicht nach allen Richtungen dieselbe ist; 2. daß das quantitative Ver- 
halten von Augen- und Kopfbewegungen bei verschiedenen Personen wechselt. Wäh- 
rend Ritzmann bei seinen Versuchen mit einem an einem Beißbrettchen angebrachten 
Zeiger arbeitete, wandte Fischer eine exaktere Versuchsanordnung an, indem er einen 
Lichthebel (kleine von einer Taschenbatterie gespeiste Lampe mit Konvexlinse) an 
einem Stirnband befestigte und den Gang des projizierten Lichtstreifens beobachtete. 
Während dieser beim Lesen regelmäßig hin und her wandert, tritt bei Beobachtung 
von projizierten Landschafts- oder Stadtbildern ein ziemlich regelloses Hüpfen und 
Springen ein. Dagegen bewirkten Bilder, bei welchen Figuren in Reihen angeordnet 
waren, ein Gleiten des Streifens von der Mitte nach einer Seite. Hierbei begannen die 
Kopfbewegungen durchschnittlich bei einer Bildgröße von 8—11° (letzteres bei kinema- 
tographischen Bildern). Bei den meisten Menschen geht die Augenbewegung der 
Kopfbewegung voraus; in den seltenen Fällen, wo mit einer Kopfbewegung begonnen 
wird, überholt die Augenbewegung diese bald. Beim Umbherblicken besteht die Tendenz, 
die Augen möglichst so einzustellen, wie sie beim geradeaus gerichteten Kopfe stehen, 
also symmetrisch zur Medianebene. Bedingt sind die Kopfbewegungen durch das Auf- 
treten von Spannungsgefühlen bei unsymmetrischer Konvergenz, wenn die Größe 
des Drehungswinkels 10° übersteigt. — Mit einer weiteren Versuchsanordnung stellte 
F. fest, daß im allgemeinen eine gewisse Proportionalität zwischen der Größe der Ent- 
ternung zweier Blickpunkte und der Verwendung von Kopfbewegungen besteht. Auch 
dabei ergaben sich große individuelle Differenzen. Cords (Köln)., 

Dumoutet: De quelques effets physiologiques de la marche ehez les enfants. (Über 
einige physiologische Folgen des Marschierens bei Kindern.) Arch. de med. des enfants 
Bd. 26, Nr. 10, S. 616—623. 1923. 

Es ergibt sich, daß innerhalb der Zahl der untersuchten Kinder wesentliche 
Schwankungen in den Ergebnissen nicht vorkommen. Die Befunde nach Abschluß 
des Marsches geben keine Möglichkeit, die Übungen zweckmäßig zu dosieren. Viel 
wichtiger hierfür sind die Spätfolgen, die in den 3 Stunden nach Abschluß der Übungen 
auftreten. Hieraus lassen sich zwei Hauptfolgerungen ableiten. Eine günstige Reaktion 
besteht aus einer leichten Blutdrucksteigerung und einer geringen, zur Norm bereits 
zurückkehrenden Schwankung der Pulszahl, der Atmung und der Temperatur. Eine 


Zeitschrift für Kinderforschung. 30, Ref. 12 


= pe = 


ungünstige Reaktion wird charakterisiert durch einen Abfall der Blutdruckkurve. 
häufig begleitet von leichter Herabsetzung der Temperatur, von Ermüdungsgefüh! 
und leichter Appetitlosigkeit. Gelegentlich sieht man eine leichte Bradykardie. Ale 
Reaktionen müssen nach Ablauf einer Nacht verschwunden sein. F. H. Lewy.. 

Laseb, W., und Martin Fischer: Die Bauchlage ein Mittel zur Förderung der sta- 
tischen Entwickelung des Säuglings. (Städt. Säuglingsheim u. Kinderobdach, Breslau.: 
Klin. Wochenschr. Jg. 3, Nr. 30, S. 1362. 1924. 

Der in Bauchlage aufgezogene Säugling erlernt viel früher als der an Rückenlag- 
gewöhnte die Aufrichtung des Kopfes und die Benutzung des Armes als Stütze. Der 
dem Kinde innewohnende Bewegungsdrang wirkt sich von der Bauchlage aus in. 
Säuglingsalter in der frühen Entwicklung statischer Funktionen aus. Homburger., 

Peiper, Albrecht: Über die Reizbarkeit im Sehlafe. (Univ.-Kinderklin., Berlin.) 
Med. Klinik Jg. 20, Nr. 45, S. 1559—1560. 1924. 

Die Reizbarkeit im Schlafe wird als zweckmäßige Einrichtung aufgefaßt. Die au: 
ihr hervorgehenden Reaktionen sind teils örtlicher Natur — Fluchtbewegungen be: 
Schmerzreiz, Iidzusammenpressen bei Lichtreiz usw. —, teils allgemeiner Art — 
Zusammenfahren auf beliebigen Reiz u. dgl. —. Durch äußere Reize können bereit- 
liegende innere Reize wirksam wirken. Neben den Reaktionen des Zentralnerver- 
systems lassen sich auch im Schlaf Reflexe des autonomen Nervensystems auslösen. 
Es ist wahrscheinlich, daß dieses sogar schon bei geringerer Reizstärke reagiert. So 
sind die Pupillenreaktion und der galvanische Hautreflex schon länger als auch im 
Schlaf auslösbar bekannt. Verf. hatte Gelegenheit, Versuche am Hirnpuls bei schlafen- 
den Kindern anzustellen. Dabei zeigte sich, daß auf äußere Reize hin das Hirnvolumer. 
kurze Zeit anstieg,. während der Puls kleiner wurde, und daß es dann rasch unter den 
alten Stand sank bei wieder normal werdendem Puls. Die Pupillenerweiterung durch 
den Weckreiz hat wohl die Bedeutung, den Geweckten an die Dunkelheit der Nach: 
zu adaptieren; der Hirngefäßreflex (mit der Anämie) steigert die Erregbarkeit urd 
damit die Weckbarkeit, dient also gleichfalls zum Schutz. YVillinger (Tübingen). 

Fleming, G. B., and H. S. Hutchison: A study of the metabolism in the under- 
nourished infant. (Untersuchungen über den Stoffwechsel unterernährter Kinder. 
(Med. dep., roy. hosp. f. sick children a. physiol. dep., univ., Glasgow.) Quart. journ. c: 
med. Bd. 17, Nr. 68, S. 339—357. 1924. 

Es konnte kein Unterschied festgestellt werden zwischen Gesunden und Atrophiker:. 
weder in bezug auf die Resorption der Nahrung im Darm noch auf die Ausnutzung in der. 
Geweben. Weder Fett noch Stickstoffumsatz ist wesentlich gestört. Für Kohlenhydra:: 
gelang eine entsprechende Klarstellung nicht. Bei Abwesenheit von akuten Magen-Darm- 
erscheinungen und Infektionen besteht auch bei atrophischen Säuglingen die volle Fähigcke:: 
der Assimilation. Dagegen zeigen die Ergebnisse der Bilanzversuche bei Atrophikern eine au’- 
fallende Ähnlichkeit mit den Resultaten, wie man sie bei Unterernährung erhält. Verff. glaube: 
auf Grund dieser Stoffwechselversuche und der klinischen Beobachtung, daß die Atrophi- 


ein Inanitionszustand ist. Die Inanition wiederum ist meist die Folge von insuffizienter Er- 
nährung oder akuten Magen-Darm-Erkrankungen. Behrendt (Marbarg).. 


Biologie, Konstitution, Rasse, Vererbung : 


Paull, H.: Über den Parallelismus von körperlieher und geistiger Entwicklunz. 
Münch. med. Wochenschr. Jg. 71, Nr. 40. S. 1393—1396. 1924. 

Die Arbeit des Karlsruher Stadtschularztes ist vor allem deshalb beachtenswer.. 
weil die Ergebnisse nicht einfach, wie üblich, mit Umwelteinflüssen erklärt werde:.. 
sondern als das gewertet werden, was sie sicher sind: als Hinweise auf Auslese- ur: 
Siebungsvorgänge. Der Verf. nennt diese Dinge allerdings nicht bei diesem Name.. 
aber er ist mit seinem Appell an die Erblichkeitslehre und Rassenkunde mindesten 
auf dem richtigen Weg. — Bei den schulärztlichen Erhebungen i in Karlsruhe hat su: 
gezeigt, daß unter den besser begabten Kindern eine größere Zahl von solchen iS. 
welche das (aus 15 000 Einzelmessungen errechnete) Mittel der Körpergröße und d~ 
Körpergewichtes nach oben überschreiten, während ein größerer Teil der ımind-r 


— 19 — 


begabten Kinder unterdurchschnittliche Maße aufweist. Die Begabung wurde dabei 
zunächst nach den Zensuren in Rechtschreiben und Rechnen bestimmt. Nebeneinflüsse 
sind nach den Angaben des Verf. mit ziemlicher Sicherheit auszuschließen, da zahl- 
reiche Nachforschungen ergeben haben, daß die minderbegabten bzw. unterdurch- 
schnittlichen Kinder keineswegs aus den wirtschaftlich schlechter gestellten Familien 
stammen. — Die Erhebungen verdienen nicht nur Nachahmung, sondern vor allem auch 
eine Erweiterung durch die Aufnahme rassenkundlicher Beobachtungen (Merkmale 
des Kopfes und Gesichtes, Komplexion usw.). Scheidt (Hamburg). _ 

Kohlrauseh, W.: Über die Einflüsse funktioneller Beanspruchung auf die Massen- 
entwieklung erwachsener junger Männer, gewonnen aus den Beobachtungen an Stu- 
denten der Deutschen Hochsehule für Leibesübungen. Zeitschr. f. d. ges. Anat., Abt. 2: 
Zeitschr. f. Konstitutionslehre Bd. 10, H. 4, S. 434—443. 1924. 

Verf. zeigt die Zunahme verschiedener Körpermaße bei Studenten im Laufe ihrer 
körperlichen Ausbildung. Der Einfluß der Beanspruchung ist wohl unverkennbar, 
anscheinend aber doch lange nicht so viel größer als der Einfluß der gewöhnlichen 
Wachstumsreize, die auch in diesem Alter (1. Hälfte des 3. Jahrzehnts) noch wirksam 
sind. Die Annahme Kohlrauschs, daß die Studenten der Hochschule für Leibes- 
übungen kein ausgelesenes Material darstellen, dürfte schwerlich berechtigt sein. Scheidt. 

Brezina, Ernst, und Viktor Lebzelter: Der Einfluß des Wachstums und des Be- 
rufes auf die Dimensionen der Hand. (Volksgesundheitsamt, Wien.) Zeitschr. f. d. ges. 
Anat., Abt. 2: Zeitschr. f. Konstitutionslehre Bd. 10, H. 4, S. 381—389. 1924. 

Die Arbeit nimmt dankenswerterweise auch auf die Auslese (bzw. Siebung) Rück- 
sicht und zeigt, daß ein beträchtlicher Teil der Unterschiede in den Handmaßen erb- 
bedingt sein muß. Daneben machen sich natürlich auch Einflüsse der Berufsarbeit 
nebenändernd geltend. Scheidt (Hamburg). 

Neurath, Rudolf: Zur Symptomatologie der partiellen sekundären Linkshändigkeit. 
Wien. klin. Wochenschr. Jg. 37, Nr. 8, 8. 187—188. 1924. 

Sekundäre symptomatische Linkshändigkeit ist das „Resultat einer Ertüchtigung 
der intakten linksseitigen Extremitäten nach funktioneller Schädigung der rechts- 
seitigen beim angeborenen Rechtshänder“. Bei der totalen erworbenen Linkshändigkeit 
tritt die ganze intakte linke Körperhälfte für die gelähmte rechte ein. Partielle sekun- 
däre Linkshändigkeit liegt vor, „wenn nicht eine Hemiparese, sondern die Lähmung 
oder eine chirurgische Läsion, die eine Funktionsschädigung einer rechten Extremität 
zur Folge hat, der korrespondierenden linken die funktionelle Führung verschafft“. 
Totale bzw. partielle sekundäre Rechtshändigkeit liegt vor, wenn bei angeborener 
Linkshändigkeit Funktionsschädigungen der linksseitigen Motilität den rechtsseitigen 
Zentren die funktionelle Präponderanz verschaffen. Verf. behandelt die Frage, „wie 
es um das linke Bein, den linken Facialis steht, wenn nach Lähmung des rechten Armes 
der linke in seiner Funktion erstarkt ist, ob mit zunehmender Funktionsgröße des 
Armzentrunis in der rechten Hirnhälfte auch die Zentren für die anderen linksseitigen 
Muskelgruppen das funktionelle Übergewicht gewinnen oder nicht, ob der partielle 
sekundäre Linkser Zeichen der Existenz oder des Werdens einer totalen Linkshändigkeit 
bietet‘“. Früher fand Verf. bei 5 Schulkindern, die nach verschiedenen Krankheits- 
prozessen infolge Gebrauchsunfähigkeit der rechten Hand anerzogene Linkshänder 
geworden waren, in 4 Fällen linksseitige superiore Mimik, bei 3 die Möglichkeit isolierten 
linken Lidschlusses, Symptome, die zur Linkshändigkeit gehören. Auch bei weiteren 
5 nach Verlust der Gebrauchsfähiekeit des rechten Armes zu Linkshändern gewordenen 
Untersuchten fand Verf. hauptsächlich Asymmetrien der Facialisinnervation (beim 
Zähnezeigen, Lachen, Pfeifen) zugunsten der linken Seite, Möglichkeit des isolierten 
Lidschlusses des linken Auges. Von Bedeutung für das Zustandekommen der Änderung 
der Lateralität bei sekundären Linkshändern scheint das Alter zu sein, in dem der 
Gebrauchsverlust der rechten Extremität eintritt. Im Kindesalter wird sie leichter und 
eher dauernd zustande kommen als beim Erwachsenen. K. Berliner (Breslau)., 


12* 


— 10 — 


Fischer, Heinr., und Herm. Hofmann: Ein Beitrag zur Körperbauforsehung. 
Innersekretorische Faktoren in der Genese der Körperproportionen von der Pubertät 
bis zum Reilungsabsehluß. (Klin. f. psych. u. nerv. Krankh., Gießen.) Monatsschr. f. 
Psychiatrie u. Neurol. Bd. 56, H. 2/3, S. 153—160. 1924. 

Die Verff. haben an 360 gesunden Soldaten Messungen vorgenommen, die in erster 
Linie das Verhältnis von Oberlänge zu Unterlänge betrafen. Sie betonen im Gegensatz 
zu Weil, daß Überlänge der unteren Extremitäten auch bei Heterosexuellen häufig 
seji. Die Zeit des Epiphysenschlusses der Extremitäten fällt insbesondere in das 18. 
bis 21. Lebensjahr; entsprechend fanden sie bis zu diesem Lebensjahr das normale 
Überwiegen der Unterlänge über die Oberlänge am häufigsten; nach dieser Zeit erstreckt 
sich das weitere Längen- und Breitenwachstum im wesentlichen auf den Rumpf, 
wodurch diese temporäre Proportion wieder ausgeglichen wird. Durch dieses weitere 
Wachstum des Rumpfes stellt sich dann auch das Überwiegen der Schulterbreite über 
die Hüftbreite ein, das wir in den normalen Proportionen des Mannes nach Abschluß 
des Wachstums wiederfinden. Dagegen ist Überwiegen der Hüftbreite über die Schulter- 
breite auch beim männlichen Geschlecht in der sensiblen Wachstumsperiode nicht selten 
und nicht als pathologisch anzusehen. Das zahlenmäßige Resultat ist; folgendes: Über- 
wiegen der Unterlänge bei 17jährigen in 66°/,% der Fälle, bei 19jährıgen noch 51!/,°. 
Von da ab werden die Oberlängen überwiegend in 59%, der 20jährigen und von da 
langsam ansteigend, bis mit dem 29. Lebensjahr 100% überwiegende Oberlängen 
erreicht werden. Kretschmer (Tübingen)., 

Kraus, Erik Johannes, und Hedwig Holzer: Über Beziehungen zwischen Gehirn, 
Sehilddrüse und Körperwaehstum. (Pathol. Inst., dtsch. Univ. Prag.) Virchows Arch. 
f. pathol. Anat. u. Physiol. Bd. 251, S. 253—267. 1924. 

~ An der Hand eines Falles von Zwergwuchs bei einer 40jährigen idiotischen Frau mit 
fibröser Atrophie der Schilddrüse, Hypoplasie des Stirnhirns und 2 Fällen idiotischer Kinder 
mit Mikrocephalie, bei denen in dem einen Fall die Schilddrüse hochgradig, in dem anderen 
nur gering atrophisch war, wird die Frage erörtert, ob gewisse Fälle von Idiotie nicht auf 
frühzeitig erworbene Hypothyreosen zurückzuführen seien. Die Möglichkeit einer Schädigung 
von Gehirn und Schilddrüse durch die gleiche Ursache oder der Abhängigkeit der Schilddrüsen- 
veränderungen von dem Gehirnprozeß bleibt daneben bestehen. Schmincke (Tübingen). 

Olesen, Robert: Thyroid survey of 47,493 elementary-school ebildren in Cincinnati. 
(Schilddrüsenuntersuchung bei 47493 Schulkindern in Cincinnati.) Public health 
reports Bd. 39, Nr. 30, S. 1777—1802. 1924. 

Auf Veranlassung und unter Kontrolle des Gesundheitsamtes sind in Cincinnati von 
verschiedenen Ärzten in sämtlichen Schulen des Staates zur selben Zeit Untersuchungen 
vorgenommen worden. Man einigte sich auf ein bestimmtes Schema der Untersuchung. Auf 
Messungen wurde verzichtet. Als geringste Vergrößerung wurde eine solche bezeichnet, die 
bei seitlicher Betrachtung des Halses eben sichtbar und bei der der leicht vergrößerte Isthmu: 
beim Schlucken eben zu tasten ist. Es werden aufsteigend sechs verschiedene Stadien unter- 
schieden. Bei den sehr geringen Kropfgraden war die Vergrößerung am Isthmus lokalisiert. 
bei der stärkeren meist diffus, manchmal knotig. Es sind untersucht worden 104 achtklassige 
Elementarschulen mit im ganzen 23 710 Knaben und 23 783 Mädchen; darunter waren 23% 
farbige Knaben und 2765 farbige Mädchen. Es wurde Schilddrüsenvergrößerung festgestellt 
in 26,6% bei Knaben und in 39,8%, bei Mädchen, bei den farbigen Knaben in 28,89%, bei den 
farbigen Mädchen in 45,1%. Die größte Zahl der Vergrößerungen liegt bei beiden Geschlechtern 
zwischen dem 11.—13. Jahr; während die Kurve bei den Knaben jenseits des 13. Jahres wieder 
abfällt, steigt sie bei den Mädchen weiter an. 50% aller Vergrößerungen gehören in die Rubrik 
der kleinsten Kröpfe, diese kommen bei Mädchen und Knaben annähernd gleich oft vor. 
Bei den stärkeren Kropfgraden ist das Verhältnis von Mädchen zu Knaben wie 7 zu 3. Zeichen 
von Basedow sind nur einmal bei einem 13jährigen Mädchen beobachtet worden. Ein Zu: 
sammenhang zwischen Kropf und schlechten Schulleistungen konnte nicht festgestellt werden. 
Es ist Aufgabe der öffentlichen Gesundheitspflege, Kropfprophylaxe zu treiben. Zu diesem 
Zweck empfiehlt Verf. die allgemeine Einführung eines jodhaltigen Tafelsalzes, das einen Teil 
Jod auf 5000 Teile Salz enthält. Paula Heyman (Berlin). 

Flores, Antonio: Ein Fall von vorzeitiger Pubertät beim männlichen Geschlecht. 
Lisboa med. Jg. 1, Nr. 1, S. 22—40. 1924. (Portugiesisch.) 

Der Junge zeigte mit 2—3 Jahren ein auffallend rasches Körperwachstum und eine b- 
trächtliche Entwicklung der Geschlechtsteile und Schamhaare. Mit 4 Jahren waren die Ge 


— 181 — 


schlechtsteile so groß wie bei einem Erwachsenen, mit 6 Jahren wollte der Knabe nicht mehr 
mit seinen Altersgenossen spielen und verriet Neigung zum weiblichen Geschlecht. Mit 8 Jahren 
sproßten die Achselhaare und der Schnurrbart, die Stimme wechselte. Im selben Jahre erkrankte 
der Knabe an Lungenentzündung, nach der epileptische Anfälle sich einstellten, die sich rasch 
mehrten und bald zu einer Verschlechterung des psychischen Zustandes führten. Verf. sah 
den Kranken im Alter von 10!/, Jahren. Er maß 144 cm und wog 44 kg. Der Körper war 
proportioniert entwickelt, keine Fettsucht. Haut weiß, Haare blond, Augen blau. Behaarung 
wenig ausgesprochen, Bart: spärlich. Schnurrbarthaare 1,5, Schamhaare 5—6 cm lang. Hoden 
von Nußgröße, Penis wie der eines Erwachsenen. Nirgends eine Tumorbildung. Horizontaler 
Nystagmus beim Linksblicken. Dicke der Schädelknochen wie beim Erwachsenen, kein Tumor, 
Fpiphysen verlötet (Röntgenuntersuchung). Geistig stand der Pat. auf der Stufe eines 4<—5jäh- 
rigen Kindes (Binet - Simon). Keine sexuellen Regungen. Was die Entstehung dieser Er- 
scheinungen betriftt, so kommt Verf. auf Grund seiner differentialdiagnostischen Erwägungen 
zum Schlusse, daß es sich hier um einen der seltenen Fälle von Pubertas praecox unbekannten 
Ureprungs handelte. Ganter (Wormditt)., 


Hirszfeldowa, H., und W. Sterling: Konstitutionelle Mesenehymosen. (Klin. 
chorób dziec., univ., Warszawskiego.) Pedjatrja polska Bd. 4, H. 3, S. 131—146. 1924. 
(Polnisch.) 

Bei einem 1ljährigen Knaben wurden neben Zwergwuchs Veränderungen des 
Skeletts, der Muskulatur und besonders solche der Haut beobachtet. Die Familien- 
geschichte bot nichts Bemerkenswertes, ebensowenig das Säuglingsalter. Vom 2. Lebens- 
jahr an wurde eine auffallende Verletzlichkeit der Haut bemerkt, indem kleine Kon- 
tusionen und Excoriationen mit Beulen und Narbenbildung ausheilten. Schleimhaut- 
blutungen fehlten. Im 3. Lebensjahr zeigten sich Gehstörungen infolge Veränderungen 
der Gelenke an den unteren Extremitäten. Zwergwuchs vom Typus der Mikrosomie. 
Haut dunkel gefärbt, trocken, nicht schuppend, zeigt neben der Erscheinung der 
Cutis laxa Narben verschiedenen Alters, teils glatt, weiß, weich, teils rötlich und erhaben, 
mit wie Zigarettenpapier gefälteltem Epithel. Keine Veränderungen der Haare, Zähne 
und Nägel. Muskulatur zeigt teils ausgesprochen lokalen Schwund, teils deutliche 
Hypertrophie, bei normaler elektrischer Erregbarkeit. Beweglichkeit der Gelenke teils 
übermäßig, teils gehemmt. Rechtes metatarsotarsales Schlottergelenk. Lange Röhren- 
knochen teils verdickt, teils stark verkrümmt. Intelligenz intakt. Mikroskopische 
Untersuchung der Haut zeigt normale Beschaffenheit der oberflächlichen Schichten, 
Vermehrung der elastischen Fasern der Cutis. Knochen zeigen röntgenologisch eine 
Verminderung der Kalksubstanz. Es wird darauf hingewiesen, daß sich sämtliche 
Symptome unter einem gemeinsamen embryologischen Gesichtspunkt zusammen- 
fassen lassen und für den Symptomenkomplex die Bezeichnung konstitutionelle Mesen- 
chymose vorgeschlagen. Es wird ferner ein bereits früher veröffentlichter Fall heran- 
gezogen, ein 7jähriger Knabe, welcher ohne ergründbare Ursache unter starken Schmer- 
zen und zunehmender Schwäche der unteren Extremitäten bei Mißgestaltung des Brust- 
korbes zum Exitus kam. Die Sektion ergab Weichheit der Knochen, auffallende Durch- 
blutung und Verdickung des Periosts. Steinert (Prag)., 


Siegel, Alvin E.: Influence of the adrenals and ovaries upon precoeious secondary 
sexual development. (Der Einfluß der Nebennieren und Ovarien auf vorzeitige Ge- 
schlechtsentwicklung.) (Childr. serv., methodist hosp., Philadelphia.) Arch. of pediatr. 


Bd. 41, Nr. 4, S. 265—272. 1924. 

Fall 1. 3jähriges Mädchen, das einen für sein Alter übermäßig großen Bruder hatte, 
von der Größe eines mindestens 6jährigen Kindes, von kräftigem, massivem Körperbau, mit 
einem löwenähnlichen Kopf, übermäßig entwickeltem Genitale mit Schambehaarung. jedoch 
ohne Brustentwicklung starb an akuter Nephritis und Encephalitis. Die Autopsie zeigte einen 
Tumor der rechten Nebenniere von der Größe einer kleinen grapefruit. Histologisch ein Sarkom 
der Rinde. Hypophyse und Zirbel nicht vergrößert, Thymus nicht auffindbar, was bemerkens- 
wert erscheint. — Fall 2. 8jähriges Mädchen mit vorzeitiger Entwicklung der sekundären 
Geschlechtsmerkmale, aber von zartem Wuchs und nicht übermäßiger Größe starb an Sarkom 
des rechten Ovars. Hier war die Genitalbehaarung nur an den Labien, im 1. Falle vorwiegend 
ad pubem vorhanden. Eine lljährige Schwester der Kranken besitzt auch schon Schamhaare. 

J. Bauer (Wien)., 


— 182 — 


Wolff, Kurt: Über den Ursprung der Intersexualität beim Mensehen. (Erbwiss. 
Seminar, Univ. Berlin.) Arch. f. Frauenkunde u. Konstitutionsforsch. Bd. 10, H.?., 
S. 156—184. 1924. 

Verf. bespricht zunächst die moderne Anschauung über die Geschlechtsbestim- 
mung, insbesondere die Theorie der Intersexualität nach Goldschmidt, gewonnen 
aus Versuchsreihen am Schwanımspinner (Lymantria dispar). Aus der großen Mannig- 
faltigkeit der homosexuellen Erscheinungsforn beim Menschen hat Verf. einen bestimmten 
Typus (Inversus psycho-somaticus) herausgegriffen, der neben psychischen auch 
somatische Abweichungen aufzuweisen hat. Letztere waren recht verschiedenartig: 
cs fanden sich Übergänge von fast reinem Mannestyp bzw. Frauentyp bis zum Herm- 
aphroditismus, zur Gynandrie bzw. Androgynie. Oft waren die physischen Abweichun- 
gen recht geringfügig. Unter 148 Homosexuellen waren nur 8 Frauen. Das Material 
wurde streng kritisch gesichtet und da, wo es möglich war, auch Eltern und Verwandte 
genauer untersucht. In etwa 30% der Fälle trat die Homosexualität familiär auf. 
die übrigen 70%% waren Einzelfälle. Die verschiedensten Familienglieder können gleicher- 
maßen von der Anomalie befallen sein; nicht jedoch kam Homosexualität vor in einer 
Familie bei Mutter und Kindern, bei Vater und Töchtern und bei Onkel und Nichte. 
Die Untersuchung der Familien nach der Weinbergschen statistischen Vererbungs- 
methode ergab, daß die Homosexualität vermutlich kein monohybrides Merkmal ist, 
daß wir vielmehr zwei unabhängig voneinander mendelnde Gene annehmen müssen. 
Den Abschluß bildet eine theoretische Deutung (analog derGoldschmidt schen An 
nahme), nach der die menschliche Intersexualität im wesentlichen durch Valenz- 
verschiebungen der Geschlechtsfaktoren bedingt ist. H. Hoffmann (Tübingen)., 

Sitsen, A. E.: Einige Bemerkungen über Rassenunterschiede. Nederlandsch- 
maandschr. v. geneesk. Jg. 11, Nr. 11, S. 690—702. 1923. (Holländisch.) 

Bemerkungen zu einem Vortrag Richets über Zuchtwahl bei Menschen. Die 
Frage, ob in der Intelligenz Rassenunterschiede zu Tage treten wird von Richet be- 
jahend beantwortet. Die weiße Rasse sollte in Verstandesbegabung den anderen Rasse. 
weitaus überlegen sein. Eine Kreuzung mit anderen Rassen sollte nach Richet eine 
Degeneration der weißen Rasse zur Folge haben. Sitsen bekämpft diese Meinung. 
Er warnt zu großer Vorsicht in Annahmen sogenannter Rassenunterschiede anatomischer, 
physiologischer, pathologischer Natur. Fast immer beruhen diese Unterschiede auf 
Milieuverhältnissen. Richet macht nach Sitsen drei kardinale Fehler. Er beurteilt 
die Intelligenz einer Rasse nach der Begabung der Besten. Er beurteilt nicht die In- 
telligenz, sondern Resultate der Intelligenz. Der Einfluß des Milieus ist fast ganz 
außer Acht gelassen. — Die Diskussion ist insoweit nicht fruchtbar, da Verf. nicht 
einmal einen Versuch gemacht hat, den Begriff Intelligenz näher zu umgrenzen. 

H. C. Rümke (Amsterdam!., 

Rüdin, Ernst: Über rassenhygienische Familienberatung. Arch. f. Rassen- u. Ge 
sellschaftsbiol. Bd. 16, H. 2, S. 162—178. 1924. 

Zwei Gruppen von Menschen sind es, die den Psychiater in der Frage rassen- 
hygienischer Familienberatung ganz besonders beschäftigen. Die eine Gruppe rekru- 
tiert sich aus den Fällen, wo eine geistige Störung die Ehe schon schwer geschädigt 
hat und wo erbbelastete und kranke Kinder schon vorhanden sind. Dies ist die größer 
Gruppe, die zu spät zur Eheberatung kommt. Die andere, sehr viel kleinere Grupp: 
kommt vor der Ehe, um sich Rat zu holen. Gerade bei dieser letzten Gruppe tauch: 
eine Reihe von Fragen auf, die vom Verf. eingehend behandelt werden. Verf. steh: 
im allgemeinen auf dem Standpunkt, daß ein Mensch, der geistes- oder gemütskrank 
ist oder war, nicht heiraten, vor allem aber keine Kinder in die Welt setzen soll. (Wear: 
auch dieser Rat selbstverständlich erscheinen mag, so ist doch zu bedenken. daß d: 
Zahl von Eheschließungen nach bzw. trotz der Erkrankung des einen Partners ein 
ziemlich hohe ist.) Als Ausnahmen können nur die Erkrankungen gelten, die rex 
durch äußere Momente, z. B. durch schwere Kopfverletzungen hervorgerufe? 


— 183 — 


werden. Ebensowenig sind die vielen Halbkranken, die Psychopathen (Morphinisten, 
Alkoholisten, sexuellen Triebanomalien, die krankhaft Ängstlichen, Willensschwachen, 
Erregbaren, die Zwangsneurotiker, die Hypochonder) für die Ehe und Kinderzeugung 
geeignet, da sie für die Nachkommenschaft vielfach verhängnisvoll werden. Dasselbe 
gilt für die geistige Beschränktheit. Versorgungsheiraten bei Menschen, die mit dem 
Leben nicht fertig werden, können rassenhygicenisch nicht in Betracht kommen. Schwie- 
riger ist die Eheberatung bei den Menschen, die zwar selbst nicht nachweisbar geistes- 
krank oder geistig abnorm sind, die nur mit solchen kranken und halbkranken Bluts- 
verwandten erblich belastet sind. Hier ist zunächst der Gesundheitszustand der Ehe- 
kandidaten selbst festzustellen, dann die Art der bei den Verwandten vorgekommenen 
Störungen und Abnormitäten. Daraus ergibt sich dann auf Grund unserer klinischen 
und erbbiologischen Kenntnisse der ärztliche Rat. Verf. erläutert dies an einzelnen 
Beispielen. So kann z. B. die progressive Paralyse und die Hirnsyphilis nicht als erb- 
liche Belastung gelten, da es sich bei ihnen um exogene Erkrankungen handelt (aller- 
dings muß hier bei der Eheberatung, wenn die Kinder der Kranken Ehekandidaten 
sind, die angeborene Syphilis ausgeschaltet werden). Anders verhält es sich bei dem 
erblichen Veitstanz (Huntingtonsche Chores). Diese Erkrankung entsteht auf Grund 
des höchsten Grades von Erblichkeit, den eine Krankheitsanlage überhaupt erreichen 
kann. Die Kranken selbst sollten unter keinen Umständen heiraten oder ihre Familie 
vergrößern, wenn sie schon verheiratet sind. Die Kinder der Kranken sollten eben- 
falls nicht heiraten bzw. nicht geheiratet werden, da die Erkrankungsgefahr für sie 
zu groß ist. Die anderen Geistesstörungen liegen hinsichtlich der Intensitätsgefahr 
ihrer Vererbbarkeit zwischen diesen beiden Extremen. Eine verhängnisvolle starke 
Vererbungskraft besitzt noch das manisch-depressive Irresein. Etwa 31,4% der Kinder 
sind wieder in gleicher Weise krank. Gesunde Glieder aus manisch-depressiven Familien 
sind (trotz der vorwiegenden Dominanz des Erbgangs) nicht immer sicher davor, 
manisch-depressive Nachkommen zu erhalten. Trotzdem kann man völlig gesunden 
Söhnen und Geschwistern von manisch-depressiven Kranken, falls ihre Ehepartner 
ganz gesund sind, die Ehe nicht widerraten. Da auch rezessive Momente bei dem 
manisch-depressiven Irresein mitspielen, ist eine blutsverwandte Heirat unbedingt 
zu vermeiden. In gewissem Sinne ähnlich, wenn auch in bezug auf Einzelheiten ver- 
schieden, liegen die Dinge bei der Dementia praecox und der Epilepsie. Eine rassen- 
hygienisch besonders wichtige Frage betrifft die gesunden Familienglieder aus rezessiv- 
erbkranken Familien, die möglicherweise Erbträger von latenten Krankheitsanlagen 
sind. Wohl kann eine derart belastete Familie durch Zuführung gesunden Blutes 
„‚aufgefrischt‘‘ werden, so daß eine offene Krankheit nicht mehr aufzutreten braucht. 
Andererseits wird aber die latente Anlage auf diese Weise in der Bevölkerung weit- 
verbreitet. Verf. hält ein striktes Eheverbot für die Gesunden aus derartigen rezessiv- 
erbkranken Familien mit Recht für bevölkerungspolitisch bedenklich. Er ist der An- 
sicht, daß man den Beteiligten den Sachverhalt auseinandersetzen soll, um sie dann 
selbst entscheiden zu lassen. In diesen wie in allen anderen Fällen ist natürlich auch 
die körperliche Veranlagung und ebenso wertvolle geistige Begabung bei der Beurteilung 
in Anschlag zu bringen. Ganz besondere Aufmerksamkeit hat der Arzt auch den rasse- 
feindlichen Schädlingen des Alkoholismus, der Syphilis und des Trippers zu widmen. 
Hier eröffnet sich für ihn ein reiches Feld der Tätigkeit. Zum Schluß weist Verf. noch 
auf die Technik der Eheberatung hin, der sich manche Schwierigkeiten entgegenstellen 
(Mißtrauen, Scheu, absichtliche Täuschung von seiten der Ehekandidaten, Laien- 
schilderungen von psychischen Abnormitäten usw.). Eine betrübende Tatsache ist es, 
daß die meisten Menschen (namentlich die, die es am meisten brauchen könnten) 
den Arzt gar nicht um Rat fragen. Die Aufklärung muß sich in erster Linie zum Ziele 
setzen, die Rassetüchtigen vor einer Verbindung mit pathologischen Familien zu 
warnen. So würden viele Opfer erblicher Krankheiten erspart bleiben können. 
H. Hoffmann (Tübingen). 


— 184 — 


Murphy, Douglas P.: Marriage of first eousins in direet line of descent through 
four generations. Report of a family. (Heirat von Geschwisterkindern in direkter 
Linie durch vier Generationen.) Journ. of the Americ. med. assoc. Bd.83, Nr. 1, 
S. 29—30. 1924. 

In der Familie bestand eine erhöhte Sterblichkeit der Kinder, welche möglicherweise 
als Folge der Inzucht anzusehen ist. Dafür, daß in ihrem Gefolge körperliche oder geistige 
Schädigungen auftreten müssen, ergab sich kein Anhaltspunkt. 

Seng (Königsfeld, Baden)., 
© Hoffmann, Hermann: Über Temperumentsvererbung. (Grenziragen d. Nerven- 
u. Seelenlebens. Hrsg. v. Kretschmer. H. 115.) München: J. F. Bergmann 1923. 
68 S. G.-M. 2.10/8 0.50. 

Verf. versteht unter Temperamentsvererbung ‚die Vererbung der affektiven 
seelischen Eigenart“. Mit Absicht wurde der Arbeit kein bestimmtss Temperaments- 
schema zugrunde gelegt. So weit angängig, wurde auf die Kretschmersche Ten- 
peramentslehre zurückgegriffen. Benutzt wurden erbbiologische Daten aus den Studien 
Lundborgs, aus der Geschichte einiger Dynastien und andere Beobachtungen. 
Verfolgt wird die Kreuzung sthenisch-asthenisch, erbbiologische Verschmelzungs- 
typen, der Erbgang einzelner Temperamentseigenschaften, die Umkehrung des psy- 
chischen Geschlechtscharakters. Die Arbeit behandelt wichtige Probleme in anregen- 
der Weise. Kritische Bedenken gegen die psychologische Seite dieser Erbbiologie 
können nicht verschwiegen werden. Es handelt sich um eine vorwissenschaftliche 
Psychologie nach Art jener, die mit ‚Vermögen‘ und ‚Sinnen‘ arbeitet. Dabei 
werden diese Erscheinungen als einfach vererbbare hingenommen; die Bedeutung 
von Einflüssen der Umwelt wird nicht in Erwägung gezogen. 

Isserlin (München). 

Timme, Walter: The so-ealled unit characters in relation to hereditary distur- 
banees of the nervous system. (Über Erbeinheiten bei den hereditären Erkran- 
kungen des Nervensystems.) Arch. of neurol. a. psychiatry Bd. 12, Nr. 2, S. 131 bis 
136. 1924. 

Die hereditären Erkrankungen des Nervensystems sind sicher nur selten durch 
eine Erbeinheit bedingte Zustände. Meist ist zweifellos das Zusammentreffen mehrerer 
Erbeinheiten notwendig, um ein bestimmtes Krankheitsbild hervorzurufen. Andrerseits 
können sehr wohl verschiedene Krankheitsbilder entstehen, wenn eine bestimmte Erb- 
einheit sich bei verschiedenen Gliedern einer Familie jeweils mit anderen Faktoren 
verbindet. Man erhält dann den Eindruck einer polymorphen Vererbung. So ist es 
nach Ansicht des Verf.s bei der Migräne, der Epilepsie, dem abnormen Längenwachstum 
und vermindertem Blutzuckergehalt, die Beziehungen zueinander zeigen und oft 
nebeneinander in einer Familie vorkommen. Verf. glaubt, daß die ihnen zugrunde 
liegende und diese verschiedenen Zustände verbindende ursächliche Erbeinheit eine 
abnorme Bildung der Sella turcica ist. Welches der verschiedenen Krankheitsbilder 
entsteht, ist von dem Hinzutreten weiterer ursächlicher Faktoren abhängig. 

Campbell (Dresden).. 

Vignes, Henri: Poids des enfants nés de mères tubereuleuses. (Das Gewicht 
der Kinder von tuberkulösen Müttern.) Cpt. rend. des séances de la soc. de biol. 
Bd. 90, Nr. 9, S. 604—607. 1924. 

158 Beobachtungen; 41 Primiparae, 75 Multiparae, 42 Frauen, die keine genauen 
Angaben über ihre letzten Menses machen konnten. Die Mehrzahl dieser Kinder zeigte 
nach ihrer Geburt ein Untergewicht gegenüber den Kindern von gesunden Müttern. 
Dies zeigt sich mehr noch bei den Mehrgebärenden als bei den Erstgebärenden. Ein 
Teil der Kinder zeigt aber auch gleiches oder sogar höheres Gewicht als das Durch- 
schnittsgewicht beträgt. Die sozialen Verhältnisse und der Krankheitszustand der 
Mütter bei der Geburt des Kindes bleiben unberücksichtigt. 

Güterbock (Berlin)., 


— 185 — 


Psychologie: 
Allgemeine und spezielle Psychologie. — Methodisches : 

Sehwab, Georg: Prüfung des psychisehen Zustandes und Entwieklungsganges 
von Kindern bis zum 3. Lebensjahr. (Univ.-Kinderklin., Erlangen.) Jahrb. f. Kinder- 
heilk. Bd. 107, 3. Folge: Bd. 57, H. 1/2, S. 86—98. 1924. 

Es wird ein neuer Test zur Untersuchung des psychischen Zustandes von Kindern 
der ersten 3 Lebensjahre mitgeteilt. Zur richtigen Beurteilung ist noch die gesamte 
physische Entwicklung, einschließlich der reflexologischen und neurologischen Lei- 
stungen zu verwerten, um in der Zusammenfassung zum Gesamtresultat noch eine 
gewisse intuitive Leistung des Untersuchers mitwirken zu lassen. Neurath (Wien). 


© Bühler, Charlotte, und Johanna Haas: Gibt es Fälle, in denen man lügen muß? 
Eine pädagogiseh-psyehologisehe Untersuchung über die Kinderlüge auf Grund einer 
Erhebung. (Psychol. Inst., Univ. Wien.) (Wiener Arbeiten z. pädagog. Psychol. 
Hrsg. v. Charlotte Bühler u. Viktor Fadrus. H. 1.) Wien, Leipzig u. New York: Dtsch. 
Verl. f. Jugend u. Volk 1924. V,47 S. G.-M. 2.—. 

Die vorliegende Untersuchung eröffnet eine fortlaufende Reihe psychologischer 
Arbeiten, welche die Pädagogik interessierende Fragen behandeln werden. Die Unter- 
suchung ist in Form einer Erhebung an 249 Volksschülern und -schülerinnen im 2. bis 
ö. Schuljahr angestellt. Es hat sich ergeben, daß nur ein verschwindend kleiner Teil 
der Kinder die Lüge grundsätzlich ablehnt. Weitaus die meisten halten die Lüge 
mindestens in gewissen Fällen für notwendig, wofür sie reichlich Beispiele liefern. 
Die Verff. unterscheiden 3 Arten der Lüge: 1. Die soziale Lüge, die der Lügende aus 
Rücksicht für den Belogenen anwendet. 2. Die asoziale Lüge, bei der der Lügende 
zu seinem eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf den Belogenen lügt. 3) Die antisoziale 
Lüge, bei der der Lügende den Belogenen absichtlich schädigt. Bei den beiden letzten 
Arten sind Furcht und Gier die Hauptmotive. Für die 1. Art der Lüge werden weit 
mehr Beispiele von den Mädchen, für die 3. Art von den Knaben geliefert; an der 
2. Gruppe sind etwa beide gleich beteiligt. Bei beiden Geschlechtern nimmt mit zu- 
nehmendem Alter die Zahl der Beispiele für die 1. Gruppe zugunsten der 2. und schließ- 
lich der 3. Gruppe ab. Fast die Hälfte aller Beispiele ist dem Leben der Erwachsenen 
besonders der Eltern entnommen. Da die Beispiele zum größten Teil aus dem Leben 
der Kinder und ihrer Umgebung stammen — etwa 7%, läßt sich auf Lektüre, Zeitungs- 
und Kinoeinfluß zurückführen — und mit großer Unbefangenheit vorgebracht worden 
sind, geben sie wohl ein charakteristisches Bild für die Anschauungen des vor der 
Pubertät stehenden Schulkindes einer bestimmten Bevölkerungsschicht. Die Stellung- 
nahme der Kinder zur Lüge, ihren verschiedenen Formen, zur Erwachsenenlüge, die 
Verteilung nach Alter und Geschlecht wird mit aller nötigen Vorsicht psychologisch 
gedeutet. Auf eine pädagogische Auswertung wird absichtlich verzichtet. Erna Lyon. 


Wallon, Henri: L’interrogation chez Penfant. (Die Bedeutung der Frage beim Kind.) 
Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 170—182. 1924. 

Verf. wendet sich in einigen Punkten gegen Stern, der nach seiner Meinung 
sprachliche und intellektuelle Entwicklung zu stark identifiziert. Das gilt z. B. hin- 
sichtlich der Frage nach Objektbezeichnungen; wie Verf. an einem congenital aphasischen 
Kind nachweisen konnte, war die Möglichkeit des Gebrauchs der täglichen Gegenstände 
bei diesem Kind genau so gut entwickelt, wie bei einem normalen Kind, obgleich gar 
keine sprachliche Entwicklung vorhanden war. — Verf. geht auch auf die Psycho- 
pathologie der Frage ein. Ein zwangsmäßiges Fragen konnte er in einem Falle von 
Psychopathie beobachten, ähnlich wie Griesinger und Pick. — Das Fragebedürfnis 
des Kindes kann durch die Umgebung in neuropathischer Weise gesteigert werden. 
Fragesucht und Pseudologie zeigen gewisse Zusanımenhänge. Man darf daher dem 
Fragebedürfnis nicht allzusehr entgegen kommen, sondern muß im Gegenteil den 
selbständigen Erfinder- und Entdeckergeist des Kindes wecken.  Schob (Dresden). 





— 1786 — 


Person, Joseph: Intelligenee conceived as a mechanism. (Intelligenz in mecha- 
nistischer Betrachtung.) Psychol. review Bd. 31, Nr. 4, S. 281—287. 1924. 

Gewiß ist die Erfassung des Psychischen durch den „Behaviourism‘ eng und 
fehlerhaft. wenn sie allein auf den gewöhnlichen Assoziationsmechanismus beschränkt 
bleibt. Deshalb ist man aber nach Ansicht des Autors noch nicht genötigt, sich einer 
dualistischen Betrachtung des Seelischen, die der Behaviourism gerade zu vermeiden 
sucht, durch Einschaltung von .‚mystischen‘ Faktoren, wie „bewußter Intelligenz“ 
oder vom „Unbewußten‘” (im Sinne der Freudianer) zuzuwenden. Bewußtsein. das 
im „Behaviour“ (Verhalten) seinen Ausdruck hat, ist in der Einheit: des Weltge- 
schehens enthalten, ohne daß ein neues Psychisches heranzuziehen ıst. Man kann 
bei dem Prinzip der „Situation der Reizbeantwortung“ („stimulating situation" 
bleiben, wenn man ihren Bereich so weit ausdehnt, daß man ihr Wesen in den Zwischen- 
antrieben der Teilprozesse des Organismus und in ihrer Fähigkeit, nicht nur rezeptiv, 
sondern auch aktiv die Einflüsse des Außen- und Innengeschehens zu gestalten, sieht 
und so die Determination der organischen Struktur begreift. So ist denn auch Wissen 
und Verstehen (knowledge) besser betrachtet als „Antwort auf gewisse Arten von 
gegebenen Bedingungen denn als Auffassung von Dingen in der Welt durch irgendein 
von außen kommendes Agens“. Die Unterschiede in den Intelligenzgraden finden 
in den Verschiedenheiten dieser Reaktionen ihre Charakterisierung. Erich Feuchtwanger. 

Dobson, R. R.: An investigation of group intelligenee tests. (Eine Untersuchung 
mittels Gruppen-Intelligenztest.) Brit. journ. of psychol. Bd. 15, Nr. 2, S. 162--168. 1924. 

Schulkinder, Universitätsstudenten und Professoren wurden „getestet‘‘. Dadurch 
sollte sich zeigen, in welchem Alter das Wachstum ‚der Intelligenz’ eine Grenze hat; 
auch sollten diejenigen Tests bestimmt werden, welche die persönliche Anlage und die- 
jenigen, welche die Einflüsse der Schule zeigen. Eine Zunahme der Intelligenz (ohne 
Rücksicht auf spätere Erfahrung) wurde bis zum 17. Lebensjahr bemerkt. Die Um- 
versitätsprofessoren hatten jedoch „ganz ungewöhnlich hohe‘ Leistungen. Es wurde 
erreicht, daB die klügsten Schüler durch die Tests herausgefunden wurden. Der Ver- 
gleich der gelösten Tests ermöglicht den Hinweis auf die Verschiedenheit der Quali- 
täten der geprüften Schüler in verschiedenen Lebensaltern. — Unwillkürlich fragt mau 
sich: Bringen die Intelligenztestuntersuchungen in dieser Form überhaupt noch etwas 
Neues? von Kuenburg (München). 

Chapman, J. Crosby: Persistenee, suecess and speed in a mental task. (Ausdauer. 
Arbeitsquantum und Geschwindigkeit bei einer geistigen Arbeit.) Pedagog. seminary 
31, S. 276—284. 1924. . 

Die geistige Arbeit war: aus 6 Buchstaben möglichst viele Worte bilden; Ver- 
suchspersonen waren l4jährige Kinder. Das Verhältnis der drei ım Titel genannter 
Arbeitsmerkmale zueinander wird festgestellt; große individuelle Unterschiede in allen 
drei Merkmalen. Bobertag (Berlin). 

Gray, P. L., and R. E. Marsden: The constaney of the intelligence quotient. Further 
results. (Die Konstanz des Intelligenzquotienten. Weitere Ergebnisse.) Brit. joum 
of psychol. Bd. 15, Nr. 2, S. 169—173. 1924. 

Fortsetzung einer Abhandlung derselben Zeitschrift 13 (vgl. diese Zeitschr. 29, 94) 

von Kuenburg. 

Weimer, Hermann: Wesen und Arten der Fehler. (IV. Teil.) Zeitschr. f. pädaz 
Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 24, Nr. 11/12, S. 353—372. 1923. 

Der 4. Teil behandelt die Ähnlichkeitsfehler, bei denen Gestalt- und Klangähnliet 
keit von Ziffern, Buchstaben und Worten als Fehlerquelle wirkt; darunter die Wahi- 
fehler, die sich aus falscher Wahl gleichklingender oder gestaltähnlicher Worte und Zit- 
fern ergeben. Auf die Häufigkeit des Verlesens und Versprechens infolge der rasche? 
Aufeinanderfolge gleicher oder gestaltähnlicher Ziffern und Buchstaben wird besonder 
hingewiesen (z. B. Armen statt Armeen) und auf den psychologischen Zusammenhang 
dieser Erscheinung mit dem sprachwissenschaftlichen Phänomen der ‚„Dissimilation” 


— 1897 — 


aufmerksam gemacht (Entstehung des Wortes Kartoffel aus Tartuffel). Schließlich 

werden die „Mischfehler‘‘ behandelt und deren Beziehungen zu den der Sprachwissen- 

schaft bekannten „Kontaminationen“ besprochen (Flispern aus Flüstern und Fispern). 
Storch (Tübingen)., 

Pauli, R.: Ein verbesserter Gedächtnisapparat. (Psychol. Inst., Univ. München.) 
Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 49, H. 1/2, S. 89—92. 1924. 

Der kleine wohlbekannte Gedächtnisapparat von Lipmann und Marx, der wegen 
seiner Handlichkeit und sicheren Funktionsweise am häufigsten in psychologischen 
und psychopathologischen Laboratorien Verwendung findet, hat eine wesentliche 
Verbesserung erfahren. Die Nachteile, die in der beschränkten Anzahl der Dar- 
bietungsinhalte, in der geringen Variationsmöglichkeit der Darbietungsgeschwindig- 
keiten sowie indemruckweisen Weitergleiten der Elemente in senkrechter Richtung 
und in gleichen Abständen bestanden haben, werden behoben durch Anbringung 
einer Schleifenvorrichtung, durch die es ermöglicht wird, die Reihenlänge bis zu 60 
Gliedern zu vermehren oder längere Pausen zwischen die einzelnen Elemente zu schie- 
ben. Ferner wird durch eine Sektorenscheibe die Darbietungszeit beliebig über die 
Geschwindigkeit des Uhrwerkes hinaus verlängert oder verkürzt; auch kann eine rhyth- 
mische oder wechselnde Exposition eingestellt werden. Die ruckartige Fortbewegung 
fällt fort, der Wechsel der Elemente erfolgt im Sinne der Augenbewegungen. Sektoren- 
rad sowie Schleifenvorrichtung sind abnehmbar und verstellbar und lassen die ver- 
schiedensten Darbietungsmöglichkeiten zu. Die bisher in Gebrauch stehenden Apparate 
lassen sich ohne erhebliche Kosten (etwa 1/, des Anschaffungspreises) auf die neue Art 
umarbeiten, ohne daß der Umfang des Apparates geändert werden müßte. Für Unter- 
suchungen auf psychopathologischem Gebiet ist der einwandfreie Gebrauch des so ver- 
besserten Apparates erst möglich geworden und daher die Umarbeit sehr empfehlenswert. 


Angine Piycholoria: von Kuenburg (München). 


Dolan, Helen H.: Developments in the field of mental testing. (Entwickelungsstufen 
auf dem Gebiete der psychologischen Testprüfungen.) Public health reports Bd. 39, 
Nr. 40, S. 2505—2522. 1924. 

Die Schrift bringt eine kurze kritische Besprechung dessen, was in Amerika 
in letzter Zeit auf dem Gebiete der Untersuchung durch psychologische Testserien 
geleistet worden ist. Es zeigt sich, daß man sich in der Ausarbeitung und Anwendung 
der Testreihen schon weit von den ursprünglichen Prinzipien der 1908 herausgekom- 
menen Binet-Simon-Methode entfernt hat. Die Revisionen der Tests durch Goddard, 
Terman, Yerkes, Bridges brachten Ausgleich der Schwierigkeiten von Stufe zu 
Stufe, Einführung des Punktsystems und dadurch mehr Sicherheit in der Anwendung, 
leichtere Möglichkeit in der Graduierung. Man steht dem Durchschnitts-,‚Intelligenz- 
alter“ und dem ‚„Intelligenzquotienten‘‘ heute offenbar kritischer gegenüber als früher. 
Waren die Tests früher hauptsächlich an normalen und pathologischen Kindern an- 
gewendet worden, so brachten die psychologischen Prüfungen der Soldaten im Welt- 
krieg eine entscheidende Wandlung in der Richtung der Untersuchung Erwachsener. 
Bei diesen Armeeprüfungen wurden verschiedene Testsysteme zusammengestellt: ein 
„Alpha-Test“ für sprachlich Ausgebildete, ein ‚Beta-Test‘ für Ungebildete und solche, 
die den Alpha-Test nicht bestanden hatten, und außer diesen Gruppen-Testserien noch 
Individual-Testprüfungen. Die Heeresuntersuchungen ergaben sehr gute praktische Er- 
folge bei der Organisation der verschiedenen Truppenkategorien. Die günstigen Resul- 
tate dieser Prüfungen gaben dann den Anstoß zu weiterem Ausbau der Testmethoden 
zum Zwecke der Anwendung auf vielen Gebieten des sozialen, besonders des wirt- 
schaftlichen Lebens. So hat man Testreihen für Handelsberufe, für Bureauangestellte 
usw. ausgearbeitet. Man hat sich nicht beschränkt, die Intellektualqualitäten zu unter- 
suchen, hat auch die Faktoren des Temperamentes und des Willens miteinbeziehen 
wollen (vgl. analoge Tendenzen in Deutschland!). Der Vorteil der Studie ist der, daß 


— 188 — 


die Verf. den Erfolgen und Strömungen nicht mit kritiklosem Optimismus gegenüber- 
steht. Genaue Sichtung der Einzelteste und der Systeme wird verlangt, Urteile auf 
Grund von Einzelprüfungen abgelehnt. Es wird auf die Schwierigkeit der Voraussagen 
für die Berufswahl durch die Testprüfungen und die geringe Möglichkeit der Erfassung 
der Gefühls- und Willensmomente betont. Dadurch, daß außer dem Psychologen 
auch der Psychiater, der Sozialpraktiker, der praktische Arzt sich der Methoden be- 
dient. ist ihr Bereich wesentlich erweitert. Nach Amerika, das an der Spitze steht. 
sind (nach Ansicht der Verf.) die Testprüfungen am meisten entwickelt in Frankreich. 
dann folgen England und Deutschland. (Verf. erwähnt von Deutschland nur Berliner 
Schulen, scheint aber die Bemühungen z. B. des Hamburger Institutes und anderer 
Anstalten, sowie die Prüfungen in der Industrie in Deutschland ganz zu übersehen!) 
Seit 1920 werden auch in China Testprüfungen ausgeführt. Zrich Feuchtwanger. 

Eliasberg, W.: Intelligenz, Intelligenzprüfung und Sprache. (Zugleich eine Be- 
sinnung auf einige Grundfragen der angewandten Psychologie.) Klin. Wochenschr. 
Jg. 3, Nr. 44, S. 1985—1989. 1924. 

Ein geschichtlicher Überblick stellt die wichtigsten Motive und Richtungen der 
Intelligenzforschung des 19. Jahrhunderts zusammen. Der biologlisch-teleologische 
Intelligenzbegriff nach William Stern erwartete am Anfang alle näheren Bestim- 
mungen aus der quantitativen Auswertung der Testergebnisse. Die rein quantitativ: 
Bearbeitung läßt jedoch keine psychologischen Zusammenhänge erkennen. Das wınl 
für die verschiedenen Ausgestaltungen der Korrelationsrechnung des Seltenheitswertes 
der objektiven Schwierigkeit der Leistung allgemein der Leistungskurve dargetan. 
Die phänomenologische Richtung, die die tragenden Erlebnisse sucht, ıst von vorn- 
herein entwicklungs-psychologisch eingestellt. Sie geht aus von den am besten be- 
kannten Erlebnisweisen des reifenden Bewußtseins und verfolgt sie abwärts (kritischer 
Anthropomorphismus). Dazu tritt die geschichtliche, die kulturwissenschaftliche 
und die normwissenschaftliche Intelligenzforschung. Der naturwissenschaftlich* 
Nominalismus beherrschte lange unsere Ansichten über die Beziehung zwischen Intell- 
genz und Sprache. Wie die Sprache mit den „gehauchten“ Worten, so fiel die Intell- 
genz mit der Sprache zusammen. Entgegenstehen Erfahrungen an Kindern aus dem 
1. Lebensjahr, an ungeschulten Taubstummen, an Aphatikern. Die neuere Intelligenz- 
forschung schaltet die sprachliche Vermittlung und die sprachliche Lösungsart: aus. 
Gleichzeitig versucht sie den Einfluß des Sprachbesitzes im einzelnen zu verfolgen. 
Vergleiche die Versuche des Ref. über Psychologie und Pathologie der Abstraktion, 
Beiheft 35 der Zeitschr. f. angew. Psych. Der Vergleich der Ergebnisse an differenten 
Gruppen gestattet die Momente des Alters, des Reifezustandes und der Milieuwirkunz 
auszuscheiden und die reine Beanlagung zu erkennen. Autoreferat. 

Krug, Josef, und Otto Pommer: Ein Testsystem zur Ermittlung sprachlich be- 
gabter Schüler. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25, H. 10, S. 362 bi: 
373. 1924. - 

Seit Herbst 1922 hat die Stadt Wien 6 Versuchsschulen eingerichtet, die den Plar: 
einer obligaten Einheitsschule für das 11. bis 14. Lebensjahr (‚‚allgemeine Mittelschule” 
erproben sollen, den die Reformabteilung des österreichischen Unterrichtsamtes aus- 
gearbeitet hat. Mit dem 3. Jahrgang (7. Schuljahr) beginnt hier für die geeignete: 
Kinder der fremdsprachliche Unterricht. Um für die Auswahl eine Unterlage nebe! 
dem Urteil der Lehrer zu haben, haben die Verff., die Leiter von zwei dieser Versuchs- 
schulen, gemeinsam mit Bühler und seiner Frau das vorliegende Testsystem aus- 
gearbeitet unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur. Es handelt sich un: 
3 Tests zur Prüfung des Gedächtnisses (Vokabel-Wortgruppen-Sätze-Merkversuch!. 
1 Test zur Prüfung der Fähigkeit des Regelanwendens (Streichtest), um 2 logische Tests 
im engeren Sinne (Neben- und Öberbegriffe, Reihenordnung), je 1 Test zur Prüfun: 
der Fähigkeit, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen (freie Kombinationen) und ur: 
3 Tests zur Prüfung der sprachlichen Kombinations- und Ausdrucksfähigkeit (Mosai- 


— 189 — 


sätze, Ergänzungstest, Satzbildung). Die Untersuchung soll erst als abgeschlossen 
gelten, wenn die ‚Bewährung‘ im nächstjährigen Sprachunterricht vorliegt. Nohl. 


Genetische und vergleichende Psychologie: 


Richards-Nash, Albertine A.: The psychology of superior children. (Die Psycho- 
logie begabter Kinder.) Pedagog. seminary 31, S. 209—246. 1924. 

Berichtet über eine sorgfältig durchgeführte Untersuchung an 175 Kindern über 
das Verhältnis der Begabung zur Schulleistung. Es zeigte sich, daß die unterrichtliche 
Versorgung begabter Kinder eine wesentlich schwierigere Aufgabe darstellt, als ge- 
wöhnlich angenommen wird. Sie ist nicht zu lösen allein auf Grund einer Einteilung 
der Kinder nach Intelligenzquotient oder Schulalter und ihrer Absonderung zum 
Zwecke schnelleren Fortschrittes; sie setzt vielmehr eine genaue Kenntnis der Indi- 
vidualität jedes Kindes voraus, namentlich seines Gefühlslebens und seiner ‚sozialen 
Bedürfnisse‘‘ sowie seiner nach spezieller Richtung entwickelten Anlagen und Neigungen. 
In diesem Sinne wurden 70 Kinder einer eingehenden „klinischen“ Untersuchung 
unterworfen, die hauptsächlich darauf abzielte, die Sonderbegabungen (Talente) der 
Kinder festzustellen und die Gründe ihrer mangelhaften Anpassung an das Schul- 
leben aufzudecken. Solcher Gründe werden vier unterschieden: körperliche Mängel, 
ungünstige Gefühlseinstellung zur Umwelt, Überwuchern besonderer Neigungen und 
Mangel an geeigneten Arbeitsmotiven gegenüber den Unterrichtsgegenständen. — 
Zum Schluß wird ein Blick geworfen auf die Schullaufbahnen berühmter Männer und 
Frauen. Bobertag (Berlin). 

Jones, Alice M.: The superior child. A series of ease studies. (Das überdurchschnitt- 
liche Kind. Eine Reihe kasuistischer Studien.) Psychol. clin. Bd. 15, Nr. 5, S. 130 
bis 137. 1924. 

Kurze Mitteilung über 4 Kinder im Alter von 11—14 Jahren, die mit guter, viel- 
leicht überdurchschnittlicher, Intelligenz im allgemeinen besondere musikalische 
Fähigkeiten vereinigen. Die oberflächlichen psychologischen Analysen — eingehender 
mitgeteilt wird nur das Resultat der Intelligenzprüfung, während gerade über die Art 
der musikalischen Talente nichts Belangvolles gesagt wird — führen den Verf. zu keinem 
allgemein formulierbaren Ergebnis. R. Thiele (Berlin). 

Kupky, Oskar: Die religiöse Entwieklung von Jugendliehen dargestellt auf Grund 
ihrer literarischen Erzeugnisse. Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 49, H. 1/2, S. 1—88. 1924. 

Der Arbeit liegt ein wertvolles Material von Tagebuchaufzeichnungen, Selbst- 
schilderungen und Gedichten zugrunde. Es ist seiner Herkunft nach insofern begrenzt, 
als es ausschließlich von sächsischen Protestanten, nämlich Schülern und Schülerinnen 
höherer Lehranstalten Leipzigs stammt, hat also vielfach eine deutliche Note von 
gebundener Überlieferung und sozialer Schicht in formaler Hinsicht. Die Bearbeitung 
berücksichtigt hauptsächlich den Verlauf der religiösen Entwicklung, die Beziehungen 
des jugendlichen Intellektualismus zu dieser, die katastrophische und die kontinuier- 
liche Entwicklung des religiösen Erlebens nach Überwindung der Religion der Kind- 
heit, die Beziehungen des Religiösen zum Ästhetischen, zum Sexuellen und Erotischen 
im Laufe der Pubertät. Es ist nicht möglich, einen so subtilen Gegenstand in Kürze 
referierend zu besprechen; die Abhandlung sei eingehender Lektüre angelegentlich 
empfohlen. Homburger (Heidelberg). 

Maher, Ellen E.: Moral and social development of the six-year-old child. (Sitt- 
liche Entwicklung des 6jährigen Kindes.) Pedagog. seminary 31, 8. 268—275. 1924. 

Durch die Beobachtung des Verhaltens zweier Gruppen von 6jährigen Kindern 
wurde festgestellt, welche sittlichen ‚‚Normalleistungen‘‘ man von 6jährigen Kindern 
verlangen kann. Von der Ausdehnung solcher Untersuchungen auf andere Alters- 
stufen erhofft Verf. die Gewinnung einer Art „Staffelsystems’ für die Beurteilung 
der sittlichen Entwicklung in Analogie zu den für die Intelligenzentwicklung aufge- 
fundenen Normalleistungen. Bobertag (Berlin). 


— 1% — 


Bechterew, W., und N. Sehtschelowanow: Die Grundlagen der genetischen Re- 
ilexologie. II. Russ. Kongr. f. Psychoneurol., Leningrad, 3.—10. I. 1924. (Russisch.) 

Eine psychologische Forschung kann, angesichts der Subjektivität der angewandten 
Erforschungsmittel, nicht das Problem der genetischen Entwicklung des Bewußtseins 
lösen, weil es nicht möglich ist, das Bewußtsein des Säuglings nach den Resultaten 
einer Selbstanalyse des erwachsenen Menschen zu beurteilen. Beim Studium des Säug- 
lings hat nur eine objektive biosoziologische oder reflexologische Methode der Erfor- 
schung Wert. Diese Methode, welche von Bechterew und seiner Schule ausgearbeitet 
wird und in dem Studium der gesamten äußeren Reaktionen der Persönlichkeit besteht, 
soll dazu dienen, die Reflexologie als eine wissenschaftliche Disziplin zu begründen 
(s. Bechterew, Allgem. Grund]. d. Reflexologie, 1923, 2. Aufl.). Der Säugling wurde 
in Bechterews Arbeiten zum Objekt reflexologischer Forschung, und zwar schon 
seit 1909, dem Entstehungsjahre des von ihm gegründeten Pädologischen Instituts 
und die betreffenden Akten betragen ca. 4000 Seiten. Dieses enorme Material zeigt, 
daß wie im Schlafe, so auch im wachen Zustande ursprünglich bloß lokale, unter- 
einander nicht verbundene motorische Reaktionen vorhanden sind. Das sind einfache 
(angeborene spezifische Reflexe, Sehnen-Kontr. usw.) und komplexe spezifische Reflexe 
(vom Auge, Ohr). Außerdem sind auch allgemeine, nicht spezifische Reflexe ın Form 
von, durch äußere Reize allgemeinen Charakters, wie z. B. Kälte, hervorgerufenen 
Bewegungen und Schreien. Als funktionelle Kennzeichen des Nerven- und Muskel- 
apparates des Säuglings muß das gewöhnlich in den ersten Monaten vorhandene Kernig- 
sche Symptom, wie auch die Nackencontractur verzeichnet werden. Der Neugeborene 
besitzt noch 2 allgemeine spezifische Reaktionen. Diese sind die Speisereaktion als 
Saugen und eine andere, mit Lageveränderung verbundene. Diese beiden Reaktionen 
mit gleichzeitiger Unterdrückung aller anderen Reflexe können also in physiologischer 
Hinsicht als besondere Dominanten im Sinne der Lehre von Ouchtomski anerkannt 
werden. Allmählich, mit dem Reifen des Nervensystems, gewöhnlich von der ersten 
Hälfte des 3. Monates an (selten früher) entwickeln sich Dominantreaktionen des- 
selben Typus vom Auge und Ohr. Die Entstehung höherer, dem Typus der .ver- 
knüpfenden“ Reflexe angehörenden Reaktionen ist nur nach dem Entstehen dieser 
Dominanten möglich. Die Bildung verknüpfender Reflexe ist nicht nur von der Hemi- 
sphärenrinde, sondern auch von dem unter der Rinde liegenden Gebiet beeinflußt. 
Als eins der wichtigsten Probleme hebt die genetische Methode das Problem des Schla- 
fens und Wachens hervor. In der Genesis ist der Schlaf, d. h. Abwesenheit des Wachens 
der Primärzustand. Mit dem Wuchs einer größeren Komplexität des Reagierens 
auf äußere Reize wächst beim Säugling auch das Wachsein. Mark Serejski (Moskau). `” 


Psychopathologie und Psychiatrie: 
Geistige Dejektzustände j 


Bacher, G.: Vom Wesen des Schwachsinns. Zeitschr. f. d. Behandl. Schwach- 
sinniger Jg. 44, Nr. 10, S. 153—157. 1924. 

Auf Grund seiner 3jährigen Untersuchungen mit der Achschen Suchmethode 
bemüht sich der Verf. zu beweisen, wie sehr verschieden die psychische Betätigung 
Normaler und Schwachsinniger ist und wie bedingt bei letzteren nur die Geltung 
psychischer Gesetzmäßigkeiten sein kann. Dies festzustellen, sei durch einen Vergleich 
von Resultaten nicht zu ermöglichen, dazu sei eine Kenntnis der psychologischen 
Zwischenglieder (Lösungsmittel) unbedingt notwendig. In streng wissenschaftlicher 
Weise schält er die Lösungsmittel heraus und kommt zu dem Ergebnis, daß es zum 
mindesten eine Oberflächlichkeit ist, vom Wesen des Schwachsinns allein als Intelligenz- 
rückstand zu reden und daß der Wert der durch ihre Kürze so vielfach gerühmten 
Intelligenzprüfungsformen recht fraglich erscheint. W. Raatz (Charlottenburg). 


— 191 — 


Edens, J. J., und D. Herdersehee: Die Anzahl der Sehwachsinnigen. Tijdschr. v. 
buitengewoon onderwijs Jg. 5, Nr. 8, S. 130—137. 1924. (Holländisch.) 

Verff. haben die Anzahl der Schwachsinnigen auf den Schulen für Schwachsinnige 
in den verschiedenen Städten der Niederlande im Verhältnis zu der Anzahl Erwachsener 
und im Verhältnis zu der Anzahl normaler Schüler untersucht. Ein wahrscheinliches 
Mittel wurde festgestellt. An der Hand ausführlicher Tabellen wird auf das Weit- 
auseinandergehen der Ziffern hingewiesen. Die Anzahl der männlichen Schwach- 
sinnigen auf 1000 Männer variiert von 0,88—5,4. Kommen große Unterschiede mit 
dem Mittel vor, so habe die Prüfungskommission der betreffenden Stadt sich ernst zu 
fragen, ob ihre Kriterien zur Aufnehmung der Kinder auf eine Schule für Schwach- 
sinnige die rechten seien. Nur die reichliche Erfahrung Sachverständiger, die den rela- 
tiv geringen Wert der theoretischen Forschung auf diesem Gebiete kennen, ist berufen, 
den Kindern den Stempel des Schwachsinns aufzudrücken. — Verff. kommen auf 
Grund ihrer statistischen Untersuchungen weiter zu folgenden Ergebnissen: Schwach- 
sinn entsteht wahrscheinlich durch Kombination ungünstig wirkender. hereditärer 
Faktoren. Ein einfach Mendelscher Faktor sei nicht anzunehmen. Wenn Alkohol 
und Syphilis eine überragende Rolle spiele in der Genese des Schwachsinnes, müßten die 
großen Hafenstädte eine größere Prozentzahl liefern. — In fast allen Städten ist die 
Anzahl der Knaben der der Mädchen überlegen. Das weise nach Verff. auf einen endo- 
genen Faktor hin. H. C. Rümke (Amsterdam). 

Tamm, Alfhild: Untersuehungen von zurückgebliebenen Sehulkindern. Hygiea 
Bd. 86, H.19, S. 673—704. 1924. (Schwedisch.) 

Der Verf. berichtet über Untersuchungen nach der Methode von Binet und 
Simon, die an 736 Volksschülern aus Stockholm vorgenommen wurden, welche zum 
Eintritt in die Hilfsschule gemeldet waren. Er unterscheidet drei Gruppen: 1. Kinder 
mit Intelligenzdefekt, 2. unbedeutend Zurückgebliebene, 3. Nichtzurückgebliebene. Bei 
den Kindern ohne Intelligenzdefekt (Gruppe 2 und 3) mußten genaue Nachforschungen 
angestellt werden, um die Ursache der Zurückgebliebenheit in der Schule zu ergründen. 
Hierüber wurden Tabellen geführt, aus denen sich ergab, daß in vielen Fällen zu- 
fällige Ursachen (eigenartiger Provinzdialekt) das Mitkommen der Kinder verhinderten. 
In einer verhältnismäßig großen Zahl beruhte die Zurückgebliebenheit in der Schule 
auf Psychopathie und in einer beinahe ebenso großen auf Schwierigkeiten beim Lesen 
und Schreibenlernen. Bei diesen sog. Wortblinden unterscheidet er drei Typen (visuelle, 
akustische, motorische), für die gute Beispiele ausführlich beschrieben werden. Zwei 
Drittel der Fälle gehören zum visuellen Typus und nicht selten ist diese Störung familiär 
und erblich. Viele der Psychopathen waren für die Hilfsschule ungeeignet. Andere 
mußten ihr zugewiesen werden, weil sie trotz relativ guter Intelligenz wegen Willens- 
schwäche, Trägheit, Ermüdbarkeit unmöglich mitkommen konnten. 

S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin). 

Suttie, Jan D.: Moral imbeeility. (Moralischer Schwachsinn.) Journ. of mental 
science Bd. 70, Nr. 290, S. 362—375. 1924. 

Es ist behauptet worden, daß die Fähigkeit zu moralischem Empfinden eine 
angeborene, elementare, nicht weiter analysierbare Eigenschaft sei, die bei einem 
Menschen unabhängig von seinen sonstigen geistigen Eigenschaften vorhanden sein 
oder fehlen könne und die sich nach den Mendelschen Regeln vererbe. Diese Ansicht 
wird andererseits lebhaft bestritten. Auch auf pathologischem Gebiete besteht noch 
keine Einigkeit, ob es einen moralischen Schwachsinn als angeborenen isolierten Defekt 
gibt oder ob er nur in Verbindung mit intellektueller Minderwertigkeit vorkommt. 
Auch der Verf. gibt keine endgültige Antwort auf diese Frage, er behält sich vor, später 
darauf zurückzukommen, und will zunächst nur auf die Schwierigkeiten hinweisen, 
die einer Beantwortung entgegenstehen. — Zweifellos finden sich unter den Kriminellen 
viel intellektuell Minderwertige. Andererseits ist hochgradige Beschränktheit auch 
mit einem moralischen Lebenswandel vereinbar. Bei Versuchungen werden Schwach- 


— 19 — 


sinnige wohl weniger durch Vernunftgründe gehemmt und nach vollbrachter Tat 
werden sie leichter gefaßt. Die psychiatrische Feststellung eines moralischen Schwach- 
sinnes durch Exploration des Kranken ist schwierig. Ein dummer Mensch ist weniger 
fähig, abstrakte Begriffe zu gebrauchen. Dies kann leicht dazu führen, daß man seinen 
moralischen Sinn unterschätzt. Der Intelligente hingegen vermag durch seine Gewandt- 
heit im Ausdruck den Anschein zu erwecken, als ob er auch moralisches Empfinden habe. 
Auf diese Weise kann bei guter Intelligenz leicht ein Mangel der moralischen Gefühle 
übersehen werden. Andererseits kann ein Mensch so bar aller moralischen Gefühle sein. 
daß er für ethische Fragen überhaupt kein Verständnis hat. Er erscheint dann leicht 
geistesschwach, während ein moralischer Defekt vorliegt. Ein grober intellektueller 
Defekt erschwert es seinem Träger, die Grundsätze sozialen Verhaltens zu erlernen und 
zu behalten. Umgekehrt wird durch Fehlen eines sozialen Rappets zu den Mn- 
menschen die intellektuelle Entwickelung erschwert. Moralisch Minderwertige zeigen 
oft im sozialen Verkehr eine auffallende Beschränktheit, die darauf beruht, daß sie dir 
Gefühle und den Standpunkt anderer Leute nicht intuitiv zu erfassen mögen. Bis- 
weilen wird angenommen, daß ein unmoralisches Verhalten an sich schon einen intellek- 
tuellen Defekt beweise, weil der Übeltäter sich schließlich doch selbst schädige. Wenn 
der Übeltäter die Folgen seiner Handlungen begriffe, würde er davon abstehen. Diex 
Argumentation bedeutet eine Überschätzung der Vernunftgründe als Grundlage 
sozialen Verhaltens. Bei der Suche nach der Existenz von moralisch Schwachsinnigen 
muß man solche Elemente ausscheiden, die aus Haß gegen die herrschenden Klassen 
und ihre Anschauungen antisoziale Handlungen begehen. Sie sind in Wirklichkeit 
nicht frei von sozialen Gefühlen, sondern oft loyale Mitglieder ihrer gesellschafts- 
feindlichen Gemeinschaft. Ebenso müssen die ausscheiden, die durch äußere Umständr 
Gewohnheitsverbrecher geworden sind. Campbell (Dresden). ° 


Psychopathie, Verwahrlosung : 


© Kármán, Elemér von: Zuehtlose Kinder. (Entschiedene Schulreform. Hrsz. v. 
Paul Oestreieh. H. 40.) Leipzig u. Wien: Ernst Oldenburg 1924. 117 S. G.-M. 1.60. 

Karmans Büchlein ist das Werk eines edlen Menschenfreundes, dessen Her: 
den Mühseligen und Beladenen schlägt. Seine schönsten Jahre waren diejenigen. al: 
er als Jugendrichter und gleichzeitig Leiter eines Heimes für verwahrloste oder gefähr- 
dete Kinder ganz unter diesen leben konnte. Und es sind auch die reizvollsten Steller 
in seinem Buche dort, wo er von seinen Erfahrungen in diesem Heime berichtet. Er 
hatte nur zwei Grundsätze in seiner Erziehungsarbeit: Verstehen und Güte. Ung 
er glaubt, mit diesen beiden Prinzipien produktive Erziehung zu leisten. Er ist im wesent- 
lichen auch mit seinen Erfolgen zufrieden, wenngleich er einzelne Fehlschläge zusibt. 
Auch sonst fesseln seine Ausführungen überall dort, wo er von eigenen Erfahrungen 
berichtet: Zahlreiche kleine ‚Fälle‘ sind über das Buch verstreut. Aber einen sehr 
großen Teil nehmen theoretische Erörterungen ein. Er bemüht sich eine Art Geschicht: 
der Zucht zu geben, und er verwendet hierbei und überhaupt als Grundlage seine: 
ganzen Buches Begriffe der Biologie, die er analogisch anwendet. ‚Die Analogie de: 
Zuchtlosigkeit mit den Krankheiten des Nervensystems kann auch bei der Therapı: 
lehrreich angewendet werden.“ Dies ist einer der Sätze, die sein Verfahren charak- 
terisieren. Und so spricht er von Neotenien, Progenesen, Mißbildungen und rudimentär:! 
Verhaltungsweisen der Zucht und ihren Atrophien, Hypertrophien und Degenerationet 
In diesen Ausführungen, die zum großen Teil recht unsystematisch, ja stellenwe: 
fast ideenflüchtig anmuten, wird ihm nur ein Laie, nicht ein Wissenschaftler zu folge: 
vermögen. Der erstere, nicht durch kritische Einwände beschwert, wird an manch: 
originellen Wendungen seine Freude haben; der letztere wird seine Kritik unterdrückt 
im Hinblick auf die überall aufleuchtende menschenfreundliche Tendenz. 

Gruhle {Heidelberg}. 


— 19 — 


Bovet, Pierre: Enfants vagabonds et conflits mentaux. (Vagabondierende Kinder 
und seelische Konflikte.) Journ. de psychol. norm. et pathol. Jg. 21, Nr. 1/3, S. 236 
bis 240. 1924. 

Beim Kind erwachsen äußere Konflikte aus dem Schoß der Familie. Die Lösung 
der Konflikte kann entweder im Traum erfolgen — das Kind träumt seinen oder der 
Eltern Tod, verläßt im Traum selbst das Elternhaus oder die Eltern gehen fort — 
oder in entsprechenden Handlungen: da Mord an den Eltern, Selbstmord, Verbannung 
der Eltern fast auszuschließen sind, bleibt nur die Lösung durch Davonlaufen aus dem 
Vaterhaus. Die Ursachen der seelischen Konflikte sucht Bovet wie Freud und Adler 
in negativen Gefühlen gegenüber den Eltern (Rachsucht gegenüber dem Nebenbuhler, 
Unterdrückung durch die Eltern usw.); daraus erwächst eine N “gung zur Revolte, die 
sich im Weglaufen äußert. Schob (Dresden). °° 

Mapes, Charles C.: A eontribution to the literature of mastupration with especial 
referenee to the infantile type. (Masturbation in der Kindheit.) Americ. med. Bd. 30, 
Nr. 9, S. 533—538. 1924. 

Weist zunächst daraufhin, daß der Name Onanie fälschlich mit Masturbation gleich- 
gesetzt wird, da Onanie eigentlich den Congressus interruptus bedeutet. Daß Mastur- 
bation, die bei Knaben und Mädchen gleich häufig ist, die Gesundheit schädigt, ist ein 
Irrtum, der bekämpft werden sollte. Bei Jugendlichen empfiehlt sich sexuelle Auf- 
klärung und Erziehung. Bei Kleinkindern, bei denen Masturbation auch von geringer 
Bedeutung sein kann, aber den Verdacht eines pathologischen Geschehens erwecken 
muß, sind individuell angepaßte Korrektivmaßnahmen, wie Bandagen, Beseitigung 
von Eingeweidewürmern usw., tonische Medikamente angezeigt. F. Stern. 


Krankheiten des Kindesalters (einschl. allgemeine Pathologie und Therapie): 


Findlay, Leonard: Reflections on congenital syphilis. (Betrachtungen über kon- 
genitale Syphilis.) Americ. journ. of dis. of childr. Bd. 28, Nr. 2, S. 133—146 u. 
248—250. 1924. 

Findlay weist in seinem auf der 36. SENT. der Amerikanischen 
pädiatrischen Gesellschaft in Pittsfield, Mass., gehaltenen Vortrage darauf hin, daß 
das Vorkommen der kongenitalen Syphilis vielfach sehr stark überschätzt worden sei. 
So habe man früher in Glasgow (Schottland) angenommen, daß 10%, aller Kinder mit 
kongenitaler Syphilis behaftet wären. Dann tauchten Zweifel an der Richtigkeit 
dieser Annahme auf. Um ein genaues Urteil zu gewinnen, wurden während 1!/, Jahren 
alle Kinder, die ın das allgemeine Kinderkrankenhaus in Glasgow aufgenommen wurden, 
auf WaR. untersucht: von 1275 Kindern zeigten 38 einen positiven und 20 einen zweifel- 
haft positiven Ausfall der Reaktion = 4,5%. Und auf der Scharlachabteilung, in der 
nicht nur Kinder aus den ärmsten, sondern aus allen Schichten der Bevölkerung be- 
handelt wurden, zeigten in dem gleichen Zeitraum von 247 Kindern nur 2 = 0,8%, 
einen positiven Ausfall der WaR. 209% von den Fällen mit positiver WaR. zeigten 
offene Syphilis. Cruickshank fand am Glasgower NY Hospital unter 1881 
Müttern bei 9,04% eine positive WaR., dagegen nur bei 4,2%, unter 1350 Neugeborenen 
eine positive WaR. des Placentarblutes. Diese ie "WaR. der Neugeborenen 
wurde aber, wie fortgesetzte Untersuchungen ergaben, sehr oft in den ersten Monaten 
nach der Geburt negativ, so daß nur 0,3% dieser Kinder als syphilitisch angesprochen 
werden konnten. F. schließt sich deshalb der Auffassung von Cruickshank an, 
daß in Glasgow wahrscheinlich erheblich weniger als 1°% der kindlichen Bevölkerung 
mit Spirochaeta pallida infiziert sind. Blutuntersuchungen an einer großen Reihe 
von kindlichen Erkrankungen ergaben, daß die WaR. bei syphilitische n Affektionen 
stets positiv war, daß sie bei solchen Affektionen, die manchmal eine syphilitische 
Grundlage haben (Imbecillitas, Hydrocephalus, Diplegia spastica usw.) gelegentlich 
positiv war, und bei anderen Erkrankungen. die nichtsyphilitischer Natur waren, 
stets negativ gefunden wurde. Die Beobachtungen des Verf. sprechen nieht für die 


Zeitschrift für Kinderforschung. 30, Ref. 13 


— 19 — 


Annahme eines spezifisch neurotropischen Toxins. sondern eher für die Meinung Motts, 
daB Nervensyphilis ein Ausdruck eines abgeschwächten Toxins ıst. Jedenfalls scheint 
die Disposition des Individuums eine recht wichtige Rolle ın der Entwicklung der 
Neurosvphilis zu spielen. Die Heilbehandlung der kongenitalen Syphilis ergibt nur 
geringe Resultate. Viel besser sind die Erfolge der prophvlaktischen Behandlung: 
Von einigen 50 schwangeren svphilitischen Müttern, die behandelt wurden. gebaren 
alle außer 3 ein lebendes und anscheinend nichtsyphilitisches Kind. Von diesen Kindern 
zeigten einige nach der Geburt eine positive WaR., die aber im Verlauf von einigen 
Wochen negativ wurde. Diese Resultate der prophvlaktischen Behandlungsmethode 
sind mit denen, welche von allen auf diesem Gebiete arbeitenden Forschern festgestellt 
wurden. gut vergleichbar. Verf. behandelte Mütter ın allen Perioden der Schwanger- 
schaft und fand, daß, wenn die Behandlung vor dem 8. Monat begonnen wurde, der 
Erfolg nicht ausblieb; er gab 4—42 Injektionen von je 0,6 Neoarsphenamin ohne wesent- 
lichen Unterschied im Resultat. Der Erfolg war nicht nur, daß alle Kinder lebend und 
frei von Syphilis geboren wurden, sondern daß alle Aborte und Totgeburten ausblieben. 
In 21 Familien wurden ohne prophylaktische Behandlung der Mütter lebend geboren 
— 28 Kinder. tot -= 34, syphilitisch = 28 (31°,), nach der Behandlung lebend = 34, 
tot = | (schwere Geburt), syphilitisch (WaR. nach 1 Monat positiv) = 3 (8°,): Also 
ein ganz wesentlicher Unterschied! Verf. berichtet dann noch über 4 Familien. in 
denen die Mütter nach der Behandlung noch 4—6 Schwangerschaften hatten; zumeist 
blieben die Kinder gesund, trotzdem die Mütter keine weitere Kur mehr durchgemacht 
hatten. Er betont zum Schluß, daß die einzige Hoffnung auf eine wirksame Bekänp- 
fung der kongenitalen Syphilis in der Prophylaxe liege. — An der Diskussion beteiligten 
sich Jeans, Heiman, Freeman und Veeder, von denen letzterer der Ansicht 
des Vortragenden voll beipflichtete, während Jeans in einigen Punkten abweichende 
Erfahrungen gemacht hatte. Arndt (Berlin). 


Hirsehberg, Julius: Über die von Jonathan Hutehinson beschriebene Zahn-Ver- 
bildung. Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 50, Nr. 43, S. 1478. 1924. 

Der berühmte Altmeister der Augenheilkunde wendet sich zunächst gegen die 
Namen ‚„Hutchinsonsche Zähne‘. Hutchinson, der Beschreiber der nach ihm be- 
nannten Zahndeformität habe die besten Zähne von der Welt gehabt und es sei wenig 
geschmackvoll, von „Hutchinsonschen Zähnen‘ zu sprechen. Hirschberg weist 
ferner auf die häufig falsch gestellte Diagnose hin infolge Unkenntnis der von Hutchin- 
son gegebenen Beschreibung. Die von Hutchinson beschriebene Verbildung betrifft 
nur die bleibenden Zähne. Wenn die oberen mittleren Schneidezähne zwergartig 
sind, zu kurz und zu schmal, und wenn sie eine einzige zentrale Kerbe an ihrem Rande 
zeigen, so ist die Diagnose Syphilis so gut wie sicher. Nur die genaue Beachtung dieser 
Angaben kann vor Irrtümern schützen. @. Tugendreich (Berlin). 


Cziekeli, Hermann: Ein Fall von Übertragung der Syphilis auf die zweite Generation. 

(Univ.-Kinderklin., Graz.) Münch. med. Wochenschr. Jg. 71, Nr. 44, S. 1541 — 1542. 1924. 

Beschreibung eines Falles. des 7. bisher bekannt gewordenen, wo eine Syphilis der 3. Gene- 

ration. also Übertragung durch die bereits kongenital-luetische Mutter, einwandfrei bewiesen ist. 
Martin Gwn pert (Berlin). 

Kennedy, Roger L. J.: The prognosis of sequelae of epidemic eneephalitis in children. 
(Die Prognose der Folgen nach epidemischer Encephalitis bei Kindern.) Americ. journ. 
of dis. of childr. Bd. 28, Nr. 2, S. 158—172. 1924. 

Das Material der Untersuchungen bestand aus 61 in 6 Jahren beobachteten Fällen 
unter 14 Jahren, von denen 52 vom Beginn der epidemischen Encephalitis bis zum Ab- 
schluß der Studien in ihrem Verhalten beobachtet werden konnten. 21 Kinder, von 
denen 16 verfolgt werden konnten, boten Parkinsonismus, 9 waren gebessert, 2 stationär, 
14 verschlechtert, 1 Fall erlag viner Infektion. Die Prognose dieses Zustands ist quoad 
vitam nicht schlecht, wohl aber bezüglich Besserung oder Heilung. 23 Kinder zeigten 
Veränderungen ihres Gebarens und ihrer Personalität, 6 waren gebessert, 17 blieben 


— 19 — 


stationär oder verschlechterten sich. 19 Fälle wiesen Schlafstörungen auf, von denen 
9 derzeit normal schlafen, 3 mehr oder weniger gestört die Nacht verbringen, 7 un- 
verändert oder verschlechtert sind. Respirationsstörungen fanden sich öfter, als nach 
der Literatur anzunehmen wäre. 2 von 17 respirationsgestörten Kindern erscheinen 
gebessert, 12 ungeändert, 1 verschlechtert. Neurath (Wien)., 

Suzuki, Tadashi, and Shinnosuke Mori: Meningeal cases of infant beri-beri in 
Manehuria. (Meningeale Fälle kinderlicher Beriberi in der Mandschurei.) Journ. of 
Oriental med. Bd. 2, Nr. 1, S. 30—54. 1924. 

Die Verff. berichten über 110 Fälle von Beriberi bei Säuglingen vom 1. Monat 
bis zum Alter von 2 Jahren. Sie beobachteten den meningealen Typus in 14 Fällen, 
den kardialen (76 Fälle), den paralytischen (17 Fälle) und den ödematösen (3 Fälle). 
Der kardiale Typus überwiegt bei weitem bei Säuglingen. Der meningeale Typus 
zeigte sich meist bei Kindern, die mehr als 5—6 Monate alt waren. In 9 Fällen fand 
sich gleichzeitig Beriberi bei der Mutter. Der meningeale Typus zeigte sich nicht im 
Sommer. Die Mortalität bei diesem Typus ist gering im Vergleich zur Sterblichkeit 
bei dem kardialen Typus. Die initialen Symptome bei der meningealen Form bestanden 
in Erbrechen und Abmagerung, es folgten Katarrhe der Respirationsorgane und des 
Magendarmtraktus. Das Inkubationsstadium betrug im Durchschnitt 11 Tage, die 
Krankheitsdauer durchschnittlich 35 Tage. Die hauptsächlichen Symptome der menin- 
gealen Form sind Ptosis, Sehschwäche, Auftreibung des Leibes, Vergrößerung der 
Leber, Herzpalpilationen und unruhige unregelmäßige Bewegungen und Zuckungen 
der Glieder. Bei der Sektion fand man Stauungen und Hydrops der Meningen, was 
sich auch durch Stauungspapille und Veränderungen der Spinalflüssigkeit äußerte. 


S. Kalischer (Schlachtensee-Berlin)., 
Normale Pädagogik: 


© Richtungen und Probleme in der Erziehungswissensehaft der Gegenwart. Ein 
Quellen- und Arbeitsbuch zur Einführung; unseren jungen Amtsfreunden gewidmet. 
Hrsg. v. Franz Zieroff. 1. Tl.: Die erziehungswissensehaftliehen Probleme, die ihren 
Beziehungspunkt vornehmlich im Individuum haben. Nürnberg: Friedrich Korn 1924. 
IX, 427 S. Geb. G.-M. 5.80. 

Es handelt sich hier um ein Schülerbuch für den Pädagogikunterricht. Sieben 
Studienräte und Professoren an Lehrerbildungsanstalten behandeln hier folgende 
Fragen: Individualpädagogik (Stengel), Jugendkunde (Ruttmann), Gemeinsame 
Erziehung der Geschlechter (Hausmann), Arbeits-, Lern-, Erziehungsschule (Kessel- 
ring), Erziehung durch Kunst (Tieroff), Jugendbewegung (Dr. Müller), Geschlecht- 
liche Erziehung (Guckenberger). Das Streben, den pädagogischen Nachwuchs mit 
den Strömungen in der Erziehung der Gegenwart bekannt zu machen, ist anerkennens- 
wert, die Methode, den Lernenden wenigstens Bruchstücke aus den Quellen zu geben, 
ist gewiß ein kleiner Fortschritt, aber die heutige Lehrerbildung ist so organisiert, 
daß die Unterrichtsstoffe riesengroß, die Zeit zur Arbeit sehr kurz und das Alter der 
Studierenden zu jung ist, und so ist das Schicksal der Lehrerbildung trotz aller Be- 
mühungen immer gleich geblieben, man kann in das Vielerlei wenig eindringen, man 
kann an den Dingen nur vorübergehen. Erfreulich ist, daß Ruttmann auch das heil- 
pädagogische Problem hereinzieht. Im Kapitel Individualpädagogik kommen Pädagogen 
minderer Bedeutung noch zu Wort, während bedeutende Namen fehlen. Egenberger. 

Schlemmer, Hans: Vererbung und Erziehung. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. 
Pädag. Jg. 25, H. 3/4, S. 75—86. 1924. 

Wenn der Erzieher sich auch der Grenzen, die ihm durch die Vererbung gesetzt sind, 
bewußt sein muß, bleiben ihm doch noch Aufgaben genug. Da nie die Eigenschaften selber, 
sondern die Anlagen zu den Eigenschaften vererbt werden, ist immerhin manche Einfluß- 
nahme auf die Entfaltung der Eigenschaften aus ihren Anlagen möglich, besonders wenn es 
gelingt, ein Milieu zu finden, in dem bedenkliche Eigenschaften keinen Nährboden finden. 
Aber auch Positives kann geleistet werden, indem alles geschieht, um glückliche Anlagen zur 
Entwicklung zu bringen bzw. in ihrer Entwicklung zu fördern. Es ist klar, daß eine Vererbung 


13* 


— 19% — 


des durch Erziehung Erworbenen nicht stattfindet. — „Kinder sind nicht das Eigentum 
der Eltern, sondern gehören der Gesamtheit an, in deren Namen die Eltern die Erziehung als 
Amt auszuüben haben.“ Aus diesem Satz Schlemmers ergeben sich natürlich weitgehende 
Konsequenzen für das Recht des Staates, an Stelle ungeeigneter geeignete Erzieher zu setzen. 
— Bei der Begabtenauslese darf nicht die Intelligenz allein entscheiden; ‚‚Nervöse‘‘ sind keines- 
wegs ohne weiteres zu entwerten, weil gerade Begabte vielfach ‚nervös‘ sind. — In der Aus- 
bildung des weiblichen Geschlechts „bleibt die Erziehung zur Mutter immer die höchste Auf- 
gabe‘. Eugen Kahn (München). 

Gates, A. I.: Educational signifieanee of physieal status and of physiological, mental, 
emotional and soeial maturity. (Pädagogische Bedeutung der Körperbeschaffenheit 
und der physiologischen, geistigen, emotionalen und sozialen Reife.) Teachers college 
record 25, S. 223—239. 1924. 

Ausgehend von der Ansicht, daß das Verhältnis von Begabung zur Schulleistung 
durch die Körperbeschaffenheit, physiologische Reife usw. der Kinder mitbestimmt 
sei, berichtet Verf. nach einem historischen Rückblick auf frühere Arbeiten zu diesem 
Problem über seine eigene Untersuchung an 60 Kindern, an denen genaue Feststellungen 
über Körperbeschaffenheit, psychische Eigenschaften und Schulleistungen gemacht 
wurden. Verf. meint, die genaue körperliche Untersuchung der Schulkinder sei für 
Zwecke der körperlichen Erziehung sehr wertvoll, jedoch ziemlich bedeutungslos 
hinsichtlich der Klassifizierung der Kinder nach Intelligenz, sozialer oder emotionaler 
Veranlagung und Schulleistung. Bobertag (Berlin). 


© Twenty-third yearbook of the National Society for the study of education. Part I: 
The education’of gifted children. (23. Jahrbuch der Amerikanischen Gesellschaft für 
pädagogische Forschung. TI. 1: Die Erziehung begabter Kinder.) Hrsg. v. Guy 
M. Whipple. Bloomington, III. Public School Publishing Comp. 1924. 443 S. 

Dieser stattliche Band enthält die Ergebnisse einer umfangreichen Untersuchung, 
den der (innerhalb der im Titel genannten Gesellschaft bestehende) ‚Ausschuß für die 
Frage der Erziehung begabter Kinder“ in den letzten Jahren durchgeführt hat, haupt- 
sächlich auf Grund einer Umfrage in denjenigen amerikanischen Schulen, die über 
den Unterricht der Begabten bisher besondere Erfahrungen gesammelt haben. Es ist 
auf diesem Gebiete in den Vereinigten Staaten eine erstaunliche Arbeit geleistet 
worden; die in dem Jahrbuch vereinigten Beiträge bekunden sämtlich den energischen 
Willen, das Problem des Begabtenunterrichts mit allen Mitteln der wissenschaftlichen 
Forschung, der pädagogischen Kunst und der Verwaltungstechnik zu lösen. Sie zeigen 
eben damit erst recht deutlich, wie verwickelt und weitreichend dieses Problem ist, 
und wie sehr es noch des gründlichen, wohlorganisierten Zusammenarbeitens zahl- 
reicher Kenner sowohl des Schulwesens wie der Kinder bedarf, um hier auch nur über 
die grundlegenden Fragen zur Klarheit und Übereinstimmung zu gelangen. Die Be- 
funde der einzelnen Berichterstatter gründen sich auf so verschiedenartige Unterrichts- 
erfahrungen, die Zahl der Vorschläge und Meinungen ist so groß, die Feststellungs- 
ergebnisse sind teilweise so widerspruchsvoll, daß man häufig den Eindruck gewinnt, 
die engültigen Fragestellungen seien noch gar nicht gefunden und die wesentlichen 
Ursachenzusamımenhänge noch nicht aufgedeckt. Immerhin lassen sich die Rich- 
tungen deutlich erkennen, in denen die Forschung fortschreiten und die praktische 
Arbeit zu Erfolgen gelangen wird. Der Ernst und Eifer, mit denen man sich in diesen 
Richtungen bereits betätigt, berechtigen zu der Hoffnung, daß uns in einem späteren 
Jahrbuch, das laut Ankündigung seines Herausgebers denselben Gegenstand behandeln 
soll, die Ziele einer Begabtenpädagogik und die zu diesem Ziele führenden Wege deut- 
licher erkennbar sein werden, als es zur Zeit der Fall ist. Das Buch ist in drei Haupt- 
abschnitte geteilt. Der erste Abschnitt (Allgemeine Berichte) wird von G. M. Whipple 
eingeleitet durch einen geschichtlichen Überblick über die in den Vereinigten Staaten 
bisher unternommenen Schulversuche an begabten Kindern. B. T. Baldwin erörtert 
sodann die Methoden der Begabtenauslese (Feststellung des physiologischen Alters, 
des Intelligenzalters, des „sozialen Alters“, d. h. der Entwicklung der sozialen An- 


— 197 — 


passung, und des „Bildungsalters‘, d. h. des Schulkenntnisbesitzes), sowie die unter- 
schiedliche Behandlung der einzelnen Kindertypen hinsichtlich der Auslese und Be- 
schulung. Ein 3. Kapitel ist den Fragen der Schulorganisation, ein 4. den Fragen der 
Schulverwaltung gewidmet. Die beiden nächsten Kapitel (E. Horn und H. O. Rugg) 
beschäftigen sich mit den Grundsätzen, nach denen der Lehrplan an Begabtenschulen 
einzurichten ist. Horn stellt folgende Forderungen auf: gleicher Lehrstoff für alle 
Kinder, für die begabten nicht mehr Stoff der gleichen Art, sondern tieferes Ein- 
dringen in ihn; Aufrücken der Kinder nicht nach Intelligenzleistungen, sondern nach 
Schulleistungen; Erzielung guter Leistungen der Begabten auch in den Fächern, die 
keine besondere Begabung erfordern, z. B. Rechtschreiben. Der Beitrag von Rugg 
und der ihm folgende von Helen Davis führen am besten in das Gesamtproblem ein. 
Rugg vergleicht die beiden Hauptmethoden der Förderung begabter Kinder in der 
Schule: Abkürzung der Schullaufbahn durch beschleunigtes Aufrücken (Überspringen 
von Klassen) einerseits, ‚Bereicherung‘ des Lehrstoffes ohne Beschleunigung anderer- 
seits (acceleration — enrichment). Beschleunigung ist zur Zeit das überwiegend geübte 
Verfahren, Bereicherung ist jedoch vorzuziehen; um sie in der richtigen Form durch- 
zuführen, muß man unterscheiden Tätigkeiten (des Kindes in der Schule), die a) mehr 
an die äußere Fertigkeit, b) mehr an das Wissen und Denken, c) mehr an besondere 
Talente appellieren. Der Unterricht in den einzelnen Fächern muß gemäß dieser Unter- 
scheidung in einer den spezifischen Bedürfnissen der begabten Kinder angepaßten Weise 
gestaltet werden; Einzel- und Gruppenunterricht müssen dabei in geeigneter Form 
kombiniert werden. H. Davis gibt eine zusammenfassende psychologische Charak- 
teristik des begabten Kindes: Vererbung und häusliche Verhältnisse, körperliche 
Eigenschaften, soziale Veranlagung, intellektuelle Eigenschaften (wie sie im Unter- 
richt hervortreten) und sittliche Eigenschaften. Im Anschluß hieran wird ein Pro- 
gramm für die erzieherische Beeinflussung der begabten Kinder entworfen. In einem 
8. Kapitel erörtert H. G. Townsend ‚den demokratischen Gedanken und die Er- 
ziehung der begabten Kinder.“ — Der 2. Hauptabschnitt des Buches enthält Spezial- 
untersuchungen . L. M. Terman berichtet zunächst über eine Untersuchung an 643 
begabten Kindern, bei der für jedes Kind genaue Feststellungen über seine körperliche, 
geistige und sittliche Entwicklung, seine Schulleistungen und seine häuslichen Ver- 
hältnisse gemacht werden. Terman und De Voss beschäftigen sich mit den Leistungen 
der begabten Kinder in den einzelnen Unterrichtsfächern, mit dem Ergebnis, daß 
„Bereicherung in geeigneter Form plus Beschleunigung‘ als das Wünschenswerteste 
für sie erscheint. C. W. Waddle ergänzt die vorangehenden Beiträge durch eine ein- 
gehende Schilderung einiger besonderer „Fälle“. In einem 12. Kapitel sind unter 
dem Titel ‚Verschiedene experimentelle und statistische Untersuchungen an begabten 
Kindern‘ 15 Beiträge verschiedener Verfasser vereinigt, denen eine Einleitung und 
Zusammenfassung von Freeman vorangeht. Die Beiträge, auf die hier nicht im ein- 
zelnen eingegangen werden soll, behandeln folgende Themata: a) Körperliche und 
Gesundheitsverhältnisse begabter Kinder; b) Schulleistungen begabter Kinder; c) Ver- 
gleich der Schulleistungen begabter Kinder in Sonderklassen und in gewöhnlichen 
Klassen; d) spätere Unterrichtserfolge ‚‚beschleunigter‘‘ Kinder; e) begabte Kinder 
in den höheren Schulen. — Der 3. Hauptabschnitt des Buches enthält eine Literatur- 
zusammenstellung, die 453 Nummern umfaßt und den Hauptinhalt jeder Schrift kurz - 
charakterisiert. Bobertag (Berlin). 

Sterzinger, Othmar: Über den Stand und die Entwicklung von Begabungen während 
der Gymnasialzeit. (Psychol. Inst., Univ. Graz.) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 49, H. 1/2, 
S. 93—178. 1924. l 

Das Ergebnis der Arbeit ist dies: Die Leistungen in der sinnlichen Aufmerksam- 
keit, im Überschauen, in der abstrakten Aufmerksamkeit, im logischen und mechani- 
schen Gedächtnis, im freien Assoziieren von Wörtern verändern sich von der 1. Klasse 
bis zur 8. nicht. Dagegen erhöhen sich mit dem Alter die Leistungen in der physischen 


— 198 — 


Kraft, in der cerebralen Umstellung, im technischen Verständnis und in der Bewegungs- 
geschwindigkeit. Da in diesen Leistungen ein Willensmoment steckt, so scheint die 
Beschaffenheit der seelischen Energiequellen im großen und ganzen sich gleich zu 
bleiben und nur die physische Kraft und die Kraft des Willens zu wachsen. Die Prü- 
fungen in jenen Leistungen, die sich im Laufe der Gymnasialzeit nicht verändern, 
ermöglichen also direkt eine Voraussage für die zukünftige Laufbahn des Schülers, 
und auch bei den anderen im Laufe der Entwickelung sich erhöhenden Leistungen 
ist ersichtlich, daß sich die guten Veranlagungen von den schlechten schon beim Eintntt 
in die Mittelschule scheiden. Somit könnte ‚‚die Berücksichtigung der psychotechnischen 
Untersuchungsergebnisse 4 und noch mehr Jahre ersparen“. Nohl (Berlin). 

© Klatt, Fritz: Ja, Nein und Trotzdem. Gesammelte Aufsätze. Jena: Eugen 
Diederichs 1924. 204 S. G.-M. 4.—. 

Unter dem wunderlichen Titel hat der Verf. eine Anzahl von Aufsätzen verschie- 
denen Inhalts zusammengestellt, von denen hier nur die in Betracht kommen, in denen 
er seine Ansicht über Erziehung ausspricht. Er unterscheidet beim heranwachsenden 
Menschen 4 Perioden: vom 1. bis 7., vom 8. bis 12., vom 12. bis 15., vom 15. bis 18. Jahr; 
die 1. und 3. Periode ist eine Zeit des Wachstums in die Höhe, in der 2. und 4. geht: das 
Wachstum mehr in die Breite. Diese sind die eigentliche Zeit für Erziehung, in den 
beiden Perioden des Höhenwachstums muß dem immanenten Willen zur Selbstent- 
wicklung mehr Raum gegeben werden. Die Schule setzt ein Jahr zu früh ein, für das 
6. und 7. Jahr müßten Spielschulen eingerichtet werden, in denen die Kinder sich selbst 
entwickeln können. Dann in der Zeit der Pubertätsentwicklung müssen die Zügel der 
Erziehung wieder gelockert werden, damit die Schüler Raum erhalten zur Entfaltung 
des Lebens. Dazu wäre in einer Klasse zu einer bestimmten Zeit eine kleine oder größere 
Gruppe zusammenzufassen und ein Vierteljahr oder länger zu beurlauben. Diese Grup- 
pen können unter Anführung eines Älteren auf Wanderschaft geschickt werden, oder 
sie können unter Leitung berufgebundener Männer und Frauen in den Betrieb großer 
Fabriken oder in landwirtschaftliche Betriebe, aber auch in die Welt der Kunst und 
des Geistes eingeführt werden, oder endlich in Jugendgärten oder in Ferienheimen, 
wie der Verf. eins in Prerow leitet, eine Stätte der Ruhe finden ‚wo sie ihr eigenes 
Schicksal erleben“. Nohl (Berlin). 

© Albert, Wilhelm: Pädagogischer Neubau. Ein Beitrag zur positiven Schulreform. 
Nürnberg: Friedr. Kornsche Buchhandl. 1924. 115 S. G.-M. 2.50. 

Der Verf. gibt als Beispiel der Praxis der neuen Schule, die nicht nach Fächern 
unterrichtet, sondern auf Zusammenschau ausgeht, die Art, wie er im Gesamtunter- 
richt die Nacht behandelt. A. Die heimatliche Betrachtung der Nacht mit dem Leit- 
motiv Arbeit und Ruhe: botanisch, zoologisch, der Mensch, physikalisch. B. Geogra- 
phisch: die Nacht am Meer (Bölsche, Fahrt auf dem Meere), in den Tropen (Hum- 
boldt, Tagebuch vom Orinoco), in der kalten Zone (Na nsen, Sven Hedin, v. Payer). 
C. Lyrisch: Volkslied, Kunstlied (Lenau, Keller, Mörike). Malerei. Das ist frisch 
und lebendig gedacht und geschrieben, wir erfahren aber nicht, in welchen Klassen 
dieser Unterricht stattfindet (der „lyrische Kontrapunkt“ geht doch weit über die 
erste Klasse der Elementarschule hinaus), wieviel Zeit er beansprucht und wie er 
wirkt, wenn statt eines so begeisterten und tüchtigen Lehrers, wie der Verf. offenbar 
“ist, ein Durchschnittslehrer unterrichtet. Nohl (Berlin). 

© Schulte, Rob. Werner: Erziehung und Bildung im Sturm und Drang der Ent- 
wicklungsjahre. (Friedrieh Manns pädag. Magaz. H. 1002.) Langensalza: Hermanı 
Beyer & Söhne 1924. 23 S. G.-M. 0.35. 

Ein populärer Überblick über die Pubertätszeit, der nirgends über die bekannten 
Dinge hinausgeht. Man möchte dem Mannschen pädagogischen Magazin empfehlen. 
allmählich vorsichtiger in der Wahl dessen zu sein, was es meint zum Druck bringen 
zu müssen. Diese immer wiederholte Enttäuschung bei der Lektüre eines Heftes der 
Sammlung droht sie allmählich zu diskreditieren. Seit die Pädagogik in das Stadium 





ernsthafter Wissenschaft eingetreten ist, verträgt sie solche überflüssige Literatur 
nieht mehr. Nohl (Göttingen). 

© Hoppeler, Hans: Vater und Kind. Gedanken über Kindererziehung und Familien- 
glück. Leipzig. Meiringen u. Luzern: Walter Loepthien-Klein 1924. 106 S. G.-M. 2.80. 

Unter dem Wust volkstümlicher Schriften über Kinderaufzucht geht das wirklich 
Gute leicht verloren. Um so lauter muß Hoppelers Büchlein gelobt werden. Ab- 
weichend von der Schablone, mit großer Frische und glücklichem Humor geschrieben, 
enthält es Lehren, die auf gediegenem Wissen und reicher Erfahrung beruhen. Das 
Büchlein wendet sich an die Väter. Der Kampf ums Dasein entfremdet diese immer 
mehr der Kinderaufzucht. Wie auch ein beschäftigter Vater seine Erziehungspflichten 
erfüllen kann, zeigt der Verf. an vielen, gut geschilderten Einzelfällen. Hierbei findet 
er Gelegenheit, die meisten Erziehungsprobleme zu erörtern. Das kurzweilige Büchlein 
sei Eltern und Erziehern aufs beste empfohlen. Tugendreich (Berlin). 

Thorrndike, E. L., Cl. Woody, M. R. Trabue and W. A. McCall: Standard tests and 
their use. (Geeichte Leistungsprüfungen und ihre Verwertung.) Teachers college record 
26. 1924. 

In den Vereinigten Staaten hat die Feststellung der Unterrichtserfolge mittels 
„pädagogischer Tests‘‘ und die darauf gegründete Entscheidung über die Schullauf- 
bahn der Kinder große Verbreitung gefunden. Die vier Verff. äußern sich zu diesem 
Problem und empfehlen Verwendung und weiteren Ausbau des pädagogischen Test- 
verfahrens. Bobertag (Berlin). 

Cohn, Paul: Über „Faulheit“. Neue Erziehung Jg. 6, H. 11, S. 610—612. 1924. 

Faulheit ist ein Symptom: allgemeine Unlust zur Tätigkeit zeugt von angeborener 
Nervenschwäche oder sonstiger Krankheitsanlage, auch von einem plötzlichen physiolo- 
gischen Kraftabzug, wie bei Beginn der Pubertätszeit; partielle Faulheit beweist, 
daß ein bestimmtes Gebiet dem Gehirn des Schülers zuwider ist oder daß eine falsche 
Lehrmethode ihm einen unbezwinglichen Widerwillen gegen dieses Gebiet beigebracht 
hat; die Unsystematischen können bei raschem Wechsel der Tätigkeit Gutes leisten, 
aber sie versagen bei anhaltender Arbeit. Manche Kinder erscheinen als arbeitsunlustig 
und intellektuell minderwertig, weil ihre geistige Kraft durch Angstgefühle gebunden 
ist. So sind in jedem Einzelfalle die Ursachen der Faulheit zu untersuchen. 

Nohl (Berlin). 

Révész, G., and J. F. Hazewinkel: The didaetie value of lantern slides and films. 
(Der pädagogische Wert der Projektionslampe und des Films.) (Psychol. a. paedagog. 
laborat., Amsterdam.) Brit. journ. of psychol. Bd. 15, Nr. 2, S. 184—197. 1924. 

Die Untersuchung gilt der Frage: Hat der Kinematograph oder die Bildprojektion 
den größeren Einfluß auf Bildung und Unterricht? In dieser 2fachen Art und in ver- 
schiedenen Versuchsreihen wurden den Vpn., 80 Knaben und Mädchen der Amster- 
damer Schulen, Bilder und Begebenheiten aus dem geographischen Gebiet vorgeführt; 
das Gesehene mußte 8 Tage nach der Vorführung in einem kleinen Aufsatz beschrieben 
werden. Es zeigte sich, daß die Aufsätze länger waren über die durch die Projektions- 
lampe dargebotenen Inhalte; daß die Resultate nicht nur im Durchschnitt, sondern 
bei jedem einzelnen Kinde bei ruhiger Projektion die besseren waren; die größere 
Anzahl der richtigen Beobachtungen ergab die Pr.; nicht nur mehr Gegenstände und 
Handlungen, sondern auch Einzelzüge wurden bei einfacher Pr. besser beschrieben; 
selbst ein in mehreren Abschnitten unterbrochener Film hatte keine erheblichen Vor- 
teile. Kinder mit lebhafter Phantasie betätigten dieselbe in höherem Maße bei einfacher 
Pr., während die weniger Phantasiebegabten weder durch die eine noch durch die andere 
Art der Vorführung größere Inspiration zeigten. Das Gedächtnis wird nicht in gleicher 
Weise und in gleichem Grade durch beide Arten der Vorführung angeregt; der Unter- 
schied verringert sich aber bei zunehmenden: Alter der Kinder. Als Hilfsmittel für den 
Unterricht ist demnach der ruhigen Vorführung durch die Projektionslampe (besonders 
für die jüngeren Kinder) der Vorzug zu geben. von Kuenburg (München). 


— 200 — 


Heilpädagogik und Anomalen - Fürsorge: 


© Gürtler, Reinhold: Triebgemäßer Erlebnisunterrieht. Ein Beitrag zur Pratis 
der Heilpädagogik und der Arbeitsschule. 2. neubearb. u. erw. Aufl. Halle a. S.: 
Carl Marhold 1924. 224 S. G.-M. 5.—. 

Die neu eingefügten Kapitel: ‚Noch ein Vorwort“ und ‚Das gegenständliche 
Denken und seine Bedeutung besonders für den Deutschunterricht bei Geistesschwa- 
chen“ bieten mit den erweiterten Darlegungen der 1. Auflage über ‚‚Naturgemäßer 
Anschauungsunterricht bei Geistesschwachen auf der untersten Stufe im Anschluß 
an die Triebbetätigung“, ‚„Triebgemäßer Erlebnisunterricht bei Geistesschwachen“ 
und „Entwickelungstreuer Sonderunterricht auf Grundlage der Eigentätigkeit des 
schwachsinnigen Kindes‘ eine Fülle von Anregungen nicht nur für jeden Heil- 
pädagogen, sondern für jeden Erzieher überhaupt. Damit ist nicht gesagt, daß man mit 
allem einverstanden sein kann und muß. Der Verf. ist ein Pfadsucher mit neuen. 
eigenartigen Ideen, der, abseits von ausgetretenen Bahnen, auch in Dornen gerät. 
Wer ıhm nicht folgen kann, gehe vorsichtig darum herum, er wird sich dann bald wieder 
mit ihnı zusammenfinden können. Er versteht es trefflich, seine Ansichten zu be- 
gründen und mit zahlreichen Beispielen zu belegen. Die Durchführung der Grund- 
sätze der Entwickelungsgemäßheit, der Lebensnähe, der Kraftbildung, der Gemein- 
schaft und des Arbeitsunterrichts muß als meisterhaft bezeichnet werden. Aber in 
seinem Bestreben, restlos triebgemäßen Erlebnisunterricht zu betreiben, schießt er 
vielfach über das Ziel hinaus. Ich lehne z. B. die werkunterrichtliche Veranschau- 
lichung rein ethischer und religiöser Begriffe, wie „angstvoll‘, „vertrauensvoll“, ‚‚Iebe- 
voll“, „lebeleer“, „‚freudeleer‘, ,kleingläubig“ usw., durch mehr oder weniger 
verschieden gefärbte Flüssigkeiten und durch Zeichnungen ab. Konkrete Beispiele 
aus dem Leben sind „gegenständlicher‘ und wirkungsvoller. Auch kann ich ihm 
nicht beipflichten, daß der Bildergehalt unserer Sprache für Schwachsinnige dieselbe 
Bedeutung haben soll wie für Normale, daß er auch für sie das „eigentliche Gewebe, 
das geistige Mark der Sprache“ bilden muß. Den Geistesschwachen ist doch erst eine 
Sprache anzueignen, und dabei kann man in der Ausdruckweise nicht einfach genug 
sein. Sprachliche Bilder absichtlich hineintragen, heißt doch, Schwierigkeiten häufen 
und entbehrliche Umwege gehen. Seine Beispiele von Bilderklärungen werden darum 
zum Teil nicht ohne Widerspruch bleiben. Ich verweise nur auf die Erklärung des 
Wörtchens ‚einfach‘ (S. 125) durch ein Kästchen mit nur einem Fache, auf dessen 
Boden ein Gegenstand, z. B. ein Stückchen Kreide, aufgeleimt ist, und durch einen 
Kasten mit 12 Fächern, auf deren Böden 12 verschiedene Gegenstände liegen. Irre- 
führend ist ebenso die Erklärung von „einfältig‘‘ und ‚vielfältig‘ durch das Falten 
eines Tuches. Trotz alledem bietet das Werk auf jeder Seite viel, sehr viel zum Nach- 
denken und Nachtun und muß als eine wertvolle Bereicherung der heilpädagogischen 
Literatur angesprochen werden. W. Raatz (Charlottenburg). 

Albertini, A.: In tema di proposte per l’assistenza ai faneiulli anormali. (Über 
Vorschläge zur Fürsorge für abnorme Kinder.) Infanzia anorm. Jg. 16, Nr. 6. 8.125 
bis 134. 1923. 

Verf. betont die Notwendigkeit, die wahren geistig Abnormen (Schwachsinnige, 
abnorme Charaktere, Geisteskranke), deren Defekt in einer Schädigung des Zentral- 
nervensystems begründet ist, von den sogenannten falschen psychisch Abnormen zu 
unterscheiden, die auf Sinnendefekten, erschöpfenden Krankheiten, ungeeigneten 
familiären und sozialen Einflüssen beruhen. Beide Formen bedürfen einer besonderen 
Behandlung, die ersteren einer Erziehung in besonderen Schulen oder speziellen ärztlich 
pädagogischen Anstalten (Asylschulen, autonomen Schulen), letztere einer Unter- 
bringung in, den Volkschulen angegliederten Sonderklassen, die genügen, um sie für den 
allgemeinen Unterricht brauchbar zu machen. Der Kongreß für Schulhygiene und 
Kinderfürsorge in Genua 1922 hat schon das Recht der abnormen Kinder auf eine 
ärztlich pädagogische Fürsorge betont, die Auswahl der geistig Abnormen durch be- 


— 201 — 


sondere Kommissionen, sowie die Einrichtung von Sonderklassen und Errichtung von 
geeigneten Instituten verlangt. Die Fürsorge für abnorme Kinder ist jedoch nicht 
nur ein Schulproblem, sondern auch ein solches der ärztlichen Behandlung und der 
Brauchbarmachung für das soziale Leben durch Erziehung zur Arbeit. Die Beschäfti- 
gung mit landwirtschaftlicher Tätigkeit setzt oft eine besondere Schulung der Geschick- 
lichkeit, Kraft, Ausdauer und Widerstandsfähigkeit voraus. Die Fürsorge muß daher 
bis zum mannbaren Alter ausgedehnt werden; sie steht in innigem Zusammenhange mit 
der Fürsorge für die jugendlichen Verbrecher und Prostituierten, die so zahlreich dem 
Kreise der geistig Abnormen angehören. Nach den Zählungen in Italien sind 2%, der 
Volksschüler wahre geistig Abnorme. Wie man sieht, beschäftigt sich die Arbeit mit 
Problemen, die in Deutschland seit langem theoretisch und praktisch durchgearbeitet 
sind, und bringt dem deutschen Leser nichts Neues. Es ist deshalb um so verwunder- 
licher, daß auf die deutschen Arbeiten und Einrichtungen, z. B. die Hilfsschulen, Sonder- 
klassen, Arbeitskolonien, auch nicht andeutungsweise Bezug genommen ist und in 
Deutschland längst geläufige Begriffe, wie die der wahren und falschen geistig Ab- 
normen als besondere Verdienste französischer und belgischer Forscher gerühmt werden. 
Zingerle (Graz). 

Higier, Henryk: Fürsorge für minderwertige Kinder. Warszawskie czasopismo 
lekarskie Jg. 1, Nr. 5, S. 188—191. 1924. (Polnisch.) 

Nach einem einleitenden differentialdiagnostischen Kapitel schildert Verf. in Haupt- 
zügen, wie die Lösung der sehr aktuellen, geradezu brennenden, in Polen kaum an- 
geschnittenen Frage mit geringen Kosten gelöst werden könnte. Es wird ventiliert 
die Aufnahme- und Qualifizierungstechnik derartiger Kinder (Debile, Imbezile, 
Moral insanity, jugendliche Verbrecher) in Hilfsschulen, Beobachtungsstationen, 
Erziehungsanstalten, Asylen, Patronage familiale u. a. Higier plädiert für Einführung 
spezieller Krankenjournale solcher Kinder, die jederzeit von der betreffenden Schul-, 
Spital-, Asyl-, Pädagogen-, Polizei- und Richterbehörde durchgesehen und ergänzt 
werden sollten. Die Beobachtungsstation könnte je nach den lokalen Verhältnissen 
und Bedingungen einer Erziehungs- bzw. Krankheitsanstalt angeschlossen werden. 
An der Spitze dürfte ein pädagogisch geschulter Arzt, speziell ein Nerven- oder Irren- 
arzt, stehen, das niedere Dienstpersonal sollte ein praktisches Irrenkrankenhausjahr 
durchmachen. Für jugendliche Verbrecher gilt es, eine spezielle Kinderabteilung mit 
einer Anhangsbeobachtungsstation im Krankenhaus, für leichtere Formen geistiger 
und moralischer Verödung spezielle Familienfürsorge, womöglichst auf dem Lande 
einzurichten. Beim jetzigen Stande der Vererbungswissenschaft mit ihren dominanten 
und recessiven, phäno- und genotypischen Fragezeichen bleibt die praktische Euge- 
netik ein Pium desiderium und ihre Indikationen dürften keineswegs genügen zur 
obligatorischen Sterilisation jugendlicher Verbrecher, wie sie in manchen Kantonen 
der Schweiz und Staaten Nordamerikas geübt wird. Higier (Warschau). 


Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien: 


© Raatz, W.: Heilpädagogik auf arbeitsunterrichtlicher Grundlage. Halle a. S.: 
Carl Marhold 1924. 330 S. G.-M. 7.80. 

Das Werk, das hervorragenden Praktikern auf dem Gebiete der Heilpädagogik 
(Wehrhahn, Kielhorn, Grote, Henze, Basedow, Wintermann und Bock) 
gewidmet ist, zeigt in allen Beziehungen den denkenden Schulmann, der seine eigenen 
Wege geht, trotzdem aber die Arbeit anderer keineswegs unbeachtet läßt. In der 
psychologischen Einleitung werden hauptsächlich solche Daten berücksichtigt, die für 
den praktischen Pädagogen von Wichtigkeit sind. Zu einigen bedeutsamen Fragen 
des Hilfsschulwesens nimmt Verf. in durchaus objektiver Weise Stellung. Aus der 
Praxis des Unterrichtes entsprungen, gibt nun das Werk in weiterer Folge dem Prak- 
tiker eine Reihe von sehr nützlichen Weisungen, derentwegen es aufs angelegentlichste 
empfohlen werden kann. Gegen die vom Verf. angewendeten und erprobten Methoden 


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dürfte sich kein Widerspruch erheben, da sie durchaus sachlich begründet sind und auf 
psychologische Beobachtungen zurückgehen. Th. Heller (Wien-Grinzing). 


Voorthuijsen, van: Eine Sammlung von Lehrmitteln für den besonderen (außer- 
gewöhnliehen) Elementarunterrieht. Tijdschr. v. buitengewoon onderwijs Jg. 5. Nr. 10. 
S. 162—164. 1924. (Holländisch.) 

Verf. berichtet über den Erfolg seiner Bemühungen um eine ständige Ausstellung 
von Lehrmitteln für die Hilfsschulen ins Leben zu rufen. Es ist ihm gelungen sowohl 
die Schulbehörden wie den Verein von Ärzten und Lehrern dafür zu interessieren, 
so daß nun eine Sammlung von Lehr- und Hilfsmitteln in dem Haag aufgestellt ist, 
die einen guten Einblick in die verschiedenen angewendeten Methoden zulassen. Es 
wird auf die interessante Tatsache hingewiesen, daß beinahe alle Lehrmittel für die 
Hilfsschulen von den Lehrern selbst verfertigt worden sind. G. Revesz. 


Beggs, S. Thos.: Investigation of the eonditions associated with retardation in 
elementary school ehildren. (Forschungen über das Zurückbleiben von Elementar- 


schülern.) Practitioner Bd. 112, Nr. 6, S. 380—386. 1924. 

Der Verf. gibt einige beachtenswerte Ratschläge hinsichtlich der Behandlung zurück- 
gebliebener Kinder. Großen Wert legt er auf die Einrichtung der Heimpflegerinnen, denen 
die Aufgabe zufiele, die häuslichen Verhältnisse zu revidieren und den Angehörigen der Kinder 
Weisungen bezüglich deren Behandlung zu geben. Unter den Ursachen geistiger Zurück- 
gebliebenheit legt Verf. besonderen Wert auf Familiengeschichte und Milieu, von dessen Besse- 
rung er oft auch einen heilenden Einfluß auf den Zustand erwartet. Th. Heller. 

Wimenitz, Rose: James. A study of a post-eneephalitie ebild. (James. Eine Studie 
über ein postencephalitisches Kind.) Psychol. clin. Bd. 15, Nr. 5, S. 144—148. 1924. 

Die durch 4 Monate fortgesetzten Versuche, einem 9jährigen Knaben, der offenbar 
eine Encephalitis epidemica durchgemacht hat, durch Spezialunterricht in der Psycho- 
logischen Klinik‘ zu fördern, ließen bei dem von Hause aus intellektuell normal veran- 
lagten Kinde keinen nennenswerten Leistungszuwachs feststellen, was auf abnorme 
Ermüdbarkeit, Neigung zu (nicht genauer analysierten) „Verwirrtheitszuständen" 
und (ebenfalls nicht genauer bezeichnete) Gedächtnisstörungen zurückgeführt wird. 

R. Thiele (Berlin). 
Sinnendejekte, Sprachstörungen : 


Reis, Wiktor, und Janina Mikulinska: Erlangung des Sehvermögens in vorge- 
sehrittenem Alter bei zwei Blindgeborenen. Polska gazeta lekarska Jg. 3, Nr. 5/6, S. 53 
bis 55. 1924. (Polnisch.) 

Verff. erwähnen 3 Geschwister, besprechen jedoch nur die 2 Jüngeren, persönlich 
beobachteten. Sämtliche mit angeborener Katarakt, Nystagmus und vollständiger 
Blindheit wurden im 23., 22. und 16. Lebensjahre operiert und genasen insofern. als 
sie nach mehrmonatlicher Übung — 3 Monate unter ärztlicher Beobachtung — den 
Gesichtssinn erlangten, manche relativ schnell, andere bedeutend langsamer. Unter- 
suchungsmethodik nach analogen Fällen von Uthoff und von Moreau. Die Patienten. 
die nie in optischen Bildern träumten, lernten später Gegenstände, Bilder. Personen 
und Tiere erkennen, Farben und ihr Spiegelbild unterscheiden, erreichten ein ziemlich 
genügendes, wenngleich verengtes Gesichtsfeld, zählten in Meterentfernung Finger. 
sprachen von Größe, Form und Entfernung der Gegenstände, orientierten sich ın der 
Umgebung, ersetzten den kongenitalen Nystagmus durch einigermaßen normale, etwas 
torpide Bulbusbewegungen. Die Verff. glauben, längere und rationelle Übung sei 
notwendig zur Erlernung des Sehens und zitieren einen ganz klug anmutenden, geradezu 
modern klingenden Fingerzeig eines älteren polnischen gelehrten Augenarztes Szo- 
kalski vom Jahre 1356, der schreibt: „Die Operation kongenital blinder Augen 
entfernt nur das mechanische Hindernis, lehrt jedoch weder das Sehen, noch das Schauen 
und Blicken. Eine deformierte Hand. bei der wir die angeborenen Sehnencontracturen 
durchschneiden, bedient sich noch keineswegs nach dem Eingriff weder der Nadel 
noch des Pinsels. Das muß erst gelernt und geübt werden.“ Hiqier (Warschau). 





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Fassl, E.: Zur Pathogenese und Behandlung funktioneller Hör- und Spraeb- 
störungen. (Sensorische und motorische eortieale Aphasie.) Klin. Wochenschr. Jg. 3, 
Nr. 33, S. 1487—1490. 1924. 

Fassl berichtet von 2 Schwestern, 17 und 15 Jahre alt, Töchter eines taubstummen 
Vaters und einer hochgradig schwerhörigen Mutter, die beide in Taubstummenanstalten 
unterrichtet worden waren, aber nicht die monotone Sprache wirklich Taubstummer 
hatten. Wohl aber sprachen sie in der Unterhaltungssprache so wie solche Kinder, 
wortarm und paragrammatisch. Hingegen gutes Lesen und Wiedergeben von aus- 
wendig Gelerntem. Die Hörprüfungen ergaben bei der älteren: Gehör für Umgangs- 
sprache manchmal von 2 m und darüber, bei der jüngeren sogar für Flüstersprache 
lja m. Auch die Tonprüfung führte zu einem sehr bemerkenswerten Resultat; selbst 
Töne der 5- und 6gestrichenen kleinen Oktave wurden, wenn auch etwas verkürzt, 
wahrgenommen. Die falsche Beeinflussung der Eltern und wohl auch mangelhafte 
Untersuchung hatte also zur Folge, daß zwei keineswegs sehr schwerhörige Mädchen 
statt durch das Ohr vom Auge aus in der Sprache unterwiesen wurden, was natürlich 
eine schwere Schädigung bedeutet. Hörübungen nach Urban Aschitsch und Artiku- 
lationsübungen unter Rücksichtnahme der Ergebnisse einer genauen Intelligenz- 
prüfung (mit normalem Resultat) und einer psychologischen Analyse brachten sehr 
gute Erfolge. Der Verf. weist mit Recht auf die Notwendigkeit der gesetzlich-obligato- 
rischen spezialärztlichen Untersuchung aller Zöglinge der Taubstummen- und Schwer- 
hörigenschulen hin und fordert eine Zentralstelle ähnlich der der Krüppelfürsorge. 

Emil Fröschels (Wien).°° 

Dantzig, Branco van: Stotternde Schulkinder. Tijdschr. v. buitengewoon onder- 
wijs Jg. 5, Nr. 10, S. 165—168. 1924. (Holländisch.) | 

Verf. bespricht einige Beobachtungen an stotternden Kindern. Vor allem be- 
schäftigt er sich mit der Frage, wann und in welcher Weise soll man bei stotternden 
Kindern eingreifen. Sein Rat geht dahin, den Sprachfehler schon in einer Zeit zu be- 
handeln, bevor noch dem Kinde sein Gebrechen bewußt ist. Verf. empfiehlt die Er- 
richtung von Konsultationsbureaus und Lehrgänge, wo Lehrer von gewöhnlichen 
Schulen in die Heilpädagogik eingeführt werden sollten. Mit Hinweis auf die Be- 
mühungen von W. Carrie tritt Verf. für die Aufstellung von besonderen Klassen für 
stotternde Kinder ein, die in Deutschland schon lange bestehen. Schließlich erfahren 
wir, daß der Verein der Sprachlehrer sich intensiv mit einer Propaganda für besondere 
Einrichtungen im Interesse sprachkranker Kinder beschäftigt. @. Revesz (Amsterdam). 

Flatau, Theodor S.: Sprachstörungen und Sehule. (IV. Jahresvers. d. Ges. dtsch. 
Hals-, Nasen- u. Ohrenärzte, Breslau, Sitzg. v. 5.—7. VI. 1924.) Zeitschr. f. Hals-, 
Nasen- u. Ohrenheilk. Bd. 10, S. 350—354. 1924. 

Flatau bildet, ähnlich wie das in Wien seit Jahren geschieht, Lehrer theoretisch 
und praktisch in der Sprachheilkunde aus und gliedert nun seine klinischen Patienten, 
soweit sie Schulkinder sind, in Klassen, die unter seiner ärztlichen Beratung von diesen 
Pädagogen, scheinbar auf der Klinik selbst, geführt werden. Ref. möchte das Wiener 
System von in allen Bezirken dislozierten öffentlichen Schulklassen für Sprachgestörte 
bei dieser Gelegenheit neuerlich besonders empfehlen. In der Diskussion spricht sich 
Stern gegen die Heranziehung von Lehrern für die Behandlung aus. Fröschels (Wien). 

Hubben, Wilhelm: Sprachproben von Stammiern. Hilfsschule Jg. 17, H.1, 8.8 
bis 10. 1924. 

Die Protokolle müssen im Original gelesen werden. Fröschels (Wien). 

Frösehels, Emil: Zur experimentell-phonetischen Diagnostik der Dysarthrien. 
(Phonet. Laborat., physiol. Inst., Univ. Wien.) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 
Bd. 92, H. 3/4, S. 487—495. 1924. 

Fröschels gibt eine Beschreibung der Vorteile der experimentell-phonetischen 
Diagnostik der Dysarthrien. Die feineren Störungen der Sprechatmung entgehen 
oft der gewöhnlichen Beobachtung, erscheinen aber deutlich im Pneumogramm. Es 


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folgen einige Beispiele von abnormem Tempo bzw. gestörtem Rhythmus der Arti- 
kulation der Lippen und der Zunge, sowie der Nachweis, daß bei zwei fast gleichklingen- 
den dysarthrischen Sprachen einmal nur die Koordination mehrerer Silben mitein- 
ander, ein andermal aber die Bildung schon einzelner Silben gestört war. Psycho- 
gene Dysarthrien können durch die Ablenkung, welche die experimentelle Methodik 
beim Patienten hervorruft, festgestellt werden. Fröschels (Wien).°° 

Bogatsch: Zur Frage der Hörstummheit. (IV. Jahresvers. d. Ges. dtsch. Hals-, 
Nasen- u. Ohrenärzte, Breslau, Sitzg. v. 5.—7. VI. 1924.) Zeitschr. f. Hals-, Nasen- 
u. Ohrenheilk. Bd. 10, S. 402—404. 1924. 


Ein Fall von sensorischer Hörstummheit, der mit 2 Jahren angeblich einige Worte ge- 
sprochen, dann aber das Sprechen aufgegeben hatte und mit den gebräuchlichen Methoden 
nicht gefördert werden konnte. Erst beim festen Anpacken des Armes schrie er ,‚Au’ und von 
dieser Äußerung an konnte die Sprache entwickelt werden. Der Autor meint, daß das Kind 
die Spontansprache seinerzeit aufgegeben hat, weil ihm der Anreiz fehlte, der im Sprachver- 
ständnis normalerweise liegt. Fröschels (Wien). 


Passow: Taubstummenunterrieht und Gebärdenspraehe. (IV. Jahresvers. d. Ges. 
disch. Hals-, Nasen- u. Ohrenärzte, Breslau, Sitzg. v. 8.—7. VI. 1924.) Zeitschr. f. Hals-, 
Nasen- u. Ohrenheilk. Bd. 10, S. 194—197. 1924. 

- Die Gebärdensprache soll wohl zur Ergänzung der Lautsprache herangezogen 
werden, doch muß die wilde Gebärde, die Taubstumme gebrauchen, vermieden werden, 
was nur möglich ist, wenn der Lehrer auch diese versteht und sie durch gemäßigte, 
einheitlich bestimmte Gebärden ersetzen läßt. In der Diskussion stimmen Stern 
und Flatau und Frey zu, während Kümmel Bedenken gegen eine ‚Uniformierung“ 
der Gebärden hat, die doch immer individuell sein wollen. Fröschels (Wien). 


Jugendwohlfahrt, Verwahrlosung: 
Allgemeines : 

© ABC der Mutter. Hrsg. v. städt. Jugendamt, Cassel. Leipzig: Curt Kabitzsch 
1924. 20 S. G.-M. 0.24. 

Das kleine Büchlein gibt in übersichtlicher Anordnung und knapper, leicht ver- 
ständlicher Form die wichtigsten Weisungen über Pflege und Wartung des Kleinkindes. 
Sowohl die hygienischen Belehrungen als die Hinweise auf die Bedeutung der Erziehung 
vom 1. Lebenstage an lassen die Schrift geeignet erscheinen, den damit beabsichtigten 
Zweck der Einführung der Mütter in die Säuglingspflege zu erfüllen. Erna Corte. 

Safford, Victor: A eonception of our responsibility to the ehild. (Unsere Verant- 
wortung dem Kinde gegenüber.) Boston med. a. surg. journ. Bd. 191, Nr. 17, S. 176 
bis 779. 1924. 

Die Kinderwohlfahrtspflege muß schon vor der Geburt einsetzen und das gesamte 
Kindesalter umfassen. Diese Forderung wird von kaum einer der in New York be- - 
stehenden 200 Kinderwohlfahrtsorganisationen erfüllt. Ihre Berechtigung empfängt 
die Kinderwohlfahrtspflege von den starken Differenzen der Mortalitätsziffern zwischen 
verschiedenen Städten der Vereinigten Staaten und innerhalb derselben. Die bei der- 
selben zu beachtenden Faktoren sind, wie bei der Tierzucht, Vererbung, Ernährung 
und Umgebung, wie auch viele Beobachtungen für eine Art Überzüchtung bei der 
Großstadtbevölkerung sprechen. Die Folge sind lebensschwache Kinder. Jedoch 
darf man sich nicht auf den Standpunkt stellen, daß durch die viele Mühe und Arbeit 
bei der Aufzucht lebensschwacher Säuglinge ‚die Untauglichen verewigt‘ “ würden. 
Es muß noch viel Arbeit bei der Erforschung der gesundheitsschädlichen Momente 
geleistet werden und mit unseren Kenntnissen von innerer Sekretion, Stoffwechsel, 
Vitaminen und der Bedeutung von Luft, Licht und körperlicher Bewegung stehen wır 
noch lange nicht am Ende aller Weisheit. Wie kommt es auch, daß selbst. die unter 
günstigsten Verhältnissen gebärenden Mütter nicht vom Kindbettfieber verschont 
werden? Was als wesentlich für die Gesundheitspflege erkannt ist, muß unbedingt. 
Allgemeingut der Bevölkerung werden. Die Führung in der Volksaufklärung und 


— 205 — 


Organisation gehört dem Arzte, der allein die nötigen Kenntnisse besitzt, damit mit 
den zur Verfügung stehenden Mitteln eine möglichst große Arbeitsleistung erzielt 
wird. Ungeeignete Personen müssen von der Betätigung in der Kinderwohlfahrtspflege 
unbedingt ferngehalten werden. Brunthaler (Hildesheim). 
Säuglings- und Kleinkinderfürsorge : 

© Hoppeler, Hans: Grundzüge der Kinderpflege und Kindererziehung. Ein Leit- 
faden für Töchter und junge Mütter. Luzern, Meiringen u. Leipzig: Walter Loepthien- 
Klein 1924. 388. Geb. G.-M. 1.80. 

Der in der Schweiz bekannte und beliebte Verf. gibt hier sehr — zum Teil wohl 
zu — knappe Anleitungen für Kinderpflege und Kindererziehung. Soweit sich seine Rat- 
schläge auf ärztlichem Gebiet bewegen, ist gegen sie nichts einzuwenden. Grund- 
sätzlich hat Ref. Bedenken gegen Anleitungen zur Erkennung und Behandlung von 
Krankheiten in populären Schriften und gegen die Erörterung rein pädagogischer 
Fragen durch den Arzt. Wenn wir Ärzte uns mit Recht dagegen verwahren, daß die 
Erzieher uns ins Handwerk pfuschen, so sollten wir aber auch das Gebiet der Pädagogik 
den Erziehern überlassen. @. Tugendreich (Berlin). 

Grünfeld, Karl: Ambulatorium und soziale Kinderfürsorge in der Nachkriegszeit. 
Wien. med. Wochenschr. Jg. 74, Nr. 47, S. 2475—2477. 1924. 

Gegenüber der Friedenszeit hat die Gesamtfrequenz des Kaiser Franz Josef-Am- 
bulatoriums in Wien infolge Geburtenrückgang, Errichtung von Mutterberatungs- 
stellen und Erweiterung der Wirksamkeit der Krankenkassen abgenommen. Große 
Erfolge sind bei der Säuglingsaufzucht durch Beziehung mit anderen Fürsorgestellen 
und Stillkassen erzielt worden; ein dringendes Bedürfnis ist noch die Beschaffung 
und Abgabe von einwandfreier Milch. Die Kleinkinder litten in der Nachkriegszeit 
sehr durch Rachitis, Unterernährung und Tuberkulose. Eine Wendung zum Besseren 
trat ein durch Einbeziehung der Kinder bis zum 6. Lebensjahre in die Mutterberatungs- 
stellen, durch Verbindung mit Einrichtungen für Erholungsfürsorge, durch Behandlung 
und vorbeugende Maßnahmen. Sowie bei der Tuberkulose wurde auch bei Erbsyphilis 
besonderes Gewicht auch auf Einbeziehung der Infektionsträger in die Fürsorge gelegt. 

Zingerle (Graz). 

Gromski, M.: Mutter- und Kindersehutz. Warszawskie czasopismo lekarskie 
Jg. 1, Nr. 5, S. 191—192. 1924. (Polnisch.) 

Gromski schildert die Postulate des modernen Mutter- und Kinderschutzes, 
die in Polen zur Zeit noch in bedeutendem Maße per inertionem vom amerikanischen 
Roten Kreuz gestützt und unterhalten werden und befürwortet warm die Initiative 
zur Einrichtung selbständiger diesbezüglicher Institute. Higier (Warschau). 
Unehelichenfürsorge: 

© Tomforde, Hans: Das Recht des uneheliehen Kindes und seiner Mutter im In- 
und Ausland. Grundriß zur Verfolgung ihrer Rechtsansprüche zusammengestellt im 
Auftrag des Archivs deutscher Berufsvormünder. 2. vollst. umgearb. u. erw. Aufl. 
(Friedrich Manns pädagog. Magaz. H. 991. Fortschritte der Jugendfürsorge. Unter- 
suchungen zur Entwicklung des gesamten Jugendschutzes. II. Reihe: Recht uud Ver- 
waltung. Hrsg. v. Chr. J. Klumker. H.4.) Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 
1924. VIII, 159 S. G.-M. 2.60. 

Zunächst ein theoretischer Teil, in dem der Verf. den Versuch macht, einen Über- 
blick über die ‚uralte Menschheitsfrage der Unehelichkeit‘ zu geben. Verf. hält den 
Weg, die Rechtslage des unehelichen Kindes durch stärkere Verpflichtung des Vaters 
und evtl. Betonung desVerwandtschaftsverhältnisses zu bessern, für falsch, da er die Kin- 
der einteile in solche, deren Väter ‚festgestellt‘ sind und solche, deren Väter nicht fest- 
gestellt sind. Er macht statt dessen den sehr bedenklichen Vorschlag einer Verbindung 
des altfranzösischen Rechts (Verbot der Vaterschaftsklage) mit dem norwegischen Recht 
(primäre Verpflichtung des Staates, für den Unterhalt aller unehelichen Kinder zu 


— 206 — 


sorgen!). Der zweite, praktische Teil enthält eine Darstellung des geltenden Alimen- 
tationsrechtes des unehelichen Kindes in 26 europäischen und 14 außereuropäischen 
Staaten. Es wird dabei für die einzelnen Staaten nicht nur die Rechtslage dargelegt, 
sondern vielfach auch eine Anleitung zur Durchführung der Ansprüche des Kindes 
(etwa: welche Mittel stehen in diesem Staate zu Gebote, um den Kindesvater aus- 
findig zu machen?) und eine allgemeine Literaturübersicht gegeben. Dieser praktische 
Teil der Schrift ist eine außerordentlich wertvolle und verdienstliche Arbeit, die nicht. 
nur dem Amtsvormund dient, der Alimentenansprüche im Ausland zu verfolgen hat, 
sondern auch jedem, der zur Betreibung einer Reform der deutschen Rechtsbestim- 
mungen diejenigen anderer Länder kennen lernen will. Ziserhardt (Frankfurt a. M.). 
Hall, Gertrude E.: Moral eonditions in rural new England. (Über den Stand der 
Moral im ländlichen Neu-England.) Journ. of soc. hyg. Bd. 9, Nr. 5, S. 267 — 270. 1923. 
Untersuchung über die Lage der unehelichen Mütter in den ländlichen Bezirken von 
Neu-England mit einigen, sehr allgemein gehaltenen Vorschlägen zur Beseitigung der Übel- 
stände. R. Thiele (Berlin). 


Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches : 


Meagher, John F. W.: Delinqueney and the ehild; a psychological study of erime 
and mental conflict. (Das Kind als Gesetzesübertreter; eine psychologische Studie 
über Verbrechen und seelischen Konflikt.) Med.-leg. journ. Bd. 40, Nr. 1, S.21—29. 1923. 

Verf. gibt eine kurze Darstellung der Ursachen, der Behandlung und der Prognose 
der Straffälligkeit der Kinder. Verbrechen, sagt er, ist nicht Krankheit, ist aber auch 
nicht mit dem Begriff Atavismus abzutun. Der Schwachsinnige zwar wird als solcher 
geboren, nicht aber der Verbrecher. Bei der Erforschung der Ursachen darf man nicht 
beim äußeren Schein stehenbleiben. Es kommen dabei verschiedene körperliche und 
seelische Faktoren in Betracht. Das Verbrechen entspringt dem ganzen seelischen 
Leben des Täters, es ist das Ergebnis seiner Reaktion auf die besondere Umgebung. 
Der ‚seelische Konflikt“ wird eingehend besprochen, die so veranlaßten Straftaten 
tragen besondere Merkmale; die Macht der Gemütsbewegungen und die Bedeutung 
des Geschlechtslebens werden gewürdigt. Die Behandlung soll alle Ursachen beachten 
und bekämpfen. Bei seelischen Konflikten ist offenes Aufdecken und Belehren von 
größter Bedeutung, Ablenkung und Umgebungswechsel sind von Nutzen. Eltern, 
Lehrer und Religion können mithelfen; Strafen wirken oft schädlich. Die Fälle mit 
seelischem Konflikt bieten die besten Aussichten, Verbindung mit Schwachsinn ist 
ungünstig; jüngere Kinder sind besser zu beeinflussen als ältere; nachteilig sind manche 
Charakterzüge, z. B. Widerstand gegen erzieherische Beeinflussung. Müller (Dösen)., 

Juvenile delinqueney. (Vergehen Jugendlicher.) Social pathol. Bd. 1, Nr.1l, 
S.13—15. 1924. 

Auszug des Berichtes einer Amerikanischen Konferenz für Kinderforschung. 
Grundergebnisse: Die Jugendgerichtshöfe sollen mit allen Fragen der Rechtsprechung 
betraut werden, sowohl wenn es sich um Handlungen des Kindes als um Pflichtver- 
nachlässigung eines Erwachsenen einem Kinde gegenüber handelt. Der Gerichtshof 
soil wissenschaftliches Verständnis für jedes Kind haben. Die Behandlung soll indivi- 
duell angepaßt sein. Womöglich soll das Kind im eigenen Heim und der Heimats- 
gemeinde belassen werden, wenn nicht besondere Feststellungen zeigen, daß dem Kınde 
damit nicht gedient ist. F. Stern (Göttingen). 

Francke: Die Kriminalität der Achtzehnjährigen und ihre Bekämpfung. Zentralbl. 
f. Jugendrecht u. Jugendwohlf. Jg. 16, Nr. 1, S. 7—11. 1924. 

Die „Achtzehnjährigen‘ sind die Minderjährigen im Alter von 18—21 Jahren: sie 
stellen die Altersstufe dar, bei der die Verwahrlosungsgefahr am stärksten ist. Ihre Ver- 
wahrlosung wird fast ausschließlich mit strafrechtlichen Mitteln bekämpft, doch sprechen 
psychologische und pädagogische Erfahrungen dafür, daß auch hier Erziehungsmaßb- 
nahmen erfolgreich sein können. Wenn die durch das R.J.W.G. vorgesehene Herauf- 
setzung des F.E.-Alters ın Kraft tritt, stehen wir wieder vor der Tatsache, daß beı den 


— 207 — 


achtzehnjährigen Kriminellen Strafrichter und Vormundschaftrichter nicht voneinander 
Bescheid wissen, wie es bei den Jugendlichen bis zur Einrichtung der Jugendgerichte 
der Fall war. Dringend zu fordern ist, daß das J.G.G. in dem Sinne geändert wird, 
daß die Altersgrenze mindestens auf das 20. Jahr heraufgesetzt wird. (Übereinstim- 
mung mit R.J.W.G. 863.) Nicht unterschiedslose Behandlung von Jugendlichen und 
Achtzehnjährigen wird gefordert, sondern daß die Achtzehnjährigen auch stärkstens 
in den Kreis der erzieherischen Fürsorge einbezogen werden, wenn der Kampf gegen 
die Verwahrlosung überhaupt Erfolg haben soll. Curt Bondy (Göttingen). 

Worthington, George E., and Ruth Topping: Standards for a socialized court for 
dealing with sex delinquents. (Grundlinien für einen Spezialgerichtshof, der sich mit 
den die Allgemeinheit schädigenden sexuell Entgleisten zu befassen hat.) Journ. of 
soc. hyg. Bd. 10, Nr. 6, S. 335—360. 1924. 

Verff. verstehen unter sexuell Entgleisten nur die Personen, die sich prostituieren 
oder die Prostituierte benutzen. Hierfür verlangen sie einen besonderen Gerichtshof, 
der möglichst rasch, unbureaukratisch und ohne Öffentlichkeit aburteilt, mit der 
Gesundheitsbehörde in steter Verbindung ist und über ein geeignetes, nach modernen 
Gesichtspunkten geleitetes Verwahrungshaus verfügt, das zur Untersuchungshaft wie 
zur Strafhaft dient. Der Richter soll besonders ausgebildet sein, nach Möglichkeit 
Sachverständige heranziehen und berechtigt sein, bedingte Verurteilung, Bewährungs- 
frist und, was es sonst an reformatorischen Einrichtungen im Strafvollzug gibt, zu 
verwenden. Reiss (Dresden)., 
Gefängniswesen : 

Puppe: Die Jugendlichen im Gefängnis. Dtsch. Zeitschr. f. d. ges. gerichtl. Med. 
Bd.4, H.2, 8. 121—127. 1924. 

Zunächst wird über die neue Dienst- und Vollzugsordnung, soweit sie den Vollzug 
von Freiheitsstrafen an Jugendlichen berührt, berichtet. Dann werden die im Jugend- 
gefängnis Wittlich gemachten Erfahrungen besprochen; am wichtigsten ist die Ab- 
stufung des Strafvollzuges; den Jugendlichen wird ein Ziel gesetzt, und dieses wirkt, 
vorausgesetzt, daß es sich nicht um Schwachsinnige handelt, sehr günstig. Für die 
Untersuchungsgefangenen und Kurzstrafigen empfiehlt Verf. Einzelhaft als bestes 
Beeinflussungsmittel. Verf. hat auch die Erfahrungen Herrmanns verwertet, die 
dieser in dem lesenswerten Heft 4 der Hamburgischen Schriften zur gesamten Straf- 
rechtswissenschaft ‚Das Hamburgische Jugendgefängnis Hahnöfersand“ nieder- 
gelegt hat. Göring (Elberfeld)., 

Saldaña, Quintiliano: Jugendgefängnisse in Spanien. Zeitschr. f. d. ges. Straf- 
rechtswiss. Bd. 45, H. 1, S. 54—64. 1924. 

Der in deutschen Fachkreisen bereits bekannte Professor des Strafrechts an der 
Universität Madrid schildert nach einleitenden Bemerkungen über die Anregung der 
spanischen Kriminalpolitik durch amerikanische Vorbilder die Einrichtung der beiden 
aus ehemaligen Klöstern in moderne Jugendgefängnisse umgewandelten Anstalten 
Alcalá (östlich von Madrid) und Ocaña (östlich von Toledo). Alcalá umfaßt Gefangene 
im Alter von 15—23 Jahren; die Altersgrenze für die Aufnahme ist 21 Jahre. Ocaña 
nimmt Gefangere im Alter von 20—30 Jahren auf. Beide Anstalten verfolgen den Er- 
ziehungsgedanken im Sinne der amerikanischen Reformatories, insbesondere durch 
das Mittel des progressiven Strafvollzuges in Verbindung mit der bedingten Entlassung. 
Ocaña reichte nach dem Urteil des Verf. unter dem früheren Direktor Röblez (t 1922) 
vielleicht mehr als irgendeine andere Anstalt an das amerikanische Vorbild von Elmira 
heran. Neuerdings ist Ocaña durch Alcalá überflügelt, das gegenwärtig unter dem 
Direktor Navas, einem früheren Mitarbeiter von Röblez, die spanische Musteranstalt ist. 
Auf Grund der günstigen Ergebnisse bei den 1921 —23 bedingt Entlassenen glaubt der 
Verf., daß hier das große Problem der Rückfallverhütung schon fast gelöst sei. Bevor 
wir dieser frohen Botschaft Glauben schenken können, wird die Rückfallstatistik von 
Alcalá noch eine Weile fortgeführt werden müssen. Francke (Berlin). 


— 208 — 


Dessauer, Fritz: Das Progressivsystem in Thüringen. Zeitschr. f. d. ges. Straf- 
rechtswiss. Bd. 44, H. 6, S. 694—706. 1924. 

Der Verf., Strafanstaltsdirektor in Aichach (Oberbayern), bietet eine kritische 
Besprechung der Hausordnung für die thüringischen Strafanstalten vom 29. X. 1922 
Er behandelt das Aufsteigen von der Einzelhaft zur Gemeinschaftshaft (mit Trennung 
bei Nacht), die Klassifizierung der Gefangenen in „Unverbesserliche‘ (ohne Anteil 
am Emporsteigen), gesunde ‚Besserungswillige‘‘ und ‚„Minderwertige‘ (mit eigenen: 
Stufensystem), sowie die Grundsätze für das Aufrücken und die Rückversetzung. 
Während er ım allgemeinen den thüringischen Vorschriften zustimmt, tadelt er die 
Bestimmung, daß die Gefängnisgefangenen in der Regel die Stufe der Einzelhaft 
überspringen und gleich in die 2. Stufe mit Gemeinschaftshaft kommen. Leider sind 
die von den Landesregierungen vereinbarten Grundsätze für den Vollzug von Freibeits- 
strafen vom 7. VI. 1923 in der Abhandlung noch nicht berücksichtigt. Francke. 


Allgemeines: 

Bonhoeffer, K.: Die Unfruehtbarmachung der geistig Minderwertigen. Klın. 
Wochenschr. Jg. 3, Nr. 18, S. 798—801. 1924. 

Die Boetersche Eingabe an die sächsische Regierung, die Unfruchtbarmachung 
der geistig Minderwertigen in weitem Umfange verlangt, veranlaßte Verf. zu prüfen. 
inwieweit heute schon genügende Grundlagen zu einem derartigen Vorgehen vor- 
liegen. In den wenigen Gebieten, in denen man die Unfruchtbarmachung bisher an- 
gewandt hat, sind eugenische, ärztliche und kriminalistische Gesichtspunkte durch- 
weg nicht klar geschieden worden. Die eugenischen als die bedeutungsvollsten be- 
schäftigen vorwiegend den Verf. Sie können naturgemäß nur in Betracht kommen. 
wo die vererbbare Natur der krankhaften Zustände feststeht und der Nachweis geliefert 
werden kann, daß mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit das betreffende Indiv- 
duum nach seiner Erbkonstitution eine das Staats- und Gesellschaftsinteresse schä- 
digende Nachkommenschaft hinterlassen wird. Die Frage der fortschreitenden endogen 
bedingten Entartung ist noch überhaupt nicht klar entschieden: der Nachweis einer 
Zunahme anlagemäßig bedingter Geisteskrankheiten und Defektzustände nicht er- 
bracht. Darüber hinaus haben allerdings bei den großen bestehenden sozialen Schwierig- 
keiten und den beträchtlichen Verlusten an wertvollem Menschennisterial durch der 
Krieg eugenische Gesichtspunkte ‘eine solche Bedeutung gewonnen, daß Unfrucht- 
barmachung der geistig Minderwertigen wohl in Betracht zu ziehen wäre, wenn sie al: 
sicher wirkende Maßnahme gegen die durch lebensunwerte Menschen hervorgerufener 
nutzlosen finanziellen Lasten angesehen werden dürfte. Aber die Zusammenstellung 
der klinischen und Erbforschungserfahrungen zeigt, daß ‚der Umkreis der Erkrar- 
kungen und krankhaften Zustände, bei denen heute schon mit erheblicher Wahrscheit- 
lichkeit gesagt werden kann, daß die Vererbung an die Descendenten zu erwarten ist. 
gering ist“. Es kommt da etwa nur Kreuzung zweier Schizophrener, zweier Schwach- 
sinniger, zweier erblicher Tauber und die Huntingtonsche Chorea in Betracht. 
Der Umfang ist bei dieser Indikationsstellung so gering, daß man von einer nennen: 
werten Bedeutung in eugenischer Hinsicht kaum gesprochen werden kann. Auc 
darüber hinausgehende zwangsweise Unfruchtbarmachung aller in Anstalten befind 
lichen Schizophrenen und geistig Defekten verspricht keinen Erfolg, da die viel größer: 
Anzahl der in Freiheit befindlichen in gleicher Weise Geschädigten sich ungehinder 
fortzupflanzen vermag. Ein zwangsweises Eingreifen des Staates erscheint dahet 
zur Zeit noch nicht geboten. Freiwillige Unfruchtbarmachung muß dagegen als zu 
lässig und in manchen Fällen sogar als wünschenswert bezeichnet werden. Ress.. 

Braun, H.: Die künstliehe Sterilisierung Sehwachsinniger. Zentralbl. f. Chirur: 
Jg. 51, Nr. 3. S. 104-106. 1924. | 

Braun hält eine Sterilisierung Schwachsinniger rechtlich für einwandfrei. sofer: 
die gesetzlichen Vertreter zustimmen. Er führte sie bei einem 31jährigen Mädch” 
und 3 Knaben aus. Gruhle (Heidelberg). ` 


Referatenteil der Zeitschrift für Kinderforschung. 
30. Bd., H.4 S. 209—240 


Biologie, Konstitution, Rasse, Vererbung : 


Prinzing: Korrelation zwischen Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit. Zeitschr. 
f. Schulgesundheitspfl. u. soz. Hyg. Jg. 37, Nr. 10, 8. 313—318. 1924. 

Brownlee hat für England festgestellt, daß die Sterblichkeit im 2. bis 5. Lebens- 
jahr entsprechend der Höhe der Säuglingssterblichkeit zunimmt und hat Konstanten 
berechnet, vermittels welcher aus der Säuglingssterblichkeit die Sterblichkeit für jedes 
der nächsten 4 Lebensjahre rechnerisch ermittelt werden kann. Da eine einfache Über- 
nahme der Brownleeschen Formeln bei dem beträchtlichen Unterschiede in der Höhe 
der Säuglingssterblichkeit und der Gleichartigkeit der Sterblichkeit im 2. bis 5. Lebens- 
jahr nicht möglich ist, so untersucht Prinzing, ob sich für Deutschland eine ähnliche 
Korrelation nachweisen läßt. Er kommt zu dem Schluß, daß es ein allgemeines Gesetz, 
daß eine feste Beziehung zwischen der Sterblichkeit des 1. und 2. oder gar des 1. und 
3. bis 5. Lebensjahres besteht, nicht gibt. Es ist dies auch schon an sich begreiflich, 
da die Höhe der Sterblichkeit der Kleinkinder noch mehr von der Umwelt abhängt 
als die der Säuglinge, die bei genügend langer natürlicher Ernährung auch unter ungün- 
stigen äußeren Verhältnissen eine mäßige Sterblichkeit aufweisen können. Ettel., 


Frank, Hildegard: Über die Abhängigkeit des Längenwaehstums der Säuglinge 
von den Jahreszeiten. (Univ.-Kinderklin., Jena.) Arch. f. Kinderheilk. Bd. 75, H. 1, 
S. 1—6. 1924. 

Untersuchungen an 100 gut gedeihenden Kindern aus Säuglingsheim und Krippe 
über die jahreszeitliche Beeinflussung des Längenwachstums. Leichte Erkrankungen 
werden nichtals Ausschließungsgrund betrachtet. Es ergibt sich schon im ersten Lebens- 
jahr eine ausgesprochene, durch die Jahreszeit bedingte Wachstumsschwankung. Diese 
macht sich neben der Altersbedingtheit der Wachstumsgeschwindigkeit geltend. Es 
bestehen zwei Minima der Jahreskurve, u. zw. im Dezember— Januar und im Juli. 
Die Maxima liegen mit steilem Frühjahrsanstieg im Juni und im Oktober— November. 
Das letztere Maximum ist weniger stark ausgeprägt. Gesetzmäßige Beziehungen zu 
klimatischen Faktoren konnten nicht abgeleitet werden, wenn es auch in einzelnen 
Jahren schien, als ob die Maxima durch besondere Witterungseinflüsse eine gewisse 
Verschiebung erfahren könnten. Beziehungen der Kurve zur Vitaminzufuhr werden 
mit Recht abgelehnt, betreffs endokriner Einflüsse versagt sich die Verf. ein Urteil. 

| Freudenberg (Marburg). 

Veeder, Borden S.: The overweight ehild. (Das übergewichtige Kind.) Journ. of 

the Americ. med. assoc. Bd. 83, Nr. 7, S. 486—489. 1924. 


Untersuchungen an 200 Knaben einer Privatschule. Die Obesitas kann durch 
endokrine Störungen bedingt sein oder selbständig auftreten. Die beiden Gruppen 
fanden sich in dem Material des Verf. ungefähr gleich stark vertreten. Die Fettleibig- 
keit macht sich vor allem bei den körperlichen Übungen bemerkbar; dabei besteht 
auch eine auffallende Neigung zu Epiphysenverletzungen. Wenn man das aus Körper- 
länge und Brustumfang errechnete Höchstgewicht mit dem tatsächlichen Gewicht 
vergleicht, so findet man, daß das Gewichtsplus bei dem raschen Wachstum zur Zeit 
der Pubertät geringer wird, die Fettsucht also automatisch korrigiert wird. Die endo- 
krinen Fälle verhalten sich wegen der bestehenden Wachstumsstörung allerdings meist 
anders. Verf. ist gegen eine allzu strenge Diät. Man soll keine Gewichtsabnahme, 
sondern nur einen Gewichtsstillstand erstreben, wobei sich bei genügend langer Beob- 
achtungsdauer die erwähnte Korrektur einstellt. Wenn man den Kindern Kostver- 
besserung im Fall ausbleibender Zunahme verspricht, spornt man die Trägen zu 
körperlicher Betätigung an. Reuss (Wien)., 


Zeitschrift für Kinderforschung. 30, Ref. 14 


— 20 — 


Oestreicher, Paul: Das asthenische Kind. Zeitschr. f. ärztl. Fortbild. Jg. 21, 
Nr. 16, S. 486—493. 1924. 

Der Begriff der Asthenie ist schwer abzugrenzen; nicht jede körperliche Ab- 
artung, nicht jede Schwäche gehört dazu. Die Definition Stillers ist immer noch die 
brauchbarste, welche den Habitus asthenicus — die Vereinigung einer geringeren oder 
größeren Anzahl morphologischer Eigenschaften bei einem Individuum — anatomisch 
als die Folge der allgemeinen Atonie aller Gewebe genau umschreibt und vom Morbus 
asthenicus trennt, der wieder als Folge des Habitus asthenicus die funktionelle Minder- 
wertigkeit zusammenfaßt. Die Ursache beider ist die vererbbare Körperverfassung, 
der Verlauf ist von den Einflüssen der Umwelt abhängig, kann durch sie latent bleiben 
oder werden oder sich verstärken. Dies gilt besonders für das Kind. Hier überwiegt, 
im Gegensatz zum Erwachsenen, das männliche Geschlecht; die ersten Anzeichen der 
Konstitutionsanomalie bestehen zweifellos schon im Säuglingsalter; deutlich wird das 
Bild aber erst in der Periode der zweiten Streckung. Oestreicher beschreibt dann 
ausführlich die Symptome des Habitus und des Morbus asthenicus beim Säugling, die 
Einwirkungen auf sein Nervensystem und seinen Stoffwechsel und die Erscheinungen 
beim älteren Kind mit der Beeinflussung von Skelett und Gestalt, besonders des Thorax, 
und der inneren Organe, des ganzen Blutkreislaufes und der Folgen der Ptose. Die 
häufigen leichten Hyperthermien veranlassen zur Verwechslung mit Tuberkulose, die 
überhaupt und meist zu Unrecht als Ursache für die Asthenie angesehen wird. Die 
neurasthenischen und psychasthenischen Symptome ergeben „vielfach die Rekruten 
jenes Geistes zweiter Ordnung, die später das Salz der Gesellschaft bilden, nie Kraft- 
und Gewaltmenschen, meist mehr rezeptiv als produktiv veranlagt.“ — Die Be- 
ziehungen zu anderen Krankheitszuständen sind durch den allgemeinen Immunitäts- 
verlust gekennzeichnet; hierher gehört vor allem die Resistenzlosigkeit gegen Tuber- 
kulose. Auch die orthostatische Albuminurie ist fast ausschließlich auf asthenische 
Kinder beschränkt. Die Prognose der Asthenie hängt von den Einflüssen der Umwelt 
ab; dadurch wird auch die Prophylaxe bestimmt und sind der Therapie die Wege vor- 
gezeichnet. Beim Säugling muß möglichst lange Brust gegeben werden, dann der 
Magen durch kleine Mahlzeiten in konzentrischer Form und von hohem Calorienwert 
geschont werden; dabei soll frühzeitig Säuglingsgymnastik getrieben werden. Auch 
beim älteren Kind haben die gleichen Grundsätze zu wirken. Schneider (München).. 


Vining, C. Wilfred: Problems in connexion with the debilitated ehild. (Probleme 
des schwachen Kindes.) Lancet Bd. 207, Nr. 5, S. 215—218. 1924. 

Beim schwachen (hypotrophischen) Kinde finden sich neben Gewichtsverlust 
bzw. fehlender Körpergewichtszunahme, Blässe, Müdigkeit, Atonie des Darms und 
der Bauchwand auch die verschiedensten nervösen Symptome, wie Ängstlichkeit, 
Schlafstörungen, Pavor nocturnus, Bettnässen, schlechte Angewohnheiten. Die 
Ursachen der Hypotrophie gehen auf die frühe Kindheit zurück; Ernährungsfehler, ins- 
besondere Überernährung mit Kohlenhydraten führen zur Atonie und Dyspepsie; es 
entsteht ein chronischer Darmkatarrh mit Schleimsekretion; sekundär kommt es zu 
Toxikosen, die größtenteils von den Veränderungen des Darmes, im geringeren 
Maße vom Rachen ausgehen; Tuberkulose kommt zwar vor, ist aber nicht generell dıe 
Ursache der Hypotrophie. Die nerväsen Störungen sollten nicht allein vom psycho- 
logischen Standpunkt aus gewertet werden; einfacher und therapeutisch richtiger ist 
es, die Darmtoxikose (bzw. auch die vom Rachen ausgehende Toxikose) als Ursache der 
vielfachen nervösen Störungen im Kindesalter zu bewerten. In Zusammenhang mit 
diesen Schwächezuständen des Kindesalters, die mit Toxikosen einhergehen, stehen 
auch die rheumatischen Erkrankungen, unter denen die Chorea besonders oft beobachte! 
wird. F. Stern (Göttingen). 

Kaup., J.: Neue Grundregeln der Norm- und Konstitutionsforschung. Khin. 
Wochenschr. Jg. 3, Nr. 28, S. 1249—1254 u. Nr. 29, S. 1297—1303. 1924. 


Kaup steht auf dem Standpunkt, daß ‚ein immanentes Formprinzip dem organischen 


— 21 — 


Körper in gesetzmäßiger Weise seine innere Einheit und Stetigkeit‘‘ gebe. Er glaubt dieses 
Gesetz (‚„Harmoniegesetz‘‘) in der „Konstanz der Innenorgan-Habitusrelation‘“ gefunden zu 
haben; dieses Gesetz soll „die Innehaltung der Kern-Plasmarelation R. Hertwigs von der 
Artzelle über die Morphogenese zur Vollreife determinierter Individuen‘ erklären. — Einzel- 


heiten müssen in der (zu kurzem Referat nicht geeigneten) Arbeit nachgelesen werden. 
Scheidt (Hamburg). 


© Hirsehfeld, Magnus: Gesehleehtskunde auf Grund dreißigjähriger Forschung und 
Erfahrung bearbeitet. Lielg. 1u.2. Stuttgart: Julius Püttmann 1924. 128 S. pro Liefg. 
G.-M. 1.50. 

Die menschliche Geschlechtskunde hat die gesamte körper-seelische Geschlecht- 
lichkeit zum Gegenstande, die in Geschlechtszustand und Geschlechtsverhalten zer- 
fällt. Die Geschlechtsliebe ist eine Leidenschaft, die sich im Es des Menschen ohne 
sein Zutun als leidendem Teil entwickelt. So gewiß die Bedeutung des sexuellen Fak- 
tors in seinen entferntesten Ausstrahlungen nicht unterschätzt werden soll, so ab- 
wegig ist die Gleichsetzung jeder Form von Liebe mit der Geschlechtsliebe. Nur dieser 
ist der sexuelle Rausch eigen. Während manche Völker den Liebesgöttern Tempel 
erbaut haben, brandmarkten andere Religionen den Zeugungsakt als etwas Niedriges. 
Noch bis in unsere Tage wirken derartige zeugungsfeindliche Anschauungen weiter. 
Immerhin scheint der früher heftige Widerstand gegen die Verbreitung sexualwissen- 
schaftlicher Kenntnisse nachzulassen. Das menschliche Geschlechtsleben ist bisher 
noch in bedauerlicher Weise durch Unwissenheit verwirrt, mit Elend, Verzweiflung, 
Siechtum geschlagen. Die alte Jungfer und die käufliche Dirne, beide verblühend, 
weil aus dem sexuellen Gleichgewicht gebracht, bedeuten einen schweren Vorwurf 
für unsere Scheinkultur. Eine dauernde völlige Unterdrückung’ sexueller Triebe er- 
scheint nur in vereinzelten Fällen möglich; meist treten Surrogathandlungen ein. 
Schädigung der Gesundheit durch lange fortgesetzte Abstinenz ist zuzugeben. Die 
Hippokratische Lehre, daß Hysterie Beziehungen zur sexuellen Unbefriedigtheit hat, 
lebt wieder auf. Verf. vermutet da toxische Wirkungen im Blute durch die von ihm 
angenommenen spezifischen Geschlechtshormone und spricht von Andrinämie und 
Gynäzinämie. Die Ehe könne daher nervöse und psychische Störungen günstig be- 
einflussen. Wenn heute von 100 Frauen 60 ledig bleiben müssen, führt doch nur die 
Minderzahl eine sexuelle Abstinenz durch. Millionen Weiber in Europa betreiben 
Gewerbsunzucht und wenige von ihnen werden nicht geschlechtskrank. In der Groß- 
stadt hat jeder 5. Mann als syphilitisch zu gelten. 40%, der Prostituierten haben un- 
eheliche Kinder. In Deutschland werden durchschnittlich im Jahre 185 000 uneheliche 
Kinder geboren, von denen mindestens 60 000 keinen Ernährer finden. Entsprechend 
ist hier die Säuglingssterblichkeit doppelt so groß als bei ehelichen Kindern. Die Zahl 
der jährlichen Abtreibungen wird auf eine halbe Million geschätzt; die Mortalität 
beträgt dabei 10—20%,. Dagegen gelangen zur gerichtlichen Bestrafung im Jahre 
höchstens 5—600 Fälle. Nur Unerfahrene und Unbemittelte werden gefaßt. Auch 
die Ehen sollen vorherrschend unglücklich verlaufen: 17835 Scheidungen im Jahre 
1923, und zwar in über der Hälfte wegen Ehebruch. Die furchtbare Unwissenheit 
und der Aberglaube sind zu bekämpfen. Die Aufklärung der Kinder bzw. Jugend- 
lichen hat methodisch durch eine geeignete Persönlichkeit mit Fachwissen und Fein- 
gefühl im rechten Augenblick zu erfolgen. Gelegentliche Hinweise der Eltern auf 
Naturvorgänge bei Spaziergängen bilden eine günstige Vorbereitung. Raecke. 

@Scherk, Gerhard: Zur Psychologie der Eunuchoiden. (Kleine Sehriften z. Seelen- 
forseh. Hrsg. v. Arthur Kronfeld. H. 12.) Stuttgart: Julius Püttmann 1924. 24 8. 
G.-M. 1.20. 

Verf. gibt auf Grund eines umfassenden kritischen Literaturüberblicks eine Dar- 
stellung der psychischen Eigenart jener ‚eunuchoiden‘‘ Naturen, deren Wesen körper- 
lich und psychisch durch eine Unterentwicklung der Keimdrüsen bedingt ist. Er 
betont, daß die von anderen Autoren immer wieder hervorgehobenen Intelligenz- 
defekte zwar nicht selten bei Eunuchoiden vorkämen, aber an sich nicht zu ihrem 


14* 


— 212 — 


psychischen Bilde gehörten. Charakterologisch sind sie durch das Fehlen der typisch 
männlichen Färbung des Wesens, speziell durch eine affektive Indolenz und Passivität 
gekennzeichnet, die sich vielfach lebensuntüchtig macht. Das sexuelle Triebleben — 
dies ihr Hauptcharakteristicum — ist gar nicht oder nur mangelhaft entwickelt. Alles 
in allem kann man so bei ihnen von einer eindeutigen einheitlichen seelischen Struktur 
sprechen. Die bedeutsame Frage, wie weit diese Erfahrungen über die psychischen 
Folgeerscheinungen der gestörten Keimdrüsenreifung für die Psychologie der Pubertät 
verwertbar sind, wird zwar angedeutet, aber nicht verfolgt. K. Birnbaum (Berlin). 


Berliner, Max: Über den Einfluß der endokrinen Hormone auf die Konstitution 
in den versehiedenen Lebensaltern des Mensehen. (ZI. med. Klin., Uni. Berlin.) Arch. 
f. Frauenkunde u. Konstitutionsforsch. Bd. 10, H. 2, S. 117—135. 1924. 

Referierender Überblick über den Einfluß der inneren Drüsen auf die Gesamtkonstitution. 
speziell die äußeren Körperbaumerkmale, wobei die einzelnen Lebensphasen: Wachstums- 
periode, Reifezeit und Rückbildung gesondert betrachtet werden. In der Wachstumsperiode 
macht sich der endokrine Einfluß vor allem an den Erscheinungen des äußeren Habitus geltend, 
in der Reifezeit beherrschen die endokrinen Hormone die Funktionen und die Leistungsfähig- 
keit, in der Involution dirigieren sie den Niedergang der Leistung und Funktion. In der Wachs- 
tumszeit wirken Zirbel- und Keimdrüsen wachstumshemmend, Thymus, Hypophyse und 
Schilddrüse wachstumsfärdend. Kretschmer (Tübingen).. 


Psychologie: 
Allgemeine und spezielle Psychologie. — Methodisches : 

© Schilder, Paul: Medizinische Psychologie für Ärzte und Psyehologen. Berlin: 
Julius Springer 1924. XIX, 355 S. G.-M. 12.—. 

Der Begriff einer ‚medizinischen Psychologie“ ist unbestimmt. Er kann nach 
der Richtung hin festgelegt werden, daß für den Mediziner wichtige Kapitel aus der 
Normalpsychologie ausgewählt und entsprechend behandelt werden, es können anderer- 
seits für den Arzt wie für den psychologisch allgemein Interessierten besonders wichtige 
Einsichten aus der Psychopathologie wie aus der übrigen Medizin in den Rahmen ein- 
bezogen werden. Im allgemeinen werden Probleme der praktischen Psychologie medi- 
zinischer Färbung besondere Behandlung erfahren. Schilder hat den Versuch unter- 
nommen, Phänomenologie, Psychoanalyse, experimentelle Psychologie und Hirn- 
pathologie zu einem Ganzen zu vereinigen. Er selbst hält dem etwaigen Vorwurf des 
Eklektizismus das Argument entgegen, daß jede der von ihm dargestellten Betrach- 
tungsweisen und Einstellungen sachlich Richtiges zutage gefördert habe, und daß 
sachlich Richtiges verschiedener Gebiete doch im tiefsten Grunde zusammenhängen 
und sich irgendwie zu einem Ganzen vereinigen müsse. Den Vorhalt des Eklektizismus 
wird man allerdings Sch. nicht machen dürfen. Es ist eine Darstellung mit durchaus 
einheitlicher originaler Grundeinstellung — Sch. bezeichnet sie als biologisch —. 
welche besonders durch eine eigenartige Verbindung von psychoanalpytischer und hirn- 
pathologischer Grundtendenz gekennzeichnet ist. Das in dem Buche niedergelegte 
Wissensmaterial ist außerordentlich, dabei die eigene Denkarbeit überall deutlich. 
die Darstellung nicht nur geistvoll, sondern auch fast durchweg faßBlich und klar. 
wenn es sich auch nicht um ein Buch für Anfänger handelt. Von den obengenannten 
Wissensgebieten wird man wohl alles Wichtige dargestellt finden und alles in eigener. 
sehr anregender Beleuchtung. In der Psychoanalyse steht Sch. auf extremem 
sexualanalytischen Standpunkt, wenn auch erhebliche Unterschiede gegen Freud. 
z. B. in der Lehre vom Unbewußten bestehen. Die abgeschmackten Deutungen be- 
kannter Art werden als Tatsächliches vorgetragen und verwertet. Aber nicht nur nach 
dieser Richtung wird Widerspruch herausgefordert. Da eine auch nur andeutende 
Darstellung des Inhalts des Werkes in einem Referat unmöglich ist, mag es bei dem 
persönlichen Bekenntnis bleiben, daß ıch dem ungewöhnlichen Buche recht viele. 
allerdings auch recht kritische Leser wünsche. Das Buch hat ein Literaturverzeichnis. 
Sach- und Personenregister, und Inhaltsübersichten in Schlagworten. Isserlin. 





— 213 — 


eAdler, Alfred: Praxis und Theorie der Individualpsyehologie. Vorträge zur 
Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. 2. umgearb. u. 
erw. Aufl. München: J. F. Bergmann 1924. V, 257 S. G.-M. 10.50 / $ 2.50. 

Die 2. Auflage zeigt nur wenig Veränderungen gegenüber der 1., dennoch glauben 
wir, da dieses Werk in seiner Bedeutung noch immer nicht genügend gewürdigt ist, 
eine eingehende Besprechung und Auseinandersetzung geben zu sollen. Allerdings 
müssen die wichtigsten Gedanken Adlers als bekannt vorausgesetzt werden, da sonst 
die Besprechung in knappem Rahmen nicht möglich wäre. 2 Probleme sind es, die den 
Psychologen vor allem interessieren, auf die A. eine Antwort erteilt: 1. Wie verstehen 
wir die Bildung der Individualität; 2. welches sind die objektiv realen Ursachen für 
die Bildung der Individualität? A.s Antwort liegt prinzipiell in der Schicht des indi- 
viudellen Sinnzusammenhanges. Die Bildung der Persönlichkeit, zunächst ein bio- 
logischer Vorgang, vergleichbar der Selbstbehauptung einer Pflanze, erfolgt nur so, 
daß die Teleologie bewußt wird, so, daß die Selbstbehauptung einen Sinn für die Per- 
sönlichkeit gewinnt. Indes sind 2 Ergänzungen notwendig: Der junge Mensch bekommt 
doch wohl offenbar eine psychische Ausrüstung an Instinkten, Begabungen mit, die ihn 
trägt, solange er noch keine individuellen Strebungen hat. Mit Recht hat man darum 
für die früheste Stufe des kindlichen Seelenlebens an den Instinkten als biologischen 
Einrichtungen festgehalten, hat so auch die Kinderangst, das Kinderspiel und noch vieles 
andere zu verstehen gesucht. Wir verstehen so’ in dem Sinne, wie das neuerdings 
Spranger ausgeführt hat, das individuelle seelische Geschehen aus dem umfassenderen 
Zweckzusammenhang, in den das Einzelwesen hineingestellt ist. ‚Der Instinkt ist die 
primitivste Form, mit der der objektive Geist in den Zusammenhang der Individual- 
struktur hineinreicht“ (Spranger). In diese Schicht gehört nun auch das große Gebiet 
der Nachahmung von Bewegung, Handlung und Erfolg, solche Fälle, wie sie neuerdings 
Köhler von seinen Affen beschrieben hat. Wir dürfen aber auch nicht versäumen 
an biologische Zusammenhänge selbst dann zu denken, wenn ein individual-verständ- 
licher Sinnzusammenhang vorzuliegen scheint; denn dieser ist nur ein möglicher 
Typus. Für den Anhänger A.s ist die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß er sich mit dem 
gefundenen individual-verständlichen Zusammenhang begnügt, wodurch therapeutische 
Möglichkeiten biologischer Art übersehen werden. So sind individual-verständliche 
Zusammenhänge beim organischen Schwachsinn zwar jederzeit nachweisbar, aber sie 
bilden doch nur die Oberfläche über den dauernden, endgültigen, organischen Defekt. 
Liegt die Schicht, von der wir bisher sprachen, gewissermaßen unterhalb des indi- 
viduellen Sinnzusammenhanges, so ist oberhalb der „Adler-Schicht‘‘ das System der 
objektiven Werte gleichfalls in seiner Bedeutung für die Bildung der Persönlichkeit 
nicht ganz ausreichend gewürdigt. A., hier offenbar in Anlehnung an die englische 
Gefühlsethik des 18. Jahrhunderts, hält das Gemeinschaftsgefühl für die höchste sitt- 
liche Leistung. Hier wird doch wohl übersehen, daß das Gemeinschaftsgefühl nicht 
über jene Konflikte hinausbringen kann, in denen man steuerlos ist, wenn dieErkennt- 
nis der sittlichen Welt fehlt. Dieses Problem hat — gleichfalls mit genialer Einseitig- 
keit — Sokrates behandelt. A. wird uns zugeben müssen, daß Güte, Liebe, Wohl- 
wollen nicht ausreichend sind, um die soziale Welt des ‚„ehernen Lohngesetzes‘“ zu 
verändern. Das kann nur ihre Erkenntnis. Wir haben bisher kritische Bemerkungen 
geäußert. Niemand wird die außerordentliche Bedeutung und Fruchtbarkeit der 
A.schen Gedanken für die Psychotherapie und vor allem für die Psychagogik (Kron- 
feld) des Kindesalters leugnen, niemand im praktischen Tun A.sche Gedankengänge 
vermissen wollen. Auf diesem Gebiet bleibt ein theoretisches Desideratum. Wir wissen, 
wie Außerordentliches die Gemeinschaft in der Erziehung leistet, aber wir wissen noch 
nicht, auf welchem Wege das eigentlich zustande kommt. A. selbst ist der Ansicht, 
daß, was wir bisher an Begabungen und sonstigen Dispositionen für unveränderlich 
festgelegt hielten, durchaus nicht so sehr individuelles Erbgut sei, daß das äußere 
Schicksal mit seinen Forderungen und Hemmungen auch über das entscheidet, was wir 


— 214 — 


geistige Beanlagung nennen. Hier fehlen uns, ebenso wie in den allgemeinsten Auf- 

fassungen vom Sozialpsychischen noch die exakten Grundlagen. Wir möchten das Buch 

erneut der ernstesten Beachtung aller psychologisch Interessierten empfehlen. 
Eliasberg (München). 

Friedjung, Josef K.: Kinderpathologie und Erziehung. (I. öff. Kinderkrankeninst., 
Wien.) Dtsch. med. Wochenschr. Jg. 50, Nr. 47, 8.1611. 1924. 

Verf., der der Lehre Freuds angeschlossen ist, deutet in den wenigen Zeilen des 
Artikels die große Bedeutung des Gegensatzes von Lustprinzip und Realitätsprinzip an, 
sein Verhältnis beim normalen Kind, seine Störung in dem krankhaften Libidoschicksal 
besonders des einzigen Kindes, des Lieblingskindes, des einzigen Bruders, der einzigen 
Schwester, des ungeliebten, des umkämpften Kindes usw. Er glaubt, daß aus den 
psychanalytischen Lehren Erkenntnisse auch für die soziale Medizin, für die Er- 
kenntnis der Bedeutung von Konstitution, Kondition, Milieu usw. erworben werden. 

E. Feuchtwanger (München). 
© Wanke, Georg: Psychoanalyse. Geschichte, Wesen, Aufgaben und Wirkung. 
Für Ärzte, Geistliehe und Juristen, sowie für Eltern, Lehrer und Erzieher. Halle 
a. S.: Carl Marhold 1924. XV1, 304 S. G.-M. 6.50. 

Eine anregend und flüssig geschriebene, gemeinverständliche Einführung in die 
Psychoanalyse, die in loser Form, fast in Art einer Plauderei, nach einem Überblick 
über die Geschichte, eine Darstellung vom Wesen der Psychoanalyse, ihren Aufgaben 
und Wirkungen gibt und sich dabei in anerkennenswerter Weise von allen schiefen und 
einseitigen Konstruktionen mancher der Schüler Freuds durchaus fernhält. Ein 
hübsches Kapitel über psychologische Anschauungen voranalytischer Dichter und 
Philosophen, die sich mit Erkenntnissen der Psychoanalyse decken, anregende Be- 
merkungen zur Kinderpsychologie und Psychagogik machen das Buch, das sich in erster 
Linie an den gebildeten Laien wendet, auch für den Fachmann nicht ganz wertlos. 
Auch wer die Erfolge der Analyse skeptischer beurteilt als der begeisterungsfähige 
Verf. wird doch an dessen warmherziger Art und seiner Auffassung von den hohen 
Aufgaben des ärztlichen Berufs, speziell der nervenärztlichen Tätigkeit, seine Freude 
haben können. Die Psychoanalyse und analytische Psychotherapie ist gewiß in erster 
Linie eine ärztliche Angelegenheit. Ihre methodische Ausübung an seelisch Kranken 
muß dem Arzt vorbehalten bleiben. Unsachgemäße Anwendung in der Hand von 
Nichtärzten kann leicht Unheil herbeiführen. Dies gilt besonders von manchen Kinder- 
analysen übereifriger Eltern, Lehrer und Seelsorger. Trotzdem ist die Kenntnis der 
psychoanalytischen Entdeckungen auf dem Gebiet der Kinderseele für Eltern und 
Erzieher von höchster Wichtigkeit. Das Buch von Wanke vermag ihnen diese Er- 
kenntnisse zu vermitteln. Es will nicht zu methodischem Analysieren anleiten, sondern 
nur gewisse Winke, Hilfe und Ratschläge geben, indem es auf manche Schäden unseres 
Erziehungs- und Schulwesens, auf Vorurteile und Lieblosigkeiten aller Art hinweist. 
So kann es Eltern und Erziehern ein segensreicher Ratgeber sein, der ihnen hilft, das 
Kind vor mancherlei schweren Konflikten und seelischen Fehlentwicklungen zu 
bewahren. Storch (Tübingen). 

© Hug-Hellmuth, H.: Neue Wege zum Verständnis der Jugend. Psychoanalytische 
Vorlesungen für Eltern, Lehrer, Erzieher, Sehulärzte, Kindergärtnerinnen und Für- 
sorgerinnen. Leipzig u. Wien: Franz Deuticke 1924. 179 S. G.-M. 5.80. 

Der Verf. bewegt sich auf den Bahnen der orthodoxen Psychoanalyse, und der- 
jenige, der seine Voraussetzungen anerkennt, wird seine Darstellung durch Verständ- 
lichkeit und Einfachheit sympathisch finden. Wer das Freudsche Dogma für eine 
Irrlehre hält, wie Ref.. muß jeden Versuch, die Psychoanalyse in pädagogische Kreise 
zu tragen, auf das entschiedenste mißbilligen. Es wird schon längst in dieser Hinsicht 
von seiten der Lehrer und Erzieher (nicht nur in der Schweiz, wo es anfing, sondern 
auch bei uns) genügend Unfug getrieben. Erwachsene haben es sich selber zuzu- 
schreiben, wenn sie, weil sie sich mit Psychoanalytikern einlassen, gesundheitlichen 


— 215 — 


Schaden erleiden; aber die Kinderpsyche sollte vor diesen Modeeingriffen geschützt 
sein. Die Unbefangenheit gehört zu denjenigen Dingen, die man, ohne sich zu ver- 
sündigen, niemand nehmen darf, weil man sie ihm nicht wiedergeben kann. Hoche. 

@ Graber, Gustav Hans: Die Ambivalenz des Kindes. (Imago-Bücher. VI.) Leipzig. 
Wien u. Zürich: Internat. psychoanalyt. Verl. 119 S. G.-M. 3.—. 

Unter Ambivalenz versteht man (nach Bleuler) einen besonderen krankhaften 
seelischen Mechanismus der schizophrenen Gemütskranken, nämlich die Unfähigkeit, 
sich im Ja- oder Nein-Sinne gegenüber einem Gegenstand zu entscheiden. Dabei handelt 
es sich wohl nicht, wie Bleuler annimmt, um eine nur sehr ausgeprägte Form der 
Unschlüssigkeit, die in widersprechenden Motiven gegründet ist — etwa so wie der 
Jurist von der Konkurrenz der Motive redet — sondern im Akte des Entschließens, 
des Wollens selbst liegt die Unfähigkeit der Erledigung, ganz unabhängig von den 
Motiven. Da Bleuler selbst seinen Ambivalenzbegriff nicht scharf gefaßt hat, so ist 
er mit der Zeit immer mehr verwässert worden. Jetzt versteht man vielfach darunter — 
auch der Verf. dieser Schrift tut es — den Sachverhalt, daß ein Gegenstand aus dem 
einen Grunde anzieht und aus einem anderen abstößt. Dadurch ist das Problem in 
diesem Ausmaß uninteressant geworden. Interessant bliebe es, bei der Entwicklung 
der kindlichen Persönlichkeit im einzelnen zu untersuchen, inwiefern eine positive 
(lustbetonte) und eine negative (unlustbetonte) Bindung an die einzelnen Gegenstände 
zustande kommt. Graber setzt dies als seine Aufgabe, macht jedoch keinen Versuch 
einer Durchführung, sondern beschränkt sich darauf, die Mythen Freudscher „Er- 
klärungen“ auf die Handlungen des Kindes anzuwenden. Das heißt, er übersetzt 
die Beschreibung der Tatbestände nur in die Freudsche Terminologie. Ein Beispiel 
genüge: Wenn das Kind irgendwelche Dinge in den Mund steckt, so trachtet es, die 
gesamte verhaßte Objektwelt zu verschlingen, um sie so aufzuheben und um in den 
ersehnten Urzustand, als es im Mutterleibe allein mit sich war (Narcissmus), symbolisch 
zurückzukehren. — Der Anhänger der Freudschen Meinungen wird in Grabers Buch 
einen schätzenswerten weiteren Versuch sehen, das Schema und die wohlbekannten 
und beliebten Freudschen Mechanismen auf das Gebiet der kindlichen Regungen zu 
übertragen, so wie es schon Pfister, Frau Hug - Hellmuth und andere taten. Man 
erlernt den Freudschen Mechanismus leicht und kann dann jeden seelischen Tat- 
bestand in diese Form gießen. — Für den Nicht-Freudianer ist Grabers Buch völlig 
wertlos. Es vermittelt nicht eine neue Erkenntnis. Gruhle (Heidelberg). 

Trow, Wm. Clark: The psychology of confidence. An experimental inquiry. (Zur 
Psychologie der Gewißheit. Eine experimentelle Frage.) Arch. of psychol. Bd. 10, 
Nr. 67, 8.3—47. 1923. 

Eingeleitet durch kurze historische Andeutungen über das ausgedehnte Problem- 
gebiet der psychischen Tatsachen der Überzeugung, des Glaubens, des Selbstver- 
trauens, der Gewißheit (belief, confidence, assurance), wird das Thema vorliegender 
Monographie auf die Erforschung des „Richtigkeitsbewußtseins‘“ bei der Lösung ge- 
stellter Aufgaben begrenzt. 4 verschiedene Gewißheitsgrade werden den Vpn. an- 
gegeben; sie müssen bei Lösung der Aufgabe den dabei erlebten Grad der Selbstsicher- 
heit mitteilen; darauf werden den Vpn. 16 Tests vorgelegt, teils sind es Denkaufgaben, 
teils Beurteilungen oder Antworten auf logische, ethische, wirtschaftliche und soziale 
Fragen. In einem Test wird jede Vp. vor die Aufgabe gestellt, sämtliche Vpn. (die sich 
gegenseitig kennen) in Hinsicht ihrer äußerlich erkennbaren Eigenschaft der Selbst- 
sicherheit zu bewerten. Aus den zalreichen Schlußbetrachtungen nur die wichtigsten: 
Die Lösungen der Aufgaben sind bei den selbstsicheren Vpn. nicht besser als bei 
den weniger sicheren; die Lösung der Denkaufgaben ist bei der größten Sicherheit 
auch meistens richtig; bei den Beurteilungen auf den verschiedenen Gebieten ist der 
Sicherheitsgrad jeweils von der Situation abhängig; da jede Vp. in den verschieden- 
artigen Situationen verschiedene Grade der Sicherheit zeigt, so kann ein Test oder 
selbst eine Handvoll Tests zur Prüfung des Selbstvertrauens und ähnlicher sog. 


— 216 — 


Charaktereigenschaften nicht ausreichen. Eine Auslese der Vpn. hinsichtlich dieser 
Eigenschaft kann daher durch Testaufgaben nicht vollzogen werden. Man vermißt 
in dieser Arbeit eine eingehende Analyse und eine feinere Auswertung des gewonnenen 
Materials und gewinnt den Eindruck, daß die tieferliegenden Faktoren dieses be- 
deutungsvollen Gebietes unberücksichtigt bleiben. von Kuenburg (München). 

Hülser, Carl: Zeitauffassung und Zeitschätzung verschieden ausgefüllter Intervalle 
unter besonderer Berücksichtigung der Aufmerksamkeitsablenkung. (Psychol. Seminar, 
Uniw. Bonn.) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 49, H. 3/4, S. 363—378. 1924. 

Quasebarth, Käte: Zeitschätzung, und Zeitauffassung optisch und akustisch aus- 
gefüllter Intervalle. (Psychol. Laborat., Univ. Bonn.) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 49, 
H. 3/4, S. 379—432. 1924. 

Zwei sorgfältig ausgeführte Arbeiten zur Erforschung der Probleme des Zeit- 
bewußtseins und der Zeitauffassung, der Auffassung der Sukzession und der Dauer. 
Die Anordnung der zahlreichen optischen und akustischen Versuche ermöglicht es, 
den Einfluß der Ablenkung, die verschieden gerichtete Aufmerksamkeit, die subjektive 
Einstellung u. a. m. eingehend zu beobachten. v. Kuenburg (München). 

Nafe, John Paul: An experimental study of the affeetive qualities. (Eine experi- 
mentelle Studie zur Erforschung der Gefühlsqualitäten.) (Psychol. laborat., Cornell 
untv., Ithaca.) Americ. journ. of psychol. Bd. 35, Nr. 4, S. 507—544. 1924. 

Durch optische, akustische, taktile, Geruchs- und Geschmackreize angeregt, haben die 
Vpn. die an diese Reize sich anschließenden Lust-Unlust-Qualitäten zu beobachten. Im An- 
schluß an die wörtlich angeführten Protokolle zieht Verf. Schlußfolgerungen über die Qualität, 
die Intensität, die Art und Weise des Auftretens dieser Gefühle, nennt zeitliche Bestimmungen, 


qualitative Unterschiede, Unvereinbarkeit beider, ihre Entstehungsbedingungen u. a. m. 
von Kuenburg (München). 


Giese, Fritz: Über Pauschalprüfungen bei Intelligenzuntersuchungen. Zeitschr. 
f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25, Nr. 5/6, 8. 137—147. 1924. 

Verf. berichtet über Erfahrungen, die er mit einem Intelligenzprüfungsbogen 
aus dem „Institut d’Orientaciö Professional‘ in Barcelona (vom Institut für ange- 
wandte Psychologie in Berlin ins Deutsche übertragen) gemacht hat. Der Bogen enthält 
70 Fragen verschiedener Art, die in ununterbrochener Arbeitszeit (etwa 30 Min.) zu 
beantworten sind. Verf. bezeichnet dieses Verfahren, ‚das aus einer additiven Zu- 
sammenstellung zweckentsprechender Einzelproben besteht, die eine rasche, grund- 
sätzliche Erkenntnis geistiger Veranlagungen einer Prüflingsmasse bezwecken und 
daher nicht zur einzelnen Auswertung, sondern zu summarischer Feststellung gelöster 
Aufgaben in einer Kurzzeit gelangen“, als „Pauschalprüfung‘. Er gibt eine kritische 
Übersicht über die verschiedenen Arten von Aufgaben und schlägt zum Schluß einige 
Verbesserungen vor, die sich ihm bereits bei einigen Versuchen bewährt haben. Bobertag. 

Buzby, Dallas E.: The interpretation of facial expression. (Die Deutung des 
Gesichtsausdruckes.) Americ. journ. of psychol. Bd. 35, Nr. 4, S. 602—604. 1924. 

Boring und Titchener berichteten kürzlich in einer Zeitschrift über ein von 
ihnen ersonnenes Gesichtsmodell, an welchem man durch Auswechseln von Mund. 
Augen, Augenbrauen und Nase verschiedene Gesichtsausdrücke erzielen kann. Dieses 
Modell wurde zu einem Experiment an der Universität von Pennsylvanıa verwandt. 
Von den 24 Gesichtsausdrücken wurden nur 6 typische gewählt; den Versuchspersonen 
wurden Listen, worauf 18 Bezeichnungen von Gemütsbewegungen standen, eingehändigt:; 
dem jeweils vorgeführten Gesicht hatten sie die richtige Bezeichnung für den Gesichts- 
ausdruck zuzuordnen. Die meisten richtigen Urteile bezogen sich auf die Gemüts- 
bewegungen, die in dem Ausdruck der Verwirrtheit, des Entsetzens, der Verachtung 
und des Ekels wiedergegeben waren. Eine größere Anzahl richtiger Urteile knüpft 
sich an die Beobachtung des oberen Teiles des Gesichts (Augen und Augenbrauen), 
weniger an die des Mundes. Frauen beurteilen um ein weniges besser als Männer. Die 
Urteile beider werden weniger richtig, wenn sie vor der Beurteilung längere Zeit über- 
legen. von Kuenburg (München). 


— 217 — 


Luquet, G.-H.: L’&tude statistique des dessins d’enfants. (Die statistische Unter- 
suchung der Kinderzeichnungen.) Journ. de psychol. Jg. 21, Nr. 8, S. 738—756. 1924. 

In der statistischen Verarbeitung der Einzelheiten aus den Sammlungen der 
Kinderzeichnungen findet Verf. zahlreiche Fehlerquellen. Insbesondere werden die 
Arbeiten von L. Partridge und Levinstein besprochen und andere Gesichtspunkte 
zur Beachtung empfohlen. von Kuenburg (München). 

Pototzky, Carl: Über Suggestion und Suggestionsbehandlung im Kindesalter. 
(Kaiserin Augusta Viktoria-Haus, Charlottenburg.) Dtsch. med. Wochenschr. Bd. 50, 
Nr. 25, S. 838—841. 1924. 

Verf. versteht unter Suggestion die von normalen Ursachenkomplexen unab- 
hängige, d.h. andersartig- erfolgte Auslösung einer Empfindung, Vorstellung oder 
Willensäußerung, die subjektiv als autochthon entstanden imponiert. Unterstes Grenz- 
alter ist der Beginn des Sprachvermögens, also etwa das Alter von 1!/, Jahren; natürlich 
kommen in diesem Alter nur ganz primitive Suggestionen in Frage. Mit steigender 
Intelligenz und steigendem Alter nimmt die Suggestibilität ab. Therapeutisch ist metho- 
dische Suggestion besonders bei psychopathischen Kindern mit nervösen und hysteri- 
schen Symptomen verwertbar: nervöses Erbrechen, Bettnässen, Ohnmachtsanfälle, 
schlechte Angewohnheiten und dergleichen. Die Suggestionsmethoden, die sich aus 
der Freudschen Psychoanalyse ergeben, die sogenannte larvierte und die Überrum- 
pelungssuggestionsbehandlung werden im allgemeinen abgelehnt und lieber feinere, 
allerdings langwierigere Methoden vorgezogen. Ganz besonders gern verwendet Verf. 
die von ihm ausgearbeitete ‚„Milieusuggestionsmethode‘“. Sie besteht darin, daß man 
das Kind in ein ihm angenehmes Milieu — z. B. eine Landschaft, in der es sich beson- 
ders wohl gefühlt hat — versetzt, wodurch es der Suggestion zugänglicher wird. Diese 
Methode ist nach Verf. auch geeignet als Einleitung zum Hypnoseverfahren. 

Schob (Dresden)., 

Szulezewski, Bronislas: Recherches sur l’äme enfantine en hypnose. (Unter- 
suchungen über die Kinderseele in Hypnose.) Arch. de med. des enfants Bd. 27, 
Nr.9, 8.513—546. 1924. 

Der Verf. sucht in hypnotischen Sitzungen Konflikte der kindlichen Seele zu klären 
und suggestiv zu heilen. Gleichzeitig will er damit neue Einsichten in das Seelenleben 
des Kindes gewinnen. Die Methode ist indes nicht so neu, wie der Autor meint, sondern 
von Freud schon vor vielen Jahren als unzweckmäßig aufgegeben. Szulczewski 
knüpft in seinen Darlegungen an 33 zum Teil recht interessante Krankengeschichten 
an. Die neuere deutsche und englische Literatur scheint ihm wenig bekannt zu sein. 
Dem Kenner bringt er keinerlei neue Gesichtspunkte. Die erfreulichen Heilergebnisse 
müßten nach Jahren nachgeprüft werden. Erst wenn sie sich bewähren, könnte die so 
unbedenkliche Verwendung der Hypnose im Kindesalter gebilligt werden. 

| Friedjung (Wien)., 

Mosse, Karl: Über die Hypnose beim, Kinde. (Univ.-Kinderklin., Berlin.) Dtsch. 
med. Wochenschr. Jg. 50, Nr. 25, S. 885—838. 1924. 

Die Vorbereitung zur Hypnose braucht bei Kindern nur in Aufklärung darüber 
zu bestehen, daß die Maßnahme schmerzlos und nicht unangenehm sei. Als Technik 
ist im allgemeinen die Hypnosetechnik der Schule von Nancy angewandt worden. 
Vielfach machen die Kinder trotz tiefer Hypnose nur den Eindruck oberflächlichen 
Schlafes; sonst unterscheidet sich die Hypnose der Kinder nicht von der der Erwach- 
senen. Erwecken aus der Hypnose bereitet nie Schwierigkeiten. Besonders leicht 
hypnotisierbar sind Kinder mit fehlendem Würgreflex; nicht für Hypnose geeignet 
sind Kinder unter 6 Jahren, Idioten, Imbezille.. Die Hypnose kann therapeutisch in 
3 Formen angewandt werden: als Dauerhypnose, Suggestionshypnose und Übungs- 
hypnose. Dauerhypnose hat Verf. bei Chorea angewandt mit Mißerfolg; die Hypnose 
wirkte hier eher schädlich. Bei der Indikationsstellung für die Suggestionshypnose 
sind folgende Kriterien zu berücksichtigen: 1. nur psychische Erkrankungen sind be- 


— 218 — 


einflußbar, 2. alle Änderungen müssen beim Kind in der Hypnose selbst erzielt werden, 
da auf posthypnotische Wirkungen nicht zu rechnen ist. Besonders geeignet sind also 
grobe hysterische Erscheinungen, Lähmungen und dergleichen, Schlafstörungen, vor 
allem die Enuresis, bei der nach Versagen von Wachsuggestion ein Hypnoseversuch 
stets angezeigt ist. Die Übungshypnose (orthopedie mentale nach B£&rillon) besteht 
darin, daß der Zwang in der Hypnose und der Rapport dazu ausgenützt werden, mit dem 
Kranken Hemmungen gegen seine Fehler zu üben. Die besonderen Umstände der 
Hypnose eröffnen dabei dreierlei Möglichkeiten: 1. den Rahmen für Übungen herzu- 
stellen, ohne den sie unmöglich wären, 2. bei den Übungen auf den Patienten einen 
Zwang auszuüben, der durch die Hypnose an sich bedingt ist, 3. darüber hinaus evtl. 
das Rapportverhältnis zu einer Einflußnahme auf den Patienten in Richtung einer 
Persuasion auszunutzen. Mosse hat die Übungshypnose besonders zur Behandlung 
der Enuretiker verwandt (insbesondere Aufwachübungen). Geeignet sind im allge- 
meinen nur Kinder über 10 Jahren. Mißerfolge sind nicht selten bei zu frühem Ab- 
brechen der Behandlung; nötig sind meist 6—10 Sitzungen. Verf. sieht in der Übungs- 
hypnose einen wesentlichen Fortschritt der Anwendbarkeit der Hypnose. 
Schob (Dresden)., 

Angewandte Psychologie : 

Sehulte, R. W.: Die Persönliehkeit in der psyehologischen Beratung. Für Zu- 
sam menarbeit von Psychologie und Medizin. Zeitschr. f. angew. Psychol. Bd. 23, 
H. 5/6, S. 352—356. 1924. 

Die Hauptgedanken dieses (vorliegenden,) kurz gedrängten, inhaltsreichen Auto- 
referates sind folgende: Die psychologische Beratung wird als diagnostisch, prognostisch 
beurteilende und therapeutisch sich auswirkende Tätigkeit in engster Zusammenarbeit 
mit Lehrer, Erzieher, Volkswirtschaftler, Ingenieur und Arzt bezeichnet; sie hat zur 
Erforschung der Persönlichkeit die Gesamtheit der psychischen Formmerkmale anzu- 
geben. Als wissenschaftliche Forschungsmethoden sollen die experimentell exakten 
und statistischen, die objektiv psychographischen und auch die subjektiv verfahren- 
den, wie Befragung, Beobachtung, Einfühlung, gelten. Auch werden unter den 
unzähligen Problemen zur Psychologie der Persönlichkeit die wichtigsten hervorgehoben 
und Richtlinien für die zukünftige Forschung aufgestellt. von Kuenburg (München). 

Döring, Woldemar Oskar: Schülerauslese und psychische Berufsberatung an 
Lübecker Sehulen. Zeitschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. Jg. 25, H. 11, S. 425 
bis 439. 1924. Ä 

In einem ersten Abschnitt wird das Verfahren geschildert, das zu Ostern 1924 
mit Genehmigung der Oberschulbehörde in Lübeck angewandt wurde, um die gesetzlich 
zugelassene Überführung begabter Schüler aus der 3. Grundschulklasse in gehobene 
Schulen vorzunehmen. Es schließt sich eng an das bekannte Hamburger Verfahren 
von 1918 und 1919 an, besonders auch hinsichtlich der Auswahl psychologischer Prü- 
fungsaufgaben (Definition, Analogien, Dreiworttest, Geschichte nacherzählen, Be- 
griffe ordnen, Verstandesfragen); neu ist hier nur die Verwendung von „Seltenheits- 
werten‘ (bei der Bewertung der Testleistungen), deren Nützlichkeit man allerdings in 
Frage stellen kann. Die statistischen Ergebnisse, namentlich in bezug auf die Be- 
gabungsverteilung, werden eingehend erörtert. In einem zweiten Abschnitt wird über 
eine Untersuchung zur Feststellung der psychischen Berufseignung durch die Schule 
berichtet, die nach dem Vorbilde der Arbeit von Erich Stern über dieses Thema 
ausgeführt wurde. Bobertag (Berlin). 

Giese, Fritz: Die Arbeitsprobe in der Psyehognostik. Zeitschr. f. angew. Psychol. 
Bd. 23, H. 3/4, S. 162—187. 1924. 

Giese geht aus von einer Kritik der üblichen Eignungsprüfung. Er führt viele 
der bekannten Gründe an, weswegen die isolierende Untersuchung der untersten 
Schichten der psychischen Phänomene für die Individualdiagnose unzureichend 
ist. Was diese Untersuchungsart für die Konkurrenzauslese (Poppelreuter) 


— 219 — 


d. h. also für die Rangierung der Bewerber leistet, darauf geht G. an dieser Stelle nicht 
ein. Jedoch sind seine kritischen Ausführungen wohl sinngemäß mit der Einschränkung 
zu verstehen, daß die Konkurrenzauslese sich im wesentlichen bewährt hat. Die Arbeits- 
probe will alle die Voraussetzungen, die in der Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit, 
in der geisteswissenschaftlichen Struktur der Persönlichkeit, in den sozialen Bedingun- 
gen der Arbeit liegen, erfassen. Sie will also eine kulturell und geschichtlich abgeleitete 
Typologie treffen. Dieses Ziel ist zweifellos berechtigt. Wenn man an die Einseitig- 
keiten der Eignungspsychologie der vergangenen Jahre denkt, so verschlägt es nichts, 
wenn nun nach der entgegengesetzten Seite recht weit ausgeholt wird. Nicht ganz 
gerecht wird G. seinen Vorarbeitern, namentlich Kraepelin. Auch Kraepelin 
wollte ja die Leistung als Indicator der Persönlichkeit verstanden sehen. Wenn auch 
die psychologische Auswertung der Kraepelinschen Leistungskurven bisher nicht 
gelungen ist — was Kraepelin selbst mit seltenem Freimut neuerdings zugegeben hat —, 
so darf man doch nicht verkennen, daß in den Leistungskurven ein wertvolles Tat- 
sachenmaterial vorliegt, das seiner Auswertung noch harrt. Ebenso hat G. übersehen, 
daB Max Weber bereits 1908 in der „Psychophysik der industriellen Arbeit‘ es unter- 
nommen hat, die Bedeutung der Kraepelinschen abstrakten Leistungsprüfungen 
für die reale Arbeit zu untersuchen (vgl. auch dazu des Referenten 1922 im Arch. f. 
soz. Wiss. erschienene Arbeit). Der Sinn der Arbeitsprobe liegt also in ihrer Komplex- 
heit, in ihrer Unbestimmtheit in bezug auf die Einzelfunktionen. Das ist ein Gesichts- 
punkt, den übrigens schon Münsterberg mit Klarheit hervorgehoben hat. Münster- 
berg hat neben den Einzelfunktionsprüfungen die Prüfung nicht reduzierbarer Real- 
vorgänge aus dem Berufsleben durchaus anerkannt. Eine Voraussetzung für die 
Arbeitsprobe ist, daß sie sich an einem ‚„neutralen‘‘ Stoff vollziehe. Wenn der Stoff 
nicht neutral, sondern vorgeübt ist, spricht G. von Probearbeit. Die Unterscheidung 
ist zweckmäßig, nur werden viele von den Stoffen, die G. als neutral bezeichnet, wohl 
auch schon vorgeübt sein. Aber, wie dem auch sei, der Gedanke, eine komplexe Leistung 
nicht nur in bezug auf die Funktionen zu analysieren, sondern auch die arbeitende 
Persönlichkeit zu beobachten, ist in der Praxis der Eignungsprüfungen noch lange 
nicht genügend durchgedrungen, und es ist nur wünschenswert, wenn Männer der 
Theorie, die gleichzeitig die Praxis kennen, wie Poppelreuter und Giese auf die 
Bedeutung der Persönlichkeit hinweisen. In Rußland, wo man die physiologisch ge- 
richtete Psychotechnik hemmungslos übernahm, hat man eben erst schwere Mißerfolge 
gehabt, und auch in Deutschland hat man überall da, wo ernsthafte Arbeit geleistet 
wird, schon sehr stark zurückgesteckt. Eliasberg (München). 

Sehriever, Hans: Untersuchungen über den Einfluß der Wiederholung und Übung 
auf Testleistungen. (Psychol. Inst., Univ. München.) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 49, 
H. 3/4, S. 283—310. 1924. 

Die individuellen Differenzen, die in Testleistungen zum Ausdruck kommen, sieht 
Schriever mit R. Pauli und A. Argelander in der Art und Größe des durch Übung 
erworbenen Fortschrittes. Testprüfungen, insbesonders in der Form der fortlaufenden 
Arbeitsmethoden (Kraepelins Rechenversuche, Bourdonprobe, Buchstaben zählen, 
Perlen aufreihen u. ähnl.), haben bei Berufsberatungen, bei Eignungsprüfungen und 
in der klinischen Praxis nur dann einen Wert, wenn sie unter genauer Einhaltung 
der Bedingungen mehrmals wiederholt werden. Einer einmaligen Testprüfung darf 
man keinen allzu großen Wert beilegen; Sch. weist dies in seinen Versuchen nach 
und faßt die Ergebnisse seiner zahlreichen Berechnungen über die Größenzunahme 
der Testwerte unter dem Wiederholungs- und Übungseinfluß in einigen prägnanten 
Sätzen, Tabellen und Kurvendarstellungen zusammen. von Kuenburg (München). 

Hurlock, Elizabeth B.: The value of praise and reproof as incentives for ehildren. 
(Der Wert von Lob und Tadel als Mittel zum Ansporn für Kinder.) Arch. of 
psychol. Bd. 11, Nr. 71, 8.5—78. 1924. 

Die Tierpsychologie arbeitet schon lange mit Reizmitteln wie Lohn und Strafe 


— 220 — 


(Futter — elektrischer Schlag). Pädagogen haben sich nur langsam dazu bewogen gefühlt, 
die Wirkungen der verschiedenen Anregungen auf Kinder zu beobachten. Die Mittel, 
die in der Schule am häufigsten angewandt werden, sind Lob und Tadel. Erreichen 
beide in gleicher Weise das erwünschte Ziel? Sind sie gleichwertig? Zur Lösung dieser 
Fragen hat die Verf. Versuche an 3 Gruppen von Schulkindern angestellt ; alle 3 Gruppen 
hatten eine Reihe von Testaufgaben zu lösen; nach 8 Tagen wurde die 1. Gruppe durch 
einen ernsten Verweis über die schlechte Leistung zur Wiederholung der Aufgaben 
aufgefordert. Die 2. Gruppe hatte, durch anerkennende Worte über die Güte ihrer 
Leistungen ermutigt, die Aufgaben zu wiederholen; endlich die 3. Gruppe (control 
group) ohne irgendwelche Begleitworte. 79%, und 80% der gelobten und getadelten 
Kinder verbesserten ihre Leistungen, von der ‚control group“ dagegen nur 52°%%. Lobund 
Tadel sind als Ansporn von ungefähr gleicher Bedeutung. Ältere Kinder reagieren stärker 
auf Lob und Tadel als jüngere; Knaben stärker als Mädchen; Knaben mehr auf Tadel, 
Mädchen mehr auf Lob; begabtere Kinder werden durch Lob und Tadel mehr beein- 
flußt als minderbegabte; Negerkinder sind für Lob, weiße Kinder für Tadel enıpfind- 
samer. Zum Schluß beantworteten die Kinder 3 Fragen, aus denen hervorgeht, daß 
sie sich nach erhaltenem Lob oder Tadel mit erhöhter Anstrengung der Arbeit widmeten; 
sie meinten bei der Wiederholung bessere Leistungen erzielt zu haben; sie fühlten 
sich durch Lob mehr angeeifert als durch Tadel, und es schien, als habe die Ermutı- 
gung durch Lob eine länger anhaltende Wirkung als die Entmutigung durch 
Tadel. von Kuenburg (München). 


Genetische und vergleichende Psychologie : 


@oHildenbrandt, Kurt: Gedanken zur Rassenpsyehologie. (Kleine Sehrilten z. 
Seelenforsch. Hrsg. v. Arthur Kronfeld. H. 10.) Stuttgart: Julius Püttmann 1924. 
20 S. G.-M. 1.—. 

Der Verf. dieses Heftchens ist bekannt geworden durch seine fesselnden und 
bemerkenswerten Werke „Norm und Entartung des Menschen“ und ‚Norm und 
Verfall des Staates. Was er hier an kritischen Gedanken zu den Anschauungen 
Spenglers und zu den Ausführungen Günthers, überhaupt zu den Grundfragen 
der Rassenkunde und Rassenpolitik beiträgt, verdient in hohem Maße Beachtung. 
Hildenbrandt gehört jedenfalls zu den wenigen Deutschen, die in die Rassenfrage 
tiefer eingedrungen sind und Eigenes dazu zu sagen haben. — Eine eingehende Be- 
sprechung des an sich nur 20 Seiten umfassenden Heftchens erscheint nicht tunlich; 
es sei dafür der Lektüre (vor allem der „Geisteswissenschaftler‘‘) angelegentlich 
empfohlen! Scheidt (Hamburg). 

Hoyer, Arnulf, und Galina Hoyer: Über die Lallsprache eines Kindes. Zeitschr. 
f. angew. Psychol. Bd. 24, H. 5/6, S. 363—384. 1924. 

Die Lautäußerungen des beobachteten Kindes sind ein sehr offenes a bei starken 
Schmerzen und ein sich periodisch zu u verengerndes a (Nana). Im 2. Monat be- 
ginnt eine weitere Differenzierung der Schreie je nach den auslösenden Ursachen. In 
ruhiger Gemütslage treten in dieser Zeit Laute mit geringer Bewegung der Artikula- 
tionsorgane auf. Mit Beginn des 6. Monats findet man Verengerungen des Ansatz- 
rohres bis zum Verschluß (p, b, g, m). Erst mit Auftreten dieser Konsonanten läßt der 
Autor die Periode der Lallsilben beginnen. Diese Periode fängt mit monotonen 
Wiederholungen einer Silbe an. Bald aber tritt, z. B. bei zweisilbigen Reihen, eine Be- 
tonung der ersten Silbe auf, viel seltener der zweiten. Gegen Ende des 7. Monats treten 
verschiedene Silben zu rhythmischen Einheiten zusammen, wobei die „Phrase in der 
Regel die Variation eines Themas“ ist. Ende des 10. Monats beginnen Phrasen, deren 
Elemente keine rhythmische Einheit mehr bilden, „Lallmonologe im engeren Sinne”. 
Jedes neue Glied der Phrase ist eine Variation des früheren, wobei noch etwas Neues 
hinzugefügt wird (z. B. aba, baba, br). Der Drang zur Veränderung führt weiter zum 
Auftreten von Rhythmus und Akzent, wodurch einzelne Teile als zweisilbige ‚Wörter‘ 





— 221 — 


hervortreten. In diese Lallmonologe dringen immer mehr Lautkomplexe aus der Rede 
der Erwachsenen. Ende des 14. Monats reproduziert das Kind in den Monologen 
schon Worte aus seinem Wortschatze (tete, wawa usw. = Tante, Hund). Die Monologe 
werden nun seltener und verschwinden. Eine Reaktion auf die Sprachlaute (nicht 
Mimik) der Umgebung besteht erst Ende der 4. Woche. Das Wiegenlied wirkt be- 
ruhigend. Schon am 7. Tage lächelt das Kind bei mäßigem Lustgefühle. Ende des 
9. Monats antwortet es auf Anlächeln oder Anrede mit Lächeln (es entsteht so eine 
assoziatorische Verbindung zwischen Lächeln und Sprachlaute). Bald verbindet das 
Kind das Lächeln mit dem Hervorstoßen von Lauten. Im 3. bis 5. Monat besteht die 
Reaktion schon in lautem Lachen und häufigeren lauten Sprachlauten. Sagt man dem 
Kind im 3. Monat Laute, die es selbst hervorgebracht hat, vor, so ahmt es sie adäquat 
nach. Diese Nachahmung hört aber im 7. Monat auf. Im 9. Monat gibt sich das Kind 
Mühe, vorgesagte Laute nachzuahmen, es gelingt ihm nur bei solchen, die es an den 
betreffenden oder den vorangehenden Tagen spontan oft gebraucht hat. Ende des 
11. Monats werden die Nachahmungen häufiger und besser (für Katze — ka, für Papa 
— täta). Es hat auch schon Sprachverständnis und sprüht spontan Worte. (Im 
14. Monat beträgt der Wortschatz 143 verstandene und 40 gebrauchte Worte.) Am 
besten gibt das Kind die Intonation und die Vokale wieder. Die Zischlaute werden 
meist als t wiedergegeben, r und l als i. Unbetonte Silben werden meist weggelassen. 
Die Sprache der Erwachsenen wird also vom Kinde verarbeitet und es „entstehen 
in lautlicher Hinsicht Verbindungen, die der Struktur der Lallmonologe genau ent- 
sprechen‘. Auf die Lallmonologe dürfte die Sprache aber keinen wesentlichen Einfluß 
haben. Als Ausdrucksmittel für Gefühle werden Laute zum ersten Male Ende des 
5. Monats gebraucht (g freudig, ma bei gewissen Unlustgefühlen und mit anderer 
Intonation für leichte Lustgefühle). Im 6. Monat drückt das Kind schon verschiedene 
Gefühle durch Laute und Gebärden aus. Im Vordergrunde stehen Gebärde und ver- 
schiedene Intonation der Laute, die Zahl der verwendeten Laute aber ist gering. 
Fröschels (Wien). 

Mott, Frederiek: The psychology of adoleseenee. (Psychologie der Jugendlichen.) 

Journ. of mental science Bd. 70, Nr. 289, S. 199—208. 1924. 


Referat über das Erleben und Verhalten der Jugendlichen, die Bedeutung des Erwachens 
des Geschlechtslebens. Die Differenzen dieser Entwickl bei beiden Geschlechtern werden 
besonders betont. Keine neuen Gesichtspunkte. rwin Straus (Charlottenburg)., 


Psychopathologie und Psychiatrie: 


© Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Für Studierende, Ärzte und Psycho- 
logen. 3. verm. u. verb. Aufl. Berlin: Julius Springer 1923. XV, 4588. Geb. G.-M. 14.—. 

Die Jasperssche Allgemeine Psychopathologie liegt nunmehr in 3. Auflage vor. 
Die Bedeutung des Buches besteht vor allem darin, daß es im Gegensatz zur klinischen 
Psychiatrie das pathologische Geschehen vom psychologischen Standpunkt aus schil- 
dert auf der Basis moderner psychologischer Grundlagen. Ein besonderer Vorzug 
des Buches ist die begriffliche Schärfe, mit der in manche Probleme des Gebietes erst 
die genügende Klarheit gebracht, vielfach erst die Problemstellung in richtiger Weise 
ermöglicht wird. Das Buch bietet auch ganz besonders für denjenigen Interesse, der, 
ohne weiter in die klinische Psychiatrie einzudringen, sich über die Probleme des 
krankhaften psychischen Geschehens orientieren will. In die neue Auflage ist vieles 
aufgenommen worden, was inzwischen auf dem Gebiete gearbeitet worden ist. Eine 
fast völlige Neugestaltung hat das Kapitel über Ausdruckpsychologie erfahren. Hier 
wird u. a. die Physionomik, die Mimik, die Graphologie, die literarischen und künst- 
lerischen Produkte Kranker behandelt. Hier setzt sich der Verf. auch mit den Arbeiten 
Kretschmers über Konstitution auseinander, denen er im wesentlichen ablehnend 
gegenübersteht, wenn er auch die Anregung, die von diesen Untersuchungen ausgeht, 
nicht gering einschätzt. Kramer (Berlin). 


— 222 — 


Storeh, Alfred: Der Entwieklungsgedanke in der Psyehopathologie. Auto- und 
phylogenetische Untersuehungen zum Ausbau seelischer Krankheitszustände. Ergebn. 
d. inn. Med. u. Kinderheilk. Bd. 26, S. 774—825. 1924. 


Die Untersuchung Storchs gibt einen Überblick über die Art und Weise, wie aus 
sehr verschiedenen wissenschaftlichen Bedürfnissen heraus und auf sehr verschiedene 
Fragestellungen bezogen der Gesichtspunkt der Entwicklung im letzten Jahrzehnt 
insbesondere in der Psychopathologie an Bedeutung gewonnen hat. Das Herantragen 
desselben an Gegenstände der Psychopathologie wird vom Verf. zutreffend als ein 
Anzeichen dafür angesehen, daß der Periode eines wesentlich zerlegenden Charakters 
der Fragestellungen nun eine solche des Fragens nach Zusammengehörigkeit und 
Bezügen von größerer Allgemeinheit gefolgt ist. Die Umstellung vollzog sich einerseits 
durch das Heranbringen ontogenetischer und phylogenetischer Gesichtspunkte an 
die Entwicklung des Menschen im Kindesalter und zwar sowohl an die Fragen der 
Motorik wie an diejenigen der Intelligenz; die Strukturpsychologie ruht in wesentlichen 
Teilen auf diesem Prinzip. Zum zweiten war es die Lehre vom Ganzen und von den 
Ganzheiten im allerweitesten Sinne, die eine Abkehr von der Vorherrschaft des analy- 
tischen Vorgehens bedeutete und den Gesichtspunkt des Aufbaus schon wesentlich 
in sich trug. Die Anwendung des Aufbauprinzips auf die menschliche Persönlichkeit 
wird verfolgt im Gebiete der Konstitutionsbiologie, der an den neuropsychischen Apparat 
gebundenen seelischen Leistungen, des archäisch-primitiven phylogenetisch präfor- 
mierten Erscheinungskreises und des ontogenetischen Entwicklungsverlaufes. In 
einem besonderen Abschnitte wird der Versuch gemacht, das genetische Prinzip auch 
auf Psychopathien, Neurosen und Psychosen, insbesondere die Schizophrenie. anzu- 
wenden. Die Arbeit stellt einen sehr wertvollen Versuch dar, zu zeigen, wie weit in 
der bisherigen Forschung der Entwicklungsgedanke trägt und zu welchen Fragen er 
innere Beziehungen hat. Aber die äußerste Durchführung desselben trägt infolge 
der ganz besonders großen Anziehungskraft, die der Entwicklungsgedanke in der 
Geistesgeschichte der Menschheit in gewissen Zeiträumen immer wieder entfaltet hat, 
die Gefahr der Überspannung in sich, und die Gefahr der Gleichsetzung der verschieden- 
sten Verläufe, welche Ausgestaltungen sind, mit der Entwicklung im Sinne der Natur- 
wissenschaft. Hierüber hat Th. Haering d J. in d. Fortschr. d. Medizin 1922 eine 
interessante Untersuchung veröffentlicht. Homburger (Heidelberg). 


Geistige Dejektzustände: 

Talbot, Fritz B.: Studies in growth. III. Growth of untreated mongolien idiots. 
(Studien über Wachstum. III. Wachstum bei unbehandelten mongoloiden Idioten.) 
(Children’s med. dep., Massachusetts gen. hosp., Boston.) Americ. journ. of dis. of childr. 
Bd. 28, Nr. 2, S. 152—157. 1924. 


Die Körpergröße ist im 1. Lebensjahr annähernd normal. Dann zeigt sich eine 
Neigung. im Wachstum zurückzubleiben. Rachitis, die bei Mongoloiden häufig ist, 
ist nicht die einzige Ursache. Das Zurückbleiben im Wachstum ist nicht so hochgradig 
wie bei Kretinismus. Das Körpergewicht entspricht annähernd der Körpergröße, 
trotzdem der Ernährungszustand häufig mangelhaft ist. Ausgleichend wirkt die größere 
Fettanhäufung im Nacken, im oberen Teil des Rückens, an Hand- und Fußrücken. 
Mit dem Schwinden dieser Fettmassen nach Schilddrüsenbehandlung wird das Miß- 
verhältnis zwischen Größe und Gewicht deutlicher. Während man im allgemeinen 
den Eindruck hat, daß der Rumpf bei Mongoloiden größer ist als bei Normalen, ergeben 
Messungen häufig keine Bestätigung dafür. Der Schädelumfang ist infolge der Ab- 
flachung des Hinterhaupts oft etwas unter dem Durchschnitt. Der Brustumfang ist 
meist kleiner als normal, der Bauch hingegen ragt oft über die Ebene der Brust hervor. 
Die größten Abweichungen findet man bei den Extremitäten. Arme, Beine und Füße 
sind kürzer als bei Normalen, aber nicht so kurz wie bei Kretinen. Wenn man nach 


— 223 — 


Behandlung mit Schilddrüse mehr dem Normalen sich nähernde Maße findet, dann 
kann man daraus folgern, daß die Behandlung das Wachstum beeinflußt hat. 
Campbell (Dresden)., 
Thomas, E., und E. Delhougne: Sehilddrüsenbefunde bei Mongolismus. (Univ.- 
Kinderklin., Köln.) Monatsschr. f. Kinderheilk. Bd. 28, H.6, S. 519—522. 1924. 
Thomas und Delhougne haben zum ersten Male bei Schilddrüsen von drei 
Mongoloiden im Alter von 3!/ Monaten, 8!/, Monaten und 1?/, Jahren den Jodgehalt 
bestimmt und ihn völlig normal gefunden. Histologisch boten die 3 Fälle ebenfalls 
normalen Befund. Die Divergenz zwischen normalem Jodgehalt und geringem Kolloid- 
befund erklärt sich dadurch, daß das Jod nicht an Kolloid gebunden zu sein braucht. 
Bei zwei von den Kindern waren rückständige Verknöcherung des Schädels, sowie 
sonstige ‚„hypothyreotische‘‘ Zeichen nachweisbar. E. Herzog (Heidelberg)., 


Bianehi, Leonardo: Contributo alla conoscenza della mieroeelalia. (Beitrag zur 


Kenntnis der Mikrocephalie.) Neurologica Jg. 41, Nr. 3, S. 131—140. 1924. 

Verf. hat die Gehirne von 2 mikrocephalen Idioten, Bruder und Schwester, untersucht. 
Das Gehirn (nur die Hemisphären) des mit 24 Jahren gestorbenen Bruders wog 184 g und ist 
vom Verf. früher schon beschrieben worden. Das Gesamthirn der Schwester, die mit 30 Jahren 
starb, wog 280 g. Dieses Hirn zeichnete sich durch große Einfachheit der Windungen und durch 
das Fehlen der Übergangswindungen aus. Die mediale Seite der beiden Hemisphären wies 
einen niedrigeren Windungstypus auf, ähnlich dem beim Schaf. Die außerordentliche Kleinheit 
des Schläfenlappens, die Kürze und Neigung der Fissura Sylvii erinnerte an die Bildung beim 
Affen. Vor allem deutete die Verschmelzung der unteren Schläfenwindung mit dem Hippo- 
campus aufein Zurückbleiben in der Entwicklung hin. Weiter fiel auf, daß nur 2 Stirnwindungen 
vorhanden waren (auch beim Gehirn des Bruders). Das Fehlen der 3. Stirnwindung teilen die 
beiden Hirne mit dem Hirn von Makakus und Zerkopithecus. Verf. glaubt, diesen Befund als 
atavistisch deuten zu müssen, für einen pathologischen Prozeß hat er keine Anzeichen finder 
können. Ganter (Wormditt)., 


Normale Pädagogik: 

© Wagner, Julius: Pädagogische Wertlehre. Untersuehungen und Betraehtungen 
zur Lehre vom pädagogisehen Wert als Grundlage der Kulturpädagogik. (Pädagog. 
Monogr. Hrsg. v. G. Deuchler u. A. Fischer. Bd. 23.) Leipzig u. München: Otto Nemnich 
1924. X, 1778. G.-M.6.—. 

Das pädagogische Wertproblem wird von der „kulturpädagogischen Einstellung‘ 
des Verf. aus beleuchtet. Die allgemeinste Aufgabe der Erziehung ist die „Für- 
sorge für Erhaltung und Mehrung der Kultur“, wobei Kultur die Erhebung des 
Menschen über den Naturzustand und Erziehen die Anwendung von Mitteln auf den 
Einzelmenschen bedeutet, um ihn auf die Kulturstufe seiner Volksgemeinschaft zu 
stellen. Das Ziel der Betrachtungen soll eine Architektur der pädagogischen Zwecke 
sein, die alle Werte der Kultur umfaßt. In einzelnen Kapiteln werden behandelt das 
Verhältnis von Kultur und Erziehung, von Wertbegriff und Kulturbegriff, von Wert- 
theorie und Teleologie der Erziehung, ferner die Bedeutung des Wertbegriffes im 
Gegensatz zu dem pädagogischen Naturalismus und die Stellung des Wertgedankens 
in den verschiedenen Systemen der pädagogischen Wissenschaft. Auf eine Geschichte 
der Wertlehre in ihrer Beziehung zur Pädagogik folgt eine systematische Analyse des 
Wertbegriffs. Im Wert liegt eine subjektive Bezogenheit zwischen Wert fällendem 
Subjekt und gewertetem Objekt vor, die auf Grund einer Gefühlswirkung des Gegen- 
standes auf die urteilende Person zustande kommt. Die Anwendung dieser allge- 
meinen Werttheorie auf die pädagogischen Werte führt zu dem Problem der Allgemein- 
gültigkeit der Pädagogik. Als allgemeingültige Sätze der kulturpädagogischen Axio- 
logie werden hingestellt: 1. das Prinzip der Wertsteigerung; 2. die Vollkommenheit 
des teleologischen Zusammenhangs (Dilthey); 3. der Universalismus der Werte; 
4. die Einheitlichkeit der Zwecke. Der Geltungsbereich der pädagogischen Werte ist 
eingeschränkt durch die Individualität des Zöglings, den individuellen Bildungswert 
der Güter und durch die Lehrerpersönlichkeit. Der pädagogische Wert wird sodann 


— 224 — 


als Bedürfniswert in seiner verschiedenen Bedingtheit behandelt, woraus sich eine 
Gegenüberstellung von Bildungsgut und Kulturgut und eine Darstellung des Bildungs- 


prozesses im Lichte der pädagogischen Wertlehre ergibt. 4 Stufen des Bildungs- k 


prozesses werden unterschieden, denen 4 Prinzipien seiner Gestaltung entsprechen. 
Die 6 einzelnen Wertgebiete des Religiösen, Sittlichen, Wahren, Schönen, Nützlichen 
oder Praktischen und Angenehmen, die also eine etwas andere Teilung als Sprangers 
Grundtypen darstellen und sich von diesen besonders durch den Begriff des Hedonischen 
und die Sonderstellung des Sittlichen unterscheiden, werden auf ihre pädagogische 
Bedeutung untersucht. Sie dürfen im pädagogischen System nicht als wirres Aggregat, 
sondern nur als wohlgeordnetes Ganzes auftreten. Um zu einer solchen Zusammenfassung 
der in sich abgeschlossenen und unvergleichbaren Werte zu gelangen, gibt es nur die 
Möglichkeit der Unterordnung unter einen an sich wertfreien Begriff, wie ihn der Verf. 
in der Kulturpädagogik erblickt. Auf Grund einer werttheoretischen Analyse des 
pädagogischen Denkens der Gegenwart wird die Leistung der Kulturpädagogik für 
das Wertproblem beschrieben. Sie faßt die individuelle und soziale Erziehungsnorm 
zusammen, alle positiven Bestrebungen der Gegenwart ordnen sich ihr unter, die Ex- 
treme der Individualpädagogik und Sozialpädagogik werden ausgeschaltet, während 
Persönlichkeitspädagogik, staatsbürgerliche Erziehung, Arbeitsschulpädagogik, Moral- 
pädagogik, Einheitsschule, Nationalerziehung in der Synthese der Kulturpädagogik 
wohl aufgehoben sind. Es will dem Referenten allerdings scheinen, als ob die neue 
Wertordnung schließlich doch nicht mit der wünschenswerten Klarheit und Schärfe 
herausgearbeitet ist. Weniger (Göttingen). 

Sehlemmer, Hans: Die Problematik der Gegenwartspädagogik und die Jugend- 
bewegung. Dtsch. Schule Jg. 28, H. 1/2, S. 17—22. 1924. 

Die Bedeutung der Jugendbewegung für die Pädagogik ist in letzter Zeit häufig 
erörtert, man hat wohl auch von dem „Einbruch der Jugendbewegung in die Päda- 
gogik“ als einer hoffnungsreichen Tatsache gesprochen. Auch Schlemmer will der 
Jugendbewegung eine entscheidende Rolle zuweisen. Die Grundtendenz der Jugend- 
bewegung sieht er in der Forderung, daß die Jugend künftighin nicht nur Objekt. 
sondern auch Subjekt der Pädagogik sein solle. Im Wesen der Jugendbewegung könnte. 
trotz einiger Gegensätze, die Lösung liegen für manche schwer empfundene Proble- 
matik der Pädagogik. Das sucht Schl. an dem Problem der Natur, dem der Geschichte 
und dem der Gemeinschaft nachzuweisen. Den Versuchen der Reformpädagogik. 
— L. E. H., Produktionsschule, Erlebnis-, Aufbau- und Berufsschule, Berthold Otto- 
und sozialistische Gemeinschaftsschule — die als einseitig abzulehnen sind, werden die 
Errungenschaften der Jugendbewegung als brauchbare Lösungen entgegengesetzt. 
Gerade dem, der selbst in der Jugendbewegung steht, werden diese Aufstellungen 
Schl.s doch sehr fragwürdig vorkommen. So einfach liegen die Dinge nicht. Weder 
die Problematik der Wissenschaft, noch die des Historismus, vollends nicht die heil- 
lose Schwierigkeit der Maschine ist von der Jugendbewegung irgendwie aufgelöst. 
Wer im Geiste der Jugendbewegung in Schule und Erziehung arbeiten will, wird sich 
ganz schlicht und sachlich in den großen Zusammenhang der pädagogischen Reform- 
bewegung einstellen müssen. Jedenfalls kann man nicht die pädagogische Bedeutung 
der Jugendbewegung darin sehen, daß sie das Entweder-Oder in ein Sowohl-Als-auch 
verwandelt, vielmehr gehen die großen Gegensätze des pädagogischen Lebens auch 
durch die Jugendbewegung und zwingen hier wie dort zur Entscheidung. — Wertvoll 
ist der Hinweis auf das lebendige Interesse der bewegten Jugend für die Kinderwelt, 
das in der Tat neue Möglichkeiten pädagogischer Bewährung und der Auslese für den 
Beruf des Jugendführers zu bieten scheint. Weniger (Göttingen). 

@ Stern, H.: Psyehologie des Religionsunterriehts mit besonderer Berücksieh- 
tigung des jüdischen. Mit einem Vorwort v. L. Baeck. Berlin: Philo-Verl. G. m. b. H. 
1924. 538. G.-M. 1.50. 

Daß es sich in dem Büchlein um den jüdischen Religionsunterricht handelt, 


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— 2235 — 


wirkt sich nur in einigen Betrachtungen über den Lehrstoff aus, die psychologische 
Seite des Problems wird davon nicht berührt, also etwa die Frage nach dem spezi- 
fischen Verhalten der jüdischen Schüler, ihrem religiösen Milieu und ihrer besonderen 
Mentalität. Der Ausgang ist derselbe wie in der Literatur der anderen Konfessionen: 
der rapide Zerfall der Religiosität wird zum nicht geringsten Teil dem unpsychologischen 
Religionsunterricht zugeschrieben. Im Mittelpunkt des Unterrichtes hat nicht der 
Stoff, sondern der Mensch zu stehen und die Aufgabe ist, das objektive zu subjekti- 
vieren, das allgemeine zu individualisieren. Der Verf. stellt dabei ausdrücklich fest, 
daß durch solche psychologisch-pädagogische Aufgabe des Religionsunterrichtes die 
Religion selbst nicht berührt wird. Für „die Erweckung und Gestaltung religiös- 
sittlichen Lebens‘‘ wird ausgegangen von der ‚„‚grundlegenden‘‘ Einsicht, daß Religion 
und Sittlichkeit voneinander trennbar sind und die religiöse Funktion dabei das Ur- 
sprünglichere sei. Das Hauptstück der Abhandlung gibt dann in 2 Kapiteln die Ent- 
wicklungsstufen des religiösen und sittlichen Lebens. Lehrreich besonders die Dar- 
stellung des letzteren, wofür der Verfasser auch eigene Untersuchungen an 450 Katto- 
witzer Volksschulabiturienten angestellt hat. ‚Als Hauptergebnis darf man die Er- 
kenntnis festhalten, daß unsere Schüler ein sittliches Bewußtsein zu einer Zeit, wo 
man es ihnen gemeinhin zuspricht, in Wirklichkeit noch nicht haben.“ Auch ihm 
scheint dieses Resultat eine Verschiebung der Strafmündigkeit mindestens auf das 
15. Jahr zu bedingen. Interessant auch bei ihm die Feststellung, daß für die Ideal- 
bildung der Religionsunterricht zur Zeit von wesentlich geringerem Einfluß ist als der 
teschichtsunterricht. In Kattowitz stellte die Geschichte fast die Hälfte der Ideale, 
der Religionsunterricht nur etwa 15%. Die Frage, ob für die Entwicklung der Re- 
ligiosität die Einsicht oder das Gefühl entscheidend sei, will Stern individual- 
psychologisch behandelt haben und sieht darin überhaupt die erste Lehre der 
Psychologie für den Religionsunterricht, daß er individualisiert werden muß. 
Nohl (Göttingen). 

Richtlinien für den sexualpädagogisehen Unterricht an den Volksschulen der 
Stadt Hannover. Mitt. d. dtsch. Ges. z. Bekämpf. d. Geschlechtskrankh. Bd. 22, Nr. 2, 
S. 14—15. 1924. | 

In Hannover hat ein Ausschuß, zusammengesetzt aus Mitgliedern der Deutschen 
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, der städtischen Schul- 
verwaltung und des Kreislehrerrates, im Anschluß an einen sexualpädagogischen Lehr- 
gang für Volksschullehrer und -lehrerinnen Richtlinien zur Verankerung des sexual- 
pädagogischen Unterrichts in dem allgemeinen Lehrplan ausgearbeitet, die die Annahme 
des städtischen Schulamts gefunden haben. Als die Grundlagen der sexuellen Erziehung 
werden die ethische Gesamterziehung (Willensbildung) und die biologische Belehrung 
bezeichnet. Nicht als besonderes Fach, sondern im Rahmen der ethischen, religiösen 
und naturwissenschaftlichen Fächer ist Sexualerziehung zu betreiben. Unbedingte 
Eignung des Lehrenden ist Vorbedingung. Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule 
in persönlichen Besprechungen, durch Elternversammlungen, durch die Institution 
von Elternbeiräten ist erforderlich. Im 1. bis 4. Schuljahr soll in Erörterung der Be- 
ziehungen zwischen Mutter und Kind Ehrfurcht vor dem Vorgange werdenden Leben, 
erweckt werden. Im 5. bis 8. Schuljahr sollen Belehrungen über Zeugungsvorgangs 
Gefahren, Verirrungen vor allem im Rahmen des biologischen Unterrichts erfolgen. 
Im ethisch-religiösen Unterricht der Oberstufe Hervorhebung der sittlichen Freiheit 
des Menschen, Triebleben und Selbstbeherrschung, Triebleben und Gemeinschafts- 
leben, Triebleben und Lebensgestaltung. Gefährdete und frühreife Kinder sollen außer- 
halb des Unterrichts nach eingehender Besprechung mit den Eltern vom Lehrer zur 
Aussprache veranlaßt werden. Am Schluß der Schulzeit nochmals eindringliche War- 
nung vor den Folgen der Geschlechtskrankheiten. Ziel der Schule muß sein, kein Kind 
mehr ohne das ethische und stoffliche Rüstzeug zu reiner Lebensgestaltung zu entlassen. 


Martin Gumpert (Berlin). 
Zeitschrift für Kinderforschung. 80, Ref. 15 


— 226 — 


Heijermans, Ida: Die sexuelle Aufklärung unserer Mädchen. Sex. hyg. Bd. 3, 
H. 2, S. 102—110. 1923. (Holländisch.) 

Betont unter Anführung einiger Beispiele die ausschlaggebende Bedeutung des 
elterlichen Vorbildes. Genügt dieses den Ansprüchen, so ist die ganze Schwierigkeit 
und auch Notwendigkeit der sexuellen Aufklärung behoben. Rudolf Allers. 


Heagerty, J. J.: Relative value of sex edueation. (Relativer Wert der geschlecht- 
lichen Erziehung.) Public health journ. Bd. 15, Nr. 6, S. 258—262. 1924. 

Wichtiger als die Vermittlung von Wissen in geschlechtlichen Dingen ist die häus- 
liche Erziehung und das Beispiel der Eltern. Erst in der Zeit vom 12. bis 14. Jahr 
werden Belehrungen nötig. Diese gehen am besten vom Vater aus. Wo aber kein rich- 
tiges Verhältnis von Vater und Sohn ist, muß ein Lecturer eintreten, doch gibt es wenige. 
die die dazu nötigen Eigenschaften haben. Verf. schildert nun sein Verfahren in den 
öffentlichen Vorträgen, die er in verschiedenen Städten gehalten hat. Lotte Nohl. 


Maeder, Alfonso: Psyeho-analysis and pedagogy. (Psychoanalyse und Pädagogik.) 
Journ. of sexol. a. psychanal. Bd. 1, Nr. 4, S. 364—373. 1923. 

Die Psychoanalyse vermag das Verständnis für die Beziehungen zwischen Lehrern 
und Schülern zu vertiefen. Der Lehrer repräsentiert für den Schüler ebenso wie der 
Vater die Autorität, das Vorbild, das Ideal. Bei negativer Einstellung sieht das Kind 
im Vater und im Lehrer den Tyrannen und Feind und reagiert darauf mit passiver 
Resistenz. Dadurch werden auch die Leistungen in der Schule ungünstig beeinflußt 
und man gewinnt eine falsche Vorstellung von der Begabung des Schülers. Ein ähn- 
liches Ergebnis tritt bei negativer Einstellung des Lehrers ein, wenn er sich selbst 
nicht als Vorbild und Führer, sondern als Tyrann und Gegner der Kinder fühlt. 

Campbell (Dresden). 


© Cibarelli, Francesco: Pedagogia e psicoanalisi. Con una prefazione di Levi Bian- 
ehini. (Biblioteca psieoanalitiea italiana Nr. 10.) (Kindererziehung und Psychoanalyse. 
Mit einer Vorrede von Levi Bianchini.) Teramo: Libreria psicoanalitica italiana 1924. 
138 S. Lire 10.—. 

Die ersten Teile enthalten eine kurze Darlegung der hauptsächlichen Lehren 
Freuds, wie es scheint: nur auf Grund der unvollständigen italienischen Übersetzungen, 
und eine Kritik derselben. Dabei geht es nicht ohne innere Widersprüche ab: Während 
ım 1. Teil richtig Freuds Definition, was er unter Sexualität verstehe, wiedergegeben 
ist, etwa entsprechend Platons Eros, polemisiert Cibarelli im 2. Teil gegen Freuds 
angebliche Behauptung vom Pansexualismus, da nunmehr Sexualität im üblichen Sinne 
genommen wird. Im übrigen aber ist die Wiedergabe der Theorien richtig, C.’s Ein- 
stellung zu ihnen wohlwollend. — Recht dürftig ist der 3. Teil, der sich mit der Bedeu- 
tung der Psychoanalyse für die Erziehung befaßt: Es wird die Forderung nach einer 
analytischen Erziehung erhoben, deren Definition ist: „Eine Erziehungsmethod.. 
die, basierend auf dem Wissen, daß die unbewußten Kräfte die Ursache der Neurosen 
und Psychosen sind, sie in den Dienst der moralischen Persönlichkeit stellt“. An 
praktischen Ratschlägen aber hören wir: Die richtige Auswahl der Erzieher, die Not- 
wendigkeit sexueller Aufklärung und die Forderung freiwilliger Keuschheit, also lauter 
Dinge, die auch viele Nicht-Analytiker — und in besseren Darlegungen — für nötig 
halten und von denen Analytiker (z. B. ın betreff Keuschheit) anderer Meinung sein 
können. Man hat den Eindruck, daß die Schrift — wenigstens für Deutschland - 
20 Jahre zu spät kommt. Auch ist die ganze neuere Literatur unberücksichtigt ge- 
blieben. Warum unter diesen Umständen diese „psychoanalytische Erziehung‘“ nicht 
für alle Fälle passend sein soll, bleibt unklar. (Bei Zulliger und Pfister hat die ent- 
sprechende Behauptung Sinn, da es sich bei diesen wirklich um eine psychoanalytısche 
Heilpädagogie handelt.) Wer sich über das einschlägige Gebiet orientieren will, wird 
daher besser sich an die Schweizer Autoren oder Hug-Helmuth, Bernfeld und 
Aichhorn halten. Karl Landauer (Frankfurt a. M.). 


— 227 — 


Heilpädagogik und Anomalen- Fürsorge: 
Schwachsinn, geistige und seelische (Gefühls- und Willens-) Anomalien: 


Ciampi, Lafranco: Die psyehiatrische Klinik für Kinder. Clin. psicopedagög. 
Jg. 2, Nr. 3/4, S. 22—27. 1924. (Spanisch.) 

Die vorliegende Arbeit stellt eine Eingabe dar, die Verf. an den Dekan der medi- 
zinischen Fakultät in Rosario (Argentinien) macht. Er setzt hierin die Notwendigkeit 
auseinander, neben dem Ambulatorium für abnorme Kinder auch eine stationäre 
Abteilung einzurichten; diese sei vor allem für die Erfordernisse des Unterrichts not- 
wendig, da in dem Ambulatorium nur leichtere Fälle behandelt werden und infolge- 
dessen die schweren psychischen Erkrankungen im Kindesalter dem Unterricht fehlten. 
Das Ambulatorium ist nach der Beschreibung des Verfassers als Tagesheim einge- 
richtet, in welchem die Kinder von morgens bis nachmittags um 5 Uhr verbleiben, 
dort in heilpädagogischer Weise behandelt und unterrichtet würden. Das Ambula- 
torium habe den Vorzug, daß auf der einen Seite den Eltern, die der Aufgabe nicht 
gewachsen wären, eine Erziehung ihrer Kinder nach heilpädagogischen Grundsätzen 
zuteil werde, andererseits die Kinder nicht ganz der Häuslichkeit entzogen würden, 
und ferner an Kosten gegenüber der stationären Behandlung gespart würde. Aber für 
die schwereren Fälle reicht dies eben nicht aus, während bei der externen Behandlung 
die ärztliche Behandlung in erster Reihe in Frage kommt. Verf. entwickelt noch einen 
genaueren Organisationsplan für die Anlage der klinischen Abteilung, die zweckmäßig 
auf demselben Gelände wie die psychiatrische Klinik anzulegen, aber von dieser zu 
trennen sei. Kramer (Berlin). 

Die psyehopädagogische Klinik der medizinischen Fakultät von Rosario. Clin. 
psicopedagög. Jg. 2, Nr. 2, S. 38. 1924. (Spanisch.) 

Die an die medizinische Fakultät angeschlossene psychiatrische Kinderklinik hat Platz 
für 20 Kinder. Eine Erweiterung wäre erwünscht, da nicht allen Aufnahmegesuchen statt- 


gegeben werden kann. In der Klinik werden auch Kinder mit Sprachfehlern behandelt, und 
zwar 3mal wöchentlich am Nachmittag. Ganter (Wormditt). 


Hoven: Le dépistage précoce des anormaux. (Frühzeitige ,Aufspürung“ der 
Abnormen.) Arch. med. belges Jg. 77, Nr. 9, S. 749—767. 1924. 

Populärer Vortrag in der Versammlung eines belgischen Hebammenvereins über die frühe 
Erkennung des jugendlichen Schwachsinns, der Psychopathien und der Epilepsie, die Not- 
wendigkeit heilpädagogischer Beratungsstellen und der Einrichtung von Hilfsschulen. Soziale 
und persönliche Prophylaxe sind auf diese Maßnahmen zu gründen, die auch von ärztlicher 
Seite in Belgien vielfach in ihrer Bedeutung noch verkannt würden. Homburger (Heidelberg). 

Albertini, A.: L’assistenza medico-pedagogiea dei faneiulli anormali nella seuola 
„2. Treves“ di Milano. (Die heilpädagogische Hilfe für die anormalen Kinder in der 
Schule „Z. Treves“ in Mailand.) Infanzia anorm. Jg. 17, Nr. 4, 8.76—81. 1924. 

Vgl. diese Zeitschr. 30, 51. Die Kinder erhalten entsprechend ihrer Fähigkeit 
in kleinen Gruppen Unterricht in weiblichen Handarbeiten, in Hauswirtschaft (Eıin- 
kaufen, Kochen, Waschen, Ausbessern) und in Holzarbeit. Die sprachkranken Kinder 
finden besondere Pflege. Alle Lehrer müssen die Technik der Sprachpflege beherrschen 
und täglich üben nach den Weisungen, die sie von dem Spezialisten empfangen haben, 
der wöchentlich einmal kommt, um die Behandlung zu überwachen. NohAl (Berlin). 

Mundie, G. S., and Baruch Silverman: The ehild guidance elinie for vocational 
and edueational guidanee and the prevention of mental disease and juvenile delinqueney. 
(Die heilpädagogische Klinik für sprachliche Gebrechen und für Erziehung und die 
Verhütung von Geisteskranken und Kriminalität der Jugendlichen). Public health 
journ. Bd. 15, Nr. 10, S. 441—451. 1924. 

Verff. berichten über Arbeit und Erfolge einer heilpädagogischen Kinderklinik, 
die im März 1923 ın den Räumen des Komitees für geistige Hygiene in Montreal er- 
richtet wurde. Die Sprechstunden werden an zwei Vormittagen der Woche abgehalten, 
aber die Räume bleiben täglich geöffnet, um eingehendere Beobachtung einzelner 
Fälle zu ermöglichen. Das Personal besteht aus einem medizinischen Direktor, einem 


Lo” 


— 228 — 


Psychiater, einem klinischen Aufseher und einem Sekretär. Die eingebrachten Kinder 
im Alter von 6—20 Jahren werden nach genauen Erhebungen der Vorgeschichte erst 
eingehend somatisch untersucht, namentlich den Funktionen der Sinnesorgane wird 
große Aufmerksamkeit zugewendet; daran schließt sich eine genaue Intelligenzprüfung, 
der endlich die psychiatrische Untersuchung folgt. Darauf beraten alle Untersucher 
bei Zuziehung eines sozialen Beamten den Fall und seine Hilfsmaßnahmen und e: 
werden Richtlinien für seine physische und psychische Behandlung aufgestellt. Der 
hohe Wert einer solchen Zentralstelle wird an einigen praktischen Beispielen bewiesen. 
Da die Stadt Montreal noch über keinerlei soziale Einrichtungen verfügt zur Für- 
sorge schwachsinniger oder mit sonstigen körperlichen oder geistigen Defekten behaf- 
teten Kinder — die Schulbehörden der Stadt und der Provinz Quebec haben sich 
gesetzmäßig nur um die Heranbildung von Kindern mit „gesundem Verstand‘ zu 
bekümmern —, ist gerade für sie eine derartige Einrichtung von hervorragender Be- 
deutung. Gregor (Flehingen). 


Bowes, G. K.: Mental defeet and mental degeneracy in a rural area. (Geistige 
Defekte und geistige Degeneration in einem ländlichen Bezirke.) Lancet Bd. 207, 
Nr. 7, 8. 313—318. 1924. 

Die „Mental Defficiency Act“ vom Jahre 1913 schreibt vor, daß die Erziehungs- 
behörden die Zahl der geistig defekten Kinder im schulpflichtigen Alter feststellen sollen. 
In den ländlichen Bezirken ist dieses Gesetz so gut wie nicht zur Ausführung gekommen. 
Es fiel auf, daß die Lehrer selbst bei groben Intelligenzdefekten das Zurückbleiben 
in den Leistungen auf äußere Verhältnisse zurückführten und meist überhaupt nicht 
an die Möglichkeit eines geistigen Defektes gedacht hatten. Die Untersuchungen des 
Verf. wurden in der dünn bevölkerten Grafschaft Wiltshire ausgeführt. Kinder mit 
einem Intelligenzquotienten unter 70 (Methode Binet-Simon-Stanford) wurden als 
geistig defekt bezeichnet. Es fanden sich dabei unter 4979 Kindern 168 geistig Defekte. 
Die wirkliche Ziffer ist wahrscheinlich um etwa 50% höher, da viele schwer defekte 
Kinder dem Untersucher nicht zu Gesicht gekommen sind. Verf. glaubt, daß die Zahl 
der geistig Minderwertigen auf dem Lande höher ist als in den Städten. Campbell., 


Ziegler, K.: Anstaltsschule und Hilfsschule. Hilfsschule Jg. 17, H. 10, S. 145 
bis 153 u. Nr. 11, S. 167—172. 1924. 

Der Verf., vordem Anstaltslehrer, jetzt Hilfsschullehrer, sucht aus seiner Erfahrung 
heraus zu beweisen, daß zwischen der Anstaltsschule und der Hilfsschule ein recht 
bedeutender Unterschied besteht. In der Methode will er keine nennenswerte Verschie- 
denheit gefunden haben, wohl aber zunächst in folgenden Äußerlichkeiten: Das 
Schülermaterial der Anstaltsschule ist hinsichtlich der intellektuellen Leistungsfähig- 
keit weniger einheitlich. Dort ist kein Kampf gegen häufige Schulversäumnisse, gegen 
das viele Zuspätekommen, gegen Unreinlichkeit und Unordnung, gegen Lernmittel- 
elend, gegen die „Zettelwirtschaft“ (das Umherschieben von amtlichen und nicht- 
amtlichen Verordnungen, Anfragen usw.) wiein der Hilfsschule. Bezüglich derinneren 
Seite sind in der Hilfsschule die Kinder nervöser und unruhiger, soll die Schulzucht 
vie] größere Schwierigkeiten bereiten, der hemmende Einfluß gleichgültiger oder feind- 
lich gesinnter Eltern viel mehr zu spüren sein, für den Unterricht im Freien und zum 
Üben weniger Zeit zur Verfügung stehen als in der Anstaltsschule, weshalb der Anstalts- 
lehrer bei seinen Kindern auch einheitlichere, gleichartigere Apperceptionsmassen und 
gleichmäßigere Interessenrichtungen vorfindet als der Hilfsschullehrer. Und das Er- 
gebnis seiner Beobachtungen? Die Schularbeit des Hilfsschullehrers ist viel schwieriger 
und nervenaufreibender als die des Änstaltslehrers. In der Hilfsschulerziehung treten 
aber Vorzüge hervor, welche die Nachteile der Schularbeit überwiegen; auch der in- 
tellektuelle Gesichtskreis der Hilfsschulkinder weitet sich viel mehr als bei den Anstalts- 
kindern. Im allgemeinen ist darum die Hilfsschulerziehung der Anstaltser- 
ziehung vorzuziehen; sie ist das Natur- und Zweckmäßigere. Anstaltserziehung — 





— 229 — 


Gartenarbeit! Hilfsschulerziehung — Feldarbeit! Nicht alle Ansichten des Verf. — 
das liegt in der Natur der Sache — werden allgemeine Zustimmung finden. Andere 
pädagogische Persönlichkeiten werden nach dieser oder jener Hinsicht zu einem anderen 
Urteil gelangen. Seine Beobachtungen geben aber eine Fülle dankenswerter Anregungen 
zum Nachdenken über Probleme, die auf beiden Seiten der heilpädagogischen Lösung 
harren. W. Raatz (Charlottenburg). 


Hughes, Robert: The problem of the mentally defeetive child. (Das geistig 
defekte Kind.) Child Bd. 14, Nr. 8, S. 225—229. 1924. 

Hinsichtlich geistig defekter Kinder verlangt das Gesetz (in England) von den 
örtlichen Schulbehörden: 1. Feststellung der geistig defekten Kinder in jedem Bezirk. 
2. Einrichtung von Spezialschulen für die Erziehbaren unter ihnen im Alter von 7—16 
Jahren. 3. Anmeldung der für diese Schulen Ungeeigneten und 4. der aus diesen Schulen 
zu Entlassenden im Alter von 16 Jahren, bei denen die Unterbringung in einer Anstalt 
oder die Stellung unter Vormundschaft wünschenswert erscheint. Diese Bestimmungen 
sind bisher sehr mangelhaft durchgeführt worden. An den Spezialschulen ist viel 
abfällige Kritik geübt worden und es ist zuzugeben, daß die Resultate nicht den Er- 
wartungen entsprochen haben. Nur 40%, der Kinder haben sich später als fähig er- 
wiesen, ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Die ganze Angelegenheit befindet sich 
aber noch im Stadium des Versuchs. Bereits jetzt sind viel wertvolle Erfahrungen 
gesammelt worden. Die schlechten Erfolge sind zurückzuführen 1. auf die häufig viel 
zu späte Feststellung des geistigen Defekts, 2. auf die Unterbringung von geistig viel 
zu tief Stehenden in den betreffenden Schulen, 3. die mangelhafte Unterscheidung 
zwischen Ruhigen, Lenksamen und Unrubigen, Unlenksamen. Letztere sind für Tages- 
schulen ungeeignet. Sie müssen in Erziehungsanstalten untergebracht werden. 

Campbell (Dresden)., 

Vos, G. J.: Der sehwache Bruder. Tijdschr. v. buitengewon onderwijs Jg. 5, 
Nr. 9, S. 141—144. 1924. (Holländisch.) 

Verf. versucht die öffentliche Sorge um die geistig und moralisch Schwachen durch 
ethische und soziale Prinzipien zu begründen. Die Sorge um diese Hilfsbedürftigen 
sei für die Gemeinschaft kein Verlust, eher ein Gewinn, zumal wir dadurch eine große 
Anzahl von lebensfähigen Menschen zu wertvollen Gliedern der Gesellschaft machen, 
ferner, weil wir das Solidaritätsgefühl der Menschen dadurch verstärken und bei der 
Lösung der hier auftretenden mannigfaltigen Aufgaben geistige wie moralische Kräfte 
entspannen. Nicht nur die Barmherzigkeit und der Humanismus macht die Erziehung 
und Versorgung der Schwächeren zu unserer Pflicht, sie wird auch von jeder höheren 
Lebensanschauung gefordert. G. Révész (Amsterdam)., 


Exeerpts bearing upon feeblemindedness. (Vortragsauszüge über Schwachsinn.) 
Social pathol. Bd. 1, Nr. 2, S. 67—78. 1924. 

Eine Reihe von Auszügen von Vorträgen, die aus dem Gebiet der Behandlung und 
Versorgung von Mindersinnigen (im weitesten Sinne) in Amerika gehalten worden sind. 
Der erste Auszug bringt einen „Bericht über eine Untersuchung an hundert 
schwachsinnigen Mädchen“ von über 11 Jahren von George L. Wallace. Er 
gibt statistische Angaben über die Verhaltungsweisen dieser Kinder und Jugendlichen 
ın der Anstalt sowie in der Schule vor Aufnahme in die Anstalt, über Ehelichkeit der 
Geburt, soziale Verhältnisse der Familie, Beruf der Eltern. Die Zahlen dieser verhältnis- 
mäßig kleinen Gruppe erlauben natürlich keinen Schluß von Gesetzmäßigkeitscharakter. 
Unter den Schwachsinnigen sind auch die Psychopathieformen mit gutem Intellekt 
einbezogen. Bemerkenswert sind erhebliche Charaktermängel bereits in der Ascendenz. 
Ein ziemlich hoher Prozentsatz der Gruppe ist unter Aufsicht leistungsfähig. Auf die 
soziale Gefahr und die Versorgungsbedürftigkeit dieser Abnormen wird hingewiesen. — 
M. Campell, Direktor des Boston-Psycholathic Hospital, einer Anstalt, in der Ärzte, 
Lehrer und Psychologen in gemeinschaftlicher Arbeit sich um die Untersuchung und 


— 230 — 


Versorgung des psychisch defekten Kindes bemühen, bringt Bemerkenswertes über die 
„Organisation der Überwachung psychisch Defekter“. Bis ein defektes Kind 
zum unverbesserlichen Verbrecher oder zur Dirne herabgesunken ist, sind in seinen 
Entwicklungsjahren durch den Schematismus der Schulen und Gerichte, die alle ge- 
sondert für sich arbeiten, so viele Fehler an ihm gemacht worden, daß der traurige 
Effekt mehr auf diese Behandlung als auf die Anlage zurückzuführen ist. Wenn man 
auf 200 Menschen einen Defekten rechnet, so kann man wohl verlangen, daß sich 
diese Gruppe mit dem Hilfsbedürftigen belastet, um ihn zu versorgen. In organischer 
Weise geschieht das von Staats wegen, wenn in Spitälern, Schulen und Gerichten 
zusammengearbeitet wird, wenn die Beaufsichtigung und Fürsorge nicht mit 
dem Schulende aufhört, sondern im weiteren Leben von den zusammenarbeitenden 
Faktoren fortgesetzt wird. Die verantwortliche Durchführung fällt nach Ansicht des 
Vortragenden dem Arzt zu. — Über die „Absonderung psychisch Defekter" 
insbesondere im Hinblick auf die Verhinderung der Fortpflanzung bei dieser Gruppe 
spricht der Psychiater Devine. Er weist auf die Möglichkeit hin, in einzelnen Fällen 
durch Aufklärung der geschlechtlichen und volkshygienischen Verhältnisse etwas zu 
erreichen, verhehlt sich aber die Schwierigkeiten nicht. — In einem Vortrag über „All- 
gemeiner Dienst der Staatseinrichtungen für geistig Defekte‘ drückt das 
New-Yorker Mitglied des Nationalkomitees für geistige Hygiene, Th. H. Heinos. 
den Gedanken aus, daß der geistig und seelisch Schwache dem Staate gegenüber immer 
im Zustand der Kindheit und der Stütz- und Leitungsbedürftigkeit verbleibe. Die 
Altersgrenze der Mündigkeit dürfe hier für nichts entscheidend sein. Für die Verleihung 
der bürgerlichen Verantwortlichkeit müsse der Nachweis der Eignung von jedem ver- 
langt werden, und da der Defekte ihn naturgemäß nicht bringen kann, muß eben der 
Staat für den Defekten unabhängig vom Alter die Rolle der Eltern übernehmen. — 
Mrs. M. A. Hore beklagt sich in einer Rede über den „Wert der Privatschulen 
für die Erziehung abnormer Kinder“ über das mangelnde Verständnis der 
Eltern, für den geistigen Zustand der Kinder, während sie für die körperliche Pflege 
alle Sorgfalt aufwenden. — Unter dem Titel „President’s Conception of our 
task“ (Vorschlag des Präsidenten für unsere Aufgabe) bringt der Schulleiter Bank: 
Mc Nairy in einer Sitzungsrede programmatische Ausführungen über das Problem 
des geistig schwachen, im sozialen Leben scheiternden Individuums. Er fordert die 
Konzentration aller Kräfte zur Organisation der Fürsorge für die Abnormen und sagı 
unter anderem für spätere Generationen einen viel radikaleren Standpunkt in der Ver- 
hütung der Fortpflanzung dieser Individuen voraus. „Das geistig zurückgeblie- 
bene Kind in den öffentlichen Schulen“ ist der Titel eines Vortrages von Ch. 
Scott- Berry, Professor der pädagogischen Psychologie der Universität Michigan. 
Er betont, daß das endgültige Kriterium für den Schwachsinn mehr ein sozialökono- 
misches als ein psvchologisches ist . Für die Zukunft des Schwachsinnigen ist weniger 
das Minus an intellektuellen Fähigkeiten entscheidend, als die Möglichkeit sich in die 
Lebensverhältnisse einzufügen, insbesondere sich etwa einer „ungelernten‘' Arbeit 
anzupassen. Man muß so früh als möglich die zurückgebliebenen Kinder in die für sie 
geschaffenen Schulen bringen. Einstweilen hat man freilich noch kein brauchbare: 
Prinzip um den Erfolg der Spezialschulen für Minderbegabte in bezug auf die Ge- 
schicklichkeit für das tägliche Leben zu garantieren. Bei der Größe der Aufgabe ıst 
die Heranzichung eines möglichst weiten Kreises öffentlicher und privater Institutionen 
notwendig. — Aus allen Auszügen ist zu ersehen, welch großer Wert der Behandlung 
und Versorgung der Schwachsinnigen in Amerika schon beigelegt wird. Folgender 
Spruch steht als Motto über der Sammlung: „Der Auswirkung geistiger Erkrankung 
in unserem Lande zuvorzukommen, ist ein Werk des höchsten und vaterländischen 
Dienstes.“ Wann wird dieser auf die Schwachsinnigenversorgung angewandte Ge- 
danke auch in Kreisen der Staatsstellen und der offiziellen Psychiatrie Deutschland: 
allgemeine Geltung haben? E. Feuchtwanger (München). 


— 231 — 


Sinnendejekte, Sprachstörungen : 


Stern, Hugo: Klinik und Therapie der Krankheiten der Stimme. (Laryngol. Univ.- 
Klin., Wien.) Monatsschr. f. Ohrenheilk. u. Laryngo-Rhinol. Jg. 58, H.9, 8.805 
bis 857. 1924. 


Dieses ausgezeichnete Referat verdient eine eingehende Würdigung. Die Haupt- 
einteilung erfolgt nach dem Gesichtspunkt: organischer oder nichtorganischer Ur- 
sprung. Der ersten Hauptgruppe gehören an: A. Stimmstörungen infolge von Allge- 
meinerkrankungen, unter denen gastrointestinale Erkrankungen und Chlorose, letztere 
durch die mit ihr verbundene Disposition zu Katarrhen und zur Erschöpfung, eine 
besondere Rolle spielen. B. Stimmstörungen laryngealen Ursprunges, z. B. Entzün- 
dungen. C. Die Krankheiten der Stimme infolge Lähmungen der Kehlkopfmuskeln: 
bei Lähmung des Laryngeus superior leiden besonders die hohen Töne und die Aus- 
dauer, letztere, weil die nur durch die Musculi vocales gespannten Stimmlippen dem 
Ausatmungsstrom nicht lange widerstehen können und weil dem Vocalis der Antagonist 
(Cricothyreoideus) fehlt. Bei Lähmung des Laryngeus inferior können die M. cricoaryt. 
postici, die Öffnung der Glottis und Fixieren der hinteren Enden der Stimmlippen, 
versagen, und das kann zu einer Einschränkung der Stimme nach der Höhe hin führen 
und außerdem der antagonistische Schließer, der Vocalis, befallen werden. Ist der 
Thyreoaryt. internus geschädigt, so wird der Grad der Stimmstörung davon abhängen, 
wie der Atemstrom trotz der Ausschweisung der Stimmlippen unterbrochen werden 
kann. Bei Parese oder Paralyse der Interaryt. klafft die Glottis cartilaginea, was 
sogar Aphonie ergeben kann. Was die — allgemein bekannte — Recurrenslähmung 
anbelangt, so geht Stern im Anschluß an Seemann bei der Therapie vom Flatterton 
(Strohbaß) aus, denn da die Spanner stärker sind als die Schließer, muß man maximal 
entspannen, um die Schließer der gesunden Seite zum Überschreiten der Mittellinie zu 
veranlassen. Druck auf die Schildknorpelplatte und Stauübungen (nach Armin) 
werden u. a. ebenfalls empfohlen; ferner wird die ‚harmonische Vibration‘ angeraten, 
also das Versetzen von so vielen Vibrationsstößen gegen die Brust, als die Stimm- 
lippen Schwingungen vollführen sollen; die Kraft der Vibrationsstöße überträgt sich 
auf diese. Die Anwendung von auf die Gegend der Schildknorpelplatten gesetzten 
Saugnäpfen (Flatau) vervollständigt die Therapie. — Beherzigenswert ist bei 
Besprechung der Sängerknötchen der Rat, daß man den Patienten ihr Vorhandensein 
nicht sofort mitteilen solle, da das Bewußtsein, an ihnen zu leiden, oft mehr schadet 
als sie selbst. Besonders gründlich ist die Phonasthenie abgehandelt. Als ätiologische 
Faktoren kommen in Betracht: 1. Depotenzierende Erkrankungen, wie Anämie, 
Erschöpfung. 2. Alle Störungen im Gleichgewicht des Stimmapparates, wie Menses, 
Gravidität. 3. Akute Entzündungen im Larynx und in den oberen Luftwegen. 4. Psychi- 
sche Momente. 5. Mißbrauch des Organes. Symptomatisch findet man 1. Intonations- 
störungen (Detonieren und Distonieren). 2. Unreinklingen des Tones. 3. Tremolieren. 
4. Störungen in der Kontinuität des Tones. 5. Subjektive Beschwerden (Ermüdungs- 
gefühl, Parästhesien, Hyperästhesien). Die prädisponierenden Momente, Überkreuzung 
der Aryknorpel, enger Kehlraum und Morgagnisches Ventrikel, fehlerhaftes Funk- 
tionieren der Epiglottis und Asymmetrie des Larynx dürfen nicht übersehen werden. 
Druck (erhöhter Atemdruck, Coup de glotte, Überfunktion der Schließer und Spanner 
und der Muskulatur des Ansatzrohres) und Überdehnung bewirken wahrscheinlich 
feinste interstitielle entzündliche und vielleicht atrophische Veränderungen der Muskeln 
und Nerven. Auch an ein vom Großhirn ausgehendes Ermüdungsgefühl als Grundlage 
der Phon. denkt der Autor. Auf all das muß die Therapie im Einzelfalle Rücksicht 
nehmen. Von der Phonasthenie ist u. a. die Pseudophonasthenie zu unterscheiden. 
die eine ganz andere causa movens aufweist und zwar die Störung, welche zu Beginn des 
Gesangunterrichtes dadurch auftritt, daß bis dahin automatisch ablaufende Funktionen 
bewußt gemacht werden, ferner die ähnlichen Zustände während der Mutation, Menses 


— 282 — 


und Gravidität; endlich Bewegungseinschränkungen durch Schmerzen, Erschöpfung, 
Abschwächung des Muskelgefühls. Die habituellen Stimmdyskinesien sind Bewegungs- 
störungen, die durch Gewohnheit entstanden sind, z. B. habituelle Heiserkeit eines 
Kindes nach einem Kehlkopfkatarrh oder das habituelle Flüstern, z. B. nach Scho- 
nungstherapie, die Rhinolalia aperta nach Operationen, in deren Gefolge die Bewegung 
des Velums eine Zeitlang schmerzhaft war. Habituelle Parakinesien sind z. B. das 
„Knödeln“, ‚Pressen‘ (letzteres nach St. durch Auflegen der Taschen- auf die 
Stimmlippe und Überlagern durch den Kehldeckelwulst entstehend), Tremolieren. 
Die hysterischen Stimmstörungen (Aphonien, einseitige Lähmung der Stimmlippen) 
und die Entwicklungsstörungen der Stimme (Mutatio prolongata, persistierende 
Fistelstimme und Mutatio perversa) beschließen die äußerst übersichtliche und klare 
Darstellung. Fröschels (Wien)., 

Dirr, Robert: Die Karlsruher Schwerhörigen- und Sprachheilschule. Blätter f. 
Taubstummenbildung Jg. 37, Nr. 16, S. 271—273. 1924. 

Auch diese Schule ist aus Sprachheilkursen hervorgegangen über den Weg einer 
Sammelsprachheilklasse, die zunächst Schwerhörige, Hörstumme, Stammler, Stotterer 
usw. vereinigte. Dann wurden die Stotterer abgeschieden und in Sprachheilklassen 
unterrichtet, die übrigen Hör- und Sprachgeschädigten wurden in Schwerhörigen- 
klassen untergebracht. 3 Sprachheilklassen und 4 Schwerhörigenklassen mit je 7 Schul- 
jahren wurden dann in der Schwerhörigen- und Sprachheilschule zusammengefaßt 
und diese in einer zentral gelegenen Schule untergebracht. Das Klassenziel ist das der 
Normalschule, Umschulung ist also möglich. Die sprachgeschädigten oder schwer- 
hörigen Hilfsschüler verblieben noch in der Hilfsschule, doch ist ein B-Klassenzug 
geplant. Paul Schumann (Leipzig-R.). 

Sehumann, Paul: Die Entwieklung des Taubstummenbildungswesens in Holland. 
Zum Gedächtnis Ammanns (gest. 1724). Blätter f. Taubstummenbildung Jg. 37, Nr. 8, 
S. 133—144 u. Nr. 9, S. 150—155. 1924. 

Bei dem Kulturstande Hollands und seinen vielfachen Beziehungen zu anderen 
Nationen konnten die Bemühungen um die Bildung Taubstummer in Spanien und 
England nicht unbemerkt und unbeachtet bleiben in Holland. So fand Ammann, 
als er nach Holland kam und hier sein Verfahren Taubstumme zu bilden fand und be- 
gründete, schon ein vielfältig bearbeitetes Land vor. Durch ihn aber erhielten die 
Bestrebungen um die Taubstummen einen so starken Antrieb, daß sie nicht wieder 
stockten und am Ende des 18. Jahrhunderts zur Systembildung und Organisation des 
Bildungswesens führten. Paul Schumann (Leipzig-R.). 

Fraser, J. S.: The pathology of deafmutism. (Die Pathologie der Taubstummheit.) 
Laryngoscope Bd. 33, Nr. 10, S. 731—780. 1923. 

. Es gibt eine kongenitale und eine akquirierte Taubstummheit. Unter kongenitaler 
Taubheit versteht Verf. nur diejenige, die von Entwicklungsstörungen verursacht ist. 
Kongenitale Taubheit trifft man beim endemischen Kretinismus; nach Stein sind nur 
25%, der Kretinen Normalhörende, 45%, haben etwas herabgesetzte Hörfähigkeit, 
25%, hochgradige Schwerhörigkeit und 5% sind taub. Die anatomischen Veränderungen, 
die man als Ursache der Herabsetzung der Hörfähigkeit bei Kretinen gefunden hat, 
sind myxomatöse Verdickung der submucösen Gewebe des Mittelohres (Alexander), 
Fixation der Gehörknöchelchen, Degeneration des Cortischen Organs. Siebenmann 
und Nager erwähnen auch Gehirnveränderungen als Ursache der Taubheit bei Kretinen. 
Außer endemischem Kretinismus ist Aplasie oder mangelnde Entwicklung des Laby- 
rinths die Ursache der kongenitalen Taubheit. Von Interesse ist, daß eine große Anzahl 
der kongenital Taubstummen (nach Verf. 70%) nur eine sacculo-kochleare Degenera- 
tion hat, der Utriculus und die Kanalen sind noch vorhanden. Diese Patienten haben 
also bei der Umdrehung und bei der kalorischen Prüfung eine normale oder beinahe 
normale Reaktion. Ein solcher Fall, der vom Verf. klinisch und pathologisch-anatomisch 
untersucht worden ist, wird ausführlich beschrieben, schöne Mikrophotographien wer- 


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den hinzugefügt. Die akquirierte Taubheit kommt zustande durch Infektion des 
Labyrinths in utero oder postfötal. Die intrauterine Labyrinthitis wird im allgemeinen 
von Meningitis verursacht, während die postfötale von Trauma (Schädelbasisbruch), 
Otitis media, Leptomeningitis purulenta mit Infektion des inneren Ohres auf den prä- 
formierten Wegen (Meatus auditorius internus, Aquaeductus cochleae) und kongenital 
syphilitischer Erkrankung des Labyrinths. Labyrinthinfektion meningitischen Ur- 
sprungs sieht man bei Masern, Pneumoni, Parotitis epidemica und am häufigsten bei 
der epidemischen Meningitis cerebrospinalis, die in 20—37% zu Ertaubung führt. 
J. Karlefors (Stockholm). 

Hebel: Taubstummenfürsorge. Blätter f. Taubstummenbildung Jg. 37, Nr. 12/13, 
S. 200—213. 1924. 

Der Verf., Landrat in Kassel, fand unter den Anstaltsbedürftigen eine Anzahl 
Taubstummer, die nicht beschult waren, und ist der Ansicht, daß rechtzeitige Fürsorge 
nicht nur den öffentlichen Verbänden erhebliche Kosten erspart, sondern auch voll- 
leistungsfähige oder doch nahezu volleistungsfähige Menschen gewonnen hätte. Es 
ist notwendig, die rechtzeitige Erfassung der taubstummen Kinder vor Eintritt der 
Schulpflicht, die bis jetzt sehr lückenhaft ist, zu fördern, sowie sie während des Anstalts- 
aufenthaltes gesundheitlich in jeder Weise zu überwachen, die Berufsausbildung 
sorgfältig vorzubereiten und zu fördern, den Taubstummen die Schwererwerbsbe- 
schränktenvorteile zu sichern und die Möglichkeiten der Reichsgesetze für Jugend- 
wohlfahrt (§ 49, 1 und 2) auszunutzen. Paul Schumann (Leipzig-R.). 

Sehneider, M.: Ein psychologisch orientierter Lehrplanentwurf für die Taub- 
stummensehule. Blätter f. Taubstummenbildung Jg. 37, Nr. 5, S. 70—79. 1924. 

Im Gegensatz zu den stofflichen Lehrplänen will Schneider sich von der Natur 
der Kinder und erst in zweiter Linie von den Bedürfnissen des Lebens leiten lassen. 
Wir müssen von der Volksschule abrücken, die Realfächer beiseite lassen und den 
Religionsunterricht hinausschieben. Notwendig ist nach dem Sprecherwerb in erster 
Linie die Umgangssprache des täglichen Lebens mit Lesen, Schreiben, Rechnen, später 
Religion. In dem psychologisch orientierten Lehrplan muß die Gebärdenfrage ihre 
Lösung finden. Statt: Fort mit jeder Gebärde! muß es heißen: Benutze die Gebärde! 

Paul Schumann (Leipzig-R.). 

Weng, E.: Grundgedanken eines Lehrplans für Taubstummenanstalten auf den 
naturgemäßen Wegen der Muttersprache und Arbeitsschule. Blätter f. Taubstummen- 
bildung Jg. 37, Nr. 23, S. 377—391. 1924. 

Das Vorbild der Muttersprachschule ist nicht mit voller Kongruenz auf den taub- 
stummen Sprachschüler anwendbar, bleibt aber erstrebenswertes Vorbild. Die Arbeits- 
schule hat die Muttersprachschule fortzusetzen, Arbeitsschule im Sinne des Erarbeitens 
genommen. Die Idee der Arbeitsgemeinschaft, der künstlerische Gedanke, der Persön- 
lichkeitsgedanke, der Heimatgedanke sind zu berücksichtigen. Der Unterricht ist 
Erlebnis- und Wirklichkeitsunterricht. Vorbereitung auf Beruf und Leben bedingen 
besondere Vertiefungen. Paul Schumann (Leipzig-R.). 

Wegwitz, Franz: Versuch einer Typik der Unterrichtsformen mit besonderem Be- 
zug auf den Anfangsunterricht und die Spraehanbildung beim taubstummen Kinde. 
Blätter f. Taubstummenbildung Jg. 87, Nr. 16, S. 261—271. 1924. 

Verf. versucht einen Extrakt zu geben von zeitlich weit auseinanderliegenden 
und einander sowohl polar gerichteten als auch nur in der Nuance verschiedenen Auf- 
fassungen über die Unterrichtsarbeit am taubstummen Kinde und erwartet, daß mit 
dieser Zusammenfassung der wesentlichsten Momente in kürzester Form, mit dieser 
Scheidung in zwei gegensätzliche Typen (Spranger), die Geistesform sichtbar wird, 
die sich im Laufe der Zeit über allem Individuellen ausgebildet hat. Typus I ist ratio- 
nalistisch bestimmt, das Verfahren ist objektiv, kühl, intellektualistisch, konstruktiv, 
unkindgemäß. Bei Typus II ist ein starkes Bewußtsein vom Irrationalen vorhanden. 
Man neigt zur Einheits- und Ganzheitsphilosophie und läßt den genetischen Faktor 





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nicht aus dem Auge. Die Unterrrichtsart weist größere Natürlichkeit und eine stärkere 
Psychologisierung auf, sie ist die in die Zukunft weisende. Paul Schumann (Leipzig). 

Malisch, K.: Stoffplan für den ersten Sprechunterrieht an Sprachganzen. Blätter 
f. Taubstummenbildung Jg. 37, Nr. 1, S. 1—15. 1924. 

Verf. begründete 1919 ebenda ausführlich ein Verfahren, im Sprechunterricht 
der Taubstummen vom sinnerfüllten Sprachganzen auszugehen und fand vielfach 
Beifall und Nachahmung. Die Richtung der Zeit kam dem Vorschlag entgegen. Jetzt 
ergänzt ihn der Verf. durch Mitteilung des Sprech- und Sprachstoffes. Nach Vor- 
übungen, denen auch Atem- und Sprechvorübungen eingegliedert sind, beginnt da; 
Sprechen mit Phrasen, die technisch weiter nichts sind als Lallsilben, aber von der 
Bedeutung aus gesehen sinnhafte Satzganze darstellen (Papa pah! Papa papp! Papa 
paff!). Mit dem Sprechen werden Schreib- und Leseübungen am Sprachganzen ver- 
bunden. Alles ist eingegliedert in ein kindgemäßes Arbeitsschulverfahren. 

Paul Schumann (Leipzig-R.). 

Malisch, K.: Meine Stellung zu wichtigen methodischen Fragen. Blätter f. Taub- 
stummenbildung Jg. 37, Nr. 2, S. 21—31 u. Nr. 3, S. 33—38. 1924. 

Der Verf. nimmt Stellung zu teilweise parallel gerichteten Verfahrensweisen. 
zum konsequenten Mutterschulverfahren (Querll), zum Mundhandsystem (Forch- 
hammer), zum Schriftbild- und Antiquaausgang (Lindner), sowie zu den kritischen 
Einwendungen von Karl Kroiß, die sich vor allem gegen die Beurteilung der Sprech- 
empfindungen durch Malisch richten. Paul Schumann (Leipzig-R.). 

Ruffieux, Franz: Sprachwerden und Gebärde. Blätter f. Taubstummenbildun: 
Jg. 37, Nr. 10, S. 165—177 u. Nr. 11, S. 181—186. 1924. 

Verf. behandelt das Problem vom Standpunkt deskriptiver Phänomenologie au:. 
Unmittelbare Lautsprachassoziation muß auch in der Sprache des Taubstummer 
vorhanden sein, wenn sie überhaupt den Charakter der Sprache haben soll. Für da: 
fertige Gebilde, das Sprachesein, ist die Bedeutung der Gebärde abzulehnen, dam:: 
ist nicht die Bedeutung der Gebärde abgelehnt für das Sprachwerden. Der Weg de! 
Übersetzung: Gebärdensprache — Lautsprache ist ein Umweg und hinsichtlich der 
endgültigen Wirkung zweifelhaft. Die Gebärde kann für das Sprachwerden im Laut- 
sprachunterricht von Nutzen sein, wenn sie in stellvertretender Funktion, zur Demon- 
stration einer Gegenständlichkeit, als Illustrationsgebärde benutzt wird. Sie soll ein: 
Gegenständlichkeit durch pantomimische Mittel demonstrieren, und zwar 1. um der 
Schüler zu zwingen, sich diese Gegenständlichkeit selbst, d. h. unabhängig von einer. 
sprachlichen Ausdruck vorzustellen; 2. um dem Lehrer zur Kontrolle zu dienen über 
Bewußtseinsgegebenheiten im Schüler, die dem Lehrer sonst nicht erkennbar wären. 
3. um als Hilfsmittel da einzutreten, wenn beim Schüler Eigenhilfe im Reproduktions- 
prozeß versagt. Paul Schumann (Leipzig-R.). 

Hellerich, Eugen: Der erste Rechenunterrieht bei Taubstummen. Eine Studie 
über die psyehologischen Grundlagen und deren Anwendung auf die Praxis des erster 
Rechenunterrichts. Blätter f. Taubstummenbildung Jg. 37, Nr. 24, S. 399—418. 1924. 

Es wurde durch Versuche festgestellt, daB bei 6 normalen taubstummen Schüler: 
der Aufnahmeklasse die Begriffsentwicklung den Stand erreicht hatte, der zur Eis- 
führung ins elementare Rechnen vorausgesetzt wird. Mit Ausnahme eines Knaber 
und eines Mädchens zählten alle Kinder bis 10. Ersterer zählte nur bis 7, letztere bis Ž 
Alle hatten eine gewisse Übung im Fingerzählen, sicher im Zählen mit den Finger: 
einer Hand. Sie zeigten ferner diejenige Kraft des Gedächtnisses, die im grund- 
legenden Rechnen verlangt werden muß. Die Einzelheiten der Versuche, sowie di: 
Folgerungen für die Praxis müssen im Original nachgelesen werden. P. Schumann. 

Lindner, Rudolf: Zu Forehhammers Mund-Handsystem und zur Frage der ersten 
Sehriftform im Elementarunterrieht (der Taubstummen). Blätter f. Taubstummer- 
bildung Jg. 37, Nr. 12/13, S. 199—208. 1924. 

Lindner widerlegt die Einwände Malischs, daß das Mundhandsystem zu eine: 


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vorzeitigen Analyse nötige, daß es dem geläufigen Sprechen nicht folgen könne, daß es 
das Absehen schädigen müsse. Malischs Ablehnung der Antiqua im Anfangsunterricht 
gibt L. Gelegenheit, die Frage noch einmal im Zusammenhang zu behandeln und seinen 
Standpunkt im genetischen Schriftunterricht darzulegen. Paul Schumann (Leipzig-R.). 


Riehter, August: Lehrplanstudien. Blätter f. Taubstummenbildung Jg. 37, Nr. 6, 
S. 85—116. 1924. 

Diese Studien liefern in sehr konzentrierter Art eine wissenschaftliche Begründung 
der Arbeit der Taubstummenbildung und versuchen den Taubstummenunterricht end- 
gültig aus den Fesseln der Volksschulmethodik zu befreien und in seiner Eigenart dar- 
zustellen. Es muß auf die Originalarbeit selbst verwiesen werden. Paul Schumann. 


Reich, F.: Die Vernachlässigung der begabten Taubstummen. Blätter f. Taub- 
stummenbildung Jg. 37, Nr. 22, S. 365—370. 1924. 

Vielfach setzt man voraus, daß die uneigentlichen Taubstummen, also die Ertaub- 
ten und Hörrestigen besser begabt seien als die eigentlichen Taubstummen. Verf. 
weist dies an der Hand seiner Erfahrung als Vorurteil nach und fordert für alle Taub- 
stummen Verlängerung der Schulzeit, für die Begabten höhere Schulen. Er nimmt ein 
Sechstel aller Taubstummen als fähig für diese Schulen an, nur ein Zwölftel etwa würde 
bereit sein zur Absolvierung, man könnte mit drei Schulen in Deutschland auskommen. 

Paul Schumann (Leipzig-R.). 


Jugendwohltahrt, Verwahrlosung: 
Allgemeines: 


Mennieke, Carl: Jugendbewegung und öffentliche Wohlfahrtspflege. Ein Beitrag 
zum sozialpädagogischen Problem der Gegenwart. Pädagog. Zentralbl. Jg. 4, H.10, 
S. 393—400. 1924. 

Der Aufsatz über dieses jetzt vielbesprochene Thema wird eingeführt als Er- 
gebnis einer Arbeitsgemeinschaft aus dem ersten Kurs des Seminars für Jugendwohl- 
fahrt, dessen Leiter Mennicke ist und an dem die Jugendbewegung stark beteiligt 
war. Als der Grundmangel der sozialpädagogischen Situation erscheint das Fehlen 
einer geschlossenen pädagogischen Atmosphäre seit der Auflösung aller Verbände 
bis zur Familie-und als die Folge davon das Fehlen der verantwortlichen Beteiligung 
am Leben einer Gemeinschaft. Die Aufgabe muß sein, wieder zu neuen Organen 
solcher sozialpädagogischen Wirkung zu kommen. Der Beamtencharakter der öffent- 
lichen Wohlfahrtspflege mit seiner Neutralität und Geschäftsmäßigkeit ist dem nicht 
günstig und verlangt jedenfalls eine neue sozialpädagogische ‚Gesinnung‘. Die soll 
die Mitarbeit der Jugendbewegung bringen. Die wesentlichen Züge der Jugend- 
bewegung, ihr Verantwortlichkeitsbewußtsein für die Lebensgestaltung und ihr Wille, 
zu neuen Gruppenverbänden zu kommen, ein instinktives sozialpädagogisches Wissen, 
das sie aus ihrer Gemeinschaft mitbringt, scheinen die jungen Menschen aus ihr be- 
sonders für die neue sozialpädagogische Aufgabe geeignet zu machen, solche pädago- 
gische Atmosphäre und den Gruppengeist, der zur Verantwortlichkeit erzieht, zu 
schaffen. Deutlich werden allerdings auch die Schwierigkeiten gesehen, die gerade 
dem Jugendbewegten drohen und die aus dem Verhältnis von Ideal und Leben stammen. 
Er muß lernen, das Organisatorische ernst zu nehmen, ohne ihm zu verfallen. Die Be- 
dingung dafür ist die eindringende Beschäftigung mit den gegebenen gesellschaft- 
lichen Wirklichkeiten. ‚Der sozialpädagogische Wille muß, um wirklich fruchtbar zu 
werden, die ganze Geduld in sich aufnehmen, an die gegebenen Voraussetzungen anzu- 
knüpfen.“ M. sieht darin die Bedeutung der soziologischen und sozialpsychologischen 
Erkenntnisarbeit, die er in seinem Seminar so entscheidend in den Vordergrund stellt. 
Zu dem Thema wäre zu vergleichen der Aufsatz ‚„Jugendbewegung und Jugendfür- 
sorge“ von Curt Bondy in den Volkshochschulblättern der V.H. Thüringen, De- 
zember 1924. Nohl (Göttingen). 


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Richter: Über die Beziehungen von Jugendpflege und Jugendbewegung zur 
Jugendfürsorge. Volkswohlfahrt Jg. 5, Nr. 18, S. 366—368. 1924. 

Die Jugendbewegung (Jugendpflege, die von den Jugendlichen selbst aus- 
geht und von ihnen getragen wird) und J uge nd pflege (Betreuung geistig und körperlich 
gesunder Jugend unter der maßgebenden Führung Erwachsener) können in der Jugend- 
fürsorge (Arbeit an der gefährdeten und verwahrlosten Jugend) wirksame Hilfe leisten, 
besonders als Erziehungsmithilfe bei Fürsorgezöglingen. Als Beispiel wird die Zusanı- 
menarbeit eines Turnvereins mit einer Fürsorgeerziehungsanstalt geschildert. Die 
allgemein geforderte Heranziehung Jugendlicher zu sozialer Jugendarbeit spiegelt sich 
in der Bestimmung des RJWG. wieder, daß bei der Jugendamtszusammensetzung 
auch die Vereinigungen der Jugendpflege und der Jugendbewegung herangezogen 
werden sollen. Reinheimer (Frankfurt a. M.)., 

India and the protection of the child. (Indien und der Kinderschutz.) Health a. 
empire Bd. 2, Nr. 11, S. 87. 1924. 

Der Artikel berichtet von den seit 1912 in Gang befindlichen Bestrebungen zur 
Reform der indischen Jugendschutzgesetzgebung, besonders auf dem Gebiete des 
Mädchenhandels. 10 Jahre ziehen sich die Verhandlungen hin, bis 1923 eine Novelle 
zum indischen StGB. zustande kommt. Daneben rührt sich auch die Gesetzgebung 
der Provinzen; in Bombay liegt der Entwurf eines Jugendgesetzes vor, das auch die 
Behandlung der jugendlichen Rechtsbrecher bis zu 16 Jahren regeln soll. Francke. 

Die Bekämpfung des Alkoholismus. Blätter f. Wohlfahrtspflege Jg. 4, H. 10. 
S. 297—342. 1924. 

In verschiedenen Aufsätzen (Vogel, die Bekämpfung des Alkoholismus im Rahmen 
der Wohlfahrtspflege; Ulbricht, Erfahrungen aus der praktischen Arbeit zur Be- 
kämpfung des Alkoholismus; derselbe, Praktische Trinkerfürsorge u. a.) werden die 
Erfahrungen und Aufgaben der in Sachsen gut ausgebauten Trinkerfürsorge, sowie sich 
ergebende Forderungen mitgeteilt. Neben der Trinkerfürsorge im engeren Sinne ist 
besonderer Wert auf die allgemeine Bekämpfung des Alkoholismus zu legen, was den 
Kampf gegen die jetzt bestehenden Trinksitten, auf deren Boden sich die Alkohol- 
schäden erst entwickeln können, bedeutet. Weitgehende Aufklärung und Unter- 
weisung der Öffentlichkeit über die grundlegenden Tatsachen der Alkoholfrage durch 
Vorträge, Flugschriften und besonders durch die Presse ist eine dringende Notwendig- 
keit. Hierzu ist die Schaffung einer zentralen Stelle, welche die Erfahrungen sammelt 
und sichtet, Auskünfte erteilt und organisieren hilft, wie es die Sächsische Landes- 
hauptstelle gegen den Alkoholismus E. V. darstellt, unentbehrlich. Besonders ein- 
gewirkt werden muß auf die Jugend, die vielfach aus sich heraus eine neue, bessere 
Geselligkeit geschaffen hat; sie muß den Vortrupp im Kampf gegen den Alkoholismus 
bilden. Die Trinkerfürsorge selbst findet ihren Mittelpunkt in den Trinkerfürsorge- 
stellen, an welchen sich Behörden und alkoholgegnerische Vereine in gemeinsamer 
Arbeit beteiligen sollten. Die Leitung derselben sollte ein hauptamtlich angestellter, 
besonders vorgebildeter Fürsorger übernehmen, dem ein ärztlicher Berater, sowie eine 
genügende Anzahl zuverlässiger Helfer und Helferinnen zur Seite stehen. Als letztere 
sind die in anderen Zweigen der Wohlfahrtspflege z. B. in der Fürsorge für Säuglinge, 
Klein- und Pflegekinder, in der Krüppel-, Tuberkulose- und Wohnungsfürsorge tätigen 
Fürsorgerinnen mit heranzuziehen, weil sie bei Ausübung ihrer Fürsorgetätigkeit 
häufig genug mit Trinkern oder deren Familien in Berührung kommen. B. Harms. 

Fischer-Defoy: Soziale Fürsorge für Geschleehtskranke. Mit besonderer Berück- 
sichtigung der Frankfurter Beratungsstelle für Frauen und Mädehen. (Stadigesundh.- 
Amt, Frankfurt a. M.) Arch. f. soz. Hyg. Bd.15, H.3/4, S. 253—294. 1924. 

Ausführlicher Bericht über die Tätigkeit der im März 1918 in Frankfurt (Main) 
gegründeten Beratungsstelle für Frauen und Mädchen, die jetzt dem Stadtgesundheits- 
amte untersteht. Bis Ende 1921 wurden 1200 Fälle bearbeitet. Die Fürsorgerin der 
Beratungsstelle besucht die Abteilungen der Krankenhäuser, wo weibliche Geschlechts- 


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kranke liegen. Prostituiertenabteilungen wurden nicht besucht. 40,25%, der Fälle 
wurden durch Krankenhäuser eingewiesen, 20,9%, durch städtische Ämter, vor allem 
durch das Jugendamt, 9% durch Ärzte. Grund der Einweisung war in 87,7%, Ge- 
schlechtskrankheit. Stets wurde versucht, die Ansteckungsquelle zu ermitteln. 71,7% 
konnten Namen und Adresse des Ansteckenden angeben, 78 mal war keinerlei Auskunft 
möglich, 181 mal kam der Ehemann in Betracht. Ausgedehnte Familienendemien 
wurden beobachtet. Abhängigkeitsverhältnis, gemeinsame Arbeit, Alkoholrausch, 
Kinobesuch schufen die Ansteckungsgelegenheit. Übertragung auf Angehörige wurde 
in 99 Fällen bewiesen, 81 mal wurden Kinder infiziert. In 12,3%, der Fälle waren nicht 
Geschlechtskrankheiten sondern soziale Entgleisungen Anlaß zur Beratung. Bei 
diesen Fällen handelte es sich fast immer um Psychopathen. In einem Fall fand die 
Tochter keine Ruhe vor dem Vater, in einem Fall wurde die Mutter von ihrem 14jähr. 
Sohn bedrängt. Der Beruf der Hausangestellten steht mit 27,2%, an erster Stelle. 
Ohne Beruf waren 17%, stellungslos 39,6% (!). 51,9% waren 18—23 Jahre alt, unter 
18 Jahren 4,7%. In 9% der Fälle waren die Erziehungsverhältnisse nachweisbar 
ungünstig; Unehelichkeit der Geburt spielte dabei keine Rolle, hingegen Kinderreich- 
tum, Ehezerwürfnis, Tod der Eltern. Verkuppelung der Kinder durch die Eltern, 
Blutschande wurden mehrfach beobachtet. Die Art der ergriffenen Fürsorgemaß- 
nahmen läßt eine Einteilung in 3 Klassen zu: 1. Mädchen, die sich gelegentlich hin- 
gegeben haben und dabei infiziert oder geschwängert wurden; 2. Mädchen, die, un- 
beständig, geschlechtlichen Versuchungen leicht erliegen; 3. hemmungslose Psycho- 
pathen, für die fast nur geschlossene Fürsorge in Frage kommt. Für psychopathische 
Mädchen wurde eine Unterbringung in der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar im Wester- 
wald versucht, die Schwierigkeiten längerer Pflege erwiesen sich alssehr groß. Der Berufs- 
frage wurde große Sorgfalt gewidmet. Schutzaufsicht durch ehrenamtliche Helferinnen, 
deren Leistungsfähigkeit mitunter versagte, wurde in 72 Fällen angeordnet. Häufig Unter- 
stützung in Rechtsangelegenheiten. Die Urheber der Infektion wurden in 35 Fällen zur 
Leistung einer Entschädigung herangezogen, mehrfach zur Zwangsbehandlung gemeldet. 
Oft führte Sorge um die Kinder Frauen zur Beratungsstelle. 49,1%, der Pfleglinge 
hatten Kinder. Nach dem Kindesvater wurde geforscht, Pflegestellen oder sonstige Er- 
leichterungen vermittelt. Des Ausbaues bedürftig ist noch die Fürsorge für geschlechts- 
kranke Kinder. Die Erfolge der Fürsorge waren befriedigend. 1,4%, gingen zur 
Prostitution über, schieden also aus. Eine Hauptaufgabe der Beratungsstelle besteht in 
der Aufklärung. Es wird immer mehr erstrebt, auch die Männer in die Fürsorge einzu- 
beziehen. Nur wenn beide Geschlechter gleich behandelt werden besteht, die Möglichkeit 
planmäßiger Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Martin Gumpert (Berlin). 
Cimbal, Walter: Probleme der Untersuehungsteehnik des nervösen Kindes. 


Arztl. Ver., biol. Abt., Hamburg, Sitzg. vom 28. XI. 1924. 

Cimbal stellt unter Demonstration einer eigenen ausgearbeiteten Methodik die Forderung 
auf, daß die Beratungsämter für jugendlich Nervöse ein einheitliches vergleichbares Gut- 
achtenschema liefern, das sowohl für die Zwecke der Einschulung wie der Fürsorgeerziehung, 
der Verteilung auf die verschiedenen Erziehungsanstalten und Erziehungssysteme, die ver- 
schiedenen Schularten, die gerichtliche Begutachtung und die Berufsberatung genügt. Bei 
der Vielgestaltigkeit dieser Aufgaben fehlen den bisherigen Untersuchungsmethoden wesent- 
liche Grundlagen der Konstitutionsbewertung und der Abschätzung der erreichten seelischen 
und geistigen Entwicklungsstufe. Das Binet-Simonsche Schema ist nicht nur unverwertbar, 
sondern geradezu sinnlos, weil es auf der vollkommen verkehrten Voraussetzung einer gleich- 
mäßigen, vergleichbaren Entwicklung der geistigen Grundeigenschaften beruht. Praktisch 
vergleichbar sind allenfalls planmäßig geschulte und anerzogene Leistungen. Geistige Grund- 
eigenschaften und freie, ungeschulte Leistungen dürfen zur Auslese und Bewertung nur ver- 
wandt werden, wenn die Untersuchung eine sehr große Zahl von ihnen und im Vergleich dazu 
die erworbenen Kenntnisse und die geschulten Fertigkeiten heranzieht. Ähnlich schwierig ist 
die Bewertung der körperlichen Konstitution, die durch die neuen Forschungen der Kretsch- 
merschen Schule nicht geklärt, sondern noch komplizierter geworden sind. Wichtig wäre eine 
Messungsmöglichkeit der Sympathicusfunktionen, die bei den unentwickelten Kindern im 
Vordergrund des Versagens stehen (blaugraue Hände und Füße, massenhafter Achselschweiß, 
hängende Hoden, Asthenopie, Augenmuskelschwäche usw.). Autoreferat [durch Fr. Wohlwill].. 


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Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe, Forensisches : 

© Jugendgerichtsgesetz. Mit Einleitung und Erläuterungen v. Albert Hellwig. 
(Stilkes Rechtsbibliothek Nr. 18.) Berlin: Georg Stilke 1924. 368 S. G.-M. 6.—. 

Unter den vorliegenden Kommentaren zum Jugendgerichtsgesetz nimmt die Arbeit 
von Hellwig eine Sonderstellung ein, weil er auf Grund seiner kriminologischen und 
kriminalpolitischen Studien von einem kritischen Standpunkt aus an das Gesetz heran- 
geht. Als Gewinn ergibt sich nicht bloß eine Vertiefung nach der wissenschaftlichen 
Seite, sondern auch die praktischen Fragen gelangen zu größerer Klärung. Denn 
das Gesetz ist nach dem Prinzip des Kompromisses aufgebaut und hat daher häufig 
die tieferen Probleme umgangen. Um so wichtiger ist es, daß der Praktiker hier- 
über vollkommen klar sieht, weil er jenen Problemen bei der Entscheidung des Einzel- 
falles nicht mehr ausweichen kann. Ich hätte sogar gewünscht, daß an manchen 
Punkten, wie bei den Ausführungen zu $$ 3 und 10, die kritische Stellungnahme noch 
schärfer durchgeführt wäre. Die Verhandlungen auf dem Heidelberger Jugendgenichts- 
tage haben wieder gezeigt, daß gerade für diese grundlegenden Fragen noch kein: 
befriedigende Lösung gelungen ist. Doch solche Einzelheiten sind nicht ausschlag- 
gebend. Jedenfalls werden der Jurist wie auch der Erzieher und Arzt an dem Kommentar 
einen sehr zuverlässigen Berater haben. Insbesondere wird man die Fachliteratur wohl 
nirgends sonst so ausführlich berücksichtigt finden. Der praktische Wert wird dadur 
erhöht, daß neben der Begründung des Gesetzentwurfes auch die Ausführungsbestin:- 
mungen des Reiches, Preußens und Bayerns abgedruckt sind. Walter Hojfmann. 

Ferrero - Lombroso Gina: I tribunali dei minorenni nel Belgio e la loro influenza 
sulla diminuzione della eriminalitä. (Die Jugendgerichte in Belgien und ihr Einfluß auf 
die Verminderung der Kriminalität.) Arch. di antropol. crim. psychiatr. e med. les. 
Bd. 43, H. 6, S. 507—512. 1923. 

Belgien sei der einzige Staat in Europa, in dem die Kriminalität sinke. Dire 
Erscheinung beruhe auf dem Gesetz gegen den Alkoholismus und auf dem Gest: 
über den Schutz der Minderjährigen von 1912, das kurz vor dem Kriege in Kraft g- 
treten sei. Der jugendliche Rechtsbrecher kommt vor das Jugendgericht; wenn e 
verhaftet werden muß, so darf er nicht mit erwachsenen Deliquenten in Verbindur: 
kommen, sondern wird in besonderen Überwachungshäusern, in denen nicht mehr a: 
20 Jugendliche sein sollen, verwahrt. Der Richter muß den körperlichen und geistig: 
Zustand und die moralischen und sozialen Bedingungen, in denen der Minderjähni: 
lebt, berücksichtigen und kann beliebige Auskünfte einziehen. Während dieser Unter- 
suchungszeit wird der Jugendliche überwacht, der Richter kann ihn in der eigenen àd! 
fremden Familie oder in öffentlichen oder privaten Instituten unterbringen. Im Strai- 
maß hat der Richter größte Freiheit und muß die Überwachung des Jugendlichen b- 
stimmen, für die die eigene Familie, besondere Delegierte und Institute in Frage kommet. 
Straftaten Jugendlicher werden an den Überwachungspflichtigen als Verletzung d! 
Überwachungspflicht bestraft. Sioli (Düsseldorf). 

Hellwig, Albert: Zur Bestrafung Jugendlicher. Monatsschr. f. Kriminalpsyel:' 
u. Strafrechtsreform Jg. 15, H. 1/4, S. 29—31. 1924. 

Der Verf. demonstriert an einem Falle, der 1922 die Berufungskammer des Lar: 
gerichts Potsdam beschäftigte, daß noch nicht alle Richter genügend mit der Psyet 
der Jugendlichen vertraut sind, um deren Straftaten sachgemäß aburteilen zu könn. 
Besonders klar wird dabei die Unzulänglichkeit des früheren Einsichtsparagrap!: 
und der Fortschritt, den die jetzige Fassung von $ 3 des Jug.Ger.Gesetzes gebrai:' 
hat; auch erkennt man die Notwendigkeit der Verbindung von Vormundschafts- u: 
Jugendgericht. Gregor (Flehingen). 

Sehnitzer, Herbert: Die seelisch Abnormen im Jugendgeriehtsgesetz. Zentrali: 
f. Jugendrecht u. Jugendwohlfahrt. Jg. 16, Nr. 5, S. 112—114. 1924. 

Hier werden von psychiatrischer Seite einige Vorschläge zur Handhabung u: 
einige Ergänzungen des Jugendgerichtsgesetzes vom 16. II. 1923 gegeben, die ve: 





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Beachtung verdienen. In $ 3 hätte die Fassung bezüglich der Bestimmung des Willens 
wohl besser in Anlehnung an das österreichische Strafrecht gelautet: ‚,...das Un- 
gesetzliche seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln.“ Die Zu- 
ziehung des Psychiaters sollte grundsätzlich in jedem Fall erfolgen, wo die Möglichkeit 
einer seelischen Anomalie in Frage steht. Da die Beurteilung dieser Frage dem psychia- 
trischen Laien Schwierigkeiten bereiten muß, so erscheint die ständige Mitwirkung 
eines in der Beurteilung Jugendlicher erfahrenen Psychiaters geboten. Strafanstalten 
für Jugendliche, sofern sie eine größere Anzahl Psychopathen regelmäßig beherbergen, 
gehören unter psychiatrische Leitung. Villinger (Tübingen)., 

Sex delinquency. (Sexualdelikte.) Social pathol. Bd. 1, Nr. 1, S. 16—20. 1924. 

Der Aufsatz beschäftigt sich weniger mit dem Sittlichkeitsverbrechen im engeren 
Sinne als mit der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und Prostitution und den 
Versuchen, Prostituierte wieder zu einem sittlichen Lebenswandel zu führen. Die Not- 
wendigkeit Geschlechtskrankheiten wie andere übertragbare Krankheiten zu behandeln 
und den Kranken evtl. zu internieren, wird betont. Von besonderer Wichtigkeit ist 
die Vorbeugung der Unsittlichkeit durch geeignete elterliche und Schulerziehung, 
(jeder, der die Schule verläßt, soll die Heiligkeit der Geschlechtsfunktionen, die Heilig- 
keit seines eigenen Körpers und der Frau, die er heiratet, kennen), die Bekämpfung der 
Wohnungsnot und die Schaffung harmloser, namentlich sportlicher, Vergnügun- 
gen außerhalb der Häuslichkeit. Die Besserungsaussichten Prostituierter sind nicht 
ganz ungünstig. Von 120 ausgesuchten jugendlichen Prostituierten gelang es 113 zu 
rehabilitieren, während nur 7 imVerlauf von 7 Jahren Erziehungsanstalten überwiesen 
werden mußten. . Stern (Göttingen). 

Heupgen, P.: Enfance et adoleseenee. (Kindheit und Jugendalter.) Rev. de droit 
pénal et de criminol. Jg. 4, Nr. 6, S. 489—496. 1924. 

Der Jugendrichter in Mons kritisiert, daß im belgischen Recht zu viele Alters- 
termine — 10, 14, 15, 16, 18 Jahre — rechtliche Bedeutung haben, und zeigt die inneren 
Widersprüche dieser Regelung auf. Er fordert Vereinheitlichung der gesetzlichen 
Altersgrenzen nach der Formel: „Kindheit bis zu 15 Jahren, Jugendalter von 15 bis 
21 Jahren.“ Auf das belgische Jugendschutzgesetz vom 15. V. 1912 fallen interessante 
Streiflichter. Francke (Berlin). 

Stelzner, Helene-Friderike: Der Inzest. Mit kasuistischen Beobaehtungen an Ber- 
liner weiblichen Fürsorgezöglingen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 93, 
H. 3/5, S. 647—719. 1924. 

Nach einer Übersicht über die geschichtliche, kulturgeschichtliche, biologische und 
ethische Seite der Blutsverwandtschaftsfrage und des Inzestes teilt die Verf. 9 selbst- 
untersuchte Fälle aus dem Bereiche des Jugendamtes Berlin mit, wobei sie auf die äußeren 
Bedingungen des inzestuösen Verkehrs und die Persönlichkeit der Verführer besonders 
eingeht. Sie hat sehr wertvolle Beiträge zur Kenntnis der Gelegenheiten und Ver- 
anlassungen zum Inzest geliefert. Die Opfer selbst, 13—18 jährige Mädchen, erwiesen sich 
als Debile, Imbezille, leicht debile Psychopathen und Hysterische ohne Intelligenzdefekt. 
Inzestfälle zwischen Mutter und Sohn sind nicht beobachtet. Alkoholismus der Väter spielt 
eine große Rolle. Die Mädchen selbst verfielen sehr bald auch dem Verkehr mit anderen 
Männern und der gonorrhoischen und syphilitischen Infektion. Die Wohnungsverhältnisse 
und Krankheit der Mütter oder deren Abwesenheit auf Arbeit und Zusammenleben mit 
dem verwitweten Vater schufen die Gelegenheit zu beiden. Homburger. 

© Simon, Gustav: Durch welche Mittel soll auch die Sehule der Verübung von 
Straftaten vorbeugen? Zugleich ein Spaziergang durch das deutsche Strafgesetzbuch. 
(Friedrieh Manns Pädag. Magaz. Abh. v. Geb. d. Pädag. u. ihrer Hilfswiss. H. 997.) 
Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1924. 22 S. G.-M. —.35. 

Das Schriftchen kann als ein förderlicher Versuch zur Lösung des behandelten 
Problems nicht angesehen werden. Der Verf. befürwortet unmittelbare Belehrung 
über Straftaten und ıhre Folgen durch zwanglose Erörterung innerhalb wie außerhalb 


— 240 — 


des Unterrichts unter kräftiger Ausnutzung der natürlichen Empfänglichkeit des 
Kindes für diesen Stoff. Bedenken, ob es erzieherisch richtig ist, dieser Neugierde 
nachzugeben, kommen ihm nicht. Bei der Erörterung der wichtigsten Straftaten 
erscheint an der Spitze — die üble Nachrede (StGB. § 186), der 4 Seiten gewidmet 
sind. Das JGG. wird auch erwähnt, wenn auch erst auf der letzten Seite. Francke. 

Grünhut: Arbeitsgemeinsehaft für die Refðrm des Strafvollzuges. Zeitschr. f. 
d. ges. Strafrechtswiss. Bd. 45, H. 3, S. 295—297. 1924. 

Die Bestrebungen der Reformer des Strafvollzuges, die sich in der genannten 
Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen und die Verwirklichung des Erziehungs- 
gedankens im Strafvollzug auf ihre Fahne geschrieben haben, verdienen auch in den 
Kreisen der Jugenfürsorge ernste Beachtung. Der vorliegende kurze Aufsatz berichtet 
über die 2. Tagung der Arbeitsgemeinschaft am 9. und 10. IX. 1924 in Frankfurt a. M.. 
auf der ORR. Weiss (Strafanstalt Wolfenbüttel) eine vergleichende Darstellung de: 
neuen, auf den Grundsätzen vom 7. VI. 1923 aufgebauten Dienst- und Vollzugsord- 
nungen der Länder gab und Prof. Grünhut (Jena) die Ausbildung der Strafvollzugs- 
beamten behandelte. Francke (Berlin). 

Gleispaeh, Wenzel: Die Erneuerung des Jugendstrafreehts. Zeitschr. f. Kinder- 
schutz, Familien- u. Berufsfürs. Jg. 16, Nr. 11, S. 221—227. 1924. 

Fiala, Hans: Die Reform des Jugendstrafreehts vom Standpunkte des Jugendrichters. 
Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- u. Berufsfürs. Jg. 16, Nr. 11, S. 227—232. 1924. 

Glesinger, Rudolf: Die Gestaltung des Jugendstrafrechts vom Standpunkte der 
praktischen Jugendfürsorge. Zeitschr. f. Kinderschutz, Familien- u. Berufsfürs. Jg. 16, 
Nr. 11, S. 232—234. 1924, 

Herrmann, Walter: Der Strafvollzug an Jugendlichen. Zeitschr. f. Kinderschutz, 
Familien- u. Berufsfürs. Jg. 16, Nr. 11, S. 235—244. 1924. 

Die 4 Aufsätze geben Vorträge wieder, die auf einer Tagung der Zentralstelle 
für Kinderschutz und Jugendfürsorge am 17. Oktober 1924 in Wien gehalten worden 
sind. Gleispach lehnt sich in seinen Vorschlägen für ein österreichisches JGG. eng 
an das deutsche JGG. vom 16. 2. 23 an; er lehnt jedoch die Unterscheidung des 
deutschen Gesetzes, ob Erziehungsmaßregeln ausreichen ($6 JGG.), als zu unbestimmt 
ab und stellt die Frage, ob der Jugendliche bereits sittlich verderbt ist. Die sittlich 
verderbten Jugendlichen sollen in Besserungsanstalten nach Art der Refornigefäng- 
nisse kommen, wo sie nach Befinden des Gerichtes 1—10 Jahre verbleiben; die noch 
nicht verderbten Jugendlichen können bedingten Strafnachlaß, verbunden mit Er- 
ziehungsmaßregeln, erhalten. Fiala, der Vorsteher des Wiener Jugendgerichtes. 
geht bei seinen Vorschlägen ebenfalls vom deutschen Gesetze aus; die von ihm als 
Erziehungsmaßnahme vorgeschlagene ‚Besserungshaft‘‘ beruht auf der Eigenart des 
österreichischen Rechtes, das noch kein Fürsorgeerziehungsgesetz besitzt, und ist nur 
als Zwischenlösung gedacht. Unser besonderes Interesse verdient F.’s letzter Leitsatz: 
„Die Jugendgesetze müssen von fachlich geschulten Richtern zur Anwendung gebracht 
werden. Dazu ist es notwendig, den Jugendrichtern die Möglichkeit zu geben, sich eine 
Spezialausbildung anzueignen und in dieser Tätigkeit ihre Lebensaufgabe zu finden.“ 
Der Grazer Jugendamtsdirektor Glesinger fordert ein eigenes JGG. außerhalb der 
allgemeinen Strafrechtsreform und ein ständiges Zusammenarbeiten sozialpädagogisch 
vorgebildeter, von Paragraphenzwang befreiter Jugendrichter mit der Jugendgerichts- 
hilfe. Walter Herrmann wiederholt die Grundgedanken seines Buches über Hahn- 
öfersand. Die anschließende Aussprache endete mit einem Beschluß der Versammlung, 
durch eine kleine Kommission von Fachleuten den Entwurf eines JGG. ausarbeiten 
zu lassen, der durch Abgeordnete — womöglich aller Parteien — im Nationalrat ein- 
gebracht werden soll, und mit einem Appeli des Vorsitzenden Bartsch an die Justiz- 
verwaltung, es den Kräften, die für das Jugendrichteramt besonders befähigt sind. 
zu ermöglichen, ohne Schädigung ihres Fortkommens bis in die höheren Dienstjahre 
im Jugendgericht zu verbleiben. Francke (Berlin). 




















| 


Autorenregister. 


(Bei den halbfett gedruckten Seitenzahlen handelt es sich um Originalarbeiten.) 


ıbderhalden, Emil (Biologische 
Arbeitsmethoden) 91. 
Frick T. R. (Armenschulen) 


die, W. J. (Epilepsie) 47. 

dier, Alfred (Individualpsycho- 
logie) 213. 

himann, Wilhelm (Vorstellungs- 
leben) 114. 
lajouanine, Th. 
epidemica) 44. 
Ibath, R. (Jugendwohlfahrt) 


160. 

Ibert, Wilhelm (Pädagogischer 
Neubau) 198. 

lberti, Angelo (Religionsunter- 
richt) 19. 

Ibertini, A. (Fürsorge für Ab- 
norme) 200; (Schule für gei- 
stig anomale Kinder) 5l, 227. 
iden, Arthur M. (Gleichge- 
wichts- und Hörfunktionsprü- 
fung bei Taubheit) 53. 

llers, Rudolf, und Jakob Teler 
(Wahrnehmung) 26. 

Iiport, Floyd H. (Sozialwissen- 
schaft) 106. 

- Gordon W. (Amerikanische 
Psychologie) 14. 

nderberg, R., Th. Persson, E. 
Dahr, Th. Thorssell und H. 
Siegvald (Intelligenzprüfung. 
I.) 108. 

- — — — H. Siegvald und V. 
Lahne (Intelligenzprüfung. II.) 
109. 


(Encephalitis 


nderson, V. V. (Demonstra- 
tionskliniken für geistige Hy- 
giene) 163. 

uricchio, Luigi (Hämophilie) 
147. 


tacher, G. (Schwachsinn) 190. 

- Georg (Heilpädagogik) 155. 
ackhausen, W. (Fürsorgeerzie- 
hung) 73. 

ackman, Gaston (Bathro- und 
Klinocephalie) 87; (Körper- 
länge und Tageszeit) 88. 
äumer, Gertrud, und Lili Droe- 
scher (Kindesseele) 99. 
agby, English (Minderwertig- 
keit) 20. 

aldwin, Bird T. (Geistige Ent- 
wicklung) 27. 

appert, Jakob (Hilfsschüler) 
158. 


Bariety, M. s. Roubinovitsch, J. 
31. 

Bartlett, Frederic H. s. Wollstein 
Mart ha 140. 


Bartsch (Intelligenzprüfung) 108. 

Baruk, H. s. Roubinovitsch, J. 
31. 

Bat&k, J. (Kinderfürsorge) 157. 

Baudouin, Charles (Suggestion 
und Autosuggestion) 24. 

Bauer, Felix (Krüppelfürsorge) 
59 


— Julius (Konstitution) 91; 
(Konstitution und endokrine 
Drüsen) 12; (Konstitution und 
Geschlechtsbestimmung) 85. 

— Virginia, and Katharine 
Blunt (Kraftstoffwechsel von 
Kindern) 81. 

Baum, Marie (Gesundheitsfür- 
sorge) 61. 

Baynes, H. G. (Psyche der Primi- 
tiven) 122. 

Bean, Robert Bennet (Morpho- 
logie) 85. 

Bechterew, W., und N. Schtsche- 
lowanow (Genetische Reflex- 
ologie) 190. 

Bechtold, Eduard (Gedächtnis 
bei Blinden) 161. 

Becker, Gösta (Epidemische En- 
cephalitis) 43. 

Beerensson, Adele (Wohlfahrts- 
pflege) 79. 

Beggs, S. Thos. (Zurückbleiben 
von Elementarschülern) 202. 

Benzing, R. (Enuresis) 49. 

Berghaus (Teuerung und Volks- 
gesundheit) 9. 

Berliner, Anna (Alter und Ar- 
beitsgeschwindigkeit) 25. 

— Max (Endokrine Drüsen und 
Konstitution) 212. 

Bernard, L. L. (Instinkte) 106. 

— Léon s. Bezançon, F. 167. 

Bernheim-Karrer, J. (Rachitis 
und Myxödem) 41. 

Bettinotti, S. J. s8. 
Juan P. 81. 

Beverly, Bert I., and Mandel 
Sherman (Postencephalitische 
Charakterveränderung) 129. 

Bezancon, F., et Léon Bernard 
(Bekämpfung der Tuberku- 
lose) 167. 

Bianchi, Leonardo (Mikrocepha- 
lie) 223. 


Garrahan, 


Zeitschr. f. Kinderforschung. Bd. 30. 


u K. a 
46; (Krüppelfürsorge 

Birnbaum, Karl len scho: 
pathologie) 102. 

Blackader, A. D. (Nervöse Kin- 
der) 52. 

Bloch, C. E. (Blindheit und Nah- 
rungsmangel) 142. 

— Oscar (Satz in der Kinder- 
sprache) 29. 

Blondel,Ch. („L’intelligence“ von 
Taine) 111. 

Blunt, Katharine s. Bauer, Vir- 
ginia 81. 

Böhmig, Wolfgang (Ataxie) 143. 

Bogatsch (Hörstummheit) 204. 

Bolsi, Dino (Postencephalitische 
Zustände) 129. 

Bondi, S., und F. Schrecker 
(Wandlung konstitutioneller 
Merkmale. II.) 89. 

Bonhoeffer, K. (Unfruchtbarma- 
chung Minderwertiger) 208. 

Bonnier, G. (Morgansche Theorie) 
92 


Borel, A. s. Claude, Henri 83. 

Boulanger-Pilet, G. s. Nobé- 
court, P. 168. 

Boven, W. (Psychopathologie) 
3l. 


— William (Psychopathologie 
„normaler‘‘ Familien) 31. 
Bovet, Pierre (Vagabundierende 

Kinder) 193. 

Bowes, G. K. (Geistige Defekte 
in ländlichen Bezirken) 228. 
Boyd, Carlisle S. (Dystrophia 

adiposogenitalis) 42. 

Braun, H. (Sterilisierung 
Schwachsinniger) 208. 

Bresowsky, M. (Hebephrenische 
Endzustände) 124. 

Brezina, Ernst, und Viktor Leb- 
zelter (Wachstum, Beruf und 
Handdimensionen) 179. 

Brown, Francis E. (Wohlfahrts- 
pflegerinnen für Geschlechts- 
krankheiten) 175. 

— William M. (Vorsicht bei In- 
telligenzprüfung) 110. 

Bühler, Charlotte, und Johanna 
Haas N 185. 

Burgerseih,, Leo (Messung und 
A eung von Schulbesuchern) 


Burt, L et, II.) 
67. 


16 


Buschmann, P. (Erzieher für 
Fürsorgeerziehungsanstalten) 
175. 

Busco, Juan (Neuropsychische 
Entwicklung) 83. 

Buzby, Dallas E. (Gesichtsaus- 
druck) 216. 


Cady, Helen Mary (Zeugenaus- 
sage) 119. 

Carle (Syphilisübertragung) 95. 

Carp, E. A. D. E. (Selbstmord) 
125. 

Castelli, Carlo (Knochenbrüchig- 
keit) 13. 

Chapman, J. Crosby (Geistige 
Arbeit) 186. 

— W. D. (Mütter- und Säug- 
lingsfürsorge) 67. 

Chasse, J. Verploegh (Nervöse 
Kinder) 130. 

Christin (Aphasie) 137. 

Ciampi, Lanfranco (Fürsorgeer- 
ziehung) 174; (Psychiatrische 
Klinik) 227. 

Cibarelli, Francesco (Psychoana- 
lyse) 226, 

Cimbal, Walter (Untersuchung 
nervöser Kinder) 237. 

Claparède, Ed. (Intelligenz und 
Fähigkeit. II.) 107; (Kine- 
matographische Forschungs- 
methode der Kinderpsycholo- 
gie) 26. 

Clark, Taliaferro, Edgar Syden- 
stricker and Selwyn D. Collins 
(Gewicht und Größe als Er- 
nährungsindex) 5. 

Claude, Henri, A. Borel et Gilbert 
Robin (Schizoide Konstitution) 
83. 

— — et Gilbert Robin (Post- 
encephalitisches Syndrom)129. 

Coerper, Carl (Ärztliche Berufs- 
beratung) 69. 

Cohn, Paul (Faulheit) 199. 

Colin, A. (Jugendwohlfahrt) 63. 

Collier, James (Cerebrale Diple- 
gie) 137. 

Collins, Selwyn D. s. Clark, Talia- 
ferro 5. 

Comby, J. (Enuresis) 50; (Krank- 
hafte Erregbarkeit) 37; (Mon- 
golismus) 128. 

— Jules (Akute Encephalitis) 
34 


Conkey, Ogden F. (Intrakraniale 
Blutung) 135. 

Couve, Richard (Lehrlingseig- 
nungsprüfung) 68. 

Cozzolino, Olimpio (Rachitis und 
Erblues) 144. 

Cramaussel, E. (Wahrnehmung) 
19. 

Creutzfeld, H. G. (Heredodegene- 
ration) 94. 


Croner, Else (Psyche der weib- 
lichen Jugend) 101. 

Czerny, Ad. (Erziehung und Arzt) 
149. 

Czickeli, Hermann (Syphilisüber- 
tragung) 194. 


Dahr, E. s. Anderberg, R. 108. 

Daley, Mary Wood (Jugendlich- 
Kriminelle und Sexualerzie- 
hung) 157. 

Dantzig, Branco van (Sprech- 
unterricht) 57; (Stotternde 
Schulkinder) 203. 

Dawson, Shepherd (Leistungs- 
fähigkeit) 117. 

Day, John A. (Koedukation) 150. 

— Mildred E. (Geistige Betä- 
tigung und Gefäßvorgänge) 
110. 

Decroly (Erziehung Abnormer) 
51; (Geistige Störungen) 134; 

— O. (Kinderinteressen) 17. 

Degkwitz, Rudolf (Masernpro- 
phylaxe) 148. 

Delacroix, H. 
121. 

Delhougne, E. s. Thomas, E. 223. 

Dementjev, V. (Beratungsstelle 
für Mütter und Säuglinge) 167. 

Demole, V. (Schwachsinn) 34. 

Descoeudres, Alice (Sprach- 
schatz) 29. 

Dessauer, Fritz (Progressivsy- 
stem in Strafanstalten) 208. 
Dieing, J. B. (Ländliches Jugend- 

amt) 161. 

Dirr, Robert (Schwerhörigen- und 
Sprachheilschule) 232. 

Dobson, R. R. (Gruppen-Intelli- 
genztest) 186. 

Döring, Oskar (Schülerauslese und 
Berufsberatung) 171. 

— Woldemar Oskar (Schüler- 
auslese und psychische Berufs- 
beratung) 218. 

Doernberger, E. (Gesundheit- 
liche Fürsorge) 62. 

Dolan, Helen H. (Psychologische 
Testprüfung) 187. 

Drach, Erich (Sprecherziehung) 
159. 

Draper, George, Halbert L. Dunn 
and David Seegal (Konstitu- 
tion. I.) 5. 

Drever, James (Instinkte. I.) 105. 

Droescher, Lili s. Bäumer, Ger- 
trud 99. 

Dudden, Ernst (Entwicklung des 
tuberkulösen Kindes) 6. 

Dürckheim, Karlfried Graf v. 
(Erlebensformen) 98. 

Duhem, P. s. Nobecourt, P. 47. 

Dumoutet (Marschieren) 177. 

Dunn, Halbert L. s. Draper, 
George 5. 


(Worterfindung) 





Dunn Halbert s. Scammer. 
Richard E. 2. 

Dwyer, Hugh L. (Entwicklan._- 
defekte des Schädels) 38. | 


Eberhard, Otto (Erziehung=- 
schule) 152. 

Eckert, Marianne (Facialisp: 
nomen) 13. 

Edens, J. J., und D. Herderscr-: 
(Anzahl der Schwachsinni.- . 
191. 

Eliasberg, W. (Aphasie) 58: iz- 
telligenz und Sprache) Is». 

— Wladimir (Arbeitspatholo.: 
119. 

Ellger (Jugendgerichtsgesetz 1i” . 
Strafvollzug) 71. 

Ellwood, Charles A. (Soziolo_- 
und Sozialpsychologie) 1%. 
Elze, Curt (Rechtslinksempfi 

den und Rechtslinksblindh- 





Hans (Stimmschulus. 


Erismann, Theodor 
des Geistigen) 98. 

Ewald, G. (Temperament ur | 
Charakter) 96. 


(Eigen.ar" 


Fanconi, G. (Infantiler Ker: 
schwund) 142. 

Fassl, E. (Funktionelle Hör- ur. 
Sprachstörung) 203. 

Federn, Paul (Masturbate: 
132. 

Feingold, Gustave A. (Intel - 
genz und Schulleistung) 15! 

Feldman, W. M. (Säuglinistir 
sorge) 168. 

Feldner, J., und E. Lazar :Un 
gezogenheiten) 36. 

Ferreira, Clemente 
giene) 162. 

Ferrero-Lombroso, Gina iJ. 
gendgerichte in Belgien) 235 

Fetscher, Rainer (Knabenzift:r 
10. 

Feuchtwanger, Erich (Stirnhıir: 
funktionen) 1. 

Fiala, Hans (Jugendstrafr«!. 
240 


(Kindert.: 


Findlay, Leonard (Syphilis con 
genita) 193. 

Finkbeiner (Kretinismus) 3. 

Finkelstein, H. (Säuglingskrans. 
heiten) 147. 

Fischer, F. P. (Kopfbewegunzn: 
177. 


— Heinr., und Herm. Hofmann 
(Körperbauforschung) 180. 

— Martin s. Lasch, W. 178. 

— -Defoy (Fürsorge für 
schlechtskranke) 236. 

Flatau, Theodor S. (Sprachst. 
rung) 203. 


(ve 


Fleming, G. B., and H. S. Hut- 
chison (Stoffwechsel unterer- 
nährter Kinder) 178. 

Flores, Antonio (Vorzeitige Pu- 
bertät) 180. 

Foerster, Fr. W. (Jugendbewe- 
gung) 151. 

Foote, John A. (Arzt und Psycho- 
logie des Kindes) 77. 

Fornaseri, Guido (Entwicklung 
im 1. Lebenshalbjahr) 120. 

Foucault (Sinnesschärfe und Ent- 
wicklung) 52. 

Fox, Charles (Auffassung) 105; 
(Lustbetonung und Gedächt- 
nis) 112. 

Francke (Kriminalität der Acht- 
zehnjährigen) 206. 

— Herbert (Jugenwohlfahrt) 
190 


Frank, Hildegard (Längenwachs- 
tum der Säuglinge) 209. 

Frantäl, Jos. (Jugendfürsorge) 
64 


Fraser, J. S. (Taubstummheit) 
232. 


Freud, Sigm. (Genitalorganisa- 
P 21; (Infantile Neurose) 
131. 

Freudenberg, Karl (Körpermes- 
sungen und -wägungen) 88. 
Friedjung, Josef K. (Einschlaf- 
störung) 38; (Kindlicher Kri- 
minalität) 30; (Masturbation) 
2: (Pathologie und Erziehung 

14. 

Fröschels, E. s. Rothe, Karl C. 

57. 


— — und F. Trojan (Sprech- 
technischer Unterricht) 57. 
— Emil (Dysarthrie) 203; (Lis- 
peln) 59; (Sprachstörungen) 
160; (Stottern) 57; (Schwerhö- 
und Taubstummheit) 
Fuchs, A. (Hilfsschulwesen) 52. 


Galant, Johann Susmann (Kin- 
desalter, Einteilung) 120. 

Garrahan, Juan P., und S. I. 
Bettinotti (Ernährungszustand 

_ in den Schulen) 81. 

Garrett, Henry E. s. Naccarati, 
Sante 6. 

Garrido-Lestache, D. Juan (Kin- 
derschutz) 66. 

Garth, Thomas R. (Farbenvor- 
liebe) 114. 

Gartje, E. (Überempfindlichkeit 
bei Ekzem) 148. 

Gates, A. I. (Körperbeschaffen- 
heit und Schulleistung) 196. 

— Georgina Stickland (Arbeits- 
leistung) 118. 

Gault, Robert H. (Psychologische 
Studien) 119. 


243 


George, Ruggles (Lehrer als ärzt- 
licher Überwacher der Schule) 
174. 

Gerstmann, Josef, und Otto Kau- 
ders (Postencephalitische Zu- 
standsbilder) 128. 

Giannuli, F. s. Mingazzini, G. 
135. 

Gibson, Edward T. (Chronische 
idiopathische Tetanie) 41. 

Giese, Eberhard (Wohlfahrts- 
amt) 162. 

— Fritz (Intelligenzuntersu- 
chung) 216; (Psychognostik) 
218. 

Gifford, Mabel Farrington 
(Sprachstörung) 56. 

Gigon, A. s. Staehelin, R. 12. 

Gilchrist, Olive B. (Geistige Ent- 
wicklung) 101. 

Gleispach, Wenzel, (Jugendstraf- 
recht) 240. 

Glesinger, Rudolf (Jugendstraf- 
recht) 240. 

Glueck, Bernard (Das nervöse 
Kind) 37. 

Göring, M. H. (Jugendgesetz und 
Strafgesetzbuch) 72. 

Göttler, Joseph (Pädagogik) 153. 

Goldberger, Markus s. Grösz, 
Julius 44. 

Goldbladt, Hermann (Mikroce- 
phalie) 128. 

Goldenweiser, Alexander (Sozial- 
psychologie) 106. 

Goldstein, Max A. (Erziehung 
des tauben Kindes) 158. 

Gonzenbach, W. v. (Berufsbera- 
tung) 170. 

Gordon, Hugh (Hand-Ohr-Test) 
26 


Gottstein, Adolf (Körpermessun- 
gen) 4. 

Graber, Gustav Hans (Ambiva- 
lenz) 215. 

Gradenigo, G. (Taubstummbheit) 
13. 


Gray, Horace s. Katz, S. E. 164. 

— P. L., and R. E. Marsden 
(Intelligenzquotient) 186. 

Green, Beatrice (Schwachsinn) 
127. 

Greene, James Sonnett (Stottern) 
54 


Gregor, Adalbert (Erziehungsan- 
stalt und Fürsorgebehörde) 
61; (Fürsorgeerziehung) 174; 
(Schwererziehbare Fürsorge- 
zöglinge) 315. 

Gromski, M. (Mutter- und Kin- 
derschutz) 205. 

Grósz, Julius, und Markus Gold- 
berger (Encephalitis epidemica) 
44 


Grünfeld, Karl (Kinderfürsorge) 
205. 


Grünhut (Strafvollzug) 240. 

Gürtler, Reinhold (Triebgemäßer 
Erlebnisunterricht) 200. 

Guillaume, P.(Raumanschauung) 
17. 

Gumpert, Martin (Erworbene 
Geschlechtskränkheiten der 
Kinder) 103. 

Gurewitsch, M. (Psychogenien) 
37. 

Gutzmann, Hermann (Sprach- 
heilkunde) 54. 


Haas, Johanna s. Bühler, Char- 
lotte 185. 

Hackel, Bertha (Ländliche Wan- 
derkurse) 80. 

Haecker, Valentin (Vererbungs- 
forschung) 91. 

Hall, Gertrude E. (Uneheliche 
Mütter) 206. 

Harford, Charles F. (Schielen und 
seelische Verfassung) 143. 

Haythorn, Samuel R. (Vorbeu- 
gende Heilkunde) 77. 

Hazewinkel, J. F. s. Révész, G. 
199. 

Heagerty, J. J. (Erziehung und 
Prostitution) 65; (Geschlecht- 
liche Erziehung) 226. 

Hebel (Taubstummenfürsorge) 
233. 

Heijermans, Ida (Sexuelle Auf- 
klärung) 226. 

Heinis, H. (Berufseignung) 119. 

Heller, Theodor (Motorische 
Rückständigkeit) 1. 

Hellerich, Eugen (Rechenunter 
richt bei Taubstummen) 234. 

Hellwig, Albert (Bestrafung Ju- 
gendlicher) 238. 

Helmreich, Egon, und Edmund 
Nobel (Appetitsstörung) 148. 

Henderson, D. K. (Psychosen) 
134. 

Hendry, Mary s. Talbot, Fritz 
35 


Henning, Martha P: son (Taub- 
stummenschule) 53. 

Hepp, J. (Heilpädagogisches Se- 
minar in der Schweiz) 76. 

Herdersch&e, D. s. Edens, J. J. 
191. 

Herrman, Charles (Erbliche 
Krankheitsanlage) 94. 

Herrmann, Walter (Strafvollzug) 


240. 
Herwerden, M. A. van (Erblich- 
keit und Eugenetik) 10. 
Herz, Oscar (Lues congenita) 45. 
Heupgen, P. (Belgisches Jugend- 
schutzgesetz) 239. 
Heywang, Ernst (Arbeitsschule) 
153. 
Higier, Heinrich (Demenzfor- 
men) 34. 


16* 


Higier, Henryk (Fürsorge für 
Minderwertige) 201. 

Hildenbrandt, Kurt (Rassen- 
psychologie) 220. 

Hirsch, Georg (Persönlichkeit 
und Masse) 24. 

Hirschberg, Julius (Hutchinson- 
sche Zähne) 194. 

Hirschfeld, Magnus (Geschlechts- 
kunde) 211. 

Hirszfeldowa, H., und W. Ster- 
ling (Konstitutionelle Mesen- 
chymosen) 181. 

Hoepfner, Th. (Gestörte Koordi- 
nation der Atmung) 56; 
(Sprachstörung) 58. 

Hoffmann (Hilfsschüler) 156. 

— Hermann (Temperamentsver- 
erbung) 184. 

Hofmann, Edmund (Geschlechts- 
krankheiten im besetzten 
Rheinland) 71. 

— Herm. s. Fischer, Heinr. 180. 
Holloway jr., J. W. (Soziale Für- 
sorge und Prostitution) 166. 
Holm, Eiler (Sonderschulen für 

Schwachsichtige) 158. 

Holzer, Hedwig s. Kraus, Erik 
Johannes 180. 

Homburger, August (Seelische 
Differenziertheit) 11. 

Honecker, Martin (Sittliche Wer- 
tung) 21. 

Hoppeler, Hans (Kindererzie- 
hung) 199, 205. 

Horrix, Hermann (Rechenunter- 
richt in der Hilfsschule) 156. 

Hoven (Frühzeitige Aufspürung 
der Abnormen) 227. 

Hoyer, Arnulf, und Galina Hoyer 
(Lallsprache) 220. 

Hubben, Wilhelm 
203. 

Hülser, Carl (Zeitauffassung) 
216. 

nn H. (Psychoana- 

yse) 214. 
Hacken, Robert (Geistig Defekte) 
229. 


(Stamnler) 


Hurlock, Elizabeth B. (Lob und 
Tadel) 219. 

Husler, I. (Lues nervosa) 95. 

Hutchison, H. S. s. Fleming, 
G. B. 178. 

— Robert s. Tredgold, A. F. 83. 


Jakob, A. (Extrapyramidale Er- 
krankungen) 138. 

Jarden, Ellen M. (Schwachsinn) 
127. 

Jarrett, Mary C. (Ausländische 
Mädchen in amerikanischen 
Wohlfahrtseinrichtungen) 166. 

J an Karl (Psychopathologie) 

221 


Jaspert (Erholungsfürsorge) 165. 


244 


Ilberg, Georg (Psychische und | Kraßmöller, W. 


nervöse Erkrankungen) 123. 
Joannon, Pierre s. Paillard, 
Henri 44. 
Jörger jun. (Postencephalitische 
Schädigungen) 128. 
Jones, Alice M. (Begabte Kinder) 
189. 
— Ernest (Instinkte. II.) 105. 
— Robert (Krüppelfürsorge) 59. 
Jong, H. de (Palaeo- und Neo- 
Intellekt) 106. 
Jourdan, Kurt (Jugendamt) 161. 
Isserlin, M. (Psychoanalyse) 265. 


Kammerer, Paul (Variationsfor- 
schung) 91; (Vererbung er- 
worbener Eigenschaften) 91. 

Kantor, J. R. (Sozialpsychologie) 
106. 

Kármán, E. v. (Diebstahl) 62; 
(Zuchtlose Kinder) 192. 

Katz, S. E., und Horace Gray 
(Körpergröße und Gewicht in 
einem Heim) 164. 

Kauders, Otto s. Gerstmann, Jo- 
sef 128. 

Kaup, J. (Norm- und Konstitu- 
tionsforschung) 210. 

Kayser-Petersen, J. E. (Tuber- 
kulose-Unterricht) 175. 

Kehrer, Ferdinand, und Ernst 
Kretschmer (Veranlagung zu 
seelischen Störungen) 82. 

Kennedy, Roger L. J. (Epide- 
mische Encephalitis) 194. 

Kiesow, F. (Nachbilder) 113. 

Kirchberg, Franz (Wert der See 
für die Gesundheit) 165. 

Klatt, Fritz (Erziehungsperioden) 
198. 

Klompmaker, K. (Anzahl der 
Schulstunden für Zurückge- 
bliebene) 156. 

Klopfer, Bruno (Seelische Hem- 
mungen) 103. 

Klüver, Heinrich (Begabungs- 
differenzierung) 150. 

Kment, Hans (Meningitis tuber- 
culosa) 141. 

Koch, Helen Lois (Lernen in Irr- 
gartenversuchen) 18. 

Kochmann, Rudolf (Konstitu- 
tion) 85; (Musikalische Ge- 
dächtnisbilder. I.) 113. 

Köhler, Georg (Mathematische 
Kritikfähigkeit) 25. 

König, Theodor (Reklame-Psy- 
chologie) 27. 

Koffka, K. (Gestalttheorie und 
Psychologie) 16. 

Kohlrausch, W. (Funktionelle 
Beanspruchung und Massen- 
entwicklung) 179. 

Kossel, H., und Moses (Unter- 
richtszeit) 149. 





Schulkind) 130. 

Kraus, Erik Johannes, und Hai- 
wig Holzer (Gehirn, Schi: 
drüse und Körperwachstur 
180. 

Kretschmer, Ernst, s. 
Ferdinand 82. 


Kreutz (Geschlechtskrankbeite: - 


Bekämpfung) 167. 
Kroon, H. M. 
Trunksucht) 94. 


Krug, Josef, und Otto Pomm:? 


ie begabte Schül- 


Kühn, Leonore (Moderne Fra: 
176. 

Kuenburg, M. Gräfin von (Ps: 
chische 
schulbogen) 77. 

Kupky, 
wicklung) 189. 


Labeaume, Georgette s. Renau! 


Jules 168. 


Lämel, Carl (Gemeinde- und Fü’ 


sorgearzt) 76. 


(Das nervs 


Kebr... 


(Erblichkeit c-t 


Defekte und Hit- 
Oskar (Religiöse En! 


—— 








Lahne, V. s. Anderberg, R. 10.. 
Lang, Käthe (Kropfprophylar 


145. 

Langenberg, Hans 
losung und Erziehungsschul- 
133. 


Lapie, Paul (Psychologie un: 


Pädagogik) 77. 
Lasch, W.. 
(Bauchlage des Säuglings) 17“ 
Lazar, E. s. Feldner, J. 36. 
Lebzelter, Viktor, s. 
Ernst 179. 


E Fernand (Erstes Zahnen 


Deere Richard (Kinderhe:! 
kunde) 82. 

Lellep, K. (Stottern) 55. 

Lemaire, 
hereditäre Syphilis) 127 

Lennox, Wm. G. 
lichkeit) 65 


Lenroot. Katharine F. (Verwah:: 


loste Mädchen) 133. 
Lenz, Fritz (Schizophrenie) 1% 
Lereboullet, P. (Epiphyse) 41. 
Leredde (Syphilis ignorée) 143. 


Liebers, M., und S. Maass (Nei: 
Unte: 
suchungen bei Schwachsint.: 


rologisch- 'serologische 


gen) 125. 
Liefmann, E. (HygienischeVolk- 
belehrung) 76. 


Lienck (Berufswahl der Hii 


schüler) 69. 

Liepmann (Vernehmung i! 
Strafprozeß) 72. 

Linde, Ernst (Seele der Jugend 
lichen) 101. 


(Verwabr 


und Martin Fisch" 


Brezira. 


H. (Mongolismus un: 


(Kinderster! 


indeberg, W. (Chondrodystro- 
phie) 42. 

indner, Rudolf (Elementar- 
unterricht der Taubstummen) 
234. 

indworsky, J. (Psychoanalyse) 
229. 

— Johannes (Willensschule) 22. 

ipmann, Otto (Berufsberatung. 
1.)67; (Psychische Geschlechts- 
unterschiede. I.) 121;. (II.) 
121. 

Junggren, C. A. (Schulhygiene) 
16 


Max (Schülerkunde) 18. 

„öpfe (Schizophrenie) 135. 

Löwi, M. (Schwellenuntersuchun- 
gen) 105. 

Lücker, Fritz-Carl (Vererbung 
von Mißbildungen) 93. 

Lückerath (Anstaltserziehung 
männlicher Psychopathen) %3. 

Lumsden, Thomas (Hirnstamm- 
blutung) 136. 

Luquet, G.-H. (Graphische Dar- 
stellung) 19; (Kinderzeich- 
nung) 217. 

Lutz, William Filler (Geistige 
und körperliceh Entwicklung) 
121. 


Maass, S. s. Liebers, M. 125. 
McAuliffe, George B. (Taubheit) 
3 


53. 

McCall, W. A. s. Thorndike, E. 
L.119. 

McGraw jr., Theodore A. (Or- 
ganotherapie und Körper- 
wachstum) 146. 

Maeder, Alfonso (Psychoanalyse 
und Pādagogik) 226. 

Maher, Elen E. (Sittliche Ent- 
wicklung) 189. 

Maier, Hans (Verwahrungsge- 
setz) 75. 

Malisch, K. (Lesen und Schreiben 
Taubstummer) 84; (Sprech- 
unterricht für Taubstumme) 
234. 

Malsch, Fritz (Vorstellung, Be- 
gabung, Leistung) 118. 

Mandolini, Ernani (Freundschaft 
und Homoerotik) 96. 

Manthey, H. (Aufmerksamkeit in 
der Hilfsschule) 51. 

Mapes, Charles C. (Masturbation) 
193. 

Marsden, R. E. s. Gray, P. L. 186. 

Martin, Rudolf (Körpermessun- 
gen) 87. 

Mattauschek, E. (Geisteskrank- 
heiten in der Nachkriegszeit) 
124. 

Maurer, E. (Bevölkerungsbewe- 
gung der Kriegs- und Nach- 
kriegsjahre. IV.) 91; (V.) 90. 


— — 


245 


Meagher, J. F. W. (Charakter- 
entwicklung) 121. 

— John F. W. (Verbrechen und 
seelischer Konflikt) 206. 

Meirowsky, E., und Felix Pinkus 
45. 

Meltzer, Ewald (Anstalt für 
Schwachsinnige) 156. 

Mennicke, Carl (Jugendbewe- 
gung und öffentliche Wohl- 
fahrtspflege) 235. 

Merriman, Curtis (Zwillinge) 110. 

Messer, A. (Jugendbewegung) 152. 

Messerli, F. (Kropf) 40. 

Meuer, H. (Wortgedächtnis) 112. 

Meyer, Charlotte (Jugendliche 
Zeugen) 173. 

— E. (Psychiatrie) 123. 

— Gertrud (Syphilis) 45. 

Michälek, Eduard (Geisteskran- 
kenfürsorge) 51. 

Michel, Rudolf (Strafhaft) 123. 

Michelsson, Gustav (Norm und 
Konstitutionstypen) 4. 

Mihalescu, S. s. Urechia, C.-J. 
127. 

Mikulińska, Janina s. Reis, Wik- 
tor 202. 

Mingazzini, G., und F. Giannuli 
(Aplasiae cerebro-cerebello- 
spinales) 135. 

Missriegler, Anton (Psychanalyse) 
21 


Mori, Shinnosuke s. Suzuki, Ta- 
dashi) 195. 

S L. (Parkinsonismus) 
140. 

Moses s. Kossel, H. 149. 

— J. (Seelenbinnenleben) 99. 

— Karl (Hypnose) 207. 

Frederick (Jugendliche) 


Müller, Armin (Individualität 
und Subordination) 98. 

— G. E. (Psychologie) 14. 

— Johanna (Motiv und Willens- 
handlung) 104. 

Mulon, Clotilde, et Henri Roue- 
che (Soziale Fürsorge für Mut- 
ter und Kind) 165. 

Mundie, G. S., and Baruch Silver- 
man (Heilpädagogische Kli- 
nik) 227. 

Murphy, Douglas P. (Inzucht) 
184. 


— Ross D. (Schwachsinn) 127. 

Muscio, B. (Berufseignung) 25. 

Myers, Bernard (Medizinische 
Statistik) 176. 


Naccarati, Sante, and Henry E. 
Garrett (Konstitution und Ver- 
halten) 6. 

Naegeli, O.(Unfallsneurosen) 149. 

Nafe, John Paul (Gefühlsquali- 
täten) 216. 


Nasso, I. (Einziges Kind) 37. 
Navarro, Juan Carlos (Neuge- 
borene in Argentinien) 89. 
Neurath, Rudolf (Linkshändig- 

keit) 179; (Mimik infolge Ge- 
burtstrauma) 137. 
Nissen, Karl (Generationsrhyth- 
men) 93. 
Nobecourt, P., et G. Boulanger- 
Pilet (Säuglingstukerkulose) 
168. 


— — et P. Duhem (Spinale Kin- 
derlähmung) 47. 

Nobel, Edmund (Myxödem) 40, 
145. 

— — s8. Helmreich, Egon 148. 

— — und Alexander Rosen- 
blüth 145. 

Nobl, G., und F. Remenovsky 
(Syphilis congenita) 144. 

Nohl, Hilde (Schulkindergarten) 
172. 

Nota, F. (Littlesches Syndrom) 
138. 


Obarrio, Juan M. 
lappentumor) 141. 

Oestreicher, Paul (Asthenie) 210. 

Offner, Max (Gedächtnis) 117. 

O’Flaherty, Wiliam (In der 
Schule Zurückbleibende) 127. 

Olesen, Robert (Schilddrüsenun- 
tersuchung bei Schulkindern) 
180. 

Oliva, S. e in 
Buenos Aires) 63 

Orrico, Juan (Krämpfe) 47. 

Oseretzki, N. J. (Motorische Be- 
gabung) 300. 


Paillard, Henri, et Pierre Joan- 
non (Encephalitis epidemica) 
44 


(Oceipital- 


Passow (Gebärdensprache) 204. 

Paterson, Donald (Tuberkulöse 
Meningitis) 43. 

Paul-Boncour, G. (Anpassungs- 
fähigkeit Abnormer) 32. 

Paull, H. (Körperliche und gei- 
stige Entwicklung) 4, 178. 

Pauli, R. (Bewußtsein) 106; 
(Gedächtnisapparat) 187. 

Pearson, Karl, and L. H. C. Tip- 
pet (Kopfindices und Rasse) 
86 


Peiper, Albrecht (Reizbarkeit im 
Schlafe) 178. 

Peiser, Julius (Entwicklung tu- 
berkulosebelasteter Kinder) 6; 
(Körperproportionen) 87; (Tu- 
berkulose des Schulkindes) 42. 

Peller, Sigismund (Intrauterines 
Wachstum und soziale Ein- 
flüsse) 84. 

Person, Joseph (Intelligenz) 186. 

— Th. s. Anderberg, R. 108, 109. 


Pfaundler, M. (Kropf und Kreti- 
nismus) 39. 

Phillips, William (Locke über 
Übung) 25. 

Piaget, Jean (Sprache und Den- 
ken) 28. 

Pick, A. (Echosprache) 126. 

Pilcz, Alexander (Kinder geistes- 
kranker Mütter) 85. 

Pinerüa, Oscar (Spiele) 19. 

Pinkus, Felix s. Meirowsky, E. 
45. 

Pisani, Domenico (Intelligenz- 
prüfung bei Schwachsinnigen) 
118. 

Plantenga, B. P. B. (Konstitution 
und Ernährung) 86. 

Polligkeit, W. (Notlage in 
Deutschland) 60. 

Pommer, Otto s. Krug, Josef 188. 

Popenoe, Paul (Illegitimität und 
Eugenik) 71. 

Pototzky, Carl (Enuresis) 48; 
(Nervöse Konstitutions- und 
Reaktionstypen) 38; (Sugges- 
tion) 217. 

Potts, W. A. s. Tredgold, A. F. 
83. 

Prandtl, Antonin (Gehirn- und 
Bewußtseinsvorgänge) 97. 

Prinzing (Körpermessungen und 
-wägungen) 87; (Säuglings- 
und Kleinkindersterblichkeit) 
209. 

Prissmann, J. (Torsionsdystonie) 
45. 

Pritchard, Eric s. Tredgold, A. 

° F.83. 

Puppe (Jugendgefängnis) 207. 

Pyle, W. H. (Lernen) 111. 


Quasebarth, Käte (Zeitauffas- 
sung) 216. 

Quervain, F. de (Kretinismus, 
Hypothyreoidismus und Ner- 
vensystem) 40. 


Raatz, W. (Heilpädagogik) 201. 

Raecke (Soziale Psychiatrie) 35. 

Raimann, Emil (Verwahrlosung) 
133. 

Raspe, Carla (Kinderträume) 21; 
(Selbstbeobachtung) 99. 

Reed, H. B. (Schulung und indi- 
viduelle Differenzen) 112. 

Rehm, Otto (Fürsorgezöglinge) 
35; (Kotspieler) 275. 

Rehmke, Johannes (Gemütsbil- 
dung) 100. 

Reich, F. (Begabte Taubstum- 
me) 235. 

— H. (Testikelmessungen) 89. 

Reis, Wiktor, und Janina Miku- 
liska (Erlangung des Sehver- 
Den bei Blindgeborenen) 

02. 


246 


Reisinger, Franz (Minderwertig- 
keit und Rechtsverletzung) 73. 
Remenovsky, F. s. Nobl, G. 144. 
Renault, Jules, et Georgette 
Labeaume (Zeit-Waisen) 168. 
Revesz, G., and J. F. Hazewinkel 
(Pädagogischer Wert der Pro- 
jektionslampe) 199. 

Reyher, P. (Prämatur-synosto- 
tische Stenocephalie) 13. 

Richards-Nash, Albertine A. (Be- 
gabte Kinder) 189. 

Richter (Jugendpflege, Jugend- 
bewegung, _Jugendfürsorge) 
236. 

— August (Lehrplan für Taub- 
stumme) 235. 


Ritter, C. (Extremitätenbeuger 
und Strecker) 3. 

Robertson, George (Epilepsie) 
137. 


Robin, Gilbert s. Claude, Henri 
83, 129. 
Rogge, Christian autihriale: 


gie) 3. 
Rohden, Friedrich v. (Praktische 
Intelligenz) 24. 
Rose, Gustav (Psychologischer 
Beobachtungsbogen) 170. 
Rosenblüth, Alexander (Kropf- 
prophylaxe) 144. 
— — s. Nobel, Edmund 145. 
Rosenstein, Gaston (Masturba- 
tion) 132. 
Rosenthal, Josef (Koschs Wai- 
senerziehungsanstalt) 153. 
Rothe, Karl C., und E. Fröschels 
(Sprachkranke Kinder) 57. 
— — Cornelius (Sprachgestörte 
Kinder) 145. 
Rothschild, Sally 
124. 

Roubinovitsch, J., H. Baruk et 
M. Bariéty (Neuropsychiatrie) 
31. 

Roueche, Henri s. Mulon, Clo- 
tilde 165. 

Rüdin, Ernst (Rassenhygienische 
Familienberatung) 182. 

Rümke, H. C. (Glücksgefühl) 
23. 

Ruf, Sepp (Familienbiologie) 95. 
Ruffieux, Franz (Sprechunter- 
richt für Taubstumme) 234. 
Rust, Hans (Zungenreden) 102. 
Ryhiner, Peter (Stirnfontanelle) 

2. 


(Schizoidie) 


Saareste, E. (Fürsorge für das 
Hörorgan) 53. 

Sabatini, Luigi (Aphasie nach Ty- 
phus) 142. 

Sachs, M. (Stottern) 55. 

Sadger, J. (Geschlechtsleben) 30. 

Safford, Victor (Kinderwohl- 
fahrtspflege) 204. 


Saizeff, Helene (Enuresis) 4%. 

Saldaña, Quintiliano (Juger. 
gefängnis) 207. 

Sauer, Hugo (Jugendberatun.-. 
stellen) 161. 

Saupe, Emil (Deutsche Päda.- 
gen) 152. 

— Walther (Erfahrung und t» 
staltung) 106. 

Scammon., Richard E., and Hs. 
bert Dunn (Kleinhirnwa:c 
tum) 2. | 

Scherk, Gerhard (Eunuchci* 
211. 

Schilder, Paul (Medizinische Fr 
chologie) 212; (Psychoanak: 
203. 

Schlapp, Max G. 
stände) 33. 

Schlemmer, Hans (Pädago.:: 
und Jugendbewegung) 24 
(Vererbung und Erziehu:. 
195. 

Schlesinger, Eugen (Ernähnu: HI 
und Entwicklung) 7: (Kino- 
kinderreicher Familie) 8. 

Schmidt, Eugen (Individualp-: 
chologie und Strafrecht) 22 

Schneerson, F. (Katastroph: 
Ereignisse und Entwicklur. 
122. 

Schneider, Ernst (Stottern) 1- 

— M. (Taubstummensch::: 
233. 

Schnitzer, Herbert (Seelisch ^- 
norme im Jugendgericht:.- 
setz) 238. 

Schoedel, Joh. (Soziale Frau-t: 
berufe) 69. 

Schrecker, F. s. Bondi, S. $? 

Schreiner, Alette ( Erblichkeit ‘łk’ 
Kopfform) 93. | 

Schriever. Hans (Testleistun::' 
219. 

Schröder (Hilfsschule und Ra~ 
senhygiene) 91. 

— Fritz (Berufsanalvse) 25. 


a 





(Defekt: 





Schroetter,. Hermann (Kw; 
39. 

Schtschelowanow. N. s. Be' 
terew, W. 1%. 

Schüssler, Heinrich (Entwi- 


lung des Denkens) 121. 

Schulte, R. W. (Psycholozi-! 
Beratung) 218. 

— Rob. Werner (Entwicklun.- 
Jahre) 198. 

Schultz-Bascho. Paula 
liche Berufswahl) 68. 

Schultze, F. E. Otto (Psvchor 
thologische Grenzerschein:: 
gen) 120. 

Schulze, Ewald (Hilfsschullr'. 
plan) 155. 

Schumacher. 
Ideen) 153. 


(Wer 


Henny «(Früh 


chumann, Paul (Kant und die 
Taubstummen) 159; (Taub- 
stummenbildung) 232. 

chwab, Georg (Psychischer Zu- 
stand beim Kleinkind) 185. 

>hwartz, Philipp (Geburtsschä- 
digung) 136. 

chweizer, Fernando (Physi- 
sche Erziehung des Säuglings) 
66. 

cripture, E. W. (Stottern) 54; 
(Sprachklinik) 56. 

eegal, David s. Draper, George 
5 


eelig, P. (Anstalten für psycho- 
pathische Fürsorgezöglinge) 


180. 
eif, Leonhard (Zwang) 38. 
ereni, Enrico (Spiegelschrift) 
116. 
herman, Mandel (Reaktionen 
bei Säuglingen) 81. 
— — 8. Beverby, Bert J. 129. 
iegel, Alvin E. (Vorzeitige Ge- 
schlechtsentwicklung) 181. 
Hegvald, H. s. Anderberg, R. 
108, 109. 


iiemens, Hermann Werner 
(Linkshändigkeit) 90; (Zwil- 
lingspathologie) 11. 


silverman, Baruch s. Mundie, G. 
S. 227. 

jimon, Gustav (Vorbeugung von 
Straftaten durch die Schule) 
239. 

— Th., et G. Vermeylen (Debili- 
tāt) 126. 

Simonic, Anton (Umfang des 
Beachtens bei Schwachbefähig- 
ten) 282. 

sitsen. A. E. (Rassenunterschie- 
de) 182. 

Smith, Richard M. (Periodische 
Untersuchung Gesunder) 164. 

soecknick, Anna (Kriegseinfluß 
auf Psychopathen) 35. 

Sollgruber, Karl s. Talbot, Fritz 
35. 

Sommer, Robert (Familienfor- 
schung) 91. 

Spitzy, Hans (Körperliche Erzie- 
hung) 154. 

Staehelin, R., und A. Gigon 
(Gaswechsel bei Zwergwuchs) 


12. 

Stählin, Otto (Erziehung) 151. 

Stalnaker, Elizabeth M. (Psy- 
chische und physische Messun- 
gen. II.) 5. 

Stedman, Lulu M. (Erziehung 
Begabter) 150. 

Steenhoff, G. (Fürsorgestellen) 
65. 

Stein, L. (Stottern) 54. 

- Leopold (Entwicklungsstot- 
tern) 55. 


247 


Stelzner, Helene-Friderike (In- 
zest) 239. 

Stephani (Gesundheitsbogen)170. 
Sterling, W. s. Hirszfeldowa, H. 
181. 
Stern H. 
224. 

— Hugo (Krankheiten der 
Stimme) 231. 

— William (Ernstspiel)100. 

Sterzinger, Othmar (Aufmerk- 
samkeit) 16; (Entwicklung von 
Begabungen) 197. 

SUSE, Hans (Landeslehrplan) 

153. 


(Religionsunterricht) 


Stier, Ewald (Einschmutzen und 
Einnässen) 123; (Nächtliches 
Kopfschütteln) 131. 

Stinchfield, Sara Mae (Sprach- 
tests) 112. 

Stockert, F. G. (Stottern) 56. 

Stoltenberg, L. (Schularzttätig- 
keit) 76. 

Storch, Alfred (Psychopatholo- 
gie) 222. 

Stoye, W. (Fettsucht mit Riesen- 
wuchs und Polyglobulie) 42. 

Suhrmann, Hildegard (Stimmer- 
ziehung) 159. 

Suter, J. (Psychotechnische Be- 
rufsberatung) 120. 

Suttie, Jan D. (Moralischer 
Schwachsinn) 191. 

Suzuki, Tadashi, and Shinno- 
suke Mori (Beriberi) 195. 

Sydenstricker, Edgar s. Clark, 
Taliaferro 5. 

Szirmai, Friedrich (Lues conge- 
nita) 46. 

Szulczewski, Bronislas (Hypnose) 
217. 


Talbot, Fritz, Karl Sollgruber 
und Mary Hendry (Kretinis- 
mus) 35. 

— — B. (Grundstoffwechsel)11; 
(Wachstum. III.) 222. 

Tamm, Alfhild (Zurückgebliebe- 
ne Schulkinder) 191. 

Tartakoff, Samuel (Geistige Hy- 
giene) 65. 

Tausk, Victor (Masturbation) 36. 

Teler, Jakob s. Allers, Rudolf 
26. 

Terman, Lewis M. (Testversuche) 


104. 
Thein 
171. 
Thomas, E., und E. Delbougne 
(Schilddrüse bei Mongolismus) 
223. 
Thomson, Godfrey H. (Intelli- 
genz und Fähigkeit. I.) 107. 
— John (Bleivergiftung) 47; 
(Geistig abnorme Säuglinge 
und Kleinkinder) 50. 


(Berufsberatungsanstalt) 


Thorndike, E. L. 
messung. I.) 109. 

— — — Cl. Woody, M. R. 
Trabue and W. A. McCall 
(Pädagogische Tests) 19%. 

Thorssell, Th. s. Anderberg, R. 


(Intelligenz- 


108. 
Thurstone, L. L. (Berufsbera- 
tung. III.) 67; (Intelligenz 


und Fähigkeit. III.) 107. 
Tietze, Felix (Säuglings- 
Kleinkinderfürsorge) 66. 
Timme, Walter (Hereditäre Er- 
krankungen des Nervensy- 
stems) 184. 

Tippett, L. H. C. s. Pearson, 
Karl 86. 

Tomforde, Hans (Uneheliche 
Kinder) 205. 

Tonina, Teodoro A. (Kindliche 
Schwäche) 14. 

Topping, Ruth s. Worthington, 
George E. 207. 

Tournay, Auguste (Senso-moto- 
rische Entwicklung) 2. 

Trabue, M. R. s. Thorndike, E. L. 
199. 

Trautmann, E. (Rhythmische 
Gymnastik in der Hilfsschule) 
156. 

Treadway, Walter L. (Geistige 
Hygiene) 169. 

Tredgold, A. F., Eric Pritchard, 
Robert Hutchison and W. A. 
Potts (Geistige Minderwertig- 
keit) 83. 

Trojan, F. s. Fröschels, E. 57. 

Trow, Wm. Clark (Psychologie 
der Gewißheit) 215. 


Urechia, C.-I., et S. -Mihalescu 
(Dementia infantilis) 127. 
Usnadze, D. (Namengebung) 22. 


Valkema Blouw, H. C. (Homo- 
sexualität) 132; (Mütterliche 
Hormone und kindliche Ent- 
wicklung) 94. 

Veeder, Borden S. (Obesitas) 209. 
Vermeylen, G. (Charakterstö- 
rung nach Encephalitis) 129. 

— — 8. Simon, Th. 126. 

Vidoni, Giuseppe (Zeichnen 
Schwachsinniger) 115. 

Vignes, Henri (Kinder tuberku- 
löser Mütter) 184. 

Vining, C. Wilfred (Hypotrophie) 
210. 


Vischer, Andreas (Schulgesetze) 
163. 


Voina, Aurel (Eugenik und Hy- 
giene) 10. 

Voorthuijsen, van (Ferienkolonie 
fürSchwachsinnige)157; (Lehr- 
mittel für Hilfsschulen) 202; 
(Schwachsinnigen - Unterricht) 
5l. 


und 


Vortisch, H. (Ärztlicher Ratge- 
geber für junge Frauen) 167. 

Vos, G. J. (Fürsorge für Minder- 
wertige) 229. 

Vries, Ernst de (Zurückgeblie- 
bene) 125. 


Wagner, Julius (Pädagogische 
Wertlehre) 223. 

Wallon, Henri (Bedeutung der 
Frage) 185. 

Wanke, Georg (Psychoanalyse) 
214. 

Weber, Heinrich (Jugendfür- 
sorge) 60. 

— L. W. (Neurosen) 149. 

— Richard (Kropf) 146. 

Wegwitz, Franz (Sprachanbil- 
dung beim Taubstummen) 233. 

Wehn, Otto (Jugendämter) 60. 

Weimer, Hermann (Fehler. I.) 
17; (II.) 18; (III.) 18; (IV.) 186. 

Welss, F. L. (Falsche Reaktio- 
nen) 111. 

Weng, E. (Taubstummenanstal- 
ten) 233. 

Wepster (Arbeitseinrichtung für 
Schwachsinnige) 157. 

Werner, Heinz (Strukturgesetze. 
I.) 114; (II.) 114. 


248 


Wettstein, B. 
120. 

Wexberg, Erwin (Adlers Indivi- 
dualpsychologie) 239. 

Weyrauch, Friedrich (Genick- 
starre) 43. 

Wheeler, Raymond Holder (In- 
telligenz) 16. 

Wildermuth, Hans (Schizophrene 
Zeichen beim gesunden Kinde) 
20. 


(Psychotechnik) 


Wilheim, Ilka (Stottern) 55. 

Willis, C. (Intelligenztest) 118. 

Wilmer, W. H. (Opticusatrophie 
und Retinitis pigmentosa) 96. 

Wimenitz, Rose (Postencephali- 
tisches Kind) 202. 

Winde, Paul (Schwerhörige, Be- 
schulung) 158. 

Wolfer, Leo (Leistungsfähigkeit 
bei Schulkindern) 117. 

Wolff, Kurt (Intersexualität) 
182. 

Wollstein, Martha, and Frederic 
H. Bartlett (Hirntumoren) 
40 


140. 

Woodbridge, Freuerick J. E. 
(Geistige Entwicklung) 120. 
Woody, Cl. s. Thorndike, E. L. 

199. 





Worthington, George E. Ur- 
eheliche Kinder) 69. 

— — — and Ruth Toppin 
(Spezialgerichtshof für sexul 
Entgleiste) 207. 

Würtz, Hans (Krüppelpädagor-' 
92 


Wunderle, Georg (Frühkindlich: 
religiöse Erlebnisse) 20. 


Zahn-Harnack, Agnes von :Ar- 
beitende Frau) 176. 

Zanker, Arthur (Keuchhusten' 
147. 

Zappert, J. (Spasmus nutar 
48. 


— Julius (Neurosen) 13%. 

Ziegler, K. (Anstaltsschule un: 
Hilfsschule) 228; (Veranscha 
lichen) 18. 

Ziehen, Th. (Intelligenzprüfun. 
108. 


Zieroff, Franz (Erziehungs: 
senschaft. I.) 195. 

Zillken, Elisabeth (Führer ft: 
Vormünder) 174. 

Zimmerli, Erich (Kleinhim-r: 
krankungen) 141. 

Zondek, Hermann (Krankheit: 
der endokrinen Drüsen) 38. 


Sachregister. 
(Bei den halbfett gedruckten Seitenzahlen handelt es sich um Originalarbeiten.) 


A bnorme,ärztlicheunderziehliche Hilfe ( Albertini) 
5l 


—, Anpassungsfähigkeit bei (Paul-Boncour) 32. 

—, frühe Erkennung (Hoven) 227. 

-—, Erzieher für, internationale Zusammenkunft 
in Paris 123. 

—, Erziehung (Decroly) 51. 

——, Fürsorge (Bat&k) 157; (Albertini) 200. 

—, Heilpädagogik bei (Albertini) 227. 

— Säuglinge und Kleinkinder, Symptome und 
Behandlung (Thomson) 50. 

Adlers Individualpsychologie (Wexberg) 239. 

Ärztliche Überwachung in der Schule durch Leh- 
rer (George) 174. 

— Überwachung der Jugend, Verordnung über 
357 


Akademie, sozialhygienische, in Charlottenburg 
359. 

Akrocephalie s. Oxycephalie. 

Alkoholismus, Bekämpfung 236. 

— und Geistesstörung 7. 

Alter, Körperlänge und Brustumfang (Bondi u. 
Schrecker) 89. 

Altersgrenzen im belgischen Jugendschutzgesetz 
(Heupgen) 239. 

Ambivalenz (Graber) 215. 

Anencephalie (Dwyer) 38. 

Anpassungsfähigkeit bei Abnormen (Paul-Bon- 
cour) 32. 

Anstalt für Schwachsinnige [Katharinenhof in 
Sachsen] (Meltzer) 156. 

— für Seelen- und Erziehungswissenschaft in 
Reichenberg 364. 

—, Waisenerziehungs-, Dr. Koschs, in Königsberg 
(Rosenthal) 153. 

Anstaltserziehung bei männlichen Psychopathen 
(Lückerath) 23. 

Anstaltsschule und Hilfsschule (Ziegler) 228. 

Aphasie, Behandlung (Eliasberg) 58. 

—, kindliche (Christin) 137. 

— nach Typhus (Sabatini) 142. 

Aplasiae cererbo-cerebellospinales (Mingazzini u. 
Giannuli) 135. 

Appetitstörung (Helmreich) 148. 

Arbeit, Einfluß auf Blutdruck und Pulsfrequenz 
(Day) 110. 

Arbeitende Frau (v. Zahn-Harnack) 176. 

Arbeitsgemeinschaft für Lehrer 78. 

— zur Strafvollzugreform (Grünhut) 240. 

Arbeitsgeschwindigkeit und Alter (Berliner) 25. 

Arbeitspathologie, Grundriß (Eliasberg) 119. 

Arbeitsschule (Heywang) 153. 

— und Muttersprachschule für Taubstumme 
(Weng) 233. 

Armenschulen in London (Ackroyd) 64. 

Assoziationen, unbemerkte Eindrücke bei (Allers 
u. Teler) 26. 

Asthenie (Oestreicher) 210. 


Ataxie (Böhmig) 143. 

Atmung, gestörte Koordination (Hoepfner) 56. 

Auffassung, Studien über (Fox) 105. 

Aufmerksamkeit, abstrakte, Untersuchung (Ster- 
zinger) 16. 

— in der Hilfsschule (Manthey) 51. 

— und Zeitbewußtsein (Hülser) 216; (Quase- 
barth) 216. 

Ausbildung, ärztliche, in der öffentlichen Gesund- 
heitspflege (Haythorn) 77. 

—, ärztliche, in der Kinderpsychologie (Foote) 77. 

— der Erzieher für Fürsorgeerziehungsanstalten 
(Buschmann) 175. 

—, heilpädagogische, in der Schweiz (Hepp) 76. 

— von Krankenschwestern 79. 

— von Kreisärzten, Kreiskommunalärzten, 
Schul- und Fürsorgeärzten 74. 

—, Lehrer-, in Preußen 78. 

—, Lehrer-, in Sachsen 78. 

— männlicher Kräfte für Wohlfahrtspflege 79; 
(Beerensson) 79. 

Ausbildungskurs, heilpädagogischer, für Hilfs- 
schullehrer in München 202. 

— in Säuglings- und Kleinkinderpflege durch 
ländliche Wanderkurse (Hackel) 80. 

Autosuggestion und Suggestion (Baudouin) 24. 


Bathrocephalie, atavistische Deutung (Backman) 
87 


Bauchlage und statische Entwicklung beim Säug- 
ling (Lasch u. Fischer) 178. 

Beachten, Umfang bei Schwachbefähigten 
(Simonic) 282. 

Befähigte, psychologische Berufsberatung (Heinis) 
119. 


Begabte, Erziehung (Stedman) 150, 196. 

—, Psychologie (Richards-Nash) 189. 

—, Studien an (Jones) 189. 

Begabung-Differenzierung in der Schule (Klüver) 
150. 

—, Entwicklung während Gymnasialzeit (Ster- 
zinger) 197. 

—, Prüfungsmethoden (Ziehen) 108. 

—, Schulleistung und Vorstellung (Malsch) 118. 

Beobachtungsbogen, psychologischer, und Berufs- 
beratung (Rose) 170. 

Beratungsstelle für Frauen und Mädchen (Fischer- 
Defoy) 236. 

—, heilpädagogische, beim Jugendamt Hamburg 
73. 


— für Mütter und Säuglinge (Dementjev) 167. 

Beriberi, meningeale (Suzuki u. Mori) 195. 

Beruf, Frauen-, sozialer, Eignung für (Schoedel) 
69. 

—, psychotechnische Eignungsprüfung (Heinis) 
119. 


—, Wachstum und Handdimension (Brezina u. 
Lebzelter) 179. 


— 


Berufsamt Harburg-Elbe, Jahresbericht 170. 
Berufsanalyse der Buchdrucksparten (Schröder) 
25 


Berufsberatung (Lipmann) 67; (Burt) 67; (Thur- 
stone) 67. 

— und Arzt (Coeper) 69; (v. Gonzenbach) 170, 
218. 

— in Pardubitz (Thein) 171. 

—, psychische, und Schülerauslese (Döring) 171. 

— und psychologischer Beobachtungsbogen 
(Rose) 170. 

—, Psychotechnik in der (Suter) 120. 

Berufsberatungsstelle und Jugendamt, Zusammen- 
arbeiten 120. 

Berufseignung und Bewegungsleistung (Muscio) 
25 


Berufsvormünder s. a. Vormünder. 

—, Archiv Deutscher, Tagung in Chemnitz 51. 

—, Archiv Deutscher, Tagung in Frankfurt a. M. 
49. 

—, Archiv Deutscher, Tagung in Lübeck 61. 

Berufsvormundschaft und Jugendamt (Jourdan) 
161. 

Berufswahl der Hilfsschüler (Lienck) 69. 

—, weibliche (Schultz-Bascho) 68. 

Bestrafung Jugendlicher (Hellwig) 238. 

Bevölkerungsbewegung der Kriegs- und Nach- 
kriegsjahre (Maurer) 90, 91. 

Bewegungsleistung und Berufseignung Muscio) 
25. 


Bewegungsstörung, extrapyramidale (Jakob) 138. 

Bewußtsein, Umfang und Enge (Pauli) 106. 

Bewußtseinsvorgänge, Koordination (Prandtl) 97. 

Bleivergiftung des Vaters, Krämpfe der Kinder 
infolge (Thomson) 47. 


Blinde, Gedächtnis bei, experimentell-psycholo-! — 


gische Untersuchungen (Bechtold) 161. 

—, Psychologie (Ahlmann) 114. 

Blindenanstalten, Lehrerprüfung für 78. 

Blindgeborene, Erlangung des Sehvermögens bei 
(Reis u. Mikulinska) 202. 

Blindheit infolge Unterernährung (Bloch) 142. 

Blutdruck und Arbeit (Day) 110. 

Blutung, Gehirnstamm- (Lumsden) 136. 

—, intrakraniale, infolge Geburtsschädigung 
(Conkey) 135. 

Brustumfang, Körperlänge und Alter (Bondi u. 
Schrecker) 89. 

Buchdrucksparten, Berufsanalyse der (Schröder) 
25. 


Charakter-Entwicklung (Meagher) 121. 

— und Temperament (Ewald) 96. 

— -Veränderung nach Encephalitis epidemica 
(Beverley u. Sherman) 129; (Claude u. Robin) 
129. 

— -Veränderung nach Encephalitis epidemica 
(Vermeylen) 129. 

Chondrodystrophie (Lindeberg) 42. 


Darstellung, graphische (Luquet) 19. 

Debilität, Formen (Simon u. Vermeylen) 126. 

Defekt beim Kind infolge endokriner Dystrophie 
der Mutter (Schlapp) 33. 

Degeneration,‘ geistige, auf dem Lande (Bowes) 
228. 


250 


Dementia infantilis (Higier) 34; (Urechia) 127 

— postlethargica (Higier) 34 

— praecox (Henderson) 134. 

— praecoxissima (Higer) 34. 

Demonstrationsklinik für geistige Hygiene (Ar 
derson) 163. 

Denken und Sprache (Piaget) 28. 


—, verallgemeinerndes, Entwicklung (Schüxkı | 


121. 


Diebstahl, Ursache, Erkennung und Behandlur. 


(v. Kármán) 62. 

Diesterweg-Hochschule. Lehrgang für Heipat:- 
gogik 121. 

Differenziertheit, seelische, Heilpädagogik te. 
(Homburger) 11. 

Dysarthrie, experimentell-phonetische Diagr.osti 
(Fröschels) 203. 

Dystrophia adiposogenitalis, Behandlung (Boyt 
42. 


Echolalie, Stillstand der Sprachentwicklung (Pick 
126. 
Eignungsprüfung, Lehrlings-, bei der Reichsbah: 
(Couve) 68. 

Einnässen und Einschmutzen (Stier) 125. 
Einschlafstörung (Friedjung) 38. 
Einschmutzen und Einnässen (Stier) 125. 
Einzige Kinder, Pathologie (Nasso) 37. 
Ekzem, Überempfindlichkeit bei (Gartje) 148. 
Elementarschule, Zurückgebliebene in (Beggs) X2. 
Encephalitis, akute, Folgen (Comby) 34. 
— epidemica, Behandlung (Alajouanine) 4. 
epidemica, Charakterveränderung nach (B«- 
verly u. Sherman) 129; (Claude u. Robin) 12%. 
(Vermeylen) 129. 
epidemica, chronische Formen (Grósz u. Goli- 
berger) 44. 
epidemica, 
(Becker) 43. 
epidemica, Prognose der Folgen (Kennels‘ 
194. 
epidemica, psychopathieches Syndrom nart. 
Bolsi) 129. 
epidemica, Störungen bei (Paillard u. Joanner 
44. | 

epidemica, Unterricht nach (Wimenitz) 20} 
‚ Parkinsonismus nach (Morquio) 140. 
‚ psychopathieähnlicher Zustand nach (Ger- 

mann u. Kauders) 128. 
—, Schädigungen nach (Jörger jun.) 128. 


Konstitution und Pathogene* 


—— 


Endokrine Drüsen und Konstitution (Bauer) !?: 


(Berliner) 212. 

— Drüsen, Krankheiten der (Zondek) 38. 

Entwicklung, Charakter- (Meagher) 121. 

— und Ernährung (Schlesinger) 7. 

—, geistige (Baldwin) 27; (Gilchrist) 101; (Wo: 
bridge) 120. 

—, geistige und körperliche, Beziehung (Lutz 
121. 

— des Kindes und mütterliche Hormone (Vz: 
kema Blouw) 94. 

—, körperliche, und funktionelle Beanspruchun: 
(Kohlrausch) 179. 

—, körperliche und geistige, Parallelismus (Pau!) 
4, 178. 

—, neuropsychische, und Konstitution (Busco'!X 


— 


‚ntwicklung, psychische, im 1. Lebenshalbjahr 
(Fornaseri) 120. 
und Psychopathologie (Storch) 222. 
. religiöse (Kupky) 189. 
—. sittliche, des 6jährigen Kindes (Maher) 189. 
. statische, und Bauchlage beim Säugling (Lasch 
u. Fischer) 178. 
— -Störung und Sinnesschärfe (Foucault) 52. 
tuberkulöser Kinder (Dudden) 6. 
tuberkulosebelasteter Kinder (Peiser) 6. 
snuresis, Behandlung (Benzing) 49; (Saizeff) 49; 
(Comby) 50. 
—. Differenzierung (Pototzky) 48. 
Spilepsie, corticale, infolge Trauma (Robertson) 
137. 


—, prognostisch gutartige (Adie) 47. 
Spiphysensyndrom (Lereboullet) 41. 
Erblichkeit s. Vererbung. 

Erfahrung und Gestaltung (Saupe) 106. 

Erholungsfürsorge, pädagogische Erziehung wäh- 

rend (Jaspert) 165. 
Erleben, Formen (Graf v. Dürckheim) 98. 
Erlebnisunterricht, triebgemäßer, bei Schwach- 
sinn (Gürtler) 200. 

Ernährung und Entwicklung (Schlesinger) 7. 

und Konstitution (Plantenga) 86. 

Ernährungsindex, Gewicht und Größe als (Clark, 

Sydenstricker u. Collins) 5. 

Ernährungszustand in der Schule (Garrahan u, 

Bettinotti) 81. 

Ernstspiel der Jugendzeit (Stern) 100. 

Erregbarkeit, krankhafte (Comby) 37. 

Erzieher für Abnorme, internationale Zusammen- 

kunft in Paris 123. 

für Fürsorgeerziehungsanstalten (Buschmann) 

175. 

Erziehung, Anstalts-, 
(Lückerath) 23. 
und Arzt (Czerny) 149. 

Begabter (Stedman) 150. 

. experimentelle Gedächtnispsychologie in der 
(Offner) 117. 

-—, körperliche (Spitzy) 154. 

. körperliche, in den Baseler Schulen (Vischer) 
163. 
und Pathologie (Friedjung) 214. 

-Perioden (Klatt) 198. 

und Pflege der Kinder (Hoppeler) 205. 
und Prostitution (Heagerty) 65. 

und Psychanalyse (Hug-Hellmuth) 214. 
in der Pubertät (Schulte) 198. 

. sexuelle (Heagertv) 226. 

—-, Vater und Kind (Hoppeler) 199. 

und Vererbung (Schlemmer) 195. 

Zwang und Freiheit in (Stählin) 151. 

Erziehungsanstalt und Fürsorgebehörde (Gregor) 

61. 
— für kriminelle Jugendliche in Italien 73. 
Erziehungsschule, evangelische, und moderne Pä- 
dagogik (Eberhard) 152. 
— und Verwahrlosung (Langenberg) 133. 
Erziehungswissenschaft, Anstalt in Reichenberg 
für 364. 

-— der Gegenwart (Zieroff) 195. 

-—, Geschichte der (Saupe) 152. 

Eugenik und Hygiene der Nation (Voina) 10. 


männlicher Psychopathen 


| 


251 


Eugenik und uneheliche Kinder in Amerika (Po- 
penoe) 71. 

— und Vererbung (van Herwerden) 10. 

Eunuchoidismus, Psychologie (Scherk) 211. 

Extrapyramidale Erkrankungen (Jakob) 138. 

Extremitätenmuskeln (Beuger und Strecker), Ver- 
hältnis (Ritter) 3. 


Fähigkeit und Intelligenz (Claparède) 107. 
Familie, Forschungsmethoden (Sommer) 91. 
Familienberatung, rassenhygienische (Rüdin) 182. 
Familienbiologie (Ruf) 95. 

Farbenvorliebe (Garth) 114. 

Faulheit, Ursachen (Cohn) 19. 


Fehler, Ähnlichkeits-, Wesen und Arten (Weimer) 


186. 

—, Wesen und Arten (Weimer) 17, 18. 

Ferienkolonie für Schwachsinnige (van Voort- 
huysen) 157. 

Ferienkursus in Genf 363. 

Fettsucht (Veeder) 209. 

—, Riesenwuchs und Polyglobulie (Stoye) 42. 

Film, pädagogischer Wert Ne u. Hazewinkel) 
19. 


Fontanelle, Stirn-, im ersten TOT (Ryhiner) 
2. 


Fortbildungskurs, sozial-pädagogischer 121. 

Fortbildungslehrgang für Lehrer und Lehrerinnen 
an Blinden- und Taubstummenanstalten 
359. 

Frage, Bedeutung beim Kinde (Wallon) 185. 

Frau, arbeitende (v. Zahn-Harnack) 176. 

—, moderne (Kühn) 176. 

Freundschaft und Homoerotik (Mandolini) 96. 

Fröbels Erziehungslehre (Schumacher) 153. 

Fürsorge für Abnorme (Bat&k) 157; (Albertini) 
200. 

—, Erholungs-, pädagogische Erziehung während 
(Jaspert) 165. 

— für das Gehörorgan in der Schule (Saareste) 
53. 

—, Geisteskranken- (Michálek) 51. 

—. Gesundheits- (Baum) 61. 

—, Gesundheits-, schulärztliche (Doernberger) 
62. 

—, Irren-, private 162. 

—, Jugend-, Erlaß betr. Vormundschaftssachen 
200. 

—, Jugend-, Jugendpflege und Jugendbewegung 
(Richter) 236. 

—, Jugend-, und Jugendstrafrecht (Glesinger) 
240. 

—, Jugend-, Klinik für geistige Hygiene (Tarta- 
koff) 65. 

—, Jugend-, und Reichsjugendwohlfahrtsgesetz 
(Weber) 60. 

—, Jugend-, in der Slowakei (Frantäl) 64. 

—, Kinder-, ambulante Dispensaires für Säug- 
linge 67. 

—, Kinder-, nach dem Kriege (Grünfeld) 205. 

—, Kinder-, in Spanien (Garrido-Lestache) 66. 

—, Krüppel-, 67; (Würtz) 92. 

—, Krüppel-, in England (Jones) 59. 

—, Krüppel-, 8. deutscher Kongreß 60. 

—, Krüppel-, auf dem Lande (Bauer) 59. 

—, Krüppel-, durch Prophylaxe (Biesalski) 60. 


Fürsorge für Minderwertige (Higier) 201; (Vos) 
229 


—, Mutter- und Säuglings-, in Amerika (Chap- 

man) 67. 

Psychopathen-, Deutscher Verein zur 122. 

Psychopathen-, in Hagen i. W. 201. 

Säuglings-, Entwicklung (Feldman) 168. 

Säuglings- und Kleinkinder-, in Österreich 

(Tietze) 66. 

—, Schul-, bei Sprachstörung (Rothe) 143. 

—, Schulkinder-, Deutscher Verband für 118. 

—, soziale, für Geschlechtskranke (Fischer-Defoy) 

236. 

soziale, und jugendliche Zeugen bei Sittlich- 

keitsprozessen (Meyer) 173. 

—, soziale, für Mutter und Kind (Mulon u. 
Roueche) 165. 

—, soziale, und Prostitution (Holloway jr.) 166. 

—, soziale, Vorlesungen an der Universität Bonn 

69. 

für sprachkranke Kinder in der Schule (Rothe 

u. Fröschels) 57. 

-Tätigkeit in Buenos-Aires (Oliva) 63. 

bei Taubstummheit (Hebel) 233. 

für verwahrloste Mädchen (Lenroot) 133. 

Fürsorgeärzte, Kommunal- und Schulärzte, Ver- 
einigung Deutscher, Heubergtagung 54. 

Fürsorgearzt-Anwärter, Lehrgang für 74. 

— und Gemeindearzt in Österreich (Lämel) 76. 

Fürsorgebehörde und Erziehungsanstalt (Gregor) 
6l. 

Fürsorgeerziehung, Abbau 73. 

— in Argentinien (Ciampi) 174. 

— -Behörde, Vormundschaftsrichter, Strafvoll- 
‚zugsbehörden und Jugendämter, Zusammen- 
arbeit 365. 

—, Leitfaden (Gregor) 174. 

—, produktiver Umbau (Backhausen) 73. 

Fürsorgeerziehungsanstalt, Ausbildung der Er- 
zieher für (Buschmann) 175. 

—, Hortnerinnen in (Zisseler) 119. 

Fürsorgestellen in Schweden (Steenhoff) 92. 

— für sittlich Gefahrdete, Richtlinien für 65. 

Fürsorgewesen, internationale Gesellschaft für 64. 

Fürsorgezöglinge und Inzest (Stelzner) 239. 

—, psychiatrische Untersuchungen (Rehm) 34. 

—, psychopathische, Anstalten für (Seelig) 180. 

—, schwererziehbare, Psychologie und Sozial- 


pädagogik (Gregor) 313. 


Giasstoffwechsel s. Stoffwechsel, Gas-. 

Gebärde und Sprachwerden bei Taubstummen 
(Ruffieux) 234. 

Gebärdensprache Taubstummer (Passow) 204. 

Geburtenziffer der Kriegs- und Nachkriegsjahre 
(Maurer) 91. 

Geburtsschädigung der affektiven Mimik (Neu- 
rath) 137. 

—-, intrakranielle Blutung infolge (Conkey) 135. 
—, traumatische, des Gehirns (Schwartz) 136. 
Gedächtnis- Apparat, verbesserter (Pauli) 187. 

bei Blinden, experimentell-psychologische Un- 

tersuchungen (Bechtold) 161. 

und Lustbetonung (Fox) 112. 

-Psychologie, experimentelle (Offner) 117. 
» Wort-, Polyeidoskopie (Meuer) 112. 


- “ <- <- 


— 
— 


— 


—— 
— 


252 





Gedächtnisbilder, musikalische (Kochmann) 113.1 

Gefährdetenfürsorge, Richtlinien 65. 

Gefängnis, Jugend- (Puppe) 207; (Saldaña) 207. 

Gefühlsqualität, Erforschung (Nafe) 216. 

Gehirn-Geschwulst (Wollstein u. Bartlett) 140. 

—, Thyreoidea und Wachstum (Kraus u. Holzeri 
180. 

— -Vorgänge, Koordination (Prandtl) 97. 

Gehirnstamm-Blutungen (Lumsden) 136. 

Gehörfunktionsprüfung bei Taubheit (Alden) 53. 

Gehörorgan, Fürsorge in der Schule für (Saarestc: 
63. | 

Geisteskrankheit, mütterliche, Gesundheitszustar:! 
der Kinder bei (Pilcz) 85. | 

— in der Nachkriegszeit (Mattauschek) 124. 

Geistesstörung des Erwachsenen und Kindes) 
(Decroly) 134. 

Geistige Arbeit, Ausdauer, Arbeitsquantum un! 
Geschwindigkeit bei (Chapman) 186. | 

Geistiges, Eigenart (Erismann) 98. 

Gemeindearzt und Fürsorgearzt in Österreich 
(Lämel) 76. 

Gemütsbildung (Rehmke) 100. 

Generationsrhythmen in der Vererbung (Nissen! 
93. 

Genickstarre s. Meningitis cerebrospinalis. 

Genitalorganisation, infantile (Freud) 21. 

Geschlechtsbestimmung und konstitutionelle Ve:- 
anlagung (Bauer) 85. 

Geschlechtsentwicklung, vorzeitige, Nebennierer. 
und Ovarieneinfluß auf (Siegel) 181. 

Geschlechtskranke, soziale Fürsorge (Fischer-Ik- 
foy) 236. 

Geschlechtskrankheiten, erworbene, beim Kind 
(Gumpert) 103. 

—, Prophylaxe, und Wohlfahrtspflege (Kreutz! 
167. 

— im besetzten Rheinland (Hofmann) 71. 

—, Wohlfahrtspflegerin für (Brown) 175. 

Geschlechtskunde (Hirschfeld) 211. 

Geschlechtsleben des Kindes (Sadger) 30. 

Geschlechtsunterschiede, psychische (Lipmann) 
121. 

Geschwulst, Gehirn- (Wollstein u. Bartlett) 140. 

—, Kleinhirn- (Zimmerli) 141. 

— des Öccipitallappens (Obarrio) 141. 

Gesetz, Grundschul-, preußische Ausführungsb- 
stimmungen zum 351. 

—, Jugend-, und Strafgesetzbuch (Göring) ::- 

—, Jugendgerichts-, und Fürsorgeerziehung, 
R.G. E. 66. 

—, Jugendgerichts-, Kommentar ( Hellwig) 257. 

—, Jugendgerichts-, Psychopathen im (Schnitzer 
238. 

—, Jugendgerichts-, und Strafvollzug (Ellger) 11. 

—, Jugendschutz-, belgisches, Altersgrenzen ir 
(Heupgen) 239. 

—, Reichs-, für Jugendwohlfahrt 74. 75. 

—, Reichsjugendwohlfahrts-, und Jugendfür- 
sorge (Weber) 60. 

—, Verwahrungs-, Entwurf (Maier) 75. 

Gesetzgebung für Jugendwohlfahrt (Albath) lù. 

Gesichtsausdruck, Deutung (Buzby) 216. 

Gestalttheorie und Psychologie (Koffka) 16. 

Gestaltung und Erfahrung (Saupe) 106. 

—, motorische, Problem (Werner) 114. 








sestaltung und Schizoidie (Rothschild) 124. 

sesundheitsbogen (Stephani) 170. 

sesundheitsfürsorge (Baum) 61. 

—, schulärztliche (Doernberger) 62. 

— der Kinder bei mütterlicher Geistes- oder Ner- 
venkrankheit (Pilcz) 85. 

sewicht und Größe als Ernährungsindex (Clark, 
Sydenstricker u. Collins) 5. 

rewißheit, Psychologie der (Trow) 215. 

sleichgewichtsprüfung bei Taubheit (Alden) 53. 

Glücksgefühl, Phänomenologie und Klinik 
(Rümke) 23. 

aröße und Gewicht als Ernährungsindex (Clark, 
Sydenstricker u. Collins) 5 

arundschulgesetz, preußische 
stimmungen zum 351. 

srundstoffwechsel s. Stoffwechsel, Grund-. 

sruppenproblem und Sozialpsychologie (Allport) 

06; (Goldenweiser) 106. 

symnastik,rhythmische, in der Hilfsschule (Traut- 

mann) 156. 


Ausführungsbe- 


Hämophilie beim Säugling (Auricchio) 147. 
Hand-Dimension, Einfluß von Beruf und Wachs- 
tum auf (Brezina u. Lebzelter) 179. 
— -Ohr-Test (Gordon) 26. 
Hasenscharte, Vererbung (Lücker) 93. 
Hebephrenische Endzustände (Bresowsky) 124. 
Heilpädagogik für Abnorme (Albertini) 227. 
auf arbeitsunterrichtlicher Grundlage (Raatz) 
201. 
und Determinationspsychologie (Bacher) 155. 
. Lehrgang in der Diesterweg-Hochschule 121. 
psychiatrische Untersuchung von Unge- 
zogenheiten (Feldner u. Lazar) 36. 
bei seelischer Differenziertheit (Homburger) 
11. 
‚ triebgemäßer Erlebnisunterricht (Gürtler) 200. 
Heilnädagogische Beratungsstelle beim Jugend- 
amt Hamburg 15. 
— Gesellschaft, Ungarische, 
träge 73. 
— Klinik für Sprachgestörte, Geisteskranke und 
Kriminelle (Mundie u. Silverman) 227. 
Heilpädagogischer Ausbildungskurs für Hilfs- 
schullehrer in München 202. 
Heilpädagogisches Erholungsheim 122. 
— Seminar in der Schweiz (Hepp) 76. 
Hemmung, seelische (Klopfer) 103. 
Hereditäre Nervensystem-Erkrankungen, 
einheiten bei (Timme) 184. 
Heredodegeneration, Nervensystem- (Creutzfeldt) 
9 


l 


+ 


Propagandavor- 


Erb- 


4. 
Hilfsschüler- Auswahl, Meissner Richtlinien (Hoff- 
mann) 156. 
—, Berufswahl (Lienck) 69. 
—, psychologische Erkennungsmethoden (Bap- 
pert) 155. 
Hilfsschulbogen und psychisch Defekte (Gräfin | — 
v. Kuenburg) 77. 
Hilfsschule ande Anstaltsschule (Ziegler) 228. 
—, Aufmerksamkeit in der (Manthey) 51. 
—, deutsche (Fuchs) 52. 
—, Lehrmittel für (van Voorthuijsen) 202. 
—, Lehrplan (Schulze) 155. 
—, rassenhygienische Bedeutung (Schröder) 91. 


253 


Hilfsschule, anschaulicher Rechenunterricht in 
(Horrix) 156. 

—, rhythmische Gymnastik in (Trautmann) 156. 

Hilfsschullehrer, heilpädagogischer Ausbildungs- 
kurs in München 202. 

—, Prüfung 78. 

Hirn s. Gehirn. 

Hörprüfung bei Taubstummen und Schwerhörigen 
(Fröschels) 158. 

Hörstörung, Pathogenese und Behandlung (Fassl) 
203. 

Hörstummbeit (Bogatsch) 204. 

Homoerotik und Freundschaft (Mandolini) 96. 

Homosexualität (Valkema Blouw) 132. 

Hormone. mütterliche, und Entwicklung des Kin- 
des (Valkema Blouw) 9. 

Hutchinsonsche Zähne und Syphilis congenita 
(Hirschberg) 194. 

Hygiene, geistige, Demonstrationsklinik (Ander- 
son) 163. 

—, geistige, Klinik für (Tartakoff) 65. 

—, geistige, in der Schule (Treadway) 169. 

—, Kinder-, Organisation (Ferreira) 162. 

— der Nation und Eugenik (Voina) 10. 

— -Schule in London 77. 

—, soziale, Gesundheitsamt für (Bezangon u. 
Bernard) 167. 

— in der Volksschule (Ljunggren) 169. 

Hygienische Volksbelehrung (Liefmann) 76. 

Hypnose beim Kinde (Szulczewski) 217; (Mosse) 
217. 

Hypothyreoidismus, Kretinismus und Nerven- 
sytem (de Quervain) 40, 

Hypotrophie (Vining) 210. 


Idiotie, mikrocephale, und endokrine Dystrophie 
(Schlapp) 33. 
—, mongoloide, Ätiologie (Comby) 128. 
—, mongoloide, und Syphilis congenita (Lemaire) 
127. 
—, mongoloide, Thyreoidea bei (Thomas u. Del- 
hougne) 223. 
—, mongoloide, Wachstum bei (Talbot) 222. 
Individualität-Problem und Subordination der 
Organe (Müller) 98. 
Individualpsychologie (Adler) 213. 
—, Adlers (Wexberg) 239. 
— und Strafrecht (Schmidt) 22. 
Instinkt, Einteilung (Drever) 105; (Jones) 105. 
—, Problem (Bernard) 106. 
Intellekt, Palaeo- und Neo- (de Jong) 106. 
Intellektuelle Ähnlichkeit bei Zwillingen (Merri- 
man) 110. 
Intelligenz und Fähigkeit (Thomson) 107; (Cla- 
parède) 107; (Thurstone) 107. 
—, mechanistische Betrachtung (Person) 186. 
—, =p praklische, Untersuchung (v. Rohden) 24. 
ychologische Beschreibung (Wheeler) 16. 
— und Schulleistung (Feingold) 151. 
— [Taine], psychiatrische Belege (Blondel) 111. 
Intelligenzprüfung s. a. Tests. 
—, Gruppen- (Dobson) 186. 
—, Hand-Ohr-Test (Gordon) 26. 
—, Methoden (Ziehen) 108. 
— [Pauschalprüfung] (Giese) 216. 
— nach Sante de Sanctis (Bartsch) 108. 


Intelligenzprüfung in der Schule (Willis) 118. 
bei Schwachsinnigen (Pisani) 118. 
und Sprache (Eliasberg) 188. 
und Test (Anderberg, Persson, Dahr, Thorssell 
u. Siegvald) 108; (Thorndike) 109; (Ander- 
berg. Persson, Siegvald u. Lahne) 109. 

—, „Vorsicht“ bei (Brown) 110. 

Intelligenzquotient, Unveränderlichkeit (Gray u. 

Marsden) 186. 

Interessen, Kinder-, und Schule (Decroly) 17. 

Intersexualität, Ursprung (Wolff) 182. 

Intrakraniale Blutung infolge Geburtsschädigung 

(Conkey) 135. 

Inzest und Fürsorgezöglinge (Stelzner) 239. 

Inzucht und Sterblichkeit (Murphy) 184. 

Irrenfürsorge, private 162. 

Irrgartenversuche, Lernen in, Einfluß mecha- 

nischer Führung auf (Koch) 18. 

Jugend, weibliche, Psyche der (Croner) 101. 

Jugendamt und Berufsberatungsstelle, Zusam- 
menarbeiten 120. 
und Berufsvormundschaft (Jourdan) 161. 
Erziehungsgedanke bei (Wehn) 60. 

‚„ Fürsorgeerziehungsbehörde, Vormundschafts- 
richter und Strafvollzugsbehörde, Zusammen- 
arbeit 365. 

— Hamburg, heilpädagogische Beratungsstelle 

beim 75. 

—, ländliches (Dieing) 161. 

Jugendberatungsstellen (Sauer) 161. 

Jugendbewegung, freideutsche (Messer) 152. 

—, Jugendseele, Jugendziel (Foerster) 151. 

— und Pädagogik (Schlemmer) 224. 

— und öffentliche Wohlfahrtspflege (Mennicke) 

235. 
Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht (Glesinger) 
240. 


— und Kinderschutz, Tätigkeitsbericht der deut- 
schen Landesstelle 162. 
—, J auzenapliege und Jugendbewegung (Richter) 


—, Klinik für geistige Hygiene (Tartakoff) 65. 
— ri Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (Weber) 


— in der Slowakei (Frantal) 64. 

—, Erlaß betr. Vormundschaftssachen 200. 

—, Mas der See für die Gesundheit (Kirchberg) 
1 K 

Jugendgefängnis (Puppe) 207; (Saldaña) 207. 

Jugendgericht und Kriminalität (Ferrero-Lom- 
broso) 238. 

Jugendgerichtsgesetz und Fürsorgeerziehung 
R.G.E. 66. 

—, Kommentar (Hellwig) 237. 

— und Psychopathen (Schnitzer) 238. 

— und Strafvollzug (Ellger) 71. 

Jugendgesetze und Strafgesetzbuch (Göring) 72. 

Jugendliche, Bestrafung (Hellwig) 238. 

—, Psychologie (Mott) 221. 

—, Seelenleben (Linde) 101. 

Jugendrichter und Jugendstrafrecht (Fiala) 240. 

Jugendschutz in Indien 236. 

Jugendschutzgesetz, belgisches, Altersgrenzen im 
(Heupgen) 239. 


En elieent und Jugendfürsorge (Glesinger) 


254 


| 
Jugendstrafrecht und Jugendrichter (Fiala) 240. | 
—, Reform (Gleispach) 240. 
Jugendwohlfahrt, Gesetzgebung für (Albathi 
160 


—, internationale Vereinigung für (Colin) 63. 
—, Reichsgesetz für 74, 75; (Weber) 60. 
—, soziale und politische Einstellung (Franck: 
19. 


Kant, Immanuel, über Taubstumme (Schuman:- 
159. 

Katastrophale Ereignisse, Wirkung auf Seel: 
leben beim Kinde (Schneerson) 122. 

Kernschwund, infantiler (Fanconi) 142. 

Keuchhusten, Suggestivtherapie (Zanker) l£. 

Kind und Mutter, ärztlicher Ratgeber (Vortisct. 
167. 

Kinder-Fürsorge, ambulante Dispensaires 
Säuglinge 67. 

— nach dem Kriege (Grünfeld) 205. 

Kinder, Pflege und Erziehung (Hoppeler) 205. 

Kinderheilkunde, konstutionspathologische Stu: 
(Lederer) 82. 

Kinderkrankheiten, Vererbung (Herrman) %. 

Kinderlähmung, cerebrale, Pathogenese (Colli? 
137. 

—, Physiologie (Biesalski) 46. 

—, spinale, Behandlung (Nobécourt u. Duher: 

47. 

Kinderlüge, pädagogisch-psychologische Unte: 
suchung (Bühler u. Haas) 185. 

Kinderreiche Familien, Kinder der (Schlesinge: 
8. 

Kinderschutz und Jugendfürsorge, Tätigkeitst-- 
richt der deutschen Landesstelle 162. 

— in Polen (Gromski) 205. 

— in Spanien (Garrido-Lestache) 66. 

Kinderwohlfahrtskongreß in Genf 353. 

Kinderwohlfahrtspflege (Safford) 204 

Kinderzeichnung, statistische Untersuchung (Li 
quet) 217. 

Kindesalter, natürliche Einteilung (Galant) 1: 

Kinematographische Forschungsmethode der 
Psychologie (Claparède) 26. 

Kleinhirn-Geschwulst (Zimmerli) 141. 

—, Wachstum (Scammon u. Dunn) 2. 

Kleinkinder, abnorme, Symptome und Behan- 

lung (Thomson) 50. 

-Fürsorge in Österreich (Tietze) 66. 

Pflege 204. 

-Pflege, ländliche Wanderkurse für (Hackr 

80. 

-Schutz und Säuglingsschutz, Deutsche Ve: 

einigung für 200. 

-Sterblichkeit der Kriegs- und Nachkrie:: 

jahre (Maurer) 90. 

-Sterblichkeit und Säuglings-Sterblichkeit. R- 

ziehung (Prinzing) 209. 

—, Zeit-Waisen (Renault) 168. 

Kleinkindesalter, Säuglings- und schulpflicht::- 
Kindesalter (Galant) 120. 

Klinocephalie, atavistische Deutung (Backm:' 
87. 

Knabenziffer (Fetscher) 10. 

Knochenbrüchigkeit, angeborene (Castelli) l 

Koedukation in der Schule (Day) 150. 


ic 


’ 


örper-Beschaffenheit, pädagogische Redeutung 
(Gates) 196. 

- -Proportionen von Pubertät bis Reifungs- 
abschluß (Fischer u. Hofmann) 180. 

örperbau-Forschung (Fischer u. Hofmann) 180. 

örpergröße und Gewicht bei Heimkindern (Katz 
u. Gray) 164. 

örperlänge, Alter und Brustumfang (Bondi u. 
Schrecker) 89. 

- und Tageszeit (Backman) 88. 

örpermessungen, Richtlinien (Martin) 87; (Peiser) 


- und -wägungen bei Schulkindern (Prinzing) 
87; (Freudenberg) 88. 

ommunalärzte, Schul- und Fürsorgeärzte, Ver- 
einigung Deutscher, Heubergtagung 54. 

ongreß, Kinderwohlfahrts-, in Genf 353, 

‚ panamerikanischer, des Kindes 355. 

»nstitution bei Encephalitis epidemica (Becker) 
43 


und endokrine Drüsen (Bauer) 12; (Berliner) 
212. 
und Ernährung (Plantenga) 86. 
‚ Forschungsmethoden (Bauer) 91. 
‚ neuropathische (Kochmann 85). 
und neuropsychische Entwicklung (Busco) 
83. 
und Norm (Kaup) 210. 
-Pathologie in der Kinderheilkunde (Lederer) 
82. 
‚ schizoide, Klinik und Differentialdiagnose 
(Claude, Borel u. Robin) 83. 
und soziale Einflüsse (Peller) 84. 
-Studien (Draper, Dunn u. Seegal) 5. 
-Typen, Messungen (Michelsson) 4. 
-Typen, nervöse (Zappert) 130. 
-Typen und Reaktionstypen, nervöse (Potot- 
zky) 38. 
und Verhalten (Naccarati u. Garrett) 6. 
nstitutionelle Merkmale, Variabilität (Bondi u. 
Schrecker) 89. 
Mesenchymosen (Hirszfeldowa u. Sterling) 
181. 
Veranlagung und Geschlechtsbestimmung 
(Bauer) 85. 
pfbewegung beim Umbhersehen (Fischer) 177. 
pfform, Vererbung (Schreiner) 93. 
pfindex und Rasse (Pearson u. Tippett) 86. 
pfschütteln. nächtliches gewohnheitsmäßiges 
(Stier) 131. 
tspieler (Rehm) 275. 
impfe bei Kindern infolge Bleivergiftung des 
Vaters (Thomson) 47. 
beim Kleinkind (Orrico) 47. 
ınkenschwestern, Ausbildung 79. 
iskommunalarzt-Anwärter, Lehrgang für 74. 
»tinismus (Finkbeiner) 34. 
calorimetrische Untersuchungen bei (Talbot, 
Sollgruber u. Hendry) 35. 
Hypothyreoidismus und Nervensystem (de 
Quervain) 40. 
und Kropf (Pfaundler) 39. 
minalität der Achtzehnjährigen (Francke) 
206. 
heilpädagogische Klinik 
(Mundie u. Silverman) 227. 


zur Verhütung 


255 


Kriminalität und Jugendgericht (Ferrero-Lom- 
broso) 238. 

— der Kinder 206; (Meagher) 206. 

—, kindliche (Friedjung) 30. 

Kriminelle, jugendliche, Erziehungsanstalt in 
Italien für 73. 

—, jugendliche, und Sexualerziehung (Daley) 
157. 

Kritikfähigkeit, 
(Köhler) 25. 

Kropf in Amerika (Schroetter) 39. 

—, endemischer (Weber) 146. 

— und Kretinismus (Pfaundler) 39. 

—, Prophylaxe (Rosenblüth) 144. 

— -Prophylaxe in der Schule (Lang) 145. 

—, Ursachen (Messerli) 40. 

Krüppelfürsorge 67. 

— 8. deutscher Kongreß für 60. 

— in England (Jones) 59. 

— auf dem Lande (Bauer) 59. 

— durch Prohylaxe (Biesalski) 60. 

Krüppelpädagogik (Würtz) 92. 

Kulturpsychopathologie, Grundzüge (Birnbaum) 
102. 

Kurs, Ferien-, am Institut J. J. Rousseau in Genf 
69. 


mathematische, Entwicklung 


Längenwachstum, Säuglings-, Abhängigkeit von 
Jahreszeit (Frank) 209. 

Lallsprache (Hoyer) 220. 

Lautphysiologie und Sprachwissenschaft (Rogge) 3. 

Lehrer, ärztliche Überwachung in der Schule durch 
(George) 174. 

— -Ausbildung in Preußen 78. 

— -Ausbildung in Sachsen 78. 

— -Prüfung, zweite 78. 

Lehrgang, Fortbildungs-, für Lehrer und Lehre- 
rinnen an Blinden- und Taubstummenan- 
stalten 359. 

—, sozialhygienischer, für Kreisarzt-, Kreiskom- 
munalarzt-, Schul- und Fürsorgearztanwärter 
74, 363. 

—, Volkshochschul-, für Frauen und Mädchen 
202. 

Lehrplan, Landes-, Grundlegung (Stieglitz) 153. 

— für Taubstumme (Richter) 235. 

Leistung, Einfluß von Beobachtern auf (Gates) 
118. 

—, körperliche und geistige, Motive (Müller) 
104 


—, Schul-, Begabung und Vorstellung (Malsch) 
118. 
—, Schul-, und Intelligenz (Feingold) 151. 


‚Leistungsfähigkeit, psychische, bei Schulkindern, 


Schwankungen (Wolfer) 117; (Dawson) 117. 

Leistungsprüfung, geeichte (Thorndike, Woody, 
Trabue u. McCall) 199. 

Lernen in Irrgartenversuchen, Einfluß mecha- 
nischer Führung auf (Koch) 18. 

—, Theorie (Pyle) 111. 

Linkshändigkeit, partielle sekundäre (Neurath) 
179. 

—, Vererbung und Korrelation (Siemens) 90. 

Lispeln, Behandlung (Fröschels) 59. 

Littlesche Krankheit, Schwangerschaft und Ge- 
burt (Nota) 138. 


Lob und Tadel als Ansporn (Hurlock) 219. 
Locke über den Einfluß der Übung (Phillips) 25. 
Lüge, Kinder-, pädagogisch-psychologische Un- 
tersuchung (Bühler u. Haas) 185. 
Lustbetonung und Gedächtnis (Fox) 112. 


Mädchenschutzhaus, Beobachtungen an den In- 
sassen (Raecke) 35. 

Manisch-depressives Irresein (Henderson) 134. 

Marschieren, physiologische Folgen (Dumoutet.) 
177. 

Masern-Prophylaxe (Degkwitz) 148. > 

Masse und Persönlichkeit (Hirsch) 24. 

Masturbation s. Onanie. 

Mathematische Kritikfähigkeit, Entwicklung 
(Köhler) 25. 

Medizinische Psychologie (Schilder) 212. 

— Statistik, Ratschläge (Myers) 176. 

Meningitis cerebrospinalis, endemische 
rauch) 43. 

— tuberculosa (Paterson) 43. 

— tuberculosa, Pathogenese (Kment) 141. 

Mesenchymose, konstitutionelle (Hirszfeldowa u. 
Sterling) 181. 

Messung und Wägung von Schulkindern (Burger- | — 
stein) 6. 

—, Körper- (Gottstein) 4. 

—, Körper-, bei Schulkindern (Martin) 87; (Peiser) 
87; (Prinzing) 87; (Freudenberg) 88. 

—-, psychische und physische (Stalnaker) 5. 

--, Testikel- (Reich) 89. 

Mikrocephalie (Bianchi) 223. 

—, familiäre (Goldbladt) 128. 

Mimik, affektive, Geburtsschädigung (Neurath) 
137. 

Minderwertigkeit, Fürsorge (Higier) 201; (Vos) 
229 


(Wey- 


—, geistige (Hughes) 229. 

—, geistige, auf dem Lande (Bowes) 228. 

—, geistige, Sterilisierung (Bonhoeffer) 208. 

—, geistige, Prophylaxe (Tredgold, Pritchard, 
Hutschison u. Potts) 83. 

Minderwertigkeitsgefühl, Reaktion auf (Bagby) 
20 


— und Rechtsverletzung (Reisinger) 73. 

Mißbildung, Vererbung (Lücker) 93. 

Mongolismus s. Idiotie, mongoloide. 

Morgansche Theorie und Vererbung (Bonnier) 92. 

Morphologie und Erkrankungen (Bean) 85. 

Motorische Begabung, Untersuchung (Oseretzky) 
300. 

— Rückständigkeit bei Schwachsinnigen und 
Psychopathen (Heller) 1. 

Mund-Handsystem bei Taubstummen (Lindner) 
234. 

Musikalische Gedächtnisbilder (Kochmann) 113. 

Muskel, Extremitäten- (Beuger und Strecker), 
Verhältnis (Ritter) 3. 

Mutter und Kind, ärztlicher Ratgeber (Vortisch) 
167. 


256 


Myxödem (Nobel) 40. 

—, kongenitales, und Rachitis (Bernheim-Karrer) 
4l. 

—, Thyreoidinbehandlung (Nobel) 145; (Nobel u. 
Rosenblüth) 145. 


Nachbilder, negative, bei Kindern und Jugend- 


lichen (Kiesow) 113. 


Namengebung, psychologische Grundlagen (Us 


nadze) 22. 


Nebennieren und Geschlechtsentwicklung (Siegel) 


181. 

Neo-Intellekt (de Jong) 106. 

Nervenkrankheit, mütterliche, Gesundheitszustand 
der Kinder bei (Pilcz) 85. 


Nervensystem-Erkrankungen, Vererbung (Timme) . 


184. 
—, Heredodegeneration (Creutzfeldt) 94. 


Nervöse Kinder (Glueck) 37; (Blackader) 52; i 


(Chassé) 130. 
— Kinder, Unterbringung 76. 


— 


und psychische Erkrankungen bei Jugend- 
lichen (Ilberg) 123. 
Schulkinder (Krassmöller) 130. 


Nervus Facialis-Phänomen, Häufigkeit (Eckert) ` 


13. 

— Oculomotorius und Trochlearislähmung, an- 
geborene (Fanconi) 142. 

— Opticus-Atrophie, Vererbung (Wilmer) 96. 

— Trochlearislähmung und Oculomotoriusläh- 
mung, angeborene (Fanconi) 142. 

Neugeborene, argentinische (Navarro) 89. 

Neuropathische Konstitution (Kochmann) 85. 

Neuropsychiatrie, Klassifikation (Roubinovitsch. 
Baruk u. Bariety) 31. 

Neuropsychische Entwicklung und Konstitution 
(Busco) 83. 

Neurosen (Weber) 149. 

—, infantile (Freud) 131. 

—, Typen (Zappert) 130. 

—, Unfall- (Naegeli) 149. 

—, Zwang in (Seif) 38. 


Norm-Bestimmung durch Messungen (Michelsson) | 


4. 
— und Konstitution (Kaup) 210. 
Notlage in Deutschland (Polligkeit) 60. 


Occipitallappen, Geschwulst (Obarrio) 141. 


Onanie (Friedjung) 36; (Tausk) 36; (Federn) 132: ` 


(Rosenstein) 132; (Mapes) 193. 
Organotherapie und Wachstum (McGraw) 146. 
Ovarium und Geschlechtsentwicklung (Siegel) 

181. 

Oxycephalie (Dwyer) 38. 
—, Ponssyndrom (Demole) 34. 


Pädagogen, deutsche, der Neuzeit (Saupe) 152. 


ee und Jugendbewegung (Schlemmer) ` 


— und Säuglings - Beratungsstelle (Dementjev) | —, ae und evangelische Erziehungsschule 


167. 
Mutterfür sorge in Amerika (Chapman) 67. 
Mutterschutz in Polen (Gromski) 205. 
Muttersprachschule und Arbeitsschule für Taub- 
stumme (Weng) 233. 


(Eberhard) 152. 
und Psychanalyse (Cibarelli) 226; 
226. 

— und Psychologie (Lapie) 77. 

, Sexual- 225. 


(Maeder) 


Kinder, Untersuchungstechnik (Cimbal) 237. 


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ton 


fatit 


'üädagogik, Sozial-, psychologische und sozio- 
logische Untersuchungen (Langenberg) 133. 

—, System (Göttler) 153. 

ädagogische Bedeutung der Körperbeschaffen- 
heit (Gates) 196. 

— Forschung, Jahrbuch der Amerikanischen Ge- 
sellschaft für 196. 

— Tests (Thorndike, Woody, Trabue u. McCall) 
199. 

— Wertlehre (Wagner) 223. 

‘ädagogischer Neubau (Albert) 198. 

— Wert von Projektionslampe und Film (Re- 
vesz u. Hazewinkel) 199. 

’alaeo-Intellekt (de Jong) 106. 

’arkinsonismus nach Encephalitis (Morquio) 140. 

?athologie, Arbeits-, Grundriß (Eliasberg) 119. 

— und Erziehung (Friedjung) 214. 

ersönlichkeit und Masse (Hirsch) 24. 

—, Psychologie (Schulte) 218. 

DL für sittlich Gefährdete, Richtlinien 
ür 65. 

Phantasieleben beim Kinde (Moses) 99. 

Poliomyelitis s. Kinderlähmung, spinale. 

Polydaktylie, Vererbung (Lücker) 93. 

Polyeidoskopie und Wortgedächtnis (Meuer) 
112. 

Polyglobulie, Fettsucht und Riesenwuchs (Stoye) 
42 


Ponssyndrom, Oxycephalie (Demole) 34. 
Primitive, Psyche der, und Unbewußtes (Baynes) 
122. 


Progressivsystem in thüringischen Strafanstalten 
(Dessauer) 208. 

Projektionslampe, pädagogischer Wert (Revesz 
u. Hazewinkel) 199. 

Prophylaxe der venerischen Krankheiten und 
Wohlfahrtspflege (Kreutz) 167. 

Prostituierte, Spezialgerichtshof für (Worthing- 
ton u. Topping) 207. 

Prostitution und Erziehung (Heagerty) 65. 

— im besetzten Rheinland (Hofmann) 71. 

— und soziale Fürsorge (Holloway jr.) 166. 

Pseudochondrodystrophie (Lindeberg) 42. 

Psychagogie und Psychotherapie, Institut in 
Genf für 123. 

Psychanalyse (Isserlin) 265. 

—, Einführung (Wanke) 214. 

— und Erziehung (Hug-Hellmuth) 214. 

—, Grundgedanken (Schilder) 203. 

— und Pädagogik (Cibarelli) 226; (Maeder) 226. 

—, populäre Darstellung (Mißriegler) 21. 

— und Psychologie (Lindworsky) 229. 

Psyche der weiblichen Jugend (Croner) 101. 

Psychiater und Neurologen, norddeutsche, Verein 
116. 

Psychiatrie (Meyer) 123. 

—, soziale (Raecke) 35. 

Psychiatrische Klinik (Ciampi) 227. 

Psychische Berufsberatung und Schülerauslese 
(Döring) 218. 

— Defekte und Hilfsschulbogen (Gräfin v. Kuen- 
burg) 77. 

— und nervöse Erkrankungen bei Jugendlichen 
(llberg) 123. 


257 


— 


Psychogenie, primitive (Gurewitsch) 37. 

Psychognostik (Giese) 218. 

Psychologie, Abriß (Müller) 14. 

—, amerikanische (Allport) 14. 

—, Anstalt in Reichenberg für 364. 

—, Blinden- (Ahlmann) 114. 

—, Determinations-, und Heilpädagogik (Bacher) 
155. | 

—, Gedächtnis-, experimentelle (Offner) 117. 

— und Gestalttheorie (Koffka) 16. 

—, Individual- (Adler) 213. 

—, Individual-, Adlers (Wexberg) 239. 

—, Individual-, und Strafrecht (Schmidt) 22. 

—, induktive und einsichtige (Erismann) 98. 

— der Jugendlichen (Mott) 221. 

—, Kinder-, Ausbildung des Arztes in der (Foote) 
77 


—, Kinder, aus Dichtung und Biographie 
(Bäumer u. Droescher) 99. 

—, kinematographische Forschungsmethode (Cla- 
parede) 26. 

—, medizinische (Schilder) 212. 

— und Pädagogik (Lapie) 77. 

— der Persönlichkeit (Schulte) 218. 

—, Rassen- (Hildenbrandt) 220. 

— und Raumanschauung (Guillaume) 17. 

—, Reklame- (König) 27. 

— schwererziehbarer Fürsorgezöglinge (Gregor) 
315. 

—, Situations-, analytische (Graf v. Dürckheim) 
98 


—, Sozial-, und Gruppenproblem (Allport) 106; 
(Goldenweiser) 106. 

—, Sozial-, und Soziologie (Ellwood) 106. 

—, Sozial-, wissenschaftliche (Kantor) 106. 

Psychologisches Laboratorium der Hamburger 
Universität 68. 

Psychopädagogische Klinik 277. 

Psychopathen im Hort (Lyon) 119. 

— im Jugendgerichtsgesetz (Schnitzer) 238. 

—, Kriegseinfluß auf (Soecknick) 35. 

—, männliche, Anstaltserziehung (Lückerath) 
23 : 


—, motorische Rückständigkeit (Heller) 1. 

Psychopathenfürsorge, Bau von Anstalten (Seclig) 
180. 

—, Deutscher Verein zur 122. 

— in Hagen i. W. 201. 

Psychopathenheim in Roda 123. 

Psychopathie-ähnlicher Zustand nach Encephali- 
tis (Gerstmann u. Kauders) 128. 

— bei Zurückgebliebenen (Tamm) 191. 

Psychopathisches Syndrom nach Encephalitis 
epidemica (Bolsi) 129. 

Psychopathologie (Jaspers) 221. 

— T Entwicklung (Storch) 222. 

— bei Normalen (Boven) 31. 

— und Psychiatrie (Boven) 31. 

Psychopathologische Grenzerscheinungen 
(Schultze) 120. 

Psychosen, Fürsorge bei (Michälek) 51. 

—, heilpädagogische Klinik (Mundie u. Silver- 
man) 227. 

— des Jünglingalters (Henderson) 134. 


Psychischer Zustand beim Kleinkind, Test für |—, Veranlagung zu (Kehrer u. Kretschmer) 82. 


(Schwab) 185. 
Zeitschrift für Kinderforschung. Bd. 80. 


\— infolge Vererbung und Alkoholismus 7. 


17 


258 


Psychotechnik in der Berufsberatung (Wettstein) | Säuglinge, Zeit-Waisen (Benault) 168. vo: 


120; (Suter) 120. 
Psychotherapie, Einführung (Adler) 213. 
Pubertät, Erziehung in der (Schulte) 198. 
—, Körperproportionen (Fischer u. Hofmann) 
180. 


—, vorzeitige, bei Knaben (Flores) 180. 
Pulsfrequenz und Arbeit (Day) 110. 


BRachitis und kongenitales Myxödem (Bernheim- 
Karrer) 41. 

— und Syphilis congenita (Cozzolino) 144. 

Rasse und Kopfindex (Pearson u. Tippett) 86. 

Rassenhygiene und Familienberatung (Rüdin) 
182 


— und Hilfsschule (Schröder) 91. 

Rassenpsychologie (Hildenbrandt) 220. 

Rassenunterschiede (Sitsen) 182. 

Raumanschauung und Psychologie (Guillaume) 
17. 

Reaktion, motorische, auf sensorische Reize beim 
Säugling (Sherman) 81. 

— -Typen und Konstitutionstypen, nervöse (Po- 
totzky) 38. 

— -Typen, nervöse (Zappert) 130. 

—, Untersuchungen über (Wells) 111. 

Rechenunterricht, anschaulicher, in der Hilfs- 
schule (Horrix) 156. 

— bei Taubstummen (Hellerich) 234. 

Rechtslinksblindheit (Elze) 116. 

Rechtslinksempfinden (Elze) 116. 

Rechtsverletzung und Minderwertige (Reisinger) 
73 


Reflexologie, genetische (Bechterew u. Schtsche- 
lowanow) 190. 

Reklame-Psychologie (König) 27. 

Religiöse Entwicklung (Kupky) 189. 

— Erlebnisse, frühkindliche (Wunderle) 20. 

Religionsunterricht, psychologische Bedeutung 
(Alberti) 19; (Stern) 224. 

Retinitis pigmentosa, Vererbung (Wilmer) 96. 

Riesenwuchs, Fettsucht und Polyglobulie (Stoye) 
42. 

Rousseau-Institut in Genf, Ferienkurs 69. 


Säuglinge, abnorme, Symptome und Behandlung 
(Thomson) 50. 
-Fürsorge in Amerika (Chapman) 67. 
-Fürsorge, Entwicklung (Feldman) 168. 
-Fürsorge in Österreich (Tietze) 66. 
-Krankheiten, Lehrbuch (Finkelstein) 147. 
-Längenwachstum, Abhängigkeit von Jahres- 
zeiten (Frank) 209. 
, motorische Reaktionen auf sensorische Reize 
beim (Sherman) 81. 
a ländliche Wanderkurse für (Hackel) 


—, Eye Erziehung (Schweizer) 66. 

— -Schutz und Kleinkinderschutz, Deutsche Ver- 
einigung für 200. 

-Sterblichkeit und Kleinkinder-Sterblichkeit, 
Beziehung (Prinzing) 209. 

-Sterblichkeit der Kriegs- und Nachkriegsjahre 
(Maurer) 90. 

-Tuberkulose, Frequenzsteigerung (Nobecourt 
u. Boulanger-Pilet) 168. 


Säuglingsalter, Kleinkinder- und schulpflichtiges ~ ! 
Kindesalter (Galant) 120. 

— -Krankheiten, Vererbung (Herrman) 9. ` 

Satz in der Kindersprache (Bloch) 29. je 

Schielen und seelische Verfassung (Harford) > 
143. 

Schilddrüse s. Thyreoidea. 

Schizoide Konstitution, Klinik und Differential. 
diagnose (Claude, Borel u. Robin) 83. 

Schizoidie und Gestaltung (Rothschild) 124. 

Schizophrenie, kindliche (Löpfe) 135. 

—, Vererbung (Lenz) 135. 

—, Zeichen beim gesunden Kinde (Wildermuth) © 
20. 


Schlaf, Reizbarkeit im (Peiper) 178. 
Schülerkunde (Lobsien) 18. 
Schulärzte-Anwärter, Lehrgang für 74. 
—, Kommunal- und Fürsorgeärzte, Vereinigung 
Deutscher, Heubergtagung 34. 

—, Tätigkeit (Stoltenberg) 76. 

Schulalter, Säuglings- und Kleinkindesalter (Ga- 
lant) 120. z 

Schule, Anstalts- und Hilfs- (Ziegler) 228. 

—, Arbeits- (Heywang) 153. 

—, Armen-, in London (Ackroyd) 64. 

—, Erziehungs-, evangelische, und moderne Päda- ~ 

gogik (Eberhard) 152. 
—, Erziehungs-, und Verwahrlosung (Langen- 
berg) 133. 

—, Fürsorge bei Sprachstörung (Rothe) 145. 

‚ Hilfs, anschaulicher Rechenunterricht in > 
(Horrix) 156. 

‚ Hilfs-, Aufmerksamkeit in der (Manthey) 51. 

‚ Hilfs-, deutsche (Fuchs) 52. 

> Hilfs-, Lehrplan (Schulze) 155. Ä 

‚ Hilfs-, Personalbogen in der, und Psychisch ` 
Defekte (Gräfin v. Kuenburg) 77. 

> Hilfs-, rassenhygienische Bedeutung (Schrö- 
der) 91. 

‚ Hilfs-, rhythmische Gymnastik in (Traut- 
mann) 156. 
für Hygiene in London 77. 

‚ Muttersprache- und Arbeits-, für Taubstumme : 
(Weng) 233. 
für Schwachsichtige (Holm) 158. 
für Schwerhörige (Winde) 158. 

‚ Schwerhörigen- und Sprachheil- (Dirr) 232. 
für Taubstumme (Goldstein) 158; (Schneider) 
233. 

—, Taubstummen-, 
in (Henning) 53. 

‚ Vorbeugung von Straftaten durch (Simon) 
239. 

—, Wohlfahrts-, Nachschulungslehrgang 356. 

Schulgesetz-Revision in Basel (Vischer) 163. 

Schulkinder-Auslese und psychische Berufsbera- 

tung (Döring) 218. 
— -Pflege, Deutscher Verband 118. 
Schulkindergarten, Ziele und Wege (Nohl) 172. 
Schulreform (Albert) 198. 
Schulung, Wirkung auf individuelle Differenzen 
(Reed) 112. 

Schwachbefähigte, Umfang des Beachtens bei 
(Simonic) 282. 

Schwachsichtige, Sonderschulen für (Holm) 158. 


Den u a 


nn 
— 
— 


spezialärztliche Behandlung 


| 


— 259 


Schwachsinn, Behandlung und Fürsorge 229. 

—, moralischer (Suttie) 191. 

— [Oxycephalie, Ponssyndrom] (Demole) 34. 

—, Sterilisierung bei (Braun) 208. 

—, Wesen des (Bacher) 190. 

Schwachsinnige, Anstalt Katharinenhof in Sach- 
sen für (Meltzer) 156. 

—, Anzahl (Edens u. Hererschöe) 191. 

—, Arbeitseinrichtung für (Wepster) 157. 

—, Einzelfälle (Jarden) 127; (Green) 127; (Mur- 
phy) 127. 

—, Ferienkolonie für (van Voorthuysen) 157. 

—, Intelligenzprüfung bei (Pisani) 118. 

—, motorische Rückständigkeit (Heller) 1. 

—, serologische Untersuchung (Liebers u. Maass) 
125. 

—, triebgemäßer Erlebnisunterricht bei (Gürtler) 
200 


—, Unterricht [der Wilde von Aveyron] (von 
Voorthuijsen) 51. 

—, Zeichnen (Vidoni) 115. 

Schwäche, kindliche (Tonina) 14. 

Schwellenuntersuchung (Löwi) 105. 

Schwerhörige, Hörprüfung bei (Fröschels) 158. 

—, Schule für (Winde) 158. 

Schwerhörigen- und Sprachheilschule (Dirr) 232. 

See, Wert der, für die Gesundheit der Jugend 
(Kirchberg) 165. 

Seele, Kindes- (Bäumer u. Droescher) 99. 

Seelenbinnenleben beim Kinde (Moses) 99. 

Seelenleben, jugendliches (Linde) 101. 

Seelische Hemmung (Klopfer) 103. 

— Störung s. Psychose. 

— Verfassung und Schielen (Harford) 143. 

Sehvermögen-Erlangung bei Blindgeborenen (Reis 
u. Mikulinska) 202. 

Selbstbeobachtung und Theoriebildung, kind- 
liche (Raspe) 99. 

Selbstmord (Carp) 125. 

Sensomotorische Entwicklung, Asymmetrie (Tour- 
nay) 2. 


Serum- a bei Schwachsinnigen (Lie- |. 


bers u. Maass) 125. 

Sexualerziehung und Jugendlich-Kriminelle (Da- 
ley) 157. 

Sexualpädagogik 225. 

Sexualtheorie (Freud) 21. 

Sexualverbrechen 238. 

Sexuell Entgleiste, Spezielgerichtshof für (\Wor- 
thington u. Topping) 207. 

Sexuelle Aufklärung (Heijermans) 226. 

— Erziehung (Heagerty) 226. 

Sinnesschärfe und Entwicklungsstörung (Fou- 
cault) 52. 

Sittliche Wertung, Psychologie und Pathologie 
(Honecker) 21. 

Situstionspsychologie, analytische (Graf v. Dürck- 
heim) 98. 

Soziale Einflüsse und intrauterinesWachstum (Pel- 
ler) 84. 

— Fürsorge für Mutter und Kind (Mulon u. 
Roueche) 165. 

— Fürsorge und Prostitution (Holloway jr.) 
166. 

— Fürsorge, Vorlesungen an der Universität 
Bonn 69. 


Soziale Fürsorge nnd jugendliche Zeugen bei 
Sittlichkeitsprozessen (Meyer) 173. 
ale Akademie in Charlottenburg 


a nie Lehrgang für Kreisarzt-, Kreis- 
kommunalarzt-, Schul- und Fürsorgearztan- 
wärter 363. 

Sozialpädagogik, Fortbildungskursus 121. 

— schwererziehbarer Fürsorgezöglinge (Gregor) 
313. 

Sozialpolitisches Seminar der deutschen Hoch- 
schule für Politik 201. 

Sozialpsychologie s. Psychologie, Sozial-. 

Sozialwissenschaftliches Seminar der Deutschen 
Hochschule für Politik 74. 

Soziologie und Sozialpsychologie (Ellwood) 106. 

Spasmus nutans (Zappert) 48. 

Spiegelschrift, Analyse (Sereni) 116. 

Spiel, Entstehung und Wert (Pifierüa) 19. 

—, Ernst-, der Jugendzeit (Stern) 100. 

Sprache und Denken (Piaget) 28. 

—, und Intelligenz (Eliasberg) 188. 

—, Satz in der (Bloch) 29. 

Sprachanbildung bei Taubstummen (Wegwitz) 
233. 

Sprachbegabung, Tests für (Krug u. Pommer) 
188. 


Sprachbildung des Kindes (Delacroix) 121. 
Sprachentwicklung - Stillstand, Echolalie (Pick) 
126. 


Sprachheil- und Schwerhörigenschule (Dirr) 232. 
Sprachheilkunde (Gutzmann) 54. 

Sprachklinik (Scripture) 56. 

Sprachschatz, Messung (Descoeudres) 29. 
Sprachstörung, Behandlung (Fröschels) 160. 

—, ae beim Kleinkind (Hoepfner) 


—, Einteilung und Behandlung (Gifford) 56. 
—, Fürsorge in der Schule (Rothe u. Fröschels) 
57 


—, heilpädagogische Klinik (Mundie u. Silver- 

man) 227. 

—, Pathogenese und Behandlung (Fassl) 203. 

— und Schule (Flatau) 203. 

—, Schulfürsorge bei (Rothe) 145. 

Sprachtests, abgestufte (Stinchfield) 112. 

Sprachwerden und Gebärde bei Taubstummen 
(Buffieux) 234. 

Sprachwissenschaft und Lautphysiologie (Rogge) 
3 


Sprecherziehung (Drach) 159. 

Sprechunterricht (van Dantzig) 57. 

—, experimentalphonetische Beobachtungen (Frö- 
schels u. Trojan) 57. 

— bei Taubstummen (Malisch) 234. 

Stammler, Sprachproben (Hubben) 203. 

Statische Entwicklung bei Bauchlage des Säug- 
lings (Lasch u. Fischer) 178. 

Statistik, medizinische, Rathschläge (Myers) 
176. 

Stenocephalie, prämatur - synostotische (Reyher) 
13 


Stephansburg bei Burghölzli für psychisch- oder 
nervös Kranke 162. 

Sterblichkeit und Inzucht (Murphy) 184. 

—, Kinder-, und Bildung (Lennox) 65. 


17* 


Sterblichkeit, Säuglings- und Kleinkinder-, der 
Kriegs- und Nachkriegsjahre (Maurer) 90. 
Sterilisierung geistig Minderwertiger (Bonhoeffer) 

208. 


— Schwachsinniger (Braun) 208. 

Stiftung, gemeinnützige, zur Verhütung der Straf- 
fälligkeit 172. 

Stimme, Krankheiten der, Klinik und Therapie 
(Stern) 231. 

Stimmerziehung (Suhrmann) 159. 

Stimmschulung, ideale (Erben) 159. 

Stirnfontanelle im ersten Lebensjahr (Ryhiner) 
2 


Stirnhirn-Funktionen, Pathologie und Psychologie 
(Feuchtwanger) 1. 

Stoffwechsel, Energie-, Wirkung des Frühstücks 
auf (Bauer u. Blunt) 81. 

—, Gas-, und Zwergwuchs (Staehelin u. Gigon) 
12 


—, Grund-, beim Kinde (Talbot) 11. 
— bei Unterernährung (Fleming u. Hutchison) 
178 


Stottern, Ätiologie (Sachs) 55. 

—, Beobachtungen bei (van Dantzig) 203. 

j ee Verlauf, Heilung (Schneider) 

159. 

—, Entwicklungs-, Entstehung (Stein) 55. 

—, Forschung (Fröschels) 57. 

—, individualpsychologische Deutung (Wilheim) 

55. 


—, Mitbewegungen beim (Stockert) 56. 

—, Problem (Greene) 54. 

—, Psychologie (Lellep) 55. 

—, Theorie (Stein) 54. 

—, Wesen (Scripture) 54. 

Straffälligkeit-Verhütung, 
tung zur 172. 

Strafgesetzbuch, deutsches (Simon) 239. 

— und Jugendgesetze (Göring) 72. 

Strafgesetzreform, Vortragszyklus 466. 

Strafhaft, Psychologie und Psychopathologie 
(Michel) 123. 

Strafprozeß, Vernehmung im (Liepmann) 72. 

en und Individualpsychologie (Schmidt) 

2. 

Strafvollzug (Herrmann) 240. 

— -Behörden, Fürsorgeerziehungsbehörde, Vor- 
mundschaftsrichter und Jugendämter, Zu- 
sammenarbeit 365. 

— und Jugendgerichtsgesetz (Ellger) 71. 

— m Arbeitsgemeinschaft für (Grünhut) 

0. 

Strukturgesetze, Studien über (Werner) 114. 

Suggestion und Autosuggestion (Baudouin) 24. 

— -Behandlung (Pototzky) 217. 

Syphilis congenita, Behandlung (Herz) 45. 

— congenita und Hutchinsonsche Zähne (Hirsch- 

berg) 194. 

congenita und Mongolismus (Lemaire) 127. 

congenita und Rachitis (Cozzolino) 144. 

congenita, Schicksal der Kinder bei ausgie- 

biger Behandlung (Meyer) 45. 

congenita, Serumdiagmnostik (Szirmai) 46. 

congenita und Syphilis nervosa (Husler) 95. 

congenita, Übertragung (Carle) 95; (Czickeli) 


Gemeinnützige Stif- 


260 — 


Syphilis congenita, Untersuchungen (Nobl u. ' 
Remenovsky) 144; (Findlay) 193. 

— ignorée (Leredde) 143. 

—, Lehrbuch (Meirowsky u. Pinkus) 45. 

— nervosa und Syphilis congenita (Husler) 95. 


Tadel und Lob als Ansporn (Hurlock) 219. | 

Tageszeit und Körperlänge (Backman) 88. 

Taubheit, Gleichgewichts- und Gehörfunktion»- 
prüfung bei (Alden) 53. 

—, Studien (McAuliffe) 53. 

Taubstumme- Anstalten, Lehrerprüfung für 7$. 

—, begabte (Reich) 235. 

— -Bildungswesen in Holland (Schumann) 232. 

—, Hörprüfung bei (Fröschels) 158. 

—, Immanuel Kant über (Schumann) 159. 

—, Lehrplan (Richter) 235. 

—, Mund-Handsystem bei (Lindner) 234. 

—, Muttersprachschule und Arbeitsschule für 
(Weng) 233. 

—, Rechenunterricht (Hellerich) 234. 

—, Schule für (Goldstein) 158; (Schneider) 233. 

— -Schule, spezialärztliche Behandlung in (Hen- 
ning) 53. 

—, Sprachanbildung bei (Wegwitz) 233. 

—, Sprachwerden und Gebärde (Ruffieux) 2%. 

—, Sprechunterricht (Malisch) 234. 

— -Unterricht und Gebärdensprache (Passov ' 
204. 

Taubstummheit, Fürsorge (Hebel) 233. 

—, Lesen und Schreiben bei (Malisch) 84. 

—, Pathologie (Fraser) 232. 

— und Vererbung (Gradenigo) 13. 

Temperament und Charakter (Ewald) 96. 

— -Vererbung (Hoffmann) 184. 

Testikel-Messungen (Reich) 89. 

Tests s. a. Intelligenzprüfung. 

—, pädagogische (Thorndike, Woody, Trabuc u. 
McCall) 199. 

— für psychischen Zustand des Kleinkinde: 

= (Schwab) 185. 

—, peychologische (Terman) 104; (Dolan: 
187. 

— für Sprachbegabung (Krug u. 
188 


Pomme’! 
—, Wiederholung und Übung bei (Schrievir' 
219 


Tetanie, chronische idiopathische (Gibson) 41. 

Teuerung und Volksgesundheit (Berghaus) 9. 

Thyreoidea, Gehirn und Wachstum (Kraus : 
Holzer) 180. 

— bei Mongolismus (Thomas u. Delhouzn- 
223. 

— -Untersuchung bei Schulkindern (Olesen' 
180. 

Torsionsdystonie (Prissmann) 45. 

Träume, Untersuchungen über (Raspe) 21. 

Trunksucht, Vererbung (Kroon) M. 

Tuberkulöse Kinder, Entwicklung (Dudden! 6. 

Tuberkulose, Bekämpfung in Frankreich (Bezat 
con u. Bernard) 167. 

— -belastete Kinder, Entwicklung (Peiser) 6. 

—, mütterliche, Gewicht der Kinder bei (Vigne 
184. 

—, Säuglings-, Frequenzsteigerung (Nobecourt ' 
Boulanger-Pilet) 168. 


— 261 


Tuberkulose beim Schulkind (Peiser) 42. 

— -Unterricht in Thüringen (Kayser-Petersen) 
‚175. 

Typen der Zurückgebliebenen (de Vries) 125. 

—, Aphasie nach (Sabatini) 142. 


Überempfindlichkeit bei Ekzem (Gartje) 148. 
Übung, 
219. 


—, Locke über den Einfluß der (Phillips) 25. 

Unbewußtes und Psyche der Primitiven (Baynes) 
122. 

Uneheliche Geburten im besetzten Rheinland 

(Hofmann) 71. 

Kinder und Eugenik in Amerika (Popenoe) 

71. 

Kinder, Gesetz in Amerika für (Worthington) 

69. 

Kinder, Rechtsansprüche (Tomforde) 205. 

Mütter im ländlichen Neu - England (Hall) 

206. 

Unfallneurose (Naegeli) 149. 

Ungezogenheiten, psychiatrische 
(Feldner u. Lazar) 36. 

Universitätsstudium für Lehrer 78. 

Unterbringung nervöser Kinder 76. 

Unterernährung, Blindheit infolge (Bloch) 142. 

—, Stoffwechsel bei (Fleming u. Hutchison) 178. 

Unterricht, experimentelle Gedächtnispsychologie 

‚im (Offner) 117. 

—-, Lese- und Schreib-, 
(Malisch) 77. 

— bei Schwachsinnigem [der Wilde von Aveyron] 
(van Voorthuijsen) öl. 

—, Tuberkulose-, in Thüringen (Kayser-Petersen) 
175. 

Unterrichtszeit, geteilte oder ungeteilte (Kossel u. 
Moses) 149. 

Untersuchung nervöser Kinder, Technik (Cimbal) 
237. 

—, periodische, gesunder Kinder (Smith) 164. 


u 


Untersuchung 


bei Taubstummheit 


Wagabondieren und seelische Konflikte (Bovet) 
‚193. 
Variationsforschung, experimentelle (Kammerer) 
91. 
Veranlagung zu Psychosen (Kehrer u. Kretschmer) 
82. 
Veranschaulichung, Gefahren der (Ziegler) 18. 
Vererbung erworbener Eigenschaften (Kammerer) 
21. 
und Erziehung (Schlemmer) 195. 
und Eugenik (van Herwerden) 10. 
-Forschung, Methoden (Abderhalden) 
(Haecker) 91. 
- Forschung bei mütterlicher Tuberkulose (Vig- 
nes) }184. 
und Geistesstörung 7. 
, Generationsrhythmen (Nissen) 93. 
der Kopfform (Schreiner) 93. 
, Korrelation und Linkshändigkeit (Siemens) 
90. 
und Krankheiten des Säuglings- und Kindes- 
alters (Herrman) 94. 
von Mißbildungen (Lücker) 93. 
und Morgansche Theorie (Bonnier) 92. 


— 
-m 


9l; 


— 


Vererbung von Nervensystem - Erkrankungen 
(Timme) 184. 

bei Opticusatrophie und Retinitis pigmentosa 
(Wilmer) 96. 

bei Schizophrenie (Lenz) 135. 

und Taubstummheit (Gradenigo) 13. 

—, Temperament- (Hoffmann) 184. 


Einfluß | auf Testleistung (Schriever) | —, Trunksucht- (Kroon) 94. 


Verhalten und Konstitution (Naccarati u. Garrett) 
6. 

Vernehmung im Strofprozeß (Liepmann) 72. 

Verwahrlosung und Erziehungsschule (Langen- 
berg) 133. 

—, klinischer Standpunkt (Rehm) 116. 

— bei Mädchen (Lenroot) 133; (Raimann) 133. 

—, sozialer Standpunkt (Rehm) 117. 

— vom therapeutisch-pädagogischen Stand- 
punkt (Draesecke) 117. 

—, Untersuchungstechnik (Cimbal) 117. 

Verwahrungsgesetz, Entwurf (Maier) 75. 

Volksbelehrung, hygienische (Liefmann) 76. 

Volkserziehung und Wohlfahrtsamt(Giese) 162. 

Volksgesundheit und Teuerung (Berghaus) 9.? 

Volkshochschullehrgang für Frauen und Mäd- 
chen 202. 

Vormünder s. a. Berufsvormünder. 

—, Pfleger, Beistände und Helfer, Führer für 
(Zillken) 174. 

Vormundschaft durch das Jugendamt, Erlaß 


200. 

Vormundschafterichter, Fürsorgeerziehungsbe- 
hörde, Strafvollzugsbehörde und Jugend- 
ämter, Zusammenarbeit 365. 

„Vorsicht“ bei Intelligenzprüfung (Brown) 110. 

Vorstellung, Begabung und Schulleistung (Malsch) 
118. 

Vorstellungsleben, optisches (Ahlmann) 114. 


Wachstum, Beruf und Handdimension (Brezina 
u. Lebzelter) 179. 

—, Gehirn und Thyreoidea (Kraus u. 
180. 

—, intrauterines, und soziale Einflüsse (Peler) 
84. 

—, Längen-, der Säuglinge, Abhängigkeit von 
Jahreszeiten (Frank) 209. 

— bei Mongoloiden (Talbot) 222. 

—, Organotherapie (McGraw jr.) 146. 

Wägung, Körper-, bei Schulkindern (Prinzing) 87; 
(Freudenberg) 88. 

— und Messung von Schulkindern (Burgerstein) 
6. 

Wahrnehmung beim Kind (Cramaussel) 19. 

—, unbemerkte Elemente (Allers u. Teler) 26. 

Waisenerziehungsanstalt, Dr. Koschs, in Königs- 
berg (Rosenthal) 153. 

Wanderkurse, ländliche, für Säuglings- und Klein- 
kinderpflege (Hackel) 80. 

Wertlehre, pädagogische (Wagner) 223. 

Wiederholungseinfluß auf Testleistung (Schriever) 
219. 

Willensschule (Lindworsky) 22. 

Woblfahrtsamt und Volkserziehung (Giese) 162. 

Wohlfahrtseinrichtungen, amerikanische, Unter- 
suchung ausländischer Mädchen in (Jarrett) 
166. 


Holzer) 


Wohlfahrtseinrichtungen, Vereinigung der freien | 
rivaten gemeinnützigen 160. | 

Wohlfahrtspflege, Ausbildung männlicher Kräfte 

«i in 79; (Beerensson) 79. 

-—, öffentliche, und ‚Jugendbewegung (Mennicke) 
235. 

-—— und Prophylaxe der venerischen Krankheiten 
(Kreutz) 167. 

Wohlfahrtspflegerin für Geschlechtskrankheiten 
(Brown) 175. 

Wohlfahrtsschule, Nachschulungslehrgang 356. 

Worterfindung des Kindes (Delacroix) 121. 


Zahnen, erstes (Lede) 2. 

Zeichnen von Schwachsinnigen (Vidoni) 115. 

Zeit-Waisen (Renault) 168. 

Zeitbewußtsein und Aufmerksamkeit (Hülser) 216; 
(Quasebarth) 216. 


262 


— 


Zeugen- Aussage, Psychologie (Gault) 119. 

—, jugendliche, bei Sittlichkeitsprozessen und 
soziale Fürsorge (Meyer) 173. 

Zuchtlosigkeit, Erziehung bei (v. 
192. 

Zungenreden (Rust) 102. 

Zurückgebliebene in der Elementarschule (Beur: 
202. 

—, Psychopathie bei (Tamm) 191. 

— in der Schule, Untersuchungen (O'Flaherty' 
127. 

—, Stundenzahl für (Klompmaker) 156. 

—, Typen (de Vries) 125. | 

Zwergwuchs und Gaswechsel (Staehelin u. Gison 
12. 

Zwillinge, intellektuelle Ähnlichkeit (Merrimar 
110. 

Zwillingspathologie (Siemens) 11. 


Kármán) 











Zeitschrift für Kinderforschung. 80. Band, 4./ö. Heft. III 
Fortsetzung des Autorenverzeichnisses! 
Hülser, Carl 216. Mott, Frederick 221. Schlemmer, Hans 224. Szulczewski, Bronislas 
Hug-Hellmuth, H. 214. Mundie, G. S. 227. Schneider, M. 283. Talbot, Fritz B. 222. [217. 
Hughes, Robert 229. Nafe, John Paul 216. Schnitzer, Herbert 288. | Thomas, E. 228. 
Hurlack, Elizabeth B.219. | Oestreicher, Paul 210. Schriever. Hans 219. Traw, Wm. Clark. 215. 
Jaspers, Karl 221. Pototzky, Carl 217. Schulte, R. W. 218. Veeder, Borden S. 209. 
Kaup, J. 210. Prinziug 209. Schumann, Paul 282, Vining, C. Wilfred 210. 
Lindner, Rudolf 284. Quasebarth, Käte 216, Simon, Gustav 289, Vos, G. J. 229. 
Lunquet, G.-H. 217. * | Reich, F. 285. Silverman, Baruch 227. Wagner, Julius 228. 
Maeder, Alfonso 226. Richter, August 285, 286. | Stelzner, Helene-Fride- | Wanke, Georg £14. 
Malisch, R. 284. Ruffieux, Franz 2334. rike 239. Wegwitz, Franz 283. 
Mennicke, Carl 285. Scherk, Gerhard 211. Stern, Hugo 224, 281. Weng, E. 283. 
Mosse, Karl 217. | Schiller, Paul 212. Storch, Alfred 222. Ziegler, K. 228. 











Jaap VON JULIUS SPRINOERIN BERLIN W 9 














































| 
| Soeben erschien: 


Bericht über den zweiten Kongreß 
für Heilpädagogik 


in München, 29. Juli bis 1. August 1924 


Im Auftrage der Gesellschaft für Heilpädagogik, Forschungsinstitution für Heilpädagogik, 
herausgegeben von 


Erwin Lesch 


Umfang 294 Seiten. — Preis 12.— Goldmark 





Vorzugspreis 9.— Goldmark für die Mitglieder der Gesellschaft für Heilpädagogik 
und die Bezieher der Zeitschrift für Kinderforschung 





Die Bestellungen zum Vorzugspreis sind an die Geschäftsstelle der Gesellschaft für Heil- 
pädagogik, München, Klenzestraße 48 zu richten. Die Zustellung erfolgt durch die Hirsch- 
waldsche Buchhandlung, Beriin NW 7, gegen Nachnahme. 





Inhaltsübersicht: 


Der Buchbericht orientiert über die Heilpädagogik im Ganzen und zeigt in 30 Referaten 
den je'zigen Stand der wissenschaftlichen Forschung und praktischen Erfahrung auf den 
einzelnen Interessengebieten, 

Die für Pädagogen, Mediziner, Juristen, Theologen und de so wichtigen Fragen 
der heilpädagogischen Ausbildung behandeln Prot. Isserlin und Dr. P. E. Kurz-München, 
Direktor Hanselmann (Heilpädagogisches Seminar Zürich) und Direktor Eltes-Ellenbach- 
Budapest. — Die Organisation des Sonderschulwesens legt Arno Fuchs-Berlin übersichtlich 
dar. — Der Münchener Soria nypen er Prof. I. Kaup veröffentlicht wertvolles statistisches 
Material über die Verbreitung körperlicher und geistiger Gebrechen im Volk unter dem Ge- 
sichtspunkt Volksentartung und Staatswirtschaft. — Professor Aloys Fischer - München 
spricht über das soziale Bewußtsein. ein Kernproblem der Gegenwart, Professor Homburger- 

eidelberg über die seelische Differenziertheit. — Direktor Th. Heller-Wien-Grinzing 
befaßt sich mit motorischen Rückständigkeiten. — Klar und deutlich entwickelt der Kölner 
Psychologe Professor Lindworsky den vielfältig ausgelegten Begriff Intelligenz. — Der 
Münchener Psychiater Geheimrat O. Bumke referiert über psychische Veränderungen nach 
Encephalitis epidemica. Eine Fülle wertvoller medizinischer Forschungsergebnisse bieten 
die Arbeiten Lazar-Wieser und Jaensch-Wittneben über endokrine Drüsen und Schwach- 
sinn. — Professor Ranschburg- Budapest gibt die Ergebnisse seiner Untersuchungen über 
die Pathopsychologie der Störungen des Lesens, Schreibens und Rechnens. — Namhafte 
Pädagogen erstatten Mitteilung aus ihrem reichen Erfahrungsschatz (Bacher-Königsberg, 
Bartsch-Leipzig, Entres-München, Gürtler-Chemnitz, Kroiß-Würzburg, Marschas-Reichenberg, 
Wankmüller-Tübingen, Weigl-Amberg u. a.) — Neue Richtlinien für psychologische Gut- 
achten bei Sexualprozessen stellt Professor William Stern-Hamburg auf. — Der Fürsorge, 
insbesondere dem RJWG und RJGG, ist eine Reihe von Arbeiten gewidmet (Professor 
Gregor-Flehingen, San.-Rat Lückerath-Euskirchen, San.-Rat Schnitzer-Stettin, Dr. Herrmann- 
Hildburghausen, Dr. Voigtländer-Leipzig u. a.). 

Die zum Teil sehr ausführlichen Darstellungen geben ein erfreuliches Bild über die - 
engen Beziehungen und das innige Zusammenwirken zwischen Medizinern und Pädagogen 
und neuestens auch Juristen auf dem Gesamtgebiet der Heilpädagogik. | 

Das beigegebene Sachregister erstreckt sich auch auf den Bericht über den I. Kongreß 
| für Heilpädagogik 1922. 

















IV Zeitschrift für Kinderforschung. 30. Band, 4./ö. Heft. 








DR JOSEPH BEEKING Verlag von Julius Springer 


Familien- und in Berlin W 9 





Anstaltserziehung 
in der Jugendfursorge 


Eine grundsätzliche 
und entwicklungsgeschichtliche 


sozialethische Untersuchung 


Soeben erschien: 


M. 5.80; geb. in Leinw. M. 7.20 


Bildet den I. Band der ‚Studien zur kathol. 
Sozial- und Wirtschaftsethik‘‘, herausgegeben r 


von D. Dr. Franz Keller, o. ö. Professor an 
der Universität Freiburg i. Br. 


8 
Das Werk bietet die erste größere zusammen- 
fassende Darstellung der Entwicklung der Kinder- 
und Jugendfürsorgearbeit in Deutschland unter be- 


sonderer Berücksichtigung der karitativen Jugend- 
hilfe. Das Bild der geschichtlichen Entwicklung der 


a 
Familienunterbringung und Anstaltserziehung ist 
aufgebaut auf einer grundsätzlichen sozialethischen 
Würdigung der Familienerziehung in der Jugend- 


fürsorge, Die Darstellung ist dadurch um so wert- 

voller und fesselnder, B sie aus einer inneren 

Verbundenheit mit der Materie mit einem scharfen 17 —19 September 1994 
Erfassen der inneren Entwicklung dargeboten ° , 

wird. Zugleich ist das Werk durch eingehende 

aus der unmittelbaren Praxis geborene Anregungen : 

für die Gegenwartsaufgaben ein sicherer Führer, 104 Seiten. 4 Goldmark 

zu den großen Zielen, die das Reichsgesetz für 

Jugendwohlfahrt dem deutschen Volk gestellt hat. | (Vereinigung für Jugendgerichte und Jugend» 


VERLAG HERDER, FREIBURG I. B. gerichtshilfen. Heft 5) 








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Soeben erscien: 


| ÜBER PSYCHOLOGIE 
UND PSYCHOPATHOLOGIE 
| DES KINDES 


Von 


DR. THEODOR HELLER 


Direktor der Erziehungsanstalt Wien-Grinzing 


Zwelte, erweiterte Auflage 


63 Seiten - Preis 2 Goldmark 


INHALTSVERZEICHNIS 


Vorwort, — I. Psychologie des Kindes: Grundtatsachen. — Die Entwicklung 
der geistigen Fähigkeiten. — Kind und Schule. — //. Psfchopathologie des | 
Kindes: Die geistigen Schwächezustände. — Die nervöse Konstitution. — Die 
psychopathischen Konstitutionen. — Wanderlrieb. Selbstmord. Heilpädagogik als 
Fürsorgeerziehung. — Liferaturnachweis. | 


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Hierzu zwei Beilagen der Verlagsbuchhandlung Julius Springer in Berlin W 9 
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig 








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