Heft 1 - März 1993 - Gegründet 1907 A 8540 F
ZEITSCHRIFT
FUR POLITIK
Organ der Hochschule fiir Politik Miinchen
Aus dem Inhalt:
Rupert Hofmann: »Memmingen« - ein Medienprodukt
Roland Kley: F. A. Hayeks Verteidigung des Liberalismus
Gangolf Hübinger: Liberalismus und Individualismus im deutschen
Bürgertum
Harald Homann / Clemens Albrecht: Osteuropa und Herder
Andre Kaiser: Zur britischen Unterhauswahl 1992
PIKO vn m 2 a;
R ZfP Jahrgang40 Hefti März 1993 S.1-120 ISSN 0044-3360
CARL HEYMANNS VERLAG - KÖLN - BERLIN : BONN : MÜNCHEN
Zeitschrift fiir Politik
Organ der Hochschule fiir Politik Miinchen
(Zitierweise: ZfP)
Gegrtindet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt
Herausgegeben von: Dieter Blumenwitz, Rupert Hofmann, Franz Knöpfle,
Nikolaus Lobkowicz, Hans Maier, Henning Ottmann, Mohammed Rassem,
Theo Stammen
Redaktion: Karl-Heinz Nusser
Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher, Karl W. Deutsch, Friedrich
Karl Fromme, Utta Gruber, Peter Häberle, Wilhelm Hennis, Ferdinand
Aloys Hermens, Friedrich August Frhr. von der Heydte, Christian Graf von
Krockow, Hermann Liibbe, Niklas Luhmann, Theodor Maunz, Dieter
Oberndörfer, Hans Heinrich Rupp, Fritz Scharpf
Redaktion
Prof. Dr. Karl-Heinz Nusser, Ludwigstraße 8, 8000
München 22. Alle Beiträge sind an die Redaktion zu
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1993 ISBN 3-452-22539-9
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ZEITSCHRIFT FUR POLITIK
JAHRGANG 40 (NEUE FOLGE) - HEFT 1 - 1993
Rupert Hofmann
»Memmingen« — ein Medienprodukt*
Das Abtreibungsverbot zwischen Recht und Agitation
»Memmingen«, so schrieb die Bayerische Staatszeitung vom 18. Januar 1991,
»— kein Ort, sondern ein Zustand. Dafür hat der Prozeß gesorgt, der dort gegen
einen Mann geführt wurde, aber das Leben von Frauen traf. Memmingen wurde
zum Inbegriff einer unbarmherzigen Justiz, die den Paragraphen über das Leben,
die Strafwut über die Menschlichkeit triumphieren läßt.«! Die Äußerung gibt wie
in einem Brennspiegel das Verdammungsverdikt einer mächtigen Medienfront?
wieder, welche vor Memminger Gerichten zwischen Dezember 1986 und Mai 1989
durchgeführte Strafverfahren wegen Schwangerschaftsabbruchs mit Invektiven
begleitete, die in ihrer Maßlosigkeit in der Justizgeschichte der Bundesrepublik
ohne Beispiel sind. Die Akteure fanden Rückhalt bei führenden Vertretern politi-
scher Parteien und in parlamentarischen Gremien, welche die in der veröffent-
lichten Meinung ausgegebenen Parolen nicht nur aufgriffen, sondern teilweise
noch verschärften’.
* Der Aufsatz erscheint gleichzeitig unter dem Titel »Memmingen« - ein Zeitdokument« in:
Dieter Albrecht / Dirk Götschmann, Forschungen zur bayerischen Geschichte, Festschrift für
Wilhelm Volkert, Frankfurt a. M. 1993. Das Manuskript wurde Ende 1992 abgeschlossen.
— Für ihre Mitarbeit bei der Vorbereitung des Beitrages bin ich Frau Regina Clemm M. A.
und Herrn Dr. phil. Clemens Kauffmann zu besonderem Dank verpflichtet.
1 Mit diesen Sätzen beginnt die Besprechung eines feministisch inspirierten »agitatorischen
Bilderbogen(s)« (ebd.) von Bettina Fless mit dem Titel »Memmingen - ein Theaterstück«,
welches vom Bayerischen Staatsschauspiel in sein Programm aufgenommen wurde. Die
Autorin arbeitet darin unter dem weiten Schutzmantel der Kunstfreiheit (dazu Manfred
Kiesel, »Die Liquidierung des Ehrenschutzes durch das Bundesverfassungsgericht« in:
Neue Zeitschr. für Verwaltungsrecht 11 [1992], S. 1129-1137) ausgiebig mit dem in diesem
Genre verbreiteten Stilmittel der Verächtlichmachung und geizt nicht mit verleumderi-
schen Anspielungen. Das Programmheft unterstellt den Memminger Richtern u. a. Sexis-
mus und gelangt zu der Schlußfolgerung, jede Frau müßte das Grundrecht haben, »allein
zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht«. Frau Fless erhielt imi
Frühjahr 1992 den Frauenförderpreis der Stadt Nürnberg.
2 Eduard Neumaier, »Richter sein in Memmingen« in: Rhein. Merkur/Christ u. Welt vom
16. September 1988.
3 Bernd Schünemann, »Quo vadis $ 218 StGB?« in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 24
(1991), S. 379-392 (S. 380, 387 f.).
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2 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
1. Stationen einer öffentlichen Kampagne
a) Der Beginn
Bis Mitte 1988 waren die Strafverfahren ohne öffentliche Reaktion geblieben. Den
Startschuß für die Kampagne gab die Illustrierte stern am 23. Juni 1988 mit einem
Beitrag von Uta König, in welchem die »Justiz in Bayern« als »reaktionär und
menschenverachtend« hingestellt wurde und in dem es hieß: »Mit einem beispiello-
sen Kesseltreiben wird Jagd gemacht auf Frauen, die aus Not einen Schwanger-
schaftsabbruch vornehmen ließen.«* Magdalena Federlin, eine der vom Amtsge-
richt Memmingen verurteilten Frauen, welche Berufung eingelegt, und der Arzt
Dr. Horst Theissen, der ein Verfahren zu gewärtigen hatte und später im Mittel-
punkt der »Memminger Vorgänge« stand, »waren an die Öffentlichkeit gegan-
gen«°, ersichtlich in dem Bestreben, bereits im Vorfeld Druck auf das Landgericht
Memmingen auszuüben. Die an dem Verfahren beteiligten Augsburger Rechtsan-
wältinnen Brigitte Hörster und Heike Gall-Alberth hielten jedoch nach dem
Bericht einer Sympathisantin der Angeklagten diesen Schritt in die Öffentlichkeit
»für den aufrechten Gang® in die richtige Richtung«, nämlich in Richtung dessen,
was dieselbe Autorin in Verkennung elementarer rechtsstaatlicher Prinzipien als
»öffentliche Kontrolle der Justizorgane« bezeichnet’.
Ein bereits zwei Monate vorher von den genannten Rechtsanwältinnen an Par-
teien, Gewerkschaften und verschiedene Tageszeitungen gerichteter Appell, »die
hier vor sich gehende ungerechtfertigte Kriminalisierung« zu verhindern’, war
noch ohne Echo geblieben. Nun aber bildeten sich in einigen Bundesländern »Soli-
daritätsgruppen«, im Saarland mit dem Ministerpräsidenten Lafontaine an der
Spitze, und die Bundestagsabgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD) eröffnete ein
Spendenkonto zur Finanzierung der erlassenen Strafbefehle?. Die »Arbeitsgemein-
schaft sozialdemokratischer Frauen« brachte in Anlehnung an die Wortwahl des
stern das diffamierende Schlagwort »Hexenjagd« in Umlauf :°, welches die künfti-
gen Verfahren wie ein Schatten begleiten sollte. Die bayerische Vorsitzende dieser
4 »Abtreibung: Verurteilt im Namen des Volkes«, S. 20-23 (S. 20 f.)
5 Elke Kugler in: Pro Familia (H.), Memmingen: Abtreibung vor Gericht, Braunschweig
1989, S. 170.
6 Die Humanistische Union prämiierte diesen »aufrechten Gang« am 26. September 1989
durch die Verleihung eines gleichnamigen Preises an Frau Federlin.
7 Kügler, Memmingen, aaO. (FN 5), S. 177.
8 Ebd., S. 167, 170.
9 Ein solches Vorgehen gilt heute eher als soziale Tat denn als anrüchig, obwohl in ihm
zugleich eine Verhöhnung der Justiz zum Ausdruck kommt. Immerhin hatte das Reichs-
gericht in der Zahlung einer Geldstrafe des Vortäters noch eine strafbare persönliche
Begünstigung nach § 257 StGB a. F. gesehen (RGSt 30, 232). — Später eröffneten die
Humanistische Union und Pro Familia Sonderkonten zur Deckung von Dr. Theissens
Prozeßkosten (pro familia magazin 4/89 und 1/92). Auch der schleswig-holsteinische
Ministerpräsident Björn Engholm und die Frauen seines Kabinetts glaubten sich durch
eine Spende an der Aktion beteiligen zu sollen (Bernward Büchner auf der Jahrestagung
der Juristenvereinigung Lebensrecht in Köln am 5. Mai 1989).
10 Abendzeitung, München, (AZ) vom 27. Juli 1988.
Hofmann - »Memmingen« — ein Medienprodukt 3
Vereinigung, Ursula Pausch-Gruber, schrieb im Pressedienst ihrer Partei im Juli,
die juristische Frauenverfolgung habe offenkundig einen politischen Hintergrund.
Was politisch nicht duchsetzbar sei, werde in Bayern auf dem Umweg über die
Staatsanwaltschaft und Polizei erreicht, die Frauen und Männer in »Angst und
Panik versetzt und am Fließband aburteilt«. Der bayerische SPD-Vorsitzende
Rudi Schöfbeger sah in Memmingen die »moderne Inquisition« am Werk". Mit
Genugtuung konnte von interessierter Seite registriert werden, »daß fast die ge-
samte Presse, die Boulevardblätter eingeschlossen 22, den Frauen und Theissen gegen-
über solidarisch berichtete« :, was wohl heißen soll: einseitig für sie Partei ergriff“.
Am 29. Juli schaltete sich DIE ZEIT mit einem Artikel von Hanno Kthnert ein,
der neben mehreren Falschinformationen Wertungen enthielt wie »rigoroses
Gesinnungsstrafrecht«, »bayerische Strafwut«, »Repressionsmanie« und den Rich-
tern nicht nur »Hartherzigkeit«, sondern der Sache nach Rechtsbeugung vorwarf *.
Kurz darauf rief das Prasidium der bayerischen SPD unter dem Motto »Den
Hexenverfolgern ins Handwerk pfuschen« zur Teilnahme an einer ersten Demon-
stration am 10. September 1988 in Memmingen auf. Auch wenn man berücksich-
tigt, daß man eine Aktivierung der Massen nicht mit nüchternen Vokabeln bewir-
ken kann, stellt dieser Aufruf, abgesehen von der darin enthaltenen Diffamierung,
doch eine klare Aufforderung zur Verletzung des Prinzips richterlicher Unabhän-
gigkeit und damit des Rechtsstaatsprinzips dar, welche nach Maßgabe des Grund-
gesetzes verboten ist, auch wenn sie nicht unter Strafdrohung steht'*. Begreifli-
11 Gisela Friedrichsen, Abtreibung — Der Kreuzzug von Memmingen, Frankfurt a. M. 1991,
S. 110.
12 Genauer müßte es heißen: besonders die Boulevardblätter. Die AZ berichtete durchgängig
unter dem Balken »Memminger Hexenjagd«, so daß sich einigermaßen kritische Leser
von vornherein als desinformiert betrachten konnten. Für das Konkurrenzunternehmen
tz gilt freilich kaum anderes.
13 Kugler, Memmingen, aaO. (FN 5).
14 Seitdem die sozialistische Parteilichkeit an Bedeutung verloren hat, scheint freilich Par-
teilichkeit hierzulande nicht mehr als anstößig zu gelten. So überschreibt der zuständige
Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) seine Besprechung des am 27. Sep-
tember 1992 ausgestrahlten Fernsehspiels zum Memminger Prozeß »Abgetrieben« von
Norbert Kückelmann mit dem Untertitel: »Erfreulich parteiische Sternstunde« (Dirk
Schümer, »Die Grenze des Körpers« in: FAZ vom 29. September 1992). Der Bericht
belegt im übrigen ein weiteres Mal, daß die von linksliberalen Medien kreierten Klischees
mittlerweile publizistisches Gemeingut geworden sind.
15 »Am Pranger wegen Abtreibung«. - Neben stark überhöhten Zahlenangaben (»über fünf-
hundert« statt 279 eingeleitete Verfahren; »150 bis 200« statt 129 Verurteilungen)
behauptet der Artikel u. a., für die Memminger Richter habe ohne Beratungsnachweis
»regelmäßig« Abtreibung vorgelegen, während über 100 eingeleitete Verfahren aus unter-
schiedlichen Gründen eingestellt wurden und in vielen Fällen nur deshalb nicht eingestellt
werden konnte, weil die Beschuldigten keine Angaben zur Sache machten. - Eine von der
Justizpressestelle des OLG München am 10. August veranlaßte Richtigstellung erschien
erst am 16. September in stark gekürzter Form unter Weglassung der wichtigeren Kritik-
punkte.
16 Theodor Maunz / Günter Dürig / Roman Herzog / Rupert Scholz u.a., Grundgesetz-
Kommentar, München 1991, Art. 97 Rdnrn. 39 ff.
ZfP 40. Jg. 1/1993
1%
4 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
cherweise hat die bayerische Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner hier-
gegen beim SPD-Vorsitzenden Dr. Hans-Jochen Vogel remonstriert, wurde
jedoch von dessen Stellvertreterin Herta Däubler-Gmelin dahin beschieden, es
handele sich lediglich um eine vom Grundgesetz geschützte Demonstration, die
sich weder gegen ein Gericht noch gegen Richter wende”.
b) Faktische und rechtliche Hintergründe
Der öffentlichen Agitation, bei der sich bestimmte Presseorgane, Politiker und -
naturgemäß parteiliche — Verteidiger gegenseitig die Bälle zuspielten, lag zum
fraglichen Zeitpunkt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Gynäkologe Dr. Theissen war durch Urteil des Amtsgerichts Augsburg
vom 24. Februar 1988 wegen Steuerhinterziehung in Höhe von einer halben Mil-
lion DM, davon 342 000 DM aus Einnahmen für von ihm durchgeführte Schwan-
gerschaftsabbrüche, zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten auf Bewährung ver-
urteilt worden !*. Zuvor waren aufgrund einer anonymen Anzeige in der Praxis des
Arztes u.a. 1390 Karteikarten von Patientinnen beschlagnahmt worden”. Da
manche dieser Karteikarten mit einem großen »I«, offenbar für Interruptio,
gekennzeichnet waren, verständigte die Steuerfahndung die Staatsanwaltschaft mit
der Bitte, das Verfahren »hinsichtlich des Verdachts illegaler Schwangerschaftsab-
brüche« zu übernehmen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte daraufhin gegen 279
Frauen. Bis zum 1. August 1988 waren 105 Verfahren eingestellt und 129 Frauen
rechtskräftig zu Geldstrafen verurteilt worden:!. Gegen den Arzt selbst hatte die
Staatsanwaltschaft am 16. Juni 1988 wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs in
mindestens 156 Fällen Anklage erhoben, da nach ihrer Ansicht in keinem dieser
Fälle die Voraussetzungen einer Indikationslage nach $ 218 a I und II StGB vorla-
gen.
Bezüglich der verurteilten Frauen ist zu berücksichtigen, was in der Berichter-
stattung durchweg verschwiegen wurde, daß ın der Bundesrepublik eine Schwan-
gere, welche einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen läßt, einer Strafverfol-
gung in keinem Fall ausgesetzt ist, wenn sie sich zuvor durch eine anerkannte
Beratungsstelle und einen Arzt ihrer Wahl hat beraten lassen, der Abbruch durch
einen anderen Arzt vorgenommen wird und seit der Empfängnis nicht mehr als
zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind ($$ 218 III 2/218 b I Nr. 1, 2 StGB). Es
gilt insoweit eine »verkappte Fristenlösung«’, so daß die Frage einer möglicher-
weise vorliegenden, die Strafbarkeit ebenfalls ausschließenden Indikation erst rele-
vant wird, wenn der Gang zu einer Beratungsstelle und einem beratenden Arzt
17 Münchner Merkur (MM) vom 10./11. September 1988.
18 MM vom 17./18. September 1988.
19 Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 14. September 1988.
20 Friedrichsen, Abtreibung, aaO. (FN 11), S. 87.
21 Unveröffentlichter Teil. der Richtigstellung des OLG München (FN 15).
22 Friedrichsen, Abtreibung, aaO. (FN 11), S. 91.
23 So erstmals der Deutsche Richterbund (Deutsche Richterzeitung 1975, S. 398).
Hofmann : »Memmingen« - ein Medienprodukt 5
unterblieben ist. Zu einer Verurteilung von Frauen konnte es also überhaupt nur
kommen, weil Dr. Theissen seinen Klientinnen diesen Weg in grob pflichtwidriger
Weise teils gar nicht gewiesen, in keinem Fall aber auf dessen Einhaltung bestan-
den hatte. Auf die Möglichkeit, sich durch Vorlage eines Beratungszeugnisses
Straffreiheit zu verschaffen, hat er nicht hingewiesen». Dieses Unterlassen, nicht
aber eine angebliche »Verfolgungswut« der Memminger Staatsanwaltschaft, war
daher für die eingeleiteten Strafverfahren unmittelbar ursächlich. Dr. Theissen
verstand sich nämlich als eine Art »medicus legibus absolutus«, welcher die gelten-
den Gesetze nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte”, da seiner Meinung
nach das, »was sich diese Politiker in Bonn oder München ausdenken, ... mit der
Realität nichts zu tun« hat“, und er überdies der Überzeugung war, »daß die ärzt-
liche Freiheit und das Selbstverfügungsrecht der Frau ... nicht durch ein Gesetz
ausgehöhlt werden dürfe« ?”.
Dabei war es andererseits das Grundanliegen der Abtreibungsreformer der sieb-
ziger Jahre, »den besseren Lebensschutz statt durch Strafdrohungen durch Schwan-
geren beratung und -hilfe sicherzustellen« ?*. Die Staatsanwaltschaft handelte also,
insofern sie wegen unterbliebener Schwangerschaftsberatung ermittelte, gerade im
Sinne jener »progressiven« politischen Kräfte, die im Jahre 1976 die geltenden
Gesetze beschlossen hatten. Sie war überdies nach dem Legalitätsprinzip ($ 152
StPO) hierzu verpflichtet”, wollte sie sich nicht ihrerseits wegen. Strafvereitelung
im Amt ($ 258 a StGB) strafbar machen, denn sie wurde »so nachdrücklich mit der
Nase auf (Dr. Theissens) Behandlungsmethoden gestoßen . . ., daß sie beim besten
Willen nicht die Angelegenheit auf sich beruhen lassen konnte«”. Zwar kann die
Staatsanwaltschaft bei Vergehen grundsätzlich mit Zustimmung des zuständigen
Gerichts von der Verfolgung absehen, »wenn die Schuld des Täters als gering
anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht« ($ 153
I 1 StPO). Hier aber war die Nichtbeachtung der $$ 218 ff. StGB »so prinzipiell,
exemplarisch und häufig praktiziert worden«°!, daß sich ein grundsätzliches Abse-
hen von der Verfolgung verbot, denn es ist u. a. Aufgabe der Justiz zu verhindern,
daß sich Ungesetzlichkeiten dieser Größenordnung im Sozialleben regelrecht ein-
24 Urteil des LG Memmingen vom 5. Mai 1989 in: Ulrich Vultejus (H.), Das Urteil von
Memmingen. Vom Elend der Indikation, Köln 1990, S. 79-185 (S. 86).
25 Friedrichsen, Abtreibung, aaO. (FN. 11), S. 132.
26 Ebd., S. 19.
27 LG Memmingen, aaO. (FN 24), S. 83.
28 Herbert Tröndle, »Der Schutz des ungeborenen Lebens in unserer Zeit« in: ZRP 22
(1989), S. 54-61 (S. 56).
29 Für eine Ironisierung dieser Verpflichtung als »pflichtgemäß« in Anführungszeichen (!)
besteht keinerlei Anlaß (so aber Friedrichsen, Abtreibung, aaO. [FN 11], S. 87).
30 Roswin Finkenzeller, »Das Gesetz mit Mißachtung strafen?« in: FAZ vom 7. Oktober
1988.
31 Schünemann, $ 218, aaO. (FN 3), S. 379.
ZfP 40. Jg. 1/1993
6 Hofmann : »Memmingen« - ein Medienprodukt
bürgern 2. Anderenfalls kame man, wie es in einigen Bundesländern allerdings der
Fall zu sein scheint, zu einer faktischen Außerkraftsetzung des nach wie vor beste-
henden Abtreibungsverbots. Wer Verfahren gegen Frauen, die abgetrieben haben,
prinzipiell und nicht erst aufgrund einer Einzelfallprüfung einstelle, so erklärte aus
gegebenem Anlaß der bekannte Strafrechtler Karl Lackner, mißachte das Gesetz
und propagiere dessen Unanwendbarkeit. Wo es eine solche Praxis gebe, sei sie
rechtswidrig”. Auch war es zufolge des Gleichbehandlungsprinzips selbstver-
ständlich ausgeschlossen, einzelne Fälle herauszugreifen und gewissermaßen
»exemplarisch« zu verfolgen. »Massenverurteilungen« ” sind in einem Rechtsstaat
die zwingende Folge von massenhaften Verstößen gegen das geltende Strafrecht.
Die öffentliche Kampagne wurde jedoch entweder konsequent am geltenden
Recht vorbei geführt oder diente, wo es partiell zur Kenntnis genommen wurde,
mittelbar seiner Desavouierung auf Kosten der Justiz, und zwar durch dieselben
Kreise, welche für die geltende Strafrechtsregelung die politische Verantwortung
tragen. »Denn die Attacken richteten sich schon dagegen, daf es in Memmingen
überhaupt zu Strafverfahren wegen Abtreibungen gekommen ist« s. Mit einer sol-
chen Möglichkeit war nämlich ernsthaft gar nicht gerechnet worden. Nachdem
das Bundesverfassungsgericht die zunächst verabschiedete Fristenlösung als ver-
fassungswidrig verworfen hatte, gab man sich die größte Mühe, so viel (sc. zugun-
sten einer faktischen Fristenlösung) herauszuholen, »wie das Bundesverfassungs-
gerichtsurteil nur irgend hergibt«*. Daß der neue Koalitionsentwurf der verfas-
sungswidrigen Fristenregelung so nahe wie möglich kommen sollte, haben in der
Öffentlichkeit mehrere Sozialdemokraten unzweideutig zum Ausdruck gebracht”.
Karl Lackner bescheinigte daher auch seinerzeit dem Gesetzgeber »ein hohes ver-
fassungsrechtliches Risiko«, u. a. deshalb, weil er »die Strafverfolgung durch die
Unbestimmtheit der Strafrechtsvoraussetzungen und den Ausschluß jeder präven-
tiven öffentlichrechtlichen Aufsicht nachhaltig erschwert« habe. »Ob das Gesetz
dennoch die ihm zugedachte Aufgabe des Lebensschutzes befriedigend erfüllen
wird«, hänge von verschiedenen Faktoren ab, u.a. davon, »ob die Strafverfol-
gungsorgane die strafrechtliche Verteidigungslinie mit den im Gesetz zurückge-
nommenen materiellrechtlichen Forderungen des Lebensschutzes voll in Überein-
stimmung halten«**, Demgegenüber wurde von politischer Seite die Erwartung
gehegt, daß die beschlossenen Strafsanktionen kaum je zur Anwendung kommen
32 Theodor Kleinknecht / Karlheinz Meyer, Strafprozeßordnung, München °° 1989, § 153
Rdnrn. 7 f.
33 MM vom 3./4. Dezember 1988.
34 So etwa Der Spiegel vom 19. September 1988, S. 24.
35 Herbert Tröndle, »Memmingen und Rechtsstaat« in: Die Welt vom 2. Mai 1989.
36 So die Bundesfamilienministerin Dr. Focke (SPD) im Mai 1975, zit. nach Michael Gante,
§ 218 in der Diskussion, Düsseldorf 1991, S. 184 Anm. 377.
37 Gante, ebd.
38 »Die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches« in: Neue Juristische Wochenschrift
(NJW) 29 (1976), S. 1233-1244.(S. 1243).
Hofmann - »Memmingen« — ein Medienprodukt 7
würden. So erklärten z. B. Frau Daubler-Gmelin (SPD) und Frau Liselotte Funcke
(FDP), sie seien mit der jetzigen Regelung zufrieden, denn sie entspreche genau
dem, was seinerzeit mit der Fristenlösung intendiert gewesen sei”.
Kam es nun dennoch zu Klageerhebungen wie in Memmingen, war die Überra-
schung groß, und es mußte aus der Sicht der Befürworter einer Freigabe der
Abtreibung nach Sündenböcken gesucht werden. Als solche boten sich an: karrie-
resüchtige Staatsanwälte, weltanschaulich befangene Provinzrichter, überhaupt die
politischen Zustände in Bayern, innerhalb derer eine unabhängige Gerichtsbarkeit
gar nicht vorstellbar sei, schließlich gar der Einfluß der katholischen Kirche.
c) Die Phase zwischen September 1988 und Februar 1989
Im September 1988 erfolgte innerhalb des bekannten Hamburger Mediendreige-
stirns die Stabübergabe an das Wochenmagazin Der Spiegel, der nun seinerseits die
Dikuon der ZEIT aufgriff. Zusätzlich wurde die Amtsführung der bayerischen
Justizministerin (»schwarze Mathilde«, »Mannweib«) ins Zwielicht gerückt und
ein bayerisches Sonderrecht (»Bayerisches Landrecht«) erfunden *. Auch die Süd-
deutsche Zeitung nannte nunmehr das Verfahren gegen Theissen ein »bayerisches
Politikum«, nachdem sie schon früher unter dem Titel »Ein »Hexenprozeß: gegen
die soziale Indikation« über die Sichtweise von Theissens Verteidiger Wolfgang
Kreuzer nicht ohne Sympathie berichtet hatte. Auch den Angeklagten selbst stellte
das Blatt in ein günstiges Licht: »ein ruhiger, milde wirkender Mann mit grauen
Haaren und grauem Bart, ein Freund der Anthroposophie« “. Andererseits wurde
die Kompetenz des Staatsanwalts Herbert Krause (»ein 34jähriger Jurist«) in Zwei-
fel gezogen und gegenüber gänzlich unbelegten Mutmaßungen, es habe »eine Wei-
sung aus dem bayerischen Justizministerium (gegeben), hart durchzugreifen«, die
Meinung vertreten, wenn die Staatsanwälte »ihre Nasen ein bißchen in den bayeri-
schen Wind gehalten haben, dann konnten sie (auch ohne ausdrückliche Weisung)
39 Zit. nach Robert Spaemann, »Verantwortung für die Ungeborenen« in: Schriftenreihe der
Juristenvereinigung Lebensrecht e. V. zu Köln Nr. 5, Köln 1988, S. 13-30 (S. 23).
40 Nr.36 vom 5.September, S.56, und Nr. 38 vom 19. September, S. 26; Nr. 37 vom
12. September 1988, S. 21. - »Nach bayerischem Landrecht« soll »ein viertägiger Kran-
kenhausaufenthalt für Abtreibungen vorgeschrieben« sein. Dahinter verbirgt sich jedoch
lediglich die Tatsache, daß nach der bundesgesetzlichen Regelung des § 3 I des 5. StrRG
Schwangerschaftsabbrüche nur in einem Krankenhaus »oder in einer hierfür zugelasse-
nen Einrichtung« vorgenommen werden dürfen und Bayern von dieser Ermächtigung
keinen Gebrauch gemacht hat, was dem Land vollkommen freisteht. Ferner darf, so wird
suggeriert, nur in Bayern »ein Arzt... nicht beraten, die Indikation unterschreiben und
abtreiben«, was aber keine bayerische Besonderheit ist, sondern durch Bundesgesetz
untersagt ist ($ 219 I 1 StGB).
41 Dieser Hinweis überrascht um so mehr, als bei Anthroposophen wegen ihres Reinkarna-
uonsglaubens so gut wie nie abgetrieben wird (Spaemann, Verantwortung, aaO. [FN 39],
S. 14).
ZfP 40. Jg. 1/1993
8 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
leicht erschnuppern, welche Gangart in Sachen Schwangerschaftsabbruch derzeit
bei der bayerischen Staatsregierung erwünscht ist« 42.
Der Spiegel machte in seiner Ausgabe vom 19. September die-»Hexenjagd in
Bayern« zur Titelgeschichte und wählte für seinen Beitrag in Anlehnung an ein
gleichzeitig veröffentlichtes Interview mit Frau Dr. Hamm-Brücher (FDP) die
Überschrift: »Das sind politisch motivierte Prozesse.« Mit abschreckenden Justiz-
aktionen wolle die Münchner CSU-Regierung in Bayern eine Art Gebärzwang für
Schwangere durchsetzen und die soziale Indikation mit Hilfe willfähriger Richter
aushebeln. Es fielen Ausdrücke wie »Spießrutenlaufen bereits bei der Beratung«
als angebliche bayerische Besonderheit, »Memminger Justizopfer«, »repressives
Klima in Straußens Südstaat«, »Verfahrensspektakel« u.a. m. »Die Hexenjagd
von Memmingen« war für das Magazin »nur das jüngste Beispiel für jene
Unbarmherzigkeit, mit der Bayerns Staatspartei ihre Ordnungsvorstellungen all
denen oktroyieren läßt, die sich nicht in christsoziale Moralvorstellungen fügen« *.
Am 28. September erreichte die Desinformationswelle die Ebene des Bundes-
tags. In einer von den GRÜNEN beantragten Aktuellen Stunde unter der vagen
Überschrift »Rechtliche Situation von Frauen im Zusammenhang mit dem $ 218
StGB« kehrten nun all jene Schmähungen als Versatzstücke wieder, die zuvor in
bestimmten Presseorganen vorformuliert worden waren. Die Abgeordnete Krieger
(GRÜNE) sprach, vom amtierenden Vizepräsidenten Cronenberg (FDP) unge-
rügt, von »Hexenverfolgung« und »Inquisition« und verstieg sich unter dem Bei-
fall auch der SPD zu der Äußerung, »bayerische Provinzrichter« sähen sich ermu-
tigt, »endlich mal so richtig die Sau rauszulassen«“. Frau Dr. Skarpelis-Sperk
(SPD) meinte, »die Staatsanwälte und Richter inszenier(t)en wirkliche Hexenpro-
zesse nach dem Muster mittelalterlicher Inquisition«®. Frau Würfel (FDP)
benutzte die Gelegenheit, unter irreführender Zitierung des Bundesverfassungsge-
richts, die von eben diesem Gericht verworfene Fristenlösung zu rühmen, weil
»sich damit das Problem der Stellung einer Notlagenindikation von selbst erledigt
hätte« %. Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende und spätere Landesvorsit-
zende der bayerischen SPD Renate Schmidt warf der Unionsfraktion vor — eben-
falls ungerügt -, »Gewissen for show« zu betreiben. Frauen würden unter Druck
gesetzt und Ärzte genötigt. Die ganze Diskussion über Schwangerschaftskonflikte
sei unerträglich, weil sie »kleinkariert, borniert und unsensibel ... ist« und »das
Klima für Memmingen ... und anderswo schafft«. Die Bundestagspräsidentin
Dr. Rita Süssmuth (CDU) schließlich nannte Memmingen einen »bedrückende(n)
Zustand«, um im gleichen Atemzug zu erklären, es stehe ihr nicht zu, in ein schwe-
42 Hans Holzhaider, »Prozeß — auch gegen einen Paragraphen« in: SZ vom 14. September
1988.
43 Nr. 38, S. 24 f., 27, 32 f.
44 Bundestag, Plenarprotokoll der 96. Sitzung, 11/S.6550.
45 Ebd., S. 6552 D.
46 Ebd., S. 6553 A, B.
47 Ebd., S. 6560 C, D.
Hofmann - »Memmingen« — ein Medienprodukt 9
bendes Verfahren einzugreifen. Es gehe darum, »sensibel und menschlich Recht
durchzusetzen« und »nicht im innersten Bereich der Menschen herum(zu)schnif-
felne #.
Die Debatte überschritt in vielen Redebeiträgen eindeutig die Grenze des ver-
fassungsrechtlich Zulässigen. »Dem Parlament ist es... unter keinem denkbaren
Gesichtspunkt erlaubt, Einfluß auf die Entscheidung einzelner bei den Gerichten
anhängiger Rechtsstreitigkeiten zu nehmen. Insofern gilt der Grundsatz der sach-
lichen Unabhängigkeit uneingeschränkt auch gegenüber dem Gesetzgeber.«* Mit
vollem Recht monierte daher der Deutsche Richterbund: »Wer mit Worten wie
»Hexenverfolgung:«, >Sauerei«, »skandalös«, »ungeheuerlich< u.a. ein rechtsstaatli-
ches Verfahren beschreibt, ... handelt nicht nur böswillig, sondern erhebt in der
Öffentlichkeit nichts Geringeres als den Vorwurf der Rechtsbeugung.« Es sei mit
dem Amt eines Parlamentariers unvereinbar, die politische Auseinandersetzung
über die hochstrittigen Fragen der Abtreibungsproblematik in dieser polemischen
und unverantwortlichen Weise auf dem Rücken von nach dem Gesetz handelnden
Richtern und Staatsanwälten auszutragen°®. Die bayerische Justizministerin sah
sich durch die Parlamentsdebatte veranlaßt, sich »mit Entschiedenheit vor die
Angehörigen der Dritten Gewalt« zu stellen und »Pressionsversuche und verun-
glimpfende Äußerungen« der genannten Art zurückzuweisen, dies insbesondere
deshalb, weil es den Richtern versagt sei, sich zu wehren und überhaupt auf Kritik
zu reagieren«®!.
Der Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz wurde manchen Parlamentariern
allerdings durch die offenkundige Unkenntnis geltenden Rechts und das Unver-
ständnis rechtlicher Zusammenhänge wesentlich erleichtert. So sprach die Abge-
ordnete Becker-Inglau (SPD) von - gar nicht existierenden‘? — »Rechten der
Frauen, eine Schwangerschaft zu unterbrechen« °’. Uta Würfel (FDP) meinte, die
Beurteilung einer Notlagenindikation entziehe sich prinzipiell »der Urteilsfähig-
keit des Richters«*4, was die Indikationsfeststellung in das freie Belieben des
abbrechenden Arztes stellen würde. Was von Frau Süssmuth, wie auch von Frau
Krieger‘, als »Schnüffelei« denunziert wurde, ist die Wahrnehmung der dem
Richter obliegenden umfassenden Aufklärungspflicht nach $ 244 II StPO.
Was der Abgeordneten Krieger als »unverschämte, neugierige Dreistigkeit« *
erschien, war der Umstand, daß das Gericht an Zeuginnen einen umfänglichen, ins
Detail gehenden, die Intimsphäre durchaus berührenden Fragebogen in der
Absicht versandt hatte, den Betroffenen die Beantwortung der gestellten Fragen
48 Ebd., S. 6559 B, 6560 A.
49 Maunz u. a., Grundgesetz, aaO. (FN 16), Rdnr. 22.
50 Friedrichsen, Abtreibung (FN 11), S. 156.
51 Ebd., S. 157.
52 Vgl. unten FN 139.
53 Bundestag, Plenarprotokoll, aaO. (FN 44), S. 6557 A.
54 Ebd., S.6553 D.
55 Ebd., S.6550 B.
56 Ebd.
ZfP 40. Jg. 1/1993
10 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
vor Gericht nach Möglichkeit zu ersparen”. An der Zweckmäßigkeit dieses Vor-
gehens kann man begründete Zweifel hegen, da von vornherein damit gerechnet
werden mußte, daß entweder Staatsanwaltschaft oder Verteidigung sich mit den
erteilten schriftlichen Auskünften nicht zufriedengeben würden, so daß das
Erscheinen der betreffenden Zeugin in der Hauptverhandlung dennoch notwendig
werden würde. Nicht zu bezweifeln ist hingegen die Rechtmäßigkeit eines solchen
Verfahrens ($ 251 II 1 StPO), mit dem die Verteidigung übrigens einverstanden
gewesen sein mußte, und noch weniger der gute Wille des Gerichts, die Zeuginnen
zu schonen. Dabei war die Chance, eine Einvernahme in der Hauptverhandlung
vermeiden zu können, naturgemäß um so größer, je genauere Auskünfte verlangt
wurden. Die Art der Fragen wurde im übrigen durch die gesetzgeberisch mif-
glückte, daher außerordentlich komplizierte und die unterschiedlichsten Aspekte
umgreifende Fassung der Indikationenregelung des $218a StGB praktisch
erzwungen. Gleichwohl war gerade dieses Vorgehen des Gerichts heftigsten
Angriffen ausgesetzt. So sprach u. a. Frau Würfel von einem »skandalösen, unge-
heuerlichen Fragebogen« °®.
Inzwischen nahm die Hauptverhandlung gegen Dr. Theissen vor dem Memmin-
ger Landgericht, die am 8. September 1988 begonnen hatte, ihren Fortgang. Das
Gericht war um seine Aufgabe nicht zu beneiden. Massiven Pressionsversuchen
durch Medien und Politiker und dem inszenierten Druck der Straße ausgesetzt’,
hatte es eine Fülle von Einzelfällen am Maßstab des Gesetzes ($ 218 a StGB) ein-
gehend zu prüfen, und zwar im Interesse des Angeklagten, denn dieser hatte sich in
all diesen Fällen wegen Schwangerschaftsabbruchs nach § 218 StGB strafbar
gemacht, sofern nicht das Vorliegen eines Indikationstatbestandes zu seinen Gun-
sten angenommen werden konnte. Über diesen grundlegenden Sachverhalt jedoch
wurde die Öffentlichkeit fast durchweg im unklaren gelassen, während über die
zum Teil beklagenswerten Einzelschicksale der verurteilten und in der Hauptver-
handlung — unter Ausschluß der Öffentlichkeit — als Zeuginnen vernommenen
Frauen in aller Ausführlichkeit berichtet wurde.
57 Zutreffend Finkenzeller, Gesetz, aaO. (FN 30).
58 AaO. (FN 46).
59 Dies beklagt mit Recht u.a. der am Theissen-Verfahren als Sachverständiger beteiligte
Arzt Prof. Dr. H.-D. Hiersche (Medizinrecht, H. 2, Marz/April 1989, S. VII).
60 Die Verlesung ihrer Namen im Anklagesatz (§ 243 III 1 StPO) geschah allerdings öffent-
lich, wenn auch ohne Angabe des Geburtsdatums (entgegen der Darstellung in dem Fern-
sehfilm von Kückelmann [FN 14] und der Wohnung. Sie war unumgänglich, wenn ein
Revisionsgrund vermieden werden sollte. Die Öffentlichkeit hätte freilich auch für diesen
Teil der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden können, wenn das Gericht auch inso-
weit das Überwiegen »schutzwürdige(r) Interessen« der Zeuginnen gegenüber dem
»Interesse an der öffentlichen Erörterung« von Umständen aus deren »persönliche(m)
Lebensbereich« von sich aus bejaht hätte (§ 171 b I GVG), was ersichtlich nicht der Fall
war. Ein entsprechender Antrag wurde aber auch seitens der Verteidigung nicht gestellt.
Der Vorwurf, die Zeuginnen seien durch die Verlesung ihrer Namen »an den Pranger
gestellt« worden (Abg. Krieger, Plenarprotokoll [FN 44], S. 6550 A sowie Abg. Dr. Skar-
pelis-Sperk [FN 87]) verkennt jedenfalls das den modernen Strafprozeß im Unterschied
Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt 11
So lieg sich trefflich Stimmung machen und die erzeugte Stimmung wiederum
demoskopisch erheben“. Es mußte der Eindruck entstehen, daß in Memmingen
nicht ein abtreibungsfreudiger Arzt, sondern das Gericht und mit ihm der bayeri-
sche Staat samt CSU und katholischer Kirche auf der Anklagebank safen.* Von
vornherein konnten es daher die Memminger Justizorgane den öffentlichen Prä-
zeptoren nicht recht machen. Jede unbedachte spontane Äußerung - und deren
gab es in dem langwierigen Prozeß etliche — wurde Richtern und Staatsanwälten
als Beweis einer vermeintlich menschenverachtenden Gesinnung vorgehalten, aber -
Gerhard Mauz, »Nestor der deutschen Prozeßberichterstattung«®, fand nichts
dabei, sich zu deren Kommentierung im Spiegel in aller Ruhe Formulierungen aus-
zudenken wie diese: »Der Strafprozeß ... ist längst Station eines Kreuzzugs, der
die Heiden nach dem Motto >Und bist du nicht willlig . . .< christianisieren und die
nicht praktizierenden, gefrorenen Christen unter Beschwörung und Androhung
des Höllenfeuers zurück in die Kirchen und unter das Kreuz treiben soll... Und
es steht auch fest, wie man vorgegangen ist, wie man verhandelt hat und wie man
unerbittlich fortsetzt, daß man Dr. Theissen verurteilen und mit den Worten der
Urteilsbegründung hinrichten wird. Das Grundgesetz hat nur den blutigen Voll-
zug der Todesstrafe abgeschafft... Da hat man einen Engelmacher vor sich, und
es gilt, die Verdammnis sichtbar zu machen, in der er sich befindet . . . Gegen den
Schwangerschaftsabbruch sind nicht Beter angetreten, sondern eine wachsende
Streitmacht, die kein Erbarmen kennt und vernichten will, was sich ihrem ideologi-
schen Programm nicht unterwerfen kann oder will.« +
Man versteht die sich hier offenbarende Strategie vielleicht besser, wenn man
von einem anderen führenden Repräsentanten linksliberaler Medienmacht, dem
Chefredakteur der ZEIT, Theo Sommer, erfährt, daß »Hinrichtungsjournalismus«
gegenüber den Mächtigen im Staat ebenso erlaubt sei wie »Vorverurteilung«, wenn
sie der »Wahrheitsfindung« dienen. Immer weniger halte er vom angelsächsischen
Prinzip der Trennung von Meinung und Fakten. Wenn man die stetig anschwel-
zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geheimverfahren grundsätzlich bestim-
mende Öffentlichkeitsprinzip ($ 169 GVG). Dessen positive Wertung kommt andererseits
bei Friedrichsen zum Ausdruck, wenn sie im Hinblick auf die nichtöffentliche Einver-
nahme der Zeuginnen feststellt: »Die Frauen mögen dies als Entgegenkommen, als
Erleichterung in hochnotpeinlicher Situation empfinden. Die Journalisten aber . . . hätten
schon gern gewußt, was hinter den bald verschlossenen Türen geschieht« (FN 11, S. 128).
Nach einer Umfrage der Wickert-Institute in Tübingen fanden es schon bei Prozeßbe-
ginn 79 Prozent der befragten Wahlberechtigten »nicht richtig«, wie der Prozeß geführt
wird (SZ vom 12. September 1988). 83 Prozent empfanden nach einer Blitzumfrage des-
selben Instituts das Urteil gegen Dr. Theissen »als zu hart« (AZ vom 8. Mai 1989).
62 Günter Beling, »Die Regierung müßte auf die Anklagebank« in: AZ vom 7. Dezember
1988, unter Berufung auf den Geschäftsführer von Pro Familia, Joachim von Baross:
»Eigentlich müßte die bayerische Staatsregierung auf die Anklagebank. Sie drängt hilfe-
suchende Frauen nicht nur in die Illegalität, sie sorgt auch dafür, daß sie wie Verbrecher
vor Gericht gezerrt werden.«
63 So die Augsburger Allgemeine vom 14. März 1989.
64 Der Spiegel Nr. 6 vom 6. Februar 1989, S. 82, 86.
6
=~
ZfP 40. Jg. 1/1993
12 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
lende Informationsflut nicht kommentierend einordne, ergebe sich kein »Welt-
bild«. Dabei beschrieb Sommer das Weltbild der ZEIT freimütig als ein Spektrum,
das von den Farben Rot und Grün beherrscht wird“.
Eine weitere Eskalationsstufe erreichte im Fall »Memmingen« die publizistische
Stimmungsmache mit dem Film »Mit unnachgiebiger Härte« von Heike Mund-
zeck, der am 2. Februar 1989 von der ARD zur besten Sendezeit ausgestrahlt
wurde. Darin wurde den Zuschauern mit einem »hohen Grad an Suggestions-
kraft« viel parteiliche Meinung, nicht aber das entscheidende Faktum vermittelt,
daß Dr. Theissen aufgrund eines von der damaligen SPD/FDP-Koalition durch-
gesetzten Bundesgesetzes angeklagt worden war, weil er das darin festgelegte
strafbewehrte Procedere mißachtet hatte. Statt dessen wurde auch hier der Ein-
druck erweckt, daß in Memmingen bayerisches Sonderrecht zur Anwendung
komme, »weil die bayerische Staatsregierung den offensichtlichen Mißbrauch der
sozialen Indikation behauptet und entschlossen ist, in ihren Landesgrenzen damit
Schluß zu machen«*. Trotz wiederholter Dementis wurde ein weiteres Mal mit
der in rhetorische Fragen gehüllten Unterstellung gearbeitet, die bayerische Justiz-
ministerin selbst betreibe in Memmingen zu Lasten des Angeklagten und seiner
Klientinnen einen rein politischen Prozeß: »Soll die soziale Indikation, die auf
politischem Weg nicht abzuschaffen ist, in Bayern nun juristisch ausgehebelt wer-
den? Hat die Staatsanwaltschaft dazu eine Weisung vom bayerischen Justizmini-
sterium * bekommen?«® Mit dieser Art der Berichterstattung hatte sich die Jour-
65 Auf einer großen Redaktionskonferenz vor der Bundestagswahl von 1987 hätten in einer
internen Abstimmung 40 Prozent für die SPD, 34 Prozent für die GRÜNEN, 25 Prozent
für die FDP und nur ein Prozent für die CDU votiert (FAZ [Regionalausgabe] vom
16. Juni 1989).
66 So selbst Gisela Friedrichsen in ihrer ansonsten durchweg positiven Besprechung für die
FAZ vom 4. Februar 1989.
67 Zit. nach Trans Media 2/3, März 1989.
68 Nach Auskunft des Ltd. Staatsanwalts beim LG Memmingen Dr. Peter Stoeckle gibt es
eine solche Weisung weder in allgemeiner noch in spezieller Form. Die Frankfurter
Rechtsprofessorin Dr. Monika Frommel will gleichwohl von einer internen, unveröffent-
lichten Richtlinie erfahren haben, die einer pauschalen Weisung gleichkomme (Der Spie-
gel Nr. 36 vom 5. September 1988, S. 56). Bayerns Strafverfolger dürften bei »Vergehen
gegen das Leben« u.a. keine Ermittlungen mehr wegen »geringer Schuld« einstellen.
Demnach hätten die Memminger Staatsanwälte Disziplinarverfahren riskiert, indem sie
in einer Vielzahl von Fällen die Verfahren gegen betroffene Frauen u. a. auch aus diesem
Grund tatsächlich einstellten und damit gegen die angebliche »pauschale Weisung« ver-
stießen. - Heike Mundzeck setzt sogar ein »Zitat« aus dieser nicht existierenden Weisung
in Anführungszeichen, um damit Authentizität vorzutäuschen. Ferner behauptet sie, in
Bayerns Beratungsstellen könne Frauen die notwendige Bescheinigung versagt werden,
wenn sie »dem Gesprächsangebot nicht genügend« entgegenkommen (»Die Memminger
Abtreibungsprozesse« in: Georg M. Hafner / Edmund Jacoby, Die Skandale der Republik,
Reinbek bei Hamburg 1992, S. 372-386 [S. 373 £.]). Auch dieses »Zitat« sucht man in den
einschlägigen Richtlinien zum Vollzug des bayerischen Schwangerenberatungsgesetzes
(Allgem. Ministerialblatt 1988, S. 530 ff.) vergebens. Möglicherweise referiert Frau Mund-
zeck in diesem Fall aber nur den Spiegel, der diese Falschmeldung ebenfalls verbreitet hat
(Nr. 37 vom 12. September 1988, S. 21). Es heißt unter Ziff. 3.3.3 der Richtlinien: »Die
Hofmann : »Memmingen« - ein Medienprodukt 13
nalistin eine öffentliche Ehrung verdient. Einige Monate später wurde ihr durch
den Münchener Oberbürgermeister Georg Kronawitter die Ludwig-Thoma-
Medaille »für aufmüpfiges Verhalten in der Öffentlichkeit« überreicht”.
Drei Wochen nach Ausstrahlung der Sendung fand in Memmingen eine zweite
Demonstration gegen das Gerichtsverfahren und zugleich für die ersatzlose Strei-
chung des »$ 218« statt, an der sich über 6000 Menschen aus der ganzen Bundesre-
publik und dem Ausland, u. a. Dr. Theissen selbst, beteiligten. Dieses Mal, so wird
beifällig vermerkt, sei die Stimmung der Memminger Bürger im Unterschied zur
ersten Demonstration im September 1988 »deutlich zugunsten Theissens umge-
schlagen — und zwar auch als Folge von Heike Mundzecks . . . Fernsehfilm«”. Es
wurden Transparente mitgeführt mit Aufschriften wie »Trägst du nicht aus dein
deutsches Ei, kommt zum Schutz die Polizei«”? oder »Weg mit dem Dreck« — »Eh
das Kind im Hause schreit, bleibt es lieber abgerreibt«”’. Die Emotionalisierung
der Massen hatte ihren Höhepunkt erreicht, und Abtreibungsbefürwortern bot
sich eine willkommene Gelegenheit zu einem makabren Happening”.
2. Das Urteil gegen Dr. Theissen
Am 5. Mai 1989 veurteilte das Landgericht Memmingen Dr. Theissen wegen
Abbruchs der Schwangerschaft in 36 Fällen, des versuchten Abbruchs in 4 Fällen
sowie des Abbruchs ohne ärztliche Feststellung in 39 Fällen, davon in 37 Fällen in
Tateinheit mit Abbruch ohne Beratung der Schwangeren zu einer Freiheitsstrafe
von 2 Jahren und 6 Monaten und verbot ihm die Ausübung seines Berufs als Gynä-
kologe für die Dauer von 3 Jahren”.
Nunmehr wandelte sich die bisherige Hetz- und Desinformationskampagne zu
einer beispiellos abwertenden Urteilsschelte, die sich um so »dürre Tatsachen« wie
die Reduzierung der 156 angeklagten Fälle auf insgesamt 79 Verurteilungsfälle,
wie auch um die Einbeziehung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe von einem Jahr
wegen Steuerhinterziehung in das Strafmaß wenig kümmerte”. Die Vizepräsiden-
Bestätigung kann nur ausgestellt werden, wenn eine Beratung tatsächlich stattgefunden
hat, d. h. wenn die Schwangere das Gesprächs- und Informationsangebot der Beraterin
entgegengenommen hat.«
69 Zit. nach SZ vom 2. Februar 1989.
70 SZ vom 12. Mai 1989.
71 Kugler, Memmingen, aaO. (FN 5).
72 Ebd.
73 MM vom 2. März 1989.
74 Einige der Münchner »Friedens-Frauen« hatten sich, sichtlich in bester Laune, mit wal-
lenden schwarzen Gewändern, Spitzhüten und Kerkerketten als »Hexen« verkleidet, um
ein »Mittelalter« zu simulieren, wie es ihrer karnevalistischen Phantasie entsprang (SZ
vom 27. Februar 1989).
75 LG Memmingen, aaO. (FN 24), S. 80.
76 Schünemann, § 218, aaO. (FN 3), S. 380. - Immerhin meinte die SZ vom 6./7. Mai., die
Memminger Richter hätten zwar »grob gesagt, über den Daumen gepeilt«, seien aber
ZfP 40. Jg. 1/1993
14 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
tin des Deutschen Bundestages, Annemarie Renger (SPD), sprach von einem
»Skandalurteil«, welches geeignet sei, Frauen in die Arme von Kurpfuschern zu
treiben, und verlangte kategorisch: »Das Urteil muß revidiert werden.«” Der
SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel wiederholte den Vorwurf, »maßgebende
Kreise der CSU (hätten) mit diesem Verfahren aus parteipolitischen Gründen ein
Exempel statuieren« wollen”. Die FDP-Generalsekretärin Cornelia Schmalz-
Jacobsen nannte das Verfahren einen »Schauproze&«”, und ihr Parteivorsitzender
Otto Graf Lambsdorff gab sich überzeugt, daß die Behandlung der Zeuginnen in
dem Verfahren »einen glatten Verstoß gegen die Strafprozeßordnung« bedeute ®%.
Der Prozeß sei mit so vielen Mängeln behaftet, daß einer Revision sicher stattge-
geben werde".
Im Gegensatz zu seinen Parteifreunden verwahrte sich indessen Bundesjustiz-
minister Engelhard in einer abermals von den GRÜNEN eine Woche nach der
Urteilsverkündung beantragten Aktuellen Stunde unter der Überschrift »Haltung
der Bundesregierung zum § 218 StGB nach dem Memminger Urteil« mit Entschie-
denheit dagegen, »über das Urteil des Landgerichts zu Gericht zu sitzen«. Aus der
grundgesetzlichen Aufgabenzuweisung folge, »daß jede Auseinandersetzung mit
der Rechtsprechung zur rechten Zeit und in der rechten Form zu erfolgen hat«.
Die in Art. 97 des Grundgesetzes verbürgte Unabhängigkeit der Gerichte gehöre
zu den wertvollsten Gütern unseres Rechtsstaats®. Der von Frau Schmalz-Jacob-
sen benutzte Ausdruck »Schauprozeß«, mit dem auch die Abgeordnete Oesterle-
Schwerin (GRÜNE) ihren Diskussionsbeitrag eröffnet hatte®, wurde von der Par-
lamentspräsidentin Rita Süssmuth als mit einer rechtsstaatlich verfaßten Rechts-
ordnung unvereinbar offiziell gerügt*.
Die Mehrzahl der Redner schlug allerdings die Einsichten Engelhards in den
Wind und wurde von dem Abg. Wüppesahl (fraktionslos, zuvor GRÜNE) auch
noch dafür gelobt“. Der Memminger Prozeß sei, so die Abgeordnete Renate
Schmidt, »zu einem Synonym für Anmaßung, für Heuchelei und Ignoranz gewor-
den... Es war ein Prozeß der männlichen Anmaßung ... Das Strafgesetz darf
»nicht ganz so unbarmherzig wie die Staatsanwälte« gewesen (ähnlich Friedrichsen,
Abtreibung, aaO. [FN 11], S. 293).
77 MM vom 8. Mai sowie Bayernkurier vom 13. Mai.
78 Friedrichsen, Abtreibung, aaO. (FN 11), S. 287.
79 FAZ vom 9. Mai 1989. — Eine andere Kommentatorin fühlt sich sogar »an die politischen
Schauprozesse der stalinistischen Ara erinnert« (Beatrice Lautenschläger, »Der »Fall« Dr.
Horst Theissen — Versagt hier unser Rechtsstaat?« in: Ulrike C. Wasmuth, Konfliktver-
waltung - Ein Zerrbild unserer Demokratie?, Berlin 1992, S. 108-120 [S. 111]). Sie über-
nimmt auch Heike Mundzecks Behauptung (FN 68) von einer angeblichen Weisung der
bayerischen Justizministerin (aaO., S. 112).
80 Friedrichsen, Abtreibung, aaO. (FN 11), S. 287.
81 AZ vom 30. Mai 1989.
82 Bundestag, Plenarprotokoll der 144. Sitzung, S. 11/10681 ff. (10686 B; 10687 A, B).
83 Ebd., S. 10681 B.
84 Ebd., S. 10682 C.
85 Ebd., S. 10694 D.
Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt 15
nicht dazu dienen, persönliche Moralvorstellungen durchzusetzen. Wir gehen
davon aus, daß dieses Urteil nicht haltbar sein wird.«* Der Prozeß sei ein
»Schandfleck in der Geschichte der bayerischen Justiz«. Frauen seien »in völlig
unnötige(r) Weise von Staatsanwälten und Richtern an den Pranger gestellt wor-
den«. Der erste Verfassungsartikel von der Würde des Menschen sei »für die Rich-
tenden zu einer belanglosen Floskel verkommen«. Ihnen und den Staatsanwälten
wurde »fehlende Menschlichkeit, ... Doppelmoral« und »konservatives Macho-
Gehabe« unterstellt (Dr. Skarpelis-Sperk, SPD)”. Der Abgeordnete Singer (SPD)
meinte, »in Memmingen ... (habe) sich die deutsche Justiz von einer ausgespro-
chen häßlichen Seite gezeigt«, um sogleich hinzuzufügen: »Jeder, der diese Ver-
handlung nicht von Anfang bis Ende miterlebt hat und der die Akten nicht kennt,
wird sich mit einem fundierten Urteil schwertun.«* Alle diese Parlamentarier
konnten sich indessen durch die Ausgabe des Spiegel derselben Woche bestärkt
fühlen, in welcher das Memminger Urteil als »Kriegserklärung« bezeichnet wor-
den war und Gerhard Mauz seinen Bericht über die Urteilsverkündung mit dem
Titel »Vorwärts, christliche Soldaten des Strafrechts!« überschrieben hatte. Darın
hieß es u. a., das Urteil trenne die Menschen der Bundesrepublik voneinander. »Es
scheidet Menschen von Unmenschen.« Menschen, so suggerierte der Beitrag, sind
Dr. Theissen, seine Anwälte und Gefolgsleute, Unmenschen hingegen die Mem-
minger Richter und natürlich die Katholiken, deren Kirche nach des Verfassers
Imagination »mit am Richtertisch« saß ®.
Es dauerte mehr als zweieinhalb Jahre, bis der Bundesgerichtshof Ende 1991
das Revisionsurteil verkündete”. In ihm wurde das Landgericht Memmingen in
allen entscheidenden Punkten bestätigt. Lediglich im Strafausspruch und im Aus-
spruch über die Dauer des Berufsverbots wurde das Memminger Urteil aufgeho-
ben, weil übersehen worden war, daß in 20 (leichteren) Fällen eine Verjährung ein-
getreten und die Dauer des Berufsverbots nicht begründet worden war. Hingegen
wurden sämtliche Verfahrensrügen, insbesondere diejenigen wegen Zurückwei-
sung der überaus zahlreichen Befangenheitsanträge, verworfen und die im beson-
deren Maße inkriminierte Beschlagnahme der Patientinnenkartei sowie die nicht
weniger attackierte Auslegung des Begriffs der »ärztlichen Erkenntnis« vor allem
im Hinblick auf die Notlagenindikation des § 218 a II Nr. 3 StGB für Rechtens
erklärt.
Allerdings ist damit noch nicht das letzte Wort gesprochen, denn die Anwälte
Dr. Theissens haben gegen das Urteil Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfas-
86 Ebd., S. 10684 A, C, D; S. 10685 A.
87 Ebd., S. 10687 C, D.
88 Ebd., S. 10692 D.
89 Nr. 19 vom 8. Mai 1989, S. 4 u. 30 ff. - Friedrichsen hebt unter dieser Rücksicht sogar
hintersinnig hervor, daß einer der Schöffen katholischer Religionslehrer ist (Abtreibung,
aaO. [FN 11], S. 114).
90 Urteil des Bundesgerichtshofs vom 3. Dezember 1991 (Neue Zeitschr. für Strafrecht
(NStZ) 1992, S. 328-331).
ZEP 40. Jg. 1/1993
16 Hofmann : »Memmingen« - ein Medienprodukt
sungsgericht erhoben”, über die noch nicht entschieden ist. Das Rechtsmittel rügt
schwerpunktmäßig eine Verletzung der ärztlichen Berufsfreiheit (Art. 12 I GG),
weil zum einen die Normen der $$ 218 und 218 a II StGB durch den Bundesge-
richtshof nicht grundrechtskonform ausgelegt worden seien, wobei bemerkens-
werterweise die Kritik am Gesetzgeber des Jahres 1976 deutlich in den Vorder-
grund gerückt wird. Zum anderen wird geltend gemacht, der Bundesgerichtshof
habe den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Abwägung zwischen staatli-
chem Strafanspruch und der Intimsphäre der Patientinnen nicht in der gebotenen
Weise angewandt.
Im ersteren Fall handelt es sich um eine schwierige Rechtsfrage, zu welcher der
Bundesgerichtshof innerhalb der verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten jedoch
eine keineswegs extreme, sondern eher eine zurückhaltende Position bezogen
hat”. Im letzteren Fall ist angesichts des hohen Abstraktionsgrades des anzulegen-
den Maßstabs eine komplizierte einzelfallbezogene Güterabwägung zu treffen, bei
der die Rechtsauffassungen auch eines obersten Bundesgerichts und des Bundes-
verfassungsgerichts durchaus auseinandergehen können. Daß allerdings bei der
‘erforderlichen Güterabwägung die Intimsphäre der Patientinnen dem staatlichen
Strafanspruch unter allen Umständen vorzugehen habe, wie es in der öffentlichen
Diskussion mit scheinbarer Selbstverständlichkeit immer wieder behauptet wurde,
ist eine abwegige Vorstellung, denn sie würde die Güterabwägung selbst hinfällig
werden lassen und dazu führen, »daß verbotener Schwangerschaftsabbruch fak-
tisch nicht verfolgt wird«, wie der Bundesgerichtshof zutreffend festgestellt hat”.
Es zeigt sich somit, daß die dargestellte öffentliche Polemik gegen die Mem-
minger Prozesse im allgemeinen und die beteiligten Gerichte im besonderen
weitab von der eigentlichen rechtlichen Problematik geführt wurde, in der Sache
ungerechtfertigt und den Justizbehörden gegenüber extrem ungerecht war. Die
Betreiber der Kampagne ließen sich freilich in ihrer Voreingenommenheit auch
durch den Bundesgerichtshof nicht beirren. So schrieb DIE ZEIT: »Auf den Skan-
dalprozeß von Memmingen setzt der BGH noch eins drauf«”. Derselbe Redak-
teur, der mit seiner einseitigen und in wichtigen Punkten unzutreffenden Bericht-
erstattung” wesentlich zur Aufheizung der öffentlichen Diskussion beigetragen
hatte, befand nunmehr, die »fünf Richter, alles Männer«, hätten ein »krasses Fehl-
urteil« gefällt. Die mündliche Urteilsbegründung sei »schlampig, oberflächlich,
also handwerklich fragwürdig« gewesen. Die Richter müßten an ihren Amtseid
erinnert werden. Gleichzeitig und im Widerspruch dazu wurde jedoch die Ände-
91 Die Begründung dieser Beschwerde wurde dem Verfasser dankenswerterweise von
Rechtsanwalt Dr. Jürgen Fischer, Frankfurt a. M., zur Verfügung gestellt.
92 Vgl. dazu die Urteilsanmerkungen von Winfried Kluth (Juristenzeitung 1992, S. 533 ff.),
Karl Lackner (NStZ 1992, S. 331 ff.) und Harro Otto (Juristische Rundschau [JR] 1992,
S. 206 ff.).
93 Urteil des BGH (FN 90), S. 328.
94 Hanno Kühnert, »Reform tut bitter not« in: DIE ZEIT vom 13. Dezember 1991.
95 S.oben FN 15.
Hofmann : »Memmingen« - ein Medienprodukt 17
rung des geltenden Rechts gefordert. Haben nun die gescholtenen Richter nach
der Gesetzeslage geurteilt oder nicht? Hatten sie die Gesetze nach dem
Geschmack der ZEIT zurechtbiegen sollen?
3. Korrumpierung des öffentlichen Bewußtseins
Versucht man eine Gesamtbewertung der die Memminger Prozesse begleitenden
Medienkampagne und politischen Agitation, so wird man zunächst die Feststel-
lung zu treffen haben, daß nicht erst seit »Memmingen« »eine große Koalition bis
weit in das Unionslager hinein von einem strafrechtlichen Lebensschutz ungebore-
ner Kinder im Grunde nichts mehr wissen will«”*. Man hält im Widerspruch zu
der verfassungsrechtlich gebotenen ” strafgesetzlichen Minimalregelung Kindestö-
tungen im Mutterleib * schlechterdings nicht für strafwirdig, allenfalls für Baga-
telldelikte, deren Strafverfolgung daher wegen Geringfügigkeit zu unterbleiben
hat.
Dieser Einstellung liegt ein Akt bewußter Wirklichkeitsverdrängung zugrunde,
der nicht wahrhaben will, daß »das menschliche Sein bei der Befruchtung
beginnt«”. Spätestens seit es die Möglichkeit der In-vitro-Fertilisation gibt, ist
»diese Behauptung . .. weder die Hypothese eines Theoretikers noch eine theolo-
gische Meinung, sondern ein experimenteller Befund« !%. Der psychologische Ver-
96 Bernward Büchner, »Kein Rechtsschutz für ungeborene Kinder?« in: ZRP 24 (1991),
S. 431-435 (S. 431).
97 Ebd., S. 432, mit weiteren Nachweisen. — Daß die Aufhebung der Strafvorschriften über
den Schwangerschaftsabbruch der Verfassung widersprechen und der Staat dadurch sei-
ner Pflicht zum Schutz des ungeborenen Lebens nicht gerecht würde, erklärte auch
Bundesjustizminister Engelhard (FDP) in der Bundestagsdebatte über den Antrag der
GRÜNEN auf Streichung des $ 218 StGB am 16. März 1989 (Bundestag, Plenarproto-
koll, 11/ S. 9956 f.).
98 Mit Recht schlägt Siegmund Knippel diese Wendung als einzig sachgemäße Bezeich-
nung anstelle von »Abtreibung« vor (ZRP 25 [1992], S. 152). Erst recht gilt dies für
gewollt verharmlosende Ausdrücke wie »Schwangerschaftsabbruch« oder gar »Schwan-
En UL »Jeder Sprachgebrauch ist bewuftseinsbildend« (Knippel,
ebd.).
99 Jérôme Lejeune, »Genetik, Ethik und Manipulation« in: Schriftenreihe der Juristen- Verei-
nigung Lebensrecht e. V. zu Köln Nr. 3, Bergisch-Gladbach o. J. (1986), S. 15-26 (S. 16).
— Diese Erkenntnis muß heute nach dem Entwicklungsstand der Fortpflanzungsmedizin
als gesichert gelten (vgl. jetzt zusammenfassend Irene Schlingensiepen-Brysch, »Wann
beginnt das menschliche Leben?« in: ZRP 25 [1992], S. 418—422). Friedrichsen ignoriert
daher den wahren Sachverhalt, wenn sie eine entsprechende Äußerung des Memminger
Kammervorsitzenden Barner als »stockkonservativ« wertet (Abtreibung, aaO. [FN 11],
S. 276).
100 Lejeune, ebd. — Die Verteidigung des Lebensrechts der Ungeborenen ist daher weder
Ausdruck »persönliche(r) Moralvorstellungen«, wie die Abg. Renate Schmidt meint
(Bundestag [FN 44], S. 6560 C und öfter), noch einer »Ideologie«, so die Abg. Becker-
Inglau (aaO., S. 6558 C), es sei denn, man wollte auch die Menschenrechte selbst als
Ideologie abtun oder die Voraussetzungen ihrer Zuerkennung einschrinkend definie-
ZfP 40. Jg. 1/1993
2
18 Hofmann - »Memmingen« — ein Medienprodukt
drängungsmechanismus steigert sich zur Schizophrenie, wenn man einerseits ener-
gisch dafür eintritt, daß — in der Konsequenz dieser unbestreitbaren Tatsache - die
sog. »verbrauchende Forschung« an Embryonen unter Strafe gestellt wird’,
wie es jüngst durch das Embryonenschutzgesetz auch geschehen ist?, und wenn
man andererseits die Vorführung eines die Tötung eines zwölf Wochen alten
Fötus zeigenden Dokumentarfilms eines ehemaligen Abtreibungsarztes als »Dem-
agogie« diskreditiert'!”, sie gewaltsam verhindert!“ und auf diese Weise sich und
anderen »den Zugang zu dem einzigen Fundament einer sachgerechten Entschei-
dung, das es überhaupt gibt, ... nämlich den Zugang zur Erkenntnis der Realität,
man kann auch sagen: den Zugang zur Wahrheit«!% vorsätzlich versperrt. Eine
Bewußtseinsspaltung dieser Art läßt sich nur als das Ergebnis einer sanften
»Gehirnwäsche« plausibel erklären, wie sie durch viele Meinungsmedien seit Jahr-
zehnten mit Ausdauer und Leidenschaft betrieben wird.
Sie bildet die unabdingbare Basis auch der Attacken gegen die Memminger
Justiz. Denn natürlich tritt unter diesen Voraussetzungen nicht das tatsächlich
durch einen einzigen Arzt vergossene Blut von weit über 1000 werdenden Kindern
in den Blickpunkt, sondern das metaphorisch »vergossene Blut« von Zeuginnen in
der Hauptverhandlung gegen Dr. Theissen, die Gerhard Mauz als »ein Gemetzel,
ein Blutbad« glaubt deuten zu sollen'*. Nur den betroffenen Frauen gegenüber
wird daher auch Barmherzigkeit eingefordert, nicht aber Barmherzigkeit gegen-
über den dem Tod überantworteten schutzlosen Ungeborenen.
Nur in Absehung von dem ungeborenen Kind und seinem unverfügbaren
Lebensrecht kann auch ein »Selbstverfügungs-« (Theissen) oder »Selbstbestim-
mungsrecht« der Schwangeren als Rechtfertigungsgrund für Abtreibungen in
Anspruch genommen werden. Dieser manipulative Wortgebrauch hat die Abtrei-
ren. In diesem Fall trüge man allerdings die Beweislast für die Legitimität der dabei
anzulegenden Kriterien. Ein solcher Beweis ist jedoch angesichts der nachgewiesenen
strikten Kontinuität der Entwicklung menschlichen Lebens (Schlingensiepen-Brysch,
Leben, aaO. [FN 99]) nur durch willkürliche Festlegung, d.h. grundsätzlich nicht zu
erbringen (in diesem Sinne Spaemann, Verantwortung, aaO. [FN 39], S. 13 f.).
101 So zitierte die Abg. Regula Schmidt-Bott (GRÜNE) mit Entrüstung den englischen
Gynäkologen Steptoe mit der Bemerkung: »Hätten wir nicht an Embryos geforscht,
wäre die künstliche Befruchtung niemals so weit gekommen ... Und wir mußten dafür
einige hundert Embryos sezieren« (Bundestag, Plenarprotokoll der 113. Sitzung,
11/S. 8207 B). - Treffend hierzu Josef Isensee: »Die verdrängte Moral bricht just dort
wieder durch, wo sie keine persönlichen Opfer verlangt, keine politischen Mutproben
kostet, wo sie sich mit dem Anti-Technik- und Anti-Industrie-Affekt modisch verbün-
det« (»Abtreibung als Leistungstatbestand der Sozialversicherung und der grundgesetz-
liche Schutz des ungeborenen Lebens« in: N/W 1986, S. 1645-1651 [S. 1648)).
102 $ 2 des Gesetzes vom 13. Dezember 1990.
103 Zeitung der Alternativen Liste Köln, Juni 1986.
104 »Tumulte wegen des >stummen Schreis«« in: FAZ vom 7. Juni 1986.
105 Josef Pieper, Leserbrief in: FAZ vom 14. Juli 1986.
106 »... Wenn alle Beteiligten guten Willens sind«, Vorwort zu Friedrichsen, aaO. (FN 11),
S.7 f.
Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt 19
bungsdebatte von Anfang an beherrscht”. Sie soll die Tatsache verschleiern, daß
beim Schwangerschaftsabbruch nicht nur in das Lebensrecht eines anderen einge-
griffen, sondern dieses Recht förmlich eliminiert wird. Die Selbstverstandlichkeit,
daß die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« nicht »die Rechte anderer« verletzen
darf, läßt sich indessen sogar unmittelbar dem Grundgesetz entnehmen (Art. 2 I).
Zudem dient die Berufung auf ein in dieser Weise mißdeutetes »Selbstbestim-
mungsrecht« nicht einmal dem Interesse der Frau, da sie »eben jene Not erzeugt,
die sie angeblich beseitigen will. Den Menschen zum Herren über Leben und Tod
machen, heißt ihn prinzipiell überfordern«!®. Darüber hinaus liefert sie die
schwangere Frau in vielen Fällen den eigennützigen Interessen des Erzeugers oder
eines hilfsunwilligen Umfeldes aus, »die die im Stich gelassene Schwangere zur
Abtreibung drängen. Es endet so das eingebildete »Selbstbestimmungsrecht« damit,
daß die Schwangere zur Fremdbestimmung fremdbestimmt wird. Wirklicher Nutz-
nießer ist bei allem allein der verantwortungslose Kindesvater.« !”
Rationale Argumente dieser Art vermögen engagierte Abtreibungsbefürworter
freilich nicht zu überzeugen; denn hinter dem vordergründig ins Feld geführten
»Selbstbestimmungsrecht der Frau« verbirgt sich nicht zuletzt ein mächtiges »aktu-
elle(s) Bedürfnis der Emanzipation von sexueller Folgenverantwortung«!!. Es
stellt »eigenes, zurechenbares Vorverhalten«!!!: und damit die Mitverantwortung
der Schwangeren nicht nur für die Entstehung des Lebens des Embryo”, sondern
zugleich für die daraus möglicherweise resultierende, später lebhaft beklagte
»Notlage« unter ein Tabu, während andererseits die belastenden Folgen ungewoll-
ter Schwangerschaft, wo sie, wie in Memmingen, sichtbar werden, auf öffentliche
Anteilnahme zählen können. Der Gebrauch von Verhütungsmitteln hat zu einem
gewaltigen Anwachsen sexueller Betätigung »ohne eventuelle Empfängnisakzep-
tanz«! geführt, da jedoch Empfängnisverhütung keine sichere Sache ist!!*, »die
Abtreibungsfrage ... nicht obsolet zu machen vermocht« 15. Vielmehr hat umge-
kehrt die Anwendung von Verhütungsmitteln sogar abgenommen, weil die Mög-
lichkeit straffreier und dazu noch staatlich finanzierter Abtreibung besteht'!*.
Unter diesen Umständen soll die Option für einen Schwangerschaftsabbruch
unbedingt offengehalten werden. Die ehemalige Vorstandssprecherin der GRÜ-
107 Vgl. Gante, aaO. (FN 36), S. 335 ff.
108 Spaemann, Verantwortung, aaO. (FN 39), S. 20 f.
109 Tröndle, Schutz, aaO. (FN 28), S. 57.
110 Isensee, Abtreibung, aaO. (FN 101), S. 1648.
111 Herbert Tröndle, Neuregelung des Lebensschutzes Ungeborener im geeinten Deutschland
(Kirche und Gesellschaft Nr. 179), Köln 1991, S. 10.
112 Ders., Schutz, aaO. (FN 28), S. 59.
113 Schünemann, $ 218, aaO. (FN 3), S. 388.
114 So der Sachverständige Bernward Herko von der Augsburger Beratungsstelle Pro Fami-
lia in der Memminger Hauptverhandlung (FAZ vom 21. September 1988).
115 Schünemann, $ 218, aaO. (FN 3), S. 388.
116 So der Sachverständige Dr. Ingo Schmid-Tannwald, Privatdozent für Frauenheilkunde
am Münchner Klinikum Großhadern in der Hauptverhandlung (MM vom 6. Dezember
1988).
ZfP 40. Jg. 1/1993
2*
20 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
NEN Jutta Ditfurth lag daher durchaus im Trend, wenn sie erklärte, sie fände
»zwei Abtreibungen auf ein lustvolles, knapp 20jähriges Geschlechtsleben relativ
wenig«'”, Nur Ewiggestrige können hieran Anstoß nehmen.
Mit einer »Gewissensentscheidung«, wie eine andere in diesem Zusammenhang
quer durch die Parteien verbreitete vernebelnde Vokabel lautet’, hat dies schlech-
terdings nichts zu tun, solange man dem werdenden Kind ein eigenständiges
Lebensrecht zuerkennt. Das Wort »Gewissen« ist hier fehl am Platz, denn eine
Gewissensentscheidung kann immer nur auf einer an den Kategorien von »Gut«
und »Böse« orientierten, als absolut bindend erfahrenen Verpflichtung beruhen +”.
»Die Tötung eines Menschen — auch eines ungeborenen — kann (jedoch) nie ein
Gebot des Gewissens sein.« 12° »Es ist das Wesen von Menschenrechten, daß ihre In-
anspruchnahme nicht vom Gewissensurteil anderer abhängig gemacht werden darf.
Die These, letzte Instanz über Leben und Tod des Kindes sei das Gewissen der
Mutter, ist gleichbedeutend mit der These, daß es so etwas wie ein Recht des Kin-
des auf Leben überhaupt nicht gibt, sondern daß es nur ein Werk der Barmherzigkeit
ist, es am Leben zu lassen.« Die Gleichsetzung der lediglich subjektiven Über-
zeugung einer Schwangeren, daß ihr das Gewissen eine Abtreibung nicht verbiete,
»mit einer vom Gewissen befohlenen Entscheidung« kann nur sophistisch genannt
werden '!, Daß sie nicht nur unter Journalisten, sondern auch unter führenden
Politikern gang und gäbe ist, ist ein schlimmes Indiz für das Ausmaß der Korrum-
pierung des öffentlichen Bewußtseins der Gesellschaft der Bundesrepublik !22.
117 Zit. nach AZ vom 3. Februar 1989.
118 So insbesondere Rita Süssmuth in der Begründung ihres Vorschlags eines »Dritten
Weges« (»Frauen entscheiden — wer denn sonst?« in: DIE ZEIT vom 12. September
1991); auch der FDP-Abgeordnete Kleinert (Bundestag, Plenarprotokoll [FN 82],
S. 10690 D) und dementsprechend der FDP-Entwurf eines Schwangeren- und Familien-
hilfegesetzes vom 16. Mai 1991 (Bundestag, Drucksache 12/551) sowie die Neufassung
des $ 219 StGB (dazu weiter unten).
Ein dem Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum des Fristenlösungsurteils
unterlaufener terminologischer Mißgriff (Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch
in einer Konfliktslage als »achtenswerte Gewissensentscheidung« [BVerfGE 39, 48]) hat
hier allerdings verheerende Folgen gezeitigt. Die Einbeziehung des Embryos in den
Schutzbereich des Art.2 II1 GG durch das Bundesverfassungsgericht wird indessen
durch selektive Zitierung dieses Passus zugunsten der Schwangeren geradezu auf den
Kopf gestellt (Schünemann, $ 218, aaO. [FN 3], S. 386). Er scheint aber die einzige
Stelle aus dem Urteil zu sein, die manche Politiker zur Kenntnis zu nehmen bereit sind
(Rita Süssmuth nach dem Spiegel vom 12. September 1988; die Abg. Becker-Inglau in
der 96. Bundestagssitzung [Fn 44], S. 6557 D).
119 BVerfGE 12, 45 ff. (55); 23, 191 ff. (205). - Dazu Büchner, Rechtsschutz, aaO. (FN 96),
S. 432 f.
120 Tröndle, Neuregelung, aaO. (FN 111), S. 13.
121 Spaemann, Verantwortung, aaO. (FN 39), S. 26 (Hervorhebung von mir, R. H.).
122 Die vorschnelle Berufung auf das Gewissen auch in anderen. Zusammenhängen durch
eine allgegenwärtige »deutsche Gewissensrhetorik« (Frank Schirrmacher) belegt, daß
dies keine übertreibende Behauptung ist. So bemerkt Manfred Hättich mit Recht: »Es
ist geradezu Mode geworden, seine politische Gesinnung als Gewissen auszugeben. Die
Leichtfüßigkeit, mit der man heute sein Gewissen entdeckt, wirkt lächerlich und
Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt 21
Nicht besser bestellt ist es um den human klingenden, aber zu nichts verpflich-
tenden Slogan »Helfen statt Strafen«, bei dessen Verwendung man auf breite
Zustimmung hoffen darf. Er suggeriert, daß der Zweck des Strafrechts das Strafen
sei, während er in Wahrheit im Schutz von Rechtsgütern durch Aufstellung von
Verbotsnormen besteht, die dann freilich jedenfalls grundsätzlich im Wege der
Strafverfolgung auch durchgesetzt werden müssen, weil eine bloße Strafdrohung
die Wirkungslosigkeit des Gesetzes und damit des Rechtsgüterschutzes garantie-
ren würde. Das Schlagwort ist aber auch aus dem Grunde grob irreführend, weil
eine Alternative unterstellt wird, welche nicht besteht'?>. Richtig formuliert, müßte
es heißen: Hilfe für die schwangere Frau und Strafrechtsschutz für das ungeborene
Kind! Wie unaufrichtig die Parole ist, sieht man auch daran, daß sie in singularer
Weise nur auf den Schwangerschaftsabbruch und damit auf den Schutz des ele-
mentarsten Rechtsguts des Lebens bezogen wird. Niemand käme auf den Gedan-
ken, Dieben und Räubern oder gar »Umweltsündern« prinzipiell mit »Hilfe statt
Strafe« entgegenzutreten. Seit längerem gibt es sogar Bestrebungen, die Vergewal-
tigung in der Ehe unter Strafe zu stellen '*, offenbar in der Erkenntnis, nur auf
diese Weise ein entsprechendes Unrechtsbewußtsein erzeugen zu können, eine
Erkenntnis, die wiederum im Falle der Abtreibung nicht gelten soll!2. Auch ist
nicht recht erkennbar, wie man eine solche Verbotsnorm gegebenenfalls sanktio-
nieren will, ohne in der Intimsphäre des Täters und seines Opfers »herumzu-
schnüffeln« +.
Vollkommen unklar bleibt ferner, was mit dem Wort »Helfen« des näheren
gemeint ist. Finanzielle Hilfen können es eigentlich nicht in erster Linie sein; denn
es ist hinreichend bekannt, daß »wirtschaftliche Gründe nur bei einem kleinen Teil
der Schwangerschaftsabbrüche die entscheidende Rolle spielen« #7. Die Abgeord-
neten Würfel und Becker-Inglau haben in der Aktuellen Stunde vom September
ärgerlich zugleich. Gewissen scheint nicht mehr die Funktion zu haben, sich Entschei-
dungen schwer zu machen. Die Berufung auf das Gewissen soll offenbar das Nachden-
ken ersetzen« (Zornige Bürger, München 1984, S. 56 f.). »Wenn aber im öffentlichen
Leben eines Staates eine Rhetorik den Ton angibt, für die der wahre Sachverhalt gleich-
gülug ist, dann ist dieser Staat korrupt« (Josef Pieper, Kümmert euch nicht um Sokrates,
München 1966, S. 60, die Kritik des platonischen Sokrates an den Sophisten interpretie-
rend).
123 Vgl. Lothar Dinkel, »Helfen statt Strafen!« in: Ärzteblatt Baden- Württemberg, Februar
1992.
124 Vgl. die niedersächsische Justizministerin Heidrun Alm-Merk (SPD), »Soziale Reform
der Strafrechtspflege« in: ZRP24 (1991), S. 328-332 (S. 329): »Es muß wohl als Skandal
bezeichnet werden, daß... ein erzwungener Geschlechtsverkehr in der Ehe bis heute
nicht als Vergewaltigung verfolgt werden kann.«
125 Spaemann, Verantwortung, aaO. (FN 39), S. 15.
126 S.oben FN 48 u. 55; dazu Gerhard Müller: »Wenn es zu einer strafrechtlichen Sank-
uon der Vergewaltigung im Ehebett kommt, geht es dann stets ohne Erfassung der
Inumsphäre ab?« (Leserbrief aus Anlaß der Aktuellen Stunde am 28. September in: FAZ
vom 28. Oktober 1988).
127 So Pro Familia nach Gisela Friedrichsen, »Hilfe oder Rückfall?« in: FAZ vom 16. März
1984.
ZEP 40. Jg. 1/1993
22 Hofmann : »Memmingen« - ein Medienprodukt
1988 auf diesen Umstand mit Nachdruck hingewiesen !2#. Wohl aus diesem Grund
werden in den Begriff auch »Hilfen« miteinbezogen, welche darin bestehen, den
vielbeklagten bürokratischen »Hürdenlauf für die Schwangere«'” auszuräumen,
um auf diese Weise den Weg zur Abtreibung zu erleichtern '*. Verfolgt man die
Berichterstattung zu den Memminger Prozessen, so erscheint schließlich die
Abtreibung selbst als die eigentliche »Hilfe«; denn nicht nur gelegentlich ist dar-
über zu lesen, daß Dr. Theissen seinen Klientinnen »geholfen« habe’, und Gisela
Friedrichsen versäumt es nicht, eigens darauf hinzuweisen, daß »das Wort hel-
fen... hier nicht in Anführungsstriche gesetzt werden« müsse !.
4. Das eigentliche Politikum
Die Liste täuschender Argumente ist damit bei weitem nicht zu Ende bespro-
chen. Ihre inflationäre Verwendung läßt nur den Schluß zu, daß man nicht auf
den so oft beschworenen mündigen, sondern vielmehr auf den unmündigen Bürger
spekuliert und ihn mit nicht geringem Erfolg nach alter Sophisten Sitte absichts-
voll zu umgarnen sucht'*, um ihn für das politische Ziel einer vollständigen Frei-
gabe der Abtreibung zu gewinnen, und zwar unter der Devise, »den Schutz vorge-
burtlichen Lebens« besser gewährleisten zu wollen’. Vieles spricht dafür, daß die
Memminger Prozesse nicht etwa der bayerischen Staatsregierung gerade recht
kamen, um andersdenkenden Bürgern ihr »ideologisches Programm« zu
»oktroyieren« (Gerhard Mauz), sondern ganz im Gegenteil von einer mächtigen
Phalanx von Abtreibungsbefürwortern zum Zweck der Durchsetzung ihrer politi-
schen Ziele alsbald instrumentalisiert wurden.
128 Bundestag (FN 44), S. 6553 D (»Es gibt Notlagen von unendlicher Vielfalt, die eben
nicht mit Geld zu beheben sind«) und S. 6557 B.
129 Statt vieler C. Schmalz-Jacobsen, »Wo Hilfe bloß Hürde ist« in: DIE ZEIT vom
22. Januar 1988. - Gemeint ist in erster Linie die vom Gesetzgeber errichtete »Hürde«
der Schwangerenberatung, durch welche ursprünglich ein besserer Lebensschutz als
durch Bestrafung erreicht werden sollte (vgl. dazu oben FN 28).
130 Tröndle, Schutz, aaO. (FN 28), S. 61.
131 Angefangen beim stern (FN 4), S. 23, bis zur FAZ vom 29. September 1992 (FN 14),
S. 34.
132 Abtreibung, aaO. (FN. 11), S. 19.
133 Hierher gehört z.B. auch der häufig verwendete Ausdruck »Kriminalisierung« als
abwertende Bezeichnung für bestimmte Strafverfolgungsmaßnahmen (s. oben FN 8; fer-
ner die Abgn. Krieger und Dr. Skarpelis-Sperk in der Bundestagssitzung vom 28. Sep-
tember 1988 [FN 44], S. 6550 B, 6552 A). »Kriminalisierung« ist aber niemals Sache von
Polizei oder Justiz, sondern eine Angelegenheit des Gesetzgebers, dem es vobehalten ist,
bestimmte Handlungsweisen unter Strafe zu stellen, d.h. zu »kriminalisieren«. Allen-
falls ließe sich noch sagen, ein Straftäter habe sich durch Erfüllung eines gesetzlichen
Straftatbestandes selbst »kriminalisiert«, indem er straffällig wurde. Angewandt auf
Strafverfolgungsbehörden suggeriert das Wort »Kriminalisierung« hingegen, bewußt
oder unbewußt, diese hätten sich außerhalb der Gesetze gestellt und damit willkürlich
gehandelt oder Rechtsbeugung begangen.
134 Vgl. Konrad Adam, »Die Rückkehr der Sophisten« in: FAZ vom 6. Dezember 1986.
135 Vgl. nunmehr Art. 131 IV des Einigungsvertrages.
Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt 23
Eine wichtige Rolle spielte dabei die listige, aber sachlich unzutreffende Rede
von angeblich »legalen Schwangerschaftsabbrüchen« !*. Schwangerschaftsabbrü-
che sind jedoch in den alten Ländern der Bundesrepublik keineswegs von Gesetzes
wegen generell erlaubt, sondern lediglich beim Vorliegen bestimmter Indikationen
»nicht strafbar« ($ 218 a StGB). Die Abtreibung zu »legalisieren« war der Gesetz-
geber nämlich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehin-
dert. Der falsche Anschein einer Legalisierung konnte nur dadurch entstehen, daß
es der Gesetzgeber gleichwohl bewußt unterlassen hat, das grundsätzliche Verbot
der Abtreibung entgegen den Vorgaben des Bundesverfassunsgerichts auch positiv
zum Ausdruck zu bringen !”. So bot sich die Möglichkeit, der in bestimmten Fällen
gewährten Straffreiheit ein »Recht auf Abtreibung« 8 rhetorisch zu unterschieben,
das von Rechts wegen gar nicht besteht. Hatte man aber erst einmal ein solches
»Recht« erfunden, konnte man vom Staat zu dessen Einlösung ein »flächendek-
kendes Abtreibungsangebot«, insbesondere durch Zulassung privater Abtreibungs-
136 So erwa die Abgn. Krieger und Conrad (SPD) (Bundestag [FN 44], S. 6550 C, und Bun-
destag [FN 82], S. 10697 C).
137 Das Gericht spricht in Leitsatz 4 Satz 1 des Urteils von 1975 (BVerfGE 39, 1) von der
»grundsätzlich gebotene(n) rechtliche(n) Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs«
und davon, »daß auf eine klare rechtliche Kennzeichnung« der »Tötungshandlung« des
Schwangerschaftsabbruchs »als »Unrecht« nicht verzichtet werden kann« (aaO., S. 46). -
Der Gesetzgeber habe jedoch, so Ermin Brießmann, die »primäre Grundfrage nach
Recht oder Unrecht« bewußt ausgeklammert, wenn er in $ 218 a StGB »für alle Indika-
tionen formuliert: »Der Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt ist nicht nach
§ 218 strafbar, wenn ...«. Eine nach dem Gesetz strafbare Handlung ist zwar immer
rechtswidrig. Aber nicht jede straflose Handlung ist rechtmäßig. Das so durch den
Gesetzgeber im Zusammenhang mit den Bestimmungen... zur Finanzierung der
Abtreibung geschürte Mißverständnis über diesen Bezug von Straffreiheit und Rechts-
widrigkeit ist die Ursache für die heute verfassungswidrige Praxis und Handhabung der
Indikationenregelung. Allein schon dieser Mangel der geltenden Bestimmungen entzieht
der Behauptung, eine Indikationenregelung habe das Leben nicht zu schützen vermocht,
den Boden.«
Die geltende Regelung hat statt dessen »zu einem dem Lebensschutz abträglichen
Rechtsbewuftsein ... erheblich beigetragen«, denn das Fehlen einer Strafdrohung wird
eben »im Verständnis der Bevölkerung leicht dahin mißdeutet, die Handlung sei erlaubt
und gerechtfertigt«, sofern nicht »die gesetzliche Mißbilligung der rechtswidrigen
Abtreibung« auf andere Weise »besonders deutlich zum Ausdruck« kommt (»Grundli-
nien einer verfassungskonformen Regelung des Schwangerschaftsabbruches« in: JR
1991, S. 397-402 [S. 398 ff.]). Ein solches Fehlurteil drängt sich dem Normalbürger
geradezu auf, wenn der Schwangerschaftsabbruch auch noch durch Sozialversiche-
rungsleistungen honoriert wird.
138 S. oben FN 53 sowie die Abg. Oesterle-Schwerin (Bundestag [FN 82], S. 10681 D).
139 Daß es ein »Recht auf Abtreibung« nicht gibt, ist einhellige Auffassung der Rechtslehre
(Tröndle, Schutz, aaO. [FN 28], S. 57 ff.). Sie wird auch von einem der maßgebenden
»Alternativprofessoren«, auf welche das Fristenlösungskonzept zurückgeht, und wurde
von der sozialliberalen Bundesregierung geteilt (Leserbrief von Arthur Kaufmann in: SZ
vom 30. August 1990; Bundestag, Drucksache 8/3630, S. 20). Manche Parlamentarier
ficht dies freilich nicht an, so die Abgn. Becker-Inglau (FN 53) und Oesterle-Schwerin
(Bundestag [FN 82], S. 10681 D).
ZfP 40. Jg. 1/1993
24 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
praxen, fordern und im Weigerungsfall die staatlichen Behörden anklagen, »legale
Abtreibungen« zu »erschweren« und ein »Klima der Angst und der Einschüchte-
rung« zu erzeugen '”. So erklärte der Gynäkologe Dr. Volker Jirmann als Sachver-
ständiger in der Hauptverhandlung gegen Dr. Theissen in offenkundiger Verken-
nung der Sachlage, aber in Ubereinstimmung mit einer verbreiteten Denkweise, er
»finde es menschlich unmöglich, den Frauen etwas zu versprechen, und nachher
finden sie keinen, der dieses Versprechen einlöst« !*. Durchschaut man jedoch die
hier zugrunde gelegte Prämisse als pure Fiktion, bricht die speziell in diesem
Punkt besonders vehemente Agitation gegen die bayerische Staatsregierung '* als
haltlos in sich zusammen.
Der eigentliche Gegner waren aber weder die Regierung noch die Memminger
Justizorgane, sondern die geltende (bundes-)gesetzliche Regelung. Man schlug
den Sack und meinte den Esel. Dies kommt gerade auch in Darstellungen, welche
dem Theissen-Prozeß kritisch gegenüberstehen, deutlich zum Ausdruck, wenn es
dort heißt, die »eigentlich Verantwortlichen« seien »die PolitikerInnen, die einen
Strafrechtsparagraphen machen, und die Gerichtsbarkeit, die ihn anwendet«, und
wenn zugegeben wird: »Auch wenn alle Polizisten, Staatsanwälte und Richter lie-
benswert und nachgiebig gewesen wären: es hätte trotzdem Hunderte von Verfah-
ren gegeben, trotzdem hätten Frauen vor Gericht aussagen und Theissen sich dort
verantworten müssen.«1# Desgleichen, wenn gesagt wird, es sei »nicht zu verken-
nen, daß jedenfalls im Schuldspruch dieses Verfahren vermutlich vor einem ande-
ren Gericht zu einem ähnlichen Ergebnis geführt hätte. Kritik an der Richterin
und den Richtern in Memmingen, so berechtigt sie ist, hilft deshalb nicht wei-
ter.«14 Die Abgeordnete Oesterle-Schwerin brachte es auf den Punkt: »Wer den
$ 218 nicht angreifen will, der sollte sich über Memmingen nicht aufregen ... Der
§ 218 muß endlich abgeschafft werden. Das ist der einzige Ausweg aus dieser
Misere.« !# i
»Memmingen« wurde zum Testfall stilisiert, um damit den Beweis zu erbringen,
daß jede Indikationenregelung von Übel sei. Dabei wurde jedoch unterschlagen,
daß eine wirkliche Indikationenregelung in Deutschland bisher noch gar keine
Chance hatte'*, die geltenden Gesetze vielmehr dem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts von 1975 nur widerstrebend entgegenkommen. Nicht von ungefähr
wurde daher von der Abg. Uta Würfel schon frühzeitig die seinerzeit verworfene
Fristenlösung erneut ins Spiel gebracht. Ihrer politischen Durchsetzung dienten
140 Der Spiegel vom 19. September 1988, S. 25; Abg. Dr. Skarpelis-Sperk (Bundestag [FN 4],
S. 6552 C) und Oesterle-Schwerin (Bundestag [FN 82], S. 10681 C).
141 Friedrichsen, Abtreibung, aaO. (FN 11), S. 150.
142 Meinungsführend ist (auch) in dieser Hinsicht Der Spiegel (vgl. etwa Nr. 37 vom
12. September 1988, S. 21, und Nr. 38 vom 19. September 1988, S. 25).
143 Kugler, Memmingen, aaO. (FN 5), S. 214, 217.
144 Vultejus, Urteil, aaO. (FN 24), S. 26.
145 Bundestag (FN 82), S. 10682 A, B.
146 Michael Gante, »Wider besseres Wissen?« in: Intern. Kathol. Zeitschrift »Communio« 21
(1992), S. 139-148 (146). — S. auch Brießmann, aaO. (FN 137).
Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt 25
des weiteren von der Berliner taz und dem stern im Januar 1989 betreute Selbstbe-
zichtigungsaktionen von über 1500 Männern und Frauen, unter ihnen viele Promi-
nente”, die sich rühmten, — ob illegal, blieb offen — abgetrieben oder dazu Hilfe
geleistet zu haben. Die Memminger Demonstration vom Februar verfolgte die-
selbe Zielrichtung. Es ging nun nicht mehr nur gegen das Theissen-Verfahren.
Man wolle die durch diesen Prozeß entstandene »Flamme gemeinsam nicht ausge-
hen lassen, bis der $ 218 zu Fall gebracht ist«, erklärte eine Wortführerin des ver-
anstaltenden »bayerischen Frauenbündnisses« unter dem tosenden Beifall ihrer
Anhängerschaft‘“, und Der Spiegel sekundierte nach der Verkündigung des Urteils
mit Beiträgen von Franz Alt (»Schafft den $ 218 ab«:*) und des Herausgebers
Rudolf Augstein: Der Prozeß von Memmingen habe gezeigt, daß die jetzige
»Rechtsprechung« (gemeint sind die geltenden Gesetze) kaum handhabbar sei(en),
was die 1974 beschlossene Fristenlösung indessen gewesen wäre. Quod erat
demonstrandum!
Die Strategie hatte Erfolg. Am 26. Juni 1992 beschloß der Bundestag, auch
unter dem Eindruck der seit der Wiedervereinigung in einem Teil der Republik
fortgeltenden Fristenlösung der ehemaligen DDR, mit absoluter’: und der Bun-
desrat am 10. Juli 1992 mit Zweidrittelmehrheit's2 ein sog. »Schwangeren- und
Familienhilfegesetz«, welches u.a. den Schwangerschaftsabbruch in den ersten
zwölf Wochen seit der Empfängnis für »nicht rechtswidrig« erklärt, wenn sich die
Schwangere zuvor hat beraten lassen und der Abbruch von einem Arzt vorgenom-
men wird ($ 218 a I n. F.). Die inhaltlich in keiner Weise überprüfbare Beratung
(§ 219 III n. F.) soll die Schwangere in die Lage versetzen, eine »verantwortungs-
bewußte eigene Gewissensentscheidung zu treffen« ($ 219 I 3 n. F.), und die Bun-
desländer werden verpflichtet, »ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot
sowohl ambulanter als auch stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwan-
gerschaftsabbrüchen« sicherzustellen (Art. 4 des 5.StRG n.F.). Damit ist nun
allerdings die Tötung ungeborener Kinder »legalisiert« und nicht nur faktisch, wie
bisher's’, sondern de lege lata zur staatlichen Aufgabe erklärt worden. Darüber
147 Unter ihnen die SPD-Politiker Wolfgang Roth und Karsten Voigt sowie Ralph Gior-
dano, Johannes Mario Simmel und Dieter Hildebrandt (MM vom 26. Januar 1989).
148 SZ vom 27. Februar 1989.
149 Nr. 20 vom 15. Mai 1989, S. 26.
150 »Die Memminger Schande«, Nr. 21 vom 22. Mai 1989, S. 21.
151 Für das Gesetz stimmten annähernd geschlossen die Fraktionen von SPD und FDP, die
Gruppen der PDS und des Bündnis 90 sowie 32 Abgeordnete der CDU, darunter auch
solche aus den alten Bundesländern wie Horst Eylmann, Vorsitzender des Rechtsaus-
schusses, Renate Hellwig, Friedbert Pflüger, die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth
und Peter Kurt Würzbach. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Angela Merkel ent-
hielt sich der Stimme.
152 Gegen das Gesetz stimmte nur Bayern bei Stimmenthaltung Baden-Württembergs,
Mecklenburg-Vorpommerns und Thüringens. Das CDU-regierte Sachsen stimmte für
das Gesetz.
153 Isensee, Abtreibung, aaO. (FN 101), S. 1646: »Kurz und ohne Verklausulierung: Der
Staat tötet.«
ZfP 40. Jg. 1/1993
26 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
hinaus wurde die manipulative Umdeutung des Gewissensbegriffs zum Gesetz
erhoben +“,
Der Gesetzgeber wischte nicht nur die bisherige Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts vom Tisch, sondern brach zugleich mit der gesamten abend-
ländischen Rechtstradition. Insbesondere stellt der Gesetzesbeschluß von 1992
einen Rückfall in die Voraufklarung dar:’; denn seit der Aufklärung war aner-
kannt, daß »die allgemeinen Rechte der Menschheit . . . auch den noch ungebore-
nen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis« gebühren, wie es § 10 I 1 des
Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 klassisch formuliert.
Aber auch in der weiter zurückliegenden Geschichte war bei aller Verschiedenheit
und dem teilweisen Fehlen strafrechtlicher Bestimmungen niemals die Abtreibung
generell für rechtmäßig erklärt worden. Eine solche Schlußfolgerung war nicht ein-
mal aus der noch auf der Unkenntnis biologischer Tatsachen beruhenden mittelal-
terlichen Unterscheidung von beseeltem und unbeseeltem Embryo (foetus anıma-
tus s. inanimatus) * oder der römischrechtlichen Definition der Leibesfrucht als
Teil der Mutter (mulieris portio vel viscerum)!” gezogen worden.
154 Die Neufassung der $$ 218 ff. StGB läßt an innerer Verlogenheit nichts zu wünschen
übrig. So wird der Schwangerschaftsabbruch »nicht — wie es den Anschein hat — gene-
rell, ja nicht einmal regelmäßig, sondern nur in seltenen Ausnahmefällen bestraft. . . Die
Regel wird im Gesetz als Ausnahme dargestellt und umgekehrt.« Andererseits soll nach
§ 219 a StGB n.F. u.a. »ein grob anstößiges Anbieten eines rechtmäßigen Verhaltens
(sc. des Schwangerschaftsabbruchs) eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren nach sich zie-
hen« (vgl. Friedrich-Christian Schroeder, »Unaufrichtigkeit des Gesetzes« in: ZRP 25
[1992], S. 409 f. [S. 410)).
155 »Mindestens seit der Zeit der Aufklärung hat der Schutz des ungeborenen Lebens als
ein jeder Rechtsordnung vorgegebener Wert materiell Verfassungsrang« (Ingo Mitten-
zwei, »Die Rechtsstellung des Vaters zum ungeborenen Kind« in: Archiv für die civilisti-
sche Praxis 187 (1987), S. 247-284 [S. 263]).
156 Die unterschiedliche Bewertung der Abtreibung je nachdem, ob die abgetriebene Leibes-
frucht als »beseelt« oder »nicht beseelt« bzw., wie später im deutschen Recht, als »leben-
dig« oder »nicht lebendig« angesehen wurde (vgl. Art. 133 CCC von 1532), wobei die
Abtreibung auch im letzteren Fall in der Regel nicht sanktionslos blieb (vgl. ebd.), stellt
kein Modell einer »Fristenlösung« dar (so aber — terminologisch unpräzise — durchge-
hend Gunter Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, Stuttgart 1988; ders., »Wer-
dendes Leben versus ungeborenes Leben« in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (1988),
S. 483-492; ähnlich schon Horst Ehmke (SPD) in: Claus Arndt / Bruno Erhard / Lise-
lotte Funcke, Der § 218 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht, Heidelberg/ Karlsruhe
1979, S. 275, demzufolge »die abendländische Regelung der Fristenlösung nahestand«).
Während nämlich das ältere deutsche Recht die Abtreibung bis zu einer gewissen Frist,
wie wir heute wissen: fälschlich, als Entfernung lebloser Materie qualifizierte, beruht die
Entscheidung für die Fristenlösung in der Gegenwart auf der Ignorierung des diesbe-
züglichen Erkenntnisstandes der modernen Embryologie (so zutreffend Gante, $ 218,
aaO. [FN 36], S. 21 Anm. 48). Ebenso Dieter Kluge, eyn noch nit lebendig kindt, Frank-
furt a. M. u. a. 1986, S. 124: »Eine sog. »Fristenlösung: zur Abtreibung hat es im älteren
deutschen Strafrecht . . . nie gegeben.« »Die gesetzlich sankuonierte Zurückstellung des
individuellen Lebensschutzes fir das als solches erkannte ungeborene Leben zugunsten
anderer Gesichtspunkte . . . ist - vor dem Hintergrund der deutschen Rechtsgeschichte —
ein Novum des 20. Jahrhunderts« (Gante, ebd., S. 21 f.).
Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt 27
Freilich, »Abtreibungsprozesse wie den in Memmingen« wird es in Zukunft
wohl nicht mehr geben"**, es sei denn, daß das Bundesverfassungsgericht das
Gesetz von 1992 verwirft. In der Tat schafft man sich das dornige Problem des
Lebensschutzes Ungeborener am zuverlässigsten dadurch vom Halse, daß man
seine Entstehungsursache, d. h. das Schutzobjekt selbst beseitigt. Vielleicht ist es
aber nur eine Frage der Zeit, »bis die Verdrängung des Unrechts der Abtreibung
uns mit dem gleichen Unverständnis erfüllt, wie wir es heute gegenüber anderen
Formen der Unmenschlichkeit — etwa der Folter oder der Sklavenhaltung - besit-
zen« 159
5. Memmingen und der Rechtsstaat
In keiner Weise erledigt hat sich auch über die spezielle Abtreibungsproblematik
hinaus die Frage, wie es eigentlich mit der Einstellung zur Rechtsstaatlichkeit als
solcher bei denen bestellt ist, welche die Kampagne gegen »Memmingen« geschürt
und mitgetragen haben. Hier muß man den Eindruck gewinnen, daß sich die Men-
talität der 68er-Generation mit ihrer Parole »Legal, illegal, sch. . .egal« doch stär-
ker in das öffentliche Bewußtsein eingegraben hat, als dies gewöhnlich wahrge-
nommen wird. Nicht nur der Respekt vor der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit
wurde ja zur Disposition gestellt, sondern zugleich der Respekt vor der Rechts-
. ordnung im ganzen. Der seinerzeitige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts,
Horst Sendler, sah sich daher auf dem Deutschen Anwaltstag in München am
157 Wolfgang Waldstein (Das Menschenrecht zum Leben, Berlin 1982, S. 21 f.) macht darauf
aufmerksam, daß diese häufig zitierte Formel aus Dig 25.4.1.1, wie der Zusammenhang
ergibt, nur in einem »eng begrenzten Sinne gemeint war«. Aufs ganze gesehen kann man
»für das römische Recht keinesfalls sagen, das ungeborene Kind sei rechtlich »vor der
Geburt. . . bloßer Teil des Mutterleibes« gewesen, über den die Mutter hätte frei verfü-
gen können« (unter Berufung u.a. auf Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht,
1899/1961, S. 636: Die Abtreibung sei in Rom »immer ... als arge Unsittlichkeit« ange-
sehen worden). Ein genaueres Studium der fraglichen Quaestion beweist im Gegenteil,
»daß die Leibesfrucht hier zumindest als Objekt rechtlichen Interesses des Erzeugers
bewertet wurde« (Albert Niedermeyer, Schwangerschaft, Abortus, Geburt [Handbuch der
speziellen Pastoralmedizin, Bd. 3], Wien 1950, S. 75). Vgl. auch Mittenzwei, Rechtsstel-
lung, aaO. (FN 155), S. 253 f.
158 SZ vom 27./28. Juni (Jürgen Busche) und 2. Juli 1992 (Martin Thuran). — Die Prognose
kann sich auf den Umstand stützen, daß die formalen Voraussetzungen für einen
»rechtmäßigen« Schwangerschaftsabbruch künftig mühelos zu erlangen sind (Schroe-
der, Unaufrichtigkeit, aaO [FN 154], S. 409) und dieser selbst als staatliche Servicelei-
stung angeboten wird. Mit Recht weist jedoch Martin Kriele darauf hin, daß auch die
Neuregelung einen Prozeß, der dem »Memminger Prozeß« vergleichbar wäre, nicht von
vornherein ausschließt. »Würde ein Arzt ohne Beratungsbescheinigung und Steuermel-
dung abtreiben, so müßte der Prozeß nach Inhalt und Verfahren im wesentlichen ähn-
lich verlaufen, wie er in Memmingen verlaufen ist« (Die nicht-therapeutische Abtreibung
vor dem Grundgesetz, Berlin 1992, S. 80).
159 Winfried Kluth, Leserbrief in: FAZ vom 21. März 1991.
ZfP 40. Jg. 1/1993
28 Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt
8. Mai 1989, offenkundig mit Blick auf die Memminger Vorginge, zu der Feststel-
lung genötigt, der Respekt vor dem Rechtsstaat sei in weiten Teilen der Bevölke-
rung abhanden gekommen. Das geltende Recht werde häufig gar nicht oder nur
noch befolgt, wenn es einem »in den Kram paßt« !*. Wer aber die Rechtsordnung
»nur in Teilen anerkennt, hat sie bereits ganz aufgegeben« !*1. Es ist offenbar die
Einstellung vieler, nicht nur Dr. Theissens: »Was Recht ist, befinde ich.«**? Die
Methode besteht darin, das geltende Recht einschließlich des Verfassungsgesetzes
entweder schlicht zu ignorieren, oder es am Maßstab einer lediglich gewünschten
und daher fiktiven Gesetzeslage zu messen und gegebenenfalls als »Richter in
eigener Sache« zu verwerfen. So war die Rückkehr zum »Naturrecht« in der ersten
Nachkriegszeit als Reaktion auf den Nationalsozialismus wohl nicht gemeint.
Der Fall »Memmingen« gibt nicht zuletzt Anlaß zu der Befürchtung, daß die
»andere Republik« (Karl Schiller) in den Köpfen vieler Medienleute und Politiker
längst Wirklichkeit geworden ist und sie die bestehende Bundesrepublik nach die-
sem Phantom beurteilen. In diesem Fall befänden wir uns tatsächlich in einem
ernsthaften »Kulturkonflikt« :®, und die Saat der »Kulturrevolution« Herbert
Marcuses und anderer wäre in erstaunlichem Maße aufgegangen. Ein Verfas-
sungskonsens existierte nur noch als ein scheinbarer auf der Basis von Vieldeutig-
keiten. »Memmingen« trennt die Menschen in der Bundesrepublik nicht in Gute
und Böse, wie Gerhard Mauz insinuiert, wohl aber in Bürger, die nicht nur einan-
der ausschließende Auffassungen von der Bestimmung des Menschen und seiner
»Würde« haben, sondern offenbar auch diametral entgegengesetzte Vorstellungen
von dem Staat, ın dem sıe leben.
Zusammenfassung
Die »Memminger Prozesse« wegen illegaler Abtreibungen wurden von einer
Medienkampagne begleitet, die in der bundesdeutschen Justizgeschichte ihresglei-
chen sucht. Der faktische und rechtliche Hintergrund der Verfahren wurde aus
politischen Gründen in der öffentlichen Auseinandersetzung bis in die Debatten
des Bundestages hinein in wesentlichen Punkten verschwiegen. Dabei überschritt
die Agitation das Maß des verfassungsrechtlich Zulässigen, insoweit die sachliche
Unabhängigkeit der Richter berührt wurde. Eine genauere Analyse zeigt indessen,
daß das eigentliche Ziel der Attacken weniger die praktizierte Rechtsanwendung
als die gesetzliche Regelung selbst war.
Die Diskussion der Abtreibungsproblematik wird seit Jahren von einem mani-
pulativen Wortgebrauch getragen, der zu einer Korrumpierung des öffentlichen
Bewußtseins geführt hat. Im Hintergrund der Vorgänge wird sichtbar, daß in der
160 Friedrichsen, Abtreibung, aaO. (FN 11), S. 288 f.
161 Tröndle, Memmingen, aaO. (FN 35).
162 Neumaier, Richter, aaO. (FN 2).
163 Schünemann, $ 218 (FN 3), S. 388.
Hofmann - »Memmingen« - ein Medienprodukt 29
Bundesrepublik von einem gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich bestimmter ele-
mentarer Verfassungsprinzipien kaum noch die Rede sein kann.
Summary
The legal proceedings of Memmingen (“Memminger Prozesse”) on account of
illegal abortion were accompanied by a media campaign that is without analogy in
the history of justice in the Federal Republic of Germany. Some important infor-
mations about the de facto and legal background of the proceedings were held
back for political reasons from public discussion and even from parliamentary
debates. In this connection the agitation overshot the mark of admissibility under
constitutional law concerning the independence of judges. An exact analysis shows
that the attacks were aimed at the existing legal provision rather than at the practi-
cal application of law.
For years the discussion on the problem of abortion has been characterized by a
manipulative use of words which has led to a corruption of public awareness. In
the background of the proceedings, it has become apparent that we can hardly
speak any longer of a social consensus over certain elementary constitutional
principles in the Federal Republic of Germany.
ZfP 40. Jg. 1/1993
Roland Kley
F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des
Liberalismus: eine Kritik*
1. Einleitung: Hayeks These
Ein beständig wiederkehrendes Motiv im Werk Friedrich A. Hayeks ist seine
Uberzeugung, der politische Streit zwischen Liberalismus und Sozialismus lasse
sich (erfahrungs-)wissenschaftlich entscheiden. Entgegen den Behauptungen der
Sozialisten entspringe dieser Streit nicht in erster Linie gegensätzlichen politischen
und sozialen Wertvorstellungen, über deren letzte Richtigkeit die wissenschaftli-
che Vernunft ja in der Tat nichts auszusagen vermöge. Vielmehr - so Hayek -
seien sich Liberale und Sozialisten uneins, welcher Mechanismus sozialer und
wirtschaftlicher Koordination unter den Bedingungen der modernen, pluralisti-
schen Massengesellschaft überhaupt praktikabel sei. Diese Frage könne wissen-
schaftlich entschieden werden. Eine vor allem ökonomische Analyse zeige, daß
nur die spontane Selbstkoordination durch den Markt, nicht aber die von den
Sozialisten bevorzugte zentrale Lenkung von Gesellschaft und Wirtschaft,
imstande sei, die vorausgesetzten Ziele zu verwirklichen. In dieser Weise lasse sich
die Überlegenheit des Liberalismus wissenschaftlich demonstrieren.
Angedeutet findet sich Hayeks These von der wissenschaftlich entscheidbaren
Natur des Streits zwischen Liberalismus und Sozialismus bereits in »Der Weg zur
Knechtschaft«!, jenem Buch, das in der unmittelbaren Nachkriegszeit Hayek erst-
mals einer breiten internationalen Öffentlichkeit bekannt machte. Hayek wieder-
holt diese Behauptung dann mit aller Deutlichkeit beispielsweise eingangs seiner
Trilogie »Recht, Gesetzgebung und Freiheit«. Dort schreibt er, als eines der wich-
tigsten Ergebnisse der genannten Studie erscheine ihm »(d)er Nachweis, daß die
Differenzen zwischen Sozialisten und Nicht-Sozialisten letztlich auf rein intellek-
tuellen Streitpunkten beruhen, die eine wissenschaftliche Lösung zulassen, und
nicht auf unterschiedlichen Werturteilen«?. Dieselbe Behauptung spiegeln auch
Titel und Text zweier Vorträge aus den siebziger Jahren wider, von denen der
erste mit »Sozialismus und Wissenschaft« und der zweite mit »Wissenschaft und
* Der vorliegende Beitrag wurde im Jahr 1991 abgeschlossen, also vor dem Tode F. A.
Hayeks am 23. März 1992 in Freiburg i. Br.
1 Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach/Zurich 1945, S. 55.
2 Friedrich A. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung, Mün-
chen 1980, S. 18f.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 31
Sozialismus« überschrieben ist’. Erneut auf die gleiche These stützt sich Hayek
schließlich, wenn er eingangs seines letzten Werks, »The Fatal Conceit«, die
Absicht bekundet zu zeigen, »(t)hat the socialists are wrong about the fact«*.
Die Auffassung, der Liberalismus könne »wissenschaftlich« verteidigt werden,
nimmt sich einigermaßen fremd aus‘. Nicht nur ruft sie sogleich den Einwand her-
vor, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umlaufenden Entwürfe politi-
scher und wirtschaftlicher Ordnung seien allzu vielgestaltig, als daß sie sich dicho-
tomisch entweder dem Liberalismus oder dem Sozialismus zuschlagen ließen und
die Auseinandersetzung auf die von Hayek angestrebte Weise vereinfacht werden
könnte. Vor allem steht Hayeks Behauptung auch in klarem Gegensatz zu einem
Grundparadigma der zeitgenössischen politischen Philosophie. Diese geht weithin
von der Annahme aus, die Rechtfertigung politisch-institutioneller und wirtschaft-
licher Ordnungsvorstellungen sei ihrem Charakter nach ein normativ-philosophi-
sches Unternehmen, dessen Durchführung in letzter Instanz von moralisch-politi-
schen Überlegungen getragen werden müsse. Zwar räumt etwa John Rawls, fraglos
der einflußreichste politische Philosoph der Gegenwart, in seinem Buch »Eine
Theorie der Gerechtigkeit«* durchaus ein, bei der Begründung der Prinzipien und
Institutionen einer gerechten Gesellschaft hätten die Sozialwissenschaften, also
beispielsweise die Ökonomie, die Gesellschaftstheorie und die Psychologie, einen
unerläßlichen Beitrag zu leisten. Gleichwohl kann kein Zweifel bestehen, daß für
Rawls die Begründung von normativen Prinzipien der Gerechtigkeit nicht erfah-
rungswissenschaftlicher, sondern philosophischer Natur ist und von einem mora-
lisch-politischen Unparteilichkeitsstandpunkt ausgehen muß’. Die genannte
Grundannahme wird auch von den Autoren anderer wichtiger Beiträge zur libera-
len politischen Philosophie, etwa von R. Dworkin, T. M. Scanlon, J. Raz und O.
Höffe geteilt®. Allein schon dieser Umstand würde es rechtfertigen, Hayeks
3 Friedrich A. Hayek, Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus,
Tubingen 1977, S.39 ff.; Friedrich A. Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, Tübingen
1979, S. 3 f.
4 Friedrich A. Hayek, The Fatal Conceit. The Errors of Socialism, London 1988, S. 6. Die
Hervorhebung stammt von Hayek.
Fremd wirkt Hayeks Auffassung freilich nur im Kontext liberaler politischer Philosophie;
denn sie erinnert verblüffend an Karl Marx’ These von der wissenschaftlichen Natur des
Sozialismus. Diese ironische Ähnlichkeit zwischen Hayek und Marx und deren mögliche
gemeinsame Wurzeln können hier allerdings nicht weiterverfolgt werden.
6 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 160 f.
7 Ausführlich dazu: Roland Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit. Eine philosophische Kri-
tik der Theorien von John Rawls, Robert Nozick und James Buchanan, Bern/Stuttgart 1989,
S. 3 ff. und 258 ff.
Ronald Dworkin, »Liberalism« in: Stuart Hampshire (H.), Public and Private Morality,
Cambridge 1978, S. 113-143; Thomas M. Scanlon, »Contractualism and Utilitarianism«
in: Amartya Sen/Bernard Williams (H.), Utilitarianism and Beyond, Cambridge 1982,
S. 103-128; Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986; Otfried Höffe, Politische
Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt
a.M. 1987.
un
ZEP 40. Jg. 1/1993
32 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
andersartige Strategie zur Verteidigung des (klassischen) Liberalismus einer nähe-
ren Prüfung zu unterziehen. Ein weiterer, gleichsam aktueller politischer Anlaß,
sich mit Hayeks Liberalismus eingehender zu beschäftigen, liegt in der außeror-
dentlichen Anziehungskraft, die sein Denken gegenwärtig in Osteuropa auszuü-
ben scheint. Wie Ralf Dahrendorf in seinen »Betrachtungen über die Revolution in
Europa« und Timothy Garton Ash in seiner Chronik über den Zerfall der stalini-
stischen Regimes Osteuropas berichten, wird Hayek von vielen ehemaligen Oppo-
sitionellen und neuen politischen Eliten als Leitfigur bei der Restrukturierung der
maroden Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme angesehen’. In Anbetracht des
großen Orientierungsbedarfs, den diese Reformanstrengungen haben, und ange-
sichts der weitreichenden Folgen, welche die Festlegung auf ein bestimmtes Ord-
nungsmodell nach sich zieht, ist es wichtig, darüber Klarheit zu gewinnen, ob der
Liberalismus Hayeks auf einem tragfähigen theoretischen Fundament ruht und
seine Versprechungen auch tatsächlich einlösen kann '°.
9 Ralf Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, Stuttgart 1990, S. 28 f. und
33; Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas
1980-1990, München 1990, S. 108, 170, 295, 300, 410, 471. Ein Beispiel für die Über-
nahme Hayekscher Ideen bei: Jan S. Prybyla, «The Road From Socialism: Why, Where,
What, and How« in: Problems of Communism, 40. Jg., 1991, January-April, S. 1-17.
10 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf Hayek als Liberalen. Es ist jedoch zu
bezweifeln, ob sein Werk durchgehend ein liberales politisches Credo verkörpert. Zwar
wird Hayek ın der Sekundärliteratur (z. B. Bernard Manin, »Friedrich-August Hayek et
la Question du Liberalisme« in: Revue Française de Science Politique, 33.Jg., 1983,
S. 41-64; Norman P. Barry, »Hayek on Liberty« in: Zbigniew Pelczynski / John Gray
(H.), Conceptions of Liberty, London 1984, S. 263-288; Brian L. Crowley, The Self; the
Individual, and the Community. Liberalism in the Political Thought of F. A. Hayek and Sid-
ney and Beatrice Webb, Oxford 1987; Timothy Fuller, »Friedrich Hayek’s Moral Science«
in: Ratio Juris, 2. Jg., 1989, S. 17-26) regelmäßig als klassischer Liberaler vorgestellt, doch
bemerken oft dieselben Kommentatoren in seinem politischen Denken auch einen kon-
servativen Grundzug. Uneinigkeit herrscht allerdings, wie die liberalen und konservativen
Elemente sich zueinander verhalten und wie sie zu gewichten sind. So schreibt etwa John
Gray (Hayek on Liberty, 2nd rev. ed., Oxford 1986, S. ix), indem Hayek einige der tief-
sten Einsichten konservativer Philosophie aufgenommen und in seinem klassischen Libe-
ralismus berücksichtigt habe, befreie er diesen von seinen schwerwiegendsten Irrtümern.
Für Chandran Kukathas (Hayek and Modern Liberalism, Oxford 1989) andererseits sind
Hayeks Liberalismus und Konservativismus unvereinbar. Paul B. Cliteur («Why Hayek is
a Conservative« in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 76. Jg., 1990, S. 467-478)
betrachtet Hayek kurzerhand als Konservativen, und Hannes H. Gissurarson (Hayek’s
Conservative Liberalism, New York 1987) sucht zu vermitteln, indem er ihn als konserva-
tiven Liberalen bezeichnet.
Hayek selbst hat sich im Nachwort zu Die Verfassung der Freiheit (2. Aufl., Tübingen
1983), das in der englischsprachigen Ausgabe die aussagekräftigere Überschrift »Why I
am not a Conservative« trägt, zumindest rhetorisch vom Konservativismus distanziert.
Seinem Gehalt nach weist Hayeks Denken allerdings eindeutig konservative Züge auf.
Diese haben ihren Ursprung vor allem in seiner Theorie kultureller Evolution. Der
genannten Theorie zufolge sind die Institutionen der modernen Gesellschaft das Ergeb-
nis eines menschheitsgeschichtlichen Selektionsprozesses. Im Verlauf dieses natürlichen
Prozesses überlebten jene Institutionen, welche den Stammesgruppen und Gesellschaften,
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 33
Wie später im einzelnen zu zeigen sein wird, sind es vor allem drei Probleme
der modernen, pluralistischen Massengesellschaft, mit denen Hayek zufolge allein
ein liberales Marktsystem auf annehmbare Weise fertigwerden kann. Erstens,
behauptet Hayek, vermöge nur ein Marktsystem die Verstreutheit, Flüchtigkeit
und Latenz der wirtschaftlich relevanten Daten zu meistern und damit eine effi-
ziente Verwendung der in einer Volkswirtschaft vorhandenen Ressourcen zu
gewährleisten. Zweitens habe auf die voneinander abweichenden Gerechtigkeits-
vorstellungen der Menschen nur der Markt eine Antwort, welche den sozialen
Frieden dauerhaft sichere. Und drittens sei allein der Markt imstande, die teils
unvereinbaren individuellen Lebensziele und die konkurrierenden Ansprüche, die
die Menschen auf die in ihrer Gesellschaft vorhandenen materiellen Mittel erhö-
ben, miteinander zu versöhnen und so ein friedliches Zusammenleben zu garantie-
ren.
Diese Behauptungen Hayeks werden auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen sein.
Vorgängig sind jedoch einige wichtige Voraussetzungen seiner Argumentation
näher auszuführen; denn bis jetzt ist noch undeutlich, weshalb die Gründe zur
Verteidigung der genannten Behauptungen »wissenschaftlicher« Natur sein soll-
ten. Im Zuge dieser Erläuterungen wird auch ersichtlich werden, was Hayek denn
eigentlich meint, wenn er von »Liberalismus« und »Sozialismus« spricht.
die an ihnen festhielten, erlaubten, bevölkerungsmäßig zu wachsen und dadurch andere
Gruppen und Gesellschaften zu verdrängen (hierzu insbesondere Friedrich A. Hayek,
Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen,
Landsberg am Lech 1981, S. 207-236, sowie Hayek The Fatal Conceit [FN 4]). Hayeks
Konservativismus resultiert vor allem aus der mit dieser Evolutionstheorie zusammenhän-
genden These, wonach die aus diesem Selektionsprozef8 hervorgegangenen Institutionen
eine menschheitsgeschichtliche Erfahrung und »höhere überpersönliche Weisheit«
(Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 135) in sich aufbewahren und verkörpern, die die
individuelle Vernunft nicht kennen und schon gar nicht wissenschaftlich rekonstruieren
und explizit besitzen könne. Diese an Edmund Burke angelehnte Behauptung dient
Hayek als Grundlage seiner Warnung vor dem »rationalistischen Konstruktivismus«
(z. B. Friedrich A. Hayek, Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 78). Jeder Versuch, die
Gesellschaft radikal zu reformieren oder gar eine neue, »rationale« Gesellschaftsordnung
zu errichten, riskiere den Verlust dieser den überlieferten Institutionen innewohnenden
Menschheitserfahrungen.
Hayeks Theorie kultureller Evolution ist nicht nur mit schwerwiegenden Mängeln behaf-
tet, sondern es ist auch unklar, wie sich der darauf gestützte Konservativismus mit
Hayeks Liberalismus verträgt. Denn angesichts der ausgreifenden institutionellen
Reformvorschläge, die Hayek etwa in seiner Modellverfassung (in Recht, Gesetzgebung
und Freiheit. Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, aaO., S. 145-173)
unterbreitet, zieht er sich selbst den Vorwurf zu, eine Art antitraditionalistischer, rationa-
listischer Konstruktivist zu sein. Die damit zusammenhängenden Fragen können hier
nicht weiter erörtert werden. Für eine detaillierte kritische Prüfung von Hayeks Evolu-
tionstheorie und eine Analyse, die zu dem Schluß gelangt, Hayeks liberales und konser-
vatives Denken sei grundlegend inkonsistent und münde in widersprüchliche praktisch-
poliusche Handlungsanweisungen aus, siehe Roland Kley, Political Philosophy and Social
Theory. A Critique of F. A. Hayek’s Justification of Liberalism, D. Phil. Thesis Oxford 1990,
insbesondere Kap. 7 und 8.
ZfP 40. Jg. 1/1993
3
34 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
2. Drei Grundvoraussetzungen von Hayeks politischem Denken
Hayeks politisches Denken ist entscheidend vom Aufstieg und Triumph des Tota-
litarismus in den späteren 1930er und den frühen 1940er Jahren geprägt, und es ist
die Veröffentlichung von »Der Weg zur Knechtschaft« (engl. 1944; dt. 1945), die
den Beginn seiner Laufbahn als politischer Publizist kennzeichnet. Die Zeitdia-
gnose, die Hayek in diesem Buch stellte, war ungewöhnlich; denn er sah die west-
lich-liberalen Demokratien nicht nur von außen bedroht, sondern auch von innen,
durch gewisse Entwicklungen, die den meisten Menschen gänzlich harmlos
erschienen. Nebst der offensichtlichen äußeren Gefährdung durch den National-
sozialismus und Sowjetkommunismus nahm Hayek innerhalb der westlichen
Demokratien auch die Tendenz wahr, die Lenkung der Wirtschaft immer mehr
dem Staat anzuvertrauen. Hayek befürchtete, dieser Trend, irreführend als »Pla-
nung« bezeichnet und von beinahe jedermann als das universale Heilmittel gegen
Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftliche Stagnation empfohlen, würde unver-
meidlich auch in einen Totalitarismus münden, der sich von jenem des Nationalso-
zialismus und Kommunismus nicht wesentlich unterschiede. Hayeks Analyse
zufolge wurzelten Faschismus, Kommunismus und wirtschaftliche Planung in der-
selben falschen Sozialphilosophie, dem »Kollektivismus«, der alles gesellschaftli-
che und wirtschaftliche Leben zentraler Lenkung und Kontrolle unterwerfen will
und trotz bester Absichten schließlich in Unfreiheit endet. Diese Diagnose ver-
band Hayek mit einem Aufruf zur Rückbesinnung auf die Sozialphilosophie des
»Individualismus« und seine politische Lehre, den klassischen Liberalismus.
Die scharfe Trennung zwischen individualistischer und kollektivistischer
Sozialphilosophie dominiert Hayeks politisches Denken seit »Der Weg zur
Knechtschaft«. Um die praktischen Konsequenzen dieser beiden Sozialphiloso-
phien möglichst deutlich werden zu lassen, hat Hayek es später vorgezogen, sie in
jener Form zu diskutieren, in der sie als politische Ideensysteme auftreten. Im Falle
des Individualismus konnte dies für ihn nur der klassische Liberalismus sein. Unter
den verschiedenen kollektivistischen Ideologien entschied sich Hayek dafür, sich
auf den Sozialismus zu konzentrieren, nicht bloß weil diesem »nicht nur bei wei-
tem die größte Bedeutung zukommt«, sondern auch weil dieser selbst liberal
Gesinnte »dazu gebracht hat, sich aufs neue jener Reglementierung des Wirt-
schaftslebens zu unterwerfen«!!, der sie im Gefolge von Adam Smith einst ein
Ende bereitet hätten. Die Beschränkung auf den Sozialismus bedeutete nicht, daß
andere totalitäre Ideologien von Kritik verschont bleiben sollten. Für Hayek hat-
ten die Einwände gegen den Sozialismus gleiche Geltung auch gegen jede andere
politische Form des Kollektivismus 12.
Eine erste Grundvoraussetzung von Hayeks politischer Philosophie ist deshalb
die Annahme, es gebe eigentlich nur zwei politische Lehren, den Liberalismus und
11 Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (FN 1), S. 56.
12 Ebd., S. 56.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 35
den Sozialismus. Drittpositionen, die versuchen, die Kluft zwischen Individualis-
mus und Kollektivismus zu überbrücken, etwa ein Marktsystem mit Planelemen-
ten, brauchen Hayek zufolge nicht in Betracht gezogen zu werden. Entsprechend
der in »Der Weg zur Knechtschaft« formulierten und später!? weitgehend bekräf-
tigten These hat jeder »Mittelweg« * eine kollektivistische Tendenz und endet
langfristig im Totalitarismus. Es ist nicht schwer zu erkennen, wie sich diese mani-
chäische Sichtweise auf Hayeks Strategie zur Rechtfertigung des Liberalismus aus-
wirkt. Sollten letzten Endes wirklich nur zwei politische Hauptlehren existieren, so
besteht die Rechtfertigung des Liberalismus in seiner Verteidigung gegen den
Sozialismus. Der Liberalismus wird sich in dem Maße als Orientierungsrahmen
zur Gestaltung der politischen und wirtschaftlichen Institutionen auszeichnen las-
sen, als es gelingt, seine Überlegenheit über den Sozialismus zu zeigen.
Doch gestützt auf welche Gründe kann der Streit zwischen Liberalismus und
Sozialismus beurteilt werden? Wie kann die Überlegenheit des Liberalismus bewie-
sen werden? Hayek ist ethischer Nichtkognitivist. Er hält es für unmöglich, letzte
moralische Richtpunkte rational zu begründen. Die Vernunft könne nur innerhalb
bereits prakuzierter Moralsysteme zum Zuge kommen. Solche Systeme bestehen
laut Hayek aus wenigen höchsten Werten und aus zahlreichen Regeln, die zwar
ihrerseits selbst werthaft sind, aber dazu dienen, jene höchsten Werte zu fördern
und zu verwirklichen. Die Vernunft nun vermöge Konflikte innerhalb dieser
Regeln zu erkennen und zu lösen, doch sie müsse jene höchsten Werte als gegeben
hinnehmen und könne sie nicht in Frage stellen '°. Ein bestehendes System morali-
scher Regeln besser aufeinander abzustimmen, betrachtet Hayek als eine wissen-
schaftliche Aufgabe. Der Gesellschaftswissenschaftler, der sich ihrer annehme,
verletze das Prinzip der Wertfreiheit der Wissenschaft so lange nicht, als er die
letzten Werte, denen die Regeln dienten, nicht uminterpretiere oder ändere **.
Praktische Vernunft verstanden als Beurteilung von alternativen Mitteln zu gege-
benen Zwecken könne auch ganze Moralsysteme miteinander vergleichen, sofern
allgemeine Übereinstimmung über die Ziele und Werte herrsche, die die unterge-
ordneten Regeln des Moralsystems fördern sollten. Sobald bestimmte Ziele als
erstrebenswert vorausgesetzt würden, schreibt Hayek, »können alle Arten norma-
tiver Regeln von ihnen abgeleitet werden« !’. Eine zweite Grundvoraussetzung von
Hayeks politischer Philosophie ist deshalb die Annahme, praktische Vernunft
beschränke sich auf instrumentelle Rationalität; ob bestimmte letzte moralisch-
politische Orientierungen vernünftig oder unvernünftig seien, darüber könne
nichts ausgesagt werden.
13 Z.B. ın Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung (FN 2),
S. 83-102.
14 Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (FN 1), S. 65.
15 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 81.
16 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung (FN 2), S. 153 f.
17 Ebd., S. 114.
ZfP 40. Jg. 1/1993
3°
36 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
Das bisher Gesagte könnte den Schluß nahelegen, die Hayeksche Vernunft sei
machtlos und vermöge den Streit zwischen Liberalismus und Sozialismus nicht zu
entscheiden. Nur fähig, die Eignung alternativer Mittel zu gegebenen Zwecken zu
beurteilen, sei sie nicht in der Lage — so könnte man folgern -, zwischen den unter-
schiedlichen Werten zu richten, für die der Liberalismus und der Sozialismus je
eintreten. Daher erscheint die rationale Verteidigung, die Hayek für den Liberalis-
mus anstrebt, unerreichbar und die Annahme eines der beiden politischen Ideensy-
steme lediglich als das Ergebnis eines Willkürentscheids.
Hayek behauptet, diese Schlußfolgerung sei nicht gerechtfertigt, denn Libera-
lismus und Sozialismus würden sich in ihren letzten Werten und Zielen weitge-
hend nicht unterscheiden. Hingegen unterschieden sie sich fundamental in den
Methoden zur Realisierung dieser Ziele. Überraschenderweise ist Hayek ziemlich
wortkarg, wenn es darum geht, diese letzten Ziele näher zu bestimmen. Dies mag
daran liegen, daß er sie für offensichtlich hält. Doch aus verschiedenen Passagen
kann indirekt abgeleitet werden, worin sie bestehen. Der Mechanismus zur Koor-
dination des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens sollte folgende Dinge
fördern und sichern: das »Allgemeinwohl« !®, das »Gemeinwohl« !? und die »allge-
meine Wohlfahrt« der Gesellschaftsmitglieder2°; »Übereinstimmung und Frie-
den« 21, »eine friedliche Ordnung« 22, »jene Ordnung des Friedens und aufeinander
abgestimmter Anstrengungen ..., die den höchsten Wert . . . darstellt«?> und eine
»friedliche Zusammenarbeit zum wechselseitigen Nutzen der Menschen« ?*. In sol-
cher Allgemeinheit formuliert, verkörpern diese Ziele — innergesellschaftlicher
Friede und Wohlstand durch wechselseitig vorteilhafte Zusammenarbeit - viel-
leicht tatsächlich, »was praktisch jedermann will« 2°. Dies sind, so legt Hayek nahe,
liberale und sozialistische Ziele. Wie gleich zu erläutern sein wird, divergieren
Liberalismus und Sozialismus bezüglich eines bestimmten Zieles freilich grundle-
gend. Dennoch stellt die Annahme, wichtige Ziele würden von beiden geteilt, eine
dritte Grundvoraussetzung in Hayeks politischem Denken dar.
Die genannte Annahme hat für Hayeks Argumentationsstrategie wichtige Kon-
sequenzen. Sollten die beiden politischen Lehren sich wirklich nur in ihren institu-
tionellen Mitteln zur Verwirklichung der grundlegenden Ziele, nicht aber in diesen
Zielen selbst unterscheiden, dann könnten sie tatsächlich (erfahrungs-)wissen-
schaftlich beurteilt werden. Eine gesellschaftstheoretische und ökonomische Ana-
18 Friedrich A. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen
Gerechtigkeit, Landsberg am Lech 1981, S. 16.
19 Ebd., S. 20.
20 Ebd., S. 20.
21 Ebd., S. 17.
22 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 112.
23 Hayek, Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus (FN 3), S. 44.
24 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 111.
25 Friedrich A. Hayek, Knowledge, Evolution and Society, London 1983, S. 30. Übersetzung
von R. K.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 37
lyse könnte zeigen, inwieweit die liberale und die sozialistische Methode gesell-
schaftlicher und wirtschaftlicher Koordination je geeignet sind, jene letzten Ziele
zu realisieren. Eine solche Analyse würde von der praktischen Vernunft nicht
mehr verlangen, als diese Hayek zufolge leisten kann; denn sie erforderte lediglich
instrumentelle Rationalität. Eine Bewertung der letzten Ziele selbst wäre nicht not-
wendig.
Hayek räumt ein, in einer wichtigen Hinsicht gingen die Ziele des Liberalismus
und Sozialismus auseinander: Nur der Sozialismus, nicht aber der Liberalismus
(meint Hayek) sei einer Idee der Verteilungsgerechtigkeit verpflichtet?*. Unter
sozialer Gerechtigkeit versteht Hayek gewöhnlich eine Verteilung der Einkommen
nach moralischem Verdienst? oder nach dem autoritativ festgestellten Wert der
Leistungen, die jedes Individuum für die Gesellschaft erbringt?*. Dem Liberalis-
mus dürfe die Idee der Verteilungsgerechtigkeit nicht einfach gleichgültig sein;
vielmehr müsse er sich ihr aktiv entgegenstellen. Denn die Durchsetzung sozialer
Gerechtigkeit erfordere eine tendenziell totalitare Gesellschaftsstruktur. Eine
Gesellschaft, in der jeder das bekomme, »was er nach Ansicht irgendeiner Autori-
tät verdient«, müsse zwangsläufig zu einer Gesellschaft werden, »in der jeder das
tut, was jene Autorität verlangt« 2°. Anders gesagt: Hayek befürchtet, die Verwirk-
lichung von Verteilungsgerechtigkeit ziehe eine Gesellschaft nach sich, die ihren
Mitgliedern ein einheitliches System von Zwecken des individuellen Handelns auf-
zwingt’. Weil der Sozialismus, anders als der Liberalismus, auch nach Vertei-
lungsgerechtigkeit strebe, handle es sich beim Streit der beiden auch um eine Aus-
einandersetzung über letzte politische Ziele. Gleichwohl lasse sich der Streit wis-
senschaftlich austragen. Denn Hayek meint, man könne zeigen, daß es dem Sozia-
lismus unmöglich sei, gleichzeitig sowohl Verteilungsgerechtigkeit als auch allge-
meinen Wohlstand und sozialen Frieden zu verwirklichen. Eine solche Analyse sei
noch immer rein (erfahrungs-)wissenschaftlicher Natur und komme ohne Wert-
urteile aus”.
Hayeks Ausführungen erlauben uns nun auch zu erkennen, was er unter »Libe-
ralismus« und »Sozialismus« versteht. Aus seiner Sicht handelt es sich dabei um
zwei konkurrierende politische Methodologien. Nach Hayek sind sich Liberalismus
und Sozialismus (mit Ausnahme des Verteilungsproblems) einig über die grundle-
genden Ziele der Politik. Tief gespalten aber sind sie in der Frage, welcher Mecha-
nismus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Koordination geeignet ist, jene Ziele
26 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 96 f.
27 Friedrich A. Hayek, Studies in Philosophy, Politics and Economics, London 1967, S. 244.
28 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 120.
29 Friedrich A. Hayek, Liberalismus, Tubingen 1979, S. 32.
30 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 108 f.
31 Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (FN 1), S. 54 f.
ZfP 40. Jg. 1/1993
38 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
zu erreichen. Die Idee der Verteilungsgerechtigkeit veranlasse die Sozialisten,
anzunehmen, die Gesellschaft müsse als hierarchische Organisation gegliedert
sein, da sie sonst nicht über die notwendige Macht verfüge, um die angestrebte
gerechte Verteilung herbeiführen zu können”. Sozialismus ist für Hayek daher
identisch mit zentralgelenkter Planwirtschaft. Im Gegensatz dazu entspringe der
Liberalismus »der Entdeckung einer sich selbst bildenden oder spontanen Ord-
nung ..., in der die Kenntnisse und die Geschicklichkeit aller Mitglieder der
Gesellschaft weit besser genutzt werden können als in irgendeiner durch zentrale
Leitung gebildeten Ordnung«*>. Die Entdeckung bestehe in der Erkenntnis, daß
die allseitige Anerkennung und Befolgung bestimmter Regeln individuellen Ver-
haltens** einen Prozeß der Selbstkoordination in Gang setze und die Entfaltung
und dauerhafte Aufrechterhaltung eines dichten Netzes von Austauschbeziehun-
gen ermögliche, das allgemeinen Wohlstand schaffe und den sozialen Frieden
gewährleiste. Liberalismus ist für Hayek deshalb gleichbedeutend mit dem Markt
als Koordinationsmethode.
3. Hayeks wissenschaftliche Verteidigung des Liberalismus: eine Rechtfertigung des
Marktes gestützt auf instrumentelle Gründe
Im Lichte des bisher Ausgeführten wird deutlich, daß die von Hayek angestrebte
»wissenschaftliche» Verteidigung des Liberalismus die Gestalt einer instrumentellen
Rechtfertigung” hat. Als entscheidend gilt ihm die Frage, welcher der beiden Koor-
32 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 117-119; Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit.
Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit (FN 18), S. 101 und 120; Hayek, Liberalis-
mus (FN 29), S. 32.
33 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 110.
34 Ausführlich zu diesen Regeln z. B. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die
Illusion der sozialen Gerechtigkeit (FN 18), S. 53-69.
35 Die These, Hayek verfolge eine instrumentelle Rechtfertigungsstrategie, spiegelt keines-
wegs die einhellige Meinung seiner Kommentatoren wider. Zwar ist Hayeks instrumen-
teller Ansatz nicht völlig unbeachtet geblieben (z.B. bei Raz, The Morality of Freedom
(FN 8), S. 7), doch neigen die meisten Autoren (z. B. Barry, »Hayek on Liberty« (FN 10),
S. 278 f.; Gray, Hayek on Liberty (FN 10), S. 59-61; Leland B. Yeager, »Utility, Rights,
and Contract. Some Reflections on Hayek’s Work« in: Kurt R. Leube / Albert H. Zlabin-
ger (H.), The Political Economy of Freedom. Essays in Honor of F. A. Hayek, München
1984, S. 61-80, hier S. 73; Russell Hardin, Morality within the Limits of Reason, Chicago
1988, S.14 f. und 91; Roland Vaubel, »The Philosophical Basis of a Free Society« in:
Ordo, 38. Jg., 1987, S. 21-29, hier S. 23) dazu, thn als eine Art Utilitarist zu betrachten.
Eine Ausnahme bildet die Auffassung, Hayeks Liberalismus sei kantisch ausgerichtet (so
Crowley, The Self, the Individual, and the Community (FN 10), S. 16 f. und 29). In der bis-
lang sorgfalugsten Untersuchung über die moralphilosophischen Grundlagen von
Hayeks Liberalismus gelangt Ch. Kukathas (Hayek and Modem Liberalism [FN 10]) zu
dem Schluß, diesem fehle ein einheitliches Fundament, und die disparaten utilitarisu-
schen, kantischen und konservativen Elemente ließen sich zu einer widerspruchsfreien
Moraltheorie nicht zusammenfügen. Es gibt keinen Anlaß, an der Richtigkeit von Kuka-
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 39
dinationsmechanismen die vorausgesetzten Ziele überhaupt verwirklichen kann.
Sie zu beantworten sei eine wissenschaftliche Aufgabe. Wie bereits früher erwähnt,
nimmt sich die von Hayek gewählte instrumentelle Perspektive auf dem Hinter-
grund der von John Rawls maßgeblich geprägten zeitgenössischen politischen Phi-
losophie ungewöhnlich aus. Gleichwohl ist diese Sichtweise nicht singulär. Her-
mann Lübbe * etwa diagnostiziert die moderne Krise der Zivilisation weitgehend
nicht als Zielkrise, sondern vor allem als Krise der Mittel und Steuerungsmecha-
nismen zur Verwirklichung von Lebenszwecken (wie Wohlfahrt und soziale
Sicherheit), die dem moralischen Commonsense nach wie vor als selbstverständlich
gälten. Und, ebenfalls völlig unabhängig von Hayek, hat Nicolas Rescher?” inner-
halb der Ethik die Möglichkeiten erkundet, einen moralischen Regelkodex
gestützt allein auf instrumentelle Überlegungen zu rechtfertigen.
Auch wenn die instrumentelle Natur von Hayeks Verteidigung des Liberalismus
einmal erkannt ist, bedarf ihr Argumentationsgang doch einer weiteren Verdeutli-
chung. Nun hat Hayek selbst seine Rechtfertigungsstrategie nirgends systematisch
vorgestellt und erläutert. Dennoch lassen sich vier Elemente oder Schritte klar
unterscheiden. Erstens nimmt Hayek vom Liberalismus wie vom Sozialismus an, sie
verfolgten bestimmte letzte Ziele, die sie weitgehend teilten. Unbestritten sind
nach Hayek die Ziele allgemeinen Wohlstands und innergesellschaftlichen Frie-
dens. Uneinig seien sich Liberalismus und Sozialismus über die Bedeutung einer
thas’ Verdikt zu zweifeln. Doch seine Analyse läßt die Frage offen, ob denn Hayek tat-
sächlich nicht mehr als ein hastig schreibender Pamphletist gewesen ist, der in seinen
Rechtfertigungen des Liberalismus jegliche Leitidee vermissen läßt. Insbesondere ist zu
fragen, ob Hayek wirklich in erster Linie darauf aus ist, seinen Liberalismus auf eine
moralphilosophische Begründung zu stellen. Zwar ist einzuräumen, daß Hayek vor allem
zu Beginn von Die Verfassung der Freiheit verschiedene programmatische Bemerkungen
macht, die man als Auftakt zu einer normativen Grundlegungstheorie der Freiheit und
des Liberalismus interpretieren könnte (obwohl er auch dort von instrumentellen Überle-
gungen nie weit entfernt ist). Auch trifft zu, daß er verschiedenenorts immer wieder auf
genuin moralphilosophische Argumente zurückgreift. Doch angesichts deren Unverein-
barkeit geht es darum, jene Interpretation zu wählen, die Hayek übers ganze gesehen am
meisten gerecht wird und seinem Liberalismus am ehesten eine einheitliche Perspektive
verleiht. Keine moralphilosophische Lesart kann die vielfältigen Elemente dieses Libera-
lismus in einer widerspruchsfreien Weise zusammenbringen. Im Lichte der erläuterten
drei Grundvoraussetzungen seines politischen Denkens und der von ihm angestrebten
»wissenschaftlichen« Begründung sowie in Anbetracht seiner ausdrücklichen Ablehnung
des Utilitarismus (siehe Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der
sozialen Gerechtigkeit (FN 18), S. 34-41) ist es weitaus am plausibelsten, Hayeks Verteidi-
gung des Liberalismus als instrumentelle Rechtfertigungsstrategie zu verstehen. Ausführ-
lich wird diese instrumentelle Lesart gegen andere Interpretationen begründet in Kley,
Political Philosophy and Social Theory. A Critique of F. A. Hayek’s Justification of Liberalism
(EN 10), S. 10-21 und 370-385.
36 Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft,
Berlin 1987, S. 88 f.
37 Nicolas Rescher, The Primacy of Practice, Oxford 1973, S. 133-152.
ZfP 40. Jg. 1/1993
40 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
gerechten wirtschaftlichen Verteilung. Zweitens ordnet er dem Liberalismus und
Sozialismus je eine bestimmte Methode gesellschaftlicher und wirtschaftlicher
Koordination zur Verwirklichung ihrer Ziele zu. Der Liberalismus vertraue auf
den Markt, während der Sozialismus sich der zentralgeleiteten Planwirtschaft
bediene. Drittens nennt Hayek drei Grundtatsachen der modernen Gesellschaft,
die ein Koordinationsmechanismus angemessen berücksichtigen muß, soll er die
vorausgesetzten Ziele überhaupt verwirklichen können. Wie ausführlicher gleich
zu zeigen sein wird, handelt es sich bei diesen Grundbedingungen um: den Plura-
lismus der teils unvereinbaren individuellen Lebensvorstellungen; den unlösbaren
Meinungsstreit über die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit; sowie den
Umstand, daß die für eine effiziente Produktion und Allokation erforderlichen
wirtschaftlichen Informationen nirgends und niemals in systematisierter, konzen-
trierter Form vorliegen, sondern stets über die ganze Gesellschaft verstreut, außer-
dem oft nur vorübergehend bedeutsam und häufig auch bloß latent vorhanden
sind. Und viertens zieht Hayek die Schlußfolgerungen über die instrumentelle Eig-
nung der liberalen und der sozialistischen Koordinationsmethode, angesichts der
genannten gesellschaftlichen Grundtatsachen je ihre Ziele zu verwirklichen.
Die ersten beiden Schritte dieser Argumentationsstrategie sind bereits weiter
vorne erläutert worden. Nun sind noch die von Hayek im dritten Schritt namhaft
gemachten Grundbedingungen modernen gesellschaftlichen Zusammenlebens
näher zu skizzieren, bevor wir uns einer kritischen Würdigung der Argumente
Hayeks für den Liberalismus (und gegen den Sozialismus) zuwenden können.
Laut Hayek sind es drei für die moderne Gesellschaft typische Charakteristiken,
mit denen ein gesellschaftlicher Koordinationsmechanismus fertigwerden muß,
soll er die vorausgesetzten Ziele überhaupt erreichen können.
(1) In der modernen Gesellschaft verfolgen die Menschen individuelle Lebens-
plane, die sie nicht alle zur selben Zeit realisieren können. Dafür gibt es nach
Hayek verschiedene Gründe. Teils stehen diese Pläne in einem direkten Konflikt-
verhältnis, teils sind die zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Mittel nicht aus-
reichend vorhanden, teils auch sind andere nicht willens, jenen persönlichen Bei-
trag an jemandes Strebungen zu leisten, den dieser als unverzichtbar für die Erfül-
lung seiner Pläne ansieht. Überdies gehen die Ansichten der Gesellschaftsmitglie-
der über die relative Wichtigkeit ihrer Pläne auseinander. Diese Divergenzen stel-
len für Hayek nicht bloß anfängliche oder oberflächliche Meinungsverschieden-
heiten dar, die im Verlauf einer vernünftigen Auseinandersetzung aller beseitigt
werden könnten. Vielmehr bilden sie einen dauerhaften Grundzug des modernen
sozialen Lebens. Hayeks Diagnose ist hier offensichtlich von seiner Auffassung
praktischer Vernunft beeinflußt. Diese veranlaßt ihn zu glauben, daß zwar alterna-
tive Mittel ihrer Zieleffektivität entsprechend beurteilt und in eine Rangordnung
gebracht werden können, daß aber die Ziele selbst (in diesem Fall: die individuel-
len Lebenspläne) sich jeder vernunftgeleiteten Bewertung entzögen, da sie Gegen-
stände seien, »die in letzter Instanz nie rational sein können und über die kein
rationales Argument Übereinstimmung schaffen kann, wenn diese nicht schon von
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 41
vornherein da ist«>*, Daraus folgert er, daß es einen Archimedischen Standpunkt,
von dem aus eine politische oder andere Autorität die Konflikte der individuellen
Lebensvorstellungen vernünftig lösen könnte, nicht geben kann und daß deshalb
jede Rangordnung individueller Lebenszwecke, die sie zur Lösung der Konflikte
vorschlägt, gleichermaßen irrational und außerstande ist, allseitige Zustimmung zu
finden. Der Pluralismus teils konfligierender Lebensvorstellungen ist für Hayek
eine wesentliche Tatsache der modernen Gesellschaft.
(2) In der modernen Gesellschaft gibt es nach Hayek keine allseits geteilte Vor-
stellung sozialer Gerechtigkeit. Die Menschen sind sich uneinig darüber, nach wel-
chen Kriterien oder Prinzipien die Vorteile der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
unter den Gesellschaftsmitgliedern verteilt werden sollen. Es gibt, schreibt Hayek,
»kein anerkanntes oder erkennbares allgemeines Prinzip für distributive Gerech-
tigkeit«>*. Wiederum betrachtet er diese Uneinigkeit nicht als einen Umstand, der
gegenstandslos würde, wenn die Menschen nur vernünftiger wären, sondern er
sieht in ihm einen Grundzug des modernen Daseins, der in der begrenzten Ver-
nunftfahigkeit des Menschen wurzelt. Hayek glaubt, es gebe kein philosophisches
Argument, das imstande wire, ein Verteilungsprinzip zu identifizieren, welches
vernünftige Menschen akzeptieren müßten. Er betrachtet deshalb die Meinungs-
verschiedenheiten über die Prinzipien der Gerechtigkeit als unabänderliche
Grundtatsache der modernen Gesellschaft.
(3) Für das Wirtschaftssystem einer modernen Gesellschaft ist gemäß Hayek
nicht nur die Arbeitsteilung, sondern auch eine »Wissensteilung« *, eine »Zerstük-
kelung des Wissens« *, charakteristisch. Niemand, auch keine Regierung, könne je
im einzelnen wissen, welche Güterpräferenzen die Mitglieder der Gesellschaft
besäßen. Niemand könne für die gesamte Gesellschaft wissen, »welche Art von
Gegenständen und Leistungen verlangt würden und wie dringlich« #2. Dieses Wis-
sen sei immer das unvollständige Wissen einzelner, das somit über die ganze
Gesellschaft verstreut sei. Das gleiche gilt Hayek zufolge auch für das Wissen um
die in der Gesellschaft vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen
sowie die nutzbaren Rohstoffe und Maschinen. Niemand könne jemals insgesamt
wissen, welche Menschen zu welchen Tätigkeiten begabt seien, welche der Aber-
millionen vorhandener Dinge als Ressourcen und Kapital eingesetzt werden könn-
ten und wie sie zu kombinieren wären, damit möglichst effizient jene Güter produ-
ziert werden, denen die Menschen nachfragen. Das Wissen um Präferenzen und
Produktionsfaktoren sei nun, so Hayek, nicht nur räumlich verstreut, sondern
auch zeitlich flüchtiger Natur, indem es oft nur vorübergehend gelte und rasch ver-
38 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung (FN 2), S. 53.
39 Hayek, Liberalismus (FN 29), S. 32.
40 Friedrich A. Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach/Zürich 1952,
S. 70.
41 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung (FN 2), S.30.
42 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 254.
ZfP 40. Jg. 1/1993
42 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
alte. Nebst seiner Verstreutheit und Flüchtigkeit bedeutsam ist ferner teilweise
auch die Latenz wirtschaftlicher Information. Oft, sagt Hayek, liege gar nicht
offen zutage, welche Kombination von Produktionsfaktoren tatsächlich die effi-
zienteste sei. Welche Produktionsmethode unter den jeweils gerade gegebenen
Bedingungen die billigste sei, müsse häufig von unternehmerischen Menschen erst
entdeckt werden, manchmal fast von Tag zu Tag“. Dabei gehe es nicht nur um
die Neukombination an sich bereits bekannter Produktionsmittel, sondern auch
darum, für bekannte Dinge neue, noch produktivere Verwendungen zu finden.
Worin diese bestünden, sei nicht allein von technischen Gegebenheiten abhängig,
sondern auch von den Preisen für die einzelnen Produktionsfaktoren. Zusammen-
gefaßt bedeutet dies für Hayek: Die Verstreutheit, Flüchtigkeit und Latenz der
wirtschaftlich relevanten Daten ist ein modernes Faktum, das sich nicht beseitigen
läßt. Ein Wirtschaftssystem kann mit dieser Tatsache nur besser oder schlechter
zurechtkommen; dies wird sich in seiner Fähigkeit, allgemeinen Wohlstand zu
produzieren, niederschlagen.
Mit diesen Ausführungen ist die instrumentelle Begründungsstrategie Hayeks
ausreichend umrissen, und wir können uns dem letzten Schritt, der Argumentation
im einzelnen und den Schlußfolgerungen, zuwenden. Bekanntlich läßt sich Hayek
dabei von der Frage leiten: Welcher der beiden Koordinationsmechanismen,
Markt oder Plan, ist angesichts der genannten Grundtatsachen modernen gesell-
schaftlichen Zusammenlebens imstande, die vorausgesetzten Ziele, nämlich inner-
gesellschaftlichen Frieden und allgemeinen Wohlstand (sowie ım Falle des Sozia-
lismus: eine gerechte Verteilung), zu erreichen?
4. Hayeks Gründe für das Scheitern des Sozialismus
Für Hayek kann über die Antwort auf die gestellte Frage kein Zweifel bestehen.
Der vom Sozialismus bevorzugte Koordinationsmechanismus tauge nicht, weil er
mit keiner der drei Grundtatsachen moderner Gesellschaften in einer akzeptablen
Weise fertigwerde. Zusammengefaßt lautet Hayeks Kritik folgendermaßen:
— Indem sie den Menschen die Arbeit vorschreibt, maßt sich die Planwirtschaft an,
über den Wert oder Unwert der möglichen individuellen Strebungen und Pläne
zu befinden. Da die menschliche Vernunft solche Wertungen vorzunehmen
außerstande ist, sind alle Leitungsanweisungen, die eine zentrale Planungsin-
stanz erläßt, gleichermaßen willkürlich. Die Planwirtschaft löst also die
Ansichtsunterschiede der Menschen darüber, welche individuellen Tätigkeiten
und Lebenspläne es wert sind, ausgeführt zu werden, indem sie allen Gesell-
schaftsmitgliedern einfach ihre eigenen Wertvorstellungen aufzwingt. Eine sol-
che »Lösung« bietet keine Grundlage für einen dauerhaften innergesellschaftli-
chen Frieden *.
43 Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung (FN 40), S. 252.
44 Z.B. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (FN 1), S. 106 f.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 43
— Eine Planwirtschaft kann nur eine spezifische Vorstellung der Verteilungsge-
rechtigkeit fördern. Indem sie sich auf ein bestimmtes Verteilungsprinzip oder
-kriterium festlegt, maßt sie sich erneut eine moralische Autorität an, die weder
ihr noch sonst einer Instanz zusteht, und unterwirft die Gesellschaftsmitglieder
moralischen Ansichten, die diese nicht alle teilen und für die rationale Gründe
nicht beigebracht werden können. Überdies würgt die Durchsetzung einer
bestimmten, starren Gerechtigkeitsvorstellung jeden effizienten Gebrauch der
vorhandenen wirtschaftlichen Mittel ab und bedeutet, stillschweigend den Tod
von Milliarden und die Verarmung der übrigen hinzunehmen ®.
— Indem sie die Produktion und Verteilung zentral lenkt, verhindert die Planwirt-
schaft schließlich auch die optimale Nutzung des in der Gesellschaft existieren-
den, aber verstreuten, flüchtigen und teils latenten Wissens. Dieses Wissen,
schreibt Hayek, sei so verstreut, daß es unmöglich sei, es systematisch zu sam-
meln und einer zentralen Instanz zu übermitteln, die dann gestützt darauf die
Wirtschaft organisiere“*. Eine zentralgelenkte Wirtschaft ist deshalb außer-
stande, allgemeinen Wohlstand zu schaffen.
Wie nicht anders zu erwarten ist, fällt Hayeks Gesamturteil über den Sozialis-
mus und den von diesem favorisierten Koordinationsmechanismus vernichtend
aus. Der Sozialismus vermöge weder den innergesellschaftlichen Frieden auf
Dauer zu gewährleisten noch könne er allgemeinen Wohlstand schaffen - und
soziale Gerechtigkeit erreiche er nur um den Preis verbreiteter Armut und wirt-
schaftlicher Stagnation. Doch wie steht es mit dem Liberalismus und dessen Koor-
dinationsverfahren, dem Markt? An dieser Stelle soll in einem Vorgriff Hayeks
Antwort kurz angedeutet werden. Die liberale Methode, sagt Hayek, beschränke
sich darauf, gewisse Regeln vor allem über die Institutionen des Privateigentums
und des Vertrags festzulegen; im Rahmen dieser Regeln setze sich dann von selbst
ein Prozeß der wirtschaftlichen und sozialen Selbstkoordination in Gang. Die libe-
rale Methode sei erfolgreich, weil sie alle drei Grundtatsachen modernen Lebens
in geeigneter Weise berücksichtige. Sie übertrage keiner Instanz oder Person die
Aufgabe zu entscheiden, welche der konkurrierenden individuellen Lebenspläne
Vorrang genießen sollten, und vermöge dennoch, die konfligierenden Strebungen
der Menschen miteinander zu versöhnen. Sie setze kein bestimmtes Verteilungs-
prinzip durch und bringe dennoch eine Verteilung hervor, gegen die niemand
berechtigterweise Einspruch erheben könne. Und sie überlasse die Nutzung des
verstreuten, flüchtigen und latenten wirtschaftlichen Wissens jenen vor Ort und
ermögliche dennoch die Entfaltung eines Netzes von produktiven Beziehungen,
das dichter und differenzierter sei als alles, was durch zentrale Lenkung je
zustande gebracht werden könne. Auf diese Weise, schließt Hayek, erreiche die
liberale Methode, was überhaupt erreicht werden könne: sozialen Frieden und all-
gemeinen Wohlstand. |
45 Z.B. Hayek, The Fatal Conceit (FN 4), S. 120.
46 Z.B. ebd., S. 77.
ZfP 40. Jg. 1/1993
44 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
Diese Argumente Hayeks sind nun näher zu prüfen. Die nachfolgende kritische
Analyse ist allerdings in mehrfacher Hinsicht beschränkt. So bleibt außer Betracht,
ob die von Hayek vorgetragenen Gründe ausreichen, den Sozialismus zu widerle-
gen. Das Interesse liegt vielmehr auf der Frage, wieweit ihm wirklich eine »wert-
neutrale«, »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus und liberaler Institu-
tionen gelingt. Zudem wird das Argument, das er im Anschluß an die dritte von
ihm erwähnte gesellschaftliche Grundtatsache (die Verstreutheit, Flüchtigkeit und
Latenz der wirtschaftlich relevanten Daten) entwickelt, nicht untersucht. Jenem
Argument wird hier von vornherein hohe Plausibilität zugebilligt. Hayeks
Erkenntnis, daß nur Marktpreise die relativen Knappheiten von Ressourcen und
Gütern ausreichend genau und prompt anzeigen und Märkte somit für eine effı-
ziente Produktion und Allokation unerläßlich sind, stellt eine profunde ökonomi-
sche Einsicht dar“ - eine Einsicht, für deren Richtigkeit die wirtschaftliche Situa-
tion Osteuropas vor 1989 eine eindrückliche Illustration liefert. Freilich dürfen die
Grenzen dieses Arguments nicht übersehen werden. So reicht es zur Rechtferti-
gung spezifisch liberaler gesellschaftlicher Institutionen bei weitem nicht aus. Es
erklärt nur, weshalb in einem modernen Wirtschaftssystem Märkte eine wichtige
Rolle spielen müssen. Doch es läßt eine Reihe von Fragen offen, auf die Liberale
gewiß gern eine Antwort hätten. Es vermag nicht einmal anzudeuten, welche per-
sönlichen und politischen Freiheiten den Bürgern zustehen sollten; es ist außer-
stande anzugeben, wo die Trennlinie zwischen privatem und öffentlichem Sektor
zu ziehen wäre; insbesondere vermag es auch nicht die allfällige Rolle des Staates
in der Wirtschaft näher zu bezeichnen; und auf sich allein gestellt ist es nicht ein-
mal in der Lage zu umreißen, welcherart die Eigentumsordnung sein soll. Es
scheint, andere, vor allem auch eigentlich moralisch-politische Überlegungen müs-
47 Die hier einschlägigen Arbeiten Hayeks sind die drei Artikel über »Sozialistische Wirt-
schaftsrechnung«, die Vorträge »Wirtschaftstheorie und Wissen«, »Die Verwertung des
Wissens in der Gesellschaft«, »Der Sinn des Wettbewerbs« (alle zwischen 1935 und 1946
entstanden und wiederabgedruckt in: Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung
[FN 40]), sowie der Beitrag »Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren« (in Hayek,
Freiburger Studien (FN 10), S. 249-265). Zu seinen Arbeiten über die informationelle
Rolle des Marktes wurde Hayek vor allem durch den Streit über die Möglichkeit bzw.
Unmöglichkeit wirtschaftlicher Kalkulation unter dem Sozialismus angeregt. In diesem
Streit war Hayek zusammen mit Ludwig von Mises Hauptbeteiligter auf seiten der Öster-
reichischen Schule der Volkswirtschaftslehre. Gegen sozialistische Ökonomen wie F. M.
Taylor, O. Lange, A. P. Lerner und H. D. Dickinson argumentierten Mises und Hayek,
daß keine zentrale Planungsbehörde in der Lage sei, die Preisanpassungen, welche sich
im Markt von selbst einstellten, mittels administrativer Festsetzungen nachzuahmen, und
daß deshalb ein die tatsächlichen relativen Knappheiten berücksichtigendes Wirtschaften
unter einem sozialistischen Regime nicht möglich sei. Ausführliche Darstellungen dieser
Auseinandersetzung und der Rolle Hayeks bieten Don Lavoie, Rivalry and Central Plan-
ning. The Socialist Calculation Debate Reconsidered, Cambridge 1985, sowie Israel M.
Kirzner, »The Economic Calculation Debate. Lessons for the Austrians« in: The Review
of Austrian Economics, 2. Jg., 1987, S. 1-18.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 45
sen für die Rechtfertigung nachdrücklich liberaler Freiheitsrechte und weiterer
liberaler Institutionen herangezogen werden.
5. Der Markt und der Meinungsstreit über die Prinzipien der Gerechtigkeit
Zu prüfen sind in diesem und dem folgenden Abschnitt die Gründe für den Libe-
ralismus, d. h. eigentlich den Markt, die Hayek aus den beiden anderen von ihm
angeführten gesellschaftlichen Grundtatsachen heraus entwickelt. Um sie in Erin-
nerung zu rufen: Es handelt sich dabei um die Uneinigkeit der Menschen über die
Forderungen der Gerechtigkeit sowie um den Pluralismus der teils unvereinbaren
individuellen Lebenspläne. Beide könnten das Ziel des innergesellschaftlichen Frie-
dens gefährden. Der vorliegende Abschnitt setzt sich mit dem Streit über die
Gerechtigkeit auseinander. Gegenstand ist Hayeks Behauptung, auf diese Mei-
nungsverschiedenheiten habe nur der Markt eine geeignete Antwort, weil nur er
eine Verteilung vornehme, die den sozialen Frieden gewährleiste. Genauer formu-
liert ist seine These die folgende. Eine Verteilung der Einkommen durch den
Markt bleibe vom Streit über die Prinzipien der Gerechtigkeit unberührt; denn für
diesen Verteilungsmechanismus sprächen Gründe, die jedermann akzeptieren
müsse, weil sie außermoralischer Natur seien und ihre Gültigkeit somit von jener
Auseinandersetzung nicht tangiert und nicht beeinträchtigt werde.
Hayek beginnt mit der Beobachtung, die Menschen seien nicht nur faktisch
über die Forderungen der Verteilungsgerechtigkeit uneins, sondern es existierten
auch »kein objektives Maß«“*, »keine praktikablen Maßstäbe« *” und »kein aner-
kanntes oder erkennbares Prinzip für distributive Gerechtigkeit«°°. Eine rationale
Antwort auf die Frage der Gerechtigkeit könne also nicht gegeben werden. Das
Fehlen einer solchen objektiven Grundlage sei einer der Gründe, weshalb der
Sozialismus verworfen werden müsse. Der Verteilungsgerechtigkeit verpflichtet,
habe dieser die Wahl nur unter gleichermaßen willkürlichen und umstrittenen
Prinzipien. Wie immer man soziale Gerechtigkeit interpretiere, sie werde zu einer
gesellschaftlich »zerstörerischen Kraft« °!. Doch weshalb sollte der Markt mit dem
Gerechtigkeitsstreit fertigwerden? Hayek nennt zwei Gründe.
Die Verteilung im Markt, sagt Hayek, ist Ergebnis eines unpersönlichen Prozes-
ses und Resultat zahlloser unbeabsichtigter Folgen individuellen wirtschaftlichen
Handelns. Niemand entscheide im Markt, wie groß jedermanns Einkommen sein
soll. Niemand könne sich deshalb berechtigterweise über seine Lage innerhalb der
Einkommensverteilung beklagen. Niemanden könne man im Markt darum eines
48 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 119.
49 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 127.
50 Hayek, Liberalismus (FN 29), S. 32.
51 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 185.
ZfP 40. Jg. 1/1993
46 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
ungerechten Verhaltens bezichtigen. Die Menschen könnten nur für die beabsich-
tigten Folgen ihrer Handlungen und Transaktionen getadelt werden °2.
Hayek gibt einen zweiten Grund an. Märkte, so meint er offenbar, würden
auch funktionieren, ohne daß man wisse, was die Verteilungsgerechtigkeit fordere.
Die Gerechtigkeit verlange von uns sogar, uns eines Urteils zu enthalten, wenn wir
ihre spezifischen Prinzipien nicht kennen. In diesem Sinn schreibt er: »Unpar-
teiisch sein heißt nämlich, bestimmte Fragen unbeantwortet lassen . . .« 5°. Densel-
ben Gedanken scheint Hayek auch anderswo im Sinne zu haben. Man kann ihn
folgendermaßen umschreiben: Wenn wir nicht wissen, worin die Forderungen der
Gerechtigkeit bestehen, und wenn wir nicht in der Lage sind, all die unendlich vie-
len Einzeltatsachen zu berücksichtigen, die wir für eine gerechte Aufteilung des
Einkommens (nach moralischem Verdienst usw.) berücksichtigen müßten, dann
sollten wir Gerechtigkeit wenigstens dort walten lassen, wo wir dies tun können.
In der komplexen Gesellschaft der modernen Welt ist es unmöglich zu rekon-
struieren, wie all die vielen, weit zurückliegenden und oft unbeabsichtigten Folgen
des wirtschaftlichen Handelns der einzelnen zur Gesamtverteilung beitragen. Die
Verteilungswirkungen des individuellen wirtschaftlichen Handelns können des-
halb unmöglich moralisch beurteilt werden. Man kann jedoch verlangen, daß
wenigstens die Handlungen der einzelnen selbst gerecht sind, und Regeln gerech-
ten individuellen Verhaltens können festlegen, was ein gerechter Mensch nicht tun
darf. Wenn Hayek die Gerechtigkeit als eine »Anpassung an unsere Unwissen-
heit« ** beschreibt, scheint er genau diesen Gedanken zu meinen.
Hayeks Begründung, weshalb der Markt vom Gerechtigkeitsstreit nicht betrof-
fen wird, läuft auf die Idee hinaus, die Verteilung der Einkommen durch den
Markt sei von jeder moralischen Beurteilung ausgenommen, weil diese Verteilung
einem Prozeß entspringe, der nicht nur unpersönlich, sondern auch natürlich sei.
Diese Idee kehrt in Hayeks Schriften häufig wieder. So sagt er beispielsweise, die
vom Markt vorgenommene Koordination resultiere aus natürlichen, spontanen
und sich selbst ordnenden Anpassungsprozessen; alle Forderungen, diese müßten
gerecht sein, entstammten einem naiven Anthropomorphismus und seien deshalb
fehl am Platz**. Anderswo schreibt er in entschieden polemischem Ton, der Ruf
nach einer gerechten Verteilung gehöre »nicht in die Kategorie des Irrtums, son-
dern in die des Unsinns wie der Ausdruck »ein moralischer Stein«« **. Das Ideal der
Verteilungsgerechtigkeit, folgert Hayek, »entpuppt sich bei näherem Hinsehen als
52 Z. B. Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 114 f. und 118 f.; Hayek, Recht, Gesetzgebung
und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit (FN 18), S. 53-56, 94 f., 102
und 114 f.
53 Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (FN 1), S. 106.
54 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 63 und anderswo.
55 Hayek, The Fatal Conceit (FN 4), S. 73.
56 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 112.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 47
Fata Morgana oder Illusion«°’. Für ihn enthüllt die einfache Einsicht, daß der
Markt ein natürlicher Prozeß ist, die Hohlheit jeder Forderung nach Verteilungs-
gerechugkeit. Und anscheinend glaubt er, diese Einsicht schließe die Auseinander-
setzung um die Frage sozialer Gerechtigkeit ein für allemal ab**.
Freilich ist diese Auseinandersetzung weit davon entfernt, jemals geschlossen
zu sein, ganz einfach deswegen, weil die Selbstkoordination im Markt und die
Verteilung, die sie nach sich zieht, nicht natürliche Tatsachen sind. Erstens ist der
Markt nicht in dem Sinne natürlich gegeben, daß keine Alternative bestünde.
Marktinstitutionen sind menschliche Schöpfungen und nicht Teil der natürlichen
Welt. Mit seinem Kampf gegen den Sozialismus bestätigt Hayek ja nur, daß min-
destens eine grundlegende Alternative existiert. Die Planwirtschaft hat andere Ver-
teilungswirkungen als ein Markt. Die Verteilung im Markt verliert die Erschei-
nung der Natürlichkeit.
Eine Wahl eröffnet sich deshalb zwischen wenigstens zwei unterschiedlichen
Wirtschaftssystemen, und es bedarf einer Begründung, weshalb eine Gesellschaft
sich auf das eine der beiden Systeme festlegen soll. Meines Wissens gibt es nur
eine Stelle, bei der Hayek die Einsicht erkennen läßt, daß auch der Markt eine
politisch-moralische Rechtfertigung erfordert. Wir können, schreibt Hayek, »die
Frage aufwerfen, ob die bewußte Wahl der Marktwirtschaft als Methode zur Len-
kung wirtschaftlicher Handlungen mit ihrer unvorhersehbaren und weitgehend
zufälligen Verteilung der Vorteile eine gerechte Entscheidung ist; wenn wir uns
aber einmal [für den Markt] entschieden haben, ... dann dürfen wir hinterher
nicht mehr fragen, ob die Resultate, die sich im einzelnen für bestimmte Personen
ergeben, gerecht oder ungerecht sind« 5°.
Zweitens ist der Markt nicht in dem Sinne natürlich gegeben, daß er zusammen
mit dem Plansystem die Möglichkeiten, die wirtschaftliche Zusammenarbeit der
Menschen zu ordnen und die resultierende Verteilung zu beeinflussen, erschöpft.
Den Markt oder die Marktwirtschaft gibt es nicht. Marktsysteme sind gestaltbar.
Sie können von Marktprozessen in größerem oder geringerem Ausmaß Gebrauch
machen, und Märkte können in verschiedener Weise durch andere Koordinations-
und Verteilungsmechanismen ergänzt werden. Manchmal scheint Hayek dies zu
verneinen, etwa wenn er vor der »Selbsttäuschung« warnt, wir könnten vom Markt
alle seine Vorteile haben und ihn gleichzeitig nach unserem Willen formen ®. Häu-
fig gesteht er jedoch zu, die im Markt resultierende Verteilung könne ohne Beein-
trächtigung seiner Funktionsfähigkeit und seiner informationsverarbeitenden
Rolle korrigiert werden. Mehr als einmal schlägt er die Einführung eines »Min-
57 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 119.
58 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 133 f. und anderswo.
59 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 118 f.
60 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 144.
ZfP 40. Jg. 1/1993
48 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
desteinkommens für alle«®! vor, und er selbst versichert, Steuern bräuchten den
Marktprozeß nicht zu behindern, jedenfalls so lange nicht, als sie »nach gleicharti-
gen Grundsätzen« erhoben würden *. Im Lichte des Eingeständnisses, daß Markt-
systeme große institutionelle und funktionelle Plastizität besitzen, verliert die Ver-
teilung im Markt den Anschein natürlicher Notwendigkeit weiter.
Wenn selbst innerhalb eines Wirtschaftssystems, das Märkten eine herausra-
gende Bedeutung zuweist, zahlreiche Möglichkeiten zur Beeinflussung der Vertei-
lung bestehen, dann können die vielfältigen Entscheidungen über seine Ausgestal-
tung nicht allein gestützt auf instrumentelle Gründe gefällt werden, sondern erfor-
dern politisch-moralische Überlegungen. Der Entscheid für ein in bestimmter
Weise ausgestaltetes Wirtschaftssystem muß unter anderem aus der Schlußfolge-
rung resultieren, daß es in größerem Maß als jede Alternative jene Werte verwirk-
licht, die für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Existenz der Menschen als
wichtig erachtet werden. Angesichts des offensichtlichen Einflusses, den wirt-
schaftliche Ungleichheiten auf die Lebensaussichten der Menschen haben, muß die
Verteilungsgerechtigkeit einer jener Werte sein, denen das Wirtschaftssystem aus-
reichende Aufmerksamkeit zu schenken hat. Gewiß mögen sich die Menschen
nicht einig sein darüber, wie Verteilungsgesichtspunkte gegen andere Werte wie
individuelle Freiheit auszubalancieren sind. Doch das zeigt nur einmal mehr, daß
die Annäherung bei solchen Meinungsverschiedenheiten und die Rechtfertigung
des je eigenen Standpunktes eigentlich moralischer Argumente bedürfen.
Wie wir sahen, nennt Hayek zwei Gründe für seine Behauptung, der Markt
könne den Gerechtigkeitsstreit umgehen. Die Verteilung im Markt sei ein unper-
sönlicher Prozeß außerhalb jeder individuellen Verantwortlichkeit; niemand
könne deshalb ungerechter Verteilungshandlungen bezichtigt werden; daher
könne es eine ungerechte Verteilung nicht geben. Und: Da niemand wisse, was die
Verteilungsgerechtigkeit fordere, müsse man sich jeden Urteils enthalten; gerecht
zu sein bedeute deshalb, von jeglicher Unterstützung eines bestimmten Vertei-
lungsprinzips Abstand zu nehmen. Es ist nun leichter zu erkennen, was an diesen
Gründen falsch ist. Zwar ist der Markt zugegebenermaßen ein unpersönlicher
Prozeß, doch seine Verteilungen entspringen in systematischer Weise bestimmten
Verfahren und Regeln, die ihrerseits menschlicher Kontrolle unterworfen sind und
modifiziert werden könnten. Märkte sind nicht natürlich gegeben. Ihre Beibehal-
tung, ihre institutionelle Gestalt, die Umverteilungsmechanismen, die ihnen allen-
falls beigeordnet sind, und damit die Gesameverteilungen, die sie nach sich ziehen:
all dies hängt von politischen Entscheiden ab. Diese Entscheidungen rufen nach
einer Rechtfertigung’. Diese wiederum muß eine moralisch-politische Argumen-
61 Hayek, Liberalismus (FN 29), S. 38; Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 3: Die
Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen (FN 10), S. 83.
62 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung (FN 2), S. 189.
63 Ähnlich auch D. Neil MacCormick, »Spontaneous Order and the Rule of Law. Some
Problems« in: Ratio Juris, 2. Jg., 1989, S. 41-54, hier 48-50.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 49
tation einschließen, welche erklärt, weshalb der gewählte unpersönliche Mechanis-
mus wirtschaftlicher Koordination Verteilungsüberlegungen genau jenes Gewicht
geben soll, welches er ihnen faktisch gibt. Eine solche Begründung kann sich nicht
außerhalb des vorhandenen Meinungsstreits über die Forderungen der Gerechtig-
keit bewegen, geschweige denn diesen Konflikt lösen. Doch sie kann ihre eigenen
Antworten auf das Gerechtigkeitsproblem mit Überlegungen näher erklären, die
eine vernünftige Person ernstnehmen muß. Und wie steht es mit dem von Hayek
empfohlenen Verzicht auf eine eigene Gerechtigkeitsvorstellung? Im Gegensatz zu
dem, was Hayek anscheinend glaubt, bleibt im tatsächlichen gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Leben die Verteilungsfrage nie unbeantwortet. Sein Vorschlag,
sich auf kein spezifisches Verteilungsprinzip festzulegen, kommt einer Verteidi-
gung des Status quo (für ihn: die Marktgesellschaft) und dessen Verteilungswir-
kungen gleich.
Während Hayek dem Markt die Fähigkeit zuschreibt, das umstrittene Problem
sozialer Gerechtigkeit zu umgehen, schlägt er in Tat und Wahrheit nur sein eige-
nes Verteilungsprinzip vor. »Jedem nach seinem Marktwert« freilich ist auch bloß
eine Gerechtigkeitsvorstellung unter zahlreichen anderen. Sie kann keinen natürli-
chen, moralischen oder instrumentellen Vorrang beanspruchen. Ihre Rechtferti-
gung muß, wie jene jedes anderen Prinzips, auf moralphilosophischen Argumenten
beruhen. Wie wir sahen, gibt es keinerlei Überlegungen instrumenteller Rationali-
tät, die es als das einzig gangbare Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit auszeich-
nen könnten. Zusammengefaßt läßt sich feststellen: Hayeks Strategie, das Problem
der gerechten Verteilung zu lösen, indem er es von der Traktandenliste der Politik
verbannt, ist zum Scheitern verurteilt. Indem er die Verteilung im Markt als natür-
liches Phänomen darstellt, begeht er genau den »Kategorienfehler«*, dessen er
die Befürworter sozialer Gerechtigkeit bezichtigt.
6. Der Markt und der moderne Pluralismus individueller Lebenspläne
In der modernen Gesellschaft erkennt Hayek nicht nur einen Meinungsstreit über
die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch keinen Konsens über
die Zwecke individueller Lebensgestaltung. Die Menschen hätten unterschiedliche
und oft unvereinbare Lebensvorstellugen. Da keine von allen geteilte Rangord-
nung der individuellen Lebenszwecke existiere, seien sie von einem Streit nie weit
entfernt. Dieser Pluralismus ist Hayek zufolge die letzte der drei gesellschaftli-
chen Grundtatsachen, die ein System sozialer und ökonomischer Zusammenarbeit
und Koordination angemessen berücksichtigen muß, sollte innerer Friede (und all-
gemeiner Wohlstand) verwirklicht werden. Auch hier betrachtet Hayek Markt und
64 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 53.
65 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung (FN 2), S. 17 und
30 f.; Hayek, The Fatal Conceit (FN 4), S. 95.
ZfP 40. Jg. 1/1993
4
50 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
Plan als die Mittel, die Liberalismus und Sozialismus je einsetzen wollen, um jene
letzten politischen Ziele zu erreichen. Der Sozialismus versuche, den Konflikt der
individuellen Strebungen zu lösen, indem er den Menschen ein System aufzwinge,
»bei dem nach einem einheitlichen Gesichtspunkt über die relative Wichtigkeit
miteinander konkurrierender Ziele und mithin über die Verwendung der verschie-
denen Ressourcen entschieden wird«*. Da die Vernunft nicht in der Lage sei, zwi-
schen widerstreitenden Endzwecken zu entscheiden *, sei jeder solche Gesichts-
punkt gleichermaßen willkürlich und gleichermaßen außerstande, allseitige
Zustimmung zu finden. Aus diesem Grund müsse der Sozialismus zu Zwang grei-
fen und sei er unfähig, einen dauerhaften Frieden und Stabilität zu gewährlei-
sten ‘$. Die Methode des Liberalismus, der Markt, hingegen erliege nicht der »irr-
tümlichen Vorstellung, daß eine derartige gemeinsame Skala von Zielen für die
Integration der individuellen Tätigkeiten in eine Ordnung notwendig sei und eine
notwendige Bedingung des Friedens darstelle«*. Die liberale Methode verdanke
ihren instrumentellen Wert teils der »Entdeckung«, »daß Menschen, ohne sich auf
konkrete gemeinsame Ziele einigen zu müssen und einzig gebunden durch
abstrakte Regeln, in Frieden und zu ihrem wechselseitigen Vorteil zusammenleben
können«’°. Es sei die spontane Ordnung des Marktes, so Hayek, »die eine friedli-
che Versöhnung der divergenten Absichten möglich macht«7!.
Hayeks Verteidigung der These, daß der Markt die divergierenden Strebungen
der Menschen harmonisieren kann, beruht weitgehend auf einer rigorosen Anwen-
dung der begrifflichen Unterscheidung von individuellen Mitteln und Zwecken.
Für Hayek ist eines der wichtigsten Charakteristiken des Marktes der Umstand,
daß die sich bildende Ordnung wirtschaftlicher Interaktionen lediglich »mittel-
verknüpft«, nicht aber »ziel-verknipft«7? ist. Hayek zufolge liegen alle Zwecke,
die Individuen verfolgen mögen, außerhalb des Marktes. »Letzten Endes«,
schreibt er, »gibt es keine ökonomischen Ziele«??. Der Marktprozeß besteht in der
»Allokation von Mitteln für die konkurrierenden höchsten Zwecke, die immer
nicht-6konomisch sind« 74, Gewöhnlich sind diese Mittel mannigfach verwendbar,
können also »einer großen Vielzahl von Zwecken dienen«”°. Wenn Hayek die
Ordnung wirtschaftlicher Beziehungen im Markt als »mittel-verknüpft« bezeich-
66 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 112.
67 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung (FN 2), S. 53.
68 Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (FN 1), S. 107; Hayek, Freiburger Studien (FN 10),
S. 112 f.
69 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(EN 18), S. 153.
70 Ebd., S. 184, Anm. ausgelassen.
71 Ebd., S. 155.
72 Ebd., S. 153 und 155.
73 Ebd., S. 156.
74 Ebd., S. 156.
75 Ebd., S. 17.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 51
net, so möchte er damit zum Ausdruck bringen, daß das Geflecht von Transaktio-
nen lediglich der Beschaffung von Mitteln dient, nicht aber schon die Lebenspläne
und Zwecke der Menschen verwirklicht.
Hayek behauptet nun, es sei diese Beschränkung auf Mittel, die es dem Markt
. gestatte, mit dem Pluralismus teils einander widerstreitender individueller Zwecke
_ fertigzuwerden. Es genüge, wenn sich die Menschen innerhalb dieser Mittel auf
eine Zusammenarbeit einigen könnten, damit zwischen ihnen der Frieden sich aus-
breiten könne’®. Eine solche Einigung sei nicht nur notwendig, sondern auch fak-
tisch möglich, und sie äußere sich in den zahllosen Austauschbeziehungen, die die
Menschen untereinander eingingen’’. Zu prüfen ist also, ob diese Idee einer »mit-
tel-verknüpften« Ordnung ein ausreichendes Modell darstellt für eine Gesell-
schaft, die angesichts der Vielfalt teils umstrittener individueller Lebenspläne den
sozialen Frieden bewahren will.
Das wichtigste Anliegen des Liberalismus war stets, daß Recht, politische
Macht und Staatszwang sich nicht einseitig hinter eine bestimmte Vorstellung von
der Bedeutung und vom Sinn des menschlichen Lebens stellen. In der historischen
Erfahrung der Religionskriege wurzelnd, hat dieses Problem auch unter den säku-
laren Bedingungen der modernen Gesellschaft nichts von seiner Eindringlichkeit
verloren. Heute ist nicht weniger umstritten, welche Lebenszwecke das Indivi-
duum verfolgen solle, und jedes Regime — so behauptet der Liberalismus -, das
versuche, eine spezifische Lebensvorstellung durchzusetzen, könne dies nur um
den Preis massiver Repression tun. In der angelsächsischen politischen Philosophie
der letzten Jahre war einer der meistdiskutierten Punkte daher die Frage, ob die
liberale Forderung nach einem in Dingen des individuellen guten Lebens unpartei-
lichen Staat überhaupt zu verwirklichen sei. Verschiedene Kritiker haben behaup-
tet, solche Neutralität sei eine Chimäre und überdies ohnehin unerwünscht, weil es
der Gesellschaft eines solchen Staates an innerem Zusammenhalt fehle’*. Es kann
deshalb nicht besonders erstaunen, wenn sich einige der in dieser Weise herausge-
forderten liberalen politischen Philosophen zur Verteidigung des Neutralitätspo-
stulats unter anderem auch Hayeks Idee einer lediglich »mittel-«, aber nicht »ziel-
verknüpften« Ordnung zugewandt haben. Charles Larmore’”” und Chandran
Kukathas® haben denn auch vorgeschlagen, diese Idee eines »mittel-verknüpften«
Systems ohne gemeinsam geteilte Hierarchie letzter individueller Zwecke als Vor-
bild einer (liberalen) Gesellschaft zu betrachten.
76 Ebd., S. 17 und 154 f.
77 Ebd., S. 17.
78 Eine Übersicht mit zahlreichen Verweisen auf die einschlägige Literatur gibt Kukathas,
Hayek and Modern Liberalism (FN 10), S. 215-220. Für eine Klärung der Zusammen-
hänge zwischen Liberalismus und Neutralität siehe Peter de Marneffe, »Liberalism,
Liberty and Neutrality« in: Philosophy & Public Affairs, 19. jg., 1990, S. 253-274.
79 Charles Larmore, Patterns of Moral Complexity, Cambridge 1987, S. 107.
80 Kukathas, Hayek and Modern Liberalism (FN 10), S. 220.
ZfP 40. Jg. 1/1993
4*
52 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
Um herauszufinden, wie ergiebig diese Idee Hayeks für den Liberalismus sein
könnte, muß man die »friedliche Versöhnung der divergenten Absichten« ®! analy-
sieren, die der Markt angeblich zustande bringt. Nun ist es ein unabänderliches
Element des menschlichen Daseins, daß materielle Güter knapp sind. Eine Gesell-
schaft sieht sich daher vor das Problem gestellt, wie zwischen den rivalisierenden
Ansprüchen, die die Menschen auf diese Mittel erheben, zu entscheiden ist. Für
Hayek liegt seine Lösung im Markt und dessen Preissystem. Es sei die Aufgabe
des Marktes, »die konkurrierenden Ziele dadurch miteinander in Einklang zu
bringen«, daß entschieden wird, »für welche von ihnen die beschränkten Mittel
verwendet werden sollen«®2. Dabei betrachtet er es als einzigartigen Vorzug des
Marktes, daß dieser die Zweckabstimmung vornehmen kann, ohne eine bestimmte
Zielhierarchie durchzusetzen und irgendeine Ansicht über das, was wichtig oder
weniger wichtig ist, für alle verbindlich zu erklären ®. Es scheint diese Fähigkeit zu
sein, die den Markt als Modell einer liberalen Gesellschaft anziehend macht. Doch
Hayeks Sichtweise ist unrichtig. Der Markt bringt nicht konkurrierende Zwecke in
Einklang, sondern bestenfalls konkurrierende Ansprüche, die die Menschen im
Namen ihrer Ziele auf knappe Mittel erheben. Denn es gibt in einem strikten Sinn
für Hayek gar keine wirtschaftlichen Ziele; diese sind stets außerhalb des Marktes.
Zwar kann, wie Allen Gibbard * in einem anderen Zusammenhang festgestellt hat,
ein Preissystem die einander widerstreitenden Ansprüche harmonisieren, die die
Menschen auf begrenzte Ressourcen erheben, und gleichwohl jeder Person viele
Wahlmöglichkeiten belassen. Doch diese »Harmonisierung« von Ansprüchen ist
etwas anderes als die »Versöhnung« von Zielen, die Hayek meint. Diese Feststel-
lung mag spitzfindig erscheinen, doch sie ist entscheidend, wenn es darum geht,
das »liberale Potential« abzuschätzen, das der Idee einer »mittel-verknüpften«
Ordnung innewohnt, und herauszufinden, wie weit der Markt den innergesell-
schaftlichen Frieden zu sichern vermag. _
Die Fähigkeit des Individuums, seine Pläne zu verwirklichen, hängt von seiner
Fähigkeit ab, die dazu notwendigen Mittel im Markt zu kaufen. Nun kann die
Verteilung der Einkommen im Markt und damit die Verteilung der Chancen auf
solche Mittel höchst ungleich sein, wie Hayek selbst zugibt®. Vielen könnte der
Markt also selbst die bescheidensten Aussichten auf ein Leben nach ihren eigenen
Vorstellungen verweigern. Solches wirtschaftliche Elend bildet aber den Nährbo-
den für »große Unzufriedenheit und heftige Reaktionen«®. Aus Klugheitsgrün-
81 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 155.
82 Ebd., S. 156.
83 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 112.
84 Allen Gibbard, »What’s Morally Special About Free Exchange« in: Social Philosophy &
Policy, 2. Jg., Nr. 2, S. 20-28, hier S. 20.
85 Hayek, Die Verfassung der Freiheit (FN 10), S. 53 f.; Hayek, Recht, Gesetzgebung und Frei-
heit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit (FN 18), S. 117.
86 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier
Menschen (FN 10), S. 83.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 53
den ist Hayek deshalb für ein soziales Sicherheitsnetz — als Vorsichtsmaßnahme
»gegen Verzweiflungsakte der Bedürftigen«. Damit spricht er freilich selbst das
Urteil über die angebliche Fähigkeit des Marktes, Frieden und soziale Harmonie
zu stiften: Auf sich selbst gestellt, kann der Markt ein höchst explosives soziales
Klima erzeugen. Nur wenn umfassende Umverteilungsmaßnahmen ihn ergänzen,
vermag er seine soziale Instabilität zu überwinden.
Wie erwähnt kann der Markt eine Art »Versöhnung« erreichen, allerdings nicht
eine »Versöhnung der individuellen Ziele«. Der Markt und sein Preissystem ord-
nen die konkurrierenden Ansprüche, die die Menschen auf knappe Güter erheben.
Dabei ist Hayeks Ausdruck »Versöhnung« ® irreführend. Der Markt ist ein Ver-
fahren, um zwischen konkurrierenden Ansprüchen zu entscheiden. Die knappen
Güter gehen an jene, die in der Lage und willens sind, für sie zu bezahlen. Der
Markt harmonisiert nicht Ansprüche. Er ist kein Verfahren, das den Menschen die
Vorstellung gestatten würde, die sich ergebende Verteilung sei das Resultat einer
sorgfältigen und fairen Abwägung all der verschiedenen Ansprüche und Bedürf-
nisse oder das Ergebnis eines fairen Aushandlungsprozesses, in dessen Verlauf alle
Beteiligten vergleichbare Konzessionen machen mußten, mit denen sie leben kön-
nen. Der Markt ist selbst für die drängendsten Bedürfnisse blind. Wie sogar
Hayek einräumt, stellt dieser nicht sicher, »daß das wichtigere einen Vorzug vor
dem weniger wichtigen genießt«®°. Wer im Markt kein Einkommen erzielt, steht
mit leeren Händen da. Es wäre zynisch zu behaupten, die Ansprüche der Armen
würden »versöhnt« oder »in Einklang gebracht« mit jenen der Reichen.
Woran scheitert also Hayeks Argument? Entgegen dem, was es suggeriert, kann
nicht a priori gezeigt werden, daß der Markt in der Lage ist, sozialen Frieden zu
stiften. Die Legitimität des Marktes (die Grundlage solchen Friedens) hängt maß-
geblich von seinen Leistungen ab, und die Verteilung bildet einen wichtigen Teil
dieser Leistungen. Der Markt wird akzeptiert als Verfahren der Güterzuweisung,
wenn die entstehende Verteilung jedermann Zugang wenigstens zu jenen Gütern
verschafft, die für ein erträgliches Leben notwendig sind. Wie aber der Markt Ein-
kommen und damit Chancen auf Güter verteilt, ist eine empirische Frage. Hayeks
eigene Befürchtungen deuten an, daß der Markt Verteilungen nach sich ziehen
kann, welche die Bedürftigen zu »Verzweiflungstaten« provozieren. Sein Argu-
ment beruht ausschließlich auf der begrifflichen Unterscheidung zwischen vielseitig
verwendbaren wirtschaftlichen Mitteln und außerwirtschaftlichen individuellen
Zwecken. Gestützt auf diese Unterscheidung versucht er zu zeigen, daß ein Wirt-
schaftssystem, das sich auf die Beschaffung solch allgemein verwendbarer Mittel
beschränkt, in der Lage ist, den Konflikten, die aus dem Pluralismus und der Strit-
tigkeit der Ziele des Lebens erwachsen können, auszuweichen. Doch er erkennt
87 Hayek, Die Verfassung der Freiheit (FN 10), S. 361.
88 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 155 und anderswo.
89 Ebd., S. 156.
ZEP 40. Jg. 1/1993
54 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
nicht, daß dieses Argument allenfalls plausibel sein könnte, sofern jeder einzelne
im Markt überhaupt genug kaufen kann, um ein selbstgestaltetes Leben zu führen.
In einem reinen Marktsystem wird dieser empirische Zustand sich kaum je einstel-
len. Anders gesagt: das Argument nimmt an, soziale Unrast entstehe nur aus Kon-
flikten über die Zwecke des Lebens; es übersieht, daß manche Menschen vielleicht
allein schon deswegen zu Gewalt greifen, um sich überhaupt wenigstens gewisse
minimale Mittel zu sichern.
Inwieweit bietet nun die Idee einer »mittel-verknüpften« Ordnung ein Modell
einer liberalen Gesellschaft, die zwischen den vielfältigen Lebenszielen ihrer Mit-
glieder neutral ist? Wie gezeigt, leistet der Markt nichts zur Versöhnung zwischen
Menschen, die miteinander unvereinbare Ziele verfolgen. Er entscheidet bloß zwi-
schen rivalisierenden Ansprüchen auf knappe Güter. Aber wie wird in einer
Hayekschen Marktgesellschaft der mögliche Konflikt zwischen antagonistischen
Zielen vermieden oder gelöst? Die »Versöhnung divergenter Ziele« wird herbeige-
führt durch die allgemeine Befolgung von Regeln gerechten individuellen Verhal-
tens. Diese definieren, was zulässig oder unzulässig ist, indem sie jedermann eine
»geschützte Sphäre« % autonomen Entscheidens zuweisen. Ein Individuum ist frei
in der Verfolgung seiner Ziele, solange deren Realisierung keinen Übergriff auf
den Autonomiebereich anderer zur Folge hat. Auf diese Weise werden innerhalb
Hayeks System die individuellen Ziele miteinander »versöhnt« oder »in Einklang
gebracht«. Doch eigentlich werden sie überhaupt nicht miteinander »versöhnt«.
Vielmehr sind Lebensziele, deren Verwirklichung die autonome Sphäre anderer
Gesellschaftsmitglieder verletzt, ganz einfach verboten. Wenn die Mitglieder einer
Hayekschen Marktgesellschaft eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensziele verfol-
gen dürfen, so ist dies möglich, nicht weil diese Gesellschaft eine »mittel-ver-
knüpfte« Ordnung darstellt, sondern weil sie auf liberalen Regeln und Institutio-
nen beruht. Dies bedeutet, daß die Art oder der Grad der Neutralität, die eine
Gesellschaft ihren Mitgliedern bietet, nicht von der »Mittel-Verknüpftheit« ihres
Wirtschaftssystems abhängt, sondern von der Art der Regeln, die sie durchsetzt.
Worin diese Regeln bestehen, läßt sich aus Hayeks Idee einer spontanen Ord-
nung”! — die die Selbstkoordination im Markt idealtypisch beschreibt - nicht ent-
nehmen. Auch sein Hinweis, diese Regeln seien vor allem jene des Privateigen-
tums, des Vertrags und des Schadenersatzrechts ??, hilft nicht weiter, denn er ist
viel zu unbestimmt. Dies erkennt auch der frühe Hayek selbst, wenn er vor dem
»Irrtum« warnt, »daß die Formeln »Privateigentum« und >Vertragsfreiheit« unsere
90 Hayek, Freiburger Studien (FN 10), S. 115.
91 Ich diskutiere diese gesellschaftstheoretische Idee, der Hayek eine weit über den Markt
hinausreichende Bedeutung zuschreibt, ausführlich in Roland Kley, »F. A. Hayeks Idee
einer spontanen sozialen Ordnung: eine kritische Analyse« in: Kölner Zeitschrift für Sozio-
logie und Sozialpsychologie, 44. Jg., 1992, S. 12-34.
92 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit
(FN 18), S. 151.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 55
Probleme beantworten«?’. Um nur ein offensichtliches Beispiel zu erwähnen: Es
muß entschieden werden, ob die Regeln über die Vertragsfreiheit in libertärem
Geist oder mit paternalistischer Strenge definiert werden sollten. Die je bevor-
zugte Definition beeinflußt ihre Neutralität zwischen den diversen individuellen
Lebensvorstellungen. Von diesen eher wirtschaftlichen Regeln abgesehen, stellt
sich auch das Problem, wie das politische System aussehen sollte, in das der Markt
eingebettet wird. Wiederum ist Hayeks Ansatz außerstande, die politischen Rah-
meninstitutionen näher zu bestimmen. Wiederum hat Hayek über wichtige Indivi-
dualrechte wie etwa die Freiheit ungehinderten politischen, künstlerischen und
religiösen Ausdrucks nichts zu sagen. Die Unterscheidung, die Hayek zwischen
wirtschaftlichen Mitteln und außerwirtschaftlichen individuellen Zwecken zieht,
läßt ihn völlig den Umstand übersehen, daß gewisse individuelle Zwecke und
Lebensvorstellungen zu ihrer Verwirklichung nicht so sehr marktfähiger Güter als
vielmehr gewisser institutioneller Voraussetzungen wie etwa Individualrechte
bedürfen *.
Die hier vorgetragenen Einwände lassen sich wie folgt zusammenfassen. Es ist
nicht die »Mittel-Verknüpftheit« einer Marktgesellschaft, sondern es sind ihre
Regeln, Rechte und Gesetze, welche den Charakter und das Ausmaß an liberaler
Unparteilichkeit bestimmen. Der genaue Inhalt dieser Regeln ist weder naturgege-
ben noch kann er Hayeks sozialtheoretischer Beschreibung des Marktes entnom-
men werden. Welches die Forderungen liberaler Neutralität sind und wie diese in
liberalen Rechtsregeln zum Ausdruck kommen müssen, ist weitenteils ein poli-
93 Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung (FN 40), S. 148.
94 Damit wird nicht behauptet, in Hayeks Liberalismus kämen Individualrechte wie etwa die
Meinungsäußerungsfreiheit nicht vor. Wann immer er seine Liberalismusvorstellung prä-
sentiert, z. B. in seinem enzyklopädischen Beitrag Liberalismus (FN 29) oder im Buch Die
Verfassung der Freiheit (FN 10), erwähnt er solche Rechte als Bestandteil des liberalen
Credo. Kritisiert wird hier, daß seine Idee, der Markt gestatte das friedliche Nebeneinan-
der der unterschiedlichsten Lebenspläne, keinen ausreichenden theoretischen Rahmen für
eine systematische Begründung solcher Individualrechte abgibt. Hayeks Aufzählung und
Diskussion von Grundrechten hat damit etwas zufälliges an sich.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch das weitgehende Fehlen von individu-
eller Freiheit als eines höchsten Wertes. Zwar beruft Hayek sich gelegentlich auf einen
kantisch anmutenden Autonomiebegriff, etwa wenn er schreibt, Zwang sei »gerade des-
halb ein Übel, weil er auf diese Weise ein Individuum als denkendes und wertendes
Wesen ausschaltet und es zum bloßen Werkzeug zur Erreichung der Zwecke eines ande-
ren macht« (Hayek, Die Verfassung der Freiheit (FN 10), S. 28). Doch Hayeks Autonomie-
begriff ist nicht der kantische Begriff moralischer Selbstgesetzgebung, sondern meint
letztlich die Freiheit des einzelnen, sein Leben nach eigenen Vorstellungen führen zu
können. Auch als Freiheit auf ein eigenes Leben taucht dieser Freiheitsbegriff nur gele-
gentlich auf, und er genießt selten die Bedeutung eines höchsten Zwecks. Meist versteht
Hayek Freiheit instrumentell als Bedingung anderer Zwecke, etwa der Förderung des
materiellen Fortschritts (siehe hierzu Reinhard Zintl, /ndividualistische Theorien und die
Ordnung der Gesellschaft. Untersuchungen zur politischen Theorie von James M. Buchanan
und Friedrich A. v. Hayek, Berlin 1983, S. 194).
ZfP 40. Jg. 1/1993
56 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
tisch-philosophisches Problem. Daraus muß geschlossen werden, daß Hayeks Idee
einer »mittel-verknüpften« Ordnung keinerlei bedeutsamen Beitrag zur Debatte
über liberale Unparteilichkeit oder Neutralität zu leisten vermag. All dies heißt
natürlich nicht, daß in einer Gesellschaft, die sich als liberal verstehen will, Märkte
keine wichtige Rolle spielen würden — doch aus anderen Gründen als jenen libera-
ler Neurralität.
7. Eine abschließende Beurteilung von Hayeks Rechtfertigungsstrategie
F. A. Hayeks Versuch, den Liberalismus gegen die Herausforderungen durch den
Sozialismus »wissenschaftlich« zu verteidigen, hat die Gestalt einer instrumentel-
len Rechtfertigung. Hayek, für den Liberalismus und Sozialismus vor allem zwei
diametral verschiedene Mechanismen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Koor-
dination sind, will zeigen, daß nur der liberale Mechanismus — nur der Markt,
nicht aber die Planwirtschaft - in der Lage ist, mit drei wichtigen Grundtatsachen
modernen sozialen Lebens fertigzuwerden und dadurch Frieden und allgemeinen
Wohlstand zu sichern. Im Falle aller drei von Hayek genannten Tatsachen freilich
ist seine Rechtfertigung nicht schlüssig oder scheitert überhaupt.
Erstens: Zwar stellt die Einsicht, daß in modernen Gesellschaften Märkte uner-
läßlich sind, soll ein Wirtschaftssystem mit der Verstreutheit, Flüchtigkeit und
Latenz der für eine effiziente ökonomische Tätigkeit relevanten Daten zu Rande
kommen, eine wichtige Erkenntnis dar. Doch gestützt darauf vermag Hayek nicht
anzugeben, welche Spielräume dem Markt zuzuweisen sind. Zweitens: Wenn er
den Markt als unpersönlichen, ja »natürlichen« Koordinationsmechanismus dar-
stellt, der vom Streit über die Forderungen der Verteilungsgerechtigkeit unberührt
bleibe und ihn deshalb überwinden könne, schlägt er bloß seine eigene, nicht weni-
ger strittige Vorstellung distributiver Gerechtigkeit vor. Und drittens: Wenn er den
Markt als jene Institution empfiehlt, die den Pluralismus teils konfligierender indi-
vidueller Lebenszwecke bewältigen und diese miteinander versöhnen könne, ver-
kennt er, daß ein friedliches Nebeneinander stark unterschiedlicher Lebensvorstel-
“Jungen nicht in erster Linie vom Markt, sondern von einer liberalen Rechtsord-
nung sichergestellt wird, und er übersieht, daß soziale Unrast ihren Ursprung
nicht nur im Konflikt individueller Lebenspläne, sondern auch in einer kraß
ungleichen Verteilung der wirtschaftlichen Mittel haben kann.
Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus scheitert vor allem
deshalb, weil sie über ein Plädoyer für den Markt nicht hinauskommt. Zwar
schreibt Hayek, der Liberalismus befasse »sich mit den Aufgaben des Staates und
vor allem mit der Beschränkung seiner Macht«”, und offensichtlich erwartet er
von einer liberalen politischen Theorie ein »Kriterium, mit Hilfe dessen man ent-
scheiden (kann), welches die eigentlichen Aufgaben der Regierung (sind)«”*. Die
95 Hayek, Liberalismus (FN 29), S. 35.
96 Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung (FN 2), S. 91.
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 57
für den Hayekschen Liberalismus entscheidende Frage wäre demnach, wie die
Selbstkoordination, die der Markt institutionalisiert, mit der zentralen Koordina-
tion durch den Staat zu kombinieren wäre, damit für die Mitglieder einer liberalen
Gesellschaft optimale Lebensschancen resultieren. In seiner polemischen Ausein-
andersetzung mit dem Sozialismus aber identifiziert er den Liberalismus kurzer-
hand mit dem Markt. Diese Gleichsetzung bekräftigt er mit seiner im Buch »Der
Weg zur Knechtschaft« aufgestellten und später weitgehend beibehaltenen These,
wonach jeder Versuch eines »Mittelwegs«, der Markt und Planelemente vereint,
unweigerlich in ein totalitäres Regime degeneriert. Hayeks manichäische Perspek-
tive ist jedoch unhaltbar. Nicht nur gibt es keine reinen Marktgesellschaften und
bieten die Länder Westeuropas seit dem Zweiten Weltkrieg gute Beispiele dafür,
daß die Bewahrung individueller Freiheit mit ausgedehnten staatlichen Marktin-
terventionen durchaus verträglich sein kann ”. Vor allem auch belegt ein interna-
tionaler Vergleich, daß erfolgreiche Länder sich häufig auch zentraler Steuerungs-
mechanismen bedienen. Zwar trifft zu, daß die gemessen am Bruttosozialprodukt
an der Spitze stehenden Länder sich in starkem Maße auf Märkte stützen. Doch
sobald man bei der Beurteilung weitere Erfolgsindikatoren wie Steigerung der
Lebenserwartung, Senkung der Kindersterblichkeit, Schulbildung für alle und
Bekämpfung der Unterernährung heranzieht, zeigt sich, daß es bei weitem nicht
immer die ausgeprägt marktgestützten Systeme sind, die am besten abschneiden °.
Gewiß sprechen Hayeks Einsichten in die informationelle Rolle des Marktes
entscheidend gegen jeden Versuch einer umfassend zentralgelenkten Wirtschaft.
Märkte sind unerläßlich. Doch diese Erkenntnis läßt noch immer die Frage offen,
die Hayek dem Liberalismus aufgibt, nämlich welchen staatlichen Rahmenbedin-
gungen der Markt zu unterstellen, um welche Mechanismen er zu ergänzen und in
welche Grundrechtsordnung er einzubetten ist. Auf diese Frage hat Hayek selbst
zahlreiche Antworten”, doch sind diese keineswegs das Ergebnis einer systema-
tisch instrumentellen Begründung, sondern entspringen häufig bloßen ad hoc
Überlegungen. Eine ausschließlich instrumentelle Rechtfertigung könnte auch gar
nicht gelingen, weil die von ihm vorausgesetzten Ziele dazu viel zu unbestimmt
und überdies unvollständig sind. Als Ziele eines Gesellschafts- und Wirtschaftssy-
stems postuliert Hayek sozialen Frieden und allgemeinen Wohlstand. Deren intui-
tive Plausibilität verführt dazu, daß man ihre Unbestimmtheit leicht übersieht.
Dies zeigt das Wohlstandsziel besonders deutlich. Erschöpft sich allgemeiner
Wohlstand in der maximal möglichen Steigerung des Bruttosozialprodukts? Oder
97 Siehe John Gray, »The Road to Serfdom: Forty Years On« in: Arthur Seldon (H.),
Hayek’; »Serfdom« Revisited, London 1984, S. 25-42.
98 Siehe Amartya Sen, »What Did You Learn in the World Today?«, Manuskript, Harvard
University 1990.
99 Z.B. in Hayek, Die Verfassung der Freiheit (FN 10), S. 321-480; Hayek, Recht, Gesetzge-
bung und Freiheit. Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen (FN 10),
S. 41-97.
ZfP 40. Jg. 1/1993
58 Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus
ist ein Wirtschaftssystem am Wohlstand der Menschen erst orientiert, wenn es
auch fiir eine Einkommensverteilung sorgt, die jedermann wenigstens ein gewisses
Minimaleinkommen sichert? Oder muß es noch spezifischere Prioritäten verfol-
gen, beispielsweise indem es allen Mitgliedern von vornherein gewisse wichtige
Güter wie einen minimalen Gesundheitsdienst und eine schulische Grundausbil-
dung anbietet? Diese am Ziel allgemeinen Wohlstands angedeuteten Probleme
sind fundamentale Wertfragen, die sich gestützt allein auf instrumentelle Gesichts-
punkte nicht beantworten lassen. Außerdem besitzt weder das von Hayek ange-
führte Wohlstands- noch das Friedensziel einen spezifisch liberalen Charakter.
Instrumentelle Überlegungen allein vermögen die Grundanliegen einer liberalen
Position nicht deutlich zu machen und reichen insbesondere nicht aus, nachdrück-
lich liberale Grundrechte zu rechtfertigen.
Wer aus Wohlfahrtsgründen für den Markt eintritt, ist nicht auch schon poli-
tisch ein Liberaler. Wie die Institutionen einer liberalen Gesellschaft aussehen soll-
ten, läßt sich aufgrund instrumenteller Erwägungen allein nicht beantworten, son-
dern erfordert in erster Linie genuin moralisch-politische Überlegungen. Diese
freilich fallen ins Gebiet der normativen politischen Philosophie, sind also Hayek
zufolge »nichtwissenschaftlich«. Doch deswegen kann man ihnen nicht auswei-
chen.
Zusammenfassung
Friedrich A. Hayeks Behauptung, die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus
und Sozialismus könne wissenschaftlich entschieden werden, ist als Versuch einer
instrumentellen Rechtfertigung des Marktes zu lesen. Hayek, der Liberalismus
weitgehend mit dem Markt und Sozialismus mit der Planwirtschaft gleichsetzt,
will zeigen, daß angesichts gewisser gesellschaftlicher Grundtatsachen nur der
Markt imstande ist, die als gegeben vorausgesetzten Ziele sozialen Friedens und
allgemeinen Wohlstands zu verwirklichen. Diese Rechtfertigungsstrategie scheitert
weitgehend. Entgegen Hayeks Ansicht muß auch im Markt das Problem der Ein-
kommensverteilung gelöst werden, soll soziale Unrast vermieden werden. Ferner
übersieht er, daß eine Gesellschaft nebst dem Markt bestimmter weiterer Institu-
tionen bedarf, um jene liberale Unparteilichkeit zu gewährleisten, welche allein
den zahlreichen unterschiedlichen Lebens- und Weltanschauungen ein friedliches
Nebeneinander garantiert. Von bleibender Bedeutung hingegen sind Hayeks Ein-
sichten in die informationsverarbeitende Rolle des Marktes sowie die daraus gezo-
gene Folgerung, daß moderne Gesellschaften ohne ein ausgedehntes System von
Märkten nicht effizient sein können.
Summary
Friedrich A. Hayek’s claim that the strife between liberalism and socialism can be
decided scientifically must be read as an attempt to justify the market on instru-
Kley . F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus 59
mental grounds. Hayek, who largely identifies liberalism with the market and
equates socialism with the planned economy, wants to show that in view of certain
basic facts of social life only the market can achieve the given ends of social peace
and general prosperity. Yet this instrumental justification mostly fails. Contrary to
what Hayek seems to believe, the problem of income distribution must be
addressed in the market too should social unrest be avoided. Also, he overlooks
the fact that, in addition to the market, society needs certain other institutions as
well if the kind of liberal impartiality is to be established that alone guarantees the
peaceful co-existence of many different conceptions of the good life. However,
Hayek’s insights in the information-gathering and -processing role of the market
are of lasting importance, and the conclusion seems valid that without an extensive
system of markets a modern society cannot possibly be efficient.
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Gangolf Hübinger
Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
Wenn die Eule der Minerva erst aus der Dämmerung den Blick auf die inneren
Zusammenhänge der bürgerlichen Epoche richten kann, dann könnte aus ihrem
rechten Auge der Staatsrechtler Carl Schmitt blicken. Er hat, das ist bekannt, in
überspitzter Polemik den Verbund von Individualismus und Liberalismus für den
Zerfall der politischen Ordnung in der Weimarer Republik verantwortlich
gemacht’. Und hinter ihrem linken Auge könnte sich Max Horkheimer verbergen,
der traditionelle bürgerliche Gesellschaftstheorie gerade deshalb durch eine »kriti-
sche« ersetzen wollte, weil mit dem Untergang des »liberalistischen Bürgertums«
sich die dialektische Verklammerung von Moral und Ökonomie völlig aufgelöst
habe: »Der Begriff der Abhängigkeit des Kulturellen vom Ökonomischen hat sich
geändert. Er ist mit der Vernichtung des typischen Individuums gleichsam vul-
gärmarxistischer zu verstehen als früher«, schreibt Horkheimer 1937 im amerika-
nischen Exil?.
Beide Perspektiven übermitteln ein politisches Bild der bürgerlichen Kulturepo-
che, das nach dem Ersten Weltkrieg zum Stereotyp geworden ist, aber etwas Tau-
tologisches hat. Liberalismus wird durch Individualismus und Individualismus
durch Liberalismus erklärt. Es soll nicht bestritten werden, daß in spezifischer
Wechselwirkung beide das Gesicht des 19. Jahrhunderts geprägt haben, im Gegen-
teil: Individualismus ist das Grundprinzip einer liberalen »Ethik der Weltbeherr-
schung«, die dieses Jahrhundert stärker als die konkurrierenden Ideologien durch-
zieht. Aber die Asymmerrien sollten nicht verschliffen werden; gerade sie sind
aufschlußreich für Brüche im bürgerlichen Selbst- und Weltverständnis. Es ist
müßig, Liberalismus »an sich« zu definieren, drei Eckpfeiler lassen sich dennoch
nennen, auf denen liberale Weltsicht beruht: auf der Idee der autonomen Persön-
lichkeit, auf dem Glauben an menschliche Lernfortschritte in der Geschichte und
auf dem Vertrauen in verfassungsrechtliche Regulierung und Institutionalisierung
von politischer Herrschaft. Die Betonung dieser drei Grundelemente scheint mir
wichtig, um Ralf Dahrendorfs treffende Charakterisierung zu präzisieren: Libera-
lisus bezeichnet ein politisches Handeln, bei dem es darauf ankommt, »die prak-
1 Dazu Klaus Hansen / Hans Lietzmann (H.), Carl Schmitt und die Liberalismuskritik,
Opladen 1988.
2 Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), S. 287; vgl. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter
Schule, München 1988, S. 208 ff.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 61
tische Notwendigkeit von Herrschaft so intim wie möglich mit den größten
Lebenschancen der größten Zahl zu verbinden«°.
»Persönlichkeit« und »Autonomie« gehören für das 19. Jahrhundert zu den
Schlüsselbegriffen der Moderne. Hierzu werden im folgenden aber gerade die
Spannungen zum Thema gemacht, die sich zwischen Individualismus und den
Ausprägungsformen des Liberalismus in dieser Epoche bürgerlicher Herrschaft
ergeben haben, nicht die vereinfachenden Gleichsetzungen, für die zu Beginn zwei
prominente Beispiele angeführt sind. Denn die schulmäßige Klassifizierung, Libe-
ralismus formiere sich als politische Bewegung entlang der »Idee der autonomen
Persönlichkeit« als Rechts-, Verfassungs- und Wirtschaftssubjekt, besagt an sich
noch nicht viel. Liberale waren nicht zwingend geschulte Kantianer. Ludwig
Uhland etwa, der gefeierte altständische und trotzdem radikale politische Profes-
sor*, unterscheidet sich in seinem Persönlichkeitsbegriff ganz erheblich von der
vernunftrechtlichen Position eines Karl von Rotteck. Noch weit stärker differieren
die Schlußfolgerungen, die daraus auf die erstrebte Sozialordnung gezogen wer-
den. Deren Spannweite ist nicht zuletzt begründet durch ganz unterschiedliche
geistesgeschichtliche Traditionen, in denen Liberale Individualität denken.
Der neuzeitliche »Individualismus« wurzelt in Pietismus, Aufklärung, Roman-
tik und Neuhumanismus. Und Liberalismus, so wie er sich nach 1815 als »Denk-
stile einer außerständischen Intelligenz, vornehmlich von Beamten und Bildungs-
bürgern, entwickelt, richtet seine Entwürfe einer bürgerlichen Gesellschaftsord-
nung sehr selektiv an diesen heterogenen philosophischen Traditionen aus. Allein
die Selbstbezeichnungen machen dies deutlich. So macht der Begriff »Individual is-
mus« selbst erst im letzten Jahrhundertdrittel Karriere, und dort häufig als abwer-
tende Fremdbezeichnung. Von der Sache her reicht das semantische Feld -
begriffsgeschichtlich kaum untersucht — vom aufklärerischen »Autonomie« in den
staatswissenschaftlichen Vormärzlexika, über das romantische »Individualität«,
auch das neuhumanistische »Persönlichkeit« bis zur parteipolitischen Programm-
bezeichnung »Freisinn«. Trotzdem gibt es Generallinien. Die jüngste Gesamtdar-
stellung zum Liberalismus von Dieter Langewiesche unterscheidet für den Vor-
märz zwei konkurrierende Entwürfe von »bürgerlicher Gesellschaft«, an denen
sich politisches Handeln ausrichtet. Der erste zielt auf eine politisch egalitäre
Staatsbürgergesellschaft, die aber ständisch-traditional in ein Acker-, Zunft- oder
Stadtbürgertum eingebunden bleibt. Das Rotteck-Welckersche Staatslexikon ist
hierfür das wichtigste Beispiel. Dagegen zielt der zweite Entwurf, der nur von
einer Minderheit der am »Modell England« orientierten liberalen Reformer vertre-
ten wird (so vom rheinischen Wirtschaftsbürgertum), auf Loslösung von allen
ständisch-korporativen Bindungen’. Der erste Entwurf betont die Domestizie-
3 Ralf Dahrendorf, Lebenschancen, Frankfurt a. M. 1979, S. 134.
4 Dieter Langewiesche, »Der deutsche Frühliberalismus und Uhland« in: Hermann Bausin-
ger (H.), Ludwig Uhland. Dichter, Politiker, Gelehrter, Tubingen 1988, S. 135-148.
5 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 28.
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62 Hiibinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
rung, der zweite die Freisetzung individualistischer — hier paßt auch »besitzindivi-
dualistischer«® — Energien.
Liberalismus ist aber nicht in erster Linie Wirtschaftsdoktrin. Er ist auch eine
ideenpolitische, sozialmentale Bewegung, er ist parteipolitisch organisierte Interes-
senvertretung — und er begründet, wie James Sheehan mit Bezug auf die neuere
Bürgertumsforschung betont, ein spezifisches »moralisches System« von Bürger-
lichkeit’.
Der leitenden Fragestellung, von welcher Persönlichkeitsidee schließen Liberale
auf welche politisch-soziale Ordnung, gehe ich in drei Schritten nach. Drei Phasen
liberalen Gestaltwandels lassen sich unterscheiden und darin jeweils eine andere
»Achse« des innergesellschaftlichen Geftiges* hervorheben. (I) Vormärz und
Revolution 1848/49 stehen unter dem Zeichen des Konstitutionalismus; alle
gesellschaftlichen Konflikte werden als Verfassungsfragen behandelt, das Indivi-
duum wird als Staatsbürger und Rechtssubjekt angesprochen. (II) In der Zeit der
Reichsgründung, dem Beginn auch der Industrialisierung im engeren Sinn, domi-
niert der ökonomische Aspekt, es konkurrieren ein manchesterlich geprägter
Besitzindividualismus mit genossenschaftlichen Projekten der »Selbsthilfe statt
Staatshilfe«. In diesen beiden Teilen kann das Wechselspiel von Individualismus
und Liberalismus unter die Leitfrage gestellt werden: Wie kann »Persönlichkeit«
aus traditionalen Ordnungen entbunden werden? Die Verarbeitung der »Krise der
Moderne« durch den so bezeichneten »Kulturliberalismus« an der Wende zum 20.
Jahrhundert führt dann (III) zu einer entscheidenden Gewichtsverlagerung. Libe-
rale Politiker, Kulturwissenschaftler und Publizisten kehren jetzt die Frage um:
Wie kann »Persönlichkeit« im Zeitalter der industriellen Großbetriebe und des
bürokratischen Machtstaates erhalten werden?
I. Liberalismus und Konstitutionalismus
Im Vormärz lassen sich, angefangen von den pathetischen Freiheitsreden des
Hambacher Festes, bis zur politisch zugespitzten rechtswissenschaftlichen Litera-
tur stets drei Schlagworte herausfiltern, die auf die Freisetzung der »Persönlich-
keit« und Fixierung von »Individualrechten« gemünzt sind: Bildung, Verfassung,
Eigentum. Es sind die Grundbegriffe des liberalen Reformismus, und was sie bein- _
6 C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke,
Frankfurt a. M. 1973.
7 James J. Sheehan, »Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus?« in: Dieter Langewie-
sche (H.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttin-
gen 1988, S. 28—44, hier S. 34.
8 Ich greife hier konzeptionell den Begriff Hans-Ulrich Wehlers auf, um bei der Analyse
gesamtgesellschaftlicher Zusammenhange danach zu fragen, welche der Dimensionen
»politische Herrschaft«, »sozialökonomische Verhältnisse« oder »Kultur« unter einem
spezifischen Gesichtspunkt als strukturdominant angesehen werden kann; Wehler, Deut-
sche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: 1700-1815, München 1987, S. 8 f.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 63
halten, zeigt am besten der Blick in das beliebteste »Bürgerbuch« der Zeit, in Rot-
teck/Welckers »Staatslexikon«. Es warb für sich als »Handbuch für Staatsdiener
aller Grade und Fächer, Mitglieder der Stände-Versammlungen, Gutsbesitzer,
Rentierer, Kaufleute und Fabrikanten und für Gebildete aller Stände«?. Die drei
genannten Artikel, »Bildung«, »Eigentum«, »Constitution«, schreibt Rotteck
selbst. Bildung, so Rotteck, ist die »Freiheit zur Selbstbildung«, ist auch »Erzie-
hung zur politischen Mündigkeit« und ohne Konstitution, ob Republik oder Kon-
stitutionelle Monarchie, nicht zu gewährleisten. Das sind die bekannten Vormärz-
postulate '°. Sie sind aber von keinem »monadischen« Individualismus gesteuert.
Die »tätigen Individuen« — so lautet Rottecks oberster Glaubenssatz, den er ganz
auf Rousseau abstimmt - richten sich vernünftig am »gesellschaftlichen Gesamt-
willen« aus. Nicht die freie Marktkonkurrenz, sondern die in berufsständischen
Assoziationen organisierte und stabilisierte »Mittelklasse« gibt das erstrebte
soziale Ordnungsmodell ab!!. Auch Kants moralphilosophische Grundkategorie
»Autonomie« wird von den Lexikon-Autoren in diesem Sinne begriffen. Paul Pfi-
zer, der württembergische Jurist und Politiker, erweitert seinen Artikel »Autono-
mie« für die 2. Auflage um das Dreifache. In der Hauptsache diskutiert er jetzt die
Frage, wie eine »Beschränkung der privatrechtlichen Autonomie«, die in neuester
Zeit zur »Herrschaft der großen Industrie« und zum »Ubergewicht der großen
Capitale« geführt und »Scharen von brodlosen Unglücklichen« hervorgebracht
habe, zu rechtfertigen sei, ohne gleichzeitig »Autonomie« als Prinzip der »bürger-
lichen Freiheit«, in der das »Wesen der Persönlichkeit« zum Ausdruck kommt, in
Frage zu stellen !2.
Es sind hier bewußt Beispiele aus dem gesellschaftspolitischen Bereich gewählt.
Aber auch philosophisch ist ein anderer, aus Hegels Schule stammender Denkstil
typischer als die radikal-individualistische Staatskritik des frühen Wilhelm von
Humboldt. Arnold Ruge vertritt ihn meisterhaft: »Es geht (in den Beziehungen des
revolutionären Frankreich zum idealistischen Deutschland) nicht eine persönliche
Vermittlung durch vereinzelte Individuen mit der neuen Welt der Revolution vor
sich, nein, es ist jetzt ein Prinzip aus Deutschland nach Frankreich und aus Frank-
reich nach Deutschland gekommen; die Fraternisierung der Prinzipien aber ist die
Einkehr einer Nation bei der anderen. Die Individuen sind nur berufen, den allge-
meinen Willen zu vollziehen« '?.
9 Zit. n. Rainer Schöttle, Politische Freiheit für die deutsche Nation. Carl Theodor Welckers
politische Theorie, Baden-Baden 1985, S. 21.
10 vel. den oes »Bildung« von Rudolf Vierhaus in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1,
es. S. 538 f.
11 Siehe Rottecks Artikel »Gesellschaft, Gesellschaftsrecht« in: Staatslexikon, Bd. 6, 11838,
bes. S. 715 ff.; ferner Helmut Sedatis, Liberalismus und Handwerk in Südwestdeutschland,
Stuttgart 1979, S. 37 ff.
12 Paul Achatius Pfizer, »Autonomie« in: Bd. 2, 21846, S. 11-27.
13 Arnold Ruge, Plan der Deutsch-Französischen Jahrbücher, hier zit. n. der Ausgabe Leipzig
1973, S. 99.
ZfP 40. Jg. 1/1993
64 Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
In den vormärzlichen Reformdebatten des Liberalismus gibt es bei genauer Prü-
fung keinen selbstverständlichen Primat des Individuums vor der Gemeinschafts-
ordnung. Im Bildungsbürgertum, das diese Debatten beherrscht, findet keine Lais-
sez-faire-Mentalität Anklang. Keine »unsichtbare Hand« reguliert Leidenschaften
und Interessen; die einzelnen, das ist das oberste moralische Gebot, müssen sich
»vernünftig« einer Idee anschließen. In den staatsrechtlichen Entwürfen einer
»Konstitutionellen Monarchie« kommt dies deutlich zum Ausdruck. Natürlich ste-
hen als Individualrechte »Presse- und Vereinsfreiheit«, öffentliche Gerichtsverfah-
ren, Liberalisierung des Wahlrechts, ganz oben an, aber die Forderung, das »Miß-
verhältnis von Kapital und Arbeit« auszugleichen und den Industrialisierungspro-
zeß staatsinterventionistisch zu zügeln, gehört zu diesen Entwürfen zwingend
dazu. Nicht von ungefähr kritisieren die rheinischen Wirtschaftsliberalen die
»Konstitutionssucht« und prophezeien, auf ihre Art dialektisch denkend, den
»Umsturz«, falls versucht würde, politisch hemmend in den Industrialisierungspro-
zeß einzugreifen *.
Nach Lothar Gall ist nun gerade die Domestizierung wirtschaftlicher Energien
Definitionsmerkmal des Liberalismus. In den siebziger Jahren hat er die einpräg-
same These formuliert, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts habe
sich eine mittelständische, paternalistische und kleinräumlich denkende Gesell-
schaft am politischen Ideal der »Klassenlosen Bürgergesellschaft« verbindlich aus-
gerichtet. In der zweiten Jahrhunderthälfte dann habe sich eine ausdifferenzierte
»bürgerliche Klassengesellschaft« stattdessen auf partikulare Defensivideologien
beschränkt, von denen sich nur vereinzelte »revisionistische« sozialliberale Positio-
nen abheben *’. Liberalismus ist dieser pointierten Gegenüberstellung zufolge kein
industrielles sondern ein vorindustrielles Phänomen politischer Vergesellschaf-
tung. Diese These hat seither die Liberalismusforschung außerordentlich beein-
flußt. Gall selbst hat zuletzt seine Familiengeschichte der Mannheimer Basser-
mann-Dynastie, in der er Unternehmergeist, Lebensstil und politischen Mentali-
tätswandel des deutschen Bürgertums repräsentativ darstellt, an diesem Konzept
ausgerichtet 1%. Methodisch thematisiert Gall das Verhältnis von politischer Theo-
rie und Wirtschaftspraxis nur indirekt. Dabei steckt in der Funktionsumkehrung,
die er in der Zuordnung von Ideen und Interessen vornimmt, ein Problem, das ins-
besondere im Hinblick auf »Individualität« als Konstitutionsmerkmal des »libera-
len Bürgers« auffällt. In der »klassenlosen Bürgergesellschaft« des Vormärz ist die
politische Vergesellschaftung durch eine Gemeinschaftsideologie der »Freien und
Gleichen« gesteuert, die wirtschaftsindividualistische Vorstöße bremst und Inter-
14 Denkschrift für Friedrich Wilhelm IV. (1840), hier zit. n. Hans Fenske (H.), Vormärz und
Revolution 1840-1849, Darmstadt 1976, S. 29 f.
15 Lothar Gall, »Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«. Zu Charakter und Entwick-
lung der liberalen Bewegung in Deutschland« zuerst in: Historische Zeitschrift 220 (1975),
S. 324-356; Wiederabdruck in: ders. (H.), Liberalismus, Köln 1976, S. 162-186.
16 Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, Frankfurt a. M. 1989.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 65
essenkonflikte ausgleicht. In der »bürgerlichen Klassengesellschaft« der zweiten
Jahrhunderthälfte scheinen »Eigennutz« und Wirtschaftskampf dagegen nur noch
von blassen Gesellschaftsbildern ohne mobilisierende Kraft flankiert; statt politi-
scher oder gar kultureller Vergesellschaftung etwa durch die Idee der »autonomen
Persönlichkeit« regiert allein die »Marktvergesellschaftung« (Max Weber). Den
Verlust liberaler Identität demonstriert Gall am nationalliberalen Parteiführer der
Jahrhundertwende, Ernst Bassermann. Dieser verherrlichte Preußen, akzeptierte
die Klassenordnung, favorisierte eine liberal-konservative Sammlungspolitik und
repräsentierte die Macht der wilhelminischen Großbourgeoisie.
Die Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte der Bassermannfamilie verweist aber auch
auf gegenläufige Befunde. In der Stadt Mannheim, deren Entwicklung zum Indu-
striezentrum Gall ausführlich darstellt, war der von den Bassermanns zum großen
Teil beherrschte »Geist« des Kapitalismus auch in den 1830er und 1840er Jahren
nie so domestiziert, wie es der Staatslehrer Karl von Rotteck, aufklärerischer
Hauptverfechter der harmonisierten »einfachen Marktgesellschaft«, sich als Basis
einer Gesellschaft der Freien und Gleichen vorgestellt hatte. Die Bassermanns
waren Exponenten einer Unternehmerschicht, die über eine solche politische Uto-
pie bürgerlicher Selbstbeschränkung weit hinausdrang. Ihrem Wahlspruch — »Sei
Dein eigener Herr und Knecht. Das ist des Mittelstandes Recht« —, mit dem sie
»Selbständigkeit«!” zum obersten Gebot der Lebensführung erhoben (»Nur keine
Staatsdiener« lautete ein weiterer Wahlspruch !®), verdankten sie ihren Reichtum.
1826 war Friedrich Ludwig Bassermann »der höchstbesteuerte Bürger in einer in
vollem wirtschaftlichem Aufschwung begriffenen Stadt«!?. Nach der Revolution
von 1848, die von der Familie mit Mißtrauen und Ablehnung verfolgt wurde, wan-
delte sich der liberale Denkstil dann in der Tat erheblich. Idealistische Geschichts-
und Staatsphilosophien wurden verpönt. Konjunktur bekamen »realistische«
Gesellschaftslehren. Die »Ordnung des Wissens« über die Bauformen industrieller
Gesellschaften verschob sich gewaltig. Nur bedeutet dies nicht, daß das »bürgerli-
che Laboratorium« 2° keine politischen Zielvorstellungen und keine sozialen Inte-
grationsmodelle mit utopischem Überschuß mehr produzierte. Der liberale Kul-
17 Ebd., S. 95. Gall spricht nicht von Individualismus, sondern von der »Subjektfunktion«
des Menschen als »Bürger«, was aber das Gleiche meinen dürfte: »Der Mensch, der Bür-
ger sollte, das war die Formel, die zunehmend alle vereinigte, die Bürger der Stadt waren,
nicht Objekt des Staates, des Wirtschaftslebens, der Politik sein, sondern Subjekt. End-
ziel allen gemeinschaftlichen Handelns, aller Ordnung, aller Institutionen mußte sein, ihn
instand zu setzen, diese Subjektfunktion wirklich wahrzunehmen. Das aber setzte voraus,
daß der einzelne als Mensch und Bürger in seinem Handeln möglichst frei war, und das
hieß, daß er über ein weitgehendes Maß an Selbständigkeit verfügte, in geistiger Hin-
sicht, in gesellschaftlicher Hinsicht, vor allem aber auch, als Basis all dessen, in wirt-
schaftlicher Hinsicht« (ebd., S. 149).
18 Ebd., S. 246.
19 Ebd., S. 171.
20 Pierangelo Schiera, Z! Laboratorio Borghese. Scienza e Politica nella Germania dell’Otto-
cento, Bologna 1987.
ZfP 40. Jg. 1/1993
5
66 Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
turprotestantismus, den der Heidelberger Theologieprofessor Heinrich Basser-
mann in Baden mit starker Autorität vertrat, war eine solche über die Pfarrerschaft
in die Stadtgemeinden weiterwirkende Variante des liberalen Denkstils. Die
Transformation zu Industriegesellschaft und Verfassungsstaat erfolgte äußerst
krisenhaft. Deshalb bietet sich an, die Vermischungen traditionaler und moderner
Elemente zum Ausgangspunkt einer Liberalismustheorie zu nehmen, die stärker,
als es die allzu polarisierende »Gall-These« erlaubt, das liberale Bürgertum in den
Verwerfungen dieses Transformationsprozesses erforscht.
In der Politik der Liberalen während der Revolution 1848 werden gegenüber
den vormärzlichen Zielvorstellungen solche Verwerfungen in erheblichem Maße
manifest. So haben restriktive Überlegungen ihre Politik stärker bestimmt als
soziale Integrationsmodelle. Besser als alles andere zeigen die Grundrechtsdebat-
ten der Paulskirche, welches liberale Gesellschaftsbild tatsächlich in das politische
Leben übertragen werden sollte. Bei getreuer Umsetzung der frühliberalen Utopie
der »klassenlosen Bürgergesellschaft« in politische Regeln hätte der im Dezember
1848 als Reichsgesetz verabschiedete Grundrechtskatalog eine eindeutige sozial-
staatliche Komponente enthalten müssen. Dies war bekanntlich nicht der Fall. Die
Grundrechte enthalten kein materiales Gerechtigkeitsgebot. Sie sind so, wie sie
Freiheits- und Eigentumsrechte gegen willkürliche Staatseingriffe sichern, formal
auf die »Koexistenz autonomer Individuen« gerichtet. Dieter Grimm faßt dies
zugespitzt zusammen: »Die Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft war privat-
rechtsakzessorisch« 21. Gemeint ist, die bürgerliche Gesellschaft setzt sich »über
das Medium individueller Willensentscheidungen« in die Lage, sich selbst optimal
zu steuern ??. Selbst wenn man das Privatrecht nicht ganz so pauschal als einziges
Fundament liberal-bürgerlicher Sozialordnung sieht, die liberalen Juristen der
Paulskirche haben abweichend von den gesellschaftstheoretischen Vorbildern erst-
mals den Primat des Individuums vor der Gemeinschaft in dieser Deutlichkeit
politisch festgeschrieben. Die Konsequenz war, daß in den fünfziger und sechzi-
' ger Jahren, der sog. Take-off-Phase der deutschen Industrialisierung, die Libera-
len in der Konfrontation mit der »sozialen Frage« auf sehr heterogene Gesell-
schaftsbilder zurückgreifen konnten.
II. Liberalismus, Industrialisierung und »Soziale Frage«
In den drei Jahrzehnten nach der 1848er Revolution, als sich der deutsche Libera-
lismus »realpolitisch« regenerierte, Preußen in eine Staatskrise stürzte, Regie-
rungspartei in Baden wurde und als Bismarcks wichtigster Ansprechpartner die
Infrastruktur des neuen Kaiserreiches gestaltete, war dieser Liberalismus kaum an
einer einheitlich faßbaren Idee der Individualität ausgerichtet. Es gab einen Lud-
21 Dieter Grimm, »Bürgerlichkeit im Recht« in: Jürgen Kocka (H.), Bürger und Bürgerlich-
keit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 149-188, hier S. 166.
22 Ebd., S. 164.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 67
wig August von Rochau und einen Hermann Baumgarten, die den altliberalen Ide-
alismus auf pragmatische Politikziele umlenkten ?’, aber es gab keinen John Stuart
Mill, keine Leitschrift wie »On Liberty«, die mit dem Satz beginnt: »Der Gegen-
stand dieser Abhandlung (ist die) bürgerliche oder soziale Freiheit, will sagen:
Wesen und Grenzen der Macht, welche die Gesellschaft rechtmäßig über das Indi-
viduum ausübt« 24. Die deutsche Debatte kennt keinen wegweisenden Anknüp-
fungspunkt dieser Art, entsprechend verläuft sie zersplitterter, widersprüchlicher.
1. Ungebrochen bleibt die Staatsgläubigkeit der Liberalen; liberale Staatslehrer
richten ihr Augenmerk auf Kulturstaatsziele, wollen Freiheit im Staat, nicht vom
Staat; den Kulturkampf führen sie aktiv, weil sie sich keinen anderen Staat als den
unter protestantischer Kulturhegemonie vorstellen können. Wie Heinrich von
Treitschke in seiner Habilitationsschrift zeigt, fällt ihnen die Einsicht in die Eigen-
dynamik des Gesellschaftslebens mehr als schwer °.
2. Der Nationalismus als neue liberale »Religion« (Constantin Frantz) kommt
mehr und mehr ohne Persönlichkeitsideale aus; die konstitutionelle Frage redu-
ziert sich auf die nationale Frage. Die Losung mit Mobilisierungskraft heißt
»Vaterland«, erst dann »Freiheit«. Kleinere Bevölkerungsgruppen, so tritt es in der
Schleswig-Holstein-Frage zu Tage, gelten nicht als »Individualitäten« im föderali-
stischen Sinne, sondern werden rasch zu Objekten nationalistischer Begierde. Die
Spannungen im Deutschen Nationalverein, der darüber seine Bedeutung als neue
liberale Sammlungsbewegung verliert, machen dies deutlich %.
3. Individualistisches Denken, das ist nicht überraschend, findet sich am stärk-
sten bei den neuen Wirtschafiseliten. Ihnen korrespondieren nationalökonomische
Modelle wie die Freihandelsschule, die in eindimensionaler Adam-Smith-Rezep-
tion die ungebremste Interessenkonkurrenz zur Voraussetzung von gesellschaftli-
chem Wohlstand und politischem Konfliktausgleich erklären. Die Geschichte des
parteipolitischen Liberalismus wird zur Geschichte seiner Spaltungen. Dies ist
nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß immer wieder Sezessionisten dieses
besitzindividualistische Modell zum Naturgesetz und zum politischen Dogma
23 Deren wichtigste programmatischen Schriften zum liberalen Politikverständnis: Ludwig
August von Rochau, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände
Deutschlands (1. Aufl. 1853), hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a. M. 1972; Her-
mann Baumgarten, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik (1. Aufl. 1866), hrsg. von
Adolf M. Birke, Frankfurt a. M. 1974. Zur kritischen Opposition einer demokratisch und
föderalistisch gesinnten Minderheit: Georg Gottfried Gervinus, Einleitung in die
Geschichte des 19. Jahrhunderts (1. Aufl. 1853), hrsg. von Walter Boehlich, Frankfurt a. M.
1967; zur Spaltung der liberalen Bewegung in der Orientierungskrise nach 1849 vgl. Gan-
golf Hübinger, Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und politische Kritik, Göttin-
gen 1984, S. 187 ff.
24 1. Aufl. 1859; dt.: Über die Freiheit, Stuttgart 1974 u.5.
25 Heinrich von Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch, Leipzig
1858.
26 Shlomo Na’aman, Der deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen
Bürgertums 1859-1867, Düsseldorf 1988, bes. S. 194 ff.
ZEP 40. Jg. 1/1993
5°
68 Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
erhoben haben. Berühmt geworden ist Eugen Richter, einer der Finanzexperten
des Reichstags und hartnäckigster parlamentarischer Gegner Bismarcks”.
4. Nicht richtig ist es, das Scheitern der Liberalen in der »Sozialen Frage« auf
diesen Dogmatismus zurückzuführen. Denn in der Auseinandersetzung mit den
drei Kardinalproblemen des industriellen Umbruchs, der Agrar-, der Handwerker-
und der Arbeiterfrage, greifen liberale Sozialpolitiker und Nationalökonomen das
vorrevolutionäre Muster der freien Assoziationen auf, versuchen aber, sie den ver-
änderten Bedingungen der industriekapitalistischen Entwicklung anzupassen. Für
Hermann Schulze-Delitzsch steht fest: Der »Individualismus« hat die »Bande der
alten Gesellschaft« gelöst, aber nicht der Staat, nur Selbsthilfegenossenschaften
können den einzelnen vor wirtschaftlichem Ruin und sozialer Isolation schützen,
»ohne seine Individualität zu zerstéren«?*. Auch die späteren liberalen Gewerk-
schaftsbewegungen mit Lujo Brentano als führendem Theoretiker stehen ganz ın
dieser Tradition. Der Typ der freien Assoziation ist stets mehr als ein beruflicher
Zweckverein. Die Liberalen fördern das Vereinswesen als einen kulturellen Verge-
sellschaftungstyp eigener Art. Denn sie sehen darin den Königsweg jenseits von
Staatssozialismus und Wirtschaftsegoismus, um freie persönliche Entfaltung und
Wirtschaftsfortschritt sozialharmonisch zur Deckung zu bringen.
5. Ein Schlüsselwort gibt es allerdings in dieser durchaus »dissonanten« 2° Kon-
taktaufnahme der Liberalen mit dem Industriezeitalter, in dem Individualismus
und Liberalismus miteinander verschmelzen: Es ist der Begriff der Bildung, ganz
im emphatischen Sinn von Aufklärung und Neuhumanismus als Persönlichkeitsbil-
dung gefaßt. Ulrich Engelhardt hat in seiner Begriffs- und Dogmengeschichte des
Bildungsbürgertums” dazu eine Fülle von Belegen gesammelt. Für den Pädago-
gikprofessor Friedrich Paulsen war die deutsche Gesellschaft nicht in Bürger und
Arbeiter, Katholiken und Protestanten, sondern in Gebildete und Ungebildete
gespalten. In liberaler Färbung war damit ausgedrückt, nur durch Bildung könne
das Individuum die Zerreißproben der modernen Gesellschaft bestehen und seine
Lebenschancen verbessern. Adolf von Harnack, der einflußreichste kulturprote-
stantische Theologe und Wissenschaftspolitiker des Kaiserreichs, erörtert dies ein-
dringlich auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß (1902) unter dem Titel: »Die sitt-
liche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstrebens«*!. Dies leitet über
zum dritten Teil, zur wilhelminischen Epoche, auf die ausführlicher einzugehen
27 Vgl. Ina Susanne Lorenz, Eugen Richter. Der entschiedene Liberalismus in wilhelminischer
Zeit 1871-1906, Husum 1981, bes. S. 183 ff.
28 Rita Aldenhoff, »Das Selbsthilfemodell als liberale Antwort auf die soziale Frage im 19.
Jahrhundert« in: Holl/Trautmann/Vorländer (H.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986,
S. 57-69, hier S. 60; vgl. dieselbe, Schulze-Delitzsch. Ein Beitrag zur Geschichte des Libera-
lismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Baden-Baden 1984.
29 Zu Recht so bezeichnet bei James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus, München 1983,
S. 105.
30 Ulrich Engelhardt, Bildungsbürgertum, Stuttgart 1986, S. 145-147, 167 u. ð.
31 Verhandlungen des 13. Evangelisch-sozialen Kongresses, Göttingen 1902, S. 12-29.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 69
ist, weil jetzt der Begriff »Individualismus« in kulturkritischer Selbstreflexion, aber
auch als politischer Kampfbegriff erst Karriere macht. Ich werde damit die These
verbinden: Je mehr der politische Handlungsspielraum der Liberalen schrumpft -
dies geschieht spätestens mit Johannes von Miquel und seiner Sammlungspolitik
der 1890er Jahre —, und je mehr die »soziale Frage« von selbstbewußten Gewerk-
schaften und der Sozialdemokratischen Partei in eigene Regie übernommen wird,
desto stärker rückt kulturell der Individualitätsgedanke ins Zentrum liberaler
Gesellschaftsdeutung.
III. Individualismus und Kulturliberalismus
»Individualismus« wird zu einem publizistisch vielbenutzten Reflexionsbegriff der
Jahrhundertwende. Im wesentlichen dient er der Abgrenzung des liberal-prote-
stantischen Bildungsbürgertums von den übrigen kulturellen Milieus des konserva-
tiven »Moralprotestantismus«?2, der Katholiken und der Sozialdemokraten. So
wie der konservative Hofprediger Adolf Stoecker auf dem Evangelisch-sozialen
Kongreß 1891 über »Individualismus und Sozialismus« referiert, steckt darin eine
Kampfansage an den Kulturprotestantismus und dessen Ideal des autonomen Kul-
turbirgers >. Für den Sozialkatholizismus gilt das gleiche. Der Volksverein für das
katholische Deutschland sieht in Individualismus und Liberalismus eine größere
Zersetzungskraft als im Materialismus der Sozialdemokraten. Überhaupt werden
in Subjektivismus und Intellektualismus die entscheidenden Krankheitssymptome
der modernen Kultur identifiziert.
Liberale verwenden den Begriff »Individualismus« mit gemischten Gefühlen,
weil er auf diese Art pejorativ besetzt ist. Sie bevorzugen »Persönlichkeit« und
»Persönlichkeitsbildung«. Von der Sache her wird ihnen jedoch in dem Maße
bewußt, in dem die bürgerliche Gesellschaft in eine kulturpessimistische fin-de-
siecle-Stimmung gerät, wie sehr sie sich um eine weiterführende inhaltliche
Bestimmung von »Individualität« bemühen müssen”. Dazu gehört, nicht nur
abstrakt im Rückgriff auf Kant oder Schleiermacher von »Subjektivitätskultur« zu
sprechen, sondern zu typisieren. Friedrich Naumann etwa unterscheidet in einer
Grundsatzrede auf dem Deutschen Protestantentag 1909 in Bremen über »religi-
ösen und politischen Liberalismus« zwischen »egoistischem« und »religiösem«
Individualismus”. Dazu gehört auch, zu konkretisieren und nicht nur stets rheto-
risch das Individuum zu beschwören. So konfrontiert Harnack in dem erwähnten
Vortrag über »die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstre-
32 Zur Wortprägung und zur Unterscheidung der innerprotestantischen »Konfessionen«
Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988,
S. 77 ff.
33 Verhandlungen des 2. Evangelisch-sozialen Kongresses in Berlin, Göttingen 1891.
34 Vgl. Gangolf Hübinger, »Hochindustrialisierung und die Kulturwerte des deutschen
Liberalismus« in: Dieter Langewiesche (H.), Liberalismus (FN 7), S. 193-208.
35 Verhandlungen des 24. Deutschen Protestantentages in Bremen, Berlin 1909, S. 97-119.
ZfP 40. Jg. 1/1993
70 Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
bens« die protestantischen Honoratioren mit der ungewohnten These: »Das Bil-
dungsstreben (der Arbeiter und der Frauen) drückt unserer Epoche recht eigent-
lich den Stempel auf«**. Denn die Mehrheit des protestantischen Bildungsbirger-
tums war zweifellos gewohnt, Arbeiter eher als Zielgruppe der Inneren Mission
und Frauen überhaupt außerhalb des öffentlichen Lebens zu sehen.
Auf welche Weise »Individualität« als leitender Kulturwert das Beziehungsge-
flecht Liberalismus-Protestantismus-Bildungsbürgertum durchzieht und zu einem
»liberalen Revisionismus« führt, wie Theodor Barth den abermaligen Gestaltwan-
del in der Phase der Hochindustrialisierung in Anlehnung an den sozialdemokrati-
schen Revisionismus genannt hat”, läßt sich an drei Trägergruppen festmachen:
am kulturprotestantischen Vereinsnetz als einer sehr losen Gesinnungsgemein-
schaft, am Heidelberger Gelehrtenmilieu als einer Art intellektueller Avantgarde,
und natürlich, aber nicht in erster Linie, am linksliberalen Parteienspektrum.
1. »Kulturprotestantismus« ist nicht zufällig wie »Individualismus« eine pole-
mische Fremdbezeichnung für alle evangelischen Strömungen, die versuchen, ein
positives Verhältnis zu den Lebensformen der säkularisierten modernen Gesell-
schaft zu finden. Die politische Speerspitze dieser ganz unterschiedlichen Strö-
mungen, der Deutsche Protestantenverein, spricht von sich lieber als den »Kultur-
liberalen« ?®. Der Protestantenverein hat eine einprägsame Programmformel ent-
wickelt: die »Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Frei-
heit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung unserer Zeit«. Die
konservativen Gegner monieren daran zweierlei: eine zu starke Hervorhebung der
Einzelpersönlichkeit vor der Gemeinschaft und eine unkritische Anpassungsmen-
talität an herrschende Zeittendenzen.
Wenn es sich um einen rein theologischen Disput um den »Wert der Persönlich-
keit« handeln würde, der die Protestanten in »Liberale« und »Positive« spaltet,
wäre der Streit kaum erwähnenswert. Aber die innerprotestanuschen Fragmentie-
rungen verstärken die politisch-kulturellen Fragmentierungen der labilen Wilhel-
minischen Gesellschaft insgesamt”. So kommt im Kulturprotestantismus das libe-
rale Prinzip bürgerlicher Vereinsöffentlichkeit noch sehr ausgeprägt zur Geltung.
Das grenzt ihn ab von den esoterischen Ringen und Bünden, in denen andere Teile
des Bildungsbürgertums ihren Groll auf den prosaischen »Industrialismus« ästhe-
tisch ausleben. Es grenzt ihn auch ab von den populistischen Massenorganisatio-
nen, der auffälligsten Erscheinung eines fundamentalen Demokratisierungsprozes-
ses. Hier treten auch die beiden großen Konfessionen in ihrer Außendarstellung
36 Wie FN 31, S. 14.
37 Theodor Barth, »Liberaler Revisionismus« in: Die Nation 21 (1903/04), S. 194.
38 So der Osnabrücker Pfarrer, Reichstagskandidat für die Fortschrittliche Volkspartei und
führendes Vereinsmitglied August Pfannkuche, in: Die Hilfe 19 (1913), S. 682 (»Vom
deutschen Protestantenverein«).
39 Ausführlicher Gangolf Hübinger, sppotesannieche Kultur im wilhelminischen Deutsch-
land« in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 16 (1991), S. 174-199.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 71
auseinander. Ein Vergleich der periodischen Protestantentage mit den Katholiken-
tagen zeigt die Unterschiede. Die Protestantentage konstituieren sich nach dem
Prinzip liberaler Öffentlichkeit und wählen Personalismus, Industrialismus und
Konstitutionalismus zu den Eckpfeilern ihrer gesellschaftlichen Ordnungsent-
würfe. Die Katholikentage konstituieren sich dagegen als plebiszitäre Öffentlich-
keit und befestigen das Gegenbild einer gemeinschaftsbezogenen, nachkapitali-
stisch neokorporativen, im ganzen bürgerkritischen Ordnung.
Friedrich Naumann hat auf diesen »freien« Protestantismus den bereits
erwähnten Ausdruck »religiöser Individualismus« gemünzt und damit ganz gezielt
einen Bogen zum politischen Liberalismus geschlagen: »In England erwuchs der
politische Liberalismus aus den Kämpfen um die religiöse Freiheit, und die ameri-
kanische Verfassung ist nur auf dieser Grundlage zu erklären. Die geschichtlichen
Erfolge des Angelsachsentums sind religiösen Ursprungs«“. England war und
blieb seit dem Vormärz die entscheidende Bezugsgesellschaft für liberale Reform-
politik. Aber eines wollten die kulturprotestantischen Wortführer wie Naumann,
Harnack, Martin Rade oder Otto Baumgarten strikt vermeiden: »Religiöser Indivi-
dualismus« dürfe nicht zum Einfallstor für Sektenbildung nach englischem Muster
werden. Die Tendenzen dazu waren vorhanden, vor allem ın den Industriestädten.
Partikularistische Pfarrer in Bremen schrieben über »Jesus als Individualist« *.
Dagegen beharren die Liberalen auf dem Staatskirchentum; sie praktizieren zwar
die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen, haben aber den gro-
ßen Traum des 19. Jahrhunderts nicht aufgegeben, eine nationalstaatliche Kultur-
synthese unter protestantischem Vorzeichen zu verwirklichen. Sie neigen unver-
kennbar zu einer »Whig-Interpretation of History«, und ihr wichtigstes enzyklo-
pädisches Organ, die fünfbändige »Religion in Geschichte und Gegenwart« *, ist
stark von dieser kulturhegemonialen Zielrichtung bestimmt. Fast ein eigenständi-
ger kleiner Aufsatz ist der Beitrag »Individualethik und Sozialethik«; der Artikel
deutet Geschichte als »Befreiungskampf des Individuums« und mündet in die
These, die von den subjektivistischen religionspsychologischen Reflexionen Georg
Simmels ® nicht allzu weit entfernt liegt: »Je höher sich das Gesellschaftsleben ent-
wickelt, um so größeren Einfluß gewinnt die Einzelpersönlichkeit auch auf die
Moral« *. Dem zunehmend kulturpessimistisch eingestimmten Bildungsbürgertum
wird also unter Berufung auf »die neueren Wissenschaften der Soziologie« entge-
gengehalten: komplexere Gesellschaften fördern Individualität und vernichten sie
40 Wie FN 35.
41 Otto Hartwich, »Jesus als Individualist und seine Bedeutung für das individualistische
Lebensideal« in: Bremer Beiträge zum Ausbau und Umbau der Kirche 1 (1907).
42 Unter Mitwirkung von Hermann Gunkel und Otto Scheel hrsg. von Friedrich Michael
Schiele, 1. Aufl. Tübingen 1909-1913.
43 Die wichtigsten Texte jetzt zusammengestellt in: Georg Simmel, Gesammelte Schriften zur
Religionssoziologie, hrsg. von Horst Jürgen Helle in Zusammenarbeit mit Andreas Hirse-
land und Hans-Christoph Kürn, Berlin 1989.
44 RGG', Bd. 3, Sp. 485.
ZfP 40. Jg. 1/1993
72 Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
nicht. Daran gekoppelt wird die wirtschaftsethische Schlußfolgerung: materielle
Lebensverbesserung schafft die »Grundlagen für eine höhere Sittlichkeit«*. Die-
ser Satz, eine Lehrmeinung vor allem der liberalen Freiburger Nationalékonomen
Eugen von Philippovich und Gerhart von Schulze-Gaevernitz “, ist nicht trivial zu
verstehen, sondern er signalisiert die langsame Öffnung gegenüber der Sozialde-
: mokratie. Noch eines ist erstaunlich und zeigt, was unter »Einklang mit der Zeit-
kultur« gemeint ist. Der »Evangelisch-soziale Kongreß«, auf dem Theologen,
Nationalökonomen und Verwaltungsbeamte mit großer Resonanz in der Öffent-
lichkeit die wichtigsten sozialen Streitfragen erörtern, versucht nicht, moralisie-
rend die Elle einer christlichen Gemeinschaftsethik anzulegen”, er bemüht sich
vielmehr um eine unverstellte empirische Wirklichkeitserkenntnis. In der politi-
schen Einschätzung geht die Mehrheit dann aber doch nicht so weit wie der Pfar-
rer und liberale Gewerkschaftspolitiker Gottfried Traub, der 1904 seinem Referat
über die »Organisation der Arbeit in ihrer Wirkung auf die Persönlichkeit« den
Leitsatz voranstellt: Im Interesse der Persönlichkeitsentwicklung ist der Fortschritt
zum gewerblichen Grofbetrieb zu beschleunigen« “.
2. Es ist ein »eindimensionaler« Persönlichkeitsbegriff der Art, wie ihn Traub
hier verwendet, an dem sich grundsätzliche Debatten um die Entkoppelung von
wirtschaftlichem und kulturellem Fortschrittsdenken entzünden. Heidelberg ist
der Ort, an dem sie geographisch und intellektuell festzumachen sind. In einer
Gelegenheitsrezension ist Nikolaus Sombart vor einigen Jahren eine schöne Typi-
sierung gelungen: Drei universitäre Zentren konkurrieren um den geistigen Füh-
rungsanspruch im späten Kaiserreich: das amtsaristokratische und konservativ-
protestantische Berlin, das avantgardistische katholische München und das bür-
gerlich-kulturprotestantische Heidelberg“. Für zeitgenössische Beobachter wie
Ludwig Curtius war Heidelberg wie keine zweite Universität der Ort, an dem über
rein fachwissenschaftliche Ausbildung hinaus um »eine kulturwissenschaftliche
45 Ebd., Sp. 487.
46 Siehe Rita Aldenhoff, »Nationalökonomie und Kulturwerte um 1900« in: vom Bruch/
Graf/Hübinger, Kultur und Kulturwissenschaft um 1900. Krise der Moderne und Glaube an
die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 45-62.
47 Die Schwierigkeiten, für diese Abgrenzung die richtige politische Selbstbeschreibung zu
finden, kommt beim liberalen Wortführer des Evangelisch-sozialen Kongresses, Martin
Rade, besonders treffend zum Ausdruck. In seinem Essay »Unsere Pflicht zur Politik«
nimmt er dazu Stellung: »Muß ich mich irgendwie nennen, so will ich mich lieber einen
Demokraten nennen als einen Liberalen. Denn zwischen Liberalismus und Demokratis-
mus ist, wissenschaftlich ernst geredet, ein großer Unterschied. Der Liberale im engeren
Sinne ist Individualist, und das bin ich nicht. In der Praxis sind ja heute die beiden
Begriffe Liberalismus und Demokratie einer glücklichen Verschmelzung anheimgefallen.
Ich für mein Teil würde mich am liebsten einen Sozialisten nennen.« Abgedruckt in Mar-
tın Rade, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Religion, Moral und Politik, hrsg. von Christoph
Schwöbel, Gütersloh 1986, S. 144-180, hier S. 175.
48 Verhandlungen des 15. Evangelisch-sozialen Kongresses in Breslau, Göttingen 1904, S. 58.
49 Nicolaus Sombart, »Gruppenbild mit zwei Damen. Zum Verhältnis von Wissenschaft,
Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter« in: Merkur 30 (1976), S. 972-990.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 73
Synopsis des europäischen und des deutschen Geistes mit der Forderung einer
neuen ethisch-moralisch-politischen Haltung des einzelnen und schließlich der
Nation«*° gerungen wurde. An ganz vorderer Stelle standen die Debatten um den
»Individualismus als Kulturprinzip«. Alfred Weber verteidigte ihn mit diesen Wor-
ten, ungewöhnlich genug, im distanzierenden Vorwort zur Dissertation seines
Schülers Hans Staudinger, der darin nur eine historische Episode vermutete °!.
Die wichtigsten Impulse kamen von Georg Jellinek, Max Weber und Ernst
Troeltsch; ihren Arbeiten zwischen 1900 und 1914 sieht man an, wie intensiv der
Gedankenaustausch gewesen ist, und die jeweiligen Fußnoten sagen es außerdem
ausdrücklich. Gemeinsam ist ihnen die Rückbesinnung auf Kant, nicht so sehr auf
den erkenntnislogischen als vielmehr auf den moralphilosophischen, auf Kants
»ethischen Individualismus«. Jellinek gebraucht bezeichnenderweise diesen Begriff
in einem Zeitungsartikel über »Smith und Kant«*?. Ihr Forschungsprogramm, zen-
triert um Staat, Wirtschaft, Religion, ist universalistisch ausgreifend, aber nicht
historistisch selbstgenügsam. Es ist zugespitzt auf die kulturelle Deformation der
eigenen Gesellschaftsverfassung. Politisch motiviert hat sie an erster Stelle die
zunehmend bedrohte Individualität. Gustav Radbruch schreibt in seinem Nekrolog
über Jellineks Lebensarbeit: »Ihr Ausgangs- und Endpunkt ist die Persönlich-
keit«°?. Darin liegt natürlich eine Anspielung auf die umstrittene »Jellinek-These«
zu den Menschen- und Bürgerrechten und dem Motivationszusammenhang ihrer
Entstehung. Deren Kernsätze hießen: »Die Idee, unveräußerliche, angeborene,
geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen,
sondern religiösen Ursprungs.« Und ergänzend: »Mit der Überzeugung, daß es ein
vom Staate unabhängiges Gewissen gebe, war der Punkt gefunden, von dem aus
sich die unveräußerlichen Rechte des Individuums spezialisieren«°*. In seinem
Nekrolog fährt Radbruch fort: »Diese Weltanschauung befähigte Jellinek, dem
Liberalismus eine neue tiefere Staatslehre zu geben.«°° Zweifel sind angebracht, ob
die liberalen Berufspolitiker diese Impulse aufgegriffen haben. Max Weber, der
vergeblich auf eine rasche Parlamentarisierung des Reiches drängte, hielt liberale
Parteipolitik hierin für zu kraftlos. Er selbst variierte viel drastischer seine Schrek-
kensbilder vom »ehernen Gehäuse der Hörigkeit«. Scharf polemisierte er gegen
die Staatssozialisten rechter wie linker Couleur und ihre Furcht, »daß die politi-
sche und soziale Entwicklung uns künftig zuviel »Individualismus< oder »Demo-
50 Ludwig Curtius, Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1950, S. 360.
51 Hans Staudinger, Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins, Jena
1913; Geleitwort Alfred Webers, ebd., S. II. Zu Alfred Weber jetzt Eberhard Demm, Ein
Liberaler in Kaiserreich und Republik, Boppard am Rhein 1990.
52 Ausgewählte Schriften und Reden, Berlin 1911, Bd. 1, S. 52.
53 Gustav Radbruch, Biographische Schriften, hrsg. von Günter Spendel, Heidelberg 1988,
S. 22.
54 Georg Jellinek, Die Erklarung der Menschen- und Biirgerrechte, Leipzig ? 1904, S. 46 und
S. 51.
55 Wie FN 53, S. 23.
ZfP 40. Jg. 1/1993
74 Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
kratie: oder dergleichen bescheren könnte und daß die »wahre Freiheit: erst auf-
leuchten werde, wenn die jetzige Anarchie: unserer wirtschaftlichen Produktion
und das »Parteigetriebe: unserer Parlamente beseitigt sein werden zugunsten
sozialer Ordnung: und >organischer Gliederung: — das heißt: des Pazifismus der
sozialen Ohnmacht unter den Fittichen der einzigen ganz sicher unentfliehbaren
Macht: der Bürokratie in Staat und Wirtschaft!«°* Bekanntlich hielt Weber jeden
Fluchtweg für verschlossen und entwarf illusionslos metaphorische Zukunftsbe-
schreibungen einer kulturellen Eiszeit. Und zweifellos hat Wilhelm Hennis recht,
daß Weber auf die Kulturprobleme seiner Zeit nicht mit einem »seelenvollen
Humanitarismus« reagierte, aber war ihm »politisch-ethischer« Individualismus
deshalb derart fremd, wie Hennis schlußfolgert?”? Mit seinem emphatischen
Selbstbekenntnis zu einem neuen Individualismus des modernen »Kulturmen-
schen«, der ihm die Chance zur bewußten »Stellungnahme« zur Welt und zum
sinnvollen Handeln allein offenhalte, lenkt Weber die Debatte auf eben diese poli-
tisch-ethische Diskursebene: »Wider den Strom: der materiellen Konstellationen
sind wir »Individualisten< und Parteigänger »demokratischer Institutionen«« °®.
Anstelle von »neuem Individualismus« *? läßt sich auch von »ethischem Personalis-
mus« sprechen, um das bei Weber geforderte »Standhalten« gegenüber den »mate-
riellen Konstellationen« — »entgeistigter« Kapitalismus und mechanisierte Herr-
schaft der Bürokratie - zu benennen.
Aktiver »demokratischer Individualist«* wurde in der Weimarer Republik
Ernst Troeltsch - als DDP-Abgeordneter und Unterstaatssekretär im preußischen
Kultusministerium. In seinen geistesgeschichtlichen Arbeiten zuvor hatte Troeltsch
allerdings noch schärfer als Weber die Paradoxie ins Auge gefaßt, daß die »unge-
heure Individualisierung des ganzen Fühlens und Denkens der modernen Mensch-
heit«*! dazu führt, daß wachsende Freiheitsansprüche auf zunehmend zerstörte
56 Max Weber, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, hrsg. von Wolf-
gang J. Mommsen und Gangolf Hubinger, Tübingen 1984 (Max Weber-Gesamtausgabe
1/15), S. 465.
57 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, Abschnitt »Webers >Indivi-
dualismus««, S. 211 f.
58 Max Weber, Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1905-1912, hrsg.
von Wolfgang J. Mommsen und Dittmar Dahlmann, Tübingen 1989 (Max Weber-
Gesamtausgabe 1/10), S. 270.
59 Vgl. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2. Studien zu Max Webers
Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt a. M. 1988, S. 499: »Weber hat (...) trotz
seiner Skepsis gegenüber dem Begriff eine neue historische Form des Individualismus im
Auge«.
60 Hartmut Ruddies, »Soziale Demokratie und freier Protestantismus. Ernst Troeltsch in
den Anfangen der Weimarer Republik« in: Horst Renz / Friedrich Wilhelm Graf (H.),
Protestantismus und Neuzeit, Gütersloh 1984, S. 145-174, hier S. 147.
61 Ernst Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Neudruck der Ausgabe Tübingen 1925,
Aalen 1981, S. 306. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, »Religion und Individualität. Bemer-
kungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs« in: Renz/Graf
(FN 60), S. 207-230.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 75
Freiheitsräume stoßen, beides als Ergebnis desselben kapitalistischen Modernisie-
rungsprozesses. Troeltsch formuliert eindringlich: »Wenn (die Ideen des politi-
schen Individualismus) die Person steigern, so werden diese gemindert durch den
Kapitalismus. Er wirkt in der Hauptsache depersonifizierend« 2.
Mit Weber und Troeltsch ist der liberale Reflexionsprozeß über »Individualis-
mus« als Gestaltungsprinzip der bürgerlichen Moderne zu einem Abschluß
gekommen. So nachdrücklich, wie sie den Primat der Individualität vor gesell-
schaftlichen Ordnungszwängen betonen, so wenig Hoffnung setzen sie in die Lei-
stungsfähigkeit neuer politischer Ordnungen, der »parzellierten Seele« wirkliche
Freiräume zu schaffen. Ihre Gegenwartsdiagnosen zeigen sie denn auch um so rat-
loser, je mehr sie sich diesen Herausforderungen in »antinomischen« Zuspitzun-
gen stellen®; auch ihre Mitarbeit im linksliberalen Parteispektrum täuscht darüber
nicht hinweg.
3. Die linksliberalen Parteipolitiker im Kaiserreich, die großenteils aus dem
kulturprotestantischen Milieu stammen und direkt oder indirekt mit den Heidel-
berger Kreisen in Beziehung stehen, teilen solchen radikalen Selbstzweifel aller-
dings weniger. Ihr Umgang mit den drei zu Beginn benannten Leitthemen liberaler
Politik — Verfassung, Eigentum, Bildung — bleibt geprägt vom Glauben an die
zunehmende Beherrschbarkeit der Welt durch selbstbewußte Persönlichkeiten.
Die Grenzen, die dem Liberalismus verfassungspolitisch mit Bismarcks Reichs-
gründung und hernach in der latenten inneren Dauerkrise des wilhelminischen
Reiches gezogen sind, hat insbesondere Wolfgang J. Mommsen ausgiebig erör-
tert“. Die verfassungspolitische Dauerkrise führt zu einem enormen Kräftever-
schleiß des parteipolitischen Liberalismus; dies wiederum erklärt, warum sich die
publizistisch und sozialreformerisch erkennbare Revitalisierung des Liberalismus
weniger in den Parteien selbst als im Vereinswesen vollzieht. Vor allem die liberal-
protestantische Vereinslandschaft liefert die Basis für eine spezifisch deutsche
Variante des europäischen »Neuen Liberalismus« der Jahrhundertwende. So wie
ihn Michael Freeden als »Metamorphosis« zu einer »Ideology of Social Reform«
in einer neuen Kombination von »Science and Ethics« am viktorianischen Fin-de-
Siècle beschrieben hat*°, ist er in seiner deutschen Spielart erheblich schwächer
ausgebildet als in England. Aber er ist auch hier fester Bestandteil der bürgerlichen
Reformdiskussion. Friedrich Naumann insbesondere hält unbeirrbar an seinem
sozialliberalen Modell fest, Industrieverfassungen nach politisch-konstitutionellen
Mitwirkungsrechten einzurichten. Seine Politik einer Verknüpfung von »Sozialli-
62 Troeltsch, Gesammelte Schriften Bd. 4, S. 310.
63 Typische Zuspitzungen dieser Art sind analysiert bei Wolfgang J. Mommsen, »Die anti-
nomische Struktur des politischen Denkens Max Webers« in: Historische Zeitschrift 233
(1981), S. 35-64.
64 Wolfgang J. Mommsen, Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur
tm deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1990.
65 Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978, bes.
S. 23 f.
ZfP 40. Jg. 1/1993
76 Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
beralismus« und »Persönlichkeitskultur« ist am ehesten mit der zur gleichen Zeit
in England unter wesentlich günstigeren Rahmenbedingungen Fuß fassenden
Reformpolitik dieses »neuen Liberalismus« als eines »ethischen Demokratismus«
zu vergleichen“. Naumanns Freund und wirtschaftspolitischer Berater Gerhart
von Schulze-Gaevernitz studierte die englischen Verhältnisse in gleicher Absicht,
was ihn aber nicht davon abhielt, unter der Suggestivfrage »Marx oder Kant?«
einen typischen Akzent des deutschen Sonderbewuftseins zu setzen: »Durch die
Persönlichkeitsidee übertrifft die deutsche Kultur den westeuropäischen Liberalis-
mus, dem die deutsche Sozialdemokratie vielfach nachgehetzt hat«*’. In solchen
Wendungen benutzen die Kulturliberalen um die Jahrhundertwende in Zeit-
schriften oder Bildungsvereinen »Persönlichkeit« geradezu inflationär; aber es
kommen keine neuen Reflexionsmuster hinzu. Deshalb läßt sich hier abbrechen.
Liberale Interessenpolitik und liberale Deutungskultur sind nie deckungsgleich;
der varıierende Individualismusbegriff ist ein Indikator für den Umgang mit die-
sem Spannungsverhältnis. Im 19. Jahrhundert denken Liberale »Individualität«
bezogen auf ihre Gesellschaftsdeutungen in einem dreifachen Perspektivenwech-
sel. Die Vormärzliberalen entwerfen Weltbilder in der gedachten Einheit von
Geschichtsphilosophie und politischer Praxis. Individualität wird immer bezogen
auf ein übergeordnetes Allgemeines, das als politisch umsetzbar verstanden wird.
In der Revolution wird dieser Zusammenhang aufgesprengt. Die nachrevolutionä-
ren Liberalen verstehen sich als Baumeister des kleindeutschen Nationalstaats; ent-
sprechend pragmatisch und sozialtechnologisch machen sie Mittelklassenpolitik.
Ihr Konzept heißt: Gewerbefreiheit, Kreditkassen, Hilfe durch Selbsthilfe. Die
Hochindustrialisierung wird zu einer Herausforderung für das bürgerliche Selbst-
bewußtsein insgesamt. Die sog. »kulturelle Frage« der Jahrhundertwende kreist im
Kern um die verbliebenen Freiräume des Individuums. So gesehen konstituiert sich
auch die neue Disziplin der Soziologie als Wissenschaft zur Erforschung der
Bedrohungspotentiale konkreter Individualität.
Der Erste Weltkrieg markiert den Niedergang des Bildungsbürgertums, der
wichtigsten Trägerschicht der liberalen Persönlichkeitsideologie, als einer sozialen
Formation®. Entscheidende kulturelle Dispositionen des wilhelminischen Bil-
dungsbürgertums werden im intellektuellen Diskurs der 1920er Jahre unter den
Stichworten »Intellektualismus«, »Rationalismus«, »Historismus«, auch »Liberalis-
66 Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung libe-
raler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel von Friedrich Naumann und
Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1991. Gustav Schmidt, »Liberalismus und soziale
Reform: Der deutsche und der britische Fall, 1890-1914« in: Tel Aviver Jahrbuch für deut-
sche Geschichte 16 (1987), S. 212-238, hier S. 221.
67 Gerhart von Schulze-Gaevernitz, Marx oder Kant?, Freiburg 1909, S. 47. Vgl. Dieter Krü-
ger, Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983, S.29 ff. und
S. 43 ff.
68 Siehe die Beiträge in Jürgen Kocka (H.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV:
Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989.
Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum 77
mus«, auf einer negativen Wertetafel geführt. In gleicher Weise wird der »Indivi-
dualismus« des bürgerlichen Zeitalters scharf abgegrenzt von einer neuen nach-
bürgerlichen Individualität des »heroischen Menschentypus«.* Die »postmo-
derne« Rede vom »Verschwinden des Subjekts« 7° in den 1970er und 1980er Jah-
ren, die unter Berufung u.a. auf Nietzsche und Heidegger der Desavouierung
aller Fragen nach der Zukunft liberaler Aufklärung dienen sollte, ist in mancher
Hinsicht eine eher blasse Nachbereitung jenes dramatischen Diskurswechsels in
‚der Folge des Ersten Weltkrieges. Bereits der Generation Max Webers war die
‘Einsicht in die Dialektik der Aufklärung vertraut. Neuere Anstrengungen, das
Programm der Aufklärung zu reformulieren, knüpfen denn auch nicht an das
Fortschrittsvertrauen der Vormärzliberalen an, wenn sie das »selbstverantwortli-
che Individuum« zum Maßstab gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe wählen. Im
Bewußtsein der selbstgeschaffenen Bedrohungspotentiale, die sich nicht mehr nur
wie noch bei Max Weber zu »materiellen Konstellationen« versachlichen lassen,
wird vielmehr die »Selbstdomestizierung des Menschen«’! zum entscheidenden
politisch-ethischen Bezugspunkt der Selbstreflexion komplexer industrieller
Gesellschaften bestimmt.
Zusammenfassung
Die vom späten achtzehnten bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert reichende bür-
gerliche Epoche in Deutschland ist politisch geprägt durch die Anziehungskraft
-liberaler Gesellschaftsbilder. Als kultureller Leitwert liegt ihnen die Idee der auto-
nomen Persönlichkeit zugrunde, gleichwohl sind Liberalismus und Individualis-
mus nicht zu kurzschlüssig gleichzusetzen. Die Idee des selbstverantwortlichen
Individuums wurde jeweils mit unterschiedlichen sozialen Ordnungsmodellen ver-
knüpft. Daraus resultierte ein signifikanter Wandel des Liberalismus als politischer
und sozialmentaler Bewegung, dem in seinen Ausprägungsformen vom vormärzli-
chen Konstitutionalismus bis zum Kulturliberalismus zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts nachgegangen wird.
69 Vgl. Kurt Nowak, »Die »antihistoristische Revolution. Symptome und Folgen der Krise
historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland« in: Horst
Renz / Friedrich Wilhelm Graf (H.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im
Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, S. 133-171, bes. den Abschnitt »Indivi-
dualität«, S. 139 ff. Zur »Delegitimierung« der liberalen Rechtskultur durch Staatswissen-
schaftler und Theologen als signifikantem Beispiel dieses Diskurswechsels vgl. auch
Klaus Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die
Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der
zwanziger Jahre, Göttingen 1989.
70 Vgl. die Bestandsaufnahme und kritische Auseinandersetzung bei Manfred Frank, Die
Unbhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt a. M. 1986.
71 M. Rainer Lepsius, »Aufklärung, Massenkultur und die Selbstdomestizierung des Men-
schen« in: Rüsen/Lämmert/Glotz, Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988,
S. 233-239, Zitate S. 239, S. 233 f.
ZEP 40. Jg. 1/1993
78 Hübinger . Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum
Summary
The epoch of the citizens in Germany which lasted from the late 18th until the
early 20th century is politically shaped by the pulling forces found within liberal
portraits of society. Their guiding cultural value encompass the idea of the auto-
nomous personality; nevertheless, liberalism and individualism cannot be summar-
ily compared as equal. The idea of the self-responsible individual has been asso-
ciated at any one time with different models of social order. As a result of this
association, a significant change occured in liberalism as political, intellectual and
social movement. The purpose of this article is to set forth the specific forms of
the changing of liberalisms from “vormirzlichem” constitutionalism through to
the cultural liberalism at the beginning of the 20th century.
Harald Homann / Clemens Albrecht
Die Wiederentdeckung Osteuropas
Herders Perspektiven und die Gegenwart
Die deutsche Einigung, der Zerfall der Sowjetunion und der Krieg in Jugoslawien
haben den Debatten um das »Ende der Geschichte: ein zeitiges Ende bereitet. So
freudig das Aufbrechen von Freiheit und Demokratie in Osteuropa bei uns auch
begrüßt wurde, so überraschend und erschreckend ist für viele das Wiederaufbre-
chen von Konflikten und Konfliktlinien, die weit in die Geschichte zurückreichen
und sich in »vormodernen;, religiös oder ethnisch interpretierten Mustern manife-
stieren!.
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der »Rückkehr: Ost- und Südosteuropas in
die europäische Geschichte und mit den Schwierigkeiten, die dieser unerwartete
Prozeß unseren gängigen politischen und intellektuellen Reaktionsweisen bereitet.
Es wird der Gedanke entwickelt, daß die westliche Hilflosigkeit auf einem Mangel
an Einsicht in die historischen Entstehungsbedingungen des osteuropäischen Rau-
mes beruht. Besonders auffällig ist das Vergessen und Verdrängen dieser Einsich-
ten in Deutschland, das schon durch seine geographische Lage gezwungen war,
sein Wissen über die östlichen Nachbarn systematisch zu vertiefen. Diese Lage
machte es lange Zeit zum berufenen Vermittler westlicher Ideen nach »Osten« und
zum anerkannten Interpreten der östlichen Lagen und Befindlichkeiten für den
»Westen«. Bei dieser kulturellen Vermittlungsarbeit spielt Herder eine für Ost und
West herausgehobene Rolle, da er einerseits das Verständnis für die kulturell und
ethnisch eigenartige Gemengelage Osteuropas förderte und andererseits mit sei-
nen Ideen zur nationalen und kulturellen Selbstbestimmung die Entstehung des
modernen slawischen Nationalbewußtseins stützte und anregte. Um die Aktualität
der Begriffe Nation und Nationalismus besser erklären zu können, ist es daher
sinnvoll, sich den Aufstieg der Begriffe »Nation«, »Kultur« und »Europa« zu verge-
genwärtigen, die zum Ende des 18. Jahrhunderts zu Schlüsselbegriffen des Selbst-
verständnisses der bürgerlichen Intellektuellen in West- und später auch in Osteu-
ropa werden und den Rahmen ihres politischen Handelns bereitstellen. Das Identi-
fikations- und Interpretationspotential dieser Begriffe ist bis heute nicht ausge-
ten]
Eine reflexartige Abwehr dieser Erscheinungen verbindet verschiedene wissenschaftliche
und politische Positionen. Vgl. den systemtheoretisch ausgerichteten Beitrag von P.
Fuchs, »Vaterland, Patriotismus und Moral. Zur Semantik gesellschaftlicher Einheit« in:
Zeitschr. f. Soziologie, Jg. 20, H. 2, 1991, S. 89-103.
ZfP 40. Jg. 1/1993
80 Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas
schöpft; eine Tatsache, die sich nicht von selbst versteht, sondern erklärt werden
muß. Insoweit gehört die Beschäftigung mit diesen Themen zur Selbstaufklärung
der Gegenwart, wobei die Beschäftigung mit der Formationsperiode des modernen
europäischen Nationalisierungsprozesses vielleicht eine unterschätzte Rolle spielt.
In diesem Beitrag wird Herders Bedeutung nicht so sehr in der Brillanz seiner
Ideen oder in deren systematischer Kraft gesehen, sondern in seiner immensen
Wirkung auf europäische Intellektuelle, insbesondere auf ost- und südosteuropä-
ische, die seine Gedanken in jenem Nationalisierungsprozeß fruchtbar machten,
der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Das Folgende ist konzipiert worden, bevor die Konflikte in Jugoslawien auf die
Art eskalierten, wie wir es Jetzt erleben und wie es für Jugoslawien, aber auch für
die Europäische Gemeinschaft und damit für Europa und den Europagedanken
eine Bedeutung erlangt hat, die in den Tagen des Jahres 1990, des erneuten Auf-
bruchs der ost- und südostslawischen Nationen, für viele nicht vorauszusehen war.
Bewaffnete Auseinandersetzungen in Europa, innerhalb eines Staates, und die Ver-
suche ihrer Beilegung stellen an die Überlegungen zur Zukunftsgestalt Europas
Fragen. Hier nun wird zu zeigen versucht, daß und wie Herder an diesem Punkt
ins Spiel kommt, indem Herders Europagedanke und dessen Einfluß auf die euro-
päische Entwicklung skizziert werden, die in gewissem Sinne zum Verständnis der
jetzigen Lage unabdingbar sind’.
Bei der Verbindung von Herder mit der jetzigen Situation handelt es sich nicht
um eine künstliche Aktualisierung; denn hier wird vorausgesetzt, daß einfache
Rückgriffe auf Herders Begriffe und Konzepte im Sinne von Anleitungen nicht
möglich sind. Aber es läßt sich doch zeigen, was passiert, wenn das Niveau einmal
erreichter Problemeinsichten unterschritten wird und wirksam gewordene Gedan-
ken vergessen oder mißachtet werden, wie dies bei Herder geschah. Hierfür bietet
sich ein Blick auf Jugoslawien und Europa an. Die Ereignisse auf dem Balkan sind
nämlich nicht so überraschend, wie es sich heute für viele darstellt. Überraschend
und erklärungsbedürftig ist vielmehr, wie unvorbereitet die Politik der EG auf
2 Das gilt vor allem für die (west-)deutsche Forschung der letzten Jahrzehnte. Die Aktuali-
tät und Modernität Herders wurde vor allem in den angelsächsischen Ländern weiterhin
betont. So ist es kein Wunder, daß die bedeutendsten Arbeiten zu Herder in den letzten
Jahrzehnten von angelsächsischen Autoren vorgelegt wurden (vgl. I. Berlin, Vico and Her-
der. 2 Studies in the History of Ideas, London 1976; H. B. Nisbet, Herder and the Philosophy
and History of Science, Cambridge 1970); Herders vergessene Rolle als Wegbereiter
sozialwissenschaftlichen Denkens (also eine Erweiterung des sonst üblichen >germanisti-
schen« Blicks auf Herder) bieten z. B.: G. A. Wells, Herder and After. A Study in the Deve-
lopment of Sociology, The Hague 1959; F.M. Barnard, Zwischen Aufklärung und Roman-
tik. Eine Studie über Herders soziologisch-politisches Denken, Berlin 1964.
Einen gelungenen Versuch stellt in dieser Hinsicht M. Zaremba, Johann Gottfried Herders
humanitäres Nations- und Volksverständnis. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Bundesre-
publik Deutschland, Berlin 1985, dar, der Herders Bedeutung für die Erkenntnis der bür-
gerlichen Öffentlichkeit, der »politischen Kultur: würdigt; vgl. für die historischen und
zwischengesellschaftlichen Entwicklungen: E. Lemberg, Nationalismus, 2 Bde., Hamburg
1964, hier besonders Bd. 1, S. 165 ff.
(0n)
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 81
diese Situation reagiert. Ganz offensichtlich reichen Wissen und Einschätzungs-
vermögen der westlichen Politiker für solche Situationen nicht aus. Die wiederhol-
ten Appelle an die Slowenen und Kroaten, den Einheitsstaat nicht zu verlassen,
haben einen beträchtlichen Teil zu der gewaltsamen Zuspitzung der Lage beigetra-
gen. Wo liegen die Gründe für dieses Fehlverhalten des westlichen Europa?
Ein erster Grund für dieses Versagen liegt in den Folgen beschlossen, die die
40jährıge Teilung des europäischen Kontinents gebracht haben. An die Stelle der
Vertiefung gegenseitiger historischer, gesellschaftlicher und kultureller Kenntnisse
der Nationen voneinander, wie sie auch Herder gefordert hatte, traten ideologi-
sche Konflikte und dadurch erzeugte perspektivische Einseitigkeiten. Daraus
resultieren die unrealistischen, weil ideologischen Rezepte und Verschreibungen
des jetzigen EG-Denkens, das im Falle Jugoslawiens gegen alle historische Ein-
sicht an der Idee des Einheitsstaates festhielt. Es ist fraglich, ob eine solche Politik
den kommenden Entwicklungen, die sich in dem Verhältnis der Slowakei zu Prag
und der Neukonstitution eines föderalen Systems der ehemaligen UdSSR anbah-
nen, gewachsen ist und ob sie geeignet ist, den Europa-Gedanken auch für die öst-
lichen Nationen mit ihren spezifischen Problemen zu öffnen und zu verändern.
Beschäftigt man sich mit Herder, so kommt man zu der Vermutung, daß die
Fehleinschätzungen tiefer angelegte Gründe haben, als auf den ersten Blick
ersichtlich ist. Denn hinter dem dauernden Pochen auf die Ideen einer »neuen
Weltordnung: und einer »europäischen Friedensordnung« stehen nicht nur aner-
kennenswerte Ziele, sondern zugleich bestimmte ideologische Prinzipien, die die
realen Probleme von ethnischen und religiösen Konfliktlinien, wie sie in Jugosla-
wien in der historischen Spaltung von westlichem und östlichem Christentum, von
Christentum und Islam vorliegen, systematisch unterschätzen und ausblenden.
Und insoweit repräsentieren die EG und die USA in ihren politischen Vorstellun-
gen Prinzipien, die zuallererst von postnationalen Ordnungsvorstellungen gekenn-
zeichnet sind und den Völkern und Nationen immer weniger Bedeutung zumes-
sen. Im Gegenteil gelten alle eigenen nationalen Wege als Abweichung von dem
Weg, der die Lösung dieser Probleme verheift.
Doch nach den Erfahrungen der letzten Monate im Baltikum und in Jugosla-
wien wird es eine der wichtigsten Fragen für das zukünftige Europa sein, wie die
Rolle der Nationen, Nationalitäten, der Völker und Staaten in ihrem Miteinander
gestaltet werden soll. Dabei bleibt in der Diskussion meist unerwähnt, daß es in
Europa zwei grundsätzlich unterschiedliche Modelle der Nationalstaatsbildung
gibt, die sich, grob gesprochen, auf West und Ost verteilen, wobei Deutschland in
verschiedenen Hinsichten eine Mittellage einnimmt.
Kulturnation und Staatsnation
»Ein vor 50 Jahren in Deutschland entsprungenes Werk ..., welches unglaublich
auf die Bildung der Nation gewirkt hat und nun, da es seine Schuldigkeit getan, so
ZfP 40. Jg. 1/1993
6
82 Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas
gut wie vergessen ist.«* So charakterisiert Goethe im frühen 19. Jahrhundert die
Bedeutung Herders, die er in «Dichtung und Wahrheit« für seine eigene Biogra-
phie, die Entstehung der literarischen bürgerlichen Bewegung, den »Sturm und
Drang: und die Ausbildung der Klassik ausgiebig würdigt. Herders Ideen, einge-
gangen in die gesellschaftliche Realität und so sozial wirksam geworden, wirken
also, obwohl ihr Autor für viele schon unbekannt geworden ist. Heute allerdings
sind auch Herders Einsichten vergessen, wenngleich allmählich wieder Interesse
daran entsteht. Für dieses Vergessen gibt es Gründe, die bei Herder selbst zu
suchen sind, und solche, die mitbestimmt sind durch politische und historische
Veränderungen und Erfahrungen in Deutschland. Noch vor kurzem erschien eine
Arbeit, die die Rezeptionsgeschichte Herders in Deutschland kritisch durchleuch-
tete und dabei vor allem die Begriffe »Nation« und >Volk« in den Mittelpunkt
rückte, die nach 1945 nicht mehr selbstverständlich benutzt werden konnten. Auch
daran zeigt sich, daß Herders Wirkung direkter mit den ideen- und realgeschicht-
lichen Umständen der deutschen Geschichte verwoben ist, als dies für andere Den-
ker seiner Zeit gilt’.
Die Schwierigkeiten, die Herder selbst einer Aneignung seiner Ideen in den
Weg legt, lassen sich auf einen Grundtatbestand zurückführen. Er entwickelte
seine zukunftsweisenden Gedanken über Kultur, Nation, Sprache und Volk zu
einer Zeit, als diese Begriffe noch nicht in einem festgelegten Sinn verwandt wur-
den. Herder selbst hat zu dieser Verfestigung entscheidende Anstöße gegeben,
wobei zudem bedacht werden muß, daß er kein philosophischer Systematiker war
und auch kein System anstrebte, wie sich in der Auseinandersetzung mit seinem
alten Lehrer Kant zeigt. Vielmehr liegt das für Herders Entwicklung und Wirkung
Entscheidende in seiner Offenheit für die politisch-sozialen Realitäten und Ten-
denzen, die in der Weiterentwicklung seiner Begriffe und Ideen zum Tragen
kommt. Es fällt daher schwer, die Begriffe »Kultur«, »Nation« und »Volk«, wie auch
»Individualität«, »Entwicklung« und »Werden«, je für sich zu bestimmen und zu
erläutern. Denn sie bilden grundsätzlich ein enges Geflecht aufeinander bezogener
Vorstellungen, die weithin äquivoke Verwendung finden. Dies zeigt sich auch ins-
besondere bei seinen Gedanken zum Zusammenhang von Kultur, Nation und
Europa‘.
4 J. W. Goethe, Weimarer Ausgabe I, Bd. XLI, S. 2. Die Haltung der Weimarer Klassiker zu
Herder ist uneinheitlich. Insbesondere nach 1792 galten Herder und Wieland als »grobe
Demokraten:, die weiterhin Anhänger der Französischen Revolution waren.
5 So B. Becker, Herder-Rezeption in Deutschland. Eine ideologiekritische Untersuchung, Sankt
Ingbert 1987. Die ideologische Inanspruchnahme Herders durch DDR-Autoren resü-
miert Zaremba, aaO. (FN 3), S. 44-62.
6 Für den deutschen Sprachraum ist Herder der vielleicht wichtigste Autor des von Kosel-
leck beschriebenen Prozesses der Herausbildung der modernen Semantik der Selbstbe-
schreibungsbegriffe »Zivilisation«, »Nation«, >Kultur« und »Gesellschaft« (vgl. R. Kosel-
leck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979; an
einem Beispiel: B. Kopp, Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassık. Eine Untersu-
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 83
Dazu muß als erstes betont werden, daß mit Herder eine vollständig neue Auf-
fassung Europas entsteht, eine Perspektive, die das gesamte folgende Jahrhundert
bestimmen wird. In ihrem Mittelpunkt steht die Erweiterung und Konkretisierung
des Kulturbegriffs, den Herder von den alten, auf Individuen bezogenen Vorstel-
lungen befreit und auf soziale Gruppen überträgt, auf die historischen Individuali-
täten kollektiver Gebilde, die Nationen und Völker. Die Veränderungen des Euro-
pagedankens gehen so weitgehend einher mit der Anreicherung und Entfaltung
des Kulturbegriffs. Ausgehend von den Gedanken der aufklärerischen Historiker
in Göttingen und Rousseaus, wandte sich Herder in seiner Analyse Europas von
den gängigen Entwürfen der Kabinetts-, und das heißt bei ihm vor allem von der
Staatspolitik, ab und statt dessen den kulturellen Individualitäten von Grupen zu.
Das Schlüsselprinzip zur Interpretation der europäischen Geschichte bildet nun
näherhin die Verbindung von Kultur und Nation. Dabei ist es für den späteren
Europagedanken wichtig, daß Herder die Rolle des, modern gesprochen, Kultur-
kontakts und -transfers sowie des Kulturvergleichs für die eigentlichen Triebfe-
dern der Geschichte hält und in den institutionellen Verfestigungen dieser produk-
tiven Vorgänge den Vorzug Europas sieht’. So bildet, wie bekannt, für Herder den
Ausgangspunkt der nationalen Genese, daß »nur durch Sprache ... ein Volk
(wird)«®. Und so werden die Sprache und ihre Pflege zum Angelpunkt der kultu-
rellen Identität der Völker, die durch diese Pflege ihrer Sprache und Geschichte zu
Nationen werden. Denn ohne »eine gemeinschaftliche Landes- und Muttersprache
... keine gemeinsame patriotische Bildung ..., kein vaterländisches Publikum«’.
Für die Einsicht in den Nationalisierungsprozeß als ganzen reicht für Herder
jedoch der Blick auf die sprachliche und insofern binnengesellschaftliche Entwick-
lung nicht aus. Die Voraussetzung des nationalen Bewußtseins ruht auf langen
historischen Zusammenhängen, aber auch Geschichte in diesem Sinne in Verbin-
dung mit Sprache reicht nicht aus, um Nationalität zu konstituieren. Dazu bedarf
es der Beobachtung anderer Gruppen oder Nationen. Isolierte Nationen kommen
zu keiner Identitätserfahrung, die nämlich nur von außen angestoßen werden
kann. Ohne Kulturkontakt fehlt die Notwendigkeit der Identitätsbildung: » Weiter
gehet er nicht, wie wir an allen kleinen so genannten barbarischen Nationen sehen.
Mit ihren Notwendigkeiten abgeteilt können sie Jahrhunderte lang in der sonder-
barsten Unwissenheit bleiben, wie jene Inseln ohne Feuer... .«!° Indem Nationen
sich vergleichen, Einfluß aufeinander ausüben, erkennen sie sich selbst, indem sie
sehen, was sie nicht sind.
chung im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel des Wortes Kultur, Meisenheim a.
Glan 1974, S. 19 ff.).
7 Vgl. die verschiedenen Äußerungen in den »Ideen« in: J. G. Herder, Sämtliche Werke,
hrsg. v. B. Suphan, Berlin 1877-1913, Bde. XIII und XIV, hier vor allem im 11. Buch,
Bd. XIV, S. 36 f.; vgl. auch H. Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur
deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, S. 104 ff.
8 Herder, aaO. (FN 7), Bd. XVIII, S. 387.
9 Herder, aaO. (FN 7), Bd. XVII, S. 288.
10 Herder, aaO. (FN 7), Bd. V, S. 136.
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6*
84 Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas
Daraus nun folgt für Herder, daß nur Kulturvergleich und Kulturtransfer die
Geschichte der Kulturentwicklung vorantreiben, darin nun aber auch, quasi im
Gegenzug, die Nationen zu ihrer je eigenen Geschichte und Identität gelangen, die
sie von anderen Nationen unterscheidet. Herder hat diese Gedanken bis in seine
letzten Reflexionen über die Folgen der Französischen Revolution für Europa und
den zukünftig notwendigen Nationalisierungsprozeß in Europa weiterentwickelt
und in ihnen die Konstitutionsprinzipien Europas gefunden. Kulturtransfer und
-vergleich also sind die bewegenden Kräfte, die Identität erzeugen, wobei er ande-
rerseits deutlich die Gefahren eines daraus entspringenden nationalen Rückzugs-
und Überheblichkeitsgefühls erkennt. Statt dessen fordert er die gleichberechtigte
Partnerschaft autonomer Staaten aufgrund eigener kultureller Nationalität. Gegen
Vorstellungen eines einlinigen Prozesses des historischen Fortschritts, wie er ın
den kolonialistischen Rechtfertigungen zum Tragen kommt, stellt Herder das
Prinzip der generellen Gleichberechtigung und -wertigkeit der Kulturen, wie es
dann in die Ideen des Historismus einging".
Als entscheidende Zukunftsaufgabe Europas erscheint ihm daher die Durchset-
zung der nationalen und kulturellen Selbstbestimmung der europäischen Völker —
ein Prozeß, der Deutschland, Italien und die slawischen Völker zu Nationen
machen sollte, die sich eigene nationale Gestalten geben sollten !2. Damit hat Her-
der in zweifacher Hinsicht gewirkt. Er hat im Nationalismus als erster die zukünf-
tig entscheidende politische und soziale Kraft in Europa gesehen, und er hat mit
seinen näheren Analysen und Ideen zugleich als Anreger und Propagator der ent-
stehenden nationalen und kulturellen Bewegungen gewirkt”.
Das hiermit angedeutete Herdersche Strukturmodell der sprachlich-kulturellen
Nationalstaatsbildung läßt sich idealtypisch von einem territorialstaatlichen Struk-
turmodell unterscheiden. Dabei ist es wichtig, sich klarzumachen, daß sich die bei-
den Modelle nicht ausschließen, sondern historisch vielfältig ineinandergreifen
und überlagern. In den zur Zeit der Französischen Revolution gefestigten Natio-
nalstaaten Spaniens, Englands und Frankreichs haben wir das Modell der nations-
bildenden Kraft des Staates vor uns. So gilt die Nation in der französischen und
englischen Staatsrechtslehre und im allgemeinen Bewußtsein bis heute als politi-
sche Einheit. Die Nation wird also als Staat im Sinne der Gesamtheit der Staatsan-
gehörigen verstanden. Der Staat bildet die rechtliche Verkörperung der Nationen.
11 Vgl. dazu noch immer F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München/Berlin
1936, S. 355 — 444.
12 Hier geht es nicht um »Sonderwege«, sondern um Strukturmodelle. Man muß sich hüten,
die historisch frühesten und erfolgreichen Nationalisierungsprozesse zu normativen
»Modellen: zu erheben. Ihr historisches »Vorläufertum: hat zwar auch vorbildhaft
gewirkt, ist aber auf gesellschaftlich andere Bedingungen gestoßen, als es nach der Fran-
zösischen Revolution nach Osten wanderte. Dies hat Herder als einer der ersten gesehen
(vgl. Lemberg, aaO. (FN 3), S. 86 ff.; H. Kohn, The Idea of Nationalism. A Study in its
Origins and Background, New York 1944).
13 So H. Sundhaußen, Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völ-
kern der Habsburger Monarchie, München 1973.
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 85
Da über die nationale Zugehörigkeit durch das objektive Merkmal der Staatlich-
keit entschieden ist, besteht hier kein Anlaß zur politischen Anerkennung verschie-
dener Nationalitäten innerhalb eines Staates.
Das Herdersche Strukturmodell verweist demgegenüber auf eine andere Mög-
lichkeit der Nationalstaatsbildung, die nicht ursprünglich vom Staat, historisch
also von den Territorialherrschern, ausgeht, sondern von unten, vom, wie Herder
sagt, Volk». Das Volk steht hier als Inbegriff des Subjekts der sprachlich-kulturel-
len Gestaltung des Staates. Dabei wird dieses Modell vom feudalen Fall Frank-
reichs abgehoben. Es ist für Herder ein bürgerliches Modell, in dem die aufstei-
genden bürgerlichen Schichten zu einer Selbstidentifikation mit der Nation gelan-
gen, ja sich als eigentliche Verkörperung der Nation sehen und sich gegen standi-
sche Nationsvorstellungen stellen. Das Medium dieser Identifikation ist sprach-
lich-kulturell bestimmt *$.
Soziologisch gesehen, stellt die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts den begin-
nenden Übergang zur industriellen Produktion dar, mit verstärktem Bevölke-
rungswachstum, Wanderungsbewegungen und der Neustrukturierung der hierar-
chisch-ständischen durch eine egalitäre, auf funktionaler Arbeitsteilung beruhen-
den Gesellschaft. Diese neugegliederten Gesellschaften mußten auch Gruppen-
strukturen bilden, die den immer größere Teile der Bevölkerung einbeziehenden
Organisationen in Wirtschaft, Verwaltung und Militär entsprachen. Die Integra-
tion dieser Gesellschaftsgruppen zu modernen Gesellschaften war nicht mehr auf
vornationale Weise möglich. Die Identifikation der Bürger mit einem selbstgestal-
teten und selbstbestimmten Gemeinwesen gab sich die Gestalt der modernen
Nation. Und die nationale Integration der modernen Gesellschaften konnte nach
dem Muster der zwei idealtypisch dargestellten Strukturmodelle geschehen ”.
Die beiden Strukturmodelle zeigen also nicht nur zwei ideale Möglichkeiten der
Nationsbildung, sondern sie beschreiben auch weitgehend die unterschiedliche
historische Realität in Ost- und Westeuropa. Es ist damit der Bezug auf eine ganz
bestimmte Wirklichkeit, der es gerade heute wieder lohnend erscheinen läßt, sich
intensiver mit Herderschem Gedankengut auseinanderzusetzen. Dieser »Wirklich-
14 Das schlägt sich sowohl in den realpolitischen Schwierigkeiten Frankreichs mit Korsika,
Spaniens mit dem Baskenland und Englands mit Nordirland und, was sich anbahnt, mit
Schottland nieder, wie auch in der staatsrechtlichen Literatur (vgl. Sundhaußen, aaO.
[FN 13], S. 41 ff.).
15 Vgl. dazu Zaremba, aaO. (FN 3).
16 Vgl. Lemberg, aaO. (FN 3), S. 175 ff. Die enge Verbindung von Nation, Moderne und
Selbstbestimmung scheint befremdlich. Doch wird man sich dieser Sichtweise nähern
müssen, wenn man die historische »Überlegenheit< der Nation als gesellschaftlichem
Organisationsprinzip erklären will. Wenig spricht dafür, den Nationalismus vorschnell
als >jugendliches< Stadium gesellschaftlicher Entwicklung zu depotenzieren, da angebli-
che Nachfolgestrukturen wie EG, UNO und auch die UdSSR bisher offenbar weder als
ideologische Identitatsfoki noch als reale Handlungseinheiten fungieren.
17 Es versteht sich, daß in der historischen Realität Mischformen mit wechselnden Anteilen
die Regel sind. Allerdings läßt sich eine grobe Aufteilung in West- und Osteuropa vor-
nehmen.
ZEP 40. Jg. 1/1993
86 Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas
keitsbezug: läßt sich am deutlichsten an der Rezeptionsgeschichte verdeutlichen;
denn gerade die Wirkung Herderscher Schriften zeigt, ob und inwiefern er histori-
sche, soziale und kulturelle Reallagen in den einzelnen Ländern traf.
Die Wirkungsgeschichte Herders in West und Ost
Die Wirkungsgeschichte Herders verlief, wie ein Vergleich zeigt, in West- und
Osteuropa unterschiedlich. In England erschienen, seit 1776 im »Monthly Review«
Herders »Über den Ursprung der Sprache« besprochen worden war, regelmäßig
Artikel über seine Schriften, wobei das Urteil vom Lob für ein reines religiöses
Gefühl bis zur Ablehnung deutscher metaphysischer Moden reichte. Wesentlich
angeregt wurde diese Rezeption um 1800 durch T. Churchills Übersetzung der
»Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. Coleridge allerdings,
einer der wichtigsten Vermittler deutscher Philosophie und Literatur nach Eng-
land, machte aus seiner Abneigung gegen Herder keinen Hehl, indem er, als
Anhänger Kants, sein Urteil über die »Metakritik der Kritik der reinen Vernunft«
(1799) auf das ganze Werk Herders ausdehnte !*. Im ganzen gesehen blieb die eng-
lische Herder-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert auf einen kleinen Kreis von
interessierten Literaten und Gelehrten begrenzt, die, ganz nach ihren individuellen
Interessen, Vorlieben und Kenntnissen, von Herder manchmal mehr, manchmal
weniger Anregungen übernahmen. Dies gilt im Kern auch noch heute.
In Frankreich stand die Wirkungsgeschichte Herders in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts auf einer etwas breiteren Basis; denn sie war eingebunden in eine
tiefreichende Rezeption deutscher Literatur und Philosophie, durch die sich eine
ganze Generation französischer Intellektueller nach Revolution und napoleoni-
scher Diktatur neu orientierte °. Den Anfang der Rezeption machte ein Kapitel in
Mme de Staels berühmtem Deutschlandbuch, in dem sie vor allem Herders Ein-
fühlungsvermögen in den Geist fremder Nationen und Zeiten lobte. Dieses Buch
eröffnete für die liberale Intelligenz neben den Traditionen der französischen und
englischen Aufklärung eine neue Welt. »Je lisais Kant et Klopstock, Herder et
Schiller, beaucoup plus que Condillac et Voltaire«2!, bekannte in seinen Erinne-
rungen der Historiker und Vertreter des >juste milieu« Francois Guizot, der in der
Julimonarchie als einflußreicher Minister das französische Schulwesen refor-
mierte. Die Rezeption des Herderschen Gedankenguts stand dabei in erster Linie
im Zeichen einer Wiederentdeckung der Religion als geschichtlicher Macht. So
18 S. A. Gillies, Herder. Der Mensch und sein Werk, Hamburg 1949, S. 196 ff.
19 Der Beginn dieser Rezeptionswelle wird gewöhnlich auf das zunächst von der napoleoni-
schen Zensur verhinderte Erscheinen von Mme de Staels »De l’Allemagne« (1813) ange-
setzt, wurde jedoch schon einige Jahre vorher vor allem durch C. de Villers und B. Con-
stant vorbereitet. Mme de Stael traf dann schon auf eine feste Erwartungshaltung (s. W.
Leiner, Das Deutschlandbild der französischen Literatur, Darmstadt 1989, S. 83 ff.).
20 Siehe A. L. G. de Stael, De l'Allemagne, Paris 1966, Bd. 2, S. 63 ff.
21 Zit. nach P. Stadler, Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789-1871,
Zürich 1958, S. 103.
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 87
griff Benjamin Constant 1825 in seinem »De la Religion« an zentralen Stellen auf
Herder zurück.
Der wichtigste Vermittler Herders nach Frankreich war jedoch der Historiker
Edgar Quinet22. Ihm wurde die Begegnung mit Literatur und Philosophie der
deutschen Klassık ein Bildungserlebnis, das ihn über Jahrzehnte prägte. Quinet
übersetzte 1825 die »Ideen« ins Französische, allerdings, wegen mangelnder
Sprachkenntnis, auf der Basis von Churchills englischer Übersetzung. Das war die
Grundlage für den großen Einfluß Herders auf eine ganze Reihe bedeutender
französischer Historiker von Michelet über Guizot bis zu Renan und Cousin. Das
offene Bekenntnis zu Herder wie allgemein zur deutschen Philosophie war schon
mit dem Ende der Julimonarchie und dem Aufstieg des Positivismus ab der Jahr-
hundertmitte schwankend geworden und fand dann nach 1870 sein Ende, als sich
diese Generation demonstrativ von Deutschland abwandte. Denn die deutsche
Kultur, so resümierte Quinet 1870 in einem Zeitungsartikel, habe Europa nur über
die wahren Absichten Preußens getäuscht». Ab diesem Zeitpunkt hatte die Rezep-
tion Herderscher Schriften und Ideen ihre soziale Basis verloren und wurde auch
im 20. Jahrhundert im wesentlichen nur noch von wenigen gelehrten Spezialisten
betrieben.
Im ganzen zeigt die Rezeptionsgeschichte Herders in Westeuropa, daß seine
Wirkung im wesentlichen auf kleine Gelehrtenzirkel begrenzt blieb. Das schließt
nicht aus, daß es zu jeder Zeit in England, Frankreich und den USA ausgezeich-
nete Kenner Herders, wie etwa R. T. Clark, R. R. Ergang, A. Gillies, I. Berlin,
W. H. Bruford, H. Tronchon oder P. Pénisson, um nur die wichtigsten zu nennen,
gab und noch gibt. Von ihnen gingen bedeutende Anregungen für die Herder-For-
schung aus, auch zu einer Zeit, als man im Westen Deutschlands noch mit der kri-
tischen Aufarbeitung von Herders Volksbegriff beschäftigt war und im Osten mit
seiner Integration in die Ahnenreihe des humanistischen Internationalismus. Das
ändert aber nichts an der Tatsache, daß sich die Wirkungsgeschichte Herders in
Westeuropa primär aus ideengeschichtlichen Ereignissen zusammensetzt, während
sie in Mittel- und Osteuropa auf die Genese ganzer sozialer Bewegungen bezogen
werden muß.
Herders Strukturmodell der Nationalstaatsbildung ist das Produkt der besonde-
ren Erfahrungen, die sich Herder, in Ostpreußen geboren, in Königsberg studie-
rend und im russischen Riga seine erste Stellung antretend, in der osteuropäischen
Welt aufdrängten, die gekennzeichnet ist durch eine ethnische, religiöse, soziale
22 S. E. Quinet, »Essai sur les œuvres de Herder« in: Ders., Œuvres complètes, Paris 1895 ff.
(Reprint Genéve 1990), Bd. 8, S. 69 ff.; vgl. W. Aeschimann, La pensée d’Edgar Quinet,
Paris/Genéve 1986; zur französischen Herder-Rezeption vgl. auch A. Gillies, aaO.
(FN 18), S. 202 ff.
23 S. E. Quinet, »Le siège de Paris et la défense nationale« (9. September 1870) in: Ders.,
aaO. (FN 22), Bd. 25, S. 1 ff.; ganz ähnlich auch die Reaktion Renans (s. W. Leiner, aaO.
[FN 19}, S. 138 ff.).
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88 Homann/Albrecht : Die Wiederentdeckung Osteuropas
und kulturelle Durchmischung der Völker“. Von einheitlichen Staatsgebieten
konnte hier, auch abgesehen von der damaligen politischen Situation, in der außer
Rußland kein slawisches Volk einen eigenständigen Staat bildete, nicht die Rede
sein. Deutsche, Balten, Polen und Russen sowie ähnlich im Habsburger Reich die
verschiedenen Völkerschaften lebten in einer kulturellen Gemengelage. Es war
Herder schon früh klar geworden, was hier nicht ausführlich gezeigt werden kann,
daß die slawischen Völker im 19. Jahrhundert einen entscheidenden Selbstbesum-
mungs- und Nationalisierungsschub erleben würden, der zu einer grundlegenden
Veränderung der ost- und südosteuropäischen Landkarte führen sollte. Nun ist
der Einfluß einzelner Denker oder auch Ideen schwer zu ermitteln. Doch im Falle
Herders und der Slawen läßt sich ohne Zweifel von einer immensen Wirkung spre-
chen, was sich bis heute im allgemeinen Bewußtsein der slawischen Nationen spie-
gelt, durch Untersuchungen gut bestätigt ist und in dem Umfang der Übersetzun-
gen zum Ausdruck kommt».
Herders Modell der kulturellen Nationalität ist vor allem an der Sprachpflege
orientiert und der damit gegebenen Möglichkeit, geschichtliche Identität zu erzeu-
gen, die sich auf alte Mythen und Literaturwerke gründete, wie es Herder für
Israel gezeigt hatte. Diese Gedanken sind von den in Deutschland studierenden
slawischen Studenten aufgenommen worden. Damit trug er entscheidend bei zu
der Bewegung des sogenannten »nationalen Erwachens« der Slawen am Ende des
18. Jahrhunderts. Diese Bewegung ist eng verbunden mit und angestoßen worden
von jenem Prozeß der Bildung der deutschen Sprachnation, wie sie in der Klassik
zum Ausdruck kam”. Dieser Prozeß der slawischen nationalen Bewegungen läßt
sich grob in drei Großräume scheiden: Rußland, die Länder des habsburgischen
Reiches und das Gebiet Polen-Litauen-Ukraine 2. In diesen Räumen bildeten sich
: Nationalstaaten nicht nach dem Muster der westeuropäischen Länder aus, sondern
sie sind, bedingt durch ihr kulturell ausgesprochen durchmischtes Verhältnis von
Siedlungs- und Sprachgruppen, dem Herder’schen Modell gefolgt. Die nationalen
Bewegungen sind hier in erster Linie auf nationale Selbstbestimmung gerichtet, die
sich im Falle Polens gegen die Teilungsmächte, gegen die Habsburger Monarchie
und in den südslawischen Gebieten gegen die türkische Herrschaft richteten ®.
Zur intellektuellen Bildung dieser Bewegungen waren besonders die Beziehun-
gen wichtig, die die deutsche Aufklärung zu den slawischen Völkern aufgebaut
24 S. dazu F. W. Kantzenbach, Johann Gottfried Herder, Reinbek b. Hamburg 1970, S. 8-36.
25 Vgl. Sundhaußen, aaO. (FN 13), S. 64 ff.
26 Nähere Nachweise in: G. Ziegengeist u.a. (H.), Johann Gottfried Herder. Zur Herder-
Rezeption in Ost- und Südosteuropa, Berlin 1978.
27 Vgl. dazu insgesamt R. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., Ber-
lin 1880/1885.
28 Alle drei Regionen werden in dem in FN 26 genannten Band behandelt; vgl. auch E. Win-
ter, Frühaufklärung in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1966; ders., Barock, Absolutismus und
Aufklärung in der Donaumonarchie, Wien 1971; E. Amburger u. a. (H.), Wissenschaftspoli-
tik in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1976.
29 S. Lemberg, aaO. (FN 3), S. 102 ff.
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 89
hatte. An den Universitäten Leipzig, Jena, Halle, Göttingen und Wien wurden sla-
wistische Studien eingerichtet und damit auch slawische Studenten angezogen und
ausgebildet”. Im Gegensatz zu Frankreich, wo die Aufklärung ihren sozialen Ort
in den Salons hatte, waren in Deutschland die Universitäten die Zentren dieser
Bewegung’. Es waren slawische Studenten, spätere Wissenschaftler, die auf deut-
schen Universitäten die Aufklärung kennenlernten und hieraus ihre eigenen Kon-
sequenzen zogen. Das nationale Erwachen der slawischen Völker hängt daher mit
den Arbeiten der deutschen Universitäten, der Verbindung von Sprachwissen-
schaft und slawischer Geschichte vor allem bei Gerhard Friedrich Müller, August
Ludwig Schlözer und Karl Gottlob Anton, der die slawische Volkskunde begrün-
dete, und anderen zusammen 2. Durch Kulturkontakt und -transfer entstanden so
in den slawischen Völkern starke kulturelle Bewegungen, die, Herders Weisung
gemäß, zuerst Sammlungen alter Lieder, Epen und Mythen zusammenstellten, sich
dann um eine Wiederherstellung oder Neubegründung der alten slawischen Spra-
chen bemühten, indem sie Grammatiken verfaßten, Wörterbücher erstellten und
die Sprachpflege propagierten. Es ist kein Wunder, sondern nach dem Gesagten
verständlich, daß diese Arbeiten von deutschen Wissenschaftlern angeregt wurden
und besonders von der Vorläuferrolle Herders zehrten »
Für die Selbstinterpretation der slawischen Völker wurde nun insbesondere das
berühmte Slawenkapitel im 16. Buch von Herders »Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit« wichtig, das knapp drei Druckseiten umfaßt, aber mit
seiner Charakterisierung der Slawen bis hin zu den panslawistischen Ideen des
späteren 19. Jahrhunderts immer wieder vorbildlich gewirkt hat. Auch hier zählt
weniger, ob das von Herder entworfene Bild richtig ist, sondern wie dieser Kultur-
beobachter den slawischen Völkern zur Bildung eigener Identität verhilft. Bis hin
zu Masaryck und weiter wurde dieses Bild als zutreffende Beschreibung akzeptiert
und wurden daraus auch politische Konsequenzen gezogen ”. Herder schildert die
Slawen vor allem als friedliebende Bauern, die sich gutmütig von den kriegs- und
30 Vgl. E. Winter, Die Pflege der west- und südslawischen Sprachen in Halle im 18. Jahrhundert,
Berlin 1954; H. Peukert, Die Slawen der Donaumonarchie und die Universität Jena
1700-1848; M. Kostic, Serbische Studenten an den Universitäten Halle, Leipzig und Géttin-
gen im 18. Jahrhundert, Sudostdeutsche Forschungen Bd. 3, H. 2, München 1938.
Das bleibt ın den meisten geistesgeschichtlichen Betrachtungen unberücksichtigt, weswe-
gen man bei Beschäftigung mit diesem Thema die Arbeiten zur Universitätsgeschichte
heranziehen muß.
32 Vgl. dazu Sundhaußen, aaO. (FN 13), S. 14 ff.; G. Ziegengeist / H. Grasshoff / U. Leh-
mann, »Herder und die slawischen Völker: Rezeption und Wirkungspotenz« in: Ziegen-
geist, aaO. (FN 26), S. 1-28.
33 Vgl. die verschiedenen Beiträge in Amburger, aaO. (FN 28).
34 Vgl. dazu, trotz einiger Einseitigkeiten, etwa A. Fischel, Der Panslawismus bis zum Welt-
krieg, Stuttgart/Berlin 1919, bes. S. 180 ff.; H. Kohn, Pan-Slavism. Its History and Ideo-
logy, Notre Dame 1953.
35 Vgl. K. Bittner, Herders Geschichtsphilosophie und die Slawen, Reichenberg 1929; H.
Dybeck, »Das Slawenbild Herders und die beiden deutschen Staaten« in: Neue deutsche
Literatur 18, 1970, H. 9, S. 167-181.
3
mu
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90 Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas
abenteuerlustigen Nachbarn, vor allem den Deutschen, beherrschen ließen *. »Sie
waren mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Frei-
heit, aber unterwürfig und gehorsam, des Raubens und Plünderns Feinde. ... da
sie sich nie um die Oberherrschaft der Welt bewarben, ... so haben sich mehrere
Nationen, am meisten aber die vom deutschen Stamme, an ihnen sich hart versün-
digt. ... Das Rad der ändernden Zeit drehet sich indeß unaufhaltsam; . . . so wer-
det auch ihr so tief versunkene, einst fleißige und glückliche Völker von eurem
langen, trägen Schlaf ermuntert, von euren Sklavenketten befreit .. .«”
Eine große Anzahl von Studenten nahm diese Ideen auf. Herder wurde und
wird als Erwecker der slawischen Nationen gefeiert, der ihnen zu ihrem Selbstbe-
wußtsein verholfen habe. Das könnte hier für Polen, die Slowakei, Ungarn, Slowe-
nien oder Böhmen im einzelnen gezeigt werden *. In allen diesen Ländern gab es
durch Herder beeinflußte Intellektuelle, die den Anstoß zum sogenannten >natio-
nalen Erwachen: in der Beschäftigung mit der eigenen meist vergangenen Kultur
fanden. So erlebten die Slowaken Kollar und Safarik in Jena die eigene nationale
Erweckung, deren Vorbild sie im Erlebnis des Wartburgfestes fanden ”. Wie bei
dem Tschechen Dobrovsky und dem Polen Palacky entstanden hieraus anfangs
Sammlungen von Liedern und Sagen “. Wie Herder aber erkannt hatte, waren dies
erste Schritte hin zu einem eigenen nationalen Selbstbewußtsein, das dann Teil der
großen europäischen nationalistischen Bewegungen wurde und in der Gründung
eigener slawischer Nationalstaaten auslaufen sollte“.
Herders Wirkungsgeschichte in Westeuropa war also wesentlich auf kleine
Gelehrtengruppen begrenzt, während sie in Osteuropa soziale und revolutionäre
Bewegungen stimulierte. Dieses offenkundige Ost-West-Gefälle könnte man
dadurch erklären, daß die Herderschen Werke in Form und Inhalt den Traditio-
nen der französischen und englischen Aufklärung nicht entsprachen, daß Formlo-
sigkeit und Hamannsche Dunkelheit die an Descartes, Voltaire und Newton
Geschulten abstießen. Daß eine solche ideengeschichtliche Erklärung der unter-
schiedlichen Rezeptionsgeschichten nicht völlig ausreicht, zeigt ein Blick auf die
charakteristischen Ausnahmen, in denen Herder auch im >Kulturkreis« westeuro-
päischer Aufklärung über engere gelehrte Zirkel hinaus Bedeutung gewann.
Die entscheidende Voraussetzung dafür waren kulturell und politisch noch
nicht festgefügte Nationen. Das zeigt sich an Herders Einfluß auf die Formation
36 S. Herder, aaO. (FN 7), Bd. XIV, S. 277-280.
37 Herder, aaO. (FN 7), Bd. XIV, S. 279 f.
38 Vgl. als Übersicht M. Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen
Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patrioti-
schen Gruppen, Prag 1968.
39 Vgl. Sundhaußen, aaO. (FN 13), S. 112 ff.
40 Vgl. M. Murko, Deutsche Einflüsse auf die Anfänge der böhmischen Romantik, Graz 1897.
41 Vgl. R.A. Kann, Das Nationalitätenproblem in der Habsburger Monarchie, Bd. 1, Graz/
Köln 1964.
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 91
eines eigenen Nationalbewußtseins in den USA“. Ab 1815 zogen die deutschen
Universitäten mehr und mehr amerikanische Studenten an, die, vor allem in Göt-
tingen, von ihren akademischen Lehrern Heyne, Eichhorn und Heeren mit den
Schriften Herders vertraut gemacht wurden. Einer dieser Studenten war George
Bancroft. Nach Amerika zurückgekehrt, veröffentlichte er 1825 im »North Ameri-
can Review«, einer literarischen Zeitschrift mit explizit nationaler Zielsetzung,
einen Aufsatz über Herder, in dem er den humanitären Wert nationaler Literatur
und Literaturkritik herausarbeitete. An die Herdersche Geschichtskonzeption
knüpfte Bancroft dann in seinem mehrbändigen Monumentalwerk »History of the
United States« von 1834 an, das über Jahrzehnte das Standardwerk amerikanischer
Geschichtsschreibung blieb und bis 1846 13 Auflagen erlebte. Sein zentrales Anlie-
gen war dabei, Kristallisationspunkte für eine nationale Identität der USA zu
schaffen, indem er etwa den Zusammenhang zwischen Puritanismus, Individualis-
mus und dem Freiheitsstreben bei den amerikanischen Siedlern herausarbeitete.
Auf der Basis Herderscher Ideen formulierte Bancroft seine strikte Gegnerschaft
zur Sklaverei und definierte die weltgeschichtliche Bedeutung der USA als Mittler-
rolle zwischen Asien und Europa mit dem Ziel eines »commonwealth of nations<.
Dieses Programm förderte er auch praktisch, indem er als Sekretär der Navy die
Flotte der USA systematisch ausbauen lief.
Der Übergang vom Herderschen Denken zur »American political ideology«
zeigt sich auch bei Bancrofts Freund Francis Lieber, einem Niebuhr-Schüler, der,
aus politischen Gründen emigriert, zuerst das Brockhaus’sche Konversationslexi-
kon ins Englische übersetzen wollte, sich in den USA aber von der Notwendigkeit
eines national eigenständigen Lexikons überzeugte, amerikanische Autoren
anwarb und zwischen 1829 und 1833 zum ersten Herausgeber der »Encyclopedia
Americana« avancierte. Dabei entstanden Artikel, die einige für das amerikanische
Selbstverständnis so zentrale Begriffe wie >nationalism«, >individualism< und >com-
monwealth of nations: in enger Anlehnung an Herder bestimmten “.
Diese wenigen Beispiele zeigen, daß die Grenzlinie zwischen den beiden unter-
schiedlichen Rezeptionsgeschichten in West- und Osteuropa nicht nur ideenge-
schichtlicher Natur ist, sondern primär unterschiedliche soziale und politische
Lagen markiert; denn dort, wo, wie in Frankreich oder England, innerlich und
äußerlich gefestigte Nationen bereits existierten, blieb die Wirkung Herderscher
Ideen meist auf Geschichts- und Religionsphilosophie, auf Literaturgeschichte und
-kritik beschränkt. Dort aber, wo die Nationsbildung selbst geschichtlich anstand
42 Umgekehrt hatten amerikanische Autoren wie B. Franklin auch auf Herders Entwicklung
einigen Einfluß (s. A.R. Schmitt, Herder und Amerika, Studies in German Literature
Bd. 10, The Hague/Paris 1967).
43 S.K. Mueller-Vollmer, »Herder and the Formation of an American National Conscious-
ness during the Early Republic« in: Ders. (H.), Herder Today, Contributions from the Inter-
national Herder Conference. Nov. 5-8, 1987, Stanford, California, Berlin/New York 1990,
S. 415-430.
44 S.F.B. Freidel, Francis Lieber, Nineteenth-Century Liberal, Gloucester 1968.
ZfP 40. Jg. 1/1993
92 Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas
- auf welchen sozialen und politischen Voraussetzungen auch immer -, konnte die
Rezeption Herders Einfluß auf Ziel und Verlauf ganzer sozialer Bewegungen
gewinnen.
Die Aktualität des Herderschen Kulturbegriffs
Eine entscheidende Voraussetzung für diese Wirkung Herders war, daß er, als ein
Exponent deutscher Kultur, gerade dort seinen größten Einfluß entfaltete, wo es
um die nationale Abgrenzung eigenständiger Kulturen ging, was sich, wie im Fall
des Panslawismus oder des Baltikums, nicht selten gegen Deutschland richtete.
Diese hohe »Akzeptanzfähigkeit< des Herderschen Werkes weist auf eine spezifi-
sche Eigenschaft seines Ideenguts hin, die Herders Bedeutung in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts begründete: das Verhältnis zwischen Nationalität und Uni-
versalität. Während dieses Verhältnis in der französischen Aufklärung gleichsam
linear gedacht wurde, als Ausdehnung der innerhalb Frankreichs entwickelten
Kulturprinzipien durch geschichtlichen Fortschritt, bezog Herder in seine univer-
sale Humanitätstheorie die Möglichkeit, ja sogar die Wünschbarkeit verschiede-
ner, in bestimmten geschichtlichen Situationen sogar hart konkurrierender Kultur-
ideen mit ein. Auf diese Weise wurde die Nationalität pluralisiert, ohne die
geschichtsphilosophische Orientierung an einer universalen Humanität aufzuge-
ben. Erst dies ermöglichte dem aufklärerischen Geschichtsdenken die Anerken-
nung verschiedener Nationalideen, ohne sie gleichzeitig auf der Skala des Fort-
schritts der Zivilisation als höher oder tiefer bewerten zu müssen.
Das spezifische Verhältnis zwischen Nationalität und Universalität macht das
zentrale Merkmal des Herderschen Kulturbegriffes aus. Wie alle seine Begriffe ist
auch »Kultur« nicht an spezifische Inhalte gebunden, sondern wird in wechselnden
Kontexten in unterschiedlicher Bedeutung und mit unterschiedlichen Synonymen
gebraucht und ist im Herderschen Sprachgebrauch weit entfernt von jedem Ansatz
zu einer Systematisierung*. Gleichwohl ist der moderne Kulturbegriff erst eigent-
lich von Herder geprägt worden. Aus Ciceros »cultura animi« hatte sich »Kultur«
vor allem im Kontext von Staats- und Naturrecht zu einem eigenen Substantiv ent-
wickelt, das zuerst 1672 bei Pufendorf nachweisbar ist“. Der eigentliche Aufstieg
des Kulturbegriffs zu einem Schlüsselwort der Aufklärung vollzog sich aber erst
ab den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als er von dem Königsberger Drei-
gestirn Hamann, Kant und Herder aufgegriffen wurde ”.
45 Vgl. I. Taylor, Kultur, Aufklärung, Bildung, Humanität und verwandte Begriffe bei Herder,
Gießener Beiträge zur deutschen Philologie Bd. 62, Gießen 1938.
46 S.J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe
von Cicero bis Herder, Biblioteca dell’»Archivum Romanicum« Bd. 28, Florenz 1941; vgl.
im europäischen Kontext W. Schmidt-Hidding u. a. (H.), Kultur und Zivilisation, Euro-
päische Schlüsselwörter Bd. 3, München 1967.
47 S. etwa Herders Brief an Hamann vom 22. November 1768; Kant entwickelte zuerst den
Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation (s. »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht«, A 402 f.).
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 93
Entscheidend war dabei der Beitrag Herders, der >Kultur: zunächst als partiku-
lar-nauonales Phänomen unabhängig von politischen Organisationsformen in der
geschichtlichen Wirklichkeit ansiedelte und den Begriff somit auf die mittel- und
osteuropäischen Lagen anwendbar machte. Dies läßt sich an einer Legende veran-
schaulichen, die über Herder berichtet, daß er 1764 das Johannisfest der Letten am
Jagelsee erlebt habe und hierbei genau das fand, was zuvor Rousseau so eindring-
lich als das neue Pariser Kulturideal der Aufklärer geschildert hatte: die einfache
und natürliche Gemeinschaft von Menschen“. Wie Herder bemerkte, wurde die
der Letten allerdings nicht, wie bei Rousseau vorausgesetzt, durch eine Republik,
durch eine >cité<, durch eine politische Organisationsform zusammengehalten,
sondern durch die Kultur ihres ländlichen Bodens, durch >Folklore:, wie man
heute sagen würde. Diese Lage kennzeichnete die Lebensformen in Osteuropa
genauso wie im politisch zersplitterten Deutschland.
In seinen weiteren Schriften füllte Herder diesen Kulturbegriff nun mehr und
mehr mit Inhalt, indem er ihn auf zwei Ebenen verortete: Zum einen band er ihn in
den Fragmenten über die neuere Deutsche Literatur überall dort eng an den
Begriff der Nation oder des Volkes, wo er über griechische und römische Kultur
schrieb, über ihren Einfluß auf die deutsche Kultur und deren mangelnde Origina-
lität“. Gerade durch diesen engen Zusammenhang mit der »Nation« im ständigen
Vergleich mit anderen Nationen wurde dem Kulturbegriff von Anfang an sein Plu-
ral gleichsam implantiert. Für Herder gab es nicht nur eine universale Zivilisation,
auf deren Stufenleiter die Völker nur unterschiedlich fortgeschritten waren, son-
dern verschiedene Kulturen, die mit gleichem Lebensrecht als >historische Indivi-
duen«, wie man es später nannte, nebeneinander existierten. Die Klammer dieser
historischen Vielfalt der Kulturen bildete für Herder die Humanitätsidee. Diesen
Zusammenhang entwickelte er dann in seinen geschichtsphilosophischen Schrif-
ten, wo er den Widerspruch verschiedener Kulturen bestehen ließ, gleichzeitig
jedoch zeigte, daß alle gleichermaßen auf das gemeinsame Ziel der Humanität
angelegt sind.
Worin liegt nun die aktuelle Bedeutung dieses Kulturbegriffes? Zunächst: Diese
Bedeutung kann nicht in einem einfachen Rückgriff auf Herders Antworten für
die Lagen seiner Zeit bestehen. Zweihundert Jahre Geschichte haben seitdem die
Welt gründlich verändert und neue Erfahrungen angehäuft. So ist nach zwei Welt-
kriegen der einfache Geschichtsglaube abhanden gekommen, daß der Fortschritt
notwendig zum Segen von Mensch und Welt ausschlägt, indem sich das Orchester
der Nationalitäten gleichsam von selbst zur Harmonie universaler Humanitat
zusammenfügt. Was Herder noch dem geschichtlichen Fortschritt selbst überlas-
sen konnte, ist heute zur stets gefährdeten Aufgabe geworden. Die Aktualität Her-
48 S.K. Buchheim, Deutsche Kultur zwischen 1830 und 1870, Handbuch der Kulturgeschichte
Bd. 1, 9, Frankfurt/M. 1966, S. 5.
49 S. etwa bei Herder, aaO. (FN 7), Bd. I, S. 366 f.; Bd. II, S. 116; Bd. III, S. 412 f.
ZfP 40. Jg. 1/1993
94 Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas
ders liegt vielmehr in der Möglichkeit begründet, daß sich gerade heute an Her-
derschem Gedankengut erläutern und klären läßt, wo und wie sich durch die revo-
lutionären Ereignisse der letzten Jahre die Lagen in Europa grundlegend verscho-
ben haben. Das zeigt sich auf verschiedenen Ebenen:
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs müssen unzweifelhaft neue Brücken zwi-
schen Ost- und Westeuropa geschlagen werden. Herder gilt als einer der wichtig-
sten Vermittler zwischen westeuropäischer Aufklärung und Mittel- und Osteu-
ropa. Und das in doppeltem Sinne: Zum einen vermittelte er das Gedankengut der
Aufklärung nach Osten und trug so zur Integration der osteuropäischen Völker in
Europa bei, zum anderen aber band er die soziale, politische und kulturelle Wirk-
lichkeit Mittel- und Osteuropas in das Gedankengut der Aufklärung ein. Diese
Vermittlung konnte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur deshalb so große
Wirkung entfalten, weil durch die napoleonische Expansion das Zusammengehö-
rigkeitsgefühl in Europa enorm gewachsen war; denn die Grande Armee trug das
Bewußtsein, von den Vorgängen in Europa abhängig zu sein, tief in die abge-
schlossenen, nur an der gesellschaftlichen Spitze europäisierten Völker des Ostens
hinein. Die offensichtlich einigende Klammer von London über Madrid und Ber-
lin bis nach Moskau war dabei der gemeinsame Widerstand gegen eine aufge-
zwungene europäische Ordnung. Und eben das schuf die Basıs für eine gemein-
same Verständigung über diese Ordnung auf dem Wiener Kongreß. Schon damals
bestand eine der wichtigsten Aufgaben für die neue europäische Ordnung darin,
mit der ungeheuren Dynamik zurechtzukommen, die Europa spätestens seit der
Französischen Revolution erfaßt hatte. Die Heilige Allianz löste diese Aufgabe auf
ihre Weise. Heute neigt Westeuropa aus Stabilitätsgründen zu ganz ähnlichen Ant-
worten auf die Dynamik, die die Revolution der letzten Jahre ın Europa entfaltet
hat, indem es politisches Handeln auf eine Metternich-Diplomatie verkürzt, die
dem zunehmenden Problemstau nur reagierend Dämme entgegenstellt und auf
dem Primat der inneren Entwicklung Westeuropas beharrt. Herder lehrte, sich auf
eine Welt im steten Wandel einzustellen, die nicht in allgemeinen Fortschrittsgeset-
zen oder definitiven Ordnungen eingefangen und kontrolliert werden kann.
Die scharfen nationalen Gegensätze der osteuropäischen Völker sind im
Westen immer wieder dadurch erklärt worden, daß durch den totalitaristischen
Mißbrauch dieser alten Feindschaften eine öffentliche Aufarbeitung unmöglich
gewesen sei. Sobald aber überall demokratisch gewählte Regierungen institutiona-
lisiert seien, stehe auch einem Abbau der Feindbilder nichts mehr im Wege. So ele-
mentare Bedeutung eine funktionierende Öffentlichkeit auch für jeden internatio-
nalen Ausgleich hat, so verhängnisvoll wäre es jedoch, sich allein auf ihr Prinzip
zu verlassen. Dies ist nur ein Beispiel unter vielen möglichen, die zeigen, daß man
im Westen nicht selten dazu neigt, die überaus komplexe Wirklichkeit in Mittel-
und Osteuropa, die uns in unseren geschichtlichen Kenntnissen weitgehend unvor-
bereitet überfallen hat, im Rückgriff auf universale Prinzipien zu bewältigen. Auf
der Basis einer bloßen Abwägung erwa zwischen Selbstbestimmungsrecht und ter-
ritorialer Integrität lassen sich die Probleme jedoch nicht lösen; denn sie sind
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 95
geschichtlich entstanden und kénnen nur durch ein tiefreichendes Sicheinlassen
auf diese Geschichte dauerhaft gelöst oder wenigstens entschärft werden. Herder
öffnete der Aufklärung zuerst den Blick für komplexe geschichtliche Lagen gegen-
über universalen Prinzipien, ohne dabei jedoch deren grundlegende Geltung zu
relativieren.
Die Beachtung der Geschichte ist um so dringlicher, als sich nur so die Kluft
überwinden läßt, die eine vierzigjährige Spaltung in der Erfahrungswelt beider
Teile Europas hinterlassen hat. Es wäre falsch, wollte man das Unverständnis des
Westens für die Sezessionsbestrebungen der Völker im Osten auf bloße Interes-
senpolitik, etwa im Hinblick auf die eigenen nationalen Minderheiten wie Basken,
Korsen oder Schotten, zurückführen. Dahinter stehen tiefreichende geschichtliche
Erfahrungen, die heute den Westen vom Osten trennen. So fällt es heute im
Westen (und besonders in Deutschland) schwer zu begreifen, warum die positiven
Demokratisierungsprozesse im Osten mit nationalen Bewegungen untrennbar ver-
bunden sind. Denn in Westeuropa wurde geschichtlicher Fortschritt seit vierzig
Jahren als Aufbau von supranationalen Strukturen erfahren - gleichgültig, auf wel-
cher nationalen Interessenbasis das im einzelnen beruhte, ob, wie in Frankreich,
auf der Kontrollmöglichkeit Deutschlands, ob, wie in England, auf ökonomischen
Sachzwängen oder aber, wie in Deutschland, auf der Suche nach Entlastung von
der Bürde der eigenen Nationalität. Im Osten dagegen wurden seit 1945 alle inter-
nationalen Strukturen, sei es nun Warschauer Pakt oder Comecon, von einer
Hegemonialmacht aufgezwungen, so daß heute geschichtlicher Fortschritt und
Hinwendung zu Europa als nationale Emanzipation erfahren wird und vielleicht
auch nur so möglich ist. In welcher Form und unter welchen Bedingungen gerade
die Verschiedenheit nationaler Kulturen zur Humanität führt, war der zentrale
Gegenstand der Herderschen Geschichtsphilosophie.
So verbreitet heute auch der Ruf nach einem Ost und West vereinigenden
Europa ertönt, so verschieden sind doch die Vorstellungen, auf welchem Wege
man zu diesem Ziel gelangen könne, weil sie auf unterschiedlichen geschichtlichen
Erfahrungen aufbauen. Im Westen dominiert dabei die Vorstellung, daß es sich
hier lediglich um einen umfangreichen Modernisierungsprozeß der mittel- und
osteuropäischen Gesellschaften handeln könne, die nun in verkürzter Form alle
Entwicklungsschritte des Westens seit der Teilung Europas nachzuholen hätten.
So notwendig diese Modernisierung in einigen Bereichen auch geschehen muß
und wird, wie etwa bei der gesellschaftlichen Pluralisierung oder dem ökonomi-
schen und technischen Anschluß an den Westen, so falsch wäre es doch, den Pro-
zeß der Vereinigung als bloße Ausdehnung der modernen westeuropäischen Zivili-
sation zu begreifen. Denn mit ihrer Ausdehnung nach Osten wandelt diese Zivili-
sation notwendig ihren Charakter. Es ist keineswegs so, daß nur Osteuropa west-
europäischer wird; auch Westeuropa wird osteuropäischer werden, weil es mit
neuen Problemen konfrontiert wird. Mag auch in binnengesellschaftlicher Per-
spektive die Erklärung »Modernisierung« ausreichen — in den wesentlich kompli-
zierteren Beziehungen zwischen den Gesellschaften und Kulturen sind längst ost-
ZfP 40. Jg. 1/1993
96 Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas
und mitteleuropäische Verhältnisse eingekehrt, indem allerorts an uralte Bindun-
gen, Feindschaften und Identitäten angeknüpft wird. Für die Bedeutung der zwi-
schengesellschaftlichen Beziehungen öffnete Herder den Blick, als er das Augen-
merk der Aufklärer auf Kulturkontakt und -austausch richtete.
In der notwendigen Vermittlung der sozialen, kulturellen und politischen Diffe-
renzen zwischen Ost und West lag und liegt heute wieder die Bedeutung Mitteleu-
ropas’®. Insofern öffnet die mitteleuropäische Perspektive nicht nur eine Denk-
möglichkeit, sondern den Blick auf eine Wirklichkeit. Heute bestimmt diese Wirk-
lichkeit die europäische Lage im ganzen. Und keine Europakonzeption wird dau-
erhaft Erfolg haben, in Herders Worten: zur Humanität führen, wenn sie nicht
Antworten auf die mitteleuropäischen Fragen der Vermittlung von Ost und West
hat.
Zusammenfassung
Durch den Fall des Eisernen Vorhangs rückte Osteuropa neu ins Bewußtsein des
Westens, indem längst überwunden geglaubte Konflikte auftraten. So wurde
bewußt, daß die Einigung Europas auf dem westeuropäischen Prinzip der Staats-
nationen beruht, dem in Osteuropa eine Gemengelage der Völker mit unterschied-
lichen Kulturen gegenübersteht. Diesen Unterschied erkannte zuerst J. G. Herder,
der dadurch zum Vermittler zwischen westeuropäischer Aufklärung und osteuro-
päischer Wirklichkeit wurde, wie die unterschiedliche Wirkungsgeschichte Her-
ders in Ost und West zeigt. Insofern kann die Rezeption des Herderschen Werkes
dazu beitragen, die Lage in Osteuropa zu verstehen und auf die aktuellen Kon-
flikte nicht nur mit fixen Vorstellungen vom »richtigen« Fortschritt und universali-
stischen Appellen zu reagieren.
Summary
Through the fall of the ‘Iron Curtain’ Eastern Europe has come back into the per-
ception of Western nations, since conflicts have arisen which were thought over-
come long ago. It became clear that the unification of Europe is based on the exis-
50 Die Diskussion um die im Blockdenken vergessene »mitteleuropäische Wirklichkeit: ist
wesentlich von K. Schlögels Essay (Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene
Osten und Mitteleuropa, Berlin 1986) schon lange vor Maueröffnung und Sturz der Satel-
litenregimes eröffnet worden. Im Nachwort zur zweiten Auflage von 1989 schrieb Schlö-
gel, daß ihm nicht bange sei, daß »Mitteleuropa« wie die postmodernen Themen nach
einigen Tagungen und Feuilleton-Artikeln wieder verschwinden werde. »Denn das
Thema ist nicht »gemacht«, sondern stellt sich und wartet auf eine Lösung, deren zeitliche
Dimension allerdings nicht zusammenfällt mit den Konjunkturzyklen des Medien- und
Kulturbetriebs. Eher ist zu befürchten, daß uns die Dynamisierung der bisher so ruhig
und starr daliegenden Blockhälften unvorbereitet findet, daß längst erledigt geglaubte
Fragen erneut aktuell werden. Und es gibt keine Garantie dafür, daß Europa am Ende
dieses Jahrhunderts besser mit sich fertig werden könnte als im fin de siécle zuvor«
(S. 126).
Homann/Albrecht - Die Wiederentdeckung Osteuropas 97
tence of state nations, while in Eastern Europe states mixtures of diverse cultures
are predominant. This difference was recognized first by J. G. Herder, who thus
became an intermediary between Western European enlightment and Eastern
European reality, as is shown by the different effects of Herder’s theories in East
and West. Therefore the rection of Herder’s work may contribute to a new under-
standing of the situation of Eastern Europe and may help to avoid mere reactions
with fixed ideas about ‘proper’ progress of general ideas.
ZfP 40. Jg. 1/1993
7
BERICHTE UND DISKUSSIONEN
André Kaiser
Prädominanz und Wettbewerb
Zur britischen Unterhauswahl 1992
Verglichen mit den jüngsten Erdrutschniederlagen von Großparteien in verschie-
denen europäischen Nachbarländern haben sich die Kräfteverhältnisse in Großbri-
tannien! nur geringfügig verschoben. Aber es sind häufig die marginalen Verände-
rungen, die im demokratischen Parteienwettbewerb langfristig Bedeutung erlan-
gen.
In seiner klassischen Typologie der Parteiensysteme definiert Giovanni Sartor?
den Typus »Prädominanz-Parteiensystem« folgendermaßen: Im Rahmen des Par-
teienwettbewerbs erhält eine Partei bei mindestens drei aufeinanderfolgenden
Wahlen eine stabile absolute Sitzmehrheit. Demnach kann Großbritannien mit
dem vierten Wahlsieg der Conservative Party in Folge mit nur minimalen prozen-
tualen Verlusten und einer Mehrheit von 21 Sitzen diesem Typus zugerechnet
werden. Dies ist zwar die geringste Mehrheit für eine konservative Regierung seit
dem hauchdünnen Wahlsieg von 1951, die britische Parlamentsforschung geht
jedoch davon aus, daß die Fraktionskohäsion ’ mit der Knappheit der Sitzmehrheit
eher zunimmt.
Neben der Prädominanz der Conservatives ist eine zweite Tendenz der Wahl
hervorzuheben, die angesichts des verglichen mit den hohen Erwartungen schlech-
ten Abschneidens der Labour Party unterzugehen droht: Die Labour Party hat
ihre Konsolidierung nach langer Krise‘ weiter fortgesetzt und dabei, wie noch zu
zeigen sein wird, eine psychologisch wichtige Schwelle überschritten. Das läßt sich
in einem System mit relativer Mehrheitswahl deutlicher an der erreichten Sitzzahl
(271) als an dem prozentualen Ergebnis (34,4 %) ablesen’. Die Labour Party hat
1 Das eigenständige Parteiensystem Nordirlands wird hier nicht behandelt.
2 Giovanni Sartori, Parties and Party Systems. A. Framework for Analysis, Cambridge 1976,
S. 192 ff.
3 Vgl. die Studien von Philip Norton, beginnend mit Dissensions in the House of Commons.
Intra-Party Dissent in the House of Commons’ Division Lobbies 1945-1974, London/
Basingstoke 1975.
4 Siehe dazu ausführlich André Kaiser, »Das britische Parteiensystem. Besonderheiten und
Wandlungsprozesse« in: Wolf Gaebe u.a., Großbritannien, Stuttgart/Berlin/Köln 1992,
S. 49-69, 60 ff.
5 Prozentzahlen sind unter anderem auch deshalb irreführend, weil beide Großparteien
extreme Spannbreiten zwischen ihren besten und ihren schlechtesten Ergebnissen verzeich-
Kaiser - Prddominanz und Wettbewerb 99
Tabelle 1: Wahlergebnisse 1979-1992 (ohne Nordirland)
% der abgegebenen Stimmen (in Klammern Sitzzahl)
Wahljahr Conservative Labour Liberal/ Nationalist
Alliance/ (SNP und
LibDem Plaid Cymru)
1979 43,9 (339) 37,0 (269) 13,8 (11) 2,0 (4)
1983 42,4 (397) 27,6 (209) 25,4. (23) 1,5 (4)
1987 42,3 (376) 30,8 (229) 22,6 (22) 1,7 (6)
1992 41,9 (336) 34,4 (271) 17,8 (20) 2,2 (7)
Quelle: David Butler, British General Elections since 1945, Oxford 1989, S. 123. The
GUARDIAN vom 11. April 1992.
mit der jüngsten Unterhauswahl wieder den Stand von 1979 erreicht. Die Liberal
Democrats (LibDem) zeigten sich zwar gegenüber den Umfragen in den Monaten
vor der Wahl, als die Partei mit weniger als 10 % rechnen mußte, erholt, konnten
aber bei weitem nicht an die Erfolge der achtziger Jahre anknüpfen. Das Projekt
des Durchbruchs, des »breaking the mould of the old party system«, ist endgültig
gescheitert. Stellte die Alliance® noch 1987 in zahlreichen südenglischen Wahlkrei-
sen die eigentliche Opposition zu den Conservatives, so hat die Labour Party 1992
gerade hier die Liberal Democrats häufig hinter sich lassen können, ein Ergebnis
von großer psychologischer Bedeutung’. Das Parteienduopol von Conservative
Party und Labour Party, Inbegriff des Zwei-Parteiensystems der Nachkriegszeit,
hat sich wieder gefestigt.
Sowohl Wiederbelebung des Wertbewerbsmechanismus des traditionellen Zwei-
Parteiensystems als auch Fortsetzung des Prädominanz-Parteiensystems der acht-
ziger Jahre? In der Tat sind hinter den Wahlergebnissen zwei typologisch vonein-
ander zu unterscheidende, gleichwohl parallel zu beobachtende Tendenzen ver-
borgen®.
Ein Sieg der Conservatives war das weniger erwartete der beiden vorher für
möglich gehaltenen Wahlergebnisse. Die meisten Kommentatoren und die Par-
nen: Die Conservative Party erzielte in den Wahlkreisen diesmal zwischen 65,4 % und
4,3 %, die Labour Party zwischen 79,0 % und 4,6 %.
6 Die Liberal Democrats sind aus dem Wahlbündnis Alliance von Liberal Party und Social
Democratic Party durch Fusionierung der überwiegenden Teile kurz nach der Wahl 1987
hervorgegangen, nannten sich zunächst Social and Liberal Democrats (SLD) und beschlos-
sen im Herbst 1989 eine Änderung des Namens in Liberal Democrats.
7 Insgesamt erreichte Labour 1987 144 zweite Plätze, die Alliance 245; 1992 war das Ver-
halenis 192 zu 154.
8 Sartoris Einsicht bestätigt sich einmal mehr, daß diese beiden Typen von Parteiensystemen
durch besondere »Fragilität« gekennzeichnet sind. AaO., S. 199.
ZfP 40. Jg. 1/1993
7°
100 Kaiser - Pradominanz und Wettbewerb
Tabelle 2: Dominanz des Duopols
Conservative und Labour zusammen
Wahljahr % der abgegebenen % der Sitze
Stimmen
1964 87,5 98,6
1966 88,8 97,8
1970 89,4 98,1
1974 Februar 74,9 94,2
1974 Oktober 75,0 93,9
1979 80,9 95,6
1983 70,0 92,0
1987 73,1 91,8
1992 76,3 93,2
Quelle: David Butler, British General Elections since 1945, Oxford 1989, S. 72. The GUAR-
DIAN vom 11. April 1992.
teien selbst gingen im Wahlkampf von einem »hung parliament«, einem Wahlaus-
gang ohne einen klaren Sieger mit stabiler Parlamentsmehrheit aus. Dies
signalisierten auch fast alle veröffentlichten Umfragen. Eine absolute Mehrheit für
die Regierungspartei wurde nicht in einer einzigen »poll« prognostiziert; eine
Mehrheit für Labour schien nur für kurze Zeit zu Beginn der letzten Wahlkampf-
woche möglich. Diskutiert wurde also vornehmlich, ob und unter welchen Bedin-
gungen die Labour Party mit den Liberal Democrats eine Koalition bilden könne.
Auf diesem Hintergrund sind die Parteistrategien und die Themenwahl? zu sehen.
Labour und Liberal Democrats unterschieden sich in ihren Aussagen zu Steuer-,
Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik nur im Grad der Rück-
kehr zu einem interventionistischen Staatsverständnis. Ihre Programmatik skiz-
zierte somit eine deutliche Alternative zu den Konzepten der achtziger Jahre. Der
Kampf wurde zwar um die Wähler in der Mitte geführt, allerdings mit klar unter-
scheidbaren, insbesondere in der Steuerpolitik polarisierten Positionen. Dem
»low-tax, low-spend«-Konzept der Conservatives standen Steuererhöhungspläne
der beiden anderen Parteien gegenüber, die mit den erwarteten Mehreinnahmen
Investitionen zur Überwindung der tiefen Rezession und zur Erneuerung der ver-
rottenden Infrastruktureinrichtungen finanzieren wollten. Die Conservative Party
begnügte sich weitgehend mit »negative campaigning«, und dies sehr erfolgreich,
wie sich am Wahltag herausstellen sollte. Sie rechnete damit, daß ein Teil der
potentiellen Labour-Wähler und der Anhänger der Liberal Democrats keineswegs
9 Eine Übersicht zu den Kernaussagen der Wahlprogramme bietet The ECONOMIST vom
21. März 1992, S. 52 f.
Kaiser - Pradominanz und Wettbewerb 101
in der Wahlabsicht endgültig festgelegt war und auch noch kurz vor der Wahl zum
Wechsel bereit sei. Insofern zielte die Kampagne unter dem Slogan »Don’t trust
Labour« darauf, beständig an die turbulenten Monate am Ende der letzten
Labour-Regierung 1978/79 zu erinnern, während die möglichen Wähler der Libe-
ral Democrats darauf hingewiesen wurden, daß sie mit ihrer Stimme eventuell der
Labour Party zum Sieg verhelfen könnten.
Die beiden Oppositionsparteien konzentrierten sich im Vorfeld eines erwarte-
ten »hung parliament« darauf, ihre Ausgangspositionen für die Koalitions- bzw.
Duldungsverhandlungen zu markieren. Im Kern ging es bei diesen Positionsbe-
stimmungen um die Frage einer Wahlrechtsreform. Die Labour Party hat sich mit
der Ankündigung, für die Europawahlen und ein zukünftiges schottisches Parla-
ment eine Form des Verhältniswahlrechts anzustreben und für eine parteiübergrei-
fende Expertenkommission auf der Grundlage der bereits von der Parteiführung
vor längerer Zeit eingesetzten »Plant-Commission« !° einzutreten, weit vorgewagt.
Nach der erneuten Wahlniederlage könnte nun schnell eine Dynamik Platz grei-
fen, die die Partei endgültig auf eine Variante des Verhältniswahlrechts festlegt.
Denn die Anhänger einer Reform können weiterhin darauf verweisen, daß die
überwiegende Mehrheit der Wähler gegen die Regierung gestimmt hat. Das
Gegenargument, daß das Wahlergebnis nicht einfach auf der Grundlage des Ver-
hältniswahlrechts umgerechnet! werden dürfe, weil ein Teil der Wähler sich unter
neuen Bedingungen anders entscheiden würde, hat zwar weiter große Berechti-
gung, wird den vom Wahlergebnis ausgehenden innerparteilichen Druck wohl
aber nicht abschwächen.
Die irrige Annahme in den Oppositionsparteien selbst, daß ein erneuter Wahl-
sieg der Conservatives unwahrscheinlich sei, ist dafür verantwortlich, daß die
letzte Wahlkampfwoche vom Thema Wahl- und Verfassungsreform beherrscht
wurde, obwohl dieses »issue« für den Großteil der Wähler, dies zeigen alle Umfra-
gen, keine Priorität hat. Insbesondere die Labour Party dürfte hier einen großen
strategischen Fehler begangen haben, weil ihre klassischen Themen und insbeson-
dere ihr wirtschaftspolitisches Konzept zur Überwindung der Rezession in den
Hintergrund rückten.
Die Außen-, Sicherheits- und Europapolitik spielten im Wahlkampf fast keine
Rolle. Neben dem angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Lan-
des durchaus verständlichen Desinteresse der Wähler dürfte dafür verantwortlich
sein, daß das Europathema, aber auch die zukünftige Rolle Großbritanniens in der
10 Diese Kommission, zusammengesetzt aus Vertretern der verschiedenen Positionen in der
Labour Party und der Partei nahestehenden Experten unter dem Vorsitz des Politikwis-
senschaftlers Raymond Plant, hat Umstellungsprobleme und Auswirkungen veschiedener
Wahlsysteme untersucht, ohne sich bisher definitiv für eine Alternative auszusprechen.
Siehe auch Patrick Dunleavy / Helen Margetts, Alternative Electoral Systems for the UK,
Salford 1991.
11 Eine Umrechnung der Prozentzahlen in Sitze ergibt folgende Verteilung: Conservative
275, Labour 237, LibDem 101, Scottish National Party (SNP) 17, Plaid Cymru (PC) 3.
ZfP 40. Jg. 1/1993
102 Kaiser - Pradominanz und Wettbewerb
Weltpolitik in den beiden großen Parteien (und ihren Anhängerschaften) ähnlich
umstritten sind wie zwischen den Parteien, sich solche Themen also nicht zur
Strukturierung des Parteienwettbewerbs eignen.
Der Wahlkampf auf der nationalen Ebene war in hohem Maße auf die elektro-
nischen Medien und ihr Bedürfnis der Personalisierung des Geschehens und der
Zuspitzung von Sachaussagen zu »stories« zugeschnitten. Häufig wird deshalb
von einer zunehmenden »Amerikanisierung« britischer Wahlkämpfe gesprochen ".
In der Tat nähern sich die Kontexte des »political marketing« in den liberalen
Demokratien immer mehr an. Solche Konvergenzerscheinungen betreffen sowohl
die Medienstruktur und -bedeutung als auch die zur Verfügung stehenden Kom-
munikationstechniken und die Professionalität in ihrer Anwendung. Dieses Bild ist
jedoch in zweierlei Hinsicht irreführend: Erstens legen die britischen Fernsehsen-
der einen vergleichsweise großen Wert auf die detaillierte Berichterstattung über
Sachaussagen der Parteien. Und zweitens führen die strengen gesetzlichen Besum-
mungen zur Finanzierung des Wahlkampfs auf Wahlkreisebene dazu, daß ein von
der nationalen Ebene abgekoppelter, mit sehr traditionellen Mitteln wie »canvas-
sing« geführter intensiver Wettbewerb um jede einzelne Stimme stattfindet. Der
institutionelle Rahmen von Wahlrecht und Wahlkampffinanzierung weist der
lokalen Ebene eine im europäischen Vergleich ungleich größere Rolle zu. Unter
der »amerikanisierten« Oberfläche weisen britische Wahlkampfe also weiterhin
Besonderheiten auf.
Zwar kann nach dem erneuten Wahlsieg von einer Prädominanz der Conserva-
tives gesprochen werden, doch zeigt eine genaue Analyse der Entwicklungen, daß
die Wertbewerbsintensität!’ deutlich zugenommen hat. Dies läßt sich sowohl an
den regionalen Trends als auch an der Zahl der umstrittenen Wahlkreise, den
»marginal seats«, ablesen.
Im englischen Süden herrschen die Conservatives zwar weiterhin fast unange-
fochten, doch konnte Labour hier zahlreiche Sitze hinzugewinnen. Dies gilt insbe-
sondere für London, wo zum ersten Mal seit 1974 (!) die Sitzzahl verbessert wer-
den konnte. Die Sitzverteilung hat sich in der bevölkerungsreichsten Region
gegenüber 1987 mit 87 % für die Conservatives und 10 % für Labour nun mit 80 %
zu 17% zugunsten der Opposition leicht verschoben. Psychologisch wichtiger
dürfte sein, daß auch prozentual Labour hier wieder vor den Liberal Democrats
liegt.
Der größte regionale Zugewinn für Labour ist in den Midlands zu verzeichnen.
Hier hat sich die Sitzverteilung von 72 % zu 28 % im Jahr 1987 auf 62 % zu 38 %
verschoben. In den übrigen Regionen dominiert Labour weiterhin deutlich. Aller-
12 Vgl. David M. Farrell / Martin Wortmann, »Party strategies in the electoral market: Poli-
tical marketing in West Germany, Britain and Ireland« in: European Journal of Political
Research 15 (1987), S. 297-318.
13 Zum Problem rückläufiger Wettbewerbsintensität in den Unterhauswahlen der achtziger
Jahre vgl. Andre Kaiser, »Wahlen und Parteiensystem in der Ära Thatcher« in: Aus Politik
und Zeitgeschichte B 28/91 vom 5. Juli 1991, S. 15-25, 20 ff.
Kalie - Prädominanz und Wettbewerb
103
Tabelle 3: Regionale! Wahlergebnisse in Prozent (in Klammern Sitzzahl)
South
Midlands
North
Scotland
Wales
Con
Lab
Lib/All/LibDem
Con — Lab
Con
Lab
Lib/All/LibDem
Con - Lab
Con
Lab
Lib/All/LibDem
Con - Lab
Con
Lab
Lib/All/LibDem
SNP
Con — Lab
Con
Lab
Lib/All/LibDem
PC
Con - Lab
1979
51,4 (183)
30,3 (51)
16,8 (2)
+ 21,1
47,6 (64)
38,2 (44)
13,1 (1)
+ 9,4
40,7 (59)
44,9 (90)
13,5 (4)
— 4,2
31,4 (22)
41,5 (44)
9,0 (3)
18,0 (2)
-10,1
32,2 (11)
48,6 (22)
10,0 (1)
8,0 (2)
-16,4
1983
50,6 (206)
19,8 (28)
28,6 (6)
+ 30,8
46,8 (88)
28,1 (31)
24,5 (1)
+ 18,7
38,4 (68)
36,7 (89)
24,4 (6)
+ 1,7
28,4 (21)
35,1 (41)
24,5 (8)
11,8 (2)
-6,7
31,1 (14)
37,5 (20)
23,2 (2)
7,8 (2)
-6,4
1987
51,8 (209)
20,9 (25)
26,8 (6)
+ 30,9
47,8 (86)
30,0 (34)
21 8 (-)
+ 17,8
36,6 (63)
42,1 (96)
21,0 (4)
-5,5
24,0 (10)
42,4 (50)
19,2 (9)
14,0 (3)
- 18,4
29,5 (8)
45,1 (24)
17,9 (3)
7,3 (3)
— 15,6
1992
50,4 (192)
24,9 (42)
22,9 (7)
+ 25,5
46,6 (74)
36,3 (46)
15,9 (-)
+ 10,3
36,9 (53)
46,0 (107)
16,1 (3)
-9,1
25,7 (11)
39,0 (49)
13,1 (9)
21,5 (3)
-13,3
28,6 (6)
49,5 (27)
12,4 (1)
8,8 (4)
— 20,9
1 »South« umfaßt die Standard Regions South-West und South-East (incl. den Großraum
London); »Midlands« die East Midlands, West Midlands und East Anglia; »North« die
Regionen Yorkshire and Humberside, North-West und Northern.
Con — Lab = Stimmendifferenz zwischen Conservative Party und Labour Party, bezogen
auf das prozentuale Stimmenergebnis der Conservatives.
Eigene Zusammenstellung.
dings konnten die Conservatives sich in Schottland entgegen den Erwartungen
leicht verbessern, während Labour Stimmen an die Nationalisten verlor. In Wales
dagegen baute Labour seine traditionelle Vormachtstellung noch aus, obwohl auch
hier die Nationalisten sich verbessert haben. Es spricht also einiges dafür, die
schottische Sonderentwicklung mit der Polarisierung der verfassungspolitischen
ZfP 40. Jg. 1/1993
104
Kaiser - Pradominanz und Wettbewerb
Tabelle 4: Anzahl der umstrittenen Wahlkreise '
(in Klammern: prozentualer Anteil an den Wahlkreisen der Region)
Wahljahr London’ Rest of Wales Scotland Gesamt
England
1964 ? 14 (33,3) 157 (33,5) 8 (22,2) 19 (26,8) 198 (32,8)
1966 9 (21,4) 169(36,0) 9(25,0) 16 (22,5) 203 (32,6)
1970 12 (28,6) 135(28,8) 10(27,8) 19 (26,8) 176 (28,5)
1974 Febr.’ 27 (29,3) 120 (28,3) 10(27,8) 20 (28,2) 177 (28,4)
1974 Okt. 26 (28,3) 121 (28,5) 11 (30,6) 30 (42,3) 188 (30,2)
1979 26 (28,3) 95(224) 6(16,7) 20 (28,2) 147 (23,6)
19834 21 (25,0) 101(23,0) 14(38,9) 18 (25,0) 154 (24,4)
1987 22 (26,2) 95(21,6) 14(38,9) 18 (25,0) 149 (23,6)
19926 136 (26,0) 11 (28,9) 24 (33,3) 171 (27,0)
1 Ein »umstrittener Wahlkreis« wird hier definiert als ein Sitz, in dem der siegreiche Kandi-
dat einen Vorsprung von höchstens 10 Prozent vor dem Zweitplazierten erreicht hat.
2 630 Wahlkreise.
3 Neueinteilung der Wahlkreise (635 Sitze).
4 Neueinteilung der Wahlkreise (650 Sitze).
5 »London« meint für 1964-1970 das Gebiet Zentral-Londons, ab Februar 1974 das Gebiet
des (inzwischen aufgelösten) Greater London Council.
6 Durch Teilung eines Wahlkreises insgesamt 651 Sitze.
Eigene Berechnungen.
Optionen zu erklären. John Major betonte bei jeder Gelegenheit, daß die Conser-
vatives am Status quo festhalten werden, während die Nationalisten die Reform-
koalition der Oppositionsparteien mit ihrem Beharren auf der schottischen Unab-
hängigkeit gesprengt haben. Verlierer waren diejenigen Parteien, die seit 1989 ın
der Scottish Constitutional Convention zusammenarbeiten und eine Föderalisie-
rung des unitarischen Staates vorschlagen. Angesichts dieser Entwicklung ist im
Falle Schottlands wohl mit einer Radikalisierung der Diskussion zu rechnen, die
der neuen Regierung in den kommenden Jahren Probleme bereiten wird. Eine dra-
matische Zuspitzung ist aber nicht zu erwarten: »In the end, it may come down to
a contest between Conservative reluctance and Scottish impatience. Will Scotland
get a parliament? Probably, yes. How soon? Not yet« !*. Insgesamt bleibt aber fest-
zuhalten, daß sich die Auseinanderentwicklung der regionalen Wahltrends leicht
abgeschwächt hat, wenn auch damit die »denationalisation of British politics« kei-
neswegs beendet ist.
14 The ECONOMIST vom 18. April 1992, S. 34.
Kaiser - Prädominanz und Wettbewerb 105
Vergegenwärtigt man sich, daß 450 Wahlkreise seit 1945 ununterbrochen von
einer Partei beherrscht werden, so ist mit der Unterhauswahl von 1992 beinahe das
Maximum an Wettbewerbsintensitat in den übrigen Wahlkreisen erreicht worden.
Die Zahl der umstrittenen Wahlkreise hat mit 171 Sitzen wieder fast das Niveau
der siebziger Jahre erreicht. Zwar sind auch die Hochburgen der Parteien nicht
völlig vor dramatischen Verschiebungen geschützt, etwa in Nachwahlen (by-elec-
tions), die in der Parteienauseinandersetzung immer wieder zu Quasi-Plebisziten
über umstrittene Einzelthemen umfunktioniert werden. Doch im allgemeinen spie-
gelt die analytische Kategorie der umstrittenen Wahlkreise sowohl den Rahmen, in
dem sich der Parteienwettbewerb tatsächlich abspielt, als auch strategische Überle-
gungen der Parteien bei der Kandidatenauswahl und der Konzentration der finan-
ziellen und personellen Ressourcen auf gewinnbare Sitze wider. Allerdings konnte
die Labour Party bei dieser Wahl 6 Wahlkreise! mit einem sehr viel größeren
Rückstand als 10 %, teilweise von einem schwachen dritten Platz aus, gewinnen.
Ohne detaillierten Analysen vorgreifen zu wollen, kann vermutet werden, daß in
solchen Wahlkreisen massive Verschiebungen von den Liberal Democrats zur
Labour Party stattgefunden haben, die von lokalen Faktoren ausgelöst worden
sind.
John Majors Regierung hat eine ausreichende Mehrheit für die Fortführung der
Reformen der achtziger Jahre. Seine Personalentscheidungen belegen, daß er auf
Kontinuität setzt. Die Regierungsmehrheit wäre eigentlich nur dann gefährdet,
wenn anstehende Entscheidungen zur weiteren europäischen Integration den
Thatcher-Flügel in die offene Rebellion treiben. Bisher hat der Premierminister
solche Situationen sorgsam vemieden. Die oppositionelle Labour Party hat keine
Veranlassung, den Ratschlägen von Leitartiklern und Politikwissenschaftlern wie
David Marquand * zu folgen und mit den Liberal Democrats Gespräche über ein
antikonservatives Bündnis aufzunehmen. Ihre Erwartungen sind zwar ein weiteres
Mal enttäuscht worden, die Konsolidierung der Partei in London, im Südosten
und in den Midlands hat aber zumindest in einer ausreichenden Zahl von Wahl-
kreisen eine Ausgangsposition geschaffen, die die Überwindung der konservativen
Prädominanz in der nächsten Unterhauswahl nicht von vornherein illusorisch
erscheinen läßt. Als paradoxes Fazit dieser Wahl läßt sich formulieren: Prädomi-
nanz und Wettbewerb im Zwei-Parteiensystem — welche Tendenz dauerhafter sein
wird, bleibt offen.
15 Es handelt sich dabei um die regional und sozial sehr unterschiedlichen Wahlkreise Cam-
bridge, Nuneaton, Lewisham East, Ilford South, Plymouth Devonport und Southampton
Icchen.
16 Siehe etwa David Marquand, »The general election and after« in: Times Literary Supple-
ment vom 17. April 1992, S. 12. The ECONOMIST vom 18. April 1992, S. 12 f.
ZfP 40. Jg. 1/1993
BUCHBESPRECHUNGEN
Thomas Nipprervey: Deutsche Geschichte
1866-1918. Band I: Arbeitswelt und Bürger-
staat. München 1990. Beck.
Nach den ersten zwei Bänden von Hans-UI-
rich Wehlers »Deutscher Gesellschaftsge-
schichte« und Lothar Galls »Bürgertum in
Deutschland« rundet dieses Buch die Reihe
schwergewichtiger Werke einer Historiker-
generation ab, die sich langsam aber sicher
dem Status von Altmeistern der Geschichts-
wissenschaft nähert.
Auf den ersten Blick ist es erstaunlich zu
sehen, wie weit sich Nipperdey dabei von
Galls erzählendem Stil abhebt, obwohl die-
ser doch dem seiner historistischen Vorbil-
der entspricht. Er nimmt vielmehr eine ana-
lytische Zergliederung seines Themas vor,
die eher Ähnlichkeit mit der Methode des
von ihm oft kritisierten Wehler hat.
Das liegt wohl teilweise gerade an N.s
Verständnis seiner Rolle als Historiker, sei-
nem Bemühen, all den verschiedenen »Erin-
nerungswelten« Gerechtigkeit zukommen zu
lassen, nicht durch Auswahl und Interpreta-
tion der Vielseitigkeit/Pluralität der Vergan-
genheit Gewalt anzutun. Daraus ergibt sich
eine Vielzahl recht unverbunden nebenein-
ander stehender Kapitel (fast fünfzig), in de-
nen zunächst das Alltagsleben, dann Wirt-
schaft und Gesellschaft und schließlich die
Kultur behandelt werden. Die Themen ver-
stärken den Mosaikcharakter des Ganzen:
Die hier skizzierten Bereiche entziehen sich
viel mehr als Politik, die erst in einem weite-
ren Band behandelt werden soll, der »ord-
nenden Hand«.
Das Buch eignet sich damit weniger zum
Lesen als zum Nachschlagen: Es ist ein
Referenzwerk für gehobene Ansprüche ge-
worden, und als solches ist es hoch zu loben.
Das Fehlen von Anmerkungen braucht dann
nicht mehr zu stören, und die nach Sachge-
bieten geordneten Literaturangaben am
Ende des Bandes sind gut ausgewählt und
vor allem auf dem allerneuesten Stand. Der
Sul ist einfach, knapp und klar. In den Ab-
schnitten über Kultur finden sich zuweilen
sogar sprachliche Juwelen. Hier ist mit 400
von 800 Seiten ein klarer inhaltlicher
Schwerpunkt gesetzt. Je nach Standpunkt
mag man daran zweifeln, ob dies sachlich
gerechtfertigt ist; doch da N. ein unbestritte-
ner Experte auf dem Gebiet der Kulturge-
schichte ist, erscheint diese Schwerpunktset-
zung jedenfalls akzeptabel.
Es hängt von der Erwartungshaltung des
Lesers ab, ob ihn der Referenzcharakter des
Werkes zufriedenstellt. Das Buch enthält
Antworten auf viele Fragen und kommt ver-
schiedenen Interessen entgegen. Im Gegen-
satz zu der erklärten Absicht N.s beschränkt
er sich auch nicht auf Fakten, sondern setzt
kleinräumig, in den einzelnen Kapiteln, auch
wertende Akzente. Ein abschließendes Ur-
teil freilich fehlt. Zwar zeigt N. in zwei Ab-
schnitten, die mit »Klassengesellschaft« und
»Schattenlinien« überschrieben sind, Profil
und stellt Thesen auf (wobei erstaunlich ist,
daß er sich mit der Betonung vormoderner
Prägungen als Besonderheiten deutscher
Geschichte wieder an Wehler annähert).
Aber auf eine Bilanz, eine zusammenfas-
sende Wertung, wird sich das lesende Publi-
kum noch bis zum zweiten Band, der Staat
und Politik behandeln soll, gedulden müs-
sen. Bis dahin dürfte auch Wehler seine
»Gesellschaftsgeschichte« fertiggestellt ha-
ben. Schon deshalb möchte der Rezensent,
um mit N.s eigenen Worten zu sprechen,
wünschen, daß Gott ihm »Kraft und Zeit ge-
währt, auch den letzten Band in etwa drei
Jahren zu vollenden«.
Leverkusen Christoph Nonn
Peter Graf KıEımansess: Lange Schatten.
Vom Umgang der Deutschen mit der national-
sozialistischen Vergangenheit. Berlin 1989.
Verlag Corso bei Siedler. 99 S. 20,- DM.
Die Haltung der Deutschen zur »Vergan-
genheitsbewältigung« ist geteilt. Umfragen
belegen: Die Mehrheit plädiert für einen
»Schlußstrich«, wobei unklar bleibt, was dies
denn genau heißen soll. Andere klagen hin-
Buchbesprechungen
gegen über die angeblich »ausgebliebene
Vergangenheitsbewältigung« und fordern,
die Auseinandersetzung mit den Gescheh-
nissen der Jahre 1933 bis 1945 müsse noch
forciert werden. Erneute Aktualität hat das
Thema durch den Sturz des SED-Regimes
erhalten. Auch in der ehemaligen DDR ste-
hen die Menschen vor dem Problem eines
angemessenen »Umgangs mit der Vergan-
genheit«.
Der vorliegende Band aus der Feder von
Peter Graf Kielmansegg wurde jedoch vor
der »deutschen Wende« geschrieben und be-
faßt sich ausschließlich mit der »Bewälu-
ng« der NS-Zeit. Die — oft als Vorwurf
fon ulne — These von der Kontinuität der
Eliten nach 1945 bedarf nach Ansicht des
Autors der Differenzierung. Versäumnisse
seien nicht zu bestreiten, doch sollte bedacht
werden, daß es schwerlich möglich gewesen
wäre, einen grundsätzlich anderen - und
dennoch demokratischen — Weg zu gehen.
»Wenn man denn Demokratie wollte, war es
undenkbar, die Deutschen, eine Mehrheit
von ihnen oder auch nur eine einigermaßen
beträchtliche Minderheit für längere Zeit
unter politische Quarantäne zu stellen... .«
(S. 18). Zudem habe es eine »Gegenelite«,
die in die Führungspositionen hätte eintre-
ten können, nicht gegeben - die Überleben-
den des Widerstandes und die Emigranten
waren schließlich nur eine »marginale
Gruppe« (S. 22).
Kritiker wiesen manchmal auf das Gegen-
beispiel der DDR hin, wo es in weitaus hö-
herem Maße gelungen sei, einen Neuanfang
zu machen. Kielmansegg läßt dieses Argu-
ment nicht gelten. Die personellen Verände-
rungen seien nicht nur ein Bruch mit der
Vergangenheit, sondern hingen »aufs engste
mit der fortdauernden Geltung des Prinzips
der Diktatur zusammen« (S. 26). Hinter
dem Argument, in der DDR seien »Struktur-
reformen« durchgeführt worden, die man in
der Bundesrepublik versäumt habe, werde
rasch die marxistische Faschismustheorie
sichtbar, nach der nur die Liquidierung des
Kapitalismus auch die Wurzeln des »Fa-
schismus« beseitige. Mit der Abschaffung
des Kapitalismus ging jedoch in der DDR
die »erneute Negation der Demokratie« ein-
her. »Darin kann man sogar eine makabre
Logik finden - die Demokratie war ja in der
Tat eine der notwendigen Bedingungen da-
für, daß es zu Hitlers Diktatur kam« (S. 28).
ZfP 40. Jg. 1/1993
107
Man könnte jetzt hinzufügen: Die Entwick-
lung nach dem Ende der SED-Diktatur
zeigt, daß die Beseitigung des Privateigen-
tums an Produktionsmitteln keineswegs zum
Verschwinden rechtsextremistischer Haltun-
gen geführt hat. Sie konnten sich nur unter
den Bedingungen einer Diktatur nicht arti-
kulieren. Sobald die Herrschaft der SED ge-
stürzt war, meldeten sich natürlich auch
Rechtsextremisten zu Worte.
Kielmansegg macht im übrigen auf den
häufig übersehenen Umstand aufmerksam,
daß man in der DDR die Produktionsmittel
nicht deshalb verstaatlicht habe, um einem
neuen »Faschismus« die Voraussetzung zu
entziehen. Vielmehr ist die Aufhebung des
Privateigentums an Produktionsmitteln be-
kanntlich ohnehin die Essenz der sozialisti-
schen Revolution. »Daß sie (die SED), was
ohnehin auf dem Programm stand, als Ab-
rechnung mit dem Nationalsozialismus
rechtfertigen und betreiben konnte, war hilf-
reich, aber durchaus akzidentiell« (S. 29).
Ein anderes Thema in der Diskussion
über den Umgang mit der Vergangenheit
sind die Prozesse gegen NS-Tater. Diese
seien, so der Autor, keineswegs eine politi-
sche Ruhmestat, zu viel sei versäumt wor-
den. Allerdings habe auch unrecht, wer
nichts sehe als Freisprüche, mit denen alte
Nazis alten Nazis aus der Schlinge geholfen
hätten. Zu wenig wurde — explizit — der
»Sinn der Prozesse« diskutiert. Kielmansegg
stellt die entscheidenden Fragen: »Wie las-
sen sich die traditionellen Zwecke des Straf-
rechts und staatlich organisierte Verbrechen
von inkommensurabler Größenordnung
zueinander in Beziehung setzen? Resoziali-
sierung der Täter? Die hatte, man muß es
nüchtern feststellen, der Zusammenbruch
des Dritten Reiches längst besorgt. Präven-
tion? Wer Herrschaftsverbrechen verhin-
dern will, muß Verbrecherherrschaft verhin-
dern — auch das ist keine Sache des Straf-
rechts. Und Sühne? Nach zwanzig, nach
dreißig Jahren? Am Ende standen Greise vor
den Schranken der Gerichte, die mit den Tä-
tern, die sie selbst gewesen waren, nicht
mehr viel gemein hatten« (S. 51 f.).
Vor allem anderen müssen die Prozesse,
so die Meinung des Autors, ganz einfach als
Versuch verstanden werden, auf geschehe-
nes, ungeheures Unrecht die traditionelle
Antwort des Rechts zu geben, auf Schuld
Strafe folgen zu lassen. Aber, diese Frage
108
stellt Kielmansegg leider nicht, ist es nicht
paradox, daß oftmals gerade jene, die sonst
in der politischen Diskussion den »Sühne«-
und »Abschreckungs«-Gedanken ablehnen
und die Resozialisierungs-Funktion in den
Vordergrund stellen, im Hinblick auf die
NS-Verbrechen eine besonders unerbittliche
»Abrechnung« befürworten und der Justiz
mangelndes Zugreifen, zu milde Strafen und
zu viel Verständnis für die Täter vorwerfen?
In der Debatte um die Vergangenheitsbewäl-
tigung des SED-Regimes wird oft gerade
von jenen für »Verstindnis« und »Milde«
plädiert, denen die Strafen für alte und neue
»Nazis« nie hoch genug sein können.
Der wichtigste Abschnitt des vorliegenden
Büchleins ist der letzte: Die Gegenwart der
Vergangenheit. Kielmansegg kriusiert die
Funktionalisierung der »Vergangenheitsbe-
wältigung« in den gegenwärtigen Auseinan-
dersetzungen. Seine Uberlering, das Ver-
gangenheitsargument habe im Generations-
konflikt vielleicht nur die instrumentelle
Funktion gehabt, der angreifenden jüngeren
Generation von vornherein eine Position der
moralischen Überlegenheit zu verschaffen,
ist plausibel (S. 78). Daß die Berufung auf
die Erfahrungen der »leidvollen Vergangen-
heit« einen rationalen Diskurs oft eher be-
hindert, zeigt der Autor am Beispiel der Dis-
kussionen um die Notstandsgesetze und die
Nachrüstung. Der Kampf gegen die Not-
standsgesetze sei auch ein verspäteter
Kampf gegen das Ermächtigungsgesetz von
1933 gewesen, der — mit dreißig Jahren Ver-
spätung — nun Erfolg haben sollte. Auch am
Beispiel der Debatten um Asylirecht und
Ausländerpolitik hätte der Autor zeigen
können, daß der ständige Hinweis auf die
NS-Vergangenheit einer sachbezogenen
Klärung politischer Streitfragen nicht dien-
lich ist. Überhaupt — dies ist ein Mangel des
Buches — hatte Kielmansegg manchmal aktu-
ellere Beispiele für seine richtigen Argu-
mente wählen sollen. Der »Fall Jenninger«
etwa (nicht die Rede, sondern die Reaktio-
nen!) bietet sich doch geradezu als Parade-
beispiel für Defizite der »Vergangenheitsbe-
wältigung« an!
Zu Recht führt Kielmansegg auch den
»Historikerstreit« als Beleg für die Instru-
mentalisierung des Vergangenheitsargumen-
tes an. »Das Habermassche Argument ist
unverkennbar im Sog einer Versuchung
konstruiert, mit der die Deutschen seit 1945
Kritik
zu leben haben und die, so scheint es, mit
den Jahren keineswegs schwächer wird. Die
Rede ist von der Versuchung, den Gegner in
den politischen Konflikten der Demokratie
in den Schatten der Vergangenheit zu sto-
Ben« (S. 93). Der Rezensent hätte sich ge-
wünscht, dag der Autor hier noch deutlicher
geworden wire, noch klarer Position bezo-
gen hätte. Die Stärke des Büchleins ist hier -
wie auch an anderen Stellen - zugleich seine
Schwäche: Das Bemühen um Differenzie-
rung und Mäßigung im Urteil wird manch-
mal zu einem unverbindlichen »einerseits-
andererseits«. Angesichts der Tatsache, daß
die Thematik, um die es hier geht, in hohem
Maße tabuisiert ist, ist dies zwar verständ-
lich, doch einer Klärung gleichwohl nicht
dienlich.
Die wichtigste Frage stellt der Autor am
Schluß: ob nämlich nicht eine bestimmte
Form der Vergangenheitsbewälugung ge-
rade einen »Überdruß an den Ritualen öf-
fentlichen Gedenkens« provozieren könnte?
(S. 96). Wenn dies so ist, dann spräche das
zwar nicht für einen »Schlußstrich«, sehr
wohl aber für ein kritisches Überdenken der
vorherrschenden »Bewalugungs«-Praxis.
Berlin Rainer Zitelmann
Wolfgang Zouurtsch: Arbeiter zwischen Welt-
wirtschaftskrise und Nationalsozialismus. Ein
Beitrag zur Sozialgeschichte der Jahre 1928 bis
1936 (= Kritische Studien zur Geschichtswis-
senschaft Bd. 88). Göttingen 1990. Verlag
Vandenhoeck & Ruprecht. 320 S$. 64,- DM.
Die Attraktivität des Nationalsozialismus
fur weite Teile der Arbeiterschaft wurde in
der historischen Forschung lange geleugnet.
Marxistische Autoren sahen die Arbeiter-
schaft meist primär als unterdrückte Klasse
oder thematisierten den Arbeiterwiderstand
gegen das NS-Regime. Aber auch bei nicht-
marxistischen Historikern gab es das Bestre-
ben, aus volkspädagogischen Motiven die
Zustimmung breiter Schichten der Bevölke-
rung zum Hitler-Regime zu relativieren. So
enstand ein schiefes und insgesamt unzutref-
fendes Bild vom Verhältnis zwischen Arbei-
terschaft und Nationalsozialismus.
In den letzten Jahren haben die Forschun-
Buchbesprechungen
gen von Jürgen Falter, Michael Kater, Ian
Kershaw, Gunther Mai, Michael Prinz, Ma-
rie-Luise Recker und Ronald Smelser - um
nur einige Namen zu nennen - allerdings zu
erheblichen Korrekturen dieses Bildes ge-
führt. Es kennzeichnet einen veränderten
Stand der Forschungsdiskussion, wenn
Wolfgang Zollitsch schreibt, er habe bei der
vorliegenden Studie »eine Annahme bereits
vorausgesetzt«, »nämlich daß eine Integra-
tion der Arbeiterschaft in das »Dritte Reich«
in hohem Maße gegeben war« (S. 13).
In der Tat bestätigt die bei Heinrich Au-
gust Winkler entstandene Dissertation die-
sen Befund. Der Autor hat die Archive von
vier wichtigen Betrieben bzw. Industriezwei-
gen durchforstet, und zwar der Firmen
Krupp, IG Farben und Siemens sowie des
Steinkohlebergbaus an der Ruhr. Seine For-
schungen führten mitunter zu bemerkens-
werten Entdeckungen. So fand er in den
Betriebsakten der Firma Krupp Unterlagen,
die eine detaillierte Analyse der Vertrauens-
ratswahlen on 1934/35 erlauben.
Bislang wurden die Vertrauensratswahlen
des Jahres 1934 meist als völliger Fehlschlag
für die Nationalsozialisten gewertet. Die
besseren Ergebnisse des folgenden Jahres
bezeichnete man hingegen vorschnell als
plumpe Fälschung, wohl weil sie nicht zu
dem Bild einer weitgehend »resistenten« Ar-
beiterschaft paßten. Die Analyse der Unter-
lagen bei Krupp und im Ruhrbergbau zeigt
indes, daß bei den Abstimmungen - von
Ausnahmen abgesehen — »ein direkter
Zwang nicht ausgeübt wurde« und sich die
pauschalen Behauptungen über angebliche
»Fälschungen« der Wahlergebnisse nicht
nachweisen lassen (S. 225). Das Maß an Zu-
stimmung, das den nationalsozialistischen
Vertrauensratslisten entgegengebracht
wurde, sei überraschend hoch gewesen.
»Der Prozentsatz der Arbeiter, die durch
den Nationalsozialismus gewonnen wurden
und die sich der Bindung an die Arbeiterbe-
wegung entfremdeten, dürfte nicht gering
zu veranschlagen sein« (S. 225).
Wie ıst es zu erklären, daß der National-
sozialismus offenbar über einen größeren
Anhang unter den Arbeitern verfügte, als
man bislang annahm? Zunächst hatte, so
zeigt der Autor, die Verbesserung der Quali-
fikations- und Berufsperspektiven in den
dreißiger Jahren eine nicht zu unterschät-
zende Wirkung auf das Bewuftsein der Ar-
ZfP 40. Jg. 1/1993
109
beiterschaft. »Die Chance zu einem indivi-
duellen Leistungsaufstieg, die sich im >Drit-
ten Reich: bot, wurde von vielen Arbeitern
im Rückblick als positiver Aspekt des Natio-
nalsozialismus hervorgehoben« (S. 71).
Auch in der Lohnentwicklung konnten die
Arbeiter der ın dieser Studie untersuchten
Betriebe in den späten dreißiger Jahren Posi-
tionsgewinne verbuchen. Besondere Bedeu-
tung erlangten dabei die über- und außerta-
riflichen Zulagen und Prämien. Allerdings
verlief die Lohnentwicklung nicht überall so
positiv wie in den Großberrieben des Rü-
stungs- bzw. Investiuonsgittersektors. Die
Löhne verharrten zunächst auf einem relativ
niedrigen Niveau, was jedoch nicht primär
etwas mit dem politischen System des Natio-
nalsozialismus zu tun hat. Schließlich ist es,
darauf weist Zollitsch zu Recht hin, ein typi-
sches Konjunkturphänomen, daß im begin-
nenden Aufschwung zuerst die Unterneh-
mereinkommen steigen, während die Ar-
beitsverdienste beträchtlich nachhinken
(S. 103). Diese Entwicklung war auch in an-
deren Ländern (z.B. in England) zu beob-
achten und konnte durchaus als Bedingung
für die Wiedergewinnung der Vollbeschafti-
gung gedeutet werden.
In Abgrenzung zu bisherigen Akzentset-
zungen in der Forschung meint Zollitsch, es
seien »nicht die statuserhöhenden und den
nationalen Arbeiter umwerbenden Phrasen
der »Volksgemeinschaft« (gewesen), die der
Gewinnung der Arbeiterschaft Vorschub lei-
steten«, sondern in erster Linie die Faktoren
ökonomischer Zufriedenheit (S. 244). Inner-
betriebliche Aufstiegschancen, Arbeitsplatz-
sicherheit und Lohnsteigerungen waren
demnach wichtiger als die propagandisti-
schen Beteuerungen vom Wert der Handar-
beit.
Dem Autor ist insofern recht zu geben, als
in manchen Darstellungen die Integration
der Arbeiterschaft zu einseitig auf die propa-
gandistischen Bemühungen des Nationalso-
zialismus zurückgeführt wurde. Andererseits
sollte die Wirksamkeit dieser ideologischen
Beeinflussung nicht unterschätzt werden.
Die durch eine tendenziell egalitäre, ja
manchmal sozialrevolutionäre Propaganda
erzeugten Erwartungshaltungen in der Ar-
beiterschaft entwickelten eine Eigendyna-
mik, die beispielsweise von der DAF genutzt
wurde, um sozialpolitische Veränderungen
in Gang zu setzen.
110
Die Propaganda denunzierte massiv alle
wirklichen nace vermeintlichen Erscheinun-
gen von »Standesdünkel« und »Klassenbe-
wußtsein«, führte damit wohl auch tatsäch-
lich — wie Michael Prinz gezeigt hat - zu
einer nachhaltigen Veränderung im Selbst-
und Fremdbild der Arbeiterschaft. Sicher
wäre diesen propagandistischen Bemühun-
gen aber kaum Erfolg beschieden gewesen,
hätten ihnen nicht für den einzelnen Arbei-
ter erfahrbare positive Veränderungen in der
sozialökonomischen Situation entsprochen.
Daher ist es zu begrüßen, daß der Autor den
Blick auf die objektive ökonomische Lage
der Arbeiterschaft richtet.
Zollitsch nimmt auch zu der Debatte über
die Modernisierungswirkung des National-
sozialismus Stellung. Einerseits konstatiert
er, das Dritte Reich habe in der Kontinuität
eines langfristigen Modernisierungsprozes-
ses im industriellen Bereich gestanden. An-
dererseits betont er: »Der Nationalsozialis-
mus war in seinen Wirkungen auf die Mo-
dernisierung ambivalent. Soziale Fort-
schritte bildeten die Kompensation für Ver-
sagungen und Repressionsmaßnahmen im
politischen Bereich. Nichts änderte sich je-
doch daran, daß die Masse der Arbeiter-
schaft sich am unteren Ende der Sozialskala
befand... .« (S. 243).
Der hier unausgesprochen zugrunde ge-
legte Modernisierungsbegriff ist nicht un-
problematisch. Wer »Repressionsmaßnah-
men im politischen Bereich« bzw. die Aufhe-
bung »politischer Partizipation« im NS-
Staat als Gegenentwicklung zur Modernisie-
rung begreift, geht von einem normativen
Modernisierungsbegriff aus, der die politi-
sche Demokratisierung als konstitutives
Merkmal der Moderne begreift. Demgegen-
über zeigt der Nationalsozialismus, daß sich
Modernisierung durchaus auch in nicht-de-
mokratischen Formen vollziehen kann. Der
Hinweis, es habe sich nichts daran geändert,
»daß die Masse der Arbeiterschaft sich am
unteren Ende der Sozialskala« befand, ist
eine ebenso banale Feststellung wie die, daß
»der grundsätzliche Gegensatz zwischen
Kapital und Arbeit... nicht aufgehoben«
wurde (S. 158). Zur Beantwortung der Frage
nach den Modernisierungswirkungen des
Nationalsozialismus tragen diese Aussagen
nichts bei.
Diese kritischen Anmerkungen sollen den
Wert der vorliegenden Studie keineswegs
Kritik
schmälern. Sie stellt einen wichtigen Beitrag
zu der Debatte über das Verhältnis von Ar-
beiterschaft und Nationalsozialismus dar.
Die Ergebnisse sind um so erstaunlicher, als
der Autor sich gerade mit jenen Teilen der
Arbeiterschaft befaßt hat, die vor 1933 die
geringsten Neigungen zeigten, NSDAP zu
wählen. Die in industriellen Großbetrieben
beschäftigten Arbeiter stellten nur eine Min-
derheit der gesamten Arbeiterschaft dar,
drei Viertel aller Arbeiter gehörten nicht zu
dieser Kategorie. Landarbeiter etwa waren —
so zeigen die wahlhistorischen Untersuchun-
gen von Jürgen Falter - noch in höherem
Maße für die Versprechungen des National-
sozialismus empfänglich als die hier unter-
suchten Arbeitergruppen.
Um so bemerkenswerter ist, daß die Na-
tionalsozialisten selbst in Großbetrieben wie
bei Krupp ihre Ergebnisse bei den Betriebs-
ratswahlen im März 1933 gegenüber 1931
fast versechsfachen konnten und nun bereits
ein Viertel aller Stimmen erzielten, in man-
chen Abteilungen waren es sogar deutlich
über 50 Prozent (Tabelle 27, S. 184). Ahnli-
che Ergebnisse verbuchten die Nationalso-
zialisten in den Betriebsratswahlen bei IG
Farben (Tabelle 31, S. 197). Im Ruhrbergbau
konnten sie ihren Stimmenanteil sogar mehr
als versiebenfachen: Im März 1933 vereinte
die NS-Liste immerhin bereits fast 31 Pro-
zent der Stimmen auf sich, gegenüber 4,2
Prozent ım Jahre 1931 (Tabelle 29, S. 191).
Wenn schon im März 1933 solche Ergeb-
nisse erzielt wurden, so ist es durchaus nıcht
unglaubwürdig, daß die weit höheren Resul-
tate bei den Vertrauensratswahlen 1935 im
wesentlichen ein zutreffendes Bild von der
Haltung der Arbeiterschaft zum Nationalso-
zialismus vermitteln. Schließlich hatten die
Nationalsozialisten in den Augen vieler Ar-
beiter ihre Versprechungen gehalten.
Dem Autor ist zuzustimmen: »Die in op-
positioneller Ablehnung des Nationalsozia-
lismus vereinte Arbeiterschaft war im >Dnit-
ten Reich: nicht anzutreffen. Der politische
Widerstand der Arbeiterschaft, ihre bewußte
Verweigerung war eher ein Randproblem
und betraf hauptsächlich den kleinen, aber
harten Kern der vor 1933 schon politisch ak-
tiven Mitglieder der Arbeiterbewegung, der
ideologisch unbeirrbar und politisch stand-
fest geblieben war« (S. 242).
Berlin Rainer Zitelmann
Buchbesprechungen
Gerhard Rein: Die protestantische Revolution
1987-1990. Ein tsches Lesebuch. Berlin
1990. Wichern- Verlag. 445 S.
Die erregenden Ereignisse 1989/90 in der
DDR haben sich überschlagen: Von der
Fluchtbewegung im Herbst über die Bildung
zahlreicher oppositioneller Gruppierungen,
den Zusammenbruch des SED-Staates und
die erste demokratische Wahl am 18. März
1990 bis zur Vereinigung Deutschlands
reicht das Szenario. Wissenschaftlich ist
diese Entwicklung naturgemäß noch längst
nicht aufgearbeitet worden, obgleich eine
Reihe von Schriften mit zum Teil kurzatmi-
ger und vordergründiger Tendenz auf den
Markt gekommen ist.
Der Autor der »Protestantischen Revolu-
tion«, Rundfunkjournalist, ist seit längerem
mit der Materie intensiv vertraut, hat also
Kontakte zu Oppositionellen bereits vor der
»Wende« gepflegt. Dieser Band enthält ei-
nerseits einen Teil der seinerzeitigen Kom-
mentare und Berichte. Andererseits umfaßt
die Anthologie eine Vielzahl von Texten der
oppositionellen Bewegung, die mit zum Ein-
sturz der DDR-Diktatur beigetragen hat.
Die Anthologie ist chronologisch aufgebaut.
Sie reicht von dem Olof-Palme-Friedens-
marsch am 17. September 1987 bis zu einem
Gespräch mit Hans-Jochen Tschiche am
11. Juli 1990, dem evangelischen Pfarrer und
früheren Volkskammerabgeordneten vom
»Bündnis 90«.
Rein stellt im Gegensatz zu anderen in
Frage, daß man die Entwicklung als »Revo-
lution« bezeichnen könne. »Was in diesem
Land passiert ist, ist das Zusammenbrechen
eines morschen Systems. Ich erinnere mich
immer an die Geschichte von den Mauern
von Jericho, wir haben eigentlich weiter
nichts gemacht als ein bißchen Trompete ge-
blasen — bums, fiel alles um« (S. 428).
Der Titel — »Die protestantische Revolu-
tion« — bezieht sich darauf, daß viele evan-
gelische Pastoren die oppositionelle Bewe-
gung geführt und unter dem Dach der Kir-
che auch anderen systemkritischen Personen
eine gewisse Zuflucht gegeben haben. Das
ist sicherlich richtig, verkennt aber vielleicht
den Sachverhalt, daß die oppositionelle Be-
wegung wohl ihren Ausgang von der Kirche
nahm, sich später jedoch verbreiterte und
damit ihre Zielrichtung änderte. Die Fixie-
rung auf die Kirche mag auch charakteri-
ZfP 40. Jg. 1/1993
111
stisch für diesen Band sein. Nicht jede Stel-
lungnahme des engagierten Gerhard Rein
muß man teilen. Vielleicht läßt er manchmal
etwas zu wenig Distanz gegenüber den op-
positionellen Gruppierungen erkennen (und
ignoriert zudem weitgehend die Flüchtlings-
bewegung, die das Entstehen öffentlich auf-
a Oppositioneller erst begünstigt
at).
Der Band versucht allerdings nicht,
Widersprüche und Fehleinschätzungen der
oppositionellen Bewegungen zu vertuschen.
Das gilt etwa für die Annahme, einen eige-
nen Staat unter der Voraussetzung von Ver-
besserungen erhalten zu können. Am
17. Juni 1989, also noch vor der »Wende«,
hieß es bei Friedrich Schorlemmer, dem Do-
zenten am Predigerseminar Wittenberg:
»Identitätserlebnisse würde ich eher haben,
wenn es uns im Laufe des nächsten Jahres
gelänge, so etwas ähnliches zu vollziehen
wie das, was sich in der Sowjetunion ereig-
net. Ich meine, daß dies nicht destabilisie-
rend wirken würde, wie manche Denker in
diesem Land fürchten, sondern den Sozialis-
mus zu seinen Quellen zurückführen würde.
Viel mehr Menschen würden dann auch sa-
gen, aus diesen Quellen würden wir gerne
trinken, statt zu verschwinden« (S. 169 f.).
Rein selber erkennt frühzeitig, daß in der
DDR für eine neue Art von Sozialismus
keine Mehrheit vorhanden ist.
Die Anthologie umfaßt viele interessante,
höchst eindrucksvolle Zeugnisse einer Zeit,
die inzwischen der Vergangenheit angehört.
Der Band legt Zeugnis von dem Mut weni-
ger Widerständler ab, ebenso freilich auch
von ihrem mangelnden Realitätssinn. Die
Geschichte der anfänglichen SED-Opposi-
tion ist eine Geschichte enormer Zivilcou-
rage, freilich auch eine Geschichte ihres
Scheiterns, was etwa den Erhalt der DDR
betraf. Die Mythen, die sich um das Ende
der DDR ranken, sind von Rein, der für den
Tag geschrieben hat, nur zu einem geringen
Teil beim Namen genannt worden.
Eckhard Jesse
Trier
Josef Meurer: Die Gesamtdeutsche Volkspar-
tei. Entstehung und Politik unter dem Primat
nationaler Wiedervereinigung 1950-1957.
Düsseldorf 1990. Droste-Verlag. 445 S. 78,-
DM.
112
Keine Partei in der Bundesrepublik hat so
ausschließlich das Ziel der Wiedervereini-
gung in den Mittelpunkt ihrer Programma-
tik gestellt wie die Gesamtdeutsche Volkspar-
tet (GVP). Obgleich die GVP nie über das
Dasein einer Splittergruppe hinauskam, ha-
ben sich schon früh Historiker und Politik-
wissenschaftler für sie interessiert. Dies
hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen,
daß einige prominente Sozialdemokraten in
den fünfziger Jahren mit dieser Partei sym-
pathisierten oder sogar zu ihrem Führungs-
kern gehörten, so z. B. Gustav Heinemann,
Erhard Eppler, Diether Posser, Johannes
Rau, Hans Apel und Jürgen Schmude. Doch
auch unabhängig davon ist die GVP von
Interesse, weil sie versuchte, eine Alternative
zu Adenauers Politik der Westintegration zu
formulieren.
Josef Müllers Untersuchung stützt sich
auf eine denkbar breite Quellengrundlage.
Minuziös zeichnet er die Geschichte der
GVP nach, wobei mehr als die Hälfte seiner
Studie der Vorgeschichte dieser Partei ge-
widmet ist. Im Oktober 1950 schied Gustav
Heinemann, Innenminister im ersten Kabi-
nett Adenauer, aus seinem Amt aus. Ade-
nauer hatte Ende August 1950 ohne Abspra-
che mit dem Kabinett gegenüber den West-
alliierten die Bereitschaft für einen west-
deutschen Verteidigungsbeitrag bekundet.
Heinemann war nicht nur über die von ihm
als eigenmächtig empfundene Vorgehens-
weise des Kanzlers verärgert, sondern ver-
trat auch in der Sache einen anderen Stand-
punkt.
Oft ist Heinemanns Opposition gegen die
Wiederbewaffnung als Ausdruck eines prin-
zipiellen, theologisch begründeten Pazifis-
mus gewertet worden. War Heinemann Pa-
zifist? Diese Frage wird auch von Histori-
kern unterschiedlich beantwortet. Der Autor
dieser Studie nimmt einen »mittleren«
Standpunkt ein. Es sei unzutreffend, wenn
man Heinemann einem »grundsätzlichen«
Pazifismus zuordne, da er den Krieg als
Mittel der Politik nicht prinzipiell verworfen
habe. Faktisch sei Heinemanns Position
aber, zumindest was die Bewertung der
deutschen Lage in der konkreten Situation
unter den Bedingungen des modernen Krie-
ges anbelangte, auf eine pazifistische Hal-
tung hinausgelaufen. »Heinemann war mit
seiner Position den eigentlichen Pazifisten,
sprich den Gesinnungspazifisten, nicht pazi-
Kritik
fistisch genug und den Nichtpazifisten wie-
derum zu pazifistisch. Gerade seine Haltung
aus sog. realistischen Erwägungen heraus,
die eben nicht von vornherein jegliche Auf-
rüstung verneinte und bezogen auf Deutsch-
land nicht für alle Zeit unmöglich hielt, lie-
Ben so manchen »Friedensfreund: an Heine-
mann zweifeln« (S. 61).
Die theologischen Letztbegründungen
Heinemanns spielten nicht die entschei-
dende Rolle in seiner Argumentation, wie
oft angenommen. Die politischen Argu-
mente, so konstatiert Müller zu Recht, nah-
men in der Auseinandersetzung um die Wie-
derbewaffnung bei Heinemann die erste
Stelle ein (S. 63), bald schon waren seine po-
litischen Reden gar »nahezu frei von theolo-
ischen Argumenten, soweit es die Wieder-
beeaffiungsirane betraf« (S. 190, ähnlich
S. 56).
Müller irrt allerdings, wenn er meint, nach
der Stalin-Note vom März 1952 habe sich in
Heinemanns Argumentation ein »Bruch«
vollzogen, insofern er jetzt eine bewaffnete
Neutralität befürwortete (S. 190). Heine-
mann hatte, was Müller nicht erwähnt,
schon am 1. Januar 1952 erklärt, für das wie-
dervereinigte Deutschland könne eine für
Verteidigungszwecke ausreichende Wehr-
macht ins Auge gefaßt werden. Der Deutsch-
land-Union-Dienst der CDU kritisierte Hei-
nemann wegen der von ihm wiederholt be-
fürworteten bewaffneten Neutralität schon
Anfang Februar 1952 als »politischen Phan-
tasten«, weil die Sowjetunion dem nie zu-
stimmen werde. Bekanntlich unterbreitete
die UdSSR etwa sechs Wochen darauf ein
entsprechendes Angebot.
Es stimmt nicht, daß - wie Müller schreibt
— Heinemann nach der Stalin-Note »plötz-
lich« eine bewaffnete Neutralität akzeptierte
(S. 190). Unklar bleibt auch, worauf der Au-
tor seine Vermutung stützt, es wäre »Heine-
mann lieber gewesen ... Deutschland als
entmilitarisierte Zone zu sehen und nicht
national zu bewaffnen« (S. 191). Auch die
an anderer Stelle formulierte These, daß
Heinemann bzw. die von ihm 1951 ins Le-
ben gerufene Notgemeinschaft für den Frieden
Europas der Ansicht gewesen sei, eine natio-
nale Armee biete einen ausreichenden
Schutz gegen die Sowjetunion (S. 192), ist so
nicht richtig. Die Sicherung des neutralen
militärischen Status sollte nach Heinemanns
Ansicht in erster Linie durch eine Vier-
Buchbesprechungen
mächte-Garantie erfolgen. Die Bewaffnung
war in seiner Konzeption eine Ergänzung zu
dieser Viermachte-Garanue. Heinemann
vertraute vor allem darauf, daß der Westen
schon aus eigenem Interesse daran interes-
siert sein werde, den Bestand der Neutralität
Deutschlands mit allen Mitteln zu sichern.
Die Notgemeinschaft für den Frieden Euro-
pas und die im November 1952 gegründete
Gesamtdeutsche Volkspartei vermieden eine
eindeutige Festlegung auf »bewaffnete«
oder »unbewaffnete« Neutralität. Zu Recht
unterstreicht der Autor den Sammlungscha-
rakter der GVP, ın deren Reihen sich so-
wohl Pazifisten als auch nationalkonserva-
tive Kräfte fanden (S. 261-263). Der ge-
meinsame Nenner war das nachdrückliche
Eintreten für die Wiedervereinigung, die der
GVP nur unter dem Vorzeichen der militiri-
schen Blockfreiheit möglich schien. Zwar
mied man den Begriff der »Neutralität«
(Heinemann sprach meist von der »Aus-
klammerung« Deutschlands), aber das war
wohl hauptsächlich darauf zurückzuführen,
daß dieser Ausdruck in der Öffentlichkeit
weitgehend einen negativen Klang hatte
(S. 163).
Ohnehin hatte es die GVP in der anti-
kommunistischen Atmosphäre der fünfziger
Jahre schwer. Befürworter der Westintegra-
tion neigten dazu, die »Neutralisten« allzu
rasch als fünfte Kolonne Moskaus abzu-
stempeln. Der Bundesschatzmeister der
CDU und Oberbürgermeister von Siegen,
Ernst Bach, nannte Heinemann in CDU-
Zeitungen einen »bezahlten Sprecher Mos-
kaus«. In Schleswig-Holstein wurde am
Sonntag vor der Bundestagswahl vom Sep-
tember 1953 in Kirchen davor gewarnt, Hei-
nemann zu wählen, weil er mit dem Bolsche-
wismus paktiere. Am Donnerstag vor der
Wahl behauptete Die Zeit eine kommunisti-
sche Lenkung und Finanzierung der GVP
und verursachte damit einen erheblichen
Wirbel. Die Tatsache, daß die Partei dage-
gen beim Landgericht Essen eine einstwei-
lige Verfügung erwirkte, blieb in der öffent-
lichen Meinung unbeachtet (S. 323).
Allerdings gab die GVP ihren Gegnern
selbst Munition, als sie mit dem von dem
ehemaligen Reichskanzler Joseph Wirth ge-
gründeten Bund der Deutschen, der unter
kommunistischem Einfluß stand, ein Wahl-
bündnis vereinbarte. Zwar mußte jeder Kan-
didat eine Erklärung unterschreiben, daß er
ZfP 40. Jg. 1/1993
8
113
sich einem kommunistischen System wider-
setze, und Heinemann bemühte sich auch
sonst nachdrücklich darum, jede kommuni-
stische Einflußnahme zu unterbinden, doch
die Wirkung des Wahlbündnisses war trotz-
dem verheerend.
Bei den Bundestagswahlen am 6. Septem-
ber 1953 erlitt die GVP eine vernichtende
Niederlage, erzielte nur 1,16 Prozent der ab-
gegebenen Stimmen. Müller meint, bei die-
sen Wahlen sei die »Westintegration gutge-
heißen« worden (S. 327). »Der Volkewille
den man seitens der GVP immer gegen die
Politik der Bundesregierung angeführt
hatte, stützte nun die Außen- und Deutsch-
landpolitik Adenauers. Die Wählerschaft
wollte offensichtlich nichts von einem neu-
tralen wiedervereinigten Deutschland wis-
sen« (S. 322).
Gegen diese Interpretation spricht, daß
sich bei Meinungsumfragen in den Jahren
1951 bis 1955 regelmäßig über vierzig Pro-
zent für eine neutrale Stellung Deutschlands
zwischen Amerika und Rußland ausgespro-
chen hatten. Allerdings belegen die Umfra-
gen im Vorfeld der Bundestagswahl, daß die
Bedeutung der Sicherheitspolitik bei den
Wählern erst an sechster Stelle rangierte -
hinter sozial- und wirtschaftspolitischen
Themen. Gerade die Wirtschaftspolitik
spielte bei der GVP jedoch überhaupt keine
Rolle: »Während des Bundestagswahlkamp-
fes 1953 war der Stellenwert des Wirt-
schaftsprogrammes gleich Null« (S. 257).
Müllers Deutung der Wahlen als Abstim-
mung über die Deutschlandpolitik wird
durch diese (von ihm außer acht gelassenen)
Umfrageergebnisse nicht bestäugt. Dabei
nennt er durchaus andere demoskopische
Befunde, die einen Gutteil zur Erklärung
des Miferfolges der GVP beitragen: Dem-
nach hatten zwei Monate vor der Wahl 85
Prozent der Befragten noch nie etwas von
der Partei gehört und nur fünf Prozent ga-
ben eine richtige Antwort auf die Frage nach
dem Namen der von Heinemann gegründe-
ten Partei (S. 322). Auch dies spricht aber
dagegen, das schlechte Abschneiden der
GVP als Plebiszit über die Neutralitats-
Konzeption zu werten.
Eine Stärke der vorliegenden Studie be-
steht darin, daß neben Heinemann auch die
anderen führenden Persönlichkeiten der
GVP in die Darstellung einbezogen werden.
So zeichnet der Autor erstmals ein Bild der
114
außen- und deutschlandpolitischen Pro-
grammatik von Helene Wessel (S. 81-100).
Die ehemalige Zentrums-Vorsitzende,
zusammen mit Heinemann die prominente-
ste Persönlichkeit der GVP, maß insbeson-
dere dem Gedanken der europäischen Eini-
gung eine weitaus größere Bedeutung bei als
viele ihrer Mitstreiter. Nach Ansicht des Au-
tors spielte Heinemann nicht die entschei-
dende Rolle in der GVP, die ihm meist zuge-
schrieben wird (S. 406). Besser als anderen
Autoren gelingt es ihm, die Rolle weiterer
GVP-Aktivisten zu erfassen, so beispiels-
weise von Diether Posser, Hans Bodenstei-
ner, Adolf Scheu, Erwin Respondek, Her-
bert Mochalski und Erhard Eppler.
Schade, daß die überaus informative und
spannend zu lesende Geschichte der GVP
immer wieder durch persönliche Bewertun-
gen des Autors unterbrochen wird, der
meint, sich kritisch mit den Inhalten der von
Heinemann und anderen Aktivisten vertrete-
nen politischen Positionen auseinanderset-
zen zu müssen (vgl. z. B. S. 68, 71, 74, 151,
179, 246 f., 304, 319). Sicher muten manche
Ansichten, die innerhalb der GVP vertreten
wurden, naiv und wirklichkeitsfremd an.
Auch hat der Autor mit der Feststellung
recht, daß man gegenüber der sowjetischen
Politik ungleich mehr Verständnis aufzu-
bringen bereit war als gegenüber den West-
mächten. Allerdings vermißt man gegenüber
der Politik Adenauers die kritische Grund-
haltung, die Müller zu den von Heinemann
und seinen Mitstreitern vertretenen Positio-
nen einnimmt. Vielleicht wäre es sinnvoller
ewesen, hätte sich der Autor eigener
wertungen weitgehend enthalten und auf
die Darstellung des Selbstverständnisses der
Partei beschränkt.
Zuzustimmen ist ihm unbedingt, wenn er
den Widerspruch zwischen den politischen
Konzepten Adenauers und Heinemanns cha-
rakterisiert: »Heinemanns Staatsraison hatte
ihren Bezugspunkt in Gesamtdeutschland
und hob sich damit fundamental von der des
Bundeskanzlers ab, dem - zugespitzt formu-
liert — die Staatsraison der Bundesrepublik
alles galt« (S.72). Man könnte auch sagen:
Der Konflikt zwischen beiden Politikern
war Ausdruck einer unterschiedlichen Prio-
ritätensetzung — während Heinemann vom
Primat der Wiedervereinigung ausging,
hatte für Adenauer die Westintegration Vor-
rang vor allen anderen Zielen. Heinemanns
Kritik
»ausgeprägtes nationales Bewußtsein, das in
keiner Weise durch den Zweiten Weltkrieg
sper hatte« (S. 71), war Adenauer zwei-
elsohne fremd.
Berlin Rainer Zitelmann
Uwe Bacxes, Eckhard Jesse, Rainer ZrreL-
MANN (H.): Die Schatten der Vergangenheit.
Impulse zur Historisierung des Nationalsozia-
lismus. Frankfurt a. M./Berlin 1990. Propylaen
Verlag. 655 S. 48,- DM.
Der deutsche Faschismus hat ein Dickicht
von Legenden und Mythen hinterlassen.
Wenn er auch seit bald einem halben Jahr-
hundert eingehenden Forschungen und Ver-
öffentlichungen unterworfen wurde, haben
sie sich immer noch nicht in der Offentlich-
keit durchgesetzt. Im allgemeinen Verstand-
nis des Nationalsozialismus und des Dritten
Reichs wiegen Klischees vor, die wohl einer
ganz erklärlichen normativen Aburteilung,
nicht aber realistischer Aufarbeitung dieses
verbrecherischen Kapitels in der deutschen
Geschichte Genüge tun.
Der hier vorliegende Band setzt sich also
die »Versachlichung« der Debatte über die
NS-Zeit zur Aufgabe, und es ist höchst pas-
send, daß er dem Gedenken an Martin Bros-
zat, den unlängst verstorbenen Leiter des In-
stituts für Zeitgeschichte in München, ge-
widmet ist. War es doch Broszat, der zuerst
im Mai 1985 die »Historisierung« des Natio-
nalsozialismus auf die Tagesordnung setzte,
die sich allerdings dann in den sogenannten
»Historikerstreit« ausweitete und so unter
den Historikern zu einer überhitzten De-
batte über den Nationalsozialismus führte.
Jedenfalls war es Broszat in seinem »Plä-
doyer« daran gelegen, die Vergangenheit
durch »geschichtliches Verstehen« zu bewäl-
tigen und von allzu üblichen Schwarz-Weiß-
Konstruktionen abzurücken, die wohl als
Pädagogikum dienten, aber letzten Endes
die Dynamik und nicht minder die wirkliche
Dämonie des Nationalsozialismus unter-
schätzt haben. Er hob hervor, daß gerade
»das Nebeneinander und die Interdepen-
denz von Erfolgsfähigkeit und krimineller
Energie, von Leistungsmobilisation und De-
struktion, von Partizipation und Diktatur«
zum Verständnis des Nazi-Regimes vonnö-
Buchbesprechungen
ten sind. Sie allein können seine Anzie-
hungskraft erklären. Weit davon entfernt,
einer Relativierung oder Trivialisierung des
Nationalsozialismus Vorschub zu leisten,
sollte die Historisierung des Nationalsozia-
lismus dazu dienen, seine Unterschätzung
zu unterbinden.
Die Herausgeber der Schatten der Vergan-
genheit haben sich um eine Bestandsauf-
nahme des Historisierungsprozesses bemüht
und verdient gemacht. Besonders grundle-
gend und richtunggebend ist der Bericht En-
rico Syrings über die Debatte unter den
westdeutschen Historikern zwischen den so-
genannten »Intentionalisten« und »Struktu-
ralisten« über den historischen Stellenwert
Hitlers in der Geschichte des nationalsozia-
listischen Deutschland und seiner politi-
schen Aktionen, die Syring selber in eine
rechte Perspektive rückt und für deren Ent-
spannung er plädiert — hat sie doch ihre
Nützlichkeit überlebt. Auch kommt Ernst
Nolte noch einmal zu Wort, der anfänglich
dafür verantwortlich war, dem Historisie-
rungsargument die Note des Historiker-
streits zu geben. In diesem Fall fragt es sich,
ob es nicht folgerichtig gewesen wäre, auch
einem seiner Antipoden — so Jürgen Haber-
mas oder Hans Mommsen - das Wort zu ge-
ben. Besonders bedeutungsvoll auf dem
Wege zu einer »nüchternen« Geschichtsbe-
trachtung ist der Beitrag von Imanuel Geiss
über Massaker in der Weltgeschichte. Der
Holocaust soll also kein Tabu bleiben und in
einer insularen und sakralen »Einzigartig-
keit« verstanden werden, sondern in verglei-
chender Perspektive. Nur mit Hilfe einer
weitgehenden historischen Analyse der Vor-
bedingungen und nur durch einen »struktu-
rellen Vergleich« — sowohl mit dem Arme-
niermassaker und natürlich auch mit dem
Sowjet-GULag — wäre wenigstens Hoffnung
auf eine Verhinderung ähnlicher Massenver-
brechen in der Zukunft gerechtfertigt. Rai-
ner Zitelmann, einer der Herausgeber des
Bandes, wiederum setzt sich mit Noltes allzu
einseitiger Betonung des Antikommunis-
mus-Motivs in der Hitlerschen Ideologie
auseinander, wobei er auch auf Berührungs-
punkte zwischen den Faschismustheorien
Noltes und den Marxisten hinweist, für die
beide der Faschismus ein Kampfinstrument
gegen den Kommunismus ist.
So wird hier eine Legende nach der ande-
ren in Frage gestellt. Zitelmanns Kritik an
ZfP 40. Jg. 1/1993
g*
115
Noltes Faschismustheorie führt dann auch
konsequent zu einer neuen Beurteilung von
Gunther Mai und Jürgen W. Falter der Ein-
stellung der Arbeiterschaft zum Nationalso-
zialismus. Beide Autoren sehen sich gerecht-
fertigt, die Stereotype der Arbeiterfeindlich-
keit der Bewegung zu zerstören. Die Hoff-
nung, so schreibt Mai, daß gerade die Arbei-
terschaft den Verlockungen des Nationalso-
zialismus nicht erlegen sei, sei »verständlich,
aber empirisch nicht verifizierbar«. Falter
wiederum geht mit Hilfe historischer Wahl-
und Mitgliederforschung gegen die »My-
then« der besonderen »Anfälligkeit« der An-
gestellten und der »Immunität« der Arbeiter
zu Felde.
Die Lebensbornheime der SS, so lernen
wir von Franz W. Seidler, waren keineswegs
nationalsozialistische Zuchtanstalten, son-
dern Entbindungsheime zur Förderung des
Geburtenwachstums; sie nahmen sich der le-
digen Mütter sowie auch ihrer unehelichen
Kinder an. Fritz Tobias, der sich schon vor
längerer Zeit um die Entmythologisierung
des Reichstagsbrandes - in diesem Band von
Uwe Backes behandelt — verdient gemacht
hat, entlarvt hier den oft zitierten Brief, den
Ludendorff am 30. Januar 1933 an Hinden-
burg geschrieben haben sollte und in dem er,
vor Hitler warnend, das finis Germaniae vor-
ausgesagt hatte, als eine Mystifikation.
Bernd-Jürgen Wendt nimmt an dem in den
sechziger Jahren von Walther Hofer einge-
führten Begriff der »Entfesselung« des
Zweiten Weltkrieges Anstoß, weil er die
Vorgeschichte des Krieges auf einen eindi-
mensionalen und zu voluntaristisch, aus-
schließlich auf die Person Hitlers eingefarb-
ten Vorgang reduziert, ohne der »Vielgestal-
tigkeit« und »Vielgeschichtigkeit« des
Kriegsbeginns gerecht zu werden. Michael
Wolffsohn erinnert daran, daß das Wort
»Reichskristallnacht« keineswegs, wie allge-
mein angenommen, von den Nazis zur Ver-
tuschung des Pogroms vom 9. November
1938 geprägt war, sondern vom Berliner
Volksmund als ein Ausdruck seines Wider-
willens. Auch geht der so oft auf Photos
wiedergegebene Brand der Berliner Syn-
agoge in der Oranienburgerstraße nicht, wie
allgemein angenommen, auf die Nacht zum
10. November 1938 zurück. Damals eilte der
Polizei-Oberleutnant Wilhelm Krützfeld,
dessen Name nunmehr in die Geschichte
eingehen sollte, von Anwohnern über die
116
plündernde SA alarmiert, mit einigen ande-
ren Polizisten zur Synagoge und vertrieb
den Pöbel mit vorgehaltener Pistole. Die
Zerstörung der Synagoge geht auf einen bri-
tischen Luftangriff vom 23. Februar 1943
zurück.
Wohl werden die hier vertretenen Bilder-
stürmer nicht in jeder Beziehung das letzte
Wort haben. Sicher wird besonders der
letzte Teil des Buches, der sich mit verschie-
denen Aspekten der »Vergangenheitsbewäl-
tigung« befaßt und eine Gratwanderung
zwischen »Zerknirschungsmentalität« und
»Schlußstrichmentalität« anstrebt, viel De-
batte, wenn nicht Kritik, auslösen. Auch ist
die Frage gerechtfertigt, ob eine systemati-
sche Behandlung der Historisierung des Na-
tionalsozialismus nicht auch die Historisie-
rung des Widerstands gegen den National-
sozialismus hätte einbegreifen sollen. Im
großen und ganzen aber haben die 23 Auto-
ren die von Broszat postulierte Historisie-
rung des Nationalsozialismus ehrlich und
überzeugend durchgeführt.
Nicht minder hat das hier besprochene
Buch auch Hannah Arendts These der »Ba-
nalitat« des Bösen implementiert. Wenn
Arendt selbst sich auch an den Grenzen der
Verharmlosung des Nationalsozialismus be-
wegte, so hat sie sie nie überschritten. Das-
selbe können wir von den Mitarbeitern die-
ses Werkes sagen. Diejenigen, die jenseits
der Grenze zur Trivialisierung sich bewe-
gen, das heißt die sogenannten »Revisioni-
sten«, die die Nazi-Greuel wegerklären zu
können glauben, sollten keinen Anlaß ha-
ben, sich dieses ernsten und wichtigen Ban-
des zu erfreuen.
Northampton/USA Klemens von Klemperer
Alexander Demanor (H.): Deutschlands Gren-
zen in der Geschichte. München 1990. Verlag
C. H. Beck. 279 S. 39,80 DM.
Sieben Autoren, sechs Historiker und ein
Geograph, behandeln das umstrittene
Thema in sieben Kapiteln. Auf das Vorwort
(S.7) und das Kapitel »Die Grenzen in der
Geschichte Deutschlands« (S. 9-31) vom
Herausgeber folgen die Kapitel »Deutsch-
lands »natürliche« Grenzen« (S. 33-88) von
Hans-Dietrich Schultz, »Deutschlands
Kritik
Nordgrenze« (S. 89-133) von Reimer Han-
sen, »Deutschlands Ostgrenze« (S. 135—159)
von Klaus Zernack, »Deutschlands Süd-
grenze« (S. 161-189) von Josef Riedmann,
»Deutschlands Westgrenze« (S. 191-233)
von Ilja Mieck und »Die innerdeutschen
Grenzen« (S. 235-276) von Helmut Wagner
sowie Anmerkungen (S.272-274), ein Litera-
tur- (S.275f.) und ein Autorenverzeichnis
(S. 277-279). Der mit 40 Karten ausgestat-
tete Band gibt einen vorzüglichen Überblick
über den Gestaltwandel Deutschlands in der
Zeit und läßt zudem einige mit der Themen-
stellung verbundene Grundprobleme erken-
nen: Gibt es natürliche Grenzen Deutsch-
lands oder resultieren sie aus ideologischen
bzw. Machtkonstellationen? Welchen Ein-
fluß hat die Mittellage Deutschlands auf
seine Geschichte ausgeübt? Wie haben sich
die politischen Entwicklungen Europas auf
den deutschen Grenzverlauf ausgewirkt?
Der Zeitraum erstreckt sich von der Spätan-
tike bis zur Gegenwart, und neben den Au-
ßengrenzen werden auch die Natur- und
Binnengrenzen des Landes behandelt.
St. Ingbert Ernst R. Sandvoss
Klaus-Jürgen MULLER: Armee und Drittes
Reich 1933-1939. Darstellung und Dokumen-
tation (Unter Mitarbeit von Emst Willi Han-
sen). Paderborn 1987. Verlag Ferdinand Schö-
ningh.
Nach dem Ende des Krieges und dem
Zusammenbruch der NS-Diktatur wurde
der Armee vorgeworfen, sie habe sich in un-
zulässiger Weise in Politik und Gesellschaft
eingemischt und sei daher mitverantwortlich
für das Hitler-Regime und dessen Taten.
Andererseits argumentierte man, ein eng
fachmilitärisches Denken habe in der Wei-
marer Republik einen Höhepunkt erreicht,
und eben diese »unpolitische« Haltung der
Armee sei für das »Versagen« der militäri-
schen Führungsschicht angesichts der Her-
ausforderung des Nationalsozialismus ver-
antwortlich zu machen. Hat sich die Armee
also zu sehr in die Politik eingemischt, oder
war sie politisch zu abstinent? Hätte sie sich
weniger um politische Fragen kümmern sol-
len, oder war das politische Engagement der
Militärs zu gering? r solche und ähnlı-
che Fragen wurde diskutiert, aber sie sind
Buchbesprechungen
117
nicht das Thema der vorliegenden Studie.
Die Geschichtswissenschaft kann durch die
Aufhellung historischen Geschehens zwar
eine solide Basis bilden, um solche normati-
ven Fragen rational diskutieren zu können.
Sie selbst vermag jedoch als Wissenschaft
keine verbindlichen Antworten zu geben.
Es kommt der Analyse von Klaus-Jürgen
Müller sehr zustatten, daß er nicht darüber
schreibt, wie die Geschichte seiner Meinung
nach hätte verlaufen sollen, sondern sich auf
den Versuch der Rekonstruktion des tat-
sächlichen Geschehens beschränkt: »Poli-
tisch-moralische Kriterien besitzen keine
hinreichende rationale Erklärungskraft für
die geschichtswissenschaftliche Analyse eines
derart komplexen Sachverhaltes, wie ihn un-
ser Thema umfaßt. Dafür ist es vielmehr
notwendig, einen kategorialen Bezugsrah-
men zu finden, der eine historische Einord-
nung und damit eine hinreichend rationale
Erfassung und Erklärung der zur Diskussion
stehenden Phänomene und Ereigniszusam-
menhänge erlaubt. Dies bedeutet durchaus
nicht, daß die politische und moralische
Problematik, die das Verhältnis von Armee
und NS-Staat auch beinhaltet, verdrängt
oder gar geleugnet werden soll. Aber eine
angemessene Erörterung und Bewältigung
dieser politisch-moralischen - also nicht ge-
schichtswissenschaftlichen - Problematik
kann nur dann erfolgen, wenn zuvor die hi-
stonsche Wissenschaft durch die Klärung
wesentlicher Sachverhalte und die Bereitstel-
lung angemessener Einordnungskriterien
eine hinreichend tragfähige Diskussionsba-
sis geschaffen hat« (S. 13).
Der vorliegende Band gliedert sich in drei
Teile. In der Einleitung werden jene histori-
schen Kategorien entwickelt, die eine Ein-
ordnung der zur Frage stehenden Probleme
des Verhältnisses von Armee und Drittem
Reich ermöglichen. Ein darstellender und
chronologisch aufgebauter Teil zeigt, wie
sich das Verhältnis von Armee und Natio-
nalsozialismus in den Jahren 1933 bis 1939
verändert hat, und eine ausführliche Doku-
mentation enthält die wichtigsten - z. T. bis-
her noch nie veröffentlichten - Quellen zum
Thema.
Thematisiert werden u.a. das Verhältnis
zwischen der Armee einerseits und SA bzw.
SS andererseits sowie die Konflikte zwi-
schen Hitler und führenden Militärs. Dabei
wird deutlich, daß die Ursachen dieser Kon-
ZfP 40. Jg. 1/1993
flikte nicht auf einen einfachen Nenner ge-
bracht werden können. Auseinandersetzun-
gen entzündeten sich an der Einführung des
»Arierparagraphen«, an der Kirchenpolitik
der Nationalsozialisten und nicht zuletzt an
der — besonders in der Sudetenkrise aufge-
worfenen — Frage, ob die Armee bereits in
der Lage sei, einen Krieg zu führen, bzw. an
den unterschiedlichen Einschätzungen über
das zu erwartende Verhalten der West-
mächte im Konfliktfall.
Im Mittelpunkt der Darstellung steht die
These des Autors, im Dritten Reich sei eine
geradezu als »revolutionär« (warum Müller
diesen Terminus in Anführungszeichen
setzt, wird nicht ersichtlich) einzuordnende
Umwandlung einer einst politischen Elite
mit einem umfassenden Führungsanspruch
in eine nur noch funktionale Elite erfolgt.
»Im >Dritten Reich: wurde das preußisch-
deutsche Offizierskorps erstmals in seiner
Geschichte zu einem reinen staatlichen Exe-
kutivorgan der politischen Führung. Gewiß,
nach liberal-demokratischem Verfassungs-
denken wäre das seine normale Rolle. ...
Aber gerade diese »Normalität« hatte es im
preußisch-deutschen Reich, im Grunde auch
in der Republik von Weimar, nie gegeben.
Stets hatte der preußisch-deutsche Dualis-
mus das Verhältnis von politischem Militar
und ziviler Politik geprägt« (S. 40 f.).
Müllers Befund bestätigt die These von
der modernisierenden Funktion des natio-
nalsozialistischen Regimes, die jüngst auch
durch die Untersuchungen des Freiburger
Militärhistorikers Bernhard Kroener weitere
empirische Untermauerung erfuhr. Müller
zeigt, daß die Widersprüche zwischen Ar-
mee und Partei, zwischen Reichswehrfüh-
rung und Heeresleitung, und schließlich
auch in der Armee selbst, nicht zuletzt Aus-
druck des Bestrebens von Teilen der tradi-
tionellen Eliten waren, den revolutionären
Modernisierungsprozeß zu verhindern bzw.
rückgängig zu machen.
Diese Deutung ermöglicht beispielsweise
ein besseres Verständnis der unterschiedli-
chen Konzeptionen des Reichswehrministers
von Blomberg und des Oberbefehlshabers
des Heeres, von Fritsch. »Die gewiß natio-
nalsozialistisch getönte Modernität Blom-
bergs mit ihrer größeren sozialegalitären
Aufgeschlossenheit und Berücksichtigung
gesellschaftlicher Mobilität, ihre Neigung,
neue politische »Eliten< einzubeziehen, kor-
118
respondierte mit größerer ideologischer
Aufgeschlossenheit gegenüber nationalso-
zialistischen Doktrinen; dagegen errichtete
das, trotz aller Lippenbekenntnisse gegen-
über der Volksgemeinschaft letztlich gesell-
schaftlich exklusive, traditionalisusche Her-
rentum Fritschs ebenso hohe Barrieren
gegenüber einer allzu undifferenzierten und
weitgehenden Indoktrination wie gegenüber
einer modernen Menschenführung« (S. 55).
Die eigentliche Zäsur im Verhältnis von
Politik und Militär brachte nicht die NS-
Machtergreifung 1933, sondern das Jahr
1938. Dabei war besonders die sog. Blom-
berg-Fritsch-Krise von erheblicher Folgewir-
kung für die Beziehungen zwischen Staat
und Armee in Deutschland. Kritisch einzu-
wenden wäre an dieser Stelle, daß der Autor
sich bei der Darstellung dieser Führungs-
krise der Wehrmacht, die schließlich zur
Entlassung von Blomberg und Fritsch und
zur Übernahme der Wehrmachtsführung
durch Hitler führte, teilweise an den Dar-
stellungen von Harold C. Deutsch und Her-
mann Foertsch orientiert, die im Lichte
neuer Quellen und Forschungsergebnisse
recht fraglich erscheinen. So sprechen die
Goebbels-Tagebücher, die der Autor leider
noch nicht heranziehen konnte, eher dafür,
daß Hitler die Affäre um Blomberg und
Fritsch als ernste Krise begriff, nicht aber als
erfreuliche Gelegenheit zur weiteren Macht-
ausdehnung begrüßte. Daß er sie in diesem
Sinne nutzte, entspricht seinem Verhalten in
vielen anderen innerparteilichen und innen-
politischen Krisen seıt 1921.
Was dem Betrachter im nachhinein als ge-
plantes Vorgehen erscheint, entsprach in
diesem wie in anderen Fällen (so bei der in-
nerparteilichen »Machtergreifung« im Juli
1921 oder beim Reichstagsbrand im Februar
1933) eher dem improvisatorischen Talent
des Krisenmanagers. Obwohl auch Müller
noch davon ausgeht, Blomberg und Fritsch
seien Opfer eines nationalsozialistischen
Komplotts geworden, wendet er sich doch
zu Recht gegen die Fehlinterpretauon, wo-
nach die Blomberg-Fritsch-Krise eine »Ra-
che« Hitlers für den Widerspruch zu seinen
außenpolitischen Ausführungen auf der so-
genannten »Hoßbach-Konferenz« vom
5. November 1937 gewesen sei (S. 91). -
Insgesamt gelingt es dem Hamburger Hi-
storiker, einen überzeugenden und ausge-
zeichnet belegten Interpretationsrahmen ab-
Kritik
zustecken, der es ermöglicht, die Entwick-
lung des Verhältnisses von Armee und Na-
tionalsozialismus in einen umfassenderen hi-
storischen Kontext einzuordnen. Die vorlie-
gende Studie stellt damit einen wesentlichen
Beitrag zu der notwendigen Historisterung
des Nationalsozialismus dar.
Rainer Zitelmann
Berlin
Wolfgang Kowaıskr: Frankreichs Unterneh-
mer in der Wende (1965-1982). Bilanz und
Perspektiven. Rheinfelden/Freiburg/Berlin
1989. Schäuble-Verlag. 477 Seiten. 196,- DM.
Das Frankreich der achtziger Jahre ist ge-
kennzeichnet durch ein kontinuierliches
Hervortreten des Wirtschaftsliberalismus
und durch das erstaunliche Gewicht, das der
Ökonomie im Alltagsbewußtsein eingeräumt
wird (L. Baier). Ein Starunternehmer wie
Bernard Tapie wird in dieser Zeit zu einer
nationalen Größe. Lothar Baier hat mit dem
Titel »Firma Frankreich« diese gesellschaft-
liche Entwicklung auf den Punkt gebracht.
Vor diesem Hintergrund analysiert Wolf-
gang Kowalsky, wissenschaftlicher Mitarbei-
ter am Fachbereich Politische Wissenschaft
der Freien Universität Berlin und langjähri-
ger Kenner der französischen Verhältnisse,
den Wandel des Conseil National du Patro-
nat Francais (CNPF). Kowalsky verweist
kurz auf die Volksfront von 1936 und die
Lage im Nachkriegsfrankreich, wählt aber
für seine Arbeit den Zeitraum von 1965 bis
1982. Dabeı spielt der Mai 1968 eine zen-
trale Rolle: Der Schock bringt innovative
Kräfte im Unternehmerverband zum Vor-
schein, die neue Informations- und Sozial-
strategien entwickeln. Schritt für Schritt
wird ein positives Bild des Unternehmers ge-
zeichnet und die »patrons de droit divin«
verschwinden in der Versenkung. Damit
geht eine Betonung der Marktkräfte gegen-
über dem Staat und eine neue Werteord-
nung einher, in der die Leistung(sfähigkeit)
des einzelnen ganz oben steht. Der Verfas-
ser untersucht ausführlich die einzelnen
Phasen dieser Entwicklung und zeigt damit,
wie aus einer konservativen Vereinigung von
»patrons«, die sich hinter den eingefahrenen
Positionen verschanzt, im Laufe der Zeit ein
moderner Interessenverband wird, der die
Buchbesprechungen
119
gesamtgesellschaftliche Entwicklung mit-
steuern will und sich dabei der Medien in
souveräner Weise bedient.
Kowalsky bemüht sich am Ende um eine
Verortung der Entwicklung des Patronats in
der Gesellschaft und kommt zu dem poin-
tiert formulierten Fazit: der CNPF sei am
Wiederaufbau einer kulturellen Hegemonie
der Rechten aktiv beteiligt gewesen und
habe sich nach dem »Mai« — zum ersten Mal
in seiner Geschichte - zu einem positiven
Gestaltungsfaktor einer Gesellschaft gewan-
delt, die durch die Maibewegung in ihren
Grundfesten erschüttert worden war (vgl.
S. 413). Kowalsky sieht eine »patronale Of-
fensivstrategie« am Werk, die er als zumin-
dest bis in die beginnenden achtziger Jahre
als erfolgreich beschreibt und die er für
umfangreiche Veränderungen der Gesamt-
gesellschaft verantwortlich macht. Dabei
kommen gelegentlich die anderen Akteure
auf der gesellschaftlichen Bühne zu kurz,
was möglicherweise zu einer Überschätzung
der Einwirkungsmöglichkeiten eines Ver-
bandes führt. Die etwas plakative Unter-
scheidung in rechts und links verstärkt die-
sen Effekt, ohne daß man sicher sein
könnte, daß diese strikte Trennung nach
hergebrachten Kategorien den komplexen
Sozialverhältnissen der achtziger Jahre ge-
recht zu werden vermag.
Doch diese Anmerkungen stören den po-
siuven Gesamteindruck nicht. Kowalskys
Analyse ist wertvoll für das Verständnis des
sozialen Wandels in Frankreich; sie ist gut
dokumentiert, beinhaltet eine gut brauch-
bare Zeittafel und liefert eine Vielzahl inter-
essanter Fakten, die über das angesprochene
Thema hinausweisen.
Nürnberg Gunter Ammon
Keith Rossıns (H.): The Blackwell Biographi-
cal Dictionary of British Political Life in the
Twentieth Century. Oxford 1990. Basil Black-
well. 449 S.
Die Qualität eines biographischen Lexikons
ergibt sich nicht nur aus dem Inhalt der ein-
zelnen Beiträge, sondern sie hängt ganz we-
sentlich von der Auswahl derjenigen zu cha-
rakterisierenden Persönlichkeiten ab, die der
Herausgeber in den Band aufgenommen hat.
ZfP 40. Jg. 1/1993
Daß in einem »Biographical Dictionary of
British Political Life« die wichtigsten politi-
schen Entscheidungsträger wie Prime Mini-
ster, Chancellor of the Exchequer, Foreign
Secretary, Home Secretary etc. nicht fehlen
dürfen, ist selbstverständlich. Das weitaus
schwierigere Problem jedoch manifestiert
sich in der Frage nach der Auswahl derjeni-
gen Persönlichkeiten, die außer den sozusa-
gen »obligatorisch« zu berücksichtigenden
das politische Leben Großbritanniens im
20. Jahrhundert verkörper(te)n.
Keith Robbins, Professor für Neuere Ge-
schichte an der Universität Glasgow, hat
diese diffizile Aufgabe mit unverkennbar hi-
storischem Sachverstand gelöst, indem er die
Bedeutung einzelner Persönlichkeiten nicht
ausschließlich von deren Position oder Amt
ableitet, sondern nach ihrer individuellen
Rolle im politischen Leben Großbritanniens
fragt und somit der historischen Relevanz
folgend gewichtet. So erklärt sich auch die
berechtigte Vernachlässigung so manchen
Kabinettsmitgliedes, während andererseits
zum Teil Persönlichkeiten Berücksichtigung
finden, die man - wie z.B. Kirchenführer,
Medien-Repräsentanten, Wissenschaftler,
Militärs, Interessenvertreter, die Königliche
Familie — nicht als Politiker im engeren
Sinne des Wortes bezeichnen würde.
Die von insgesamt rund 80 Autoren, die
der Herausgeber aus den Sparten Politik,
Wissenschaft, Geschäftsleben und Journalis-
mus gewinnen konnte, verfaßten Einzel-Bei-
träge zeichnen sich durch eine durchgehend
hohe Qualität und die Tatsache aus, daß
dankenswerterweise auf eine stichwortar-
tige, ein umfassendes und ausgewogenes Ge-
samtbild verstümmelnde Kurz-Information
zugunsten ausführlicherer Darstellungen,
die sich im Falle besonders herausragender
Persönlichkeiten als regelrechte Kurz-Bio-
graphien präsentieren, verzichtet wurde.
Keith Robbins’ biographischer Dictionary
erfüllt nicht nur den Anspruch eines Nach-
schlagewerks zur ersten Orientierung über
Leben und Werk relevanter Persönlichkeiten
des politischen Lebens im Großbritannien
des 20. Jahrhunderts, sondern kann auf-
grund der vorzüglichen Selektion der be-
rücksichtigten Persönlichkeiten und deren
treffender Charakterisierung wegen auch als
eine Einführung in die politische Geschichte
Großbritanniens seit Beginn dieses Jahrhun-
derts (an Hand der diese Geschichte prägen-
120
den Personen) genützt werden. Zahlreiche
Photographien, ein vorbildliches Namens-
und Sachregister und weiterführende biblio-
graphische Hinweise zu den einzelnen cha-
rakterisierten Persönlichkeiten vervollstän-
digen den positiven Eindruck, den dieses ın
doppelter Hinsicht hilfreiche Werk hinter-
Kritik
läßt. Der Preis von knapp 50 britischen
Pfund wird jedoch vermutlich leider dafür
sorgen, daß das Lexikon vor allem in Biblio-
theken, seltener in privaten Bücherregalen
zu finden sein wird.
München Reinhard Meier- Walser
Autoren dieses Heftes
Dr. Rupert Hofmann, Professor für politische Wissenschaft an der Universität
Regensburg
Priv. Doz. Dr. Dr. Roland Kley, wissenschaftlicher Assistent am Institut der Hoch-
schule St. Gallen
Dr. phil. habil. Gangolf Hübinger, wissenschaftlicher Assistent am Histor. Seminar
der Universität Freiburg
Dr. Harald Homann, Dr. Clemens Albrecht, wissenschaftliche Assistenten am Insti-
tut für Soziologie der Universität Tübingen
Dr. Andre Kaiser, wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Politikwissenschaft
der Universität Mannheim
Datenschutz bei
den Sıcherheitsbehörden
Mit einem Anhang der wichtigsten Fach-
begriffe in deutscher, englischer, fran-
zösischer, italienischer und spanischer
Sprache
Von Dr. ıur. Reinhard Riegel,
Ministerialrat im Bundesministerium des Innern
2., neubearbeitete und erweiterte Auflage
1992. XXIII, 240 Seiten. Kartoniert DM 68,-
ISBN 3-452-22446-5
Seit dem Erscheinen der ersten Auflage
dieses Buches sind 12 Jahre vergangen.
Sie brachten vielfältige Änderungen und
Neuerungen des Datenschutz- bzw.
Informationsrechts insgesamt, vor allem
aber auch für die Sicherheitsbehörden.
Entscheidend dafür waren zum einen
die rasante Entwicklung der Informa-
uonstechnologie und zum anderen die
allgemeine Einsicht in die Tatsache, daß
die hoheitliche personenbezogene Infor-
mationsverarbeitung die Grundrechts-
sphäre des Betroffenen in seinem Recht
auf informationelle Selbstbestimmung
tangiert und daß daraus die Notwendig-
keit folgt, für klare gesetzliche Regelun-
gen zu sorgen. Maßgebend für letzteres
war das Volkszählungsurteil des Bun-
desverfassungsgerichts, das eine Welle
gesetzgeberischer Aktivitäten in Bund
und Ländern auf allen Gebieten - insbe-
sondere jedoch ım Sicherheitsbereich -
auslöste. Vorläufiger Höhepunkt war
das Gesetz zur Fortentwicklung der
Datenverarbeitung und des Datenschut-
zes vom 20. Dezember 1990, das eine
vollständige Novellierung des BDSG
HeGaAtans
Verlag
und des BVerfSchG sowie die seit Jah-
ren angemahnten Gesetze für BND und
MAD brachte.
Damit ist das Anliegen des Buches von
ganz anderer Art als 1980: Damals galt
es, die höchst umstrittenen Fragen der
Eingriffsqualität und des Erfordernisses
klarer gesetzlicher Regelungen heraus-
zustellen und nachzuweisen, daß und
warum das Sicherheitsrecht von 1980
noch keinerlei informationsrechtliche
Regelungen kannte. Jetzt dagegen war
zu erörtern, wie die Forderungen des
Bundesverfassungsgerichts inhaltlich
umgesetzt worden sind, war eine »Kate-
gorisierung« der vielen verstreuten
gesetzlichen Regelungen zu bilden, war
Erreichtes kritisch zu werten und waren
die sich verfestigenden Entwicklungs-
tendenzen aufzuzeigen, um zu sehen, ob
der Gesetzgeber auf dem richtigen
Lösungsweg ist. Daneben waren aller-
dings auch die Lücken kenntlich zu
machen, die noch immer bestehen, und
war zu fragen, ob bestimmte Richtun-
gen, die der Gesetzgeber bisher einge-
schlagen hat, korrigiert werden müssen.
Einen wichtigen Platz in der Darstel-
lung nehmen die Probleme des grenz-
überschreitenden Informationsaustau-
sches ein, namentlich die Entwicklung
im EG-Bereich im Hinblick auf den
Weg zur Europäischen Union (Interpol,
»Schengen«, Europol usw.). Der Lösung
und/oder dem Verständnis der inter-
und supranationalen Fragen bei der
Informationsverarbeitung dient ein spe-
zielles Glossar im Anhang des Buches.
ISMN
Al
y ao zum disc: dosrschir Verralungeshsklloguun a am = Se z
12, und 22, Jan 1991 in ‚Tübingen... Er Be eee
| Herausgegeben von Prot. Dr. Kur, Gumer Pannen und. | we ee |
[Peak Dr. ae. ‘Welfgang Beram, nf fr vee
| 4922. VIE 139 Seiten. Ke aitonen BM: fae ISIN. uhr ar Han
| + Die Wende im: Osten. tind diè Wiederversiniguag’ Deanchlandk: alten Teiler: FES
-faie Verwaluing in den neuen Bundesländern vor schwienge und. rue dsarztiche Pr =
A> bleme: Mit Barderung der Fritz -Thyssen-Suftung: haben. sich deshalb Verwaltungs- 1...
rechtswissepschaftler aus dem gesamten Deutschland zu mehreren Kolloquien pari Seep EN
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Verfassungsrechtliche Probleme
einer Beschrankung des Asylrechts
Zur Notwendigkeit der Harmonisierung des Asylrechts im
Zuge des Europäischen Einigungsprozesses
Von Professor Dr. Dr. Albert Bleckmann
1992. X, 88 Seiten. Kartoniert DM 68,-
ISBN 3-452-22468-6
Zum Thema Asylrecht liegt jetzt die Stellungnahme des renommier-
ten Staats- und Europarechtlers vor. Die aus dem politischen Tages-
gespräch bekannten kritischen Punkte einer Asylrechtsänderung
beurteilt Bleckmann aus verfassungsrechtlicher Sicht: jede Ein-
schränkung des Asylrechts tangiert das Grundrecht der Menschen-
würde, und ein solcher Eingriff ist daher an den durch die »Ewig-
keitsgarantie« des Art. 79 Abs. III GG einer Verfassungsänderung
gezogenen Grenzen zu messen.
Da im Zuge des europäischen Einigungsprozesses eine Harmonisie-
rung ansteht, schlägt er vor, das Grundgesetz dahin zu ergänzen,
daß das Asylrecht zwischen den europäischen Staaten vertraglich
geregelt werden kann.
Mehrere Vorschläge zur Straffung des Asylverfahrens — darunter
auch die Einführung von Länderlisten — unterzieht er einer kriti-
schen Würdigung.
Jeder, der zu den aktuellen Fragen des Asylrechts mit verfassungs-
rechtlich fundierten Argumenten Stellung nehmen will, wird die
Untersuchung Bleckmanns — sowohl auf politischer als auch auf
rechtswissenschaftlicher Ebene — mit Gewinn heranziehen.
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BG Carl Heymanns Verlag
D Köln Berlin Bonn München
A3
PO
Glossary of EC Terms
Edited by Christian de Fouloy, MBA,
Secretary General, European International
Consultants Organisation (EICO)
1992. 450 Seiten. Kartoniert DM 120,-
ISBN 3-452-22396-5
Das Glossar enthält über 1200 Abkürzungen, Akro-
nyme und EG-Begriffe für Komitees und Generaldi-
rektorien der EG-Kommission, für sonstige EG-
Institutionen, für europäische politische Parteien
und Gruppierungen, für Gemeinschaftsprogramme,
Projekte, Datenbanken, für Handels- und Berufsor-
ganisationen sowie für die EG-Politik. Sämtliche
Begriffe und Definitionen werden in alphabetischer
Reihenfolge in englischer, französischer, deutscher,
italienischer und spanischer Sprache vorgestellt.
Politik, Wirtschaft und Verbände erhalten damit ein
Nachschlagewerk, das die Orientierung auf europäi-
scher Ebene wesentlich erleichtert.
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Subsidiarıtät und Föderalismus
in der Europäischen Union
Von Dr. ıur. Clemens Stewing
1992. XXXVIII, 186 Seiten. Kartoniert DM 110,-
ISBN 3-452-22440-6
(=Schriften zum Wirtschafts-, Handels-, Industrierecht, Band 33)
Der Grundsatz der Subsidiaritat wird im Zuge
der Ausweitung der Aktivitäten der Europäi-
schen Gemeinschaft auf allen Gebieten staatli-
cher Tatigkeit auch im Europarecht diskutiert;
die Maastrichter Beschliisse sehen eine Veranke-
rung im Vertrag zur Gründung der Europäi-
schen Union vor. Der Autor befaßt sich mit der
Bedeutung des Grundsatzes der Subsidiarität im
deutschen und europäischen Recht und bezieht
insbesondere seine Verwirklichung durch das
Föderalismusprinzip und seine Umsetzung ım
europäischen Recht mit in die Betrachtung ein.
289 12 92
Gs Carl Heymanns Verlag
Köln Berlin Bonn München
Das Recht der Internationalen
Organisationen einschließlich
der Supranationalen
Gemeinschaften
Von Prof. Dr. Dr. h.c. Ignaz Seidl-Hohenveldern und
Dr. Gerhard Loibl
5., überarbeitete Auflage
1992. XXXIV, 387 Seiten. Kartoniert DM 58,-
ISBN 3-452-22091-5
(Academia iuris. Lehrbücher der Rechtswissenschaft, AI)
Die gegenwärtige Weltlage verschafft der Neuauflage dieses Kurzlehrbuches höchste
Aktualität. In nunmehr fünfter Auflage gründlich überarbeitet, erscheint das Werk in
einer Zeit weltpolitischer Umwälzungen und zahlloser regional begrenzter Konflikte,
die an Handlungsformen und Kompetenzen der Vereinten Nationen, anderer Inter-
nationaler Organisationen und Supranationaler Gemeinschaften wachsende und zum
Teil neue Anforderungen stellen.
Der in diesem Lehrbuch dargebotene Überblick über das Recht der Internationalen
Organisationen und supranationalen Gemeinschaften zeigt die gemeinsamen Grund-
gedanken auf, die in der Struktur aller dieser Einrichtungen ganz oder teilweise ver-
wirklicht sind. Diese Struktur wird bestimmt von dem Zusammenspiel der Organe,
die zur Wahrung der widerstreitenden Interessen berufen sind. Daneben gilt es, Inter-
essen einzelner Gruppen zu befriedigen und Verfahren für die Schlichtung von Streit-
fällen zu schaffen. Um insoweit das Problemverständnis zu erleichtern, ziehen die
Autoren Parallelen zwischen dem Recht Internationaler Organisationen und dem
Recht von Bundesstaaten.
Die Verfasser behandeln außerdem eingehend die Fragen des Aufbaus der Internatio-
nalen Organisationen und erläutern schließlich die wichtigsten Aufgaben, die die ein-
zelnen Internationalen Organisationen mittels ihres materiellen Rechts zu verwirkli-
chen bestrebt sind. Soweit Stellungnahmen zu der Frage unvermeidbar schienen, wel-
che Lösungen sich anbieten könnten, den weltpolitischen Veränderungen Rechnung
zu tragen, haben die Autoren sich von einem vorsichtigen Optimismus leiten lassen.
100 4 92
os Carl Heymanns Verlag
Köln Berlin Bonn München
A7
Mit den aktuellen Gesetzesänderungen
Mutterschutzgesetz
Mutterschaftsleistungen * Erziehungsgeld * Erziehungsurlaub
Kommentar
Von Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Zmarzlik, Ministerialrat Dr. Manfred
Zipperer, Regierungsdirektor Hans-Peter Viethen, unter Mitwirkung von
Ministerialrat Rainer Hofmann.
6., neubearbeitete und erweiterte Auflage
mit Ergänzungsband »Bundeserziehungsgeldgesetz 1992«
»Erstes Gesetz zur Änderung des Mutterschutzgesetzes«
1991/92. XIX, 674 Seiten und 87 Seiten. Kartoniert DM 124,-
ISBN 3-452-21838-4
Dieser in fünf erfolgreichen Vorauflagen zum Standardwerk ausge-
baute Praxis-Kommentar zeichnet sich durch umfassende, klar
gegliederte und leicht verständliche Erläuterungen aus. Er gibt Ant-
wort auf alle Fragen zum Mutterschafts- und Erziehungsgeldrecht
und ist deshalb eine zuverlässige Arbeitshilfe für Personalabteilun-
gen, Betriebs- und Personalräte, Gewerkschaften und Arbeitgeberver-
bände, Krankenkassen, Sozial-, Jugend- und Frauenorganisationen.
Für die sechste Auflage waren zahlreiche neue Gesetze zu berück-
sichtigen: Das Gesundheitsreformgesetz 1988, das Bundeserzie-
hungsgeldgesetz 1989, der Einigungsvertrag, die Sonderregelungen
in den neuen Bundesländern, das Bundeserziehungsgeldgesetz 1992
und das Erste Gesetz zur Änderung des Mutterschutzgesetzes. Dar-
über hinaus mußten aber auch eine Vielzahl neuer Richtlinien und
Verordnungen, neue Erfahrungen aus der Betriebs- und Verwal-
tungspraxis sowie neue Rechtsprechung und Literatur eingearbeitet
werden. Das Werk befindet sich damit wieder auf aktuellem Stand.
H Carl as 64392
erlag
A 8
Inhaltsverzeichnis
Seite
Aufsätze
Prof. Dr. Rupert Hofmann, Regensburg: »Memmingen« — ein Medienpro-
dukt. Das Abtreibungsverbot zwischen Recht und Agitation ............ l
Priv.-Doz. Dr. Dr. Roland Kley, St. Gallen: F. A. Hayeks »wissenschaftliche«
Verteidigung des Liberalismus: eine Kritik ............. 0.0.0.0 seca 30
Dr. phil. habil. Gangolf Hübinger, Freiburg: Liberalismus und Individualis-
mus im deutschen Bürgertum ...........-... 0 cece eee teen eens 60
Dr. Harald Homann / Dr. Clemens Albrecht, Freiburg: Die Wiederent-
deckung Osteuropas. Herders Perspektiven und die Gegenwart ......... 79
Berichte und Diskussionen
Dr. André Kaiser, Mannheim: Prädominanz und Wettbewerb. Zur britischen
Unterhauswahl 1992 „u.a une 98
Kritik
Buchbesorechuneen 4. cu er a 106
Autoren dieses Heftes... ..... cc 0.2 ccc ccc eee ce ee eee eee ence nenn 120
Internationaler Kommentar zur
Europäischen Menschenrechtskonvention
Von Prof. Dr. Dr. Heribert Golsong,
Prof. Dr. Wolfram Karl, LL.M., Prof.
Dr. Herbert Miehslert, Prof. Dr.
Herbert Petzold, Prof. Dr. Eike
Riedel, LL.B., Dr. Kersten Rogge,
LL.M., Prof. Dr. Theo Vogler, Prof.
Dr. Luzius Wildhaber, LL.M., J.S.D.,
Dr. Stephan Breitenmoser
Loseblattausgabe
Grundwerk 1987/92 in zwei Ordnern
DM 396,-
Stand: 2. Lieferung 1992
ISBN 3-452-19935-5
Der Kommentar ...
. entspricht der wachsenden Bedeu-
tung der Europäischen Menschen-
rechtskonvention und der daraus fol-
genden Rechtsentwicklung. Er über-
zeugt durch eine strikt gegliederte,
systematische Darstellung, die die Ent-
scheidungen der Straßburger Men-
schenrechtsorgane und die Anwendung
der Konvention in Recht und Praxis der
Vertragsstaaten umfassend einbezieht.
Mit der ersten Lieferung ...
. wurde bereits eine Kommentierung
des Artikels 6, der Artikel 25 und 54 aus
dem verfahrensrechtlichen Teil und des
He
Carl
Artikels 3 aus dem 1. Zusatzprotokoll vor-
gelegt.
Die jetzt erschienene
zweite Lieferung ...
. enthält mit Artikel 8 wieder einen
»schwergewichtigen« Konventionsartikel
sowie mit Artikel 27 eine weitere zentrale
verfahrensrechtliche Bestimmung. Dar-
über hinaus wird mit dieser Lieferung die
Bearbeitung von Artikel 3 des 1. Zusatz-
protokolls aktualisiert.
Das Autorenkollegium ...
... ist international besetzt. Wissenschaft-
ler aus Deutschland, Osterreich und der
Schweiz sowie Beamte des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte und
der Europäischen Kommission stehen mit
ihren langjährigen Erfahrungen für das
Konzept und die Kompetenz dieses Kom-
mentars.
Richter, Rechtsanwälte
und Rechtsgelehrte ...
. vor allem aus der Bundesrepublik
Deutschland, dem Fürstentum Liechten-
stein, aus Österreich und der Schweiz er-
halten mit diesem großen Erläuterungs-
werk eine Arbeitshilfe, die den gesamten
Bereich der Sicherung der Menschenrechte
praxisnah erschliefst.
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274129
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Heft 2 - Juni 1993 - Gegründet 1907
ZEITSCHRIFT
FÜR POLITIK
Organ der Hochschule für Politik München
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Aus dem Inhalt:
Michael Sachs: Das Strafverfahren gegen Honecker
Hermann Lübbe: Umprägungsversuche des Sozialismus
Helmut Dahm: Ende der Ideologien?
Christiano German: Protestantische Sekten
Michael Lißke: Gab es eine »Reagan-Revolution«?
(Sammelbesprechung)
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CURRENT SEn
A 8540 F
KE ZfP Jahrgang 40 Heft2 Joni 172. S. 121-232 ISSN 0044-3360
CARL HEYMANNS VERLAG - KÖLN - BERLIN - BONN -
MÜNCHEN
Zeitschrift fiir Politik
Organ der Hochschule für Politik München
(Zitierweise: ZfP)
Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt
Herausgegeben von: Dieter Blumenwitz, Rupert Hofmann, Franz Knöpfle,
Nikolaus Lobkowicz, Hans Maier, Henning Ottmann, Mohammed Rassem,
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Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher, Karl W. Deutsch, Friedrich
Karl Fromme, Utta Gruber, Peter Häberle, Wilhelm Hennis, Ferdinand
Aloys Hermens, Friedrich August Frhr. von der Heydte, Christian Graf von
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ZEITSCHRIFT FUR POLITIK
JAHRGANG 40 (NEUE FOLGE) . HEFT 2 . 1993
Michael Sachs
Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren
gegen Erich Honecker
Wie kaum ein anderes Strafverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland hat der Fall Honecker seit dem Ende der SED-Herrschaft in der
DDR die Gemüter in Deutschland bewegt. Als wichtigster Exponent des abgelö-
sten Regimes stand er im Zentrum des öffentlichen Interesses daran, wie der
Rechtsstaat Bundesrepublik die unrechtsstaatlichen Ereignisse der DDR-Zeit!
zurückblickend verarbeiten werde. Zwar wurde er von den in Deutschland verblie-
benen sowjetischen Waffenbrüdern zunächst in einem Anflug von Nibelungen-
treue außer Landes geschafft, doch bot ihm das russische Exil bald keine Sicher-
heit vor den deutschen Staatsanwälten mehr. In die chilenische Botschaft geflüch-
tet, erinnerte Honecker in seinem äußeren Schicksal beinahe an den greisen Han-
nibal, der sich, von stärkeren Freunden preisgegeben und vom unversöhnlichen
Römer Flamininus gehetzt, schließlich am Hofe des schwachen Königs Prusias
selbst das Leben nahm, um seinen Mördern zuvorzukommen. Honecker freilich,
obwohl auch in die Enge getrieben, weiterer Fluchtwege (Nordkorea?) beraubt
und ohne den Schutz früherer Freunde, mußte den Tod von seiten der Verfolger
nicht fürchten; auf ihn warteten geringere Übel, denen er sich schließlich auszuset-
zen bereit war.
I. Der »Schauprozeß«
Nicht das geringste Ubel war gewif der zudringliche Voyeurismus der Medien
(und ihrer Konsumenten?), die das Strafverfahren gegen Erich Honecker in einen
»Schauprozeß« a la Rundfunkfreiheit verwandelten. Allerdings mußte erst das
Bundesverfassungsgericht den Fernsehkameras mittels einstweiliger Anordnung?
gegen den Willen des Vorsitzenden der 27. Strafkammer — Schwurgericht — den
Weg in den Sitzungssaal bahnen. Es wollte sicherstellen, daß das Auftreten der
Angeklagten (ferner: Erich Mielke, Willi Stoph, Heinz Keßler, Fritz Streletz und
Hans Albrecht) zu Beginn des Strafverfahrens, dem das Bundesverfassungsgericht
mit den beschwerdeführenden, hier einmal auf derselben Seite streitenden öffent-
lich-rechtlichen Rundfunkanstalten und privaten Sendern historische Bedeutung
1 S.zum Streit um den Begriff »Unrechtsstaat« zur Charakterisierung der DDR Horst
Sendler, »Die DDR ein Unrechtsstaat — ja oder nein?« in: ZRP 1993, S. 1 ff. m. w. N.
2 NJW 1992, S. 3288 f.
7fP 40. Ig. 2/1993
9
122 Sachs . Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker
beimessen zu müssen glaubte, bildlich dokumentiert werden könnte. Bei seiner
angesichts des offenen Ausgangs des Verfassungsbeschwerdeverfahrens vorge-
nommenen Abwägung der zu erwartenden Nachteile stellte das Bundesverfas-
sungsgericht die Erwägung, daß sich unter Verletzung des Rechts am eigenen Bild
gemachte und verbreitete Filmaufnahmen nicht mehr rückgängig machen ließen,
zurück, weil die Angeklagten »absolute Personen der Zeitgeschichte« im Sinne des
$ 23 Abs. 1 Nr. 1 KunstUrhG seien, deren Bilder ohne Einwilligung verbreitet wer-
den dürften’. Durch die »Pool-Lösung« (nur ein dreiköpfiges, abwechselnd von
den verschiedenen Beschwerdeführern gestelltes Kamerateam filmte für alle Sen-
der) sah das Bundesverfassungsgericht eine besondere Beeinträchtigung des Ach-
tungsanspruchs der Angeklagten ausgeschlossen, die durch den Andrang zahlrei-
cher Kameras hätte entstehen können. Obwohl die Beschwerdeführer ausweislich
der Gründe ausdrücklich auch das Interesse der Öffentlichkeit betonten, sich ein
»Bild vom Zustand und Verhalten der Angeklagten«* zu machen, ließ die einstwei-
lige Anordnung den Umstand unberücksichtigt, daß sich gerade bei dem angeklag-
ten Erich Honecker das Interesse der Medien weitgehend auf seinen für die Pro-
zeßverhinderungsstrategie seiner Verteidigung entscheidend wichtigen Gesund-
heitszustand konzentrierte. Vielleicht hat das Bundesverfassungsgericht ja nicht
vorhergesehen, wie sehr es um den Patienten Honecker gehen würde, und nicht
bedacht, daß die Kameras allabendlich die Nation im Wohnzimmer mit den neu-
esten Nahaufnahmen des angeblich Todgeweihten versorgen würden, damit auch
ja ein jeder zur Ferndiagnose des angeblichen Leberkrebses des Angeklagten
instand gesetzt würde. Der Patient Honecker wurde so durch den Spruch des Bun-
desverfassungsgerichts dauernd der gierigen Inspektion seines Gesundheitszustan-
des durch ein ganzes Volk preisgegeben, eine Behandlung als Objekt, die sich (fol-
gerichtig!) nur noch durch die Öffnung der Sprechzimmer und Operationssäle für
das Fernsehen sowie Live-Übertragungen von der eventuellen Obduktion hätte
steigern lassen. Nach den jetzt gemachten Erfahrungen wird sehr genau zu überle-
gen sein, ob nicht auch bei »absoluten Personen der Zeitgeschichte« die Publi-
kumspreisgabe insbesondere mit Rücksicht auf die Details des Gesundheitszustan-
des’ stärker zu relativieren ist.
3 Vgl. allgemein etwa Christian Starck in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das
Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. München 1985, Art. 2 Rdnr. 125; Christoph Degenhart
in: Rudolf Dolzer (Gesamtherausgeber), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg
Stand 68. Lief. November 1992, Art. 5 Abs. 1 und 2 (1988) Rdn. 483, 487, jeweils m. w. N.
4 Hervorhebung von mir.
5 S. bisher etwa zum persönlichkeitsrechtlichen Schutz der Krankenblätter BVerfGE 32,
S. 373 (379 £.).
Sachs - Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker 123
II. Materielle Strafbarkeitsvoraussetzungen
Neben dem kaum erträglichen Medienrummel drohte dem aus dem sich wieder-
vereinigenden Deutschland geflohenen Staatsratsvorsitzenden ein rechtsstaatliches
Strafverfahren, für dessen Dauer die Untersuchungshaft, am Ende des Verfahrens
gegebenenfalls eine Freiheitsstrafe und schließlich ihre Verbüßung. Sicherlich
hatte Erich Honecker ebensowenig wie andere vor 1989 je mit der Möglichkeit
gerechnet, daß er sich für seine Aufforderung vor dem Nationalen Verteidigungs-
rat am 3. Mai 1974, bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schußwaffe rück-
sichtslos Gebrauch zu machen, und die anschließende Umsetzung dieser Politik
auch mit den Mitteln sozialistischer Gesetzlichkeit vor Gerichten des wiederverei-
nigten Deutschlands würde wegen Anstiftung zur vorsätzlichen Tötung verant-
worten müssen®. Tatsächlich war die Strafverfolgung Honeckers auch nach dem
Beitritt der DDR trotz der grundlegend veränderten politischen und rechtlichen
Verhältnisse nicht ohne juristische Probleme.
1. Zum Rückwirkungsverbot
Wie bei vielen DDR-Bürgern stellte sich auch bei Honecker die Frage, ob nicht
eine nachträgliche Würdigung seines Verhaltens durch die Brille bundesdeutscher
Justiz in Widerspruch zu Art. 103 Abs.2 GG rückwirkend eine Strafbarkeit
begründet, die zur Zeit der Tat nicht bestand. Inzwischen hat der Bundesgerichts-
hof als oberstes Strafgericht der Bundesrepublik die ersten Urteile gegen sog.
Mauerschützen, die den Anordnungen Honeckers gefolgt waren, bestätigt’. Er hat
dabei zur Tatzeit gültiges DDR-Recht angewendet, dessen Bedeutung er aller-
dings nicht nach der reinen Faktizität der zur Tatzeit vorherrschenden DDR-
Staatspraxis bemaß (die nämlich die Mauerschützen belobigte und belohnte), son-
dern durch berichtigende Auslegung im Sinne der völkerrechtlichen Bindungen
der DDR im Hinblick auf die Menschenrechte ermittelte*. Ob die damit verbunde-
nen völkerrechtlichen Fragen zutreffend beurteilt sind, wird gewiß noch das Bun-
desverfassungsgericht beschäftigen, ebenso wie die Frage, ob dem Vertrauens-
schutzgedanken des Art. 103 Abs. 2 GG wirklich genügt wird, wenn man die real
existierenden Verhältnisse für die Interpretation der DDR-Strafgesetze nachträg-
lich ausblendet. Die doch recht lapidare Stellungnahme eines bundesverfassungs-
6 Vgl. zu den Voraussetzungen der Strafbarkeit Erich Honeckers im Überblick den Haft-
prüfungsbeschluß des Kammergerichts in: N/W 1991, S. 2653 ff.; s. ferner etwa Georg
Küpper / Heiner Wilms, »Die Verfolgung von Straftaten des SED-Regimes« in: ZRP
1992, S. 91 ff. m. w. N.
7 BGH NJW 1993, S. 141 ff.; s. ferner etwa Hans-Joseph Scholten, »Zur Bedeutung von § 7
StGB für die Verfolgung von Straftaten des SED-Regimes« in: ZRP 1992, S. 476 ff.; Her-
wig Roggemann, »Zur Strafbarkeit der Mauerschützen« in: DtZ 1993, S. 10 ff., jeweils
m. w. N.
8 BGH NJW 1993, S. 141 (147 f., auch 143 ff.) m. w. N.
ZfP 40. Jg. 2/1993
9s
124 Sachs - Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker
gerichtlichen Kammerbeschlusses’, die Frage der Auslegung der DDR-Vorschrif-
ten betreffe einfaches Recht und sei mithin grundsätzlich den Fachgerichten vor-
behalten, trägt dem Gewicht des möglicherweise durch die Art der Auslegung des
DDR-Rechts verfehlten Maßstabs des Art. 103 Abs.2 GG kaum angemessen
Rechnung. Doch sind diese Probleme nicht spezifisch für das Strafverfahren
gegen Erich Honecker, wenn sie auch hier zu der interessanten Frage hätten füh-
ren können, ob sich ein (wie absoluter?) Machthaber mit Hilfe willfähriger
Gesetzgebungsorgane selbst rechtswirksam Absolution jedenfalls gegenüber der
diesseitigen Strafgerichtsbarkeit sogar über seinen Sturz und den seines Systems
hinaus erteilen kann”.
2. Straflosigkeit bei »acts of state«?
Mit dieser Fragestellung ist bereits ein gleichfalls nicht auf Erich Honecker
beschränkter weiterer Aspekt der Problematik der Strafbarkeit von DDR-Unrecht
berührt. Die Tatsache, daß die fraglichen Taten als Staatstätigkeit der DDR anzu-
sehen sind, könnte diese als »acts of state« von der Strafjustiz der Bundesrepublik
als die eines anderen Staates freistellen. Der Bundesgerichtshof verneint insoweit
in seinem Mauerschützenurteil!! die Existenz einer entsprechenden allgemeinen
Völkerrechtsregel, die als solche nach Art. 25 GG vorrangiger Teil des Bundes-
rechts hätte sein können, ohne auf die Frage der (Teil-)Identität des vereinten
Deutschland mit der beigetretenen DDR einzugehen. Ergänzend verneint er auch
mit Recht, daß der Einigungsvertrag eine entsprechende Regelung zum Ausschluß
der Strafverfolgung getroffen hätte. Das argumentative Aufgebot der Art. 18, 19
des Einigungsvertrages ist allerdings ebenso entbehrlich wie aussagearm: Die
Möglichkeit, grundsätzlich fortwirkende staatliche Rechts-Akte nachträglich bei
Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen aufzuheben, gibt für die Zuläs-
sigkeit einer Strafverfolgung von Aktionen im Rahmen der DDR-Staatstatigkeit
nichts her.
3. Keine Immunität bei Staatswegfall
Die Wendung dieser Frage in Richtung auf eine völkerrechtlich begründete Immu-
nität hat schon eine größere Affinität gerade zur Behandlung führender DDR-
Repräsentanten, ist aber für diese 2 ebenso wie für den einfachen Mauerschützen !’
9 BVerfG, DtZ 1992, S. 216.
10 Vgl. das - natürlich ganz anders gelagerte und nur im NS-System immanent beachtliche -
berüchtigte Vorbild des Gesetzes über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934,
dessen einziger Artikel (nach dem sog. Röhm-Putsch) verfügte: »Die zur Niederschla-
gung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen
Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens« (RGBL I, S. 529).
11 NJW 1993, S. 141 (142).
12 So im Falle des früheren DDR-Ministerpräsidenten und zeitweiligen Mitangeklagten
Honeckers Willi Stoph, BVerfG, DtZ 1992, S. 216.
Sachs . Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker 125
gleichermaßen zu verneinen, weil der Schutzzweck dieser Immunität der Souverä-
nıtät des jeweils repräsentierten Staates gilt und mit dessen Ende — wie im Falle der
DDR - wegfällt. Dies gilt auch dann, wenn — wie für Erich Honecker !* — während
der Existenz des anderen Staates die Immunität einer Person ausdrücklich gericht-
lich bestätigt worden ist.
III. Die Menschenwürde des Todgeweihten im Strafprozeß nach
Berliner Verfassungsrecht
Die spezielle Problematik des Strafverfahrens gegen Erich Honecker lag demge-
genüber in seinem Gesundheitszustand, der Anlaß für immer neue Bemühungen
seiner Verteidigung um die Einstellung des Verfahrens gab. Das Kammergericht
kam aufgrund medizinischer Gutachten und Erhebungen zu dem Ergebnis, daß
Honecker aufgrund seiner fortgeschrittenen Krebserkrankung den Abschluß des
Verfahrens vor der Strafkammer, mit dem frühestens zum Jahresende 1993 zu
rechnen sei, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erleben werde.
Es sah hierin ebensowenig wie das Landgericht einen Anlaß, das Strafverfahren
schon jetzt, während noch begrenzt bestehender Verhandlungsfähigkeit, vorzeitig
zu beenden. Das weitergeführte Verfahren erregte aufgrund der oben ja bereits in
einem Teilaspekt angesprochenen intensiven Berichterstattung natürlich die Emo-
tionen: Auf der einen Seite erweckte der angeblich todkranke, ja wohl vom Tode
gezeichnete Greis das Mitleid vieler, die ihn beobachten konnten; auf der anderen
Seite wiesen die Opfer im Hinblick auf das ihnen oder ihren erschossenen Ange-
hörigen zugefügte Unrecht jeden Gedanken an »Gnade vor Recht« weit von sich;
schließlich schien es jeder Gerechtigkeit Hohn zu sprechen, daß wieder einmal die
Großen (= Honecker) laufen gelassen werden sollten, während die Justiz die
Kleinen (= Mauerschützen) unnachsichtig zwischen ihre Mühlsteine nahm.
Zugleich glitt die Prozeßführung des Vorsitzenden der Strafkammer immer mehr
ins Groteske bis zum Devotionalienhandel ab.
Den so geknüpften gordischen Knoten zerschlug der nach der Wende möglich
gewordene Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin mit einem Paukenschlag und
verschaffte sich damit mehr Aufmerksamkeit als in seiner kurzen bisherigen
Geschichte zusammen und wohl in absehbarer Zukunft wieder". Mit dem zumal
gegen das Kammergericht erhobenen Vorwurf, mit der Weiterführung des Straf-
verfahrens die Menschenwürde Erich Honeckers mißachtet zu haben, legte es die
Basis für die anschließend überhastet durchgeführte Freilassung des Angeklagten.
Während Erich Honecker gen Chile entschwebte, revanchierte sich die Berliner
Justizverwaltung — mit eingestandener Formulierungshilfe der Senatorin - für die
gegen die Strafgerichte erhobenen Vorwürfe mit Angriffen auf den Verfassungs-
gerichtshof, die dem Ansehen dieses hier noch so jungen Verfassungsorgans kaum
13 S. insoweit bündig BGH NJW 1993, S. 141 (142).
14 BGH N/W 1985, S. 639.
15 Beschluß vom 12. Januar 1993 — VerfGH 55/92 - in: N/W 1993, S. 515 ff.
ZfP 40. Jg. 2/1993
126 Sachs . Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker
zuträglich gewesen sein können.
Mehr als der Umgangston zwischen den Berliner Behörden und Verfassungsor-
ganen, mehr auch als emotional überzogene Vorwürfe von Rechtsbeugung, Straf-
vereitelung und Gefangenenbefreiung gegen die beteiligten Richter sollte freilich
die sachliche Berechtigung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs interes-
sieren. Auch insoweit wurden alsbald nach Bekanntwerden des Beschlusses vom
12. Januar 1993 kritische Stimmen laut**. Die erhobenen Vorwürfe umfassen ins-
besondere:
- die unzulässige Erweiterung des Grundrechtskatalogs der Berliner Verfassung
(zu 1.),
—- die Abänderung von Bundesrecht durch Landesverfassungsrecht (zu 2.),
- den Übergriff in die ausschließliche Zuständigkeit des Bundesverfassungsge-
richts (zu 3.) und
- den Übergriff in die fachgerichtlichen Kompetenzen der Strafjustiz (zu 4.).
1. Unzulässige Erweiterung des Berliner Grundrechtskatalogs?
Die Grundlage für den Vorwurf, den Grundrechtskatalog der Verfassung von Ber-
lin unter Überschreitung der richterlichen Entscheidungskompetenz erweitert zu
haben, benennt der Berliner Verfassungsgerichtshof selbst, indem er zugesteht,
daß sich im geschriebenen Text der Verfassung von Berlin keine dem Art. 1 Abs. 1
des Grundgesetzes entsprechende Gewährleistung der Menschenwürde finde.
Allerdings reklamiert der Verfassungsgerichtshof nicht die Kompetenz für sich,
die normativen Grundlagen seiner Entscheidungen nach eigenem Gutdünken
erweitern zu können, was in der Tat keinem Gericht — und Verfassungsgerichte
bleiben trotz ihrer Stellung als Verfassungsorgan doch stets auch Gericht — zuste-
hen kann. Der Verfassungsgerichtshof versucht vielmehr, eine Menschenwürde-
garantie auf der Ebene des Landesverfassungsrechts trotz defizitärer Textgestal-
tung mit juristischen Argumenten zu begründen. Die grundsätzliche Möglichkeit,
daß die Rechtsprechung auch über das geschriebene Recht hinausgehende Kon-
zeptionen entwickeln, damit sog. »gesetzeskonkurrierendes »Richterrecht««, schaf-
fen kann, wird weitgehend anerkannt”. Für den Bereich des Verfassungsrechts
sind die Grenzen wohl kaum enger zu ziehen. Jedenfalls hat das Bundesverfas-
16 Vgl. Rupert Scholz, »Eskapade eines Gerichts« in: Die Welt vom 14. Januar 1993; nach
Abschluß des Manuskripts erschienen: Richard Bartlsperger, »Einstellung des Strafver-
fahrens von Verfassungs wegen« in: DVBl. 1993, S. 333; Dieter Meurer, »Der Verfas-
sungsgerichtshof und das Strafverfahren« in: JR 1993, S. 89; Christian Pestalozza, »Der
Honecker-Beschluß des Berliner Verfassungsgerichtshofs« in: NVwZ 1993, S. 340;
Armin Schoreit, »Absolutes Strafverfahrenshindernis und absolutes U-Haftverbot bei
begrenzter Lebenserwartung des Angeklagten?« in: N/W 1993, S. 881; Christian Starck,
»Der Honecker-Beschluß des Berliner VerfGH« in: JZ 1993, S. 231 f.; Dieter Wilke,
»Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Einheit des Bundesrechts« in: N/W 1993, S. 887.
17 S. nur Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, München 1980,
§37 H 2e ym.w.N.
Sachs - Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker 127
sungsgericht immer wieder weitgehende Schlußfolgerungen aus dem Grundgesetz
abgeleitet, für die eine textbezogene Grundlegung nicht mehr nachvollziehbar ist.
Es hat dabei auch gelegentlich »neue« Grundrechte kreiert, wie etwa das »Recht
auf informationelle Selbstbestimmung« im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG». Vor
diesem Hintergrund sollte man weniger nach einer Kompetenzanmaßung des Ver-
fassungsgerichts als vielmehr danach fragen, ob seine Entscheidung lege artis und
auch sonst überzeugend begründet ist. Insoweit bestehen allerdings in der Tat
gewisse Zweifel, und zwar gegen beide kumulativ angebotenen Wege zur Begrün-
dung der Menschenwürdegarantie in der Berliner Landesverfassung.
a) Art. 1 Abs. 1 GG als hineinwirkender Teil der Berliner Landesverfassung?
Einerseits soll Art. 1 Abs. 1 GG in die Landesverfassungen hineinwirken und daher
deren Teil sein. Nun ist es in der Tat zutreffend, daß das für die Landesorgane
maßgebliche Verfassungsrecht, also die Landesverfassung im materiellen Sinne,
nicht allein aus der Landesverfassungsurkunde zu entnehmen ist; vielmehr werden
die Landesorgane in mehrfacher Hinsicht durch grundgesetzliche Durchgriffsnor-
men direkt angesprochen”, zu denen namentlich die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG für
alle Staatsorgane, nicht nur für die des Bundes, geltenden Grundrechte gehö-
ren, Diese wiederum schließen ungeachtet der Formulierung des Art. 1 Abs. 3
GG (»Die nachfolgenden Grundrechte ...«) auch die voranstehende Menschen-
würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG ein. Durch diese Durchgriffsgeltung des
Art. 1 Abs. 1 GG für die Landesorgane ändert die Vorschrift indes nicht ihren
Charakter als Teil der (formellen) Bundesverfassung, sondern bleibt allein eine auf
der Landesebene verpflichtend durchgreifende Regelung des Bundesrechts”.
Gegenüber dieser Sichtweise ist allerdings einzuräumen, daß auch das Bundesver-
fassungsgericht zumal für Art. 21 GG den gegenteiligen Standpunkt bezogen hat,
um auch auf der Landesebene die Organstreitfähigkeit politischer Parteien zu
begründen. Zuletzt sind sogar die Kompetenzverteilungsnormen des Grundge-
setzes, die ungeachtet ihrer unbestritten ganz grundlegenden Bedeutung für die
äußere Abgrenzung der Befugnisse der Landesstaatsgewalt schon normlogisch nur
der Ebene der die Kompetenzen verteilenden Bundesverfassung angehören kön-
nen, zu Bestandteilen des Landesverfassungsrechts erklärt worden ®.
Für die Grundrechte lagen indes derartige Entscheidungen bislang, soweit
ersichtlich, nicht vor. Unabhängig von bundesverfassungsgerichtlichen Durch-
griffspostulaten ist allerdings im frühen Schrifttum zu Art. 142 GG angenommen
18 BVerfGE 65, S. 1 (41 ff., 43).
19 Näher dazu Michael Sachs, »Die Landesverfassung im Rahmen der bundesstaatlichen
Rechts- und Verfassungsordnung« in: Thüringer Verwaltungsblätter 1993, S. 121.
20 S. ausdrücklich Stern, aaO. (FN 17), Bd. III/1, München 1988, § 72 III 2 a.
21 Sachs, aaO. (FN 19), S. 121.
22 Sachs in: Stern, aaO. (FN 20), § 63 III 2 a m. w. N.
23 Sachs, aaO. (FN 19), S. 121.
24 BVerfGE 1, S. 208 (227, 232); 66, S. 107 (114) m. w. N.
25 VerfGH NW, NVwZ 1993, S. 57 f. mit Anm. Michael Sachs in: JuS 1993, S. 334.
ZfP 40. Jg. 2/1993
128 Sachs - Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker
worden, daß bei Zurückbleiben landesverfassungsrechtlicher Grundrechtsgewähr-
leistungen hinter dem grundgesetzlichen Mindeststandard die Landesverfassung
mit dem Inhalt der fehlenden Bundesgrundrechte aufgefüllt werden sollte. Doch
hat sich diese normativ durch nichts zu belegende These in der Diskussion nicht
durchsetzen können 7. Die jüngste Stellungnahme zu diesem Problemkreis formu-
liert ihre Bedenken gegen eine derartige Lösung recht drastisch so: »Am deutlich-
sten wird die Fehlerhaftigkeit dieser These, wenn man daran denkt, daß eine Lan-
desverfassung ein Grundrecht überhaupt nicht übernimmt. Es wäre grotesk, dieses
dann als eigenes Landesgrundrecht mit in die Landesverfassung hineinzulesen«”.
Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin macht sich denn auch die als
»grotesk« empfundene These nicht zu eigen, sondern versucht sich an einer fir
Art. 1 Abs. 1 GG spezifischen Begründung. Gerade diese Bestimmung - nicht alle
in der Berliner Verfassung unerwähnten Bundesgrundrechte - soll zu einem »kon-
stitutiven Element der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern werden«,
weil sie — der Art. 1 Abs. 1 GG - die Menschenwürde in den Mittelpunkt der
grundrechdichen Wertordnung stelle und zum obersten Wert im System der
Grundrechte mache. Diese Aussagen als solche haben den Vorzug, daß sich der
Verfassungsgerichtshof insoweit auf Präjudizien des Bundesverfassungsgerichts ”
stützen kann; dafür haben sie mit der Begründung einer dem Art. 1 Abs. 1 GG par-
allelen Vorschrift auf der Ebene des Landesverfassungsrechts ebensowenig zu tun
wie die gleichfalls bemühte Ewigkeitsgarantie des Art.79 Abs.3 GG für die
Grundsätze des Art. 1 GG. Angesichts der unbestrittenen Bindung der Landes-
staatsgewalt an den Art. 1 Abs. 1 GG als solchen und der ebenso unbestrittenen
Möglichkeit, Verstöße dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht, insbesondere
mit der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 BVerfGG,
geltend zu machen, liegt die sachliche Konsequenz der inhaltsgleichen, sozusagen
geklonten Verdopplung auf der Landesverfassungsrechtsebene vor allem darın,
daß zusätzlich, vgl. $ 90 Abs. 3 BVerfGG, das Landesverfassungsgericht angerufen
werden kann. Warum dies im Sinne des Grundgesetzes sein soll, das doch die Ver-
fassungsautonomie der Länder für die Ausgestaltung ihrer Verfassungsgerichts-
barkeit zumindest hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde nicht einschränkt, wird
nicht thematisiert, wäre wohl auch nicht begründbar. Der Weg, aus der bundesver-
26 S. namentlich Bodo Dennewitz, »Das Bonner Grundgesetz und die westdeutschen Län-
derverfassungen« in: DÖV 1949, S. 341 (342); Fritz Kiefersauer, »Die Grundrechtsge-
setzgebung - eine lex imperfecta?« in: JR 1952, S. 81 (87); ähnlich auch noch Willi Gei-
ger, »Die Verfassungsbeschwerde nach Bundes- und Landesrecht« in: DRiZ 1969, S. 137
(138); anders dagegen, trotz mißverständlicher Formulierungen, der ebenfalls für diese
Auffassung zitierte Holtkotten, in: Bonner Kommentar, aaO. (FN 3), Art. 142 (Erstbear-
beitung), Anm. II 2 a.
27 Vgl. nur Michael Sachs, »Die Grundrechte im Grundgesetz und in den Landesverfassun-
gen« in: DOV 1985, S. 469 (473 f.) m. w. N.
28 Ute Sacksofsky, »Landesverfassungen und Grundgesetz — am Beispiel der Verfassungen
der neuen Bundesländer« in: NVwZ 1993, S. 235 (238).
29 Namentlich werden zitiert BVerfGE 35, S. 366 (376); 36, S. 174 (188).
Sachs . Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker 129
fassungsrechtlichen Menschenwürdegarantie eine entsprechende Bestimmung des
Landesverfassungsrechts abzuleiten, erweist sich als nicht gangbar.
b) Menschenwürdegarantie als originärer Gehalt der Berliner Verfassung?
Andererseits unternimmt es der Verfassungsgerichtshof, die Menschenwürdega-
rantie (auch) unabhängig von Art. 1 Abs. 1 GG als originären Gehalt der Landes-
verfassung zu begründen. Den offenen Widerspruch zu seiner Aussage, daß die
Durchgriffskonstruktion entbehrlich sei, wenn sich die Menschenwürdegarantie in
der Landesverfassung selbst finde, vermeidet er nur knapp, indem er die »aus-
drückliche« Verankerung auf Landesebene verlangt. Der Durchgriff der Bundes-
garantie soll damit nicht stets, aber auch nicht nur bei materieller Lückenhaftigkeit
des authentischen Landesverfassungsrechts eingreifen, sondern von dem doch
recht oberflächlichen Umstand abhängen, ob die Garantie in der Landesverfas-
sung »ausdrücklich« erfolgt ist. Eine Begründung dafür bleibt der Verfassungsge-
richtshof wiederum schuldig.
Unabhängig von diesen Bedenken kann auch die isolierte Ableitung der Men-
schenwürdegarantie aus den Bestimmungen der Berliner Verfassung nicht voll
überzeugen. Dabei ist dem Verfassungsgerichtshof durchaus zuzugeben, daß die
Zusammenschau verschiedener Grundrechtsvorschriften dieser Verfassung ein
Menschenbild erkennen läßt, das vom Bekenntnis zur Menschenwürde geprägt ist.
Die Kluft zwischen dem vom Verfassungsgerichtshof als solchem angesprochenen
»Geist der Verfassung« von Berlin und einer verselbständigten Grundrechtsgaran-
tie der Menschenwürde bleibt indes — von dem Postulat des Gerichts selbst abgese-
hen — unüberbrückt. Was immer die einzelnen Grundrechtsbestimmungen an
Schutzwirkungen zugunsten der Menschenwürde entfalten mögen, gilt unabhän-
gig von deren verselbständigter Geltung; soll diese aber mehr an Grundrechts-
schutz bewirken als die ausdrücklichen Einzelbestimmungen, fehlt dafür eine nicht
nur im Geist der Verfassung als gedankliche Basis mitschwingende, sondern kon-
kret normativ verankerte Grundlage. Immerhin mag aber dieser Weg der syntheti-
schen Ableitung einer Menschenwürdegarantie aus einer Mehrzahl von (auch)
Aspekte der Menschenwürde schützenden Vorschriften durch Gesamtanalogie im
Sinne des ersichtlichen gemeinsamen Schutzzweckes auch für nicht erwähnte
Gefährdungen der Menschenwürde gangbar sein können; er entspricht spiegel-
bildlich ja den bekannten Versuchen, ein mehr oder weniger großes Spektrum an
Grundrechtsbestimmungen über ihre Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG an der
Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG teilhaben zu lassen. Nur steht die über-
zeugende Begründung auch nach dem Beschluß des Verfassungsgerichtshofs ın
Sachen Honecker noch aus.
Dieser ist vielmehr, wie die doppelgleisige Begründung nur allzu deutlich
macht, von tiefer Unsicherheit über das eigene Ergebnis geprägt; wo die Eigen-
ständigkeit der Verfassungsräume im Lande zu praktizieren wäre, erfolgt die
ängstliche Anlehnung an die gesicherte Grundlage des Grundgesetzes. Doch sollte
man ein so junges Verfassungsgericht dafür nicht allzu streng tadeln, macht doch
ZfP 40. Jg. 2/1993
130 Sachs . Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker
die Tendenz zur selbstverursachten Unmündigkeit der Landesverfassungsgerichts-
barkeit” sogar vor einer so traditionsreichen und selbstbewußten Institution wie
dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof nicht halt. So hat dieser etwa nicht nur
ohne Grundlage im Verfassungstext, sondern sogar unter Vernachlässigung des
1946 noch nach Weimarer Vorbild abgefaßten Art. 118 Abs. 2 Bayr. Verf. — mit
der (nur) grundsätzlichen und auf den Bereich staatsbürgerlicher Rechte und
Pflichten beschränkten Gleichstellung der Geschlechter - kurzerhand den norma-
tiven Gehalt des Art. 3 Abs. 2 GG, so, wie ihn das Bundesverfassungsgericht ent-
faltet hatte, als integralen Bestandteil des allgemeinen Gleichheitssatzes der Bayr.
Landesverfassung, Art. 118 Abs. 1 Satz 1, rezipiert und sogar an dessen Vorrang
vor anderem Landesverfassungsrecht teilhaben lassen, den Art. 3 Abs. 2 GG auf
Bundesebene nicht genießt”.
2. Änderung von Bundesrecht durch Landesverfassungsrecht? - Landesgrundrechte und
Anwendung der Strafprozeßordnung
Der Vorwurf, der Berliner Verfassungsgerichtshof habe Bundesrecht durch Lan-
desverfassungsrecht aufgehoben oder abgeändert, schießt in der Formulierung
offensichtlich über das Ziel weit hinaus. Der Verfassungsgerichtshof hat, wie der
Tenor seines Beschlusses unmißverständlich zeigt, nicht einmal eine der Gesetzes-
kraft fähıge Entscheidung über die Gültigkeit oder die Existenz einer Rechtsnorm
getroffen, sich vielmehr auf die Feststellung von Grundrechtsverletzungen durch
die angefochtenen Beschlüsse der zuständigen Strafgerichte und die Aufhebung
dieser Beschlüsse beschränkt. Zur Aufhebung von die Landesverfassung verletzen-
den Beschlüssen der Gerichte des Landes ist der Verfassungsgerichtshof, jedenfalls
solange keine bundesgerichtliche Bestätigung erfolgt ist, aber ohne weiteres
befugt.
In Wahrheit zielt der Vorwurf nicht auf das Ergebnis der Verfassungsgerichts-
hofsentscheidung, sondern auf ihre Begründung aus dem Landesverfassungsrecht,
obwohl die beanstandeten Beschlüsse auf bundesrechtlicher Grundlage, nämlich in
Anwendung der Strafprozeßordnung, ergangen waren. Hier liegt nun in der Tat
ein bislang zumeist bei Verletzungen des bundes- wie landesverfassungsrechtlich
gewährleisteten Grundrechts auf rechtliches Gehör praktisch relevant gewordenes
Problem vor, für das »eine dogmatisch zufriedenstellende Lösung ... noch nicht
30 Vgl. Klaus Stern, »Einführung« in: Christian Starck / Klaus Stern (H.), Landesverfas-
sungsgerichtsbarkeit, Teilband I, Baden-Baden 1983, S. 1 (19), wo allerdings trotz weitge-
hender Einflüsse eine »Gleichschaltung« noch verneint wird.
31 BayVerfGH NJW 1987, S. 1543, und dazu Michael Sachs in: /uS 1988, S. 645 ff. m. w. N.
32 Zur insoweit bestehenden Problematik vgl. etwa Wilfried Berg, »Kassation gerichtlicher
Urteile, die in bundesrechtlich geordneten Verfahren ergangen sind« in: Starck / Stern,
aaO. (FN 30), Teilband II, Baden-Baden 1983, S.529 (531 ff.); Jost Pietzcker,
»$ 99. Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat« in: Josef Isen-
see / Paul Kirchhof (H.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland,
Bd. IV, Heidelberg 1990, Rdn. 57, jeweils m. w. N.
Sachs - Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker 131
gelungen ıst«. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in fortbestehenden Unklarhei-
ten über das Verhältnis von Bundesrecht zu Landesrecht, insbesondere zu den lan-
desverfassungsrechtlichen Grundrechten, das nicht allein von Art. 31, 142 GG,
sondern auch von den Kompetenzverteilungsnormen des Grundgesetzes her
bestimmt wird. Der gesamte Komplex ist, wie sich gerade angesichts der Verfas-
sunggebung in den neuen Ländern erwiesen hat, bis heute äußerst umstritten und
kann hier nicht in extenso ausgebreitet werden’. Für den vorliegenden Fall kön-
nen indes bereits einige grundsätzliche Überlegungen ein Mindestmaß an Klarheit
schaffen.
a) Verstoß der Strafprozeßordnung gegen die Menschenwürde?
Vorauszusetzen ist, daß es in einer Rechtsordnung — auch in einer bundesstaatli-
chen Rechtsordnung — keine widersprüchlichen Normanordnungen geben kann,
die gleichzeitig Geltung beanspruchen, oder anders ausgedrückt: Es kann nicht
sein, daß die Strafprozeßordnung die Berliner Strafgerichte verpflichtet, eine Per-
son unter Anklage und in Haft zu halten, während das Landesverfassungsrecht
ihnen die Beendigung des Verfahrens und die Freilassung des Gefangenen vor-
schreibt. Ergeben sich solche gegensätzlichen Normbefehle aus den einschlägigen
Vorschriften, kann nur einer von beiden Anwendung beanspruchen; dabei kann
hier offenbleiben, ob der andere insoweit ungültig oder nur verdrängt ist”. Geht
man davon aus, daß die Berliner Landesverfassung durch ihr ungeschriebenes
Menschenwürdegrundrecht - vorbehaltlich kollisionsbedingter Ungültigkeit — das
Ende des Strafverfahrens und die Freilassung Honeckers geboten hat, setzt ein
Widerspruch zur Strafprozeßordnung voraus, daß diese die Fortführung des Ver-
fahrens und die Fortdauer der Haft trotz der Verletzung der Menschenwürde vor-
schreibt. Dies aber scheidet im Ergebnis wegen Art. 1 Abs. 1 GG aus, der men-
schenwürdewidrige Inhalte des Strafprozeßrechts nicht zuläßt. Doch ist zu unter-
scheiden: Läßt bereits die Strafprozeßordnung selbst — sei es aus sich heraus, sei es
aufgrund grundgesetzkonformer Auslegung — die Beendigung von Strafverfahren
und Untersuchungshaft zu, wenn diese die Menschenwürde (zu) verletzen (dro-
hen), steht der unmittelbaren Anwendung des einschlägigen Landesgrundrechts
nichts im Wege. Verlangt die Strafprozeßordnung indes unmißverständlich den
Menschenwürdeverstoß, so ergibt sich ihre Ungültigkeit erst aus dem Vorrang der
(Bundes-)Verfassung, also des Art. 1 Abs. 1 GG. Diesen zu aktualisieren ist unmit-
telbar nur das Bundesverfassungsgericht berufen, das Landesverfassungsgericht ist
wie jedes andere Gericht darauf beschränkt, die Frage der Grundgesetzwidrigkeit
einer für seine Entscheidung erheblichen Norm dem Bundesverfassungsgericht im
Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 1
33 S. Pietzcker, aaO. (FN 32).
34 Vgl. als neueste Darstellungen hierzu Sachs, aaO. (FN 19) und Sacksofsky, aaO. (FN 28),
jeweils m. w. N.
35 Dazu etwa Pietzcker, aaO. (FN 32), Rdn. 40 m. w. N.
ZfP 40. Jg. 2/1993
132 Sachs - Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker
GG vorzulegen*. Der Verfassungsgerichtshof von Berlin hat letzteres nicht (aus-
drücklich) in Erwägung gezogen, ging also offenbar davon aus, daß die Strafpro-
zeßordnung selbst Raum läßt, um den Anforderungen der Menschenwürde zu
genügen. Zu rügen wäre insoweit lediglich die fehlende Begründung dieser
Annahme.
b) Landeskompetenz für strafprozessual relevante Grundrechtsgewährleistungen?
Ausgeblendet ist in den bisherigen Erwägungen allerdings der Aspekt der Kompe-
tenzverteilung geblieben, spezifischer: die Frage, ob das Berliner Landesverfas-
sungsrecht im Rahmen der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung überhaupt in
der Lage ist, grundrechtliche Anforderungen an das Strafverfahren zu stellen. Dies
könnte mit Rücksicht auf die wohl abschließend gemeinte Regelung der Strafpro-
zeßordnung zu verneinen sein, wenn die Regeln über die Verteilung der Gesetzge-
bungskompetenzen gem. Art. 70 ff. GG auch für die Landesverfassunggebung ein-
greifen, vgl. Art. 72 Abs. 1, 74 Nr. 1 GG. Während dies lange beinahe wie selbst-
verständlich vorausgesetzt wurde, hat sich in neuerer Zeit zunehmend die Auffas-
sung durchgesetzt, daß die Art. 70 ff. GG die Landesverfassungen nicht binden ”
oder — wohl richtiger — daß im Rahmen der grundgesetzlichen Kompetenzvertei-
lungsnormen eine ungeschriebene Kompetenz für das Landesverfassungsrecht aus
der Natur der Sache besteht. Der Umfang dieser Kompetenz wird durch den
materiellen Begriff der (Landes-)Verfassung bestimmt, der sich in manchen Berei-
chen mit den gegenständlich abgegrenzten Kompetenzthemen der Art. 73 ff. GG
überschneidet. Dies gilt zumal für das in den Grundrechten erfaßte Verhältnis
zwischen der - vielfachen bundesrechtlichen Bindungen unterworfenen — Landes-
staatsgewalt und den von ihr betroffenen Menschen. Damit sind — entgegen den
sonst für die Kompetenzverteilung gültigen Grundsätzen — kompetenzgerechte
Regelungen auf Bundes- und auf Landes(verfassungs)ebene zugleich möglich;
dabei ist noch nicht abschließend geklärt, wie (scheinbare) Kollisionen gegensätz-
licher Regelungen zu behandeln sind, ob durch Anwendung des Art. 31 GG (mit
Nichtigkeitsfolge*® oder mit der Folge bloßer Suspension“) oder durch restriktive
Auslegung des Landesverfassungsrechts im Sinne einer von vornherein normativ
intendierten Selbstbescheidung, so daß dieses einen Geltungsanspruch gegenüber
36 Vgl. BVerfGE 69, S. 112 (117 f.), und die ganz h. M., s. etwa Christian Pestalozza, Verfas-
sungsprozefrecht, 3. Aufl., München 1991, § 13 Rdnr. 3; Eckart Klein in: Ernst Benda/
Eckart Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Heidelberg 1991, $2, Rdn. 46
m.w.N.; a. A. wohl nur Joachim Burmeister in: Starck/Stern, aaO. (FN 32), S. 399
(460 ff., 463 f.) m. w. N.
37 So Pietzcker, aaO. (FN 32), Rdn. 35; Sacksofsky, aaO. (FN 28) bei Fußn. 48 jeweils
m. w. N.
38 Vgl. Sachs, aaO. (FN 19), S. 122 f.; allerdings klingt dies auch bei Pietzcker und Sack-
sofsky (jeweils FN 37) an.
39 So Pietzcker, aaO. (FN 32), Rdn. 35 und 40.
40 So Sacksofsky, aaO. (FN 28), S. 239 bei FN 45.
Sachs - Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker 133
widersprechendem Bundesrecht von vornherein nicht erhebt“. Mangels Wider-
spruch zum einschlägigen Bundesrecht ist aber der Bestand von (auch: materiel-
lem) Landesverfassungsrecht in (sonst) thematisch der Bundesgesetzgebung vorbe-
haltenen Bereichen unproblematisch. Daher kann eine landesverfassungsrechtliche
Menschenwürdegarantie auch für den Bereich des Strafprozesses als kompetenz-
gemäß erlassene Regelung wirksam werden, solange die Strafprozeßordnung so
auszulegen ist, daß Menschenwürdeverletzungen vermieden werden dürfen.
3. Ubergriff in die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts?
Der Vorwurf, das Landesverfassungsgericht habe sich Kompetenzen des Bundes-
verfassungsgerichts angemaßt, geht — sofern man die Annahme einer landesverfas-
sungsrechtlichen Menschenwürdegarantie zu akzeptieren bereit ist - ins Leere. Die
Anwendung der landesverfassungsrechtlichen Grundrechte ist die ureigene Kom-
petenz jedes Landesverfassungsgerichts, die es — nach dem Gesagten — auch in
bundesrechtlich nicht entgegengesetzt geregelten Bereichen eigenverantwortlich
auszuüben hat. Nur dann, wenn eine dem Landesgrundrecht widersprechende
bundesgesetzliche Regelung wegen Verletzung des Grundgesetzes unwirksam ist,
muß das Landesverfassungsgericht — wie erwähnt — das Verwerfungsmonopol des
Bundesverfassungsgerichts respektieren und nach Art. 100 Abs. 1 GG zunächst
dessen Entscheidung über die Ungültigkeit des Bundesgesetzes einholen.
4. Übergriff in die fachgerichtlichen Kompetenzen der Strafgerichte?
Der Vorwurf schließlich, das Landesverfassungsgericht habe unzulässigerweise in
fachgerichtliche Kompetenzen übergegriffen, scheint gleichfalls nicht voll über-
zeugend. Vielmehr hat sich der Verfassungsgerichtshof die tatsächlichen Feststel-
lungen des Kammergerichts zu eigen gemacht und auf dieser Grundlage die Rüge
erhoben, daß das Fachgericht die Auswirkungen der Grundrechte auf das Verfah-
ren völlig vernachlässigt habe. Ein solcher Tatbestand liegt im Rahmen dessen,
was auch das Bundesverfassungsgericht bei Urteilsverfassungsbeschwerden als
Verletzung »spezifischen Verfassungsrechts« berücksichtigen würde *.
Der Verfassungsgerichtshof hat den Strafgerichten grundsätzlich die Anwen-
dung des (für die Landesverfassung neu entwickelten) grundrechtlichen Maßstabs
auf den Einzelfall überlassen. Dies gilt zumindest für die Fortsetzung des Strafver-
fahrens, während die Formulierung vom »absoluten Aufhebungsgrund für die
Untersuchungshaft« doch deutlich auf die allerdings an den tatrichterlichen Fest-
stellungen orientierte Einzelfallentscheidung abzielt. Gleichwohl hätten die Straf-
gerichte bei Berücksichtigung der involvierten Fragen der Menschenwürdegarantie
ohne Verstoß gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zumindest eine
41 So Sachs, aaO. (FN 19), S. 123 f.
42 Vgl. nur die gerade die Menschenwürdegarantie im Strafprozeß betreffende Entschei-
dung BVerfGE 72, S. 105 (115): »Wenn der zuständige Richter . . . nicht erkannt hat, daß
in seine Abwägung Grundrechte einwirken«.
ZfP 40. Jg. 2/1993
134 Sachs . Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker
Fortsetzung des Strafverfahrens in Anwesenheit des nur unter geeigneten Aufla-
gen auf freien Fuß gesetzten Angeklagten anordnen können. Die Verantwortlich-
keit für das alsbaldige Entschwinden Honeckers nach Chile liegt daher nicht alleın
beim Verfassungsgerichtshof, sondern auch bei der Strafkammer. In diesem
Zusammenhang ist auch die Weigerung des Bundesverfassungsgerichts zu erwäh-
nen, zugunsten von Maueropfern die Fortführung des Strafverfahrens gegen den
Angeklagten Honecker sicherzustellen“. Die zugrundeliegende Aussage, es gebe
keinen grundrechtlichen Anspruch auf Strafverfolgung, scheint dabei durchaus
unbedenklich; gegenüber der ja wieder aktuellen Diskussion um die auf strafrecht-
liche Mittel verengte Schutzpflicht für das Leben “ hätte man sich aber eine klarere
Aussage wünschen können, ob das Bundesverfassungsgericht generell auf Distanz
zu seiner These von der grundrechtsgeschützten Strafverfolgungspflicht (nebst
immerhin offengebliebener subjektiv-rechtlicher Entsprechung)“ gehen oder nur
einen Anspruch auf repressive Strafverfolgung als solche, also ohne die gegenüber
Honecker ja wohl in der Tat nicht mehr akute Schutzpflichtkomponente, vernei-
nen wollte.
5. Zur materiellen Auswirkung der Menschenwürdegarantie
Offen ist nach allem noch die zentrale materielle Frage, ob unter den hier voraus-
zusetzenden gesundheitlichen Gegebenheiten beim Angeklagten seine weitere
Inhaftierung und die Fortführung des Strafverfahrens einen Verstoß gegen die auf
Bundes- und Landesebene gleichbedeutende Menschenwürdegarantie dargestellt
hätte. Die diesbezüglichen Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes
Berlin können nicht recht zufriedenstellen. Unbedenklich sind allerdings seine
Aussagen, daß auch ein wegen besonders schwerer Straftaten angeklagter Mensch
in seiner Menschenwürde geschützt wird und daß nicht etwa nach dem Talions-
prinzip demjenigen dieser Schutz zu versagen ist, der für das Fehlen entsprechen-
den Menschenwürdeschutzes in der DDR maßgebliche (Mit-)Verantwortung
trägt. Im übrigen aber erweckt die weitgehend an angeblichen bundesverfassungs-
rechtlichen Präjudizien orientierte knappe Argumentation des Verfassungsge-
richtshofs doch eher Bedenken. Dies gilt schon für seine — offenbar auf die später
herangezogene Objektformel gemünzte — Annahme, das Strafverfahren könne sei-
nen Zweck nicht mehr erreichen, weıl der Angeklagte dessen Abschluß nicht mehr
erleben werde. Diesen Zweck definiert der Verfassungsgerichtshof unter Berufung
auf BVerfGE 20, 45 (49) dahin, daß das Strafverfahren »den legitimen Anspruch
der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der . . . Taten und gege-
benenfalls auch Verurteilung und Bestrafung zu erfüllen« habe. Letzteres ist
ersichtlich ein bedingter Zweck des Strafverfahrens, der nicht notwendig, sondern
nur »gegebenenfalls«, nämlich dann zu verwirklichen ist, wenn die Voraussetzun-
43 BVerfG NJW 1993, S. 915 Nr. 2, 3.
44 So zumindest im Ergebnis das (erste) Abtreibungsurteil, BVerfGE 39, S.1 (insbes.
S. 44 ff.).
45 BVerfGE 39, S. 1 (41).
Sachs - Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker 135
gen für eine Verurteilung gegeben sind. Das verbleibende unbedingte Ziel einer
»vollständigen Aufklärung« der Straftat will der Verfassungsgerichtshof offenbar
dahin verstehen, daß eine nur teilweise Aufklärung der Straftat dem Zweck des
Strafverfahrens gar nicht entspricht. Der Verfassungsgerichtshof bleibt jede
nähere Begründung schuldig, warum nicht eine — doch ohnehin in der Realität
stets nur erreichbare! — partielle Aufklärung auch den Zweck des Strafverfahrens,
wenn auch eben nur teilweise, erfüllt. Im Präjudiz des Bundesverfassungsgerichts
hatte der Begriff der »vollständigen« Aufklärung jedenfalls keine dahin gehende
Konnotation, beschrieb nur das Maximal-, nicht das Minimalziel, dem die Frei-
heitsentziehung dient. Wieso ein Strafverfahren zum »Selbstzweck« werden soll,
solange es noch eine zumindest teilweise Aufklärung von Straftaten bewirken
kann, bleibt offen. Offenbar aufgrund der angenommenen Selbstzweckhaftigkeit
des Strafverfahrens in einem solchen Fall postuliert der Verfassungsgerichtshof
alsdann, daß der Angeklagte zum bloßen Objekt von Strafverfahren und Untersu-
chungshaft gemacht werde“. Warum dies so sein soll, obwohl doch mit den vom
Angeklagten zu verantwortenden, ihm als Schuld vorgeworfenen Handlungen
auch und gerade seine Person den Gegenstand des Prozesses bildet, an dem er
zudem mit allen Rechten eines Prozeßbeteiligten mitwirken kann, wird nicht
begründet. Obwohl sich der Verfassungsgerichtshof den Vortrag des Beschwerde-
führers von dem Recht des Menschen, in Würde sterben zu dürfen, nicht zu eigen
macht, war er offenbar von der (vorausgesetzten) Todesnähe des Angeklagten so
beeindruckt, daß er die Verletzung der Menschenwürde durch die Fortführung
von Haft und Strafverfahren für evident hielt. Dabei scheint es keineswegs abwe-
gig, daß auch bei einem Sterbenden die Aufklärung von ihm begangener Verbre-
chen seiner Würde als Mensch, der dafür als Person die Verantwortung trägt,
gerecht wird”, ja daß es die Menschenwürde gerade umgekehrt verletzen würde,
den Menschen in Todesnähe unter Freistellung von seinen rechtlichen Verant-
wortlichkeiten bereits »abzuschreiben«. Nicht evident ist jedenfalls die Tragfähig-
keit des in diesem Zusammenhang bemühten Präjudizes des Bundesverfassungsge-
richts, BVerfGE 72, 105 (115 ff.). Der Verfassungsgerichtshof gibt an, er folge der
Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, daß ein von schwerer und unheilbarer
Krankheit und von Todesnähe gekennzeichneter Mensch nicht weiter in Haft
gehalten werden dürfe. Eine solche Auffassung findet in der zitierten Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts indes ebensowenig eine Grundlage wie in den
dort angegebenen älteren Präjudizien oder auch in der neuesten Judikatur zur
lebenslangen Freiheitsstrafe“. Vielmehr stellt das Bundesverfassungsgericht
46 Zur Objektformel und ihren Grenzen bei der Ausfüllung des Menschenwürdebegriffs s.
nur Stern, aaO. (FN 20), § 58 II 3 c m. w. N.
47 Zur Grundlegung der Wahrheitsermittlungsaufgabe des Strafprozesses gerade in der
Menschenwirde s. BVerfGE 57, S. 250 (287).
48 BVerfG JZ 1992, S. 1176 ff. m. Anm. Ulrich Eisenberg und Anmerkungsaufsatz von Die-
ter Meurer, »Strafaussetzung durch Strafzumessung bei lebenslanger Freiheitsstrafe« in:
JR 1992, S. 441 ff.
ZfP 40. Jg. 2/1993
136 Sachs . Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker
gerade umgekehrt fest, daß es »von Verfassungs wegen nicht grundsätzlich ausge-
schlossen (ist), daß eine lebenslange Freiheitsstrafe im Wortsinne ein Leben lang
vollstreckt wird«, und erläutert diese Möglichkeit unter Hinweis auf den Fall, daß
»die Schwere der Schuld die Vollstreckung über die Mindestverbüßungsdauer hin-
aus gebietet und der Verurteilte sich inzwischen in vorgerücktem Alter befindet«”.
Auch die Mindestverbüßungsdauer als solche wird nicht in Frage gestellt, obwohl
sie ebenfalls im Falle sehr alter Verurteilter vielfach die Strafverbüßung bis zum
Tode zur Folge haben kann. Nur der Vollständigkeit halber sei angemerkt, daß
die vom Berliner Verfassungsgerichtshof mit Recht nicht erwähnte Judikatur des
Bundesverfassungsgerichts zur Unzulässigkeit der Hauptverhandlung bei Gefähr-
dung von Leben oder körperlicher Unversehrtheit des Angeklagten ® zu keinem
anderen Ergebnis führt. Denn dabei geht es nicht um die Wahrscheinlichkeit, daß
der Angeklagte bei Durchführung der Hauptverhandlung stirbt, an sich, sondern
nur um den Fall, daß die Durchführung der Hauptverhandlung den Tod des
Angeklagten zu verursachen droht. Nach der Judikatur des Bundesverfassungsge-
richts wäre mithin eine Entlassung Erich Honeckers aus der Strafhaft (nach einer
etwa schnell zustande gekommenen Verurteilung) nicht geboten gewesen. Es wäre
Sache des Verfassungsgerichtshofs gewesen, auf dieser Grundlage zu überlegen,
ob für die Untersuchungshaft - vielleicht mit Rücksicht auf die Unschuldsvermu-
tung — anderes zu gelten hat, oder sonst Gründe für seine Abweichung vom Karls-
ruher Standpunkt darzulegen, statt eine nicht gegebene Übereinstimmung mit der
bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur zu postulieren*'.
IV. Schluß
Neben der bekannten minimalen Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerden in
Karlsruhe und dem Vertrauen auf größere Profilierungsbedürfnisse bei dem noch
neuen Landesverfassungsgericht in Berlin dürfte nicht zuletzt die richtige Ein-
schätzung der entgegengesetzten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Anlaß dafür gewesen sein, daß die Verfahrensbevollmächtigten Erich Honeckers
die Verfassungsbeschwerde in Berlin eingelegt haben, obwohl die Verfassung des
Landes das gerügte Grundrecht der Menschenwürde zumindest nicht ausdrücklich
anspricht. Sie haben damit einen passenden Abschluß für das wenig erfreuliche
Justizspektakel inszeniert, mit dem Erich Honecker von der Bühne des wiederver-
einigten Deutschlands verabschiedet wurde. Mag dieser - sofern wirklich tod-
krank — auch nicht triumphiert haben, so war der Prozeß gegen ihn doch auch
alles andere als ein Triumph für den Rechtsstaat, weit eher für den Mitleidsstaat,
in dem im Namen der Menschenwürde die Juridifizierung der Gnade nun bis zum
49 BVerfGE 72, S. 105 (116 f.).
50 BVerfGE 51, S. 324 (346 ff.).
51 Vgl. zur größeren Intensität des Grundrechtseingriffs durch Untersuchungshaft gegen-
über dem durch Strafhaft etwa Hans D. Jarass in: ders./Bodo Pieroth, Grundgesetz,
2. Aufl. München 1992, Art. 2 Rdn. 67 m. w. N.
Sachs . Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren Erich Honecker 137
Erlaß des Strafverfahrens perfektioniert ist. Natürlich kann und darf ein Rechts-
staat nicht ungehemmt das »vae victis« des Siegers an denen vollstrecken, die
schon von der Geschichte gestraft sind; die jetzt vom Verfassungsgerichtshof ein-
geschlagene Linie bleibt aber der Gerechtigkeit gegenüber dem Täter (!) und vor
allem gegenüber seinen Opfern zu vieles schuldig. Im Ergebnis bleibt, wie heute
allzu oft, nach allen Prozeduren des Rechtsstaates das traurige Resultat eines -
neulateinisch ausgedrückt — »vae victimis«, das dem Anspruch der Rechtsstaatlich-
keit ebensowenig gerecht werden kann.
Zusammenfassung
Das Strafverfahren gegen Erich Honecker hat mehrere verfassungsrechtlich
problematische Aspekte. Bedenken erweckt zumal die Zur-Schau-Stellung des tod-
kranken Angeklagten durch die Medien. Neben allgemeinen strafrechtlichen Pro-
blemen mit dem Unrecht des SED-Regimes geht es im übrigen vor allem darum,
ob nach Berliner Verfassungsrecht eine Menschenwürdegarantie besteht, die eine
Beendigung des nach Bundesrecht geregelten Strafverfahrens gebieten kann. Dies
scheint im Rahmen einer selbst der Menschenwürde verpflichteten Strafprozeß-
ordnung möglich. Zweifel bleiben aber, ob es wirklich ein Gebot der Menschen-
würde ist, einen Todkranken davon zu befreien, sich im Rahmen seiner gesund-
heitlichen Möglichkeiten im Strafprozeß seiner Verantwortlichkeit zu stellen.
Summary
The prosecution of Erich Honecker has got several aspects, which pose problems
of constitutional law. For one, it seems questionable that the mortally ill accused
was exposed to intensive media coverage showing his physical condition. Besides
general problems of penal law in regard to the injustices of the SED-regime, the
main aspect concerned is, if there is a guarantee of human dignity as part of the
Constitution of Berlin, which can force to terminate the criminal proceedings
regulated by the federal law. As the federal law of criminal proceedings is itself
obliged to respect human dignity, this seems possible. Doubts remain, though, if it
is really a command of human dignity, that a mortally ill person is relieved from
standing up to his responsibilities in a criminal procedure, as far as he is still physi-
cally able to do so.
7ZfP 40. Ip. 2/1993
10
Hermann Lübbe
Oswald Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und
Ernst Jiingers »Arbeiter«. Auch ein Sozialismus-Riickblick
Der moderne Begriff des Klassischen ist der Begriff für eine temporale Eigen-
schaft kultureller Bestande. Naherhin meint er die Eigenschaft rezeptionsge-
schichtlicher Alterungsresistenz. Bei steigender künstlerischer und literarischer,
auch wissenschaftlicher und technischer Innovationsrate gewinnt, was gegenüber
dem wachsenden Neuerungsdruck geltungsmäßig standhält, Auffälligkeit, die
unsere Selektion im Umgang mit der Überfülle des Überlieferten steuert.
Die beiden Texte, die hier zueinander in Beziehung gesetzt werden sollen, sind
keine im erläuterten Sinne klassischen Texte. Das bedeutet: Beide Texte haben in
den sieben, acht Jahrzehnten, die seit ihrer Entstehung und Erstpublikation ver-
gangen sind, die Anmutungsqualität einer extremen historischen Fremdheit ange-
nommen. Bei ihrer Lektüre wird rasch evident, daß der Sinn dieser Lektüre nicht
der einer Verständigung über unsere Gegenwartslage sein kann. Man wird mit
schlechthin Vergangenem konfrontiert. Man braucht die Motivation eines histori-
schen Interesses, um weiterlesen zu können. Die Faszination, die von den fraglı-
chen Texten beim Einlesen ausgeht, ist die Faszination fremder, primär unver-
ständlicher Welten. Die Neugier, die sie wecken, ist Vergangenheitsneugier, die
wissen möchte, welche speziellen Lagen und Befindlichkeiten jene Diagnosen und
Prognosen erklären können, die uns inzwischen gänzlich unplausibel geworden
sind.
Zur Kennzeichnung der Aufgabe, die sich dem heutigen Leser der beiden
Bücher stellt, läßt sich ein anschaulicher Vergleich nutzen, der in analoger herme-
neutischer Verlegenheit Ernst Jünger eingefallen ist. Ernst Jünger gab 1930 einen
Bildband mit Weltkriegsbildern heraus?. Der Titel des Bandes »Das Antlitz des
Weltkriegs« wirkt heute verblüffend. Die präsentierten Photos sind nämlich
grauenhaft, und eine Physiognomie, die Grauen auslöst, pflegen wir nicht »Ant-
litz« zu nennen. Veristischer Realismus, entheroisierend wirkende Abbildtreue
-das sind die Qualitäten des Bildberichts. In seinem einleitenden kleinen Essay
1 Vgl. dazu das Kapitel »Avantgarde-Komplemente: Eklektik und Klassik« in meinem
Buch /m Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Heidelberg 1992, S.
107-117.
2 Ernst Jünger (H.), Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten, mit etwa
zweihundert photographischen Aufnahmen auf Tafeln, Kartenanhang sowie einer chro-
nologischen Kriegsgeschichte in Tabellen, Berlin 1930.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 139
»Krieg und Lichtbild«> vergleicht Jünger die Photos mit »den Abdrücken, die uns
das Dasein seltsamer Tiere im Gestein hinterlassen hat«. Wohl sei hier »Stoff der
Anschauung gegeben«. »Wie aber das Leben des großen Tieres in seinen geheim-
nisvollen Bewegungen« sich abgespielt habe — »dies zu ahnen« erfordere »Phanta-
sie«*. Fügt man hinzu, daß über Phantasie hinaus historisches Wissen erforderlich
sei, insbesondere Wissen über die objektiven Lebensvoraussetzungen jener seltsa-
men Tiere, so wäre damit, im Anschluß an Jünger selbst, die Aufgabe gekennzeich-
net, um die es sich handelt, wenn man sich heute den Zugang zur fremdgeworde-
nen literarischen Hinterlassenschaft des Jüngerschen Arbeiters verschaffen
möchte‘.
Es ist naheliegend, den Zugang zu Jüngers »Arbeiter« im Ausgang von Speng-
lers literarischer Evokation eines neuen, nämlich preußischen Sozialismus‘ zu
suchen. Beide Texte sind durch eine identische ideenpolitische Absicht miteinan-
der verbunden. Die Absicht war, die sozialistische Arbeiterbewegung marxistischer
Prägung preußisch-deutsch umzuprägen, um sie in dieser Umprägung moderner
zu machen, das heißt in bessere Übereinstimmung mit den Herausforderungen der
technischen Zivilisation zu bringen und damit zugleich Deutschland, als das
Ursprungs- und Hauptland sozialistischer Bewegung, in den Beruf einzuweisen,
epochenkonforme politische Vormacht zu sein.
Unbeschadet der identischen ideenpolitischen Absicht, die Spenglers »Preußen-
tum und Sozialismus« einerseits und Jüngers »Arbeiter« andererseits miteinander
verbindet, werden einem ım Vergleich der beiden Texte zunächst ihre Unter-
schiede auffällig werden. Zwar trennen sie zwischen 1919 und 1932 lediglich drei-
zehn Jahre. Aber ihre Erscheinungsdaten markieren evidenterweise höchst unter-
schiedliche historisch-politische Lagen, nämlich den Anfang und das bevorste-
hende Ende der Weimarer Republik. Dieser Unterschied zwischen ihren histori-
schen Örtern hat selbstverstandlich die Wirkungsgeschichte der beiden Texte
beeinflußt. Als Spengler sein Werk schrieb, gab es ja den Nationalsozialismus noch
gar nicht. Als Jüngers Buch erschien, stand seine Machtergreifung nahe bevor.
Entsprechend bot es sich an, vor allem Jüngers Buch aus dem Blickpunkt des
Nationalsozialismus zu lesen — zum Beispiel für Krockow in seiner dezisionismus-
theoretischen Analyse von Texten in der intellektuellen Vorläuferschaft der deut-
schen rechtstotalitären Diktatur’. Wie eine etablierte Selbstverständlichkeit hat
kürzlich noch der Schweizer Niklaus Meienberg Jüngers Arbeiter-Philosophie als
nationalsozialistische Philosophie abgetan. In einer Besprechung der Ernst-Jün-
3 Ebd., S. 9-11.
4 Ebd., S. 11.
5 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932. - Hier wird nach der
Ausgabe in Cotta’s Bibliothek der Moderne, Band 1, Stuttgart 1982, zitiert.
6 Oswald Spengler, »Preußentum und Sozialismus« (zuerst erschienen im Herbst 1919) in:
Oswald Spengler, Politische Schriften, Volksausgabe, München 1933, S. 1-105.
7 Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl
Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958. Neuausgabe Frankfurt a. M./New York 1990.
ZfP 40. Jg. 2/1993
10*
140 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter«
ger-Biographie von Martin Meyer” charakterisierte er Jüngers »Arbeiter«-Sozialis-
mus umstandslos als »Vorwegnahme des Nazi-Staates«’.
Daß Oswald Spengler, wie Ernst Jünger, zu den intellektuellen Verächtern der
Weimarer Republik gehörte, ıst natürlich offenkundig und oft dargestellt wor-
den:°. Nichtsdestoweniger wäre es ideologiehistorische Geschichtsklitterung,
Spenglers »Sozialismus« schlicht eine Vorwegnahme des Sozialismus der Natio-
nalsozialisten nennen zu wollen. Spengler selbst war bekanntlich nicht bereit, die
von ihm entworfene politische Zukunftsformation eines Sozialismus preußisch-
deutscher Tradition im real existent und mächtig gewordenen Nationalsozialismus
wiederzufinden. Im Verhältnis zum Nationalsozialismus blieb Spengler ein »kriti-
scher Intellektueller«, und umgekehrt hat auch der etablierte Nationalsozialismus
bekanntlich die Philosophie Spenglers ideologiepolitisch nicht akzeptiert. Ganz im
Gegenteil haben insbesondere Repräsentanten der nationalsozialistischen Linken
Spengler mangelnden Sinn für die sozialistische Kompenente im Parteinamen des
Nationalsozialismus vorgeworfen !!. In der Tat war Spengler in seiner intellektuel-
len Herren-Attitüde ein Verächter der sozialen und kulturellen Manifestationen
der Volksgemeinschaft mit ihrem Winterhilfsküchendunst und ihrer Sammelbüch-
sensolidaritat.
Die höchst unterschiedliche historisch-politische Positionalität der beiden
Werke hat über ihre Wirkungsgeschichte hinaus auch die Selbstkommentierung
dieser Werke durch ihre Autoren beeinflußt. Spengler nahm, unbeschadet seines
Aburteils über Hitler und seine Partei, noch im Spätherbst 1932 für »Preußentum
und Sozialismus« in Anspruch, daß »von diesem Buch ... die nationale Bewegung
ihren Ausgang genommen« habe!2. Spengler erhob damit sein Werk zu einem
Selbstverständigungsmedium aller nationalen politischen Kräfte, die in ihrer ent-
schiedenen Ablehnung des Systems der Weimarer Republik sich einig waren.
Darin übertrieb er, aber in zutreffender Tendenz - bei verbleibender, ja sich ver-
schärfender Diskordanz zwischen Spengler-Sozialismus einerseits und National-
sozialismus andererseits.
Ernst Jünger hatte sich über das Verhältnis seines »Arbeiters« zum Nationalso-
zialismus nach seinem Untergang zu äußern und damit in einer Lage, die wesent-
lich durch die Katastrophenfolgen seiner Herrschaft bestimmt war. Da lag es im
8 Martin Meyer, Ernst Jünger, München/Wien 1990.
9 Niklaus Meienberg, »Zum Flammentod bereit« in: Der Spiegel, 24/1990, S. 182-195,
S. 189.
10 Wirkungsreich zum Beispiel von Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Wei-
marer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933,
Munchen 1962.
11 Uber Spenglers Verhältnis zum Nationalsozialismus einschließlich der nationalsozialisti-
schen Kritik an ihm vgl. meine Abhandlung »Historisch-politische Exaltationen. Spengler
wiedergelesen« in: Hermann Lübbe, Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderun-
gen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, Graz/Wien/Köln 1989,
S. 286-308.
12 Oswald Spengler, Politische Schriften, Volksausgabe, München 1932, Vorwort S. VII.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeitere 141
Rückblick auf einen Text, der in seiner Verachtung des Systems der Weimarer
Republik der nationalsozialistischen Verachtung der parlamentarischen Demokra-
tie nicht nachstand, nahe, sich über das Verhältnis der literarischen »Arbei-
ter«-Philosophie zur Diktatur der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpar-
tei änigmatisch zu äußern. Andeutend-vieldeutig heißt es bei Jünger entsprechend
1963, »das Erscheinen des Buches kurz vor einer der großen Wenden« sei »nicht
zufällig« gewesen’. Damit wird ausdrücklich hervorgehoben, daß die eigene
»Arbeiter«-Philosophie und die erste Diktatur einer Arbeiter-Partei in Deutsch-
land ein- und demselben historisch-politischen Kontext angehören. Aber von der
ideologiepolitischen Position, die die »Arbeiter«-Philosophie in diesem Kontext
einnimmt, ist nicht die Rede. Dazu paßt Jüngers ergänzende Feststellung im Rück-
blick, »im Herbst 1932« habe »an der Unhaltbarkeit des Alten und der Herauf-
kunft neuer Krafte kein Zweifel mehr« bestanden. Akzeptiert man dieses histori-
sche Urteil, so wüßte man natürlich gern, wie Jünger selbst 1963 seine 1932er
Optionen im Rückblick beurteilt. Statt dessen nimmt er für seine 1932er Autor-
schaft die politisch distanzierte Rolle des Beobachters und Analytikers in
Anspruch. Die Absicht sei gewesen, »einen Punkt zu gewinnen, von dem aus die
Ereignisse in ihrer Vielfalt und Gegensätzlichkeit . . . zu begreifen« gewesen seien.
Darüber hinaus, fährt Jünger fort, hätte allerdings auch ein Gesichtspunkt erarbei-
tet werden sollen, unter dem, was damals geschah, nicht nur zu begreifen, »son-
dern, obwohl gefährlich, auch zu begrüßen« gewesen wäre. Da im nachhinein nie-
mand den Nationalsozialismus als im vorhinein begrüßenswert kennzeichnen
kann, wird damit der Nationalsozialismus aus der Thematik, mit der es die »Arbei-
ter«-Philosophie zu tun hat, überhaupt ausgegrenzt. Der Anspruch wird bekräf-
tigt, mit dieser Philosophie eine zivilisationsgeschichtliche Formation beschrieben
zu haben, in die als katastrophales Ereignis auch die nationalsozialistische Herr-
schaft gehört, ohne daß der Untergang dieser Herrschaft an der fortdauernden
Geltung und Selbstdurchsetzung der fraglichen zivilisatorischen Formation etwas
ändert. Man sehe, daß »die historischen Mächte sich erschöpfen, und zwar selbst
dort, wo sie Imperien bildeten«, wie im Falle Englands oder Frankreichs, oder, wie
im Falle Deutschlands, zu bilden versuchten. »Unerschütterlich, stets wirksamer
aus dem Chaos hervortretend« bleibe indessen »die Gestalt des Arbeiters« +$.
Nachdrücklicher kann man als Autor die fortdauernde Geltung einer Philoso-
phie, die noch vor kurzem, wie zitiert, einschränkungslos als »Vorwegnahme des
Nazi-Staates« charakterisiert worden ist, unabhängig von Dasein und Untergang
dieses Staates nicht in Anspruch nehmen. Dazu paßt, daß Jünger schon während
des 2. Weltkriegs die Realität dieses Krieges vorzugsweise unter Gesichtspunkten
beschrieben hat, die uns nach Jüngers Meinung, statt Phänomene ephemerer natio-
nalsozialistischer Herrschaft, Phänomene erkennen lassen, die makrohistorisch
13 »Vorwort« zur Ausgabe in Cotta’s Bibliothek der Moderne, Band 1, aaO. (FN 5), S. 7-9,
S. 7.
14 Ebd., S.7 f.
ZfP 40. Jg. 2/1993
142 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter«
für unsere Zivilisationsepoche signifikant sind. So will, zum Beispiel, Ernst Jünger,
als er im Dezember 1942 sich an der Kaukasus-Front aufhielt und dort bei den
Generälen »herum«fuhr, »deren Verwandlung zum Arbeiter« beobachtet haben.
Was immer das heißen soll: die Konnotation des »Begrüßenswerten« scheint jetzt,
zehn Jahre nach der Erstpublikation der »Arbeiter«-Philosophie, mit der Transfor-
mation der Generalitat in eine Arbeiterschaft nicht mehr verbunden zu sein. Im
skeptischen Resümee seiner Hauptquartiers-Tournee stellt nämlich Jünger fest, es
sei nicht zu erwarten, daß aus den neuen Generalsarbeitern »sullanische oder auch
nur [sic!] napoleonische Erscheinungen erwachsen könnten« ®.
So ließe sich mit Zitaten zur Selbstkommentierung der fraglichen Texte durch
ihre Autoren lange fortfahren. In der Zusammenfassung ergibt das: Spengler
erhebt im Rückblick »Preußentum und Sozialismus« zur literarischen Inaugu-
ration einer nationalen Erneuerungsbewegung, die er dann im Nationalsozialismus
nicht erfüllt fand. Jünger hingegen stilisiert sein »Arbeiter«-Buch zu einer von den
nationalsozialistischen Aktualitäten abgehobenen Phänomenologie einer zivilisa-
torischen Epochengestalt, in deren Züge auch die Folgen nationalsozialistischer
Herrschaft eingegraben sind, deren Hauptzüge aber mit wachsender Eindringlich-
keit generell unsere wissenschaftlich-technische Zivilisation prägen.
Höchst unterschiedlich ist, wie man rasch bemerkt, auch die Textgestalt der bei-
den Werke. »Preußentum und Sozialismus« — das ist eine pamphletistische Kom-
mentierung der politischen Ursprungsbedingungen und Anfangsereignisse der
Weimarer Republik. In der November-Revolution, so lesen wir, erhob sich »das
Pack mit dem Literatengeschmeiß an der Spitze«**. Hätte doch Bebel die Szene
beherrscht! Dieser hätte »eine Diktatur, von rechts oder links, gefordert und
erreicht«. Er hätte das »Parlament zum Teufel gejagt und die Pazifisten und Völ-
kerbundsschwärmer erschießen lassen« ”. So äußert sich also Spengler, der Stamm-
tischverächter, im literarischen Stammtischstil. Jüngers »Arbeiter« hingegen prä-
sentiert sich nicht als pamphletistisches Manifest, vielmehr mit dreifachem
Umfang als Werk einer Epochenphilosophie. Es versteht sich nicht als Teil einer
aktuell gewünschten politischen Aktion, vielmehr als literarischer Umriß der
»Gestalt« unserer Zivilisation. Dazu paßt, was Martin Meyer'* in seiner Jünger-
Biographie festgestellt hat: In Jüngers Buch fällt nicht ein einziger Name — weder
von politischen Akteuren noch von Stiftern religiöser oder ideologischer Legiti-
mität. Nirgendwo fällt, anders als bei Spengler, der Name Bismarcks, Luthers oder
Calvins; weder Hegel noch Marx werden zitiert, von Hitler ist nicht die Rede und
von Bebel ohnehin nicht. Die Gestalt des »Arbeiters« sei eben, so erläutert uns Jün-
ger im Rückblick den konsequenten tagespolitischen Aktualitätsverzicht seines
15 Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 235. Notiz vom 19. Dezember 1942 aus
Nawaginskij.
16 Preußentum und Sozialismus, aaO. (FN 6), S. 9.
17 Ebd., S. 8.
18 Martin Meyer, Ernst Jünger, München/Wien 1990, S. 165.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 143
Buches, »weder national noch sozial begrenzt«. Sie habe vielmehr »planetarischen
Charakter« '°.
Den höchst unterschiedlichen literarischen Artitüden entsprechen die höchst
unterschiedlichen Persönlichkeitsprofile ihrer Autoren. Spengler — er erscheint uns
gerade in »Preußentum und Sozialismus« als der Typus des literarisch politisieren-
den Anti-Literaten. » Wir wollen keine Sätze mehr, wir wollen uns selbst« 2. Das ist
politischer Existentialismus als literarische Kompensation eigener Angst vor der
Wirklichkeit, die Spengler, wie sein Biograph Koktanek berichtet, schon beim
Anblick der Lüneburger Schule, in der er ein bürgerliches Berufsleben als Gymna-
siallehrer hätte beginnen sollen, zusammenbrechen lief 2". Dazu paßt, daß Spengler
im Vorwort zum ersten Band des »Untergang des Abendlandes« den Wunsch
äußerte, sein Buch möge »neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht
ganz unwürdig dastehen« 22. Das ist gewiß ein literarischer Topos, ursprünglich ein
Topos der Literaten-Bescheidenheit dazu. Aber um so aufdringlicher wirkt, im
Kontrast dazu, die Anmutung der Unbescheidenheit des von Spengler erhobenen
politliterarischen Anspruchs. Auf Jünger hingegen will die Charakteristik, hier
schreibe einer, der sich aus der Realität entnervt in politliterarischen Existentialis-
mus rettet, ersichtlich nicht passen. Die »militärischen Leistungen«, denen Speng-
ler als Autor sich würdig erweisen möchte, repräsentiert im Falle des hochdeko-
rierten Jünger der Autor selber. Im Kontrast zur attitüdenhaften Großbürgerlich-
keit Spenglers, der vom populistischen Sozialismus der an die Macht gelangten
Hitler-Bewegung sich angeekelt und schließlich geängstigt fand, wirkt Jünger in
personaler Konsequenz seiner literarischen Verarbeitung der Weltkriegserlebnisse
von da an stets untangiert und hat inzwischen ein Lebensalter erreicht, das um ein
Lustrum das Spenglersche ums Doppelte überbietet. Literarisch entspricht dem die
Attitüde des Desengagements im Beschreiben des Ungeheuerlichen. »Realismus«
könne »allein« »unser Stil« sein — so wird das, in den »Strahlungen«, zur Norm
erhoben 2. Solche Unterschiede des Stils, der Absicht und des Anspruchs sowie der
historisch-politischen Selbstverortung, die die beiden fraglichen Texte trennen,
muß, wer sie zusammenrückt, im Auge behalten. Aber auch das, was die beiden
Texte verbindet, hat seine Aufdringlichkeit. Um literarische Anti-Literatur handelt
es sich in beiden Fällen. Auch Jünger ist zunächst ein Autor wortreicher Rede
gegen bloße Worte gewesen. Im »Wäldchen 125« zum Beispiel werden Kampf-
plätze als Örter eines Tuns charakterisiert, »an denen das Volk tatsächlich und
nicht durch Reden vertreten wird«2*. Ganz analog wird auch noch im Zweiten
19 So in einem Brief vom 24. September 1978, abgedruckt in »Aus der Korrespondenz zum
>Arbeiter«« in: Ernst Jünger, Der Arbeiter, aaO., S. 315.
20 Preußentum und Sozialismus, aaO. (FN 6), S. 4.
21 Vgl. dazu Anton Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 85.
22 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltge-
schichte. Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit, München 1920, S. XIII.
23 Ernst Jünger, Strahlungen, aaO. (FN 15), S. 16.
24 Ernst Jünger, Das Waldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918, 7. Aufl. Ber-
lin 1940, S. 206.
ZfP 40. Jg. 2/1993
144 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter«
Weltkrieg, zum Beispiel, die Verwundung des Generalfeldmarschalls Rommel,
»des einzigen, der Naivität genug« besessen habe, um »zum Widerpart der
fürchterlichen Simplizität des Anzugreifenden« zu taugen, in ihrem politischen
Kontext des Sommers 1944 als ein Ereignis in der Realität kommentiert, das mehr
zu lernen Gelegenheit biete als »die Lektüre historischer Bibliotheken«. Ja selbst
Shakespeare, »zu dessen Coriolan« er im Kontext jener Ereignisse »häufig
Zuflucht« genommen habe, sei hier in seiner dichterischen Aufschlußkraft durch
die Realität überboten worden. Daß die Realität die Literatur überbiete — auch
das ist natürlich ein Topos. Aber als frische Einsicht zitiert, die aus der Gleichzei-
tigkeit von Shakespeare-Lektüre einerseits und Vergeblichkeiten im Versuch des
Tyrannenmords andererseits gewonnen sei, wirkt dieser Topos als literarisches
Anti-Literaturprinzip, auf das man trocken erwidern möchte, daß es doch Realität
einerseits und Literatur andererseits verblüffend wirklichkeitsfremd einander ent-
gegensetze. Banalerweise ist, was wir lernen, in letzter Instanz stets eine Lehre der
Realität. Aber Bücher vermitteln uns üblicherweise doch diese Lehre, und wenn ein
Literat in Ausnahmelagen Erfahrungen macht, die noch in keinem Buch zu finden
sind, so erwartet man, daß er sie aufschreibt. Just diese Erwartung erfüllt aber Jün-
ger im zitierten Kontext nicht. Wie lautet denn nun die Lehre, die wir aus dem
Ereignis der Verwundung Rommels, nachdem selbst Shakespeare-Lektüre sie uns
nicht zu vermitteln vermochte, zu ziehen hätten? Indem uns eben das nicht mitge-
teilt wird, verbleibt als Eindruck beim Leser der, es mit einem Autor tieferer oder
auch höherer Wirklichkeitseinsicht zu tun zu haben, an die kein Text je heranrei-
chen könnte.
Dieses literarische Anti-Literaturprinzip ist freilich nur die Kehrseite einer ver-
blüffenden Überschätzung dessen, was Literatur vermag, und auch in dieser Über-
schätzung sind Spengler und Jünger verbunden. »Aber ich wiederhole immer und
immer wieder«, so heißt es in Spenglers »Vorwort« zu seinen politischen Schriften,
»daß ich lediglich Tatsachen« beschrieben habe — »für Leute, die staatsmännisch
denken und handeln können, und nicht für Romantiker. Will man endlich hören
und nicht nur lesen? Ich warte darauf«*. Literatur als politische Handlungsanwei-
sung — prätentiöser kann sich ein Autor zur praktischen Bedeutung seiner Texte
schwerlich äußern. Analoges findet sich auch bei Ernst Jünger — noch im 1963er
»Vorwort« zur Cotta-Ausgabe des »Arbeiters«: Nach der obligaten antiliterari-
schen Bekundung, daß er »den Einfluß von Büchern auf die Aktion« keineswegs
»überschätze«, beeilt sich Jünger, im nächsten Satz schon hinzuzufügen, daß,
wenn »die großen Akteure« seinerzeit sich nach den im »Arbeiter« »entwickelten
Prinzipien gerichtet« hätten, »viel Unnötiges, ja Unsinniges unterlassen und Not-
wendiges getan« worden sei. Leider richtete man sich nicht nach den von Jünger
entwickelten Prinzipien und leitete entsprechend »einen Mahlgang« ein”. Eine
25 Ernst Jünger, Strahlungen, aaO., S. 13.
26 Oswald Spengler, Politische Schriften, aaO. (FN 6), S. XIII.
27 Ernst Jünger, Der Arbeiter, aaO. (FN 5), S. 7.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 145
anspruchsvollere Selbsteinschätzung der potentiellen politischen Bedeutung des
eigenen literarischen Beitrags zur deutschen »Wende« Anfang der dreißiger Jahre
ist schwerlich denkbar.
Die inhaltlichen Ubereinstimmungen zwischen den beiden fraglichen Texten
sind ohnehin evident: In beiden Fällen handelt es sich um literarische Entwürfe
eines post-marxistischen Sozialismus als einer deutschen politischen Zukunftsfor-
mation. Ohne sich auf ihn zu berufen, knüpft Jünger dabei ersichtlich an Spengler
an. »Der einzig mögliche Erbe des Preußentums«, so heißt es wie von Spengler
abgeschrieben bei Jünger, sei »das Arbeitertum« ®. »Das Vorbild ist Oswald Spen-
gler«, konstatiert entsprechend lapidar und zutreffend Martin Meyer”. So ver-
stand es sich von selbst, daß Jünger Spengler seinen »Arbeiter« alsbald übersandte:
»Für Oswald Spengler, der im Anschluß an die Deutsche Abrüstung die ersten
neuen Waffen schmiedete« — so lautet die Widmung vom 5. September 1932”.
Spengler antwortete alsbald mit der kühlen Anrede »Sehr geehrter Herr« und
bemerkte zurückhaltend-tadelnd zu Jünger: »Sie haben wie viele andere den
Begriff des Arbeiters nicht aus der Phraseologie der Marxisten lösen können« -
eine Feststellung, die Jüngers Bemühungen, die »Gestalt« des Arbeiters als die poli-
tisch prägende Figur der Zukunft prägnant zu machen, keineswegs gerecht wird.
Das Mißverständnis Spenglers erklärt sich aus mangelhafter Kenntnis des Jünger-
schen Werkes, räumte er doch gegenüber dem Autor selber ein, den »Arbeiter«
»bis jetzt erst flüchtig angeblättert« zu haben’. »»Der Arbeiter<« — diesen Titel als
Zitat auffällig in den Text setzend — schrieb Spengler wenig später mit offenkundi-
ger Spitze gegen Ernst Jünger, werde uns heute als »der eigentliche Mensch, das
eigentliche Volk«, als »der Sinn und das Ziel der Geschichte, der Politik« offe-
riert®?, Das ist ganz der Ton der bekannten Spenglerschen Kritik am Sozialismus
der Nationalsozialisten mit ihrer organisierten »Solidarität« der »Arbeiter der
Stirn und der Faust«». An Jüngers Intentionen jedoch, die an diejenigen Spenglers
anknüpften, zielte diese Kritik gänzlich vorbei. Wie so oft in analogen Fällen, hat
28 Ebd., S. 69.
29 Martin Meyer, Ernst Jünger, aaO. (FN 18), S. 163.
30 Faksimile der Widmung abgebildet in rowohlts monographie 330 Oswald Spengler, Rein-
bek b. Hamburg 1984, S. 117. - Der Text der Widmung wird, wie in dramatisierender
Absicht, gelegentlich auch in folgender Fassung wiedergegeben: »Für Oswald Spengler,
der nach Deutschlands Entwaffnung die ersten neuen Waffen schmiedete«, so bei Anton
Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 430, oder auch bei
Detlef Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur,
München 1988, S. 114.
31 Oswald Spengler, Briefe 1913-1936, in Zusammenarbeit mit Manfred Schröter herausge-
geben von Anton M. Koktanek, München 1963, S. 667-668, S. 667.
32 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche
Entwicklung, München 1933, S. 87.
33 Vgl. dazu FN 11.
ZfP 40. Jg. 2/1993
146 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter«
auch hier der Prophet sich in seinen Wirkungen nicht wiederzuerkennen ver-
mocht».
Im folgenden seien, in Konvergenzen und Divergenzen, einige Inhalte der bei-
den Texte vergegenwärtigt, die geeignet sein mögen, ihre historische Ferne und
Schwerverständlichkeit anschaulich zu machen. Proportional zur Fremdheit, die
die fraglichen Texte für heutige Leser nahezu unverständlich macht, verhält sich
der historische Erklärungsaufwand, den man treiben müßte, um nachvollziehbar
zu machen, wieso man damals die zivilisatorische und politische Wirklichkeit in
der Weise Spenglers und Jüngers wahrzunehmen vermochte. Dieser Erklärungs-
aufwand kann hier auch nicht annähernd geleistet werden. Entsprechend soll es
sich im folgenden vor allem darum handeln, die Texte in ihrer sozusagen paläon-
tologischen Fremdheitsanmutung anschaulich zu machen. Dafür mögen vier kleine
Durchgänge geeignet sein, und zwar unter den Titeln »Anti-Bürger«, »Anti-Mar-
xisten«, »Politische Existentialisten« und »Preußisch-deutsche Sozialisten«.
Anti-Bürger. — In der Verachtung bürgerlicher Mentalitäten stimmen damals
Rechtsintellektuelle und Linksintellektuelle, soweit sie zu radikaler Zivilisations-
kritik neigen, überein. Beiderlei Intellektuelle werden freilich finden, daß es nicht
auf diese Übereinstimmung, vielmehr auf die höchst unterschiedlichen Gründe
ihrer Bürger-Verachtung ankomme. Aus der Perspektive des attackierten Bürger-
tums selber stellt sich das natürlich anders dar. Aus dieser Perspektive kommt es
auf die Feindschaftserklärung an, das heißt auf die Entschlossenheit zur politi-
schen Liquidation aller Verhältnisse, in denen sich das Bürgertum eingerichtet hat.
»Von der Höhe der Stauferzeit«, wo »prachtvolle Menschen sich über die Forde-
rung des Tages erhaben fühlten«, sei man in Deutschland »zur provinzialen Bie-
dermännerei des 19. Jahrhunderts« hinabgesunken. »Micheltum« sei »die Summe
unserer Unfähigkeiten«, manifest in unserer »Volksvertretung«, die nichts anderes
als ein »Biertisch höherer Ordnung« sei”. Die Dekadenz, die von den Höhen der
Stauferzeit Deutschland ins bürgerliche 19. Jahrhundert hinabgeführt hat,
beschleunigte sich noch in den seither vergangenen Jahrzehnten. »In der Paulskir-
che«, immerhin, saßen noch »ehrliche Narren und Doktrinäre, weltfremd bis zum
Komischen, Jean Paul-Naturen.« Inzwischen sei aber das Parlament zum Tummel-
platz kruder materieller Interessen heruntergekommen. »Schiebertum und Wucher
mit Löhnen«, sogar »mit Ämtern« entwickle sich zur parlamentarischen Hauptbe-
schaftigung*. »Vereine, Biertische und Parlamente«” — so schiebt sich das für
Oswald Spengler, den Groß-Strategen am Intellektuellen-Stammtisch, zusammen.
Als Inkarnation aller bürgerlichen Schwächen führt uns Spengler, der Anti-Profes-
sor, immer wieder einmal den deutschen »liberalen Professor« vor Augen. Dieser
34 Zu Spenglers Reaktion auf Jüngers »Arbeiter« vgl. Anton Mirko Koktanek, Oswald
Spengler in seiner Zeit, aaO. (FN 21), S. 429 f.
35 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, aaO. (FN 6), S. 7.
36 Ebd., S. 18.
37 Ebd., S. 31.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 147
habe »die Verfassung von Weimar als Erfüllung seiner Träume begrüßt«. Real
existent hingegen sei, statt des Inhalts professoraler Träume, »der Geschäftslibera-
lismus« geworden — »als die bequemste und ... billigste Methode, die Politik dem
Kontor, den Staat dem Schiebertum zu unterstellen«>*, und »der Professor merkt
es nicht« ®.
In der moralisierenden Verachtung privater ökonomischer Interessen läßt sich
Spengler, auf den Spuren Fichtes *, von moralisierenden sozialistischen Intellektu-
ellen nicht übertreffen, und wie diese macht er über den moralischen Aspekt der
Sache hinaus den politischen Aspekt der Sache geltend, nämlich Repression und
Ausbeutung. Es drohe »die furchtbare Gefahr einer Versklavung der Welt durch
das Händlertum«, heißt es Sombart-analog “. Das »Mittel« dieser Versklavung sei
»heute der Völkerbund« “2. »Dies werdende System« habe »Marx durchschaut«,
und im »Haß« auf dieses System weiß der Anti-Marxist Spengler sich mit Marx
einig”.
Auch Spengler gehört ın die Reihe der intellektuellen Kritiker der emanzipier-
ten Privatheit mit ihren individualisierten ökonomischen Interessen, die sich dem
Gemeinwohl entfremdet haben. Fichte und Marx sind die Klassiker dieser Kritik,
und beide werden, insoweit zustimmend, zitiert. Wie Fichte, wie Marx ist auch
Spengler, als Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, vom Ekel speziell über die
deutschen Zustände bewegt. Deutsche Idiosynkrasie gegen Deutsches — das ist die
Affektlage der Radikalen unter den deutschen Groß-Intellektuellen, und Spenglers
»Preußentum und Sozialismus« ist die prägnanteste literarische Expression deut-
schen anti-deutschen Affekts am Ende des Ersten Weltkriegs.
Krasser noch und näher zur Sprache des Marxismus drückt sich der antibour-
geoise Affekt bei Ernst Jünger aus - freilich in einer beruhigteren Tonlage, zu der
man befähigt ist, wenn der Feind schon als überwunden erscheint. Jünger kultiviert
die literarische Anmutungsqualität der Analyse, der reinen Beschreibung, in der
die fälligen Engagements sich aus der Sache selbst ergeben und keiner Emphase
bedürfen. — »Jeder echte Deutsche ist Arbeiter«“ — so hatte es, im Kontrast zur
kritisierten bourgeoisen Dekadenz hoffnungsvoll, schon bei Spengler geheißen.
Dem entspricht Jüngers Statement genau, der Deutsche sei »kein guter Bürger« ®.
Nachdem die bürgerliche Versuchung schon als überwunden gelten darf, wird die
Anu-Burgerlichkeit zum Inhalt deutschen Stolzes erhoben: »Auf über ein Jahrhun-
dert deutscher Geschichte zurückblickend dürfen wir mit Stolz gestehen, daß wir
38 Ebd., S. 61.
39 Ebd., S. 52.
40 Ebd., S. 44.
41 Werner Sombart, Handler und Helden. Patriotische Besinnungen, München und Leipzig
1915.
42 Spengler, aaO., S. 94.
43 Ebd., S. 94 f.
44 Ebd., S. 10.
45 Ernst Jünger, Der Arbeiter, aaO. (FN 5), S. 13.
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148 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter«
schlechte Bürger gewesen sind«“. »Mit allen Künsten des Schwertes und der
Überredung« habe man den Deutschen »jene Freiheit« angeboten, »die in der Ver-
kündung der allgemeinen Menschenrechte ihre Setzung erfuhr«. Indessen: Der
Deutsche habe davon »gar keinen Gebrauch zu machen« gewußt. In Deutschland
sei »ein Begriff der Freiheit unvollziehbar, der sich wie ein ... in sich selbst
inhaltsloses Maß auf jede beliebige Größe anwenden läßt, die man ihm unter-
wirft«. Hegelianisierend heißt es, »wenn der Deutsche erkennt, was Freiheit« sei,
so erkenne er, »was das Notwendige ist«. Hier lasse sich im deutschen Kontext
»nichts abdingen, und möge die Welt untergehen«, so müsse »doch das Gebot voll-
streckt« werden, wenn der Ruf vernommen ist”. Ordnungsvollstreckung — darum
handelt es sich also in deutscher politischer Praxis, und das Muster dieser Ord-
nung sei »die Heeresgliederung, nicht aber der Gesellschaftsvertrag« *.
Ein interessanter Einfall Ernst Jüngers ist die metaphorische Kennzeichnung
des »bürgerlichen Geistes« als weiblich. »Weibliche Gesinnung« — das ist zunächst
nichts anderes als das Soldaten-Klischee von der unkriegerischen Existenzform.
Das reale Dementi dieses Klischees, nämlich die Partisanenformationen in den
späteren Kriegen und Bürgerkriegen unseres Jahrhunderts, war ersichtlich damals
noch nicht vernehmbar. Weiblich sei die bürgerliche Gesellschaft, indem »sie jeden
Gegensatz nicht von sich abzusetzen, sondern in sich aufzunehmen« suche. Wo
immer sie mit einem Anspruch konfrontiert werde, der sich »als entschieden
bezeichnet«, decke sie ihn mit ihrer Liberalität zu. Herbert Marcuses Theorie der
repressiven Toleranz ist bei Jünger vorweggenommen. Die »feinste Bestechung«
antibourgeoiser existentieller Radikalität sei deren Interpretation als »Äußerung«
der von der bürgerlichen Gesellschaft offerierten Freiheit. So werde »unschädlich«
gemacht, was die bürgerliche Gesellschaft bedrohe, und so sei »dem Worte radıkal
sein unausstehlicher bürgerlicher Beigeschmack« zugewachsen.
Weiblichkeit als Bereitschaft, alles Zudringliche »in sich aufzunehmen« * — das
läßt Hurenart assoziieren, »Gemeines und Allzugemeines«, und in die Verachtung
dessen ist die Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft eingeschlossen.
»Politischer Existentialismus« — so ließe sich die Daseinsform kennzeichnen, die
den Bürger überwunden hat. Vom »Schicksal« ergriffen und nicht auf »ein Ver-
tragsverhältnis« gegründet, bereit zu einem »Kampf auf Leben und Tod«, »der
Sphäre der Verhandlungen, des Mitleids, der Literatur« »entrückt«, angewidert
vom Anblick des »Bürgers in seiner letzten, unverhülltesten Erscheinung«, wie sie
in den Lebensformen des Liberalismus sich darstellt, erkennend, daß es unter libe-
ralistischen Dekadenzbedingungen »unendlich erstrebenswerter sei, Verbrecher als
Bürger zu sein« °° — so vollzieht sich »der Aufgang des Arbeiters«, der »mit einem
46 Ebd.
47 Ebd., S. 14 f.
48 Ebd., S. 14.
49 Ebd., S. 21-24.
50 Ebd., S. 27 f.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 149
neuen Aufgange Deutschlands gleichbedeutend« sei’. Geprägt durch die Ent-
schlossenheit zum vereigentlichten Dasein läßt der politische Existentialist das
»endlose bürgerliche Gespräch« hinter sich. Die intellektuellen Aufgüsse der
»Enzyklopädisten unter den Dachstühlen von Paris« werden zurückgewiesen. Auf
Auseinandersetzungen »zwischen den materialistischen und den idealistischen
Schulen« lasse sich niemand mehr ein. Man durchschaue solche ideologischen
Antithesen als »Gegenüberstellung unsauberer Geister«. »Die Härte der Welt«
werde »nur durch Härte gemeistert, nicht aber durch Taschenspielerei« mit Requi-
siten aus der Trickkiste bürgerlicher Philosophen *.
Fichteanisch-marxistisch ist, wie Spengler, auch Jünger Kritiker der Entfrem-
dung individueller und kollektiver Interessen, die die bürgerliche Welt prägt.
»Innerhalb dieser Welt ist keine Bewegung vollziehbar, die nicht den trüben
Schlamm der Interessen« stets von neuem aufwühle. Es herrscht die »Diktatur des
wirtschaftlichen Denkens«°’. Der Arbeiter wie der Soldat ist demgegenüber Trä-
ger der Verheißung, daß diese Diktatur endlich gebrochen wird. Es wird eine neue
Herrschaft errichtet werden, die »über die Reichtümer von Provinzen und großen
Städten gebietet« und »um so sicherer über sie gebietet, je mehr« man »sie zu ver-
achten weiß« *.
Deutlicher als bei Spengler drückt sich bei Jünger die romantische Komponente
dieses politischen Existentialismus aus. Ein »Triumph der bürgerlichen Welt« sei
es gewesen, »Naturschutzparks zu schaffen, in denen der letzte Rest des Gefährli-
chen oder des Außerordentlichen als Kuriosum« erhalten werde. Komplementär
dazu erscheine »die romantische Haltung als Protest«. Noch »im Rausche, im
Wahnsinn« äußere sich dieser Protest. Gewiß handele es sich dabei um »Formen
der Flucht« — so auch, erinnert Jünger sich, das Aussteigertum jener »jungen Leute,
die bei Nacht und Nebel das elterliche Haus verlassen«, um »nach Amerika, zur
Fremdenlegion, in die Länder, in denen der Pfeffer wächst«, sich zu entfernen.
Gewiß ist, daß es so nıcht geht, aber es bekunde sich darin doch auch, daß es »dem
Bürger« nicht vollständig »gelungen« ist, »das abenteuerliche Herz davon zu über-
zeugen, daß das Gefährliche gar nicht vorhanden« sei und »daß ein ökonomisches
Gesetz die Welt und ihre Geschichte« regiere. Vom »Krieger« ist die Rede, »der
als Taugenichts erscheint, weil ihn das Leben der Krämer mit Ekel erfüllte 55.
Die autobiographischen Züge dieser Passagen sind unverkennbar, und dazu
paßt die existentialistische Interpretation der Weltkriegserfahrung. »Der Ausbruch
des Weltkrieges« habe »den breiten, roten Schlußstrich« unter das bürgerliche
Zeitalter gezogen. Das war ja die verbreitete Meinung zwischen dem Ende des
Weltkriegs und der Machtergreifung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbei-
terpartei — bei dialektischen Theologen und Existenzphilosophen, bei den Roman-
51 Ebd., S. 27.
52 Ebd., S. 30.
53 Ebd., S. 29.
54 Ebd., S. 31.
55 Ebd., S. 54 f.
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150 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und fingers »Arbeiter«
tikern des Ausnahmezustands unter den Rechtstheoretikern wie bei den marxi-
stisch-leninistischen Romantikern der Revolution als einer politisch gelebten Aus-
nahmesituation von vorläufig unbegrenzter Dauer. Jüngers Kommentierung dieser
Befindlichkeit ist selbstverständlich nicht marxistisch-leninistisch, vielmehr nietz-
scheanisch getönt. »Im Jubel der Freiwilligen«, den der Ausbruch des Weltkriegs
ausgelöst hatte, liege »mehr als die Erlösung von Herzen, denen sich über Nacht
ein neues, gefährlicheres Leben offenbart«. Es verberge »sich in ihm zugleich der
revolutionäre Protest gegen die alten Wertungen, deren Gültigkeit unwiderruflich
abgelaufen« sei. Dabei sei zugleich, was Nietzsche prophetisch verkündet hatte,
die »Umwertung der Werte« nämlich, längst nicht mehr ein Thema der Philoso-
phie. Es handle sich bereits um neue Wirklichkeit, und es genüge, »das Neue zu
sehen und sich zu beteiligen« *.
In der orientierungspraktischen Quintessenz bedeutet das: Kritik der birgerli-
chen Gesellschaft als Kritik an der Entfremdungsgestalt des Daseins in der Tren-
nung individueller und gemeinschaftlicher Interessen; Verachtung bürgerlicher
Lebensformen in ihrer Prägung durch die Herrschaft ökonomischer Imperative;
Aufruf zur Existentialisierung der Politik in der Absicht, in der politischen Praxis
die äußersten Möglichkeiten des Daseins in Permanenz erfahrbar zu machen; Auf-
ruf zum Anti-Konventionalismus und Anti-Traditionalismus, das heißt zur Bereit-
schaft zu einer auf Dauer gestellten normativen Revolution; Entlastung von den
Frustrationen theoretischer Räsonnements, die nicht zur Praxis finden.
Anti-Marxisten. — Die Aufgabe sei »gestellt«, heißt es bei Spengler, endlich »den
deutschen Sozialismus von Marx zu befreien«’”. Marx habe »rein englisch«
gedacht’*. Marx repräsentiert, in der Auto- und Heterostereotypik deutsch-engli-
scher nationaler Gegensätze formuliert, den Anti-Deutschen. »Dem Engländer«,
so lesen wir bei Spengler, fehle »der Sinn der Würde der strengen Arbeit«. Durch
die Schule Max Webers ist Spengler ersichtlich nicht gegangen. Verachtung der
Arbeit, in der sich bei den Engländern Prägungen eines alten Kolonialherrenvolkes
bekunden, sei bei Marx hingegen eine Verachtung aus »jüdischem Instinkt«. »Der
Fluch der körperlichen Arbeit« stehe immerhin »am Anfang der Genesis«, und
»das Verbot, den Sonntag durch Arbeit zu schänden«, entspricht dem. Marx war
also unfähig, »den Sinn der preußischen Arbeit« zu verstehen, »der Tätigkeit um
ihrer selbst willen«, wie Spengler schreibt, als hätte er kurz zuvor Richard Wagner
gelesen”.
Wahr bleibt, daß auch Marx dem Bourgeois den Kampf, den Klassenkampf
nämlich, angesagt hatte. Indessen ist Marx’ antibürgerlicher Klassenkampf nichts
anderes als ein Kampf in bürgerlicher Absicht, das heißt die bürgerliche Existenz-
form dominant gewordener ökonomischer Interessen soll revolutionär zur univer-
56 Ebd., S. 55 f.
57 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, aaO. (FN 6), S. 4.
58 Ebd., S.75.
59 Ebd., S. 78.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 151
sellen Existenzform erhoben werden. Marx’ Ideal sei das »des proletarischen
Phäaken, der alles mühelos besitzt«. Das sei »der Endsinn jener Expropriation der
Glückseligen«. Arbeit als Pflicht hingegen, die um ihrer selbst willen erfüllt sein
will — das ist die Quintessenz des »Sozialismus« Fichtes*. Signifikant für den
Gegensatz zwischen preußischem und marxistischem Sozialismus sei das Verhält-
nis zum Streik. Gerade der Streik unterwerfe die Arbeit ihrem ökonomischen Miß-
verständnis. Der marxistische Sozialismus sei entsprechend streikbereit kraft sei-
ner »Händlerphilosophie, der Marx aus Instinkt und Gewöhnung angehörte«. Im
preußischen Sozialismus hingegen werde die Arbeit ihres wahren Charakters ent-
kleidet, indem sie zur »Pflicht der Allgemeinheit gegenüber« erhoben wird. Im
Charakter erfüllter Pflicht entfielen alle Unterschiede »in der sittlichen Würde der
Arbeit: der Richter und Gelehrte »arbeiten< so gut wie der Bergmann und Eisen-
dreher«. Das sei »preußische Demokratisierung« *.
Ordnungspolitisch ergibt sich daraus »die unparteiische staatliche Festsetzung
des Lohnes für jede Arbeit, nach Maßgabe der wirtschaftlichen Gesamtlage plan-
mäßig abgestuft, im Interesse des Gesamtvolks«. Diese Art der Gemeinwohlorien-
tierung, die den Arbeitskampf hinter sich läßt, gehöre zu »den angebornen Formen
des preußisch-sozialistischen Menschen«. Wo sich dieser zur Herrschaft erhebt, ist
»der Marxismus ... sinnlos« 2. — Diese Zitatenblütenlese ließe sich lange fortset-
zen. Die Botschaft ist unmißverständlich und überdeutlich: Die ökonomischen
Interessen erscheinen als die entfremdenden, dehumanisierenden Interessen. Die
marxistische Ideologie überwindet sie nicht, sondern konserviert sie. Der Klassen-
kampf bedeutet nichts anderes als die Perpetuierung der bürgerlichen Lebensori-
entierung im Versuch ihrer politischen Überwindung. Der klassenkämpferische
Sozialismus erscheint als marxistisch-britisch inspirierte Devianz vom deutschen
Spezialweg. Jüdisch und plutokratisch — das sind die Kontrast-Prädikatoren zum
preußischen Sozialismus der zur Herrschaftsform gewordenen Gemeinwohlorien-
tierung in einem fichteanisch geprägten Verständnis der Arbeit als humaner Selbst-
verwirklichungspraxis.
Bei Jünger liest es sich ähnlich: Es sei der »bürgerliche Gesichtswinkel« gewe-
sen, »unter dem das Arbeitertum als ein Stand gedeutet« worden sei. Listig habe
das Bürgertum den Arbeitern ihr Selbstverständnis als Klasse aufgenötigt. Es habe
auf diese Weise sichergestellt, daß noch sein ärgster Gegner seinem eigenen Prin-
zip unterworfen blieb”.
Gewiß: Das Bürgertum habe ja, in seiner deutsch-typischen Schwäche, eine
erfolgreiche Revolution nicht zustande gebracht. »So fiel dem Arbeiter die wun-
derliche Nebenaufgabe zu, diese Herrschaft nachzuholen« *. Das ist der Kern der
Jüngerschen Deutung der deutschen November-Revolution. Es sei darin »dem
60 Ebd., S.79.
61 Ebd., S. 81.
62 Ebd., S. 82.
63 Ernst Jünger, Der Arbeiter, aaO. (FN 5), S. 18 f.
64 Ebd., S. 17.
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152 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter«
bürgerlichen Denken gelungen«, »das Bild der Gesellschaft unter der Vorspiege-
lung ihrer Selbstverneinung in die ersten Anstrengungen des Arbeiters hineinzufäl-
schen« ®. Der Teil der deutschen Geschichte, der »mit Arbeiter- und Soldatenräten
begann, deren Mitglieder sich dadurch auszeichneten, daß sie weder jemals gear-
beitet noch gefochten hatten«, habe den Charakter einer »Tragikomédie«*. Der
»Arbeiter« repräsentiere in der Tat die »werdende Macht«, »auf der das Schicksal
des Landes« beruhe. Aber zunächst sei es nötig, diese Arbeitermacht aus »den
Gewändern« zu befreien, »in die der Bürger diese Macht« verkleidet habe. Erst
der so seiner bürgerlichen und bürgerlich geprägten sozialistischen Abkunft ent-
kleidete Arbeiter werde in seinem »Aufgang« »mit einem neuen Aufgange
Deutschlands gleichbedeutend« sein”.
Von Marx spricht freilich Jünger in diesem Kontext nicht. Er verzichtet ja, wie
erwähnt, in seinem Großessay generell auf die ausdrückliche Nennung von Politi-
kern, Theoretikern und Ideologen. Nichtsdestoweniger deckt sich die Jüngersche
Arbeiterphilosophie in ihrem impliziten Anti-Marxismus mit dem preußischen
Sozialismus Spenglers vollkommen.
Politische Existentialisten. - »Ein wortloses Bewußtsein, das den Einzelnen in ein
Ganzes fügt« — das sei es, was »uns vor allen anderen Völkern auszeichnet«.
Deutschsein heiße, »in der Demut des Befehlens, nicht Rechte von andern, son-
dern Pflichten von sıch selbst fordernd, alle ohne Ausnahme, ohne Unterschied,
ein Schicksal zu erfüllen, das sie in sich fühlen, das sie sind«*. — Es ist ersichtlich
aus heutiger Perspektive schwer, die Sätze, die wir hier lesen, mit Sinn zu erfüllen.
Was soll es heißen, ein Schicksal, statt es zu haben, zu sein? Heidegger-Lektire,
auch Sartre-Lektüre könnte nützlich sein, den Sinn solcher änıgmatischen Sätze
aufzuschließen. Alsdann scheint es sich bei Spengler darum zu handeln, daß sich
die Individuen durch den Entschluß zum Engagement definitiv von dem Problem
befreien, zu dem sie sich in unserer entfremdungstrachtigen Gesellschaft selbst
geworden sind. Zurückgewinnung von Selbstgewißheit durch Selbstentschließung
zur Gewißheit der Gemeinschaft — das ist es. Sogar noch im marxistisch gefirni&-
ten Sozialismus der deutschen Sozialdemokratie schlägt das durch. »In der Bebel-
partei war etwas Soldatisches gewesen, das sie vor dem Sozialismus aller anderen
Länder auszeichnete, klirrender Schritt der Arbeiterbataillone, ruhige Entschlos-
senheit, Disziplin, der Mut für etwas Jenseitiges zu sterben« *. Dem entspricht die
historisch-politische Diagnose, die »deutsche sozialistische Revolution« habe 1914
stattgefunden ”. Politischer Existentialismus — das ist die Aufhebung der Entfrem-
dung zwischen privater und öffentlich-kollekuver Existenz. Was andere insoweit
65 Ebd., S. 25.
66 Ebd., S. 26.
67 Ebd., S. 27.
68 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, aaO. (FN 6), S. 5.
69 Ebd., S. 10.
70 Ebd., S. 12.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 153
ersehnen, sei in Preußen längst erfüllt: »Hier gab es streng genommen keinen Pri-
vatmann«’”!,
Politischer Existentialismus — das ist der Wille, unter den Bedingungen der
Moderne vormodern zu existieren. Die Differenz des Politischen und Ökonomi-
schen wird aufgehoben. Wehrdienst und Nährdienst verschmelzen. Jeder weiß
Schwert und Pflug gleich sicher zu handhaben. Als Realisationsform dessen mag
man sich jenen Arbeitsdienst vorstellen, der je nach Lage oder fälligem Ritual das
Gewehr so gut wie den Spaten zu präsentieren wußte. Schreibmaschine und
Maschinenpistole als Waffen politexistentialistischer Selbstverwirklichung — so
laßt sich eines der Ideale unseres Jahrhunderts beschreiben. Spengler gehört in die
Reihe der Theoretiker dieses Ideals, und der Gewinn der Orientierung an diesem
Ideal ist Selbstgewinn durch Selbstverlust.
»Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die
höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind« — so lau-
tet das in der Sprache Ernst Jüngers’2. Der »Freiheitsanspruch« verwandelt sich
zum »Arbeitsanspruch«. Pflichterfüllung erlöst uns aus unserer Partikularität. Das
sei preußisch präfiguriert, und »das Arbeitertum sei der einzig mögliche Erbe des
Preußentums«’°. Die politische Formation dieses Arbeitertums geschieht in einem
»Akt der Totalen Mobilmachung« als der Vorbereitung der Herrschaft neuer und
andersartiger Größen, deren Auftreten nicht »auf sich warten lassen wird«”*. Jün-
ger liest die Heraufkunft dieser neuen politischen Welt nicht zuletzt am Wandel
des Sprachgebrauchs ab. »»Aufmarsch< statt »Versammlung«, »Gefolgschaft« statt
»Parteic«, »Lager« statt »Tagung« — darin drückt sich aus, daß nicht mehr der freiwil-
lige Entschluß einer Reihe von Individuen als die unausgesprochene Vorausset-
zung« moderner kollektiver Aktivitäten »betrachtet wird« 5. Überall vollziehe sich
jetzt der »Schritt vom romantischen Protest zur Aktion«, und deren Kennzeichen
sei nicht mehr »die Flucht, sondern der Angriff«. So vollziehe sich die »Verwand-
lung des Romantischen in den elementaren Raum«’*, Politischer Existentialismus
- das ist, noch einmal, die Praxis der Selbstgewinnung des entfremdeten Individu-
ums durch Selbstentschließung zum Engagement. Inhalt des Engagements ist der
postmarxistische Sozialismus. Die prägende Gestalt dieses Sozialismus ist der
Arbeiter-Soldat, der die Herausforderungen der modernen Zivilisation annımmt,
indem er sie überwindet. Diese Überwindung geschieht nicht »reaktionär«, viel-
mehr transmodern. Ihr temporaler Ort ist auf der Spitze des Zeitpfeils. Sie weiß
sich als historisch-politische Avantgarde.
71 Ebd., S. 63.
72 Ernst Jünger, Der Arbeiter, aaO. (FN 5), S. 74.
73 Ebd., S. 69.
74 Ebd. S. 71.
75 Ebd., S. 119.
76 Ebd., S. 57.
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11
154 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter«
Preußisch-deutsche Sozialisten. - Preußisch - das wird bei Spengler zur Kennzeich-
nung einer neuen Polit-Ästhetik. Die Manifestation dessen sei die Uniform, die
ständig zu tragen den Sinn der Bekundung habe, als Individuum nichts anderes als
das Gemeininteresse zu repräsentieren. Die Engländer hingegen hätten die »Zivil-
kleidung« zur »Uniform des Privatmannes«’” entwickelt und für die britische
Gesellschaft phänotypisch gemacht. Diese Phänomenologie preußisch-deutscher
Polit-Ästhetik nimmt Jünger mit der Bemerkung auf, daß »die bürgerliche Klei-
dung dem Deutschen« eine »unglückliche Figur« mache. »Der Grund dieser sehr
auffälligen Erscheinung« liege »darın, daß dem Deutschen« »im Innersten jedes
Verhältnis zur individuellen Freiheit und eben damit zur bürgerlichen Gesellschaft
fehlt«. Und indem gerade darin die Preußen und Deutschen ganz vorn sind, tritt
bei ihnen die ästhetische Zivilität mehr und mehr in den Hintergrund - freilich
nicht mehr, wie es Spengler noch gesehen haben mag, in neuer optischer Vorherr-
schaft bunter Röcke, vielmehr in der Omnipräsenz eines neuen Anzugstyps, der
ununterscheidbar Arbeits- wie Kampfanzug ist”.
Versucht man, was sich in dieser Politästhetik spiegelt, auf den Begriff zu brin-
gen, so ergibt sich abermals der Begriff einer Existenzform, in der die Selbstaufop-
ferung fürs Gemeininteresse zum Interesse des Individuums geworden ist. Das
beschädigte Leben in der bürgerlichen Gesellschaft redintegriert sich politisch-
moralisch in einer Ordnung, in der Staat und Gesellschaft verschmolzen sind und
jedes Individuum das Allgemeine repräsentiert. Es ist unleugbar, daß daraus ein
aggressiver Nationalismus resultiert. Aber dieser Nationalismus hat weder bei
Spengler noch bei Jünger eine ethnische, gar rassistische Komponente. Es handelt
sich vielmehr um einen Nationalismus, der für die eigene preußisch-deutsche
Nation in Anspruch nimmt, besser und früher als andere Nationen verwirklicht zu
haben, was als Ideal seine universelle Verbindlichkeit hat, nämlich die moralisch-
politische Redintegration des Menschen nach seinen Beschädigungen in der bür-
gerlich-kapitalistischen Welt. Preußen hat das vorgelebt, die Pflichtlehre seiner
Philosophen, Fichtes zumal, hat es theoretisch gemacht, und im preußisch-deut-
schen Sozialismus wird es zur weltpolitischen Avantgarde.
Die Übereinstimmung zwischen Spenglers Konzept eines preußisch-deutschen
Sozialismus und Jüngers Arbeiter-»Gestalt« ist erheblich, aber sie ist selbstver-
ständlich nicht vollkommen. Die fraglichen Texte unterscheiden sich nicht nur in
den eingangs erläuterten Hinsichten nach ihrem historisch-politischen Ort, stili-
stisch und nach ihrer Expressivität für die Subjektivitat ihrer Autoren. Auch inhalt-
lich gibt es Besonderheiten, die bei Spengler auffällig werden, aber bei Jünger feh-
len, und umgekehrt. Eine Spenglersche Spezialität ist zum Beispiel seine ununter-
drückbare Bewunderung Englands, die ihn in Kompensation seiner deutschen
Idiosynkrasie gegen Deutsches über seinen geschichtsphilosophischen Entwurf des
preußisch-deutschen Weltberufs zum Gegen-Briten werden läßt. »In England
77 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, aaO. (FN 6), S. 38.
78 Ernst Jünger, Der Arbeiter, aaO. (FN 5), S. 124 f.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 155
ersetzte die Insel den organisierten Staat«, schreibt Spengler in raumphilosophi-
scher Herleitung britischer Einzigartigkeiten””. Die prägende politische Gestalt sei
in England der »freie Privatmann«, »der staatsfremd und ordnungsfeindlich, den
rücksichtslosen Kampf ums Dasein verlangt, weil er nur in ihm seine besten, seine
alten Wikingerinstinkte zur Geltung bringen kann«. »Eine Politik von Privatleuten
und Gruppen von solchen« — »das und nichts anderes bedeutet parlamentarische
Regierung« englischen Stils. »Jeder für sich: das ist englisch; alle für alle: das ist
preußisch«, ist Spengler unempfindlich genug zu schreiben. Indessen ist Spenglers
stilisiertes England-Fremdbild alles andere als verächtlich gemeint. Spenglers
Schilderungen englischer Liberalität bilden die Folie, vor der er die spezielle Ver-
ächtlichkeit des deutschen Liberalismus sichtbar machen möchte. Der deutsche
Liberale — das ist »der gebildete Spießbürger, der Bildungsphilister, der unprakti-
sche Gelehrte, dem abstraktes Wissen die Welt verbaut hat«. In Deutschland sei
Liberalität politische Existenz »ohne innere Zucht, ohne Tiefe des lebendigen
Seins, ohne eine Ahnung von der straffen Aktivität und Zielsicherheit des engli-
schen Liberalismus«. Der englische Liberalismus erscheint als reale politische
Möglichkeit, kompatibel mit Macht, ja mit Weltmacht. In Deutschland hingegen
ist er »verächtlich« ®, weil er die deutsche politische »Unfruchtbarkeit« zur Konse-
quenz hat. »Der Engländer, abgeschlossen auf seiner Insel«, habe »eine Einheit
der äußern und innern Haltung erlangt wie kein anderes modernes Volk Westeu-
ropas: Es entstand die vornehme Gesellschaft, ladies and gentlemen, verbunden
durch ein starkes Gemeingefühl, ein durchaus gleichartiges Denken, Fühlen, Sich-
verhalten«. Spenglers polit-ästhetische Lieblingseigenschaft lautet bekanntlich
»prachtvoll«, und den Engländern erkennt er sie zu". Aber es handelt sich darum,
sich mit dieser Anglophilie politisch nun nicht mehr herzulassen. Es gilt zu erken-
nen, daß der politische Liberalismus eine deutsche Möglichkeit nicht ist, daß er
vielmehr ganz im Gegenteil die Deutschen um ihre Eigentlichkeit bringt. »Der
große Sul des englischen Liberalismus steht« dem Deutschen »schlecht«. Also
steht, wenn anders der Deutsche endlich zu sich selbst finden soll, die Überwin-
dung des »geistigen Englandertums« auf der Tagesordnung”. Allzulange sei in
Deutschland »die Bewunderung englischer Einrichtungen herrschend« gewesen.
»Hardenberg, Humboldt und die anderen waren »Engländer«. Statt Kant kamen
Shaftesbury und Hume zu Worte«®. Entsprechend haben die Deutschen, wollen
sie endlich sich wie die Engländer machtfähig machen, sich von ihrer Orientierung
am britischen Vorbild zu befreien, um die ihnen eigene politische Form zu finden.
Der preußische Sozialismus ist diese Form, und auf dem Boden ihrer Verbindlich-
keiten haben sich die deutschen sozialistischen Kräfte zu vereinigen. »Die beiden
sozialistischen Parteien Deutschlands müssen sich zusammenfinden gegen den
79 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, aaO. (FN 6), S. 33.
80 Ebd., S. 34 f.
81 Ebd., S. 36 f.
82 Ebd., S. 68.
83 Ebd., S. 65.
7fP 40. Ig. 2/1993
117
156 Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismuse und Jüngers »Arbeiter«
Feind der gemeinsamen Idee, gegen das innere England, den kapitalistisch-parla-
mentarischen Liberalismus« *. Zusammenfassend heißt das: Spengler ist Anti-Brite
in politisch-weltanschaulicher Kompensation seiner deutschen Anglophilie.
Zu den Jüngerschen Spezialitäten gehört exemplarisch seine Herleitung der sol-
datisch-politischen Arbeiter-Disziplin aus der deutschen Prädisposition zur »Anar-
chie«. Ein deutsches Autostereotyp will, der Deutsche sei Ordnungsfanatiker und
schon aus diesem Grund revolutionsunfähig. Das sieht Jünger anders und erkennt
im »Arbeitertum«, dem »einzig möglichen Erben des Preußentums«, eine Bewegt-
heit, die »durch die Schule der Anarchie, durch die Zerstörung« alter Bindungen
»hindurchgegangen« sei®. Die »Gestalt« des Arbeiters erhebe sich jenseits aller
Konservativismen und Traditionalismen. »Ein neues Verhältnis zum Menschen«
bilde sich heraus, eine »heißere Liebe und eine schrecklichere Unbarmherzigkeit«.
Es ergebe sich »die Möglichkeit einer heiteren Anarchie, die zugleich mit einer
strengsten Ordnung zusammenfällt — ein Schauspiel, wie es bereits in den großen
Schlachten und den riesigen Städten angedeutet ist, deren Bild am Beginn unseres
Jahrhunderts« stehe. Jüngers literarische Kunst der Bilderfindung läßt ihn für
diese Scheinparadoxie anarchiegeborener Disziplin das »Symbol« des Motors
wählen — »Sinnbild einer Macht, der Explosion und Präzision keine Gegensätze
sind«. »Er ist das kühne Spielzeug eines Menschenschlages, der sich mit Lust in die
Luft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine Bestätigung der Ord-
nung erblickt«*.
Der Durchgang durch die beiden Texte hat wohl bestätigt, daß ihre deskripti-
ven wie präskriptiven Gehalte sich auf unsere Gegenwartslage kaum noch bezie-
hen lassen. Sie wirken auf Zeitgenossen aktueller zivilisatorischer und politischer
Krisen historisch entrückt, vergangen, kaum noch verständlich und daher erklä-
rungsbedürftig. Diese Erklärung würde es erforderlich machen, sich über die
Texte hinaus auf ihre historisch-politischen Kontexte des näheren einzulassen.
Das ist hier nicht mehr möglich. Ich formuliere abschließend ein Interpretament,
das einen bei dem Versuch leiten könnte, die fraglichen Texte als Teil ihres histo-
risch-politischen Kontextes plausibel zu machen. Es handelt sich bei diesen Texten
um literarische Protuberanzen aus der Interferenz von spezifisch moderner, zivili-
sationskritisch-antikapitalistisch verarbeiteter Entfremdungserfahrung einerseits
und verweigerter Akzeptanz des vorerst fehlgeschlagenen imperialen Griffs nach
deutscher Weltmacht andererseits.
Zusammenfassung
Oswald Spenglers »Preußentum und Sozialismus« einerseits und Ernst Jüngers
»Arbeiter« andererseits sind durch eine identische ideenpolitische Absicht mitein-
ander verbunden. Die Absicht war, die sozialistische Arbeiterbewegung marxisti-
84 Ebd., S. 69.
85 Ernst Jünger, Der Arbeiter, aaO. (FN 5), S. 69 f.
86 Ebd., S. 36 f.
Lübbe . Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Jüngers »Arbeiter« 157
scher Prägung preußisch-deutsch umzuprägen, um sie in dieser Umprägung
moderner zu machen. Sie sollte in bessere Übereinstimmung mit den Herausforde-
rungen der technischen Zivilisation gebracht werden. Zugleich sollte damit
Deutschland als das Ursprungs- und Hauptland sozialistischer Bewegung in den
Beruf eingewiesen werden, sich zur epochenkonformen politischen Vormacht zu
erheben.
Summary
Oswald Jünger’s “Prussianism and Socialism” on the one hand and Ernst Jünger’s
“Workers” on the other are connected with each other by an identical ideopolitical
purpose. The purpose was the Prussian-German conversion of the Marxist-orien-
tated socialist workers’ movement, with the intention of thereby modernizing the
latter. The aim was to bring this movement into better correspondence with the
challenges of technological civilization. At the same time, Germany as both the
land of origin and the main representative of the socialist movement, was to be
encouraged to take the role of political preeminence upon itself in conformity with
the epoch.
ZfP 40. Jg. 2/1993
Helmut Dahm
Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter — Ist das Zeitalter der
Ideologien zu Ende?
Teil I
Von den Medien nahezu völlig unbeachtet, starb am 5. November 1991 in Rom
Pater Gustav Andreas Wetter, Mitglied des Jesuitenordens und Professor emeritus
für Russische und Marxistische Philosophie der Päpstlichen Universität Grego-
riana.
Lebensdaten
Am 4. Mai 1911 in Mödling bei Wien (Niederösterreich) geboren, hatte er im
März 1990 — fast neunundsiebzigjährig - sein letztes wissenschaftliches Amt, die
Leitung des von ihm gegründeten und aufgebauten Centro di Studi Marxisti
(CSM), an den 38 Jahre jüngeren Pater Bernd Groth SJ übergeben, der an der Gre-
goriana seit 1985 Fundamentaltheologie lehrt; im Jahr 1986 erschien von ihm in
Frankfurt/Main das Buch »Sowjetischer Atheismus und Theologie im Gespräch«
mit einem Vorwort Wetters. Außerdem leitet er die am 30. November 1985 in Rom
gebildete Delegatio pro Rebus Russicis des Jesuitenordens und vertritt an der Grego-
riana auch das Studienfach »Informatik«. Derart vielfalug in Anspruch genom-
men, kam Professor Pater Groth erst Ende Januar 1992 dazu, mir mitzuteilen, was
am 5. November des Vorjahres auf der Krankenstation der Gregoriana mit Gustav
Andreas Wetter geschehen war: Rex gloriae vocaverat eum ad se et sanctus angelus
perduxerat anımam eius ad patriam paradisi.
Schon als Vierzehnjähriger hatte Gustav A. Wetter 1925 mit dem Studium der
russischen Sprache begonnen und auch angefangen, sich für die politischen und
religiösen Verhältnisse in Rußland zu interessieren. Nach der Reifeprüfung am
Elisabeth-Gymnasium (Wien V) im Jahr 1930 trat er in das am 15. August 1929
offiziell errichtete Pontificium Collegium Russicum in Rom ein, um sich zum
römisch-katholischen Priester für Rußland ausbilden zu lassen. Von 1930 bis 1936
studierte er an der Päpstlichen Gregorianischen Universität, wo er sowohl das Dok-
torat der Philosophie als auch das Lizentiat der Theologie erwarb. Am Weih-
nachtsfest des Jahres 1935 wurde er in Rom nach byzantinisch-slavischem Ritus
zum Priester geweiht und im September 1936 in die Gesellschaft Jesu aufgenom-
men. Danach folgte ein Jahr Noviziat in Zagreb. Von dort zurückgekehrt, wid-
mete Wetter sich am Päpstlichen Orientalischen (Ostkirchlichen) Institut in Rom dem
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 159
Sonderstudium der Kirchlichen Ostwissenschaften, das er im Jahr 1941 mit einer
Dissertation bei Professor Pater Bernhard Schultze SJ über die All-Einheitsmeta-
physik des russischen Religionsphilosophen Lev Karsävin (1882-1952) und der
Erlangung des akademischen Titels Doctor Scientiarum Ecclesiasticarum been-
dete.
Im Juli 1942 zog die deutsche Wehrmacht den Österreicher Wetter zum Kriegs-
dienst ein, den er anfangs bei der Sanität in Oberbayern, später bei einer Dolmet-
scherkompanie in München und schließlich bei der Dolmetscherlehrabteilung in
Berlin leistete. Im Mai 1943 wurde er wegen seiner Zugehörigkeit zum Jesuitenor-
den aus dem Dienst entlassen.
Ab Herbst 1943 begann Gustav A. Wetter als Dozent für Geschichte der Russi-
schen Philosophie am Päpstlichen Ostkirchlichen Institut auch Vorlesungen über
deren sowjetmarxistische Gestalt zu halten. Aus diesen Vorlesungen entstand die
italienische Urfassung seines Hauptwerkes über den dialektischen Materialismus,
seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion; sie erschien Ende des Jahres
1947 in dem fast ausgesprochen kommunistischen Verlag Giulio Einaudi in Turin
mit einem Umfang von 431 Druckseiten. Viereinhalb Jahre später - 1952 — legte
der Verlag Herder in Wien die erste deutsche Ausgabe des Werkes vor, das inzwi-
schen um 200 Druckseiten gewachsen war. Die 4. Auflage erschien 1958 ın Wien
und Freiburg/Brsg. abermals bearbeitet und erweitert, und schließlich gab es im
Jahr 1960 noch eine 5. deutsche Auflage.
In der Zeit von 1947-1949 war Gustav A. Wetter Vize-Rektor und danach bis
1954 Rektor des Pontificium Collegium Russicum. Anschließend begann er auch an
der Päpstlichen Universität Gregoriana Vorlesungen über Russische und Marxisti-
sche Philosophie zu halten. Im Jahr 1957 wurde er mit dieser Fachbezeichnung
ordentlicher Professor am Päpstlichen Ostkirchlichen Institut, wo er zuvor als
Extraordinarius gewirkt hatte. Im Jahr 1970 rückte er an der Gregoriana zum
Ordinarius seines Fachs auf, gründete dort das »Zentrum für marxistische Stu-
dien« und setzte seine Lehrtätigkeit am Orientalischen Institut als Professor invita-
tus fort. Obwohl ab 1981 offiziell emeritiert, konnte er bis zu seinem 73. Lebens-
jahr (1984) in beschränktem Umfang auch weiterhin Vorlesungen halten, und das
»Zentrum für marxistische Studien« leitete er noch bis März 1990.
Berufliches Wunschbild
Den Eintritt Wetters in das Päpstliche Russische Kolleg im Jahr 1930 hatte der
pastorale Wunsch bestimmt, nach seiner dortigen Ausbildung als Arbeiterpriester
in Rußland tätig zu werden. Zu diesem Zweck erlernte er auch das Kraftfahrzeug-
handwerk. In der Wirklichkeit aber kam alles ganz anders. Aus der ursprünglichen
Absicht — Wetter nannte sie seinen Traum -, »nach einer Schnellausbildung von
zwei, drei Jahren« so rasch wie möglich in den apostolischen Einsatz nach Ruß-
land zu gelangen, wurde ein erfülltes und erfolgreiches Leben und Wirken als Wis-
senschaftler. Beides war vom Herbst 1943 an der Forschung und Lehre auf dem
Gebiet der russischen und marxistisch-leninistischen Philosophie gewidmet, die er
ZfP 40. Jg. 2/1993
160 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
am Päpstlichen Ostkirchlichen Institut, an der Päpstlichen Gregoriana-Universität
in Rom und am dortigen Centro di Studi Marxisti insgesamt fast ein halbes Jahr-
hundert lang vertrat, darstellte und — soweit es sich dabei um die marxistisch-leni-
nistische Gestalt der russischen Philosophie, um die kommunistische Weltanschau-
ung und Ideologie in ihrer Gesamtheit handelte — kritisch untersuchte und wider-
legte. Am 4. Juli 1990 schrieb er mir, daß der »Tag X« des Einsatzes von rémisch-
katholischen Priestern in Rußland jetzt wohl gekommen sei. Zwar könne er selbst
nicht mehr dorthin gehen, dafür sei er inzwischen zu alt und zu schwach. Doch
habe der gütige Gott ihm eine andere Form des Einsatzes gewährt: Er, Wetter,
habe durch seine Schriften wesentlich dazu beitragen dürfen, den Anbruch des
Tages X vorzubereiten. Jetzt komme er sich vor wie Moses auf dem Berg Nebo:
Dieser habe das Volk Gottes zwar an das verheißene Land heranführen, aber nicht
mit ihm hineinziehen dürfen‘.
Wissenschaftliche Leistungen
Durch sein Hauptwerk über den dialektischen Materialismus — es war übrigens
Georgij Plechanov, der diesen Ausdruck zum ersten Mal benutzte, als er 1894 ın
seinem Buch »Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung«
Marx als den »Vater des modernen dialektischen Materialismus« bezeichnete -
wurde Gustav A. Wetter zum eigentlichen Begründer der Philosophischen Sowjetolo-
gie. Der Text der 4. deutschen Auflage erschien 1958 englisch in London und New
York, 1962 französisch in Paris und 1963 spanisch in Madrid. Den gleichen Erfolg
hatte die Darstellung und Kritik des dialektischen und historischen Materialismus
wie auch der politischen Ökonomie des Kapitalismus aus marxistisch-leninisti-
scher Sicht im ersten Band der Fischer-Edition »Sowjetideologie heute« im Jahr
1962. Eine spanische Ausgabe folgte 1964 in Barcelona, eine französische 1965 in
Paris und eine englische 1966 in London. »Die Umkehrung Hegels«, 1963 philoso-
phische Pilot-Veröffentlichung des Kölner »Bundesinstituts zur Erforschung des
Marxismus-Leninismus« (Band 1 der Beiträge zur Sowjetologie), dessen Wissen-
schaftlichem Direktorium Professor Wetter von 1961 bis 1970 angehörte, ging
1964 in die zweite Auflage. Kurz vor der Veröffentlichung der bearbeiteten und
erweiterten 4. Auflage von »Der dialektische Materialismus« gab Rowohlt im Mai
1958 Wetters »Philosophie und Naturwissenschaft in der Sowjetunion« heraus.
Dieser in der Reihe »rowohlts deutsche enzyklopädie« vorgelegte Text stellte, vom
Quellenteil zu Marx, Engels und Lenin abgesehen, das völlig neu erarbeitete
5. Kapitel von Teil II des Wetterschen Hauptwerkes dar. Er behandelte in neun
1 Als im Jahr 1773 die Gesellschaft Jesu von Papst Clemens XIV. aufgehoben wurde (Wie-
derherstellung durch Papst Pius VII. im Jahr 1814), bot Zarin Katharina II. dem Jesuiten-
orden die Möglichkeit, seine Tätigkeit in Rußland fortzusetzen, bis Zar Aleksandr 1.
diese im Jahr 1820 untersagte und die Jesuiten des Landes verwies. 1992 wurde der Orden
beim Russischen Justizministerium erneut registriert. Zur Zeit hat die Russische Abtei-
lung der Gesellschaft Jesu 25 Mitglieder (Moskau-News/Deutsche Ausgabe, Moskau und
Köln, 12/1992, S. 10; fortan MN-DA).
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 161
Abschnitten die ideologierelevante Deutung der Quantenphysik, Relativititstheo-
rie, Atomphysik, modernen Chemie, Kosmologie und Kosmogonie, Entstehung
des Lebens, Zelltheorie, Vererbungslehre, Anthropologie und Psychologie. Aus
der im 6. Abschnitt des neuen Kapitels 5 von Teil II des DiaMat untersuchten
Koazervat-Theorie des sowjetischen Biologen Aleksändr I. Opärin entstand die
1958 vom Verlag A. Pustet in Salzburg und München herausgegebene Schrift
»Der dialektische Materialismus und das Problem der Entstehung des Lebens«.
Am Ende seines geistigen Schaffens wandte Gustav A. Wetter sich wieder jenem
Gegenstandsbereich zu, an dem er stets hauptsächlich interessiert gewesen war: der
Russischen Philosophie. In einer subtilen Studie unter dem Titel »Ursprünge und
erste Entwicklung der russischen Philosophie« legte er »Gedanken zu einer Philo-
sophie ihrer Geschichte« aus, die posthum alsbald in dem von Assen Ignatow und
mir betreuten Werk über die nichtmarxistische Philosophie Osteuropas im
20. Jahrhundert veröffentlicht werden. Es entbehrt in diesem Zusammenhang
nicht einer gewissen Ironie, daß Wetter sich als junger Dozent am Päpstlichen
Ostkirchlichen Institut — zu Beginn seines akademischen Wirkens im Herbst 1943
war er zweiunddreißigeinhalb Jahre alt - eigentlich nur »unter anderem« für den
leninistischen Marxismus in der Sowjetunion interessierte, aus gewichtigen politi-
schen Gründen dieser »Nebensache« jedoch jahrzehntelang seine ganze Aufmerk-
samkeit, Energie und Leistungsfähigkeit zuwenden mußte.
Im August 1956 hatte ich — damals Mitglied der Schriftleitung von »Ost-Pro-
bleme« bei der US-Botschaft in Bad Godesberg - den ersten Brief von Wetter
erhalten, der auf zwei Artikel von mir in den Heften 17 und 27 der Zeitschrift
»Ost-Probleme« des Jahres 1956 Bezug nahm. In diesem Zusammenhang stellte er
fest: »Es würde mich freuen, wenn ich einmal Gelegenheit fände, Sie zu besuchen,
um persönliche Bekanntschaft schließen zu können.« Unsere erste Begegnung
fand schon im folgenden Monat statt. Sie wurde zum Grundstein einer unver-
brüchlichen Freundschaft tiefer geistiger und religiöser Verbundenheit in Glaube,
Hoffnung und Liebe wie auch im Gebet, die 35 Jahre Bestand hatte.
Reaktion und Wirkung bei den Anhängern der ML-»Dienstphilosophie«
Bei seinen geistigen Gegnern in der Sowjetunion und darüber hinaus in den Län-
dern der sozialistischen Gemeinschaft und anderswo fand der Wegweiser durch
die ideologische Abgründigkeit der Zeit stärkste Beachtung. Bereits Ende 1952
hatte die Moskauer Zeitschrift »Fragen der Philosophie« anonym den Schmäharti-
kel »Ein Jesuitenpater als Kritiker des dialektischen Materialismus« publiziert?.
Doch erst mit dem Erscheinen der bearbeiteten und erweiterten 4. Auflage des
»Dialektischen Materialismus« von Wetter ging die Namenlosigkeit der marxi-
stisch-leninistischen »Dienstphilosophie« in ihrer schweigsamen Reaktion auf des-
2 Voprosy filosofii (VF), Moskau, Nr. 6, 1952: »Materialist: Otec-iezuit v roli kritika dialek-
titeskogo materializma (O knige G. Vettera »Dialektiteskij materializm. Ego istorija i ego
sistema v Sovetskom Sojuze«. Vena 1952)«, S. 127-137.
ZfP 40. Jg. 2/1993
162 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
sen scharfsinnige Analyse und Kritik zu Ende. Im Jahr 1959 begann in den Uni-
onszeitschriften »Filosofskie nauki« (Moskau, Nr. 3; Verfasser S. I. Popév) und
»Voprosy filosofii« (Moskau, Nr. 12; Verfasser F. T. Archipcev) eine Rezensions-
offensive, deren ersten Text ich damals deutsch in den »Ost-Problemen« zugäng-
lich machte’. Nur Georg Klaus hatte sich mit seinem Buch »Jesuiten, Gott, Mate-
rie«* schon zwei Jahre früher vorgewagt. In einem Artikel der ZK-Zeitschrift
»Kommunist« unter der Überschrift »Verdiente Abfuhr der neothomistischen Ver-
fälschung des dialektischen Materialismus« spendete Arsenij Gulyga dem Verfas-
ser des »Anti-Wetter« für dessen Enthüllungen großes Lob: »Klaus deckt dieses
verlogene, demagogische Geschwätz Wetters auf«°. Auch S.I. Pop6v war der
Ansicht, daß Gustav A. Wetter den dialektischen Materialismus in seinem kriti-
schen Werk »neothomistisch verfälscht« habe. Vom logischen Standpunkt aus
könne man die Urteilsmethode Wetters nicht anders denn als »sophistisch«
bezeichnen, weil er aufgrund gänzlich unwesentlicher, rein äußerer gemeinsamer
Merkmale ungleiche, qualitativ verschiedene Erscheinungen identifiziere. Die
materialistische Dialektik — ihre Gesetze und Kategorien — seien Objekt wütender
Angriffe von seiten G. Wetters. Dieser sehe seine Hauptaufgabe schließlich darın,
wirkliche und vorgebliche Fehler der sowjetischen Gelehrten aufzuspüren und von
da aus auf die Falschheit des dialektischen Materialismus zu schließen. Letzten
Endes urteile er nur insofern zutreffend, als er am Schluß seines Buches feststelle,
daß Marxismus und Thomismus ihrem Wesen nach Antipoden seien, zwischen
denen es keinen Ausgleich geben könne®. Fëdor Archipcev zog es in seiner zehn-
seitigen Rezension des Wetterschen Hauptwerkes zwar vor, sich auf den Begriff
der Materie und die Grundfrage der Philosophie zu beschränken. Außerdem
berücksichtigte er in seiner kritischen Stellungnahme auch die Buchveröffentli-
chung von Heinrich Falk SJ »Die Weltanschauung des Bolschewismus«’ und die
weitere von Jözef I. M. Bochefiski »Der sowjetrussische dialektische Materialis-
mus«®. Für ihn stand aber ebenso eindeutig fest, daß das dialektisch-materialisti-
sche Verständnis der Materie von den Neothomisten entstellt wiedergegeben
werde. In dieser Hinsicht sei der Jesuit Wetter als Fälscher des Marxismus allge-
mein bekannt°.
3 Ost-Probleme (O-P), Bad Godesberg-Bonn, Doppelheft 25/26, 1959, S. 826-832 (Heikle
Rezensionen 1): »S. I. Popov: Protiv neotomistskoj fal’sifikacii dialektiteskogo material-
izma (Po povodu éetvertogo izdanija knigi G. Vettera »Dialekuteskij materializm. Ego
istorija i sistema v Sovetskom Sojuze«) in: Filosofskie nauki (FN), Moskau, Nr. 3, 1959,
S. 127-132«.
4 Berlin/Ost 1957.
5 A. Gulyga, »Dostojnyj otpor neotomistskoj fal’sifikacti dialektiteskogo materializma (G.
Klaus, >Iezuity, bog, materija:, Berlin 1957, 351 str.)« in: Kommunist, Moskau, Nr. 12
(August), 1958, S. 113-117, dort S. 114.
6 Siehe O-P, Nr. 25/26, 1959, S. 826-832 (vgl. Fußnote 3).
7 Würzburg 71956.
8 Bern 1950; München 1956.
9 F.T. Archipcev, »Ponjatie materii i osnovnoj vopros filosofii (Der Begriff der Materie
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 163
Diesem Präludium waren nach und nach unzählige Arbeiten über Gustav A.
Wetter in Artikel- oder Buchform, als Dissertation oder Habilitationsschrift
sowohl in der Sowjetunion als auch in den Ländern der sozialistischen Gemein-
schaft gefolgt. Man wird daher mit Gewißheit sagen können, daß kein anderer
namhafter Kritiker der marxistisch-leninistischen Ideologie bei ihren Repräsentan-
ten und Anhängern ein solches Ausmaß an Beachtung gefunden hat wie er. Sein
gewaltiges Verdienst kann mithin nur in Adäquation zu diesem Sachverhalt mit
hinreichender Genauigkeit bestimmt werden.
Besorgnis um die Zukunft Rußlands
Der letzte ausführliche Briefwechsel zu Sachfragen zwischen Gustav A. Wetter
und mir fand von Sommer bis Herbst 1990 statt. Nicht von ungefähr schrieb er im
Juli des Jahres: »Jetzt stehen wir Sowjetologen vor der Frage >was nun?« Wie stellst
Du Dir und stellt man sich im Bundesinstitut die Zukunft der Sowjetideologie vor?
Ihr Ziel, uns alle brotlos zu machen, scheint ja weitgehend erreicht zu sein.« Ich
gab eine detaillierte Antwort, die fast schon den Charakter einer wissenschaftli-
chen Untersuchung annahm und deshalb etwas auf sich warten ließ. Sie lief hin-
sichtlich des Hauptgegenstands unserer gemeinsamen Beobachtung der Ereignisse
auf die erklärte Feststellung hinaus, daß - so lautete das Facit in meinem Brief vom
4. September 1990 — »die Ideologie so lange im Wege stehen wird, bis es zur wirk-
lichen Revolution kommt«.
Wetters Rückäußerung traf Anfang Oktober ein. Meine Analyse hatte ihn sicht-
lich erschreckt; und sie hatte seine heimliche Besorgnis, die scheinbar friedfertig
gewordene Ideologie der Welteroberung mache ihre bisherigen Kritiker mundtot
und überflüssig, unverkennbar noch verstärkt. Denn er zitierte nun aus dem ersten
Paulus-Brief an die Thessalonicher den Satz: Wenn die Menschen »sagen werden:
Friede und Sicherheit, dann überfällt sie plötzlich Verderben ..., und sie werden
nicht entrinnen« (5,3). Drei Verse weiter folgt dort bekanntlich die auch im ersten
Petrus-Brief (5,8) enthaltene dringende Empfehlung: Deshalb »laßt uns wachsam
und nüchtern sein« (Paulus 5,6). Diese Sentenz: »Sobrii estote, et vigilate — Seid
nüchtern und wachsam (Petrus 5,8)« wählte ich als Titel meines Buches über
»Gustav A. Wetter und die Philosophische Sowjetologie«:°. Dieses Buch hätte
eigentlich den Lebenden aus Anlaß seines 80. Geburtstags ehren sollen, konnte
aber wegen meiner Arbeitsbehinderung durch vielfältig geleistete Hilfe für den
Osten und dortige aktuelle politische Vorgänge wie Putschversuch und vierte rus-
sische Revolution des Jahrhunderts, die darın noch zu berücksichtigen waren, lei-
der erst nach Wetters Tod erscheinen.
Dieser bedeutende, persönlich überaus bescheidene Mann hat sich um Rußland
und seine Menschen, die er aufrichtig liebte, in ganz besonderer Weise verdient
und die Grundfrage der Philosophie)« in: VF, Nr. 12, 1959, S 143-152, dort besonders
S. 146.
10 München 1991, 355 S.
ZfP 40. Jg. 2/1993
164 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
gemacht. Mit herzhaft treffsicherem Humor befand Professor Pater Eduard
Huber SJ, der Wetters Totenzettel schrieb: »Womöglich wollte er schon von der
Wiege an nach Rußland.«
Was mich selbst betrifft, so werde ich Gustav Andreas Wetter - meinem großen
persönlichen Vorbild - für das kostbare Geschenk seiner Freundschaft zeitlebens
dankbar sein.
Teil II
Zum Existenzrecht einer kritischen Ostwissenschaft
Der schon von Vasilij Rözanov in seiner »Apokalypse unserer Zeit«!! 1917/18 für
auf die Russische Geschichte herabgesenkt erklärte »eiserne Vorhang« hat sich
teilweise - man denke mit Einschränkung an die Volksrepublik China — wieder zu
heben begonnen. Kann man folglich — wenigstens für Rußland sowie den Osten
und die Mitte Europas — das Zeitalter totalitärer Entartung der Geistesgeschichte als
beendet und abgeschlossen betrachten? Ich meine: zumindest vorerst nicht! Dieses
deutliche »Nein!« und den mit ihm verbundenen Fortbestand des Aufrufs zu
Nüchternheit und Wachsamkeit — damit aber auch den Fortbestand des Existenz-
rechts einer kritischen Ostwissenschaft — möchte ich an Hand einiger zukunfts-
orientierter Argumente einsichtig machen.
Verdrehung der Wahrheit
Die Überlebensfähigkeit der sozialistischen Idee wird in hohem Maß davon abhän-
gen, wie man die Gestalt Gorbadévs zeitgeschichtlich einschätzt und beurteilt.
Die in New York lebenden und arbeitenden Publizisten Lev Alburt und Larry
Parr lieferten dazu in der Juli/September-Ausgabe 1992 des Ost-West-Forums
»Kontinent« eine eindrucksvolle und überzeugende Vorlage. In ihr wurden die
»Glaubenssätze der westlichen Gorbilatrie« dem in der ehemaligen Sowjet-
union gefällten Schuldspruch der Geschichte über Gorbatév konfrontiert. Die bei-
den Verfasser des Artikels unter dem bezeichnenden Titel »Wird Gorbatschow,
gleich Lenin, immer mit uns sein?« führten aus: »Wir meinen, daß es seit der
Geschichtsklitterung, die im Zweiten Weltkrieg aus Stalin den guten >Uncle Joe:
machte, keine größere Verdrehung der Wahrheit gegeben hat als die Verwandlung
Michail Gorbatschows aus einem verhaßten und blutrünstigen Diktator in den -
nach so manchem Urteil im Westen — bedeutendsten Mann des Jahrhunderts.« !2
Seit Jahren sei kein noch so schäbiges Argument verschmäht worden, wenn es
gegolten habe, für Gorbačëvs Politik Stimmung zu machen.
11 Apokalipsis našego vremeni, Sergiev Posad 1917/18; gemeint ist dort der siebenzeilige
Aphorismus »La Divina Commedia«. Siehe Evgenija Ziglevit, Rozanov - Izbrannoe
(Rozanov — Ausgewähltes), München 1970, S. 494.
12 Kontinent: Ost-West-Forum, Stuttgart-Bonn, Nr. 62, Heft 3, 1992, S. 73-84, dort S. 75.
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 165
Die westlichen Volksfrontjournalisten und Volksfrontakademiker hatten Gorba-
&&vs Überleben zu ihrem ureigensten Anliegen gemacht und ihn als moralisches
wie als politisches Symbol gepriesen. Inzwischen erscheine er in den Medien als
hochbezahlter Märtyrer und Prophet eines reformierten Sozialismus (z. B. am
15.9.1992 abends im ZDF). Man könne fast sicher sein, daß der sich abzeich-
nende Hunger und die Entbehrungen in Rußland und den neuen Staaten des einst
sowjetischen Eurasiens nicht als die letzten Zuckungen des zusammengebrochenen
Kommunismus dargestellt würden, sondern als der unbarmherzige Tribut an den
wiedergeborenen Kapitalismus. Und schließlich sei anzunehmen, daß Gorbatév
demnächst als die humane, vom Sowjetsystem selbst hervorgebrachte sozialistische
Alternative gehandelt werde, die man bedauerlicherweise zu schnell demontiert
habe ».
In einem Artikel über den professionellen Nonkonformismus der linken Intelli-
gencija im nachkommunistischen Rußland, der im August des Vorjahres in der
Zeitschrift »Kontinent«", erschien, schrieb Dora Starman, namhafte, 1923 in der
Ukraine geborene, jetzt in Israel lebende russische Philologin und Historikerin:
»Gorbatschows Adresse an die Spitze der Staaten, die sich am Samstag,
dem 21. Dezember 1991, ın Alma-Ata versammelten, hat noch einmal
gezeigt, daß er sich von Anfang an innerhalb einer Utopie bewegte ...; bis
heute hat er - wie auch während der vorausgegangenen sechseinhalb Jahre —
weder eine analytische noch eine konstruktive Idee gehabt... . Subjektiv ist er
nie ein Gegner des Sozialismus gewesen oder geworden. So ist er auch 1985
nicht über sein Weltverständnis hinausgelangt. Er hat lediglich die Phraseo-
logie geändert, überdies mit Rückfällen in die Vergangenheit. Mit allem, was
er getan und nicht getan hat, beschleunigte er die unvermeidliche Zerstörung
dessen, was er erhalten, stärken und verbessern wollte (die Sowjetunion und
den Sozialismus). Er hat nicht versucht, irgend erwas anderes als Ersatz auf-
zubauen, weil er keine der fundamentalen Grundlagen der sowjetischen Gesell-
schaftsordnung durch irgend etwas prinzipiell anderes ersetzen wollte.« $
13 Siehe ebd., S. 73.
14 Dora Stürman, »Und wenn es diesmal kein Trugbild ist? Die professionellen Nonkonfor-
misten im postkommunistischen Rußland« in: Kontinent, Heft 3, 1992, S. 15-22. Siehe
auch Dora Starman und Sergej Tiktin, Ekonomika katastrof (Die Katastrophenwirtschaft),
Overseas Publications Interchange Ltd., London 1991, 192 S.
15 Kontinent, Heft 3, 1992, S. 15 f. - Was die SNG/GUS-Idee berrifft, so ist sie durchaus
nicht gleichsam vom Himmel gefallen. Der sowjetische Volksdeputierte Aleksandr Zurav-
lev schrieb im Oktober 1991 einen Artikel für die Zeitschrift Narodnyj deputat des Ober-
sten Sowjet der UdSSR, der unter dem Titel »Eine Union soll sein, aber was für eine?«
(Sojuzu byt’, no kakomu?) in deren Nr. 17, 1991 (S. 34-38) erschien. Der Verfasser erör-
terte dort drei Antwortvarianten zu dieser Frage, wobei er der dritten eindeutig den Vor-
zug gab. In diesem Zusammenhang führte Zuravlev aus: »Die dritte Variante ist der Vor-
schlag, den Aleksandr Solženicyn in seiner Denkschrift »Wie wir Rußland wieder auf-
bauen müssen: (Kak nam obustroit’ Rossiju [Beilage der Zeitung Komsomol’skaja pravda,
Moskau, vom 18. September 1990, S. 1-16]) gemacht hat. (...) Das Modell Solzenicyns
für den Wiederaufbau Rußlands erscheint mir als das realistischste. Geschichtlich entstand
ZfP 40. Jg. 2/1993
166 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
Gorbaéév sei - so Dora Starman weiter — nur in der einen Hinsicht von veralteten
kommunistischen Klischees abgerückt, daß er annahm, die Kapitalisten wären bereit,
den Bol’seviki den Strick, an dem diese sie dann aufhängen würden, zu schenken -
anstatt zu verkaufen, wie seinerzeit Lenin geglaubt hatte. Dazu führte sie aus:
»Daß der Traum vom kostenlosen Strick für die Kapitalisten den treuen
Leninisten [Gorbadéév] . . . nicht verlassen hatte, belegen viele unlängst in der
früheren UdSSR veröffentlichte Dokumente, ... die mit dem Namen Gorba-
tschows verbunden sind. [Sie] belegen, daß in den Blütejahren des »Neuen Den-
kens«, der allgemeinen Gorbimanie im Westen, der Verleihung des Nobelprei-
ses und der Brüderschaft zwischen dem Generalsekretär und dem deutschen
Bundeskanzler die Bemühungen der Bolschewiki, ihre Wohltäter im Westen zu
erdrosseln, für keinen Moment eingestellt wurden. Die genaue Klärung des Aus-
maßes und der Verschiedenartigkeit dieser Bemühungen liegt noch vor uns.
Alle Empfänger von praktisch kostenlosen (aus der Tasche des Westens
[gezahlten]) Subsidien seitens der Sowjetunion bereiteten für den Westen
(ich unterstreiche ...:... zw Gorbatschows Zeiten) ganz im Sinne Lenins
diese Schlinge vor.« +%
Eine westliche Form des Personenkults
Die ständige nachträgliche Identifizierung Gorbatévs mit dem, was er eigentlich
nicht gewollt, sondern gerade zu verhindern getrachtet hatte, kennzeichnete nicht
nur seinen politischen Stil, sondern bildete auch die Grundlage des Personenkults,
den man im Westen mit ihm trieb. Das diesbezügliche Verhaltensmuster sah folgen-
dermaßen aus: Zunächst handelte er gemäß seinem eigenen Parteiinstinkt. Stieß er
dabei auf energischen Widerstand, so wich er zurück und machte sich das zu
eigen, was ihm ursprünglich als unannehmbar erschienen war, wofür er dann
schließlich den Beifall des Westens bekam. Hier einige besonders augenfallige Bei-
spiele dieses nicht gerade vertrauenswürdigen Verhaltens:
— Gorbacévs Kriegsführung in Afghanistan: Brutale Flächenbombardierung afghani-
scher Dörfer und eine Reihe von Großoffensiven ab dem Frühjahr 1985 und im
Lauf des Jahres 1986 — zeigte, daß er fest entschlossen war, die in der letzten
Dezemberwoche des Jahres 1979 von Bréznev begonnene militärische Interven-
Rußland als slavisch-türkischer und als christlich-muslimischer Staat. Und deshalb ist es der
Russischen Föderation, der Ukraine, Weißrußland und Kazachstan möglicherweise
beschieden, zum Anfang einer neuen Union zu werden — und zwar bei einem erneuerten
Rußland. Ist doch zudem gerade hier das Nuklearpotential des Landes konzentriert,
gegen dessen Zerstückelung die Weltgemeinschaft Einspruch erhebt, weil sie darin eine
wirkliche Bedrohung ihrer Existenz sieht. Daher halte ich es für notwendig, einen
Gedanken offenzulegen, der hin und wieder ausgesprochen wird, — den Gedanken von
der Rückkehr zu den Ursprüngen der Geschichte des rußländischen Staates. Die Oktoberrevo-
lution zerriß die Kette der Zeiten. Jetzt geht es darum, die Glieder der zerrissenen Kette
wieder zu verbinden und sich nicht auf Mutmaßungen, sondern auf Tatsachen zu stüt-
zen« (ebd., S. 36).
16 Kontinent, Heft 3, 1992, S. 16.
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 167
tion durch einen erfolgreichen Sieg zu krénen. Dabei hatte er keine praktischen,
geschweige denn moralischen Bedenken. Als er sich schließlich doch noch zu
einer politischen Lösung des Konflikts bereit fand und mit den Vereinigten Staa-
ten vereinbarte, als Gegenleistung für deren Einstellung der Lieferung von Strin-
ger-Luftabwehrraketen an die Mudschahidin-Rebellen aus Afghanistan abzu-
ziehen, hatte er den Krieg dort nicht beendet, sondern verloren. Dies war nicht das
Ziel, das er eigentlich hatte erreichen wollen.
- Gorbacévs beträchtliche Einschränkung des aus der Breznev-Zeit stammenden sowje-
tischen Ein- und Ausreise-Gesetzes im Jahr 1986 reduzierte die Emigrationsrate
auf ein Zehntel des vorherigen Niveaus. Fachleute schätzten, daß 95 Prozent
der Visumanträge, die unter Brežnev gestellt werden konnten, unter Gorbatév
als unzulässig galten. Erst als die USA hart reagierten und den sowjetischerseits
mit aller Kraft angestrebten Meistbegünstigungsstatus im Handel verweigerten,
änderte Gorbaéév seine Emigrationspolitik. Auch dies war nicht das Ziel, das er
eigentlich hatte erreichen wollen.
— Auf dem 1. Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR gab es am 2. Juni 1989 einen
entlarvenden Zwischenfall: Ein junger Major der sowjetischen Streitkräfte
beschuldigte den Nobelpreisträger Andrej Sacharov in der übelsten Weise, die
sowjetischen Afghanistan-Kämpfer beleidigt zu haben. Daraufhin erhob Gorba-
čëv sich mit dem Rest seines Politbüros (Aleksandr Jäkovlev und Eduard
Sevardnädze), um dem Major zu applaudieren. Während Gorbaéév so den Ein-
druck eines gekränkten militärischen Verlierers machte, sagte Sächarov ruhig:
»Der Krieg in Afghanistan war ein verbrecherisches Abenteuer ... Ich gebe zu,
diejenigen beleidigt zu haben, die die verbrecherischen Befehle dazu gaben
— Bis zum 3. Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR lehnte Gorbatév den poli-
tischen Pluralismus — ein Mehrparteiensystem — entschieden ab. Wenige Tage vor-
her hatte er auf der Sitzung des Redaktionsausschusses zur Textdnderung der
Artikel 6 und 7 der Sowjetverfassung vom 7. Oktober 1977, die dem 3. Volkskon-
greß vorgelegt werden sollte, noch versucht, die KPdSU vor dem drohenden Ver-
lust des politischen Monopols zu bewahren. Am 14. März 1990 ordnete der Kon-
greß jedoch kategorisch an, den Artikel 6 ersatzlos aus der geltenden UdSSR-Ver-
fassung zu streichen. Dies war abermals nicht das Ziel, das Gorbatév eigentlich
hatte erreichen wollen. Gleichwohl schrieb man im Westen das Ergebnis seinen
Bemühungen zu.
— Der von Gorbacév im Juni 1990 vorgelegte Pressegesetzentwurf sollte die Zensur
legalisieren, das Samizdat zerstören und die Presse auf die Funktion einer
»mächtigen und zuverlässigen Waffe der Partei« reduzieren. Am /. August 1990
verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR ein Gesetz über die Presse und
andere Medien, das erstmalig in der sowjetischen Geschichte eine - wenn auch unge-
nügende — gesetzliche Grundlage für die Existenz einer oppositionellen Presse schuf.
Es ist zwar kaum zu glauben, aber Gorbatév wurde dafür gepriesen, daß er die-
ses Gesetz ermöglicht habe. Am 16. Januar 1991 — mitten im Fiasko, das er im
ZfP 40. Jg. 2/1993
168 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
Baltikum erlitt — versuchte er vergeblich, das Gesetz rückgängig zu machen.
Wiederum war etwas geschehen, was er eigentlich gar nicht gewollt hatte.
— Im Sommer 1991 korrigierte eine unter Gorbačëvs Vorsitz tätige Sonderkommis-
sion den Vertragstext über die sogenannte »Emeuerung der sowjetischen Födera-
tion«. Diesen Text, der am 27. Juni 1991 veröffentlicht wurde, hatten die Repu-
bliken Rußland, Kazachstan, Uzbekistan, Tadzikistan und Weißrußland im Mos-
kauer Vorort Novo-Ogarévo mit der Union erarbeitet. Anfang Juli billigte ihn
der Oberste Sowjet der RSFSR mit dem Vorbehalt, daß der antizentralistische
Akzent des Vertragswerks durch Textnachbesserung stärker zum Ausdruck
gebracht werden müsse. Am 12. Juli 1991 stimmte auch der Oberste Sowjet der
UdSSR dem Vertragstext von Novo-Ogarévo als Grundlage der künftigen
neuen Union zu. Gleichzeitig empfahl er der vorgenannten Sonderkommission,
den ursprünglichen Entwurf zu korrigieren. Daraufhin nahm diese eben jene
Bestimmungen wieder in den Vertragstext auf, die wegen ihres zentralistischen
Anspruchs zuvor von den Republiken gerade entfernt worden waren. Dement-
sprechend stellte Nikoláj Nöwikow fest: »Die ... Formel von der »Erneuerung
der Föderation: [obwohl die Sowjetunion nie eine Föderation war] bezeichnete
nichts anderes als eine Schönheitsoperation am Stalinschen Zentralstaat, d.h. die
Schaffung einer erwas abgemilderten Variante dieses Staates. Genau das war im
Entwurf des Unionsvertrages [von Gorbatév] auch beabsichtigt. Nach diesem
Entwurf sollte die Zentralregierung der reformierten Union über nahezu unbe-
grenzte Machtbefugnisse verfügen. In ihrer ausschließlichen Kompetenz sollten
liegen: die Verteidigung ... und Führung der Streitkräfte, die gesamte
Rüstungsindustrie, die Staatssicherheitsorgane, die Außenpolitik und die inter-
nationalen Wirtschaftsbeziehungen ..., die Aufstellung und Ausführung des
Unionshaushalts und die Zuständigkeit für ein landesweit einheitliches Banken-
system ..., Lufttransport und Atomenergie.« !
Die neuerliche Veröffentlichung des verfalschten Vertragstextes der Sonderkom-
mission erfolgte am 15. August 1991; die fünf Partner-Republiken sollten ihn am
20. August 1991 unterschreiben. Die Deputierten der Sowjets der Republiken
befanden sich im Urlaub. Die Demokraten in Rußland und die Mehrheit ihrer
Parlamentarier waren empört. Sie fühlten sich mit den Obersten Sowjets der
Partner-Republiken des Vertrags getäuscht, hintergangen und betrogen.
Das Verhängnis der gemischt-konfrontativen Gesellschaft
Im Unterschied zu den blutigen europäischen Revolutionen fehlt der russischen
August-Revolution des Jahres 1991 das Element der Schreckensherrschaft und der
existentiellen Beseitigung ihrer Feinde durch so etwas wie
— the Army of the Saints and the pious Ironsides,
— la grande terreur et le Comité de salut public und schließlich
17 Nikolaj Nowikow, »Die Sowjetunion vor und nach der August-Revolution« in: Konti-
nent, 18. Jg. Nr. 60, Heft 1, 1992, S. 6-24, dort S. 10.
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 169
- die von Karl Marx 1850 in seiner Schrift über »Die Klassenkampfe in Frank-
reich 1848 bis 1850« zum erstenmal so genannte Diktatur des Proletariats: dik-
tatura proletariata.
Die bol’evistische Variante der Diktatur des Proletariats'* hans zur Folge, daß in
etwas mehr als zweieinhalb Jahren — nämlich von Ende 1917 bis August 1920 — die
Bevölkerung Rußlands um 8,3 Millionen Menschen zurückging. Im gleichen Zeit-
raum verlor Moskau 42,3 Prozent und Petrograd sogar 69,4 Prozent seiner Bevöl-
kerung. Bei den übrigen Städten Rußlands mit mehr als 50 000 Einwohnern betrug
der Verlust an Menschen immerhin noch nahezu 30 Prozent. Der russische Wirt-
schaftswissenschaftler Sergej Nikoläevi& Prokopövi& (1871-1955) stellte in seinem
1952 beim Cechov-Verlag in New York erschienenen zweibändigen Standardwerk
Narodnoe chozjajstvo SSSR (Die Volkswirtschaft der UdSSR) zusammenfassend
fest: »Am meisten hatten [während des angegebenen Zeitraums von Ende 1917 bis
August 1920] die großen Städte von der Oktoberrevolution zu leiden. Denn sie
waren die hauptsächlichen Brandherde der kommunistischen Bewegung« °, die
dort gehörig säuberte. Gar nicht zu reden von den über 60 Millionen Toten, die es
danach noch geben sollte”.
Im Vergleich dazu mußten in drei Revolutionstagen des August 1991 den
Widerstand gegen die Panzer des reaktionären Notstandskomitees der sogenann-
18 Siehe M. Piskotin (Chefredakteur), »Oktjabr’ i uroki »diktatury proletariata« (Der Okto-
ber und die Lehren der »Diktatur des Proletariats:)« in: Narodnyj deputat, Moskau, Nr. 15
(November), 1992, S. 3-6.
19 S. N. Prokopovič, Narodnoe chozjajstvo SSSR, Bd. I, New York 1952, S. 61.
20 Im April 1906 schrieb und verdffentlichte Lenin eine umfangreiche Untersuchung mit
dem Titel Der Sieg der KaDeten und die Aufgaben der Arbeiterpartei. Darin führte er den
KD-Publizisten und gelehrten Professoren einen »wissenschaftlichen Begriff der Dik-
tatur ... des revolutionären Volkes« vor. Lenins Definition lautete: »Der wissenschaftliche
Begriff der Diktatur bezeichnet nichts anderes als eine Macht, die durch nichts begrenzt,
durch keine Gesetze, durch absolut keine Regeln eingeschränkt ist und sich unmittelbar
auf Gewalt stützt« ( Werke, russ., 5. Auflage [PSS], Bd. 12, Moskau 1960, S. 320). - Mit
anderen Worten: »Diese Macht respektiert keine andere Macht und kein Gesetz, keine
Norm, von wem auch immer sie ausgeht. Unumschränkte, außergesetzliche Macht, die
sich auf Gewalt im direktesten Sinn des Wortes stützt, genau dies ist Diktatur« (ebd.,
S. 318). Diese Auffassung vertrat Lenin erst recht, als er an der Macht war, besonders in
dem 1920 in Petersburg erschienenen Buch Der linke Radikalismus als Kinderkrankheit im
Kommunismus (siehe PSS, Bd. 41, Moskau 1963, S.6 und 77) und in den »Thesen zum
II. Kongreß der Kommunistischen Internationale« vom Juni/Juli 1920, Punkt 3.1. über
»das Wesen der Diktatur des Proletariats und die Sowjetmacht« sowie 3.II. über »die
unverzüglich und allüberall vorzubereitende Diktatur des Proletariats im Weltmaßstab«
(ebd., S. 184-197). Dabei sei es auch »notwendig, hundertmal furchtloser als bisher die
Vertreter der Arbeiteraristokratie oder die verbürgerlichten Arbeiter aus allen ihren Stel-
lungen hinauszudrängen und sie nötigenfalls durch völlig unerfahrene Arbeiter zu erset-
zen, wenn sie nur mit der Masse derer, die ausgebeutet werden, verbunden sind und
deren Vertrauen im Kampf mit den Ausbeutern genießen. Die Diktatur des Proletariats
erfordert die Einsetzung solcher Arbeiter ohne Erfahrung in die höchstverantwortlichen
staatlichen Stellungen, weil sonst die Macht der Arbeiterregierung ohnmächtg ist und
nicht von der Masse unterstützt werden wird« (ebd., S. 191).
7ZfP 40. Jg. 2/1993
12
170 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
ten »Gruppe der Acht« (Vos’mérka) nur drei junge Freiheitskampfer mit ihrem
Leben bezahlen: Dmitrij Komár, Il'jd Kricevskij und Vladimir Usöv. Der Preis aber
für das — bisherige — Fehlen des großen Schreckens und die - bisherige - Unblutig-
keit der Revolution ist die gemischt-konfrontative Gesellschaft der Russischen Födera-
tion von heute auf allen Ebenen des politischen Wollens und Handelns. Die Wort-
führer ihres reichlich diffusen Erscheinungsbildes könnten das angelaufene
Reformwerk El’cins wie auch seiner Regierung erheblich verzögern, wenn nicht gar
vereiteln?!, wie die monatlichen Umfrage-Ergebnisse des Zentrums der RF zur
Erforschung der öffentlichen Meinung (VCIOM) in der Zeitschrift Moskau News
zeigen.
Zur Zeit sind drei Entwicklungstendenzen erkennbar:
1. Der sich abzeichnende Zusammenschluß der politischen Opposition, zu der die
folgenden Gruppierungen gehören:
— die »demokratischen« Kräfte im Bürgerbund »Grazdanskij Sojüz« (Nikoláj
Travkin, Aleksandr Rucköj, Arkádij Völ’skij),
— die drei großen Rechtsblöcke (Russischer Gesamtvölkischer Bund, Russische
Volksversammlung und Russische Nationalversammlung) und
— die etwa zehn neokommunistischen und sozialistischen Linksparteien (Russi-
sche Kommunistische Arbeiterpartei, Russische Partei der Kommunisten,
Bund der Kommunisten, Kommunistische Partei der Sowjetunion/Bol’3eviki,
Partei der Arbeit, Sozialistische Partei der Werktätigen u. a.).
2. Das allmähliche Anwachsen einer nostalgischen Rückbesinnung auf sozialistische
Strukturen in einer darbenden Bevölkerung.
3. Die gefährlich sich zuspitzende Konfrontation von gesetzgebender und exeku-
tiver Gewalt, also der Neigung Chasbulätovs, die Regierung parlamentarisch zu
bevormunden, und der Absicht El’cins, den Volksdeputiertenkongreß der Rus-
sischen Föderation als aufgeblähtes und überflüssiges Duplikat des Obersten
Sowjet Rußlands aufzulösen.
Wirtschaftliches Desaster
Daneben fällt die anhaltende ökonomische Talfahrt Rußlands schwer ins Gewicht.
Im Frühjahr 1992 hatten die Finanzminister der G-7-Staaten beschlossen, den
Rubel-Wechselkurs mit einem Stabilisierungsfonds von sechs Mrd. Dollar (= 10
Mrd. Mark) zu stützen. Außerdem erhielt Rußland eine Zusage über weitere 18
Mrd. Dollar (= 30 Mrd. Mark) zur Förderung des wirtschaftlichen Aufbaus. Mit
dieser Hilfestellung wurde die Russische Föderation am 27. Aprıl 1992 in den IWF
und die Weltbank aufgenommen. Zwei Monate später verkündete der russische
Wirtschaftsminister Andrej Nečáev vor dem in der zweiten Juli-Woche veranstalte-
ten Münchner G-7-Gipfel in einem Interview, die Gefahr einer Hyperinflation sei
inzwischen gebannt und folglich könne man jetzt darangehen, den Wechselkurs
21 Siehe Nikola) Nowikow, »Vor einem neuen politischen Kampf. Zur innenpolitischen
Lage in Rußland« in: Kontinent, 18. Jg., Nr. 63, Heft 4, S. 15-22.
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 171
auf der Basis: 1 Dollar = 80 Rubel zu stabilisieren, was jedoch schon zu diesem
Zeitpunkt als illusorisch galt».
Am 1. Juli 1992 wurde der Marktkurs der Währung auf der Basis: 1 Dollar =
125,26 Rubel festgesetzt und das Ziel der Konvertierbarkeit auf Anfang 1993 ver-
schoben. Trotz stetig sinkenden Dollarwertes verschlechterte sich der Wechselkurs
des Rubels innerhalb der folgenden sechs Wochen zu der Parität: / Dollar =
160 Rubel.
Die reale Wirtschaftsleistung der Sowjetunion im Jahr 1989 hatte bei einer Arbeits-
produktivität von 2,3 Prozent noch ein Wachstum von 2,4 Prozent aufgewiesen. Hin-
sichtlich beider Kennziffern wurde allerdings nur die Hälfte der jeweiligen Planvor-
gaben erreicht‘. Im Jahr 1990 verringerte sich die reale Wirtschaftsleistung der
Sowjetunion auf —5 Prozent, im Jahr des Putschversuchs auf -/7 Prozent, und 1992
war das Wachstum der Wirtschaftsleistung des Sodrszestvo Nezavisimych Gosu-
darstv (SNG/GUS) ein weiteres Mal um 20 Prozent geringer. Im Vergleich dazu
sehen die Daten der I/ndustrieproduktion Rußlands folgendermaßen aus:
1990 = ein Rückgang von -3 Prozent;
1991 = ein Rückgang von -3,4 Prozent;
1992 = ein Rückgang von -13,25 Prozent (im 1. Halbjahr) 25.
Das entspricht für die Staaten des SNG/GUS mindestens einem Rückgang der
Wirtschaftsleistung um ein Drittel, für Rußland um über 20 Prozent.
Das Investitionsvolumen der russischen Volkswirtschaft ging um fast 60 Prozent
zurück, die Exportquote sank um 30 Prozent. Die Auslandsschulden lagen Mitte
August 1992 bei 59 Mrd. Dollar, die Zahlungsrückstände gegenüber Lieferanten bei
4,5 Mrd. Dollar und die gegenseitigen Schulden der russischen Staatsbetriebe bei drei
Trillionen Rubel (was nach dem damaligen Marktkurs von 160 Rubel pro Dollar
einem Wert von 18,75 Billionen Dollar entsprach).
Der Lebensstandard in Rußland sank nach unterschiedlichen Schätzungen 1992
um 40 bis 50 Prozent, und das war vermutlich noch nicht der Tiefpunkt. Bis zum
Ende des Jahres setzte auch eine Massenarbeitslosigkeit ein. Der bekannte russische
Volkswirtschaftler Nikoláj Smelév erwartete zu diesem Zeitpunkt 6,3 Millionen
Arbeitssuchende, von denen an die 4 Millionen keine neue Stelle würden mehr fin-
den können. Die schwierigste Phase der Preisfreigabe - nämlich für Kraftstoff,
Strom, Transport, Wohnraum, kommunale Dienstleistungen, Grund und Boden
22 Siehe Wirtschaftswoche (WW), Dusseldorf, Nr. 27, vom 26. Juni 1992, S. 46 (Bernd Ziese-
mer, Interview: »Neue Vorschläge für München«).
23 Am 29. August 1992 stürzte der Rubel gegenüber dem Dollar an den Devisenbörsen: Ein
Dollar notierte 205 Rubel. Am 2. September betrug die Parität: 1 Dollar = 210 Rubel.
Das entsprach einem Wertverlust von 32,5 Prozent innerhalb von zwei Monaten (siehe
MN-DA, Nr. 10, 1992, S. 2). - Am 6. Oktober lautete der Kurs 342 Rubel pro Dollar. Bis
zum Jahresende 1992 könnten es 500 Rubel und mehr sein (siehe WW, Nr. 43, vom
16. Oktober 1992, S. 227 und 230).
24 Sıehe Pravda, Moskau, vom 28. Januar 1990.
25 Siehe Bonner Rundschau vom 27. Juni 1992, WW 24/1992, vom 5. Juni, S. 15, und WW
34/1992, vom 14. August, S. 35.
7fP 40. Ig. 2/1993
12*
172 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
und überhaupt für Immobilien — stand noch bevor. In diesem Zusammenhang
führte Smelév aus, daß »jede weitere Aktion, die im Interesse des Übergangs zur
Marktwirtschaft den Lebensstandard der Bevölkerung senkt, für die Reformer den
Selbstmord bedeuten kann«?*. Andererseits aber sei »die Hoffnung darauf, daß die
Wirtschaft zumindest Mitte oder Ende des nächsten Jahres [1993] stabilisiert und
der heutige Rückgang in den Konsumgüter produzierenden Zweigen gestoppt
werden kann, ... kaum begründet« 7.
Nikoláj Smelév schloß seine vorläufige Bilanz der bisherigen Schritte Rußlands
zur Marktwirtschaft« in der August-Ausgabe von »Moskau News« mit den folgen-
den beklemmenden Worten:
»Die marktwirtschaftlichen Reformen begegnen vor allem dem Widerstand
der alten Nomenklatura sowie des ganzen korrumpierten Verteilungssystems
im Handels- und Dienstleistungsbereich, der Sabotage von Millionen kleiner
Bürokraten ın Stadt und Land, für die die Marktwirtschaft und die unterneh-
merische Freiheit einen totalen Zusammenbruch bedeuten. Diese Schichten
unserer Gesellschaft (ergänzt durch die neue »demokratische: Bürokratie, die
unvermittelt ihre Raffgier zeigte) bremsen den Prozeß der Privatisierung.
Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob dieser Widerstand und die Ausplünderung unse-
res Landes mit rein ökonomischen Verfahren bekämpft werden können. (...)
Drei Generationen haben in unserem Land ein Irrenhaus errichtet. Wir wer-
den vermutlich ebenso viel Zeit brauchen, um einen Ausweg aus diesem Irrenhaus
zu finden. Niemand kann heute garantieren, daß wir diese schwierigen Probleme
schließlich einmal bewältigen« werden”.
Rückkehr der Nomenklatura
Mit gutem Grund betonte Bernd Ziesemer im August (1992), der ehemalige
Rechtsberater des russischen Präsidenten Sergej Sachräj habe in der Vergangen-
heit mehrfach kritisiert, daß »Angehörige der kommunistischen Nomenklatura zuneh-
mend Schlüsselpositionen im Parlament, in der Wirtschaft, in der Regierung und ande-
ren wichtigen Strukturen« einnahmen”.
In der September-Nummer von »Moskau News« erschien ein in dieser Hinsicht
besonders bemerkenswerter Artikel von Michail Leönt’ev, dem Ersten Stellvertre-
ter des Chefredakteurs von Business Moscow News, der Wirtschaftsbeilage zur rus-
sischsprachigen Ausgabe der Zeitschrift, mit der Überschrift »Die radikale Reform
ist gescheitert, eine Evolution hat gute Aussichten«”. In diesem Artikel befaßte
26 MN-DA, Nr. 8, 1992, S. 12 (-13): »Die Reform zwischen Erfolg und Mißerfolg. Der
bekannte Nationalökonom Nikolai Schmeljow zieht eine Bilanz der bisherigen Schritte
Rußlands zur Marktwirtschaft«.
27 Ebd., S. 13.
28 Ebd.
29 Bernd Ziesemer, »Boris Jelzins Bilanz seit dem Putsch« in: WW 34/1992, vom
14. August, S. 35.
30 Siehe Michail Leontjew, »Die radikale Reform ist gescheitert . . . Personelle Veränderun-
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 173
Leént’ev sich mit dem Revirement der letzten Monate in der Wirtschaftsleitung Ruf-
lands. Nach seiner Auffassung ließen die diesbezüglichen personellen Veranderun-
gen » Tendenzen der Rückkehr der einstigen sowjetischen Elite an die Macht deutlich
erkennen«. Mit anderen Worten: »Ein Jahr nach der Augustrevolution nimmt die
neue Macht Rußlands ehemalige Gegner in ihre Reihen auf .. .«°!. Es handelt sich
dabei gerade um solche Leute, die in der UdSSR vor dem Putsch wirtschaftlich am
Ruder standen:
— Finanzminister Rußlands wurde Vasilij Barčúk, »Haushaltsgenie« des Ex-Pre-
miers der Sowjetunion Valentin Pävlov.
— An Stelle des fragwürdigen Geörgij Matjüchin übernahm nach der weltweit ein-
maligen Finanzaffäre mit einem Schaden von bisher 125 Mrd. Rubel Viktor
Gerasténko, vormals Chef von Gosbank, des sowjetischen Staatsbanksystems,
den Vorsitz im Vorstand der Russischen Zentralbank.
- Viktor Cernomyrdin, vormals Minister für die Gasindustrie der Sowjetunion,
und
— Geörgij Chisa, vormals Leiter der prokommunistischen Fraktion Vozro2denie
(Wiedergeburt) im Leningrader Sowjet, jetzt zuständig für den Militärisch-
Industriellen Komplex und die Konversion, traten als Vizepremiers in die Regie-
rung ein (am 10. 5. 1993 mit Janj Skökov vom Präsidenten wieder entlassen).
Im Zusammenhang mit einem geplanten Defizit von nahezu einer Billion Rubel
(= 6,25 Mrd. Dollar) im Haushaltsentwurf der Regierung für 1993 wird eingestan-
den, daß es sich unter den Bedingungen der Wirtschaftsstruktur Rußlands und
aufgrund der Schärfe der sozialen Probleme als unmöglich erwiesen habe, im Jahr
1992 die klassische Form der monetaristischen Regulierung der Marktwirtschaft
für die Stabilisierung der Lage zu benutzen. Dies bedeute — so Leönt’ev - faktisch
die Kapitulationserklarung für die Finanzpolitik der Rubelfestigung. Dementspre-
chend kam er am Schluß seiner Analyse zu folgendem Ergebnis:
»Die Versuche, die Regierung mit der Umstrukturierung der Wirtschaft zu
beauftragen, die Ideen von Investitionen aus dem Haushalt und der weitge-
henden Indexierung der Einkommen an der Schwelle der lawinenartigen
Hyperinflation, die Idee einer »evolutionären Entwicklung der Marktwirtschaft
bei einem 20-30prozentigen Haushaltsdefizit — das alles gab es schon bei Rys-
köv wie bei Pavlov. (.. .)
Gescheitert ist eine radikale marktwirtschaftliche Reform, die nach norma-
len, nicht aber nach landesspezifischen volkswirtschaftlichen Rezepten kon-
zipiert worden war. Der Regierung gelang es nicht, sich als postkommunistisch zu
behaupten. Darum wird ihre personelle Zusammensetzung und ihre politische
Strategie jetzt mit dieser Niederlage in Übereinstimmung gebracht. (...) Der
Handlungsbereich der Regierung Rußlands engt sich [somit] auf die Fortset-
gen in der Regierung belegen, daß die Bedingungen für den Machtantritt eines echten
postkommunistischen Regimes in Rußland noch nicht vorhanden sind« in: MN-DA,
Nr. 9, 1992, S. 11.
31 Ebd.
ZfP 40. Jg. 2/1993
174 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
zung eben dieser evolutionären Entwicklung einer Nomenklatura-Marktwirt-
schaft ein, solange die Bedingungen für den Machtantritt eines wirklich liberalen
postkommunistischen Regimes noch nicht geschaffen worden sind,« *
Crashkurs oder Gradualismus?
Inzwischen war unter den Wirtschaftswissenschaftlern der Streit über die Refor-
men in Osteuropa voll entbrannt. Es wuchs die Kritik an der Schocktherapie, die die
FAZ bereits mit dem Adjektiv »zweifelhaft« versehen hatte. Dennoch gaben - wie
Gerhard Maier Anfang September in der »Wirtschaftswoche« berichtete — die mei-
sten seriösen Ökonomen dem Crashkurs trotz allem nach wie vor eindeutig den
Vorzug”. Während Theoretiker des dritten Weges wie etwa Ota Sik oder die
Ökonomen der Perestrojka-Zeit (wie I. Abälkin, A. Aganbegjän, P. Banié, N.
Petrakév u.a.) gleichsam bloßgestellt und nicht mehr gefragt sind”, verteidigen
die Wortführer einer konsequenten Marktwirtschaft die rasche Privatisierung der
Staatsbetriebe. Ihre Argumente lauten, wie folgt:
- Eine schrittweise Umwandlung würde langsam, aber sicher in ein wirtschaftli-
ches Chaos führen. Ein solcher Gradualismus entspräche dem als absurd erkenn-
baren Versuch, in Großbritannien schrittweise den Rechtsverkehr einzuführen
und dabei zunächst mit den Lkw anzufangen.
— Je länger man die Reformen hinauszögere, um so größer würden die Schäden,
die das bisherige unproduktive System anrichte.
- Die Reformen müßten definitiv scheitern, wenn die Politiker die Privatisierung
der unzähligen Staatsbetriebe auf die lange Bank schöben. Blieben die »alten
Seilschaften« im Amt, so würden sie Entscheidungen weiterhin nicht nach öko-
nomischen Gesichtspunkten, sondern nach Machtüberlegungen treffen. Dies
wiederum hätte erheblichen Arbeitsplatzverlust und staatliche Subventionierung
zur Folge.
— Die Erfahrungen Ungarns hätten — so Janos Körnai von der Universität Buda-
pest — augenscheinlich gezeigt, daß der Gradualismus die schlechteste aller Wel-
ten schaffe. Das Land habe sich seit 1968 mit Teilreformen durchgewurstelt und
sei damit schlechter gefahren als die stramm sozialistische Ex-DDR. Im Jahr
1990, kurz vor der Wende, habe Ungarn ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen
gehabt als sie.
Harvard-Okonom Jeffrey Sachs, der renommierteste Reformtheoretiker,
machte warnend darauf aufmerksam, daß Rußland dabei sei, in die »argentinische
Falle« zu gehen, wenn es den betroffenen Arbeitern, Managern und Bürokraten ge-
linge, die eingeleiteten Reformmaßnahmen zu unterlaufen. Das Stichwort dafür lau-
tet »Gradualismus«. In dieser Hinsicht stellte Gerhard Maier zusammenfassend fest:
32 Ebd.
33 Siehe Gerhard Maier, »Streit über die Reformen in Osteuropa« in: WW 37/1992, vom
4. September, S. 46 f.
34 Siehe Roland Götz, »Keine Alternative. Zur Wirtschaftsreformpolitik der russischen
Regierung« in: Kontinent, Heft 3, 1992, S. 23-32.
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 175
»Alberto Alesina und Allan Drazen sprechen von einem regelrechten Teu-
felskreis des Gradualismus. Der politische Widerstand wächst, je länger die
Regierung mit den Reformen wartet: je größer der Einfluß der Konservati-
ven, desto geringer sind die Chancen für Reformen. Der Grund: Die Verlie-
rer des Umwandlungsprozesses brauchen Zeit, den Widerstand zu organisie-
ren. Wenn sie sich aber verbündet und formiert haben, dann kommt es zu
einem »Zermürbungskrieg«.« 5
Die diesbezügliche »Kriegserklärung« erfolgte bereits auf dem 6. Kongreß der
Volksdeputierten Rußlands, der vom 6. bis zum 22. April 1992 in Moskau tagte. Pra-
sident El’cin - im Herbst 1991 für sein Reformprogramm von den russischen
Volksdeputierten noch mit zusätzlichen Vollmachten ausgestattet — war auf die-
sem Kongreß fest entschlossen, der Kernaussage des »Manifestes der Kommunisti-
schen Partei« von 1848 * endgültig die ökonomisch-juristische Grundlage der bishe-
rigen sozialistischen Produktions-Eigentumsverhältnisse” zu entziehen und das Pri-
vateigentum in Rußland umfassend und vollständig zu rehabilitieren. Die Betriebs-
direktoren und Kolchozvorsitzenden mit Abgeordnetenmandat hatten jedoch kei-
neswegs die Absicht, ihre Monopolstellung in der Wirtschaft aufzugeben und sich
einem harten Konkurrenzkampf auszusetzen. Zwar waren sie bereit, im Handel
und in den Dienstleistungsbereichen ein begrenztes Privateigentum zu akzeptie-
ren, aber die große Industrie und die Landwirtschaft sollten nach ihren Vorstellun-
gen unbedingt in staatlicher Hand bleiben. Deshalb weigerten sie sich entschieden
und beharrlich, einem Recht des einzelnen Bürgers auf Privateigentum sowohl an
industriellen und landwirtschaftlichen Produktionsmitteln als auch an Grund und
Boden zuzustimmen *.
Dauerkrise der Machtkonversion
Sieben Monate später — auf dem 7. Volkskongreß der Rußländischen Föderation
(1.-14. Dezember 1992) - griff die erstarkte Opposition die von Egér’ Gäjdar
geführte erste Reformregierung El’cins frontal an. Ganze vier Stimmen fehlten am
35 WW 37/1992, vom 4. September, S. 47.
36 Es hieß dort in Kapitel II - Proletarier und Kommunisten: »Was den Kommunismus aus-
zeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung
des bürgerlichen Eigentums. (...) In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie
in dem Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen.« In: K. Marx/F.
Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Verlag Das neue Wort, Stuttgart 1953, S. 24.
37 Siehe Marx/Engels, Werke (MEW), Bd. 13, Berlin (Ost) 1964, S. 9 (Marx: Zur Kritik der
Politischen Ökonomie; Vorwort). Vgl. russ. MES (Marks/Engel’s, Sotinenija), Bd. 13,
Moskau 1959, S. 7: »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen
Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsver-
haltnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentum Oean
sen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten.«
38 Siehe Andrej Gurkow, Rußland hat Zukunft: die Wiedergeburt einer Weltmacht, Frankin
am Main 1993, S. 124 (2. Die letzte Revolution - Boris Jelzin, der große Mann des Über-
gangs).
ZfP 40. Jg. 2/1993
176 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
5. Dezember dem Lager der Altkommunisten und der Lobby des militärisch-indu-
striellen Komplexes an der benötigten Zweidrittelmehrheit, um dem Präsidenten
Rußlands das alleinige Recht auf Ernennung des Kabinetts ausschließlich des
Regierungschefs abzusprechen. Vier Tage danach verlor Gäjdar das von ihm kom-
missarisch wahrgenommene Amt des Ministerpräsidenten mit 467 Ja- und 486
Nein-Stimmen bei 22 Enthaltungen; zu seiner Bestätigung hätte er 521 Stimmen
benötigt. Am 10. Dezember setzte El’cin sich mit dem Mut der Verzweiflung
gegen seine Entmachtung durch den Volkskongreß zur Wehr. Er warf diesem vor,
mit einem »kriechenden Putsch« den Mißerfolg der Reaktionäre vom August 1991
umkehren zu wollen. Der Oberste Sowjet sei zu einem »Bollwerk konservativer
Kräfte« geworden, die sich grundlegenden Reformen »um jeden Preis« zu wider-
setzen suchten. Und der Volkskongreß — ein am Ende der achtziger Jahre für die
Sowjetunion und die RSFSR von Gorbaéév ersonnenes Gebilde zur Machterhal-
tung der KPdSU - sei mit unfahigen Deputierten überfüllt, für die der von Chas-
bulätov betriebene Sturz des Präsidenten ” bereits beschlossene Sache sei. Diese
Konversionspolitik könne nur zum Bürgerkrieg führen. Nach den dieser Rede
El’cins drei Tage lang gefolgten Turbulenzen bestellte die Mehrheit der fragwür-
digen »Volksvertreter« am 14. Dezember 1992 den vormaligen Chef des früheren
sowjetischen Erdgasgiganten Gaspröm, Viktor Cernomyrdin, der bereits seit Mai
des vergangenen Jahres der Regierung Gäjdar, mit der er von Anfang an im Streit
lag, als Vizepremier angehörte, zum neuen Ministerpräsidenten der Rußländi-
schen Föderation. Das von El’cin ursprünglich schon für den 24. Januar 1993 ins
Auge gefaßte Vertrauens- und Verfassungsreferendum sollte nun am 11. April
stattfinden.
Der 8. Kongreß der rußländischen Volksdeputierten (10.-13. März 1993) unter-
sagte jedoch dem Präsidenten am vierten und letzten Sitzungstag kategorisch die
Durchführung dieses Referendums, was den Vorsitzenden des Staatskomitees für
Nationalitätenfragen, Sergej Sachräj“, zu der Feststellung veranlaßte, daß der
39 Zur theoretischen Begründung dieses Vorhabens gehörten die folgenden Veröffentli-
chungen von Ruslan Chasbulätov in der Parlamentszeitschrift Narodnyj deputat des Jah-
res 1992: Stanovlenie rossijskoj gosudarstvennosti (Das Werden der rußländischen Staat-
lichkeit), Nr. 5, S. 7-15; Kakaja vlas? nužna Rossii? I (Was für eine Macht hat Rußland
nötig? I), Nr. 12, S. 7-14; Cast’ vtoraja (Teil II), Nr. 13, S. 7-14.
40 Sergej Sachraj, 1956 in Simferopol’ auf der Krim geboren, studierte Jura an der Universi-
tät in Rostov am Don und spezialisierte sich auf dem Gebiet des Staatsrechts. Seine Dis-
sertation verteidigte er an der Moskauer Lomonosov-Universität. Im Jahr 1990 wurde er
Volksdeputierter der Rußländischen Föderation (RF). Der Oberste Sowjet der RF wählte
ihn auf seiner ersten Tagung zum Vorsitzenden seines Rechtsausschusses. Seit Juli 1991
Staatsberater der RF für Rechtspolitik, ab Dezember 1991 für mehrere Monate stellver-
tretender Regierungschef, anschließend mit dem Aufbau des Amtes für Staatsrecht beim
Präsidenten der RF betraut, vertrat Sachräj diesen im KPdSU-Prozeß 1992. Im Novem-
ber des gleichen Jahres zum Vorsitzenden des Staatskomitees für Nationalitätenpolitik
ernannt, koordiniert er in der Cernomyrdin-Regierung militärpolitische Fragen in der
Zone des ossetisch-inguschischen Konflikts und im Süden Rußlands. Sachräj ist Mitglied
des Sicherheitsrates der RF. (Siehe MN-DA, Nr. 2, Februar 1993, S. 3.)
Dabm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 177
Reformkurs damit definitiv beendet sei und Rußland an der Schwelle einer neuen
Revolution stehe. In einer dramatischen Fernsehansprache an die Bevölkerung der
Rußländischen Föderation am 20. März erklärte El’cin, er werde dem Land bis zur
Überwindung der eingetretenen Machtkrise durch Präsidialerlaß eine »besondere
Verwaltungsordnung« geben, am 25. April das umstrittene Referendum abhalten
lassen und zugleich um das Mandat für eine neue Verfassung und für vorgezogene
Neuwahlen der gesetzgebenden Organe bitten. Wie El’cin in seiner Fernsehan-
sprache am Abend des 20. März ausführte, war der 8. Kongreß der Volksdeputier-
ten »die erste Generalprobe für die Revanche der früheren Partei-Nomenklatura.
(...) Dem Volk wurde hochmütig das Recht verwehrt, sein eigenes Schicksal zu
bestimmen«. Auf dem Kongreß habe »sich die imperialistische Ideologie zu erken-
nen gegeben« “1. Tags darauf trat der Oberste Sowjet zu einer Sondersitzung zusam-
men, zu der Chasbulätov aus Kazachstan herbeieilte. Mit 125 zu 16 Stimmen
beschloß das Arbeitsparlament, das Verfassungsgericht der RFum eine Überprüfung
des El’cin-Erlasses zur Einführung einer »besonderen Verwaltungsordnung« zu ersu-
chen. Am 23. März teilte dessen Vorsitzender, Valérij Zör’kin, nach fast vierund-
zwanzigstündigen Beratungen dem Obersten Sowjet das erwartete Ergebnis mit:
Das Staatsoberhaupt der RF habe durch die verkündete Einführung einer Präsi-
dialherrschaft in der Tat gegen die nachträglich geflickschusterte Verfassung von
1978 verstoßen. Odndako - aber - war Zör’kin, der sich bereits eine Dienstauf-
sichtsbeschwerde wegen Parteilichkeit zugezogen hatte, unmittelbar nach El’cins
Fernsehansprache am Samstag, dem 20. März, noch mit der voreiligen Stellung-
nahme hervorgetreten, es handele sich bei der »besonderen Verwaltungsordnung«
um den »Versuch eines Staatsstreichs«, so hielt er sich diesmal auffallend zurück.
Denn das Verfassungsgericht hatte geurteilt, die angekündigte Präsidialherrschaft
verstoße zwar gegen die Verfassung, doch reichten die Gründe für eine Amtsent-
hebung nach Artikel 121-6, 10 und 11 nicht aus *.
Im übrigen gaben sich die Gegner El’cins, allen voran Parlamentspräsident Rus-
län Chasbulätov, der sich selbst nach britisch-amerikanischem Muster Speaker
nennt*, den Anschein, als seien sie formaljuristisch im Recht und ihrerseits strikt
auf die Achtung der Verfassung bedacht. In Wahrheit aber hat der 8. Kongreß
weder das von zweieinhalb Millionen Wählern durch Unterschrift verlangte Refe-
rendum über den privaten Grundbesitz respektiert, das eigentlich am 11. April
1993 vorgesehen war, noch sich dem Spruch des Verfassungsgerichts gebeugt, der
El’cin eine Befragung des Volkes über sein Vertrauen zum Präsidenten durchaus
zugestand “.
41 Bonner Rundschau vom 22. März 1993: Dokumentation.
42 Siehe Christoph Neidhart, »Der Ritt auf dem Bären« in: Die Woche (DW), Hamburg,
Nr. 13, 25. März 1993, S. 17.
43 Die offizielle Bezeichnung ist Predsedatel’ Verchounogo Soveta Rossijskoj Federacii (Vorsit-
zender des Obersten Sowjet der Rußländischen Föderation) - siehe Narodnyj deputat,
Moskau, Nr. 5, 1992, S. 7.
44 Siehe Fußnote 42.
ZfP 40. Jg. 2/1993
178 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
Machen wir es kurz: All dessen ungeachtet berief der Oberste Sowjet am
24. März 1993 den Kongreß der rußländischen Volksdeputierten für Freitag, den
26. März zur außerordentlichen 9. Sitzung ein mit dem erklärten Auftrag, den Präsi-
denten der RF seines Amtes zu entheben. Abermals kam es zu heftigen Turbulen-
zen und fortgesetzten Wechselbädern von Entspannungs- und Spannungszustän-
den. Zum einen war bei El’cin und seinen Anhängern von der »besonderen Ver-
waltungsordnung« auf einmal nicht mehr die Rede, während Chasbulätov plötz-
lich erklärte, er sei gegen jede Form von Amtsenthebung; statt dessen befürworte
er die baldige Neuwahl von Präsident und Parlament. Beide Kontrahenten brach-
ten am Morgen des 28. März unerwartet den Kompromißvorschlag ein, an Stelle des
zuvor von El’cin angestrebten Vertrauens- und Verfassungsreferendums sowohl
den Präsidenten als auch die Mitglieder des Obersten Sowjet am 21. November
1993 neu wählen zu lassen und den Volkskongreß abzuschaffen. Die rot-braune
Koalition der Kongreßmehrheit raste vor Wut, als sie das hörte, und beschloß nach
langer Debatte, noch am gleichen Tag über die Amtsenthebung El’cins und die
Absetzung des »Verräters« Chasbulätov zu entscheiden. Am Abend (21 Uhr MEZ)
stand fest, daß das Unternehmen gescheitert war. Zur Amtsenthebung des Präsi-
denten fehlten am Zweidrittelmehrheits-Quorum 72 und zur Absetzung Chasbulä-
tovs am absoluten Mehrheits-Quorum 178 Stimmen“. El’cin, der schon vorher
erklärt hatte, daß er nur einen Volksentscheid akzeptieren werde, nahm Kurs auf
das Referendum am 25. April“.
45 Siehe Bonner Rundschau vom 29. März 1993, S. 1 und 4.
46 Über das politische Geschehen vom 6. bis zum 9. Kongreß der rußländischen Volksdepu-
tierten, also von Anfang April 1992 bis Ende März 1993, unterrichtete die dreiwöchent-
lich erscheinende Zeitschrift des Obersten Sowjet der Russischen Föderation Narodnyj
deputat (ND) unter den Rubren »Kongreß« und »Oberste Macht«. — Im einzelnen:
»Moskva, Kreml’. Sestoj S-ezd narodnych deputatov Rossijskoj Federacii« (Moskau,
Kreml’. Sechster Kongreß der Volksdeputierten der Rußländischen Föderation) in: Nr. 7,
1992, S. 3-16, und »Vlast’ verchovnaja« (Die oberste Macht), S. 17-29. »Vlast’ verchov-
naja« in: Nr. 14, 1992, S. 6-24 (Vorbereitung auf den 5. Sitzungszeitraum des Obersten
Sowjet der RF). »Za mir, grazdanskoe soglasie i vzaimodejstvie. Obraščenie soveta pred-
sedatelej rajonnych Sovetov g. Moskvy. Prinjato 13 nojabrja 1992 goda« (Für Frieden,
bürgerliches Einverständnis und Zusammenwirken. Aufruf des Rates der Vorsitzenden
der Rayon-Sowjets der Stadt Moskau. Erlassen am 13. November 1992) in: Nr. 17, 1992,
S. 30. »Vlast’ verchovnaja: Podgotovka, prochozdenie i osmyslenie sed’mogo S-ezda
narodnych deputatov Rossii« (Die oberste Macht: Vorbereitung, Verlauf und Auslegung
des siebten Kongresses der Volksdeputierten Rußlands) in: Nr. 18, 1992, S. 6-29.
»Sed’moj S-ezd narodnych deputatov Rossii. Moskva, dekabr’« (Siebter Kongreß der
Volksdeputierten Rußlands. Moskau, Dezember) in: Nr. 1, 1993, S. 2-24, und Nr. 2,
1993, S. 2-26. »Osnovnye polozenija novoj Konstitucii Rossijsko) Federacıi, vynosimye
na vserossijskij referendum 11 aprelja 1993 g.« (Grundlagen der neuen Verfassung der
Rußländischen Föderation, die dem Volksentscheid am 11. April 1993 unterbreitet wer-
den [sollten]) in: Nr. 3, 1993, S. 4, und »Vlast’ verchovnaja«, S. 5-13. »Razmy3lenija o
vlasti« (Gedanken über die Macht), S. 2-8, und »Vlast’ verchovnaja«, S. 11-22. »Vlast’
verchovnaja« in: Nr. 5, 1993, S. 2-12.
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 179
Ermutigung des Prasidenten
Die Wahlempfehlung der El’cin-Anhänger für den vierfachen Volksentscheid am
25. April 1993, ausgedrückt in der Formel da, da, njet, da (ja, ja, nein, ja), wurde
mehrheitlich befolgt. Die Bejahung der Fragen 1 (Vertrauen Sie dem Präsidenten?)
und 2 (Billigen Sie seine Wirtschafts- und Sozialpolitik?) überschritt deutlich das
Quorum der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Hätte der Anteil der
Wahlbeteiligten auch für die Fragen 3 (Halten Sie die vorgezogene Neuwahl des
Präsidenten für notwendig?) und 4 (Halten Sie vorgezogene Neuwahlen der
Volksdeputierten für notwendig?) gegolten, so wäre Frage 3 mit deutlicher Zwei-
drittelmehrheit verneint, die Neuwahl der Volksdeputierten (Frage 4) jedoch von
fast drei Vierteln der über 65 Millionen Wahlbeteiligten bejaht worden. Da aber
die letzteren beiden Fragen das Quorum der Mehrheit der Wahlberechtigten (50 %
von 106 Millionen Bürgern = 53 Mio. Ja-Stimmen) verlangten, verfehlte El’cin
das Ziel, den kommunistisch belasteten Kongreß der Volksdeputierten* durch
Neuwahlen zu beseitigen, um 5 Prozent“.
Das rußländische Verfassungsgebot, die Wählerverhältniszahl auf den Mehr-
heitsanteil der Wahlberechtigten zu beziehen, stellt allerdings das genaue Gegenteil
von dem dar, was in demokratischen Ländern üblich ist. Darüber kann auch der
Artikel »Und wie steht es damit in Westeuropa?« von Professor Dr. iur. V. Maklä-
kov im »Volksdeputierten« nicht hinwegtäuschen, wo unter zahlreichen Beispielen
nur ein einziges Mal verstohlen vom »Prozentanteil der Wähler« (dölja procenta
izbiratelej) die Rede ist“. Ansonsten wird dieser Regelfall des Quorums beim Volks-
entscheid schamhaft verschwiegen und der Unterschied, der zwischen Wählern
(izbirateljami) und wahlberechtigten Bürgern (grazdanami, iméjuščimi právo
gölosa) besteht, überhaupt nicht angegeben oder diskutiert. Es handelt sich hier
somit unverkennbar um das Erbe der kommunistischen Herrschaft, die sich stets von
99 Prozent ihrer Wähler bestätigen ließ. Dementsprechend stellte Michel Tatu,
langjähriger Ostsachverstandiger und Leitartikler der Pariser Zeitung »Le
Monde«, kommentierend fest: »In allen normal gebildeten Demokratien würden
die Ergebnisse des Volksentscheids ın Rußland keinerlei Unklarheiten hinterlas-
sen. Sie würden als großer Erfolg der bestehenden Regierung gefeiert werden.
47 Dem vor drei Jahren konstituierten Kongreß der rußländischen Volksdeputierten gehö-
ren 1041 Mandatsträger an, darunter 57 Frauen. 912 Personen oder 86 Prozent waren
Mitglieder der KPdSU. 67 von ihnen saßen bereits im früheren, kommunistischen Ober-
sten Sowjet der RSFSR sowjetischer Zeit. Siehe Ju. Zvjagin, »K portretu zala. S-ezd v
licach« (Zum Portrait des Saales. Der Kongreß in Personen) in: ND, Nr. 1, 1993, S. 22.
48 Bonner Rundschau vom 27. April 1993, S. 1 und 3.
49 V. Maklakov, »A kak tam v Zapadnoj Evrope?« in: ND, Nr. 5, 1993, S. 7-8. Das Beispiel
war Griechenland, wo 1974 nach dem Sturz des reaktionären Regimes der »schwarzen
Obristen« im Juli und den Parlamentswahlen vom 17. November am 8. Dezember ein
Volksentscheid über die Regierungsform stattfand. »Im Referendum sprachen sich
69,2 Prozent der Wähler für die endgültige Abschaffung der Monarchie aus .. .« (ebd.,
S. 8). - Das war ein geringerer Stimmenanteil, als er hinsichtlich der Fragen 3 und 4 des
rußländischen Referendums am 25. April 1993 für Nein und Ja erreicht wurde.
ZfP 40. Jg. 2/1993
180 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
(...) Es wäre auch allgemein anerkannt, daß das Parlament sich im Gegensatz
zum Präsidenten erneut dem Wähler stellen müßte. Mit anderen Worten wäre das
oda, da, njet, da<, das >ja, ja, nein, jac ... als das endgültige Ergebnis des Referen-
dums gefeiert worden«°°. Walter Laqueur hingegen, exzellenter Rußlandkenner
und Vorsitzender des »Internationalen Forschungsrates« beim »Zentrum für Stra-
tegische und Internationale Studien« in Washington, der unlängst ein Buch über
den militanten Nationalismus der kommunistischen und faschistischen Rechten
Rußlands geschrieben hat°!, antwortete auf die Frage, ob die Rechte dort an die
Macht kommen könnte, mit dem Satz: »Setzt sich der Zerfall... fort, und bessert
sich auch die allgemeine ökonomische Lage nicht, dann halte ich beinahe alles für
möglich.« 2
Indikatoren der Krisenverschärfung
Das Verfassungsgericht Rußlands sprach am 30. November 1992 ein Kompromiß-
urteil im KPdSU/RKP-Prozeß. Danach war das Verbot der höchsten Organisa-
tionsstrukturen der Sowjetischen wie der Russischen’ Kommunistischen Partei rech-
tens, weil beide einen eigenen Staat im Staate gebildet hätten. Die politische Betäti-
gung ihrer territorialen Grundorganisationen (der sogenannten perviönych territo-
riäl’nych organizäcij) wäre jedoch legitim gewesen. Denjenigen Organen, die — wie
z.B. das ZK der KPdSU/RKP, die Gebiets- und Rayon-Komitees der beiden Par-
teien usw. — die Rechte einer juristischen Person besaßen und im Gericht Rede und
Antwort stehen konnten, wurde der Schutz des Gesetzes entzogen. »Denn so
wenig man mit einer Hand Applaus zu klatschen vermag, so wenig vermag man
mit einem nicht mehr vorhandenen Kläger oder Beklagten vor Gericht zu streiten.
Die abgeschafften Parteiorgane werden auf eine Klage weder antworten noch eine
Gegenklage führen« können‘‘. Die Richter hatten auch gut daran getan, von Arti-
kel 65 des Gesetzes »Über das Verfassungsgericht der RSFSR« vom 6. Mai 1991
keinen Gebrauch zu machen. Dieser Artikel gestattet die Rückdatierung der Rechts-
kraft eines Urteils bis zu drei Jahren. Hätten die Richter ihn angewendet, so wäre die
KPdSU/RKP wieder in den Besitz ihres unermeßlichen Vermögens gelangt. Da
50 Michel Tatu, »Das nächste Referendum kommt bestimmt« in: Focus, München, Nr. 18,
3. Mai 1993, S. 167.
51 Siehe Walter Laqueur, Der Schoß ist fruchtbar noch, München 1993, 384 S.
52 Walter Laqueur, »Stalins braune Erben« in: Die Woche, Hamburg, Nr. 19, 6. Mai 1993,
S. 22.
53 Die Kommunistische Partei der RSFSR (RKP) wurde erst am 19.-20. Juni (Fortsetzung
nach dem XXVIII. Parteitag der KPdSU am 4. September) 1990 gegründet. Ihr Erster
Sekretär, Ivan Polozkov (ab dem 20. Juni), war seit 1985 erster Sekretär des Regionsko-
mitees Krasnodar (Kuban-Niedrung) der KPdSU, seit Aprıl 1990 Vorsitzender des
Sowjet der Volksdeputierten der Region Krasnodar und seit dem 14. Juli 1990 Mitglied
des Politbüros des ZK der KPdSU. Biographie siehe /zvestija CK KPSS, Moskau, Nr. 8,
1990, S. 33.
54 Siehe S. Pašin, Dr. iur., »Delo KPSS: - Kommentarij jurista k postanovleniju Konstitu-
cionnogo suda« (Der >Fall der KPdSU: — Kommentar eines Juristen zum Beschluß des
Verfassungsgerichts) in: ND, Nr. 3, 1993, S. 41—42.
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 181
aber das Urteil mit dem Tag seiner Verkündung, also am 30. November 1992,
rechtskräftig wurde, bleibt eine Rückgabeforderung ausgeschlossen. »Denn jetzt
haben die Roben der Richter die frühere Konfiskation zugedeckt: Was geschehen
ist, ist geschehen.« Dies hat natürlich auch hinsichtlich der Immobilienwerte von
Gorbaéévs »Internationaler Stiftung für sozial-ökonomische und politologische
Forschung« zu gelten.
Am 4. Juli 1992 fand in Püskino bei Moskau der XXIX. Parteitag der verbote-
nen KPdSU statt. Und im Februar 1993 folgte bei Moskau die Neugründung der
nicht mehr verbotenen KP der RSFSR (RKP) durch 650 Delegierte von Grundor-
ganisationen unter Vorsitz des vormaligen ZK-Sekretärs der KPdSU Valentin
Kupcév* als »Kommunistische Partei der Rußländischen Föderation«e - KPdRF. Zu
ihrem Vorsitzenden wurde der erfahrene Partei-Apparatschik Gennadij Zjugdnov
gewählt’. Wie Kupcév auf dieser Versammlung mitteilte, ließen sich bereits
500 000 Kommunisten neu registrieren. ** Insofern hat die KPdRF gute Aussichten,
zur stärksten Partei Rußlands zu werden. Die Folge wäre eine deutliche Kraftever-
schiebung innerhalb des rot-braunen Zweckbündnisses, wo bisher die nichtkommuni-
stischen Nationalfaschisten den Ton angaben, zugunsten der neuen KPdRF. Da
die Partei sich aber sehr gern mit dem von Arkádij Völ’skij, Interessenvertreter der
staatlichen Großindustrie, und Aleksandr Ruck6j, Vizepräsident der RF, geleiteten
»Bürgerbund« (GraZdänskij Sojüz) anfreunden möchte, läge auch eine solche
Allianz im Bereich des Denkmöglichen. Auf jeden Fall verheißen die kommenden
Monate für die Reformpolitik weiterhin nichts Gutes, wenn diese ihren Namen verdie-
nen soll. Das zeigte auch eine kritische Analyse der Situation in Rußland nach dem
April-Referendum, die Vjäteslav Nikonov am 15. Mai in den »Moskau News«
vortrug’”.
Im sozial-skonomischen Bereich mehren sich die »Anzeichen der herannahenden
Katastrophe«®. Der Rückgang des Brutto-Inlandsprodukts lag Ende 1992 bei fast
30 Prozent gegenüber 9 Prozent im Vorjahr. Die Produktion der wichtigsten
Industriegüter verringerte sich im selben Zeitraum um durchschnittlich erwa den
gleichen Prozentsatz. Der Getreide-Ertrag war 1991 um 24 Prozent niedriger als
im Jahr davor, und 1992 sank die landwirtschaftliche Erzeugung insgesamt um
weitere 11 Prozent. Die Realeinkommen der Bevölkerung verringerten sich 1992
55 Ebd., S. 42, Spalte 2.
56 Biographie siehe Izvestija CK KPSS, Nr. 8, 1990, S. 54. Letzte bemerkenswerte Veröf-
fentlichung als ZK-Sekretar der KPdSU vor dem Putsch-Versuch: »KPSS otkryta dlja
sotrudnitestva« (Die KPdSU ist offen für Zusammenarbeit) in: Izvestija CK KPSS, Nr. 5,
1991, S. 4-9.
57 Siehe Wladimir Todres, »KP Rußlands wiederbelebt« in: MN-DA, Nr. 3/März 1993,
S. 1-2.
58 Die im Juni 1990 innerhalb der KPdSU als selbständige Republik-Partei gegründete KP
der RSFSR (RKP) hatte sechs Millionen Mitglieder.
59 Siehe MN-DA, Nr. 6/Juni 1993, S. 1-2 (Jelzin muß jetzt handeln).
60 Siehe Ju. Voronin, »Gde vychod iz krizisa?« (Wo ist ein Ausweg aus der Krise?) in: ND,
Nr. 17, 1992, S. 6-10; dort S. 6.
ZfP 40. Jg. 2/1993
182 Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter
um 25 Prozent*. Während die Einkommen um das Siebeneinhalbfache zunahmen,
betrug der Preisanstieg bei Gebrauchsgütern das Sechsundzwanzigfache*. Drei-
viertel der Verbraucher schrankten ihren Konsum an Nahrungsmitteln um 15 Pro-
zent ein. Die Unternehmen und Betriebe entließen über 13 Millionen Arbeits-
kräfte®. Im März 1993 wurde die Mindestrente bei einer US-Dollar-Parität von
1 : 650 Rubel auf 4275 Rubel heraufgesetzt“. Im Februar hatte die Parıtät noch
1 US-Dollar = 570 Rubel betragen. Vor dem 25. April kostete ein US-Dollar
795 Rubel, am Tag danach waren es 812 Rubel. Im April lag ein gutes Monatsge-
halt zwischen 50 000 und 70 000 Rubel. Die bestentlohnten Bergarbeiter verdien-
ten bis zu 130 000 Rubel im Monat. Diese galoppierende Inflation bedroht — wie
Bernd Ziesemer zusammenfassend feststellte - »das ganze Fundament für Refor-
men. Das Etatdefizit wird in diesem Jahr, wenn das staatliche Schuldenmachen so
weitergeht wie bisher, auf 30 Prozent des Bruttonationalprodukts steigen. Auch
die Teuerung galoppiert weiterhin mit einer Jahresrate von 2000 Prozent. Zudem
haben die Staatsbetriebe, die in den letzten beiden Jahren zweimal von ihren
Schulden befreit wurden, erneut Verpflichtungen in Höhe von über zwei Trillio-
nen Rubel angehäuft«®. Angesichts einer solchen Zerrüttung der Finanzen sagte
der russische Reformökonom Grigöri) Javlinskij voraus, daß die Ergebnisse der
Geld- und Kreditpolitik das Leben der Bevölkerung in diesem Jahr weit mehr
bestimmen würden als die Ergebnisse des Referendums vom 25. April.
Im August 1992 hatte N. Smelév prognostiziert, der hohe Energieverbrauch der
russischen Wirtschaft einerseits und die Armut, ja Verelendung der Bevölkerung
andererseits könne bei der zweiten Phase der Preisfreigabe — nämlich derjenigen
von Energien, Dienstleistungen und Immobilien — für viele Unternehmen und Pri-
vatpersonen buchstäblich den Untergang bedeuten und alsbald den Ausbruch sozia-
ler Bewegungen zur Folge haben. Daher gelange ich abschließend zu dem Ergebnis,
61 Siehe ebd., S. 6-7, sowie S. Koléin, »Cto prines god reformy« (Was das Reformjahr
gebracht hat) in: ND, Nr. 18, 1992, S. 41-45. - »Goskomstat RF: Rossija: &as ispytanij. V
zerkale statistiki« (Staatskomitee für Statistik der RF: Rußland: Stunde der Prüfungen.
Im Spiegel der Statistik) in: ND, Nr. 1, 1993, S. 43-44. Dieser Bericht enthielt keine
Angabe über die Zahl der Arbeitslosen. Dafür teilte er mit, daß das Nationaleinkommen
1992 um 20 Prozent zurückgegangen sei und das Eigentum weiterhin überwiegend staat-
lich bleibe.
62 Siehe den Bericht der Verwaltung der Sozialstatistik des Staatskomitees der RF: »Cto u
nas na stole« (Was bei uns auf dem Tisch ist) in: ND, Nr. 4, 1993, S. 37.
63 Siehe Ju. Voronin, in: ND, Nr. 17, 1992, S. 7 (Fußnote 60).
64 Siehe G. Sugak, Mitarbeiter des Pressezentrums der Bürgermeisterei Moskau, »Mos-
kovskie doplaty« (Moskauer Zusatzzahlungen) in: ND, Nr. 5, 1993, S. 14.
65 »Rußland — Total ernüchtert. Das Referendum wird den Wirtschaftsreformen kaum
neuen Schwung geben« in: WW, Nr. 17, 23. April 1993, S. 40 und 43. Siehe auch WW,
Nr. 16, 16. April 1993, S. 27 (Interview des Harvard-Okonomen Jeffrey Sachs zu Rug-
land durch Bolke Behrens). Außerdem Bernd Ziesemer, »Rußland - Wodka und Wurst.
Wirtschaftspolitik findet in Moskau nicht mehr statt. Der Westen ist machtlos: Die mil-
liardenschwere Hilfe für Jelzin greift nicht« in: WW, Nr. 14, 2. April 1993, S.27 und
30-31.
Dahm . Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter 183
daß das Zeitalter totalitärer Entartung der Geistesgeschichte auch für Rußland
sowie den Osten und die Mitte Europas noch nicht zu Ende und deshalb die
Ermahnung »Sobrii estote, et vigilate« weder gegenstandslos noch überholt ist.
Zusammenfassung
Der Autor widmet den ersten Teil seiner Ausführungen dem Lebenswerk von
Gustav A. Wetter (4. 5. 1911-5. 11. 1991) und sucht im zweiten Teil die damit ver-
bundene Frage, ob das Zeitalter totalitärer Ideologien mit dem politischen Zusam-
menbruch des Marxismus-Leninismus zu Ende gegangen sei, in mehreren Argu-
mentationsbereichen verneinend zu beantworten. Dabei kommen als Aspekte der
Prüfung in Betracht:
- die Frage nach der Überlebensfähigkeit der sozialistischen Idee;
— die Feststellung, daß die russische Revolution vom August 1991 für das bis-
herige Fehlen des Elements der Schreckensherrschaft und der Beseitigung ihrer
Feinde den Preis einer gemischt konfrontativen und insofern paralytischen
Gesellschaft auf allen Ebenen des politischen Wollens und Handelns zu zahlen
habe - mit allen daraus sich ergebenden Unwägbarkeiten;
- schließlich die Gefahr, es könnten die ungeheuren sozial-ökonomischen Bela-
stungen den wachsenden Widerstand gegen das Durchhalten der Reformpolitik
so sehr erstarken lassen, daß eine Rückkehr zu den gradualistischen Konzepten
der letzten Sowjetpremiers Ryškóv und Pävlov oder aber der baldige Ausbruch
sozialer Unruhen mehr als wahrscheinlich wird.
Summary
The author devotes the first part of his statement to the life-work of Gustav A.
Wetter (4. 5. 1911-5. 11. 1991), trying in the second part to deny in several spheres
of argumentation the therewith connected question whether the age of totalıtarıan
ideologies has ended with the political breakdown of Marxism-Leninism. As
aspects of examination are taken into account:
— an inquiery concerning the surviving capability of the socialist idea;
— the observation that the Russian revolution of August 1991 has to pay for the
hitherto existing absence of tyranny and terror as well as of the overcoming of
its enemies the price consisting in a mixed-conflicting and so far paralytic
society on all levels of political intention and action and with all imponderabili-
ties resulting from that;
— in the long run the danger that the enormous social-economic burden could
strengthen so much the growing resistance against the carrying through of the
policy of reform that either a return to the gradualistic concepts of the last
Soviet Prime Ministers Ryškóv and Pavlov or the early outbreak of social riots
would be more than likely.
ZfP 40. Jg. 2/1993
Chnistiano German!
Zur politischen Rolle protestantischer Sekten
in Lateinamerika
Einleitung
Fur die katholische Kirche in Lateinamerika stellt in den letzten Jahrzehnten das
rasante Wachstum der Sekten und der damit verbundene signifikante Rückgang
des prozentualen Anteils an Katholiken eine Herausforderung besonderer Art dar.
In der regen theologischen und soziologischen Diskussion über diese Entwicklung
wird jedoch die ebenfalls wachsende Bedeutung der politischen Dimension des
Phänomens oft übersehen.
Dies liegt wohl daran, daß in der Regel von einer grundsätzlich unpolitischen
Haltung der Sekten ausgegangen wird. Betrachtet man die Tausenden von ver-
schiedenen Sekten mit kleinerer oder größerer Anhängerschaft in fast jedem Land
Lateinamerikas, so verhält sich die große Mehrzahl tatsächlich apolitisch und welt-
abgewandt. Für bestimmte Sekten aber, die durch ihre steigende Anhängerzahl
immer stärker in den staatlichen Raum hineinwachsen, muß diese Einschätzung
revidiert werden. Das Sektenwachstum ist eben nicht nur quantitativ, sondern auch
qualitativ. Die neue Qualität liegt in dem politischen Einfluß, den bestimmte Sek-
ten heute in den öffentlichen Meinungsbildungsprozeß einiger der »neuen Demo-
kratien« in Lateinamerika einzubringen in der Lage sind. Diese Gruppen begannen
in den vorangegangenen Jahrzehnten, während derer Lateinamerika überwiegend
unter autoritärer Militärherrschaft stand, politisches Gewicht zu erlangen, ein
Trend, der sich in den Transitionsphasen vom Autoritarismus zur Demokratie
fortsetzte. Die potentielle Politisierung beginnt spätestens, sobald eine religiöse
Gruppierung einen zahlenmäßig relevanten Teil der Bevölkerung bzw. Wähler-
schaft stellt und überdurchschnittlich gute Organisationsstrukturen vorweist. Die
über Spenden, Zuwendungen und weniger bekannte Quellen angehäuften Reichtü-
mer und die teilweise weitverzweigte nationale und internationale unternehmeri-
sche Tätigkeit der Sekten führen zu weiterem Machtzuwachs. Ihre bedeutende
Position verdanken viele Sekten auch der frühen Erkenntnis, religiösen Einfluß
1 Dr. phil., Politikwissenschaftler, Zentralinstitut für Lateinamerika-Studien der Katholi-
schen Universität Eichstätt. Veröffentlichungen über Brasilien und den Cono Sur zu Pro-
blemen der Demokratisierung, der katholischen Kirche, Wahlen, Militärherrschaft und
Umweltpolitik.
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 185
über die Massenmedien zu gewinnen. Die Pioniertat in Lateinamerika war im
Jahre 1931 die Errichtung des ersten Radiomissionssenders der Welt in Ecuador?.
Im Gegensatz zur Hierarchie der Katholischen Kirche streben zahlreiche Sek-
tenführer mit großer Selbstverständlichkeit Positionen auf allen Ebenen der Poli-
tik und staatlichen Bürokratie an. Im Falle des Erfolges werden dann oftmals an
andere Sektenmitglieder wichtige Ämter vergeben. Kennzeichnend für die Politi-
ker aus Sektenkreisen ist ihre überwiegend religiös-orthodoxe und politisch-kon-
servative Grundhaltung. Den einfachen Anhängern gegenüber wird Gehorsam und
politische Passivität bzw. politischer Konformismus gepredigt. Es gibt zwar auch
Sekten mit sozialpolitischem Engagement; diese werden jedoch eher von den fun-
damentalistischen Konkurrenten bekämpft und blieben bisher unbedeutend in
Lateinamerika’.
Über die politische Bedeutung der Sekten in Lateinamerika oder in einzelnen
Ländern des Kontinents gibt es kaum Literatur. Das Thema wird jedoch oft von
sozial engagierten Autoren unter dem Aspekt aufgegriffen, daß die fundamentali-
stischen Sekten genau das Gegenteil von dem predigen, was Sozialreformer und
Befreiungstheologen jahrzehntelang bei den armen Bevölkerungsschichten an
politischer Bewuftseinsbildung und kultureller Identitätswahrung zu erreichen
suchten.
Vor diesem Hintergrund geht die vorliegende Studie zunächst in einem Über-
blick der Frage nach, auf welche Weise bestimmte Sekten in jüngerer Zeit in
Lateinamerika politisch hervorgetreten sind. Besonders interessant sind hierbei für
die »neuen Demokratien« die Länder Peru und Guatemala. In beiden Fällen tru-
gen die Sekten zur erfolgreichen Wahl der von ihnen favorisierten Präsident-
schaftskandidaten im Juni 1990 bzw. Januar 1991 bei. Es ist Ende 1991 jedoch
noch zu früh, eine fundierte Beurteilung dieser neuen Entwicklungen vorzuneh-
men. Eine nur kurze Rolle als gewählter, dann vom Militär gestürzter Präsident
spielte auf der abwechslungsreichen politischen Bühne Lateinamerikas im Jahre
1991 der katholische »Padre Aristide« in Haiti‘.
Im Mittelpunkt steht hier das inzwischen in seinen Dimensionen historisch
belegbare politische Gewicht von Sekten während der Militärherrschaft in Chile
und der Transitionsphase vom Autoritarismus zur Demokratie in Brasilien. Bei
beiden Fällen soll untersucht werden, unter welchen Rahmenbedingungen und auf
welche Weise einige Sekten politisch aktiv wurden und welchen Machtfaktor sie
im politischen Prozeß bildeten.
2 Vgl. Newe Zürcher Zeitung vom 26. Juli 1990: »Die Luftwaffe der Missionsarmee. Über
die weltweite Ausbreitung der protestantisch-fundamentalistischen Radio- und Fernseh-
missionen«.
3 Hierzu Noticias Aliadas (Lima) vom 5. Oktober 1989: »Pentecostales pueden ser activistas
de justicia social, sostiene pastor. Entrevista NA a pastor pentecostal chileno«.
4 Vgl. El Pats Semanal (Madrid) vom 16./17. Februar 1991: »El »Ayatolä« del Caribe. Ari-
stide, el cura que predica la revolución en Haiti«, und Z/ Dia (México D.F.) vom
10. Februar 1991/17. Februar 1991: »El caso de Aristide en perspectiva«.
ZfP 40. Jg. 2/1993
13
186 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
1. Politik und Sekten in lateinamerikanischen Landern
1.1 Statistische und begriffliche Probleme
Betrachtet man Lateinamerika insgesamt, so wird hinsichtlich des Sektenwachs-
tums aus dem Bereich des Protestantismus von einem »Lawineneffekt« gespro-
chen. Sollten die Sekten in dem gleichen Tempo wie von 1960 bis 1985 weiter
wachsen, dann werden nach neueren Studien im Jahre 2010 die Linder Brasilien
(57 %), El Salvador (67 %), Puerto Rico (75 %) und Guatemala (127 %) mehrheit-
lich evangelischen Glaubens sein. In Chile würden etwa 39 % der Bevölkerung den
Sekten angehören‘. Eine statistische Erhebung aus Kreisen der katholischen Kir-
che verdeutlicht das Ausmaß an Ubertritten von Katholiken zu Sekten aller Art’.
Demnach sind in Lateinamerika im Jahre 1990 über 3 Millionen Katholiken abge-
wandert. Betrachtet man den prozentualen Anteil der Konvertiten an der Bevölke-
rung, so stand Puerto Rico mit 5,4 % (179 000) an erster Stelle, gefolgt von Guate-
mala (4,1 % = 345 000) und Chile (3,7 % = 438 000). In absoluten Zahlen ausge-
drückt stand Mexiko mit 564 000 (0,7 %) an der Spitze, vor Chile und Brasilien
(408 000 = 0,3 %)’.
Wie bei allen Statistiken zum Sektenphänomen können aufgrund der schlechten
Datenlage auch hier bestenfalls Tendenzen aufgezeigt werden. Die offiziellen
Daten der Statistischen Bundesämter beruhen meist auf freiwilligen Angaben zur
Religionszugehörigkeit. Die eigenen Quellen der katholischen Kirche sind aber
nicht genauer, denn sie gehen von der Anzahl der Getauften aus, einschließlich der
Kinder. Nicht berücksichtigt wird, ob die Religion tatsächlich ausgeübt wird. Die
protestantischen Sekten nennen in der Regel die Zahl ihrer Vollmitglieder, wäh-
rend andere religiöse Gruppen dazu neigen, übertriebene Daten anzugeben.
Hinzu kommt, daß viele Autoren keine Definition von dem, was sie unter einer
»Sekte« verstehen, vornehmen. Selbst bei bedeutenden kirchlichen Verlautbarun-
gen in Lateinamerika, wie dem Dokument von Puebla, wird nur mit dem Oberbe-
griff der »freien religiösen Bewegungen« (movimientos religiosos libres) und
in
Vgl. D. Stoll, Zs Latin America Turning Protestant? The Politics of Evangelical Growth, Ber-
keley 1990, S. 8 £./337 f., und G. Burchardt, »Sekten sind unbeglichene Rechnungen der
Kirche« in: HK 3. Heft, 40. Jg., Marz 1986, S. 124-128. Hierzu auch D. Martin, Tongues
of Fire: The Explosion of Protestantism in Latin America, Oxford 1990, und die »Special
Issue« von Latinamerica Press vom 21. November 1991: »Coming of Age«.
Zu den folgenden Zahlen siehe Stefania Falasca in: 30 Tage in Kirche und Welt (Aachen),
April 1991: »Dossier. Das Alibi«, S. 40-44, 44 (Daten nach CESNUR, 1990). Zur Ausein-
andersetzung der Katholischen Kirche mit dem Sektenphänomen ferner das über 700 Sei-
ten umfassende Dossier: F.I.U.C. (Fédération Internationale des Universités Catholi-
ques), »New Religious Movements« und mehrere »Supplements« in: Centre de Coordina-
tion de la Recherche, Rom 1990.
7 Nach einer Studie der brasilianischen Bischofskonferenz soll die Abwanderung von
Katholiken an sechzehn protestantische Sekten pro Jahr sogar 600 000 betragen. Hinzu
kommen noch die Verluste an die afro-brasilianischen Kulte und andere Religionen. Vgl.
»La religion, nouvelle source d’enjeux politiques en Amérique latine« in: Le Monde vom
9. April 1991.
©
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 187
einem synonym verstandenen, volkstümlichen Begriff der »Sekten« gearbeitet’. In
der vorliegenden Studie soll diese grundsätzliche Problematik nicht aufgegriffen,
sollen zumindest aber die hier verwandten Arbeitsbegriffe mit exemplarischen Bei-
spielen umrissen werden’.
Zunächst ist eine deutliche Trennungslinie zwischen dem historischen Protestan-
tismus der Lutheraner, Baptisten, Presbyterianer, Anglikaner und Methodisten zu
den anderen evangelischen Glaubensrichtungen zu ziehen. Der Begriff pentekostale
Sekten soll hier das vielfältige Spektrum der Pfingstbewegungen aus den USA wie
die »Assemblies of God«, »Churches of God«, »Churches of Christ« umfassen, die
besonders Anfang des Jahrhunderts nach Lateinamerika kamen und dort ihre Teil-
kirchen gründeten. Hinzu kommen die inzwischen auch in den Ländern selbst ent-
standenen »autonomen« Pfingstbewegungen. Ein weiter gefaßter Begriff der pro-
testantischen Sekten schließt zusätzlich zu den pentekostalen Sekten noch andere
Glaubensrichtungen wie die Adventisten, Mormonen und Zeugen Jehovas mit ein.
Eine wiederum unterschiedliche Kategorie bilden dagegen die in Brasilien weitver-
breiteten afro-brasilianischen Kulte und der kardecistische Spiritismus"°. Protestanti-
sche Sekten, afro-brasilianische Kulte, Spiritismus und andere Richtungen, wie
z.B. sog. »Politreligionen« mit dezidiert antikommunistischer Haltung (Vereini-
gungskirche des Sun Myung Moon), werden hier zusammen als Sekten bezeichnet.
Ein besonderes Problemfeld bilden noch bestimmte katholisch orientierte Grup-
pen, deren Bezeichnung als Sekte umstritten ist oder die von der katholischen Kir-
che nicht anerkannt werden".
8 Von diesen »sectas« sind zumindest einige »innerhalb eines im Grund christlichen Glau-
bensbekenntnisses angesiedelt«, während andere »religiöse oder parareligiöse Formen mit
sehr unterschiedlicher Haltung« zu beobachten sind, »die eine höhere Realität akzeptie-
ren (»Geister<[espiritus], »verborgene Krafte<(fuerzas ocultas], »Gestirne« [astros] usw.),
mit der sie angeblich in Verbindung treten, um Hilfe und Normen für das Leben zu
erhalten«. Hierzu Puebla, La Evangelización en el Presente y en el Futuro de América
Latina, III Conferencia General del Episcopado Latinoamericano - CELAM, Bogota 1979,
Randnummern 1102-1106.
9 Diskutiert werden Begriffe wie »neue religiöse Bewegungen (Gruppen)«, »freie Kirchen«,
»Politreligionen«, »Neureligionen«, »religiöser Synkretismus« etc. Hierzu I. Wulfhorst,
Der »spiritualistisch-christliche Orden«. Ursprung und Erscheinungsformen einer neureligiösen
Bewegung in Brasilien, Erlangen 1985, S.1.ff. Zur brasilianischen Diskussion über
Abgrenzungskniterien siehe »Sinais dos Tempos, Igrejas e seitas no Brasil« in: Cadernos
do ISER No. 21/1989, und »Alternativas dos desesperados: »Como se pode ler o penteco-
stalismo auténomo<« in: CEDI 1991, S. 11-13.
10 Beide werden andererseits vom Statistischen Bundesamt des Landes unter dem Sammel-
begriff des Spiritismus erfaßt. Vgl. Anuário Estatístico do Brasil - 1986, IBGE, Rio de
Janeıro 1987, S. 52.
11 Umstritten ist die Anwendung des Sektenbegriffes auf die in vielen Ländern Lateinameri-
kas vertretenen, rechtskonservativen »Gesellschaften zur Verteidigung von Tradition,
Familie und Privateigentum (TFP)«. Sie wenden sich gegen demokratieorientierte Refor-
men und hängen der vorkonziliaren Kirche nach. Zur Klassifizierung der auch in Europa
aktiven und dem fundamentalistischen Klerus nahestehenden TFE als Sekte vgl. Z. Seib-
litz, »Sociedade Brasileira de Defesa da Tradição, Familia e Propriedade (TFP)« in:
7fP 40. Jg. 2/1993
13*
188 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
1.2 Grundzüge der Entwicklung in ausgewählten Ländern
Eine historisch bedeutsame Rolle zugunsten der raschen Ausbreitung protestanti-
scher Sekten in Lateinamerika haben einschlägige Interessengruppen in den Verei-
nigten Staaten gespielt. Immer wieder wird in der Literatur, in der Presse und von
seiten der katholischen Kirche trotz mangelhafter Beweislage auf die massive
finanzielle Unterstützung aus den USA hingewiesen !?. Neben solchen verdeckten
finanziellen Aktionen werden auch politische und militärische Aktivitäten der
Hegemonialmacht gegen die »Subversion« genannt, bei denen es zu einem oft
undurchschaubaren Zusammenwirken von Sekten, dem CIA, konservativen regie-
rungsnahen Organisationen und amerikanischen Regierungskreisen kommt. Auch
über eine konspirative Zusammenarbeit zwischen lateinamerikanischen Militärs
und Sekten in zahlreichen Ländern wird immer häufiger berichtet. So propagierte
die Zeitschrift der »Assembly of God« die Zentralamerikapolitik Ronald Reagans
und setzte sich »besonders leidenschaftlich« für den guatemaltekischen Diktator
Rios Montt ein”.
Als mögliches Motiv für die traditionelle Unterstützung des Protestanusmus
durch nordamerikanische Interessengruppen wird öfters von der Kirche und der
Presse an die Auffassung Theodore Roosevelts Anfang des Jahrhunderts erinnert:
»As long as the South American countries continued to be catholic, their assimi-
lation into the United States would be long and difficult«.
Nelson Rockefeller hat diesen Satz von Roosevelt zitiert, als er im Jahre 1968
seinen Lateinamerika-Report an Präsident Nixon übergab. Ein Jahr später betonte
er erneut auf einer Konferenz in Rom »the need to replace the Catholics by other
Christians in Latin America« +.
Schließlich gab das Santa Fe-Alternativpapier zur Außenpolitik Jimmy Carters
von 1980 eine Direktive zur offensiven Begegnung der katholischen Befreiungs-
theologie aus, deren Gefährlichkeit das zweite Papier von 1988 erneut unter-
strich 5, Die Befreiungstheologen wurden dann auch neben der linken Guerilla ein
Cadernos do ISER No. 23, 1990; Leilah Landim (H.), Sinais dos Tempos. Diversidade reli-
giosa no Brasil, Rio de Janeiro, S. 9-17. Einen anderen Sonderfall bilden die weiter unten
noch im Zusammenhang mit General Stroessner erwähnten »katholischen, apostolischen
und paraguayischen« Beharrlichen Gottes. Ihr Oberhaupt, der frühere argentinische Groß-
grundbesitzer Mariano Bobadilla, bezeichnet sich selbst als »Heiliger Lukas« und ver-
steht sich als Papst.
12 Zu einigen bekannten Sponsoren fundamentalistischer Sekten in Lateinamerika siehe D.
Huntington, »God’s Saving Plan« in: NACLA. Report on the Americas, The Salvation Bro-
kers: Conservative Evangelicals in Central America, Volume XVIII, Number 1, Jan./Febr.
1984, S. 23-33, 32.
13 Ebd., S. 32 f.
14 Vgl. Latin American Links (News of the Catholic Church in Latin America), July-August
1988, No. 30, »Religious sects make headway in Latin America«, S. 1, und Neue Zürcher
Zeitung vom 13. Juli 1990, »Starkes Wachstum der Sekten in Brasilien«.
15 Committee of Santa Fe, A New Inter-American Policy for the Eighties, Washington 1980,
und Santa Fe II. Committee of Santa Fe, A Strategy for Latin America in the Nineties,
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 189
bevorzugtes Angriffsziel der protestantischen Sekten und Verfolgungsobjekt der
Militarregime**. Es ist davon auszugehen, daß diese oder ähnliche von Nordame-
rika ausgehenden Reformationsstrategien beibehalten werden.
Ein typisches Beispiel für wachsenden politisch-6konomischen Einfluß sind die
Aktivitäten der Moon-Sekte, die Anfang der achtziger Jahre nach Lateinamerika
vorstieß und einen nach wie vor wichtigen Stützpunkt in Uruguay schuf. In dem
selbst für lateinamerikanische Verhältnisse besonders repressiven Militärregime
(1973-1984) fand die Sekte einen ideologischen Bündnispartner, der eine Ausbrei-
tung ihres Wirtschaftsimperiums in verschiedenen Branchen erleichterte. Nach der
Demokratisierung des Landes will die Sekte nunmehr »die Einheit Lateinamerikas
auf der Basis von demokratischen und pluralistischen Regierungen« fördern”.
Während des Nicaragua-Konfliktes sollen verschiedene Organisationen der
Moon-Sekte einen großen Teil der militärischen Hilfe für die antisandinistischen
Contras finanziert haben. Nach Angaben des nordamerikanischen Journalisten
Jack Anderson war es in den Bergen Zentralamerikas oft schwierig, zwischen CIA-
Agenten und Moon-Anhängern zu unterscheiden "*. In Zeiten, als der Kongreß die
Contra-Hilfe eingefroren hatte, organisierte der gottesfiirchtige Offizier Oliver
North zusammen mit verschiedenen Sekten eine »private humanitäre Hilfe«
zugunsten der Contras”.
Auch der dienstälteste Diktator der lateinamerikanischen Militärregime, Gene-
ral Alfredo Stroessner aus Paraguay (1954-1989), stützte sich auf eine Sekte. Die
etwa 20000 Anhänger der katholisch orientierten »Beharrlichen Gottes« stellten
große Porträts des Staatschefs auf ihre Altäre und verkiindeten, daß jeder Wider-
stand zur Verdammnis führe. Viele ihrer führenden Mitglieder waren Aktivisten
der regimefreundlichen Colorado-Partei, ebenso höhere Offiziere von Polizei und
Washington 1988. Es handelte sich hierbei um öffentlich zugängliche Strategiepapiere,
die wichtige programmatische Ausgangspositionen der Lateinamerikapolitik Ronald
Reagans formulierten. Auf die unterschiedlichen Auffassungen der Carter-Administra-
tion und Henry Kissingers soll nur hingewiesen werden.
16 Der sozial engagierte Teil der Kirche wurde von den USA als eine Art Einfallstor fur die
kommunistische Subversion gesehen. Jede Initiative zugunsten sozialer Reformen konnte
nunmehr von den lateinamerikanischen Militärregimen als »kommunistisch« diskreditiert
und zur ideologischen Rechtfertigung der gewaltsamen Unterdrückung herangezogen
werden. Zu den Folgen siehe P. Lernoux, Cry of the People. The Struggle for Human Rights
in Latin America. The Catholic Church in Conflict with U.S. Policy, New York 1982, und
E. L., O. P. Cleary, Crisis and Change. The Church in Latin America Today, Maryknoll
1985.
17 Vgl. Croissance des Jeunes Nations (Paris) 325, Mars 1990: »Dossier Sectes. L’Amérique
Latine sous influence«, S. 19-26, 22. Teilübersetzung des Artikels von Christian Rudel in:
Blätter des iz3w (Freiburg), Nr. 171, Februar 1991: »Sekten in Lateinamerika. Uncle
Sam’s Hilfstruppen«, S. 45—48.
18 Ebd.
19 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 26. Juli 1990, ebd.
ZfP 40. Jg. 2/1993
190 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
Armee sowie Leibwächter. Nach der Absetzung des Diktators sieht sich die Sekte
mit Vorwürfen wegen Unterschlagungen und Machtmißbrauch konfrontiert».
In Bolivien haben die Sekten ein solches Gewicht erhalten, daß sich der Staats-
präsident Jaime Paz Zamora sehr zum Ärger der katholischen Hierarchie mit Ver-
tretern der Dachorganisation »Asociacién Nacional de Evangelicos« zu
Gesprächen trifft».
Zu Beginn der neunziger Jahre sind die Entwicklungen in Peru und Guatemala
besonders kennzeichnend für den wachsenden politischen Einfluß protestantischer
Sekten unter mehr oder weniger demokratischen Herrschaftsverhältnissen 2. In
Peru gewann im Juni 1990 Alberto Fujimori, ein zu Beginn des Präsidentschafts-
wahlkampfes weithin unbekannter Kandidat japanischer Herkunft, gegen den pro-
minenten Schriftsteller und Politiker Mario Vargas Llosa. In der ersten Runde im
April, die mit den Wahlen zum Kongreß verbunden war, hatte bereits die von Fuji-
mori geführte und mit zahlreichen evangelischen Sektenmitgliedern durchsetzte
Bewegung »Cambio 90« insgesamt 14 der 60 Senats- und 32 der 180 Abgeordne-
tensitze erringen können. Von diesen 46 Kongreßmitgliedern gelten 19 als sog.
»Evangelistas« verschiedener religiöser Herkunft. In den vorangegangenen Legis-
laturperioden war bestenfalls ein Parlamentarier aus dem Bereich der Sekten ver-
treten gewesen ?.
Fujimori betonte zwar im Laufe des gesamten Wahlkampfes seine Zugehörig-
keit zur katholischen Kirche. Als sich aber nach dem Überraschungserfolg im
April neben den errungenen Kongreßsitzen auch konkrete Chancen für einen Sieg
bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl abzeichneten, setzte er auf die
»evangelische Karte«. In seinem Team waren mehrere Sektenmitglieder vertreten,
unter ihnen der in Peru ebenfalls zur Wahl stehende zweite Kandidat für das Amt
des Vize-Prisidenten, Carlos Garcia.
20 Vgl. Croissance 1990, S. 23.
21 Vgl. Carpeta Latinoamericana (ALASEI, México D.F.), No. 263 vom April 1990: »Sectas
en América Latina: entre el cielo y la tierra«, und Latin America Weekly Report (London)
vom 7. Juni 1990: »Religion looms as source of conflict«, S. 7.
22 Zur Demokratie in Lateinamerika siehe C. German, Problemas fundamentales de la demo-
cracia en Latinoamérica. Tres casos: Argentina, Uruguay y Brasil, Colección Temas 12 (Ede-
val), Universidad de Valparaiso/Chile 1988, und C. German / R. Steiert (H.), Lateiname-
rika zwischen Demokratie und Militärherrschaft, SOWI-Sozialwissenschaftliche Informa-
tionen, Heft 1, Seelze-Velber 1988. Ferner M. Mols, Demokratie in Lateinamerika, Stutt-
gart/Berlin/Köln/Mainz 1985.
23 Vgl. Clarin (Buenos Aires) vom 1. Juni 1990: »La guerra de las religiones«, und Eberhard
M. Poloczek, »Präsidentschafts- und Kongreßwahlen in Peru« in: KAS. Auslandsinforma-
tionen (Konrad-Adenauer-Stiftung/Internationales Institut), Juni 1990, Sankt Augustin
bei Bonn, S. 18-25, 18. Ferner Contexto Pastoral (CEDI/CEBEP, Rio de Janeiro/Campi-
nas) Fevereiro/Marco 1991, Ano I, No. Zero: »Os Evangélicos e as eleições de 1990«,
S. 7.
24 Vgl. Latin American Weekly Report vom 3. Mai 1990: »Trying to turn the Fujimori tide«,
und Contexto Pastoral Fev/Mar 1991, Ano I, No. Zero: »Evangélicos e poder na América
Latina«, S. 5.
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 191
Der folgende Wahlkampf wurde mit vielen schmutzigen Tricks geführt, ein-
schließlich eines wahrscheinlich inszenierten »Religionskrieges« mit antikatholi-
schen Pamphleten und heftigen Gegenreaktionen der Kirche2. Auch wurde die
Absicht einiger der gerade gewählten Pastoren bekannt, nach der möglichen
Regierungsübernahme im Juli den Einfluß der katholischen Kirche zu verringern
und die gewonnene politische Macht auszubauen. In diesem Sinne wurden bereits
Verfassungsänderungen diskutiert. Die katholische Kirche reagierte mit Verlaut-
barungen und Prozessionen gegen die »evangelische Bedrohung«, aber auch mit
verstärkten internen Auseinandersetzungen *.
Nach außen hin versicherten sowohl die katholische Kirchenführung wie auch
der evangelische Dachverband »Consejo Nacional Evangélico del Peru
(CONEP)«, sie würden sich als Institution für keinen bestimmten Kandidaten aus-
sprechen. Doch vom Bischof bis zum Priester setzten sich zahlreiche Kirchenver-
treter auf vielfältige Weise für den von der Oberschicht unterstützten Agnostiker
Vargas Llosa ein. Der Erzbischof von Lima, Kardinal Augusto Vargas Alzamora,
ein Cousin von Vargas Llosa, richtete einen offenen Brief an alle Katholiken.
Hierin hieß es u. a., man dürfe nicht dulden, daß die Evangelisten ihre hinzuge-
wonnene politische Macht zur Zerstörung der katholischen Kirche einsetzten”.
Die Mitglieder der Sekten, wobei unter anderem die Zeugen Jehovas genannt
werden, zogen ihrerseits für Fujimori von Haus zu Haus. Der Methodistenpastor
und politische Koordinator der Sektenkampagne, Guillermo Yoshikawa, veröf-
fentlichte einen offenen Brief an alle Menschen evangelischen Glaubens mit der
Aufforderung, Fujimori zu unterstützen »”.
Die Unterstützung der Sekten hat zweifellos zum hohen Wahlsieg Fujimoris
beigetragen, der rund 57 % der Stimmen erhielt. In der zweiten Runde waren
jedoch die Wahlhilfen der ausgeschiedenen politischen Gruppen, wie der APRA,
der Sozialisten und der Kommunisten sowie der wohl mehrheitlich von anderen
25 Vgl. Noticias Aliadas (Lima) vom 31. Mai 1990: »Clima de agitación religiosa viven peru-
anos«. Ferner DESCO/Resumen Semanal (Centro de Estudios y Promociön del Desar-
rollo, Lima): 25-31 de Mayo de 1990, No. 571, S. 2 f., und Clarín vom 1. Juni 1990: »Una
campagiia en que »todo vale««.
26 Es ist für Peru selbst auf der Ebene der Bischofskonferenz schwierig, ein einheitliches
Bild wiederzugeben. Die katholische Kirche Perus gilt als die intern zerstrittenste in
Lateinamerika. Aus ihr ging der wichtigste Vordenker der Befreiungstheologie, Gustavo
Gutiérrez, hervor. Sie verfügt aber auch mit etwa 10 % des Episkopats über den höchsten
Anteil an Mitgliedern des Opus Dei. Vgl. Le Monde vom 18. August 1989: »Une des Egli-
ses les plus divisees d’Amérique latine«, und Carpeta Latinoamericana (ALISEI, México
D.F.) Agosto 1989: »La Iglesia catélica dividida«.
27 Hierzu Latin American Weekly Report vom 3. Mai 1990, ebd., Latin American Regional
Reports Andean Group vom 28. Juni 1990: »Exit polls herald Fujimoro victory«, DESCO/
Resumen Semanal 25-31 de Mayo de 1990, No. 571: »»Carta abierta: del Arzobispo de
Lima«, S. 3, und Clarin vom 1. Juni 1990: »La guerra de las religiones«.
28 Vgl. DESCO/Resumen Semanal 25-31 de Mayo de 1990, No. 571, ebd. Ferner Latin Ame-
rican Weekly Report vom 3. Mai 1990, ebd., und Latin American Regional Reports Andean
Group vom 28. Juni 1990, ebd.
ZfP 40. Jg. 2/1993
192 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
als religiösen Fragen bestimmte Wählerwille entscheidend. Angesichts der für ihn
ungünstigen Mehrheitsverhältnisse im Kongreß bemühte sich Fujimori zu Beginn
seiner Amtszeit, die verschiedenen politischen Lager zusammenzuführen. Sehr
zum Ärger der »Evangélicos« unter den Mandatsträgern, die im Sinne der propa-
gierten »moralidad« und »honestidad« gerne mit den Politikern der alten Garde
abgerechnet hätten, wechselte der Präsident einen der ihren, den Generalsekretär
Victor Honma von »Cambio 90« gegen Andrés Reggiardo aus».
In Guatemala war kurz nach Eintreffen des historischen Protestantismus bereits
im Jahre 1882 die »Methodistische Kirche« von dem »liberalen« Präsidenten Justo
Rufino Barrios (1873-1885) ins Land gerufen worden. Sie sollte ein Gegengewicht
zur katholischen Kirche bilden, die sich nach traditionellem Muster allen Gedan-
ken des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels widersetzte. Weitere,
allerdings fundamentalistische Sekten haben sich in den folgenden Jahrzehnten
etabliert und ausgebreitet wie in keinem anderen Land Lateinamerikas. Ab Anfang
der achtziger Jahre begannen sie immer mehr an politischem Gewicht zu gewin-
nen, wobei ihre Allianz mit dem Militär eine besondere Rolle spielte. In einer Art
kombinierten Aktion wurden die im Kampf gegen die linke Guerilla zunächst vom
Militär zerstörten und danach neuerrichteten Dörfer von den antikommunisti-
schen Sekten religiös vereinnahmt.
Die Sekten erhielten in Guatemala zudem durch die fast 18monatige Amtszeit
(1982-83) des General José Efrain Rios Montt eine besondere Chance zur weite-
ren Ausbreitung. Der durch einen Militärputsch an die Macht gelangte Staatschef
war Funktionär der fundamentalistischen »Kirche des Wortes« (Iglesia del Verbo),
einem Ableger des aus dem kalifornischen Eureka stammenden »Gospel Out-
reach«°°. Der konvertierte Katholik war außerdem ein Absolvent der US-Militär-
akademien für Anti-Guerilla-Ausbildung in Panama und Washington’!. Neben
anderen Sekten kam auch »Verbo« im Jahre 1976 nach einem verheerenden Erdbe-
ben ins Land. Man half nicht ganz uneigennützig mit Geldern der finanzkräftigen
amerikanischen Mutterkirchen beim Wiederaufbau des Landes».
29 Vgl. Poloczek, aaO., S. 22 f., und Neue Zürcher Zeitung vom 13. Juli 1990: »Ungewißheit
um Perus neuen Präsidenten«. Ferner S/C (Centro Gumilla, Caracas) Julio 1990: »Fuji-
mori: Peligro ... o esperanza?«, S. 272 f.
30 Vgl. Le Monde vom 18. April 1983: »Guatemala. Dans les pieuses mains de »Frere
Efrain: «. Einer der US-Sponsoren der Sekte, Prediger Hap Brooks aus Florida, beurteilte
den Putsch als »the greatest miracle of the twentieth century, formed in heaven before it
was formed on earth«. Huntington, »God’s Saving Plan« in: NACLA, 1984, S. 26.
31 Vgl. »Fundamentalist offensive. The growth of evangelical sects in Central America« in:
IDOC Internazionale (International Documentation and Communication Centre),
Vol. 19, No. 1/1988, Jan-Febr, 3-6, S. 6.
32 »They traded roofs for souls«, war der zynische Kommentar eines katholischen Priesters.
Zu den Strategien der Sekten siehe The Wall Street Journal (New York) vom 7. Dezember
1982: »Latin Revival. Central American Gains By Evangelicals Reflect Rising Political
Unrest«.
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 193
General Montt sah sich als Prophet und errichtete eine repressive Theokratie,
die selbst den Militärs, die ıhn schließlich stürzten, zu viel wurde. Der Kampf
gegen jegliche Subversion im Lande war seine »Mission«. Viele Sekten gaben aus
zweckrationalen Gründen die sonst weitverbreitete Konkurrenz auf und zogen
gemeinsam mit der Montt-Regierung in den »Heiligen Krieg« gegen Sozialrevolu-
tionäre und die gesamte katholische Kirche». Opfer der Massaker und Umsied-
lungen waren vor allem die Indianer, aber auch Missionare sozial orientierter Sek-
ten. Die katholische Kirche war u.a. durch die Umwandlung von etwa fünfzig
Kirchengebäuden in Militärkasernen betroffen *.
In Guatemala gelang dann knapp zehn Jahre später auch erstmals die Wahl
eines Sektenanhängers zum Staatspräsidenten. Mitte Januar 1991 trat Jorge Ser-
rano Elias sein Amt an”. Das Mitglied der »E] Shaddai«-Sekte gehörte unter Rios
Montt als Vorsitzender des Staatsrates dem engsten Beraterkreis des Präsidenten
an. Er hatte bereits bei den vorangegangenen Wahlen im Jahre 1985, die der
Christdemokrat Vinicio Cerezo gewann, einen Versuch unternommen. Diesmal
konnte Serrano mit 68 % der Stimmen einen klaren Sieg erringen. Dies verdankte
er aber im besonderen dem erfolgreichen Comeback des als unbestechlich und ehr-
lich geltenden Ex-Diktators Rios Montt. Da dieser vorzeitig aus verfassungsrecht-
lichen Gründen als Kandidat ausscheiden mußte, schwenkten viele Wähler auf den
anderen Favoriten der evangelischen Sekten um *.
Erste Beurteilungen der Regierung Serranos deuten darauf hin, daß sich unter
demokratischen Vorzeichen die Vermischung zwischen religiösem Fanatismus und
Politik nicht wiederholt. In seinem ersten Kabinett befand sich kein Sektenmit-
glied. Doch die rechtskonservative politische Grundlinie blieb mit der Nominie-
rung des Innenministers, der dieses Amt bereits unter Rios Montt ausgeübt hatte,
deutlich. In katholischen Kreisen begann man aber bereits zu differenzieren zwi-
schen den »nicht fanatischen« Protestanten wie Serrano und den »gefährlichen
Sekten«, zu denen der frühere Diktator zählt”.
33 In der Selbstdarstellung eines ihrer religiösen Sender heißt es: «TGNA arbeitet kompro-
mißlos mit nahezu zehn evangelikalen Denominationen zusammen. In jedem Fall haben
wir gegen ökumenische und bestimmte extremistische Gruppen Stellung bezogen« (Neue
Zürcher Zeitung vom 26. Juli 1990, ebd.)
34 Vgl. Der Spiegel 47/1990: »Wann kommt Jesus wieder?« Spiegel-Report über den Sieges-
zug US-gesteuerter evangelischer Sekten in Lateinamerika, S. 190-202, und Blätter des
i3w, ebd., S. 48.
35 Le Monde vom 9. Aprıl 1991, ebd.
36 Ehemalige Präsidenten der Militärregime durften nicht kandidieren. Hierzu Latin Ameri-
can Weekly Report (London) vom 6. September 1990: »Even twice debarred, Rios Montt
may beat the odds in Guatemala«; 17. Januar 1991: »Jorge Serrano carries the day«, und
vom 24. Januar 1991: »Cabinet dominated by businessmen«.
37 Von seiten der katholischen Kirche, die sich für den Kandidaten der Christdemokraten
ausgesprochen hatte, wurden bei der Wahlentscheidung der Bürger mehr allgemein poli-
tische als religiöse Beweggründe angenommen. Erzbischof Pröspero Penados del Barrio
sagte: »I do not believe Serrano is a religious fanatic ... His faith should not influence
the way in which he rules, but should do so in an ecumenical sense, helping him honour
ZfP 40. Jg. 2/1993
194 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
2. Die Falle Chile und Brasilien
Wahrend sich in den letzten Jahrzehnten die in Chile und Brasilien besonders
sozialkritische katholische Kirche ständigen Konflikten mit den autoritären Herr-
schern ausgesetzt sah, sind keine Vorfälle dieser Art mit den Sekten bekannt
geworden. In Chile wählten viele Sekten den Weg einer offenen und aktiven
Befürwortung des Militärregimes. In Brasilien verhielten sie sich unter den Gene-
rälen überwiegend politisch passiv. In beiden Ländern ist festzustellen, daß sich die
Sekten unter autoritären Herrschaftsverhältnissen besonders gut entfalten und
ihre Interessen durchsetzen konnten.
2.1 Chile
2.1.1 Zur Ausbreitung der Sekten
In der ethnisch weitgehend homogenen Gesellschaft Chiles ist keine religiöse Viel-
falt, wie beispielsweise im Falle von Brasilien durch die zusätzlichen afrikanischen
Einflüsse, gegeben. Dafür ist der Anteil der Zeugen Jehovas und der Mormonen
hdher?*. Die erste pentekostale Sekte (Iglesia Metodista Pentecostal) wurde 1909
gegründet, die Methodisten (Iglesia Metodista de Chile) hatten bereits zwanzig
Jahre zuvor Fuß gefaßt. In Chile ist, wie in anderen lateinamerikanischen Ländern
auch, das rasche Anwachsen der pentekostalen Sekten von weit über 6 % jährlich
erst seit den dreißiger und vierziger Jahren zu beobachten, wobei die Zahlen in der
Hauptstadt Santiago besonders hoch sind und 1979 nach Schätzungen des Centro
Bellarmino bei 8,5 % pro Jahr, Anfang der achtziger sogar bei 10 bis 11 % lagen.
Von 1980 bis 1985 soll sich die Zahl aller Protestanten um 50 % erhöht haben, und
ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag nach diesen Schätzungen Anfang 1988
bei rund 15 %.
Statistische Angaben zur Religionszugehörigkeit sind von offizieller staatlicher
Seite nicht zu erhalten, da bei der letzten Volkszählung im Jahre 1981/82 keine
entsprechenden Erhebungen erfolgten. Zudem wurden von der Pinochet-Admini-
stration nicht alle Daten des Zensus veröffentlicht. Somit stützen sich die meisten
statistischen Angaben zu Chile auf fortgeschriebene Zahlen und die Umfrageer-
gebnisse privater und kirchlicher Institutionen. Die folgende Tabelle 1 beruht auf
his principles, just as others should honour their own«. Vgl. Latin American Weekly
Report vom 24. Januar 1991, ebd.
38 Zu den folgenden Daten siehe S. Spoerer, »Pentecötisme et religiosité populaire au Chili«
in: Problemes d’Amerique Latine, No. 81, 1986, 3e trimestre, S. 97-109, 99 f., mit zahlrei-
chen weiteren Literaturangaben; und Hoy No. 549, 25-31. Januar 1988: »Iglesias evangé-
licas. El plebiscito a tres voces«, S. 15-17.
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 195
den Ergebnissen einer Umfrage des Forschungsinstitutes FLACSO, die im Zusam-
menhang mit dem Plebiszit von 1988 durchgeführt wurde”.
Eine weitere Umfrage des kirchlichen CISOC für 1980 und 1985 (Tabelle 2) hat
in Groß-Santiago einige protestantische Gruppen mit einbezogen. Die Daten bele-
gen das Wachstum des Protestantismus und einen starken Einbruch im katholi-
schen Glauben (- 16,6 %). Weitere Erhebungen haben ergeben, daß in diesem Zeit-
raum die Zugehörigkeit zu jeglicher Religion um 12,5 % abgenommen hat.
Die beiden größten pentekostalen Sekten sind die »Iglesia Metodista Penteco-
stal« mit, nach eigenen Angaben, über einer Million Anhängern in Chile Mitte der
achtziger Jahre und die »Iglesia Evangélica Pentecostal«. Daneben existieren Hun-
derte von kleineren Pfingstsekten und Tausende von evangelischen Gruppen ins-
gesamt. 400 dieser Kirchen war in der ersten Hälfte der achtziger Jahre vom
Justizministerium die allgemeine Rechtsfähigkeit als juristische Person zuerkannt
worden.
Tabelle 1
Chile: Verteilung der Bevölkerung nach Religionen 1987
Santiago Concepciön Temuco
Katholiken 76,5 % 68,1 69,9
Christen,
allgemein Gläubige 5,4% 4,4 2,9
Protestanten
aller Gruppen 8,6 % 15,5 20,4
Zeugen Jehovas 1,1% 1,9 0,4
Mormonen 0,8 % 1,4 0,9
Ohne Religion
Freidenker, Atheisten 6,9 % 7,1 4,6
Andere 0,7% 0,2 0,2
39 Vgl. FLACSO, Primera ola de la Enquesta, Noviembre/Diciembre 1987, Orientaciones
políticas individuales y proceso de transición: La conformación de preferencias políticas,
Santiago-Concepción-Temuco, mimeo, Santiago.
40 Vgl. P. van Dorp, Religiosidad en el Gran Santiago, CISOC-Bellarmino, Santiago 1985,
S. 147 f.
ZfP 40. Jg. 2/1993
196 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
Tabelle 2
Chile: Religionszugehörigkeit in Groß-Santiago 1980-1985
1980 1985 Differenz
Katholisch 81,6% 65,0 — 16,6
Evangelisch 7,5% 9,6 + 2,1
Adventist 0,2 % 2,4 + 2,2
Zeuge Jehovas 1,5% 1,8 + 0,3
Mormone 0,8 % 0,6 — 0,2
Bapust 0,5 % 0,6 + 0,1
Andere 0,4 % 0,0 — 0,4
Insgesamt 92,5 % 80,0
Die traditionellen protestantischen Kirchen (Lutheraner, Baptisten, Presbyteria-
ner, Anglikaner, Methodisten) sind in den Oberschichten mit 9,5 % stark vertreten,
während ihre Präsenz bei anderen Schichten nicht ins Gewicht fällt“. Dagegen
sind die pentekostalen Sekten nur schwach bei den oberen und mittleren Einkom-
mensschichten vertreten, bei den unteren jedoch mit 11 % und den untersten mit
18 %. Die Zeugen Jehovas sind ausschließlich bei der unteren (1 %) und untersten
(0,5 %) Schicht vertreten. Die Mormonen verteilen sich mit 1 % auf alle Schichten,
mit Ausnahme von etwa 0,5 % bei der Oberschicht.
Insgesamt betrachtet sind, wie auch im Falle Brasiliens, etwa 80 % der Prote-
stanten zu den evangelikalen Sekten zu zählen. Ihr Anteil bei den marginalisierten
Massen in Santiago lag in der ersten Hälfte der achtziger Jahre bereits bei über
20 %. Faßt man das Wachstum aller protestantischen Gruppen sowie der Zeugen
Jehovas und Mormonen zusammen, so wird der Zuwachs in diesem Zeitraum auf
15-20,5 % bei den untersten und 10-14 % bei den unteren Einkommensschichten
geschätzt *.
41 Zu den folgenden Angaben siehe S. Spoerer, »Pentecötisme et religiosité populaire au
Chili« in: Problèmes d’Amerique Latine, No. 81, 3e. trimestre, 1986, S. 97-109, 99 f., unter
Hinweis auf CISOC-Centro Bellarmino, L'informe al Episcopado de algunos antecedentes
sobre las sectas Evangélicas, Mormones e Testigos de Jehová, 1982, sowie die Studien von E.
Willems, »Religiöser Pluralismus und Klassenstruktur in Brasilien und Chile« in: /nterna-
tionales Jahrbuch für Religionssoziologie, Band 1, Köln/Opladen 1965, S. 189-209, und E.
Willems, »Protestantismus und Kulturwandel in Brasilien und Chile« in: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft: Max Weber zum Gedächtnis, Köln/Opla-
den 1963, S. 307-333.
42 Hierzu ferner R. Poblete / C. Galilea, Movimiento pentecostal e Iglesia Catélica en medios
populares, Centro Bellarmino, Santiago 1984.
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 197
2.1.2 Politische Aktivitäten der Sekten unter dem Militärregime
In Chile wurden alle Varianten des Protestantismus unter General Pinochet
(1973-1990) hoffähig. Historisch betrachtet hatte nach der Trennung von Kirche
und Staat durch die Verfassung von 1925 der traditionelle Protestantismus in der
katholisch geprägten Gesellschaft keine besondere Wertschätzung gefunden und
sich überwiegend auf sozial und räumlich begrenzte Einwandererenklaven
beschränkt. Die katholische Kirche war nach dem Putsch rasch zum Kritiker des
Regimes geworden, während besonders die pentekostalen Sekten eine legitimie-
rende Funktion erfüllten und als Gegenleistung von der Militärregierung geför-
dert wurden.
Vertreter des traditionellen Protestantismus gründeten zusammen mit der
katholischen Kirche einen Monat nach dem Putsch eine ökumenische Hilfsorgani-
sation”: Das »Comit& Pro Paz« nahm sich der Tausenden von Verfolgten des
Regimes an. Nach seinem Gründungsstatut sollte das Komitee allen Chilenen juri-
stische, finanzielle, technische und spirituelle Hilfe gewähren, die sich aufgrund
der neuen politischen Lage in wirtschaftlicher oder persönlicher Not befanden.
Das Engagement zugunsten der Menschenrechte führte zur Spaltung der histori-
schen evangelischen Kirche, wobei Bischof Frenz, der sich hier besonders ein-
setzte, mit seinen Anhängern in der Minderheit blieb. Die Mehrheit der besonders
im Süden des Landes ansässigen deutschstämmigen Protestanten waren für die
Junta und gründeten daraufhin eine eigene Glaubensgemeinschaft “.
Die pentekostalen Sekten verstanden es rasch, die nach dem Militärputsch vom
11. September 1973 entstandene Lücke im kirchenpolitischen Bereich organisato-
risch und inhaltlich auszufüllen. Am 13. Dezember 1974 organisierten sie eine
symboltrichtige Solidaritätsveranstaltung für die Militarjunta und besonders für
General Pinochet in dem Regierungsgebäude Diego Portales. Im Gegenzug nahm
der General zwei Tage später an der Einweihung der Kathedrale der größten
Pfingstsekte, der »Iglesia Metodista Pentecostal« von Javier Vasquez Valencia,
teil.
Vasquez V., der 1985 zum Bischof aufstieg, galt als »glühender Verehrer« von
General Pinochet. In seinem Arbeitszimmer kam den Fotos der Juntamitglieder ein
besonderer Platz zu, ebenso wie einem Lichtbild, das ihn mit dem General zeigt“.
Er vertrat die Auffassung, daß es nach der Bibel eine christliche Pflicht sei, für die
Regierung zu beten, und daß Jesus Christus gesagt habe, es müsse immer Armut
geben. Seine Haltung gegenüber der katholischen Menschenrechtsorganisation
»Vicaria de la Solidaridad« war ablehnend. So wurde er zum idealen Bündnispart-
43 Der Probst der evangelisch-lutherischen Kirche, Helmut Frenz, war Mitpräsident des
Friedenskomitees. Diesem gehörten auch die griechisch-orthodoxe Kirche, die jüdische
Gemeinde, die Anglikaner, Methodisten und Baptisten an.
44 Vgl. La Iglesia y la junta militar. Documentos (Coleccién Proceso 7), Buenos Aires 1975,
S. 133 ff., und F. Salas, »Crisis en la Iglesia Luterana Chilena« in: Mensaje (Santiago), 24,
Julio 1975, S. 312-315.
45 Vgl. »El otro »Te Deum«« in: Hoy vom 28. September—4. Oktober 1977, S. 11-14, 11.
ZfP 40. Jg. 2/1993
198 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
ner des autoritären Regimes“. Viele seiner wohlwollenden Aussagen über das
Regime sind der Öffentlichkeit mit propagandistischer Förderung durch die
Regierung bekannt geworden. So zitierte das regierungsnahe Tagesblatt »La
Segunda« z. B. am 10. September 1977 Pastor Vasquez:
»Vor dem 11. September 1973 haben wir täglich bis vier Uhr morgens gebetert,
daß die Streitkräfte die Macht übernehmen und dem Chaos ein Ende setzen. Wir
waren die ersten, die die Regierung unterstützten. Und wir haben es nicht
bereut« *.
Dementsprechend sah auch General Pinochet seine Rolle und die der Streit-
kräfte als von Gottes Hand geleitet gegen den Dämon des Kommunismus:
»Der Staatsstreich der Streitkräfte war in der Geschichte unseres Landes die
Antwort von Gott auf die Gebete aller Gläubigen, die in dem Marxismus die fin-
steren satanischen Kräfte in ihrer höchsten Vollendung sehen« *.
Zudem feierten die protestantischen Sekten seit dem Jahr des Militärputsches
jeweils am 17. September eine »Acciön de Gracias« (Aktion des Dankes), an der
General Pinochet wiederholt medienwirksam teilnahm. An dieser Veranstaltung,
die in bewußter Konkurrenz zum »Tedeum« der katholischen Kirche gesehen
wurde, nahmen die meisten Mitglieder der in zwei Verbänden organisierten pro-
testantischen Kirchen teil, nicht jedoch die im »Concilio Mundial de las Iglesias
Evangélicas« vereinten traditionellen protestantischen Gruppen. Der feierliche
Gottesdienst wurde vom 1975 gegründeten »Consejo de Pastores« veranstaltet.
Der »Consejo« vereinigte 1988 insgesamt 49 Gruppen, wie die Iglesia Metodista
Pentecostal, Metodista Unida Pentecostal, Pentecostal Apostölica, Bautista Nacio-
nal, Cristiana Evangélica etc. Er repräsentiert damit 75-80 % der Protestanten im
Lande. Ein zweiter Verband, die 1985 institutionalisierte »Confraternidad Cri-
stiana de Iglesias«, ist vorwiegend Skumenisch ausgerichtet und nimmt nur die eta-
blierten Kirchen auf: sechs pentekostale Sekten, fünf traditionelle wie die Metho-
disten, Presbyterianer und Lutheraner sowie die Iglesia Ortodoxa de Antiquia. Die
Confraternidad repräsentiert mit etwa 350-400 000 Mitgliedern deutlich weniger
Gläubige als der Consejo.
Ein vielinterviewter Vertreter des Consejos und Mitglied der »Iglesia Penteco-
stal Apostélica«, Francisco Anabalön Duarte, begründete die Koinzidenz des
»culto de acciön de gracias«, der Gründung des Consejo und der gerade erfolgten
Machtübernahme durch das Militär mit dem Argument, die vorangegangenen
Regierungen hätten auch im Interesse der katholischen Kirche die Protestanten als
46 Vgl. Hoyvom 20-26. Mai 1985, »Predicar por el mundo«, S. 16-17, 16, und vom 28. Sep-
tember—4. Oktober 1977, S. 14.
47 Zahlreiche weitere Zitate von Kirchen- und Regierungsvertretern zur Bedeutung religi-
öser Gruppen in Chile in H. Lagos Schuffeneger / A. Chacón Herrera, La Religion en las
Fuerzas Armadas y de Orden, 2da.Ed., Santiago 1987, S. 15 ff., 27.
48 S. Lagos / H. Chacón, aaO., S. 26. Die Autoren weisen ferner auf die im Militär systema-
tisch verbreitete Vorstellung hin, eine messianische Aufgabe zu erfüllen und Gott zu die-
nen. Hierzu ebd., S. 45 ff.
German - Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 199
religiöse Minderheit bisher diskriminiert. Allerdings deutete er in einem anderen
Interview an, daß die Initiative zugunsten einer »Accién de Gracias« nicht allein
von den protestantischen Sekten, sondern auch vom Militärregime ausging”. Die
Studien von Humberto Lagos zum Verhältnis zwischen Sekten und autoritärer
Regierung haben jedoch ergeben, daß in der ersten Zeit nach dem Putsch die pen-
tekostalen Sekten von sich aus eine besondere Beziehung zum Regime gesucht
haben °°.
Ein weiterer bedeutsamer Aspekt ist die uneingeschränkte Öffnung der Streit-
kräfte für die protestantischen Sekten seit 1973°!. Auch hier organisierten sich die
Sekten rasch in der »Misiön Evangelica Uniformada«, die neben den Baptisten,
Methodisten und Anglikanern besonders das breite Spektrum der pentekostalen
Sekten integrierte. Die Misión gilt als antikatholisch, antiökumenisch und anti-
marxistisch. Insgesamt sollen im Jahre 1981 ca. 14 % der Angehörigen aller Streit-
kräfte (Heer: 7900, Marine: 1800, Luftwaffe: 1600, Militärpolizei: 3500, Gendar-
merie und zivile Polizei: 200), d. h. etwa 15 000 Mann den protestantischen Grup-
pen angehört haben, wobei jedoch nicht nach Sektenzugehörigkeit differenziert
wurde. Die Unterstützung dieser Gruppen wird auch als Reaktion auf die »verrä-
terische« Haltung der katholischen Kirche durch ihre Kritik z. B. an den Men-
schenrechtsverletzungen gesehen. Allerdings ist hier anzumerken, daß sich die für
Luftwaffe und Militärpolizei zuständigen Juntamitglieder und Lutheraner Matthei
und Stange nicht durch die »Misiön Evangélica Uniformada« vertreten sahen und
das Anwachsen des Protestantismus fast ausschließlich auf die untere und mittlere
Militärhierarchie beschränkt blieb.
Der Einbruch in das zuvor überwiegend katholische Militär wird jedoch durch
einige Faktoren deutlich relativiert und trifft im Grunde den falschen Akteur am
falschen Ort. Der in den Streitkräften praktizierte Katholizismus wird als »sehr
formal« charakterisiert und das »Vicariato Castrense« (Militärvikariat) gilt ohne-
hin durch seine deutlich konservative Einstellung als eine Art »iglesia católica
paralela«. Diese »parallele Kirche« mit besonderen kirchlichen Vorrechten, wie
z. B. einer eigenständigen Priesterausbildung, vertrat eine grundsätzlich andere,
d. h. positivere Auffassung über die herrschenden sozialen Verhältnisse und die
Lage der Menschenrechte unter dem Militärregime als die offizielle Linie des Epi-
skopats. Zudem ist bei politischen Beobachtern der Eindruck entstanden, daß sie
sich der militärischen Hierarchie eher verpflichtet sieht als der kirchlichen.
Sergio Spoerer geht davon aus, daß die Militärregierung mit der Taktik der
Einbindung der Sekten vier Ziele verfolgte*?. Diese Ziele sollen hier abschließend
zusammengefaßt und deutlicher akzentuiert werden:
49 Hoy vom 28. September-4. Oktober 1977 und vom 25.-31. Januar 1988.
50 Hierzu H. Lagos S., La libertad religiosa en Chile, los evangélicos y el gobierno, Vicaria de la
Solidaridad, Santiago 1978, und ders., La función de las minorias religiosas: las transacciones del
protestantismo chileno en el periodo 1973-1981 del gobierno militar, Louvain-la-Neuve 1983.
51 Zu den folgenden Ausführungen siehe S. Lagos / H. Chacón, aaO., S. 65 ff.
52 Vgl. Spoerer, aaO., S. 102.
ZfP 40. Jg. 2/1993
200 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
1. die allgemeine religiöse Legitimation der Regierungspolitik,
2. die Ausübung von Druck auf die regimekritische katholische Kirche mit der
Drohung einer gründlichen protestantischen »Evangelisierung« des Regimes,
3. die Förderung eines alternativen moralisch-religiösen Bewußtseins bei den
Streitkräften durch die von den pentekostalen Sekten vertretenen apologeti-
schen Auffassungen hinsichtlich der Gewaltanwendung durch das Regime und
ihre damit verbundene Befürwortung autoritärer Herrschaftsformen,
4. die Instrumentalisierung von inländischen und ausländischen pentakostalen
Predigern in den Propagandaveranstaltungen des Regimes als Muluplikatoren
der offiziellen Wahrheit, besonders auch im Ausland.
2.2 Brasilien
2.2.1 Zur Ausbreitung der Sekten
Die Daten der Volkszählung in Brasilien aus dem Jahre 1980 zeigen einen langsa-
men, aber ständigen Rückgang des Katholizismus (vgl. Tabelle 3) *. Zu beobach-
ten ist von 1940 bis 1980 ein Absinken des prozentualen Anteils an Katholiken in
der Bevölkerung um 6%. Die Angaben des Statistischen Bundesamtes geben
jedoch nicht die tatsächlichen Daten zur Religionszugehörigkeit wieder, da die
Angaben freiwillig gemacht werden und eine erhebliche Zahl von Anhängern des
weitverbreiteten kardecistischen Spiritismus und afro-brasilianischen Synkretismus
sich offiziell zum katholischen Glauben bekennen. Ein typisches Beispiel hierfür
war die berühmte Candomblé-Priesterin »mäe« Menininha do Gantois, die sich
dem Volkszähler gegenüber als Katholikin bezeichnete“.
In Salvador da Bahia mit etwa 1,5 Mio. Einwohnern, wo es nach dem Volks-
mund so viele katholische Kirchen gibt wie das Jahr Tage hat, wurde im Jahre
1984 die Zahl der Candomblé-Tempel auf 1262 geschätzt, neben weiteren 100 des
Umbanda-Kultes. Die verschiedenen afro-brasilianischen Kulte hatten nach eige-
nen Angaben im ganzen Land rund 300 000 Zentren mit durchschnittlich jeweils
100 Anhängern, das hieße 30 Millionen Menschen”. Es gibt aber auch neuere
Zahlen, die zwischen 40 und 70 Millionen liegen *
53 Der alle 10 Jahre erfolgende Zensus wurde 1990 aufgrund der wirtschaftlichen Probleme
des Landes verschoben und fand im Laufe des Jahres 1991 statt. Die neuesten Zahlen
lagen für diese Studie nicht vor. Zu den folgenden Daten siehe Anudrio Estatistico do Bra-
sil — 1984, IBGE 1985, Rio de Janeiro, 74/150.
54 Vgl. Veja vom 7. Januar 1981: »O boom umbandista«, S. 40.
55 Vgl. Veja vom 7. Januar 1981, S. 40, und vom 8. Februar 1984: »A festa dos orixäs«, S. 62.
Ferner HK vom März 1986, S. 125.
56 Vgl. FAZ vom 6. Juni 1990: »Brasilien — ein katholisches Land?«
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 201
Tabelle 3
Demographische Angaben zu Brasilien
Die Verteilung der Bevölkerung nach Religionen
1940 1950 1960 1970 1980
Bevölkerung in Mio. 39,18 48,56 65,33 85,47 105,90
In %:
Rémisch-Katholisch 95,01 93,48 93,08 91,77 88,95
Protestanten 2,61 3,35 4,03 5,17 6,63
Spiritisten 1,12 1,59 1,40 1,27 1,29
Andere Religionen 0,80 0,79 0,94 1,03 1,24
Ohne Religion 0,21 0,53 0,50 0,75 1,64
Ohne Angaben 0,25 0,26 0,05 0,01 0,25
Auch die evangelikalen Sekten, die rund 80 % aller Protestanten in Brasilien auf
sich vereinigen, breiten sich nach Tabelle 4 Anfang der neunziger Jahre mit Millio-
nen von Anhängern und Zehntausenden von Tempeln im ganzen Land rasch aus”.
Ihr Anwachsen wurde von 1970 bis 1980 auf rund 200 % geschätzt, was einer
durchschnittlichen jährlichen Quote von 20 % entsprache*.
Getrennt von diesen Sekten sind die beiden historischen evangelischen Kirchen
in Brasilien zu sehen. Die von deutschen Einwanderern in der zweiten Hälfte des
19. Jh. gegründete »Igreja Evangélica de Confissão Luterana no Brasil« (IECLB)
und die »Igreja Evangélica Luterana do Brasil« umfassen gemeinsam ca. 1,5 Mil-
lionen Gläubige. Sie stimmten in sozialen Fragen und bei der Problematik der
Menschenrechtsverletzungen mit den Ansichten der katholischen Kirche weitge-
hend überein °”.
Nach Angaben des Rates Nordamerikanischer Kirchen waren 1982 in Brasilien
3000 amerikanische Missionare tätig“. Eine verläßliche Angabe über die Anzahl
57 Vgl. Veja vom 16. Mai 1990: »A f& que move multidöes avanca no pais«, S. 46-52, und
FAZ vom 6. Juni 1990. Eine fundierte Studie lieferte F.C. Rolim, Pentecostais no Brasil.
Uma Interpretacdo Söcio-Religiosa, Petrópolis 1985.
58 Vgl. M. Aubree, »A penetração do »protestantismo evangelizador: na América Latina« in:
Comunicações do ISER, Ano 5, No. 23, Dezembro 1986, S. 35—44, 37.
59 Hierzu H.-J. Prien, Evangelische Kirchwerdung in Brasilien. Von den deutsch-evangelischen
Einwanderergemeinden zur Evangelischen Kirche Lutherschen Bekenntnisses in Brasilien,
Gütersloh 1989. Zahlen aus Veja vom 16. Mai 1990, ebd., S. 49. Zum traditionellen Pro-
testantismus siehe ferner den Schwerpunktband Protestantismo e Politica no Brasil, Cader-
nos do ISER (Instituto Superior de Estudos da Religião), 7, Novembro de 1970.
60 Vgl. FAZ vom 21. August 1985: »Die katholische Mehrheit ist heute gefahrdeter denn
je«.
ZfP 40. Jg. 2/1993
14
202 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
der Sekten in Brasilien gibt es nicht. Die Schatzungen schwanken zwischen mehre-
ren Tausend. Die fünf größten Pfingstkirchen in Brasilien und ihre geschätzte
Anhängerzahl werden in der folgenden Tabelle 4 wiedergegeben“. Hinzu kom-
men noch weitere bekannte religiöse Bewegungen wie die Mormonen (101 584),
die Zeugen Jehovas (122 661), die Moon-Sekte (4000) und die japanische Sekte
Seicho-No-Ié (über 1 Mio.). Eine besondere Anziehungskraft auf die Sekten übt
die Hauptstadt Brasilia und ihre mystisch anmutende Umgebung aus*. In der
Hauptstadt und ihren Satellitenstädten stehen imposante Tempel, wie eine Kathe-
drale der »Assembleia de Deus« und die »Casa da Bênção« (Haus des Segens) der
»Igreja do Tabernáculo Evangélico de Jesus« (250 000). Im Vorort Taguatinga
wurden 46 unterschiedliche Glaubensgemeinschaften gezählt, und in der näheren
Umgebung der Hauptstadt leben im »Tal der Morgenröte« die Anhänger des auf
Zehntausende von Mitgliedern geschätzten »Spiritualistisch-christlichen Ordens«,
der an synkretistischer Integrationsfähigkeit von Heiligen aus anderen Zeiten,
Kulturen und Religionen wohl alle anderen Kulte übertrifft und auch Kongreßab-
geordnete zu seinen Anhängern zählt*.
61 Zu den Daten in Tabelle 4 siehe Veja vom 16. Mai 1990, S. 46-52. Hierzu ferner mit älte-
ren Daten Visao vom 2. Oktober 1985: »Novas crengas. Catölicos, cada vez menos«, Veja
vom 7. Oktober 1981: »O avanço dos crentes«, S. 56-64, und B. Kloppenburg, »O
problema das seitas em contexto ecuménico« in: Igreja e Missão, Ano XXVI, Janeiro-
Junho 1974, Nos. 65/67, S. 24—43.
62 Es wurde sogar ein Sektenführer mit 153 Seiten veröffentlicht: D. Luz, Roteiro Mágico de
Brasilia, DF (Brasilia) 1986. Zu Brasilia ferner /stoe/Senbor vom 24. August 1988, No. 988,
»Capital da fé. Seitas religiosas crescem e ficam ricas gracas aos fiéis de Brasilia«, S. 52,
und die Studie einer Studentengruppe Religião e Politica no Distrito Federal, Antropologia
- V, Novembro 1979, Fundação Universidade de Brasilia.
63 Vgl. Wulfhorst, aaO. In Brasilien selbst hat sich besonders P. José Vicente César mit die-
ser Sekte beschäftigt. Hierzu seine drei Publikationen in der Zeitschrift Atualização
(Revista de Divulgação Teológica para o Cristão de Hoje), No. 93/94, Set./Qut. 1977: »O
»vale do amanhecer: - um fenômeno de sincretismo religioso«, S. 367-391; No. 95/96,
Nov./Dez. 1977: »O »vale de amanhecer: e sua dotrina: um enorme sincretismo«,
S. 451-508; No. 97/98, Jan./Fev. 1978: »O >vale do amanhecer:: a liturgia«, S. 58-107.
Ferner M. Sassi, No Limiar do III° Milénio, ed. Vale do Amanhecer, o. J.
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 203
Tabelle 4
Brasilien: Pentekostale Sekten Ende der achtziger Jahre
(Schätzungen)
Pentekostale insgesamt 12-20 Mio.
Assembléia de Deus — Gottesversammlung
(1911 aus den USA nach Brasilien gekommen, 32 000 Tempel) 8,0
Congregação Crista do Brasil — Christliche Kongregation
Brasiliens
(als erste Osterkirche 1910 aus den USA ins Land gekommen) 2,0
O Brasil para Cristo — Brasilien für Christus
(1956 als Gegenkirche zu den ausländischen Sekten gegründet,
5000 Tempel) 1,0
Igreja Universal do Reino de Deus — Universelle Kirche
des Königreichs Gottes (1977 von einem Brasilianer gegründet,
850 Tempel) 0,5
Igreja do Evangelho Quadrangular - Kirche des viereckigen
Evangeliums
(1940 von Amerikanern gegründet) 0,25
2.2.2 Politische Aktivitäten der Sekten während der Demokratisierung
Während die Sekten in Brasilien unter der Militärherrschaft (1964—1985) politisch
kaum aufgefallen sind, war ihre Rolle in der zwar zivilen, aber nach wie vor auto-
ritär geprägten Präsidentschaft José Sarneys (1985—1989) um so bedeutsamer. Im
Verlaufe dieser Ubergangsregierung wurde vom Kongreß als Verfassungsgebender
Versammlung eine neue, demokratieorientierte Staatsordnung entworfen und ver-
abschiedet. Sie bildete die Grundlage für die Regierung des Ende 1989 erstmals
seit 29 Jahren wieder direkt gewählten Staatspräsidenten.
Die freien Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im Jahre 1986 hat-
ten den Vertretern evangelischer Sekten insgesamt 33 der 487 Sitze im Abgeordne-
tenhaus des Kongresses gebracht“. Aufgefallen sind die protestantischen »Abge-
ordneten Gottes« (»deputados de Deus«) dadurch, daß unter ihnen etwa 26 Politi-
ker eine überparteiliche Fraktion mit dem zunächst viertstärksten Stimmenblock
64 Die afro-brasilianischen Kulte hatten teilweise auch eigene Kandidaten aufgestellt. So
unterstützte der Verband »Federação Paranaense de Umbanda e Cultos Afro-Brasilieros«
den Politiker Eduardo Barrozo und gründete hierzu ein »Comité Independente da
Umbanda e Candomblé«. Das »Programm« des Kandidaten war auf die Förderung der
Kulte ausgerichtet und versprach den Einsatz für Sozial- und Bildungshilfen. Die Mög-
lichkeiten einer Agrarreform wurden angesprochen, jedoch sollte diese vorrangig bei
staatseigenem Grund und Boden durchgeführt werden. Vgl. Wahlzeitschrift »Constitu-
tinte-Deputado Federal 86«, Curitiba.
ZfP 40. Jg. 2/1993
14*
204 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
nach den führenden Parteien PMDB, PFL und PDS bildeten®. Diese Fraktion
nutzte ihr Stimmenpotential offensichtlich nicht im Sinne eines Wählerauftrages
oder einer bestimmten politischen Vorstellung über die bestmögliche demokrati-
sche Verfassung, sondern als Handelsobjekt zur Erlangung von Vorteilen aller Art
für ihre Kirchen, aber auch für einzelne Sektenführer selbst und ihre Anhänger“.
Diese Einstellung zum Beruf des Volksvertreters war zwar weit verbreitet, doch
erstaunte politische Beobachter die Nonchalance, mit der die Sektenpolitiker ihre
persönlichen Interessen in bare Münze umsetzten.
Der natürliche Adressat war die Regierung, die über die entsprechenden Mög-
lichkeiten zur Vorteilsgewährung verfügte und Unterstützung für ihre Anliegen
und ihre politisch und sozial konservative Linie in der Verfassungsgebenden Ver-
sammlung suchte. Anderthalb Jahre nach der Wahl der Versammlung hatte die
protestantische Fraktion unter der Führung des Abgeordneten Gidel Dantas (CE-
PMDB) bereits eine Vielzahl von Pfründen erlangt. Bei der Ausarbeitung der Ver-
fassung stimmten ca. 80 % der Sektenpolitiker stets im Sinne der Regierung und
mit den konservativen Kräften, die der vorangegangenen Militärregierung und
den Wirtschaftseliten nahestanden*’. Zu den Pfründen für die Kirchen und ihre
65 Die »bancada evangélica« setzte sich aus folgenden Politikern zusammen, wobei sich die
ersten 26 dem konservativen überparteilichen Bündnis »Centräo« in der Verfassungsge-
benden Versammlung angeschlossen hatten. Von Fall zu Fall stimmten sie auch als eige-
ner Block ab. Die in Brasilien übliche, alphabetische Reihenfolge nach dem Vornamen
wurde übernommen: Antönio de Jesus/Assembléia de Deus (GO-PMDB), Arolde de Olı-
veira/Batista (RJ-PFL), Costa Ferreira/Assembléia de Deus (MA-PFL), Daso Coimbra/
Congregacional (RJ-PMDB), Edivaldo Holanda/Batista (MA-PFL), Eliel Rodrigues/
Assembléia de Deus (PA-PMDB), Enoc Vieira/Batista (MA-PFL), Eraldo Tinoco/Bati-
sta (BA-PFL), Eunice Michiles/Adventista (AM-PFL), Fausto Rocha/Batista (SP-PFL),
Gidel Dantas/Assembléia de Deus (CE-PMDB), Jayme Paliarin/Evangelho Quadrangu-
lar (SP-PTB), Joao de Deus/Assembléia de Deus (RS-PDT), Jose Viana/Assembleia de
Deus (RO-PMDB), Levy Dias/Presbiteriana Independente (MS-PFL), Manoel Moreira/
Assembléia de Deus (SP-PMDB), Mario de Oliveira/Evangelho Quadrangular (MG-
PMDB), Matheus Iensen/Assembléia de Deus (PR-PMDB), Milton Barbosa/Assembléia
de Deus (BA-PMDB), Naphtalı Alves/Cristä Evangélica (GO-PMDB), Orlando
Pacheco/Assembléia de Deus (SC-PFL), Roberto Augusto/Igreja Universal do Reino de
Deus (RJ-PTB), Roberto Vital/Batista Renovada (MG-PMDB), Rubem Branquinho/
Presbiteriana (AC-PMDB), Salatiel Carvalho/Assembléia de Deus (PE-PFL), Sotero
Cunha/Assembleia de Deus (RJ-PDC).
Als »Dissidenten« galten folgende sieben Abgeordnete, die sich dem protestanuschen
Block nicht angeschlossen haben: Benedita da Silva/Assembléia de Deus (RJ-PT), Celso
Dourado/Presbiteriana (BA-PMDB), Edésio Frias/Batista (RJ-PDT), José Fernandes/
Assembléia de Deus (AM-PDT), Lezio Sathler/Presbiteriana (ES-PMDB), Lysäneas
Maciel/Presbiteriana (RJ-PDT), Nelson Aguiar/Batista (ES-PMDB). Vgl. Jornal do Bra-
silvom 7. August 1988 (Caderno B): »A bancada evangélica« (Druckfehler wurden korri-
giert).
66 Hierzu im Detail Jornal do Brasil vom 7. August 1988 (Caderno B): »A Constituigäo
segundo os evangélicos«.
67 Vgl. Veja vom 6. Dezember 1989: »Com a mao esquerda«, S. 56-59, und vom 1. Juli 1987:
»Os deputados de Deus«, S. 48-51. Zum Lebenslauf und Abstimmungsverhalten aller
Verfassungsgeber zu den wichtigsten Sachthemen siehe Departamento Intersindical de
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 205
religiösen Führer zählten eine Fernsehstation, mindestens ein halbes Dutzend
Radiosender, wichtige Regierungs- und Verwaltungsämter, zahlreiche Vergünsti-
gungen und vor allem hohe finanzielle Zuwendungen von staatlicher Seite. Hinzu
kamen wertvolle Geschenke, wie z.B. Computerausstattungen, von privaten
Unternehmen. Die langen Forderungslisten der »evangélicos« waren unter den
Verfassungsgebern bekannt. Bei offiziellen Anlässen im Regierungspalast konnte
allein die Gegenwart von Politikern aus dem protestantischen Block zu dem lauten
Kommentar eines Abgeordneten der Liberalen Partei (PFL) führen, daß nun das
Staatsdefizit erneut ansteigen werde.
Diese Einstellung evangelikaler Abgeordneter führte auch zu Protesten und
Distanzierungen von sieben Abgeordneten in den eigenen Reihen. So wandten sich
Nelson Aguiar (ES-PMDB) und Lysäneas Maciel (RJ-PMDB) scharf dagegen,
daß religiöse Gruppen als politisches Instrument zur Erlangung von Posten und
Vergünstigungen eingesetzt würden. Auch sei zu bedauern, daß die »evangélicos«
in Skandale jeglicher Art verwickelt seien. Nach späteren Schätzungen von Maciel
kostete jede Abstimmung des Blocks im Interesse der Regierung etwa 50 000 US-
Dollar.
In der Debatte der Verfassungsgebenden Versammlung über das Medienwesen
und die Festlegung der Amtszeit des Präsidenten Jose Sarney wurde der politische
Handel besonders deutlich. Die Gegenstimmen aus dem protestantischen Block
trugen ferner zum Scheitern des Entwurfes zugunsten eines parlamentarischen
Systems (30 Befürworter des Präsidentialismus) und der wohl notwendigsten aller
Reformen, der Agrarreform, bei. Letzteres war das wichtigste Anliegen des rechts-
konservativen und mächtigen Verbandes UDR der Großgrundbesitzer.
Im Zusammenhang mit den »Meios de Communicagäo Social« hatte die katho-
lische Kirche schwere Vorwürfe gegen den Präsidenten der Republik erhoben”.
Der Regierungschef strebte eine Festlegung seiner Amtszeit auf fünf Jahre durch
die Verfassungsgebende Versammlung an’!. Nicht nur von kirchlicher Seite wird
Assessoria Parlamentar (DIAP), Quem foi Quem na Constitutinte nas questöes de interesse
dos trabalhadores. Organização e pesquisa do DIAP, Sao Paulo 1988. Ferner die beiden
Bücher L. M. Rodrigues, Quem é Quem na Constituinte. Uma Análise Söcio-Politica dos
Partidos e Deputados, Sao Paulo 1987, und Brasil. Assembléia Nacional Constituinte-
1987/88, Repertörio Biografico dos Membros, 2.ed., Brasilia 1989, Camara dos Deputados,
Coordenação de Publicações.
68 Vgl. Jomal do Brasil vom 7. August 1988 (Caderno B): »O déficit ora no Planalto«.
69 Vgl. Jornal do Brasil vom 7. August 1988 (Caderno B): »A santa fisiologia«, und Jornal do
Brasil vom 30. November 1990: »Evangélicos perdem força no Congresso«.
70 Vgl. hierzu CNBB, Curso Pastoral de Comunicação, Agosto de 1988, Brasília, S. 5
(mimeo).
71 Die Amtszeit des Präsidenten betrug zunächst nach Art. 75 § 3 der Verfassung von 1969
sechs Jahre. Die Grundsatzkommission der Verfassungsgeber beschloß im November
1987 eine Reduzierung auf vier Jahre. Der endgültige Text legt in Art. 82 eine Amtszeit
von fünf Jahren fest. Vgl. Folha de São Paulo vom 16. November 1987: »Sarney é derro-
tado e fica com mandato de 4 anos«, und »Ulysses diz que Sarney »deve aceitar o resul-
tado« «.
ZfP 40. Jg. 2/1993
206 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
davon ausgegangen, daß er zur Erreichung dieses Zieles die in seinem Kompetenz-
bereich liegende Vergabe von Konzessionen zum Betreiben von Radiostationen
und Fernsehsendern als politisches Handelsobjekt genutzt hat. Der letzte Militär-
präsident Brasiliens und Vorgänger Sarneys, General Figueiredo, hatte in sechs
Jahren 634 Lizenzen erteilt. Jose Sarney dagegen vergab in weniger als drei Jahren
bis Januar 1988 bereits 524 Sendegenehmigungen. Diese Praxis kam dem prote-
stantischen Flügel in der Verfassungsgebenden Versammlung zugute, der schließ-
lich mit 26 Stimmen die umstrittene Amtszeit von fünf Jahren befürwortete. Der
von Sarney gewünschte Antrag zugunsten einer fünfjährigen Amtszeit war von
dem Abgeordneten Matheus Iensen (PR-PMDB) eingebracht worden, einem Mit-
glied der pentekostalen Sekte »Assembléia de Deus« und Inhaber religiös orien-
tierter Medien, wie zwei Radiosendern, einer Tageszeitung und einer Platten-
firma. Iensen hatte sich zuvor mit dem Staatschef getroffen und arbeitete darauf-
hin eng mit dem Regierungsvertreter im Abgeordnetenhaus, Carlos Sant’Anna
(BA-PMDB), zusammen.
Am 10. Juni 1988, eine Woche nach der erfolgreichen Abstimmung im Kongreß,
erhielt einer seiner Söhne die Konzession für eine Radiostation. Der Abgeordnete
selbst erwartete eine weitere und plante die Errichtung einer eigenen Fernsehsta-
tion. Andere Mitglieder des protestantischen Blocks wurden auf gleiche Weise
favorisiert, erhielten Regierungsämter oder wurden mit der Besetzung hoher Ver-
waltungsposten beauftragt”. Bekannt ist ebenfalls, daß der Baptist Nilson Fanini
noch unter dem Militärregime von General Figueiredo als Dank für seine politi-
sche Unterstützung die Konzession zum Betreiben eines religiösen TV-Senders
erhielt”.
Im Hinblick auf die gescheiterten Versuche sozial engagierter Politiker, eine
Agrarreform verfassungsrechtlich zu verankern, haben die Mitglieder der Sekten
dezidiert kontraproduktiv gewirkt und sogar in mindestens zwei Fällen völlig
anders abgestimmt, als ihre engagierten Reden vermuten ließen. So sprachen sich
Milton Barbosa (BA-PMDB) und Mário de Oliveira (MG-PMDB) öffentlich
zugunsten einer radikalen Agrarreform aus, stimmten dann aber dagegen. Vor der
entscheidenden Abstimmung hatten sich allerdings der Koordinator des protestan-
tischen Blocks, Gidel Dantas, und der Präsident des Großgrundbesitzerverbandes
UDR, Ronaldo Caiado, zu einer langen Sitzung getroffen. Mit 23 Stimmen aus
dem protestantischen Block favorisierte dann die Mehrheit der Verfassungsgeber
im Sinne der UDR eine Bestimmung, die sog. »produktive Flächen« von der Ent-
72 Im Medienbereich erhielten z. B. Fausto Rocha, Jodo de Deus, Arolde de Oliveira, Mario
de Oliveira Konzessionen. Alle hatten für die fünf Jahre für Sarney gestimmt. Vgl. im
Detail Jornal do Brasil vom 7. August 1988: »A Constituição .. .«, Latinamerica Press vom
15. September 1988, S. 2, und Folha de Sao Paulo vom 31. Juli 1988: »Pentecostalismo é o
grupo religioso que mais cresce na America Latina«. Zu den einzelnen Verfassungsgebern
siehe ferner Anuário Parlamentar Brasileiro 1989, Ano III, Brasília.
73 Vgl. Latinamerica Press vom 17. Marz 1988, S. 7.
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 207
eignung ausnahm. Wohl bewußt wurde offen gelassen, nach welchen Kriterien
sich eine solche Klassifikation richten sollte”.
Bei den Kongreßwahlen im Jahre 1990 hatten sich die Mitglieder des protestan-
tischen Blocks große Chancen ausgerechnet. Tatsächlich wurden von allen 33 nur
sieben wiedergewählt. Als Hauptgrund galt die mangelnde politische Seriösität.
Insgesamt umfaßte die neue Gruppe nur noch 15 Abgeordnete, wobei sich die Zahl
der Kandidaten für politische Ämter aus den Reihen der protestantischen Sekten
allerdings vervielfacht hatte. Eine zuvor nicht repräsentierte politische Kraft soll
die »Igreja Universal do Reino de Deus« unter Führung von Alberto Felipe Had-
dad Fılho (SP-PRN) darstellen. Die Sekte verfügt über mehrere Radiosender, die
Fernsehstation Radio Record und erhebliche finanzielle Mittel. Auch nicht-prote-
stantische Kongreßabgeordnete sollen mit ihrer Unterstützung gewählt worden
sein. Die grundsätzlich regierungsfreundliche Einstellung der Sektenpolitiker
dürfte, solange dies mit Vorteilen und einer konservativen Regierungspolitik ver-
bunden ist, auch weiterhin erhalten bleiben’. Daher wurde auch der den politi-
schen und wirtschaftlichen Eliten Brasiliens nahestehende Präsidentschaftskandi-
dat Fernando Collor de Mello von den meisten evangelischen Sektenführern bei
seinem erfolgreichen Wahlkampf unterstützt ’*®.
Abschließende Betrachtung
Die genauere Untersuchung des Sektenphänomens in Lateinamerika zeigt, daß
diese religiösen Gruppen alle Möglichkeiten wahrnehmen, um ihre gesellschaftli-
che Stellung auszubauen. Herausragend durch ihre Militanz sind hierbei die pen-
tekostalen Sekten. So kommt es auch in den »neuen Demokratien« zur Diffamie-
rung der katholischen Kirche und anderer Religionsgemeinschaften, wobei selbst
vor Gewalttätigkeiten kein Halt gemacht wird. Die erheblichen Finanzmittel aus
zweifelhaften Quellen erleichtern den Einstieg der Sekten in Wirtschaft und Poli-
tik der unterentwickelten, von Korruption zerrütteten Länder. Ein politisches
Konzept außer der Machtausweitung der eigenen Kirchen und einem diffusen
Anti-Kommunismus ist bei den meisten gewählten Volksvertretern aus den Sekten
nicht erkennbar.
Während des jahrzehntelangen Ringens um politische und soziale Reformen in
den Ländern Lateinamerikas wirkten die Sekten insgesamt betrachtet durch ihre
Weltanschauung und ihr Auftreten kontraproduktiv gegen die Bemühungen
demokratieorientierter Wandlungsträger’”’. Besonders prägnante Behinderungsele-
74 Vgl. Correio Braziliense vom 30. August 1988: »Reforma agrária é como a UDR queria«.
75 Vgl. Jornal do Brasil vom 30. November 1990: »Evangélicos perdem .. .«
76 Zur Haltung der Sekten und der katholischen Kirche bei den Präsidentschaftswahlen
siehe die umfangreiche Dokumentation des CEDI (Centro Ecuménico de Documentagäo
e Informação) Fevereiro de 1990: Igrejas e Eleições Presidenciais. Dossiê, Rio de Janeiro:
Serviço de Documentação do Programa de Assessoria à Pastoral (Pp).
77 Zur Bedeutung der katholischen Kirche für den Demokratisierungsprozeß siehe C. Ger-
ZfP 40. Jg. 2/1993
208 German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika
mente der Demokratisierung bestehen von seiten der protestantischen Sekten und
im Falle Brasiliens einschließlich des kardecistischen Spiritismus und der afro-bra-
silianischen Kulte darin, daß sie die Armut als natürliches Phänomen akzeptierten.
Das hieraus resultierende status-quo-Denken kam den autoritären Regierungen
entgegen, die sich gegen jede Form und jeden Versuch sozialreformerisch orien-
tierter Interessenvertretung wandten. Die Sekten wurden daher von den traditio-
nell herrschenden Kräften aus Wirtschaft, Politik und Militär und den mit ihnen
liierten Regierungen zumindest wohlwollend behandelt und oftmals tatkräftig
unterstützt. Die anti-soziale Grundhaltung der Sekten ist durchaus funktional, da
besonders Armut und Hoffnungslosigkeit in der Bevölkerung ihre Klientel erst
schafft.
Gestärkt durch die günstigen Wachstumsbedingungen unter den Militärregimes
können die Sekten nunmehr in den neuen und schwachen Demokratien des Konti-
nents auf vielfältige Weise partizipieren. Durch den wiedererlangten politischen
Pluralismus seit Beginn der achtziger Jahre zeigt sich, daß sie die Parlamente
sowie Verwaltungs- und Regierungsämter als Betätigungsfeld zur Durchsetzung
ihrer partikularen Interessen entdeckt haben und nutzen.
Zusammenfassung
Das rasante Wachstum von protestantischen Sekten in Lateinamerika ist hinsicht-
lich der politischen Dimensionen des Phänomens kaum untersucht worden. Beson-
ders gute Entfaltungsmöglichkeiten boten sich den politisierten Sekten unter den
Militärregimen, wie die Fälle Guatemala und Chile belegen. Ihre sozial-konserva-
tive Haltung und die Befürwortung autoritärer Herrschaft machten sie hier zu
einem nützlichen Propagandainstrument.
Im Demokratisierungsprozeß Brasiliens spielten die meisten Politiker aus den
Sekten eine besonders kontraproduktive Rolle. Sie diskreditierten sich durch die
einseitige Vertretung der Interessen ihrer Organisationen, neben einer ausgepräg-
ten Bereitschaft zur politischen Korruption bei anderen Sachfragen. Es ist davon
auszugehen, daß die finanziell oft ausgezeichnet ausgestatteten Sekten ihre gesell-
schaftliche, wirtschaftliche und politische Stellung in Lateinamerika kontinuierlich
auszubauen suchen.
Summary
The rapid growth of protestant sects in Latin America is rarely investigated in
regard of the political dimensions of the phenomenon. Particularly good possibili-
ties of development were offered to the politicised sects under the military
regimes, as illustrated by the cases of Guatemala and Chile. Here, their social-con-
man, »Brasilien: Politik und katholische Kirche in der »Neuen Republik«« in: Verfassung
und Recht in Übersee, 23. Jg., 1. Quartal 1990, S. 3-18.
German . Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika 209
servative position and support of authoritarian rule made them a useful instrument
of propaganda.
In Brazil’s democratization process most of the politicians of the sects played a
specially counterproductive role. They discredited themselves by attending only to
the interests of their organizations, apart from a distinctive readiness to political
corruption concerning other issues. It can be assumed that the sects which often
have excellent financial means will continuously try to extend their social, econ-
omic and political position in Latin America.
ZfP 40. Jg. 2/1993
SAMMELBESPRECHUNG
Michael Lifke
Gab es eine »Reagan-Revolution«?
Reagans Präsidentschaft und das politische System der USA im Urteil
amerikanischer und britischer Politikwissenschaftler
Anders als seine Vorgänger und sein Nachfolger war Präsident Ronald Reagan
auch am Ende seiner Amtszeit bei der Mehrheit der US-Bürger sehr angesehen -
nicht nur als Person, sondern auch mit der Politik, die er verkörperte. Hatten die
USA doch unter seiner Führung ihr Selbstbewußtsein nach innen und außen dank
Wirtschaftsaufschwung, militärischer Stärke und internationaler Entspannung
wiedererlangt, und hatte er mit der Verwirklichung zentraler Teile seines Wahl-
programms wie mit seinem persönlichen Auftreten dem Amt des Präsidenten neue
Glaubwürdigkeit verliehen. Aus dieser »populären« Perspektive erscheinen die
achtziger Jahre positiv als »Ära Reagan«, die sich grundlegend von der »Malaise«
der siebziger Jahre unterscheiden.
Bei den politikwissenschaftlichen Beobachtern inner- wie außerhalb der USA
herrschte diesbezüglich vor allem am Anfang mehr Skepsis, da Reagans konserva-
tives Weltbild zu simplistisch und anachronistisch wirkte, um Antworten auf die
Herausforderungen seines Jahrzehnts hervorbringen zu können. Es ist deswegen
interessant, hier zum Teil erhebliche Einschätzungsänderungen feststellen zu kön-
nen, die in die Leitfrage dieses Literaturüberblicks münden. Von Wissenschaftlern
darf erwartet werden, daß sie dafür klarere Kriterien anbieten als die eher unre-
flektierte Zustimmung, die in den Meinungsumfragen ermittelt wurde. Hier lassen
sich zwei Ansätze erkennen.
Einmal werden die Entwicklungen auf unterschiedlichen Politikfeldern
(Außen-, Sozial-, Wirtschaftspolitik, etc.) in der Reagan-Zeit darauf hin unter-
sucht, wie weit sie sich inhaltlich von früheren unterscheiden und dabei den ım
Wahlkampf versprochenen neuen Prioritäten folgen. Darüber hinaus wird danach
gefragt, wie weit jenseits derart substantieller, aber durchaus zurücknehmbarer
Neuorientierung die grundlegende Struktur des politischen Systems (etwa die
Organisation und Stellung zentraler Institutionen oder die dadurch geprägten Ent-
scheidungs- und Vermittlungsprozesse) dauerhaft verändert worden ist. Für beides
liefert die Präsidentschaft F. D. Roosevelts Vorbild und Referenzrahmen, weil er
über die inhaltliche Neugestaltung der Politik hinaus (soziale Verpflichtung des
Staates nach innen und Förderung einer demokratisch-internationalistischen Welt-
ordnung nach außen) auch das strukturelle Gerüst der »modernen Präsident-
Lißke : Gab es eine »Reagan-Revolution«? 211
schaft« schuf (Mobilisierung der Bevölkerung über die Medien einerseits, Etablie-
rung einer neuen Bürokratie andererseits). Eine »Reagan-Revolution« müßte also
vergleichbar umfassende Veränderungen bewirkt haben.
Dieser Maßstab wird aber für die heutige Zeit von denen in Frage gestellt, die
alle westlichen Demokratien in einer Art »Schwerregierbarkeitskrise« sehen, weil
steigende Erwartungen von Öffentlichkeit und Interessengruppen an die Politik
von den zunehmend bürokratisch und korporatistisch gefesselten Regierenden
immer weniger erfüllt werden können. Aus dieser Perspektive mögen bereits leich-
tere Verbesserungen des Status quo in Richtung politischer Führung und Hand-
lungsfahigkeit als »revolutionärex Veränderung erscheinen. Die vorgestellten
Werke müssen sich also fragen lassen, anhand welcher dieser — oder eventuell auch
anderer — Maßstäbe und in bezug auf welche Politikinhalte sie zu ihren Einschat-
zungen der Reagan-Präsidentschaft kommen.
I. John D. Lees / Michael Turner (eds.): Reagan’s first four years. A new beginning?
Manchester 1988. Manchester University Press.
Einer der ersten Bilanzierungsversuche stammt von einer Reihe britischer Autoren,
deren Studien — entgegen dem Titel — die Zeit bis Anfang 1987 abdecken. In zwölf
Kapiteln über den ideologischen Anspruch der Reagan-Administration, ihre Orga-
nisation und inhaltlichen Schwerpunkte fragen sie nach Ausmaß und Dauerhaftig-
keit der Veränderungen, die dieser Präsident bewirkte.
Als sehr gut wird beispielsweise das anfängliche »Regierungsmanagement«
beurteilt: eine Organisation des Weißen Hauses, des Kabinetts und der Bürokratie,
die Effizienz und Loyalität gegenüber dem Präsidenten und seinen Vorhaben
sicherte und zu den großen Legislativerfolgen der Anfangszeit wie Steuersenkung
und Aufrüstung wesentlich beitrug. Hier wird Reagan ein Ausmaß effektiver poli-
tischer Führung zuerkannt, das im »neuen« amerikanischen politischen System
kaum mehr für möglich gehalten worden war und das durchaus umwälzend
wirkte. Die schwierigere zweite Amtszeit Reagans (siehe »Irangate«) läßt die Auto-
ren aber bezweifeln, ob ihm eine dauerhafte Neustrukturierung der Kräfte im poli-
tischen Prozeß zugunsten des Präsidenten gelungen ist. Ebenfalls uneinheitlich
schätzen sie Reagans Erfolge bei der (Um-)Gestaltung zentraler Politikfelder ein:
Dem Durchsetzen neuer Prioritäten in der Außen-, Sicherheits-, Haushalts- und
Steuerpolitik sehen sie Mißerfolge in der konservativen Neuregelung der »social
issues« gegenüberstehen. Insgesamt ziehen die Herausgaber aber doch eine recht
positive Bilanz der ersten sechs Reagan-Jahre, da er unerwartete Führungsqualitä-
ten bewiesen, die Politik inhaltlich nachhaltig geprägt und damit »einen neuen
Anfang« ermöglicht habe.
II. B. B. Kymuicka / Jean V. Matthews (eds).: The Reagan Revolution? Chicago
1988. Dorsey.
Herausgeber und Autoren (aus den USA und Kanada) fragen in diesem Band
ZfP 40. Jg. 2/1993
212 Lißke - Gab es eine »Reagan-Revolution«?
schon im Titel pointierter nach der Leistung Reagans, und das Fragezeichen deu-
tet die Richtung ihrer Antwort an, obwohl sie sich — wie das vorherige Werk — auf
den erfolgreicheren ersten Abschnitt seiner Amtszeit konzentrieren. Das liegt
daran, daß ihre Kriterien »revolutionärer« Veränderung der amerikanischen Poli-
tik klar auf das Vorbild Roosevelt ausgerichtet sind und die Auswahl der von
ihnen analysierten Politikfelder vor allem an den umfassenden Wahlkampfverspre-
chungen Reagans orientiert ist.
Die einzelnen Studien machen nämlich deutlich, daß trotz aller Rhetorik auf
beiden Seiten die erhoffte - oder befürchtete — konservative »Wende« in vielen
Bereichen kaum stattgefunden hat. Sozialpolitisch führte Reagan die Linie Carters
fort: Statt zu sparen und den Haushalt auszugleichen, produzierte er gewaltige,
die finanzielle Handlungsfähigkeit des Bundes lähmende Defizite; außenpolitisch
handelte er zunehmend unilateral statt in enger Kooperation mit den Verbünde-
ten. Politikbereiche, denen Reagan mit mehr Erfolg seinen Stempel aufdrückte,
werden hier allerdings nur am Rande behandelt. Die Sicherheitspolitik erwa bleibt
im wesentlichen auf das Thema SDI beschränkt. Untersuchungen zur Organisa-
tion des Regierungsapparates und zum Verhältnis der Institutionen zueinander
fehlen völlig. Lediglich das Parteiensystem gerät ins Blickfeld, und hier wird
Reagan zumindest das Wiedererstarken der Republikaner in Kongreß und Wäh-
lerschaft — immerhin ein nicht unerheblicher Strukturwandel — gutgeschrieben.
Dennoch halten die Herausgeber an einer negativen Bewertung fest: Eine »Revo-
lution«, einen grundlegenden Wandel der USA, habe Reagan nicht erreicht; allen-
falls eine für begrenzte Zeit wirksame Prägung, die sich dem gewohnten Auf und
Ab konservativer Dominanz einfüge.
III. Charles O. Jones (ed.): The Reagan Legacy. Promise and Performance. Chatham
1988. Chatham House.
Dieser im selben Jahr erschienene Sammelband ebenfalls vorwiegend amerikani-
scher Autoren berücksichtigt die strukturellen Entwicklungen deutlich stärker.
Speziell gefragt wird nach dem Wandel im Präsidialamt, im Kongreß, im Gerichts-
wesen und in der Bundesbürokratie; nach den Veränderungen im politischen Pro-
zeß, die durch Wahlen und öffentliche Meinung bewirkt wurden; außerdem nach
substantiellem Wandel in Kernbereichen der Innen- und Außenpolitik.
In vielen dieser Punkte bescheinigen die Untersuchungen Reagan ein bemer-
kenswert erfolgreiches, aus einer Kombination von ideologischer Standfestigkeit
und pragmatischer Flexibilität resultierendes Wirken, das durchaus ein langerfristi-
ges »Vermächtnis« begründen könne. Letzteres wird beispielsweise an den vielen
Neubesetzungen in Justiz und Verwaltung mit eher konservativ ausgerichteten
Personen oder an den Positionsgewinnen der Republikanischen Partei gerade bei
den Jungwählern festgemacht. Da Reagan die anfangs sehr effiziente Regierungs-
organisation mitsamt der Gestaltung der Beziehungen zum Kongreß nicht beibe-
halten konnte, wird darin eher das Aufzeigen der Möglichkeit politischer Führung
Lißke . Gab es eine »Reagan-Revolution«? 213
statt eine dauerhafte Strukturveränderung gesehen. Ähnliches gilt für ein Auswei-
ten seiner persönlichen Popularität zu einem Republikanischen Realignment, das
ebenfalls nur bedingt stattfand.
Durch derart differenzierende Bewertungen machen diese Beiträge deutlich,
wie komplex das politische System der USA sich heute darstellt und wie fragwür-
dig eine starre Orientierung am Maßstab New-Deal-Ära/Roosevelt geworden ist.
Indem sie Herausforderungen wie Ergebnisse der Politik Reagans in einen ihrer
Ansicht nach zeitgemäßeren Rahmen einordnen, kommen sie — bei aller Distanz
einzelner Autoren — zu einer insgesamt recht positiven Einschätzung seiner Lei-
stung.
IV. Joseph Hocan (ed.): The Reagan Years. The record in Presidential leadership.
Manchester 1990. Manchester University Press.
Bei ganz ähnlicher Konzeption, aber leicht anderer Akzentsetzung kommen die
hier versammelten britischen und amerikanischen Autoren zu einem für Reagan
weniger günstigen Ergebnis, da die Frage nach »Presidential leadership« wiederum
am Modell Roosevelt orientiert ist. Hinzu kommt, daß sie die gesamte Amtszeit
Reagans überblicken und vom Glanz seiner ersten Jahre daher weniger geblendet
sind.
Die Leistungen Reagans als Chef der Exekutive, als oberster Gesetzgeber wie
als Parteiführer werden deshalb eher aus der Perspektive von »Irangate« und wirk-
samer Opposition der seit 1986 auch im Senat wieder die Mehrheit stellenden
Demokraten gesehen und entsprechend negativ bewertet. Als Beleg für Führungs-
kraft könne allenfalls das erste Jahr im Amt gelten, als er seine wichtigsten Vorha-
ben mit Geschick und dem Rückenwind einer allgemeinen anti-Carter-Reaktion
durchsetzte. Danach sei er aber ebenfalls Opfer struktureller wie selbstverschulde-
ter Beschränkungen geworden, die vom Anspruch auf »leadership« substantiell
kaum etwas Wirklichkeit werden oder gar zu struktureller Erneuerung des Amtes
gerinnen ließen. Dies sei Reagan nur als Schein des beliebten »großen Kommuni-
kators« mit der »Teflon-Eigenschaft« gelungen. Daß dieser Schein den Präsiden-
ten dennoch recht weit trug, darin sieht der Herausgeber die große »irony of the
Reagan record«.
V. Dilys M. Hitt / Raymond A. Moore / Phil WırLimms (eds.): The Reagan Presi-
dency. An Incomplete Revolution? Basingstoke 1990. Macmillan.
Zumindest indirekt geht dieser Sammelband jener »Ironie« nach, indem er ver-
sucht, sowohl bei Inhalten wie Strukturen der Reagan-Präsidentschaft das Ver-
hältnis von substantiellem zu lediglich symbolischem Wandel genauer auszuloten.
Der Untertitel deutet an, daß die Herausgeber mehr als bloß symbolisch-rhetori-
sche Leistungen Reagans anerkennen.
Die einzelnen, den anderen Bänden vergleichbare Schwerpunkte setzenden Bei-
träge arbeiten zunächst erneut heraus, daß auf fast allen Gebieten unbestreitbaren
ZfP 40. Jg. 2/1993
214 Lißke . Gab es eine »Reagan-Revolution«?
Erfolgen Reagans ebenso klare Mißerfolge oder Fehlentwicklungen entgegenste-
hen. Dies sowohl aus der Sicht der ideologischen Parteigänger des Präsidenten,
die Steuer- und Militärpolitik begrüßten, mit der kaum veränderten Sozial- und
Rechtspolitik aber unzufrieden blieben, als auch aus wissenschaftlicher Perspek-
tive, die zunächst vielversprechendes administratives und legislatives Management
später in das »Irangate«-Debakel münden sah oder die meisterhaft durchgesetzte
Steuerreform wegen des parallelen Haushaltsdefizits als fragwürdigen Erfolg ein-
schätzte. Doch ungeachtet der Einzelfallbewertung zeigen die Analysen, daß
Reagan substantiell einiges verändert hat, wenngleich stärker im Bereich der Poli-
tikinhalte (Steuerreformen, Defizit, Auf- wie Abrüstung) als mit dem Resultat
einer dauerhaften strukturellen Stärkung des Präsidentenamtes.
Das alles aber im Rahmen eines im wesentlichen konsensuell-inkrementalistisch
geprägten politischen Systems erreicht zu haben, erkennen die Herausgeber dem
Präsidenten als immerhin ansatzweise »revolutionäre« Leistung an.
Abschließend sollen noch kurz zwei Monographien vorgestellt werden, die die
Reagan-Präsidentschaft in den größeren Rahmen der (Weiter-)Entwicklung der
»modern presidency« stellen.
VI. Theodore J. Lowi: The Personal President. Power Invested, Promise Unfulfilled.
Ithaca/London 1985. Cornell University Press.
VII. Ryan J. BarııLeaux: The Post-Modern Presidency. The Office after Ronald
Reagan. New York 1988. Praeger.
Der renommierte US-Politikwissenschaftler Lowi skizziert in erster Linie die Ent-
wicklung des Präsidentenamtes samt seiner Stellung im politischen Prozeß seit
Roosevelt. Er diagnostiziert ein grundlegendes Dilemma: Um den wachsenden an
den Staat gestellten Aufgaben gerecht zu werden, habe sich das politische System
zunehmend zentralisiert und bürokratisiert, was ein Ausschalten intermediärer
Instanzen wie Parteien und Einzelstaaten, eine Konzentration des politischen
Geschehens auf Amt und Person des Präsidenten und dessen plebiszitäre Legiti-
mation aus direktem Appell an die Wähler bedinge. Gerade der Erfolg dieser ver-
meintlichen Problemlösung lasse die Erwartungen an die Amtsinhaber aber schnel-
ler steigen — besonders im heutigen Medienzeitalter -, als diese sie trotz aller
Macht im Rahmen der Verfassung erfüllen könnten. Der oftmals gesuchte Ausweg
einer Flucht in öffentlichkeitsorientierte, vorwiegend symbolische Politik produ-
ziere letztlich nur noch mehr Enttäuschung, nicht aber die dringend benötigte
Stärkung der Institutionen.
Diesem Muster sieht Lowi auch Reagan unterworfen. Seine bemerkenswerten
Anfangserfolge habe der »Great Communicator« einer optimalen Anpassung an
die Bedingungen der plebiszitären Präsidentschaft zu verdanken, nicht aber deren
struktureller Überwindung; vor dem Schicksal der Nichtwiederwahl sei er nur
durch glückliche außenpolitische Fügung (Grenada, Libanon) bewahrt worden.
Anerkennung für Reagan, unter den Bedingungen eines fehlerhaften Systems
Lißke . Gab es eine »Reagan-Revolution«? 215
unerwartet erfolgreich agiert zu haben, und der Vorwurf, dessen Strukturen eben
nicht »revolutionär« überwunden zu haben, halten sich in Lowis Analyse die
Waage.
Zu einem ganz anderen Urteil kommt Ryan Barilleaux. Er sieht vor allem in der
Neuorganisation des Regierungsmanagements und im geschickten Umgang
Reagans mit Kongreß und Öffentlichkeit, die ja auch zu substantiellen Kursände-
rungen führten, eine potentiell dauerhafte Neustrukturierung des politischen Pro-
zesses, die über das Rooseveltsche Muster hinausweise und Reagan zum ersten
erfolgreichen Vertreter der nunmehr »postmodernen« Präsidentschaft mache. Wie
Lowi sieht auch Barilleaux die Gefahren, die dieses personalisierte, plebiszitäre
Regieren mit sich bringt, nämlich eine Überforderung von Person wie Amt des
Präsidenten angesichts der Erwartungen der Öffentlichkeit. Er hält das aber für
strukturell unvermeidlich und hofft, Sorgfalt bei der Kandidatenauswahl und ver-
stärkte politische Bildung der Wählerschaft würden dem in Zukunft entgegenwir-
ken. Für Reagan bleibt bei ihm die Anerkennung, durch seine Amtsführung die
Funktionsfähigkeit dieser neuen Strukturen bewiesen und damit das politische
System der USA wie seinerzeit Roosevelt revolutioniert zu haben.
Die Summe dieser Studien zur Präsidentschaft Reagans läßt sich nicht leicht auf
einen Nenner bringen. Die unterschiedlichen Maßstäbe produzieren entsprechend
divergierende Einschätzungen der Leistungen Reagans. Mal wird er als Neuerer
angesehen, der trotz schwieriger Rahmenbedingungen dem Amt mehr Gestal-
tungsmöglichkeiten und Glanz verliehen hat; mal als Amtsinhaber, der diesbezüg-
lich nur vorübergehende Erfolge erzielt habe, die sich keinesfalls mit denen Roo-
sevelts vergleichen lassen. Allen gemeinsam ist aber, daß Reagan erhebliche
Erfolge auf für ihn wesentlichen Politikfeldern zugestanden werden, er also als
durchsetzungsfähig eingeschätzt wird. Ob diese — gemessen an der Bilanz seiner
Vorgänger - nicht unerhebliche Leistung als »revolutionär« betrachtet wird, hängt
von der Einschätzung der Struktur und der Funktionsbedingungen des politischen
Systems wie des politischen Prozesses in den USA ab. Hier spricht allerdings viel
dafür, die gegenwärtigen Bedingungen für schwieriger zu halten als jene der drei-
Biger Jahre und grundlegende Veränderungen demzufolge nicht mehr am Modell
Roosevelts zu messen. Akzeptiert man diesen Maßstab, so kann Ronald Reagan
durchaus als einer der großen Präsidenten dieses Jahrhunderts angesehen werden,
die ihre Amtszeit als »Ara« erscheinen lassen und die das amerikanische politische
System darüber hinaus prägen. Ob das »revolutionär« ist, mag dabei offen bleiben.
ZfP 40. Jg. 2/1993
BUCHBESPRECHUNGEN
James Der Derrian, Michael J. Suarıro (H.):
International/Intertextual Relations. Postmo-
dern Readings of World Politics. Lexington,
Mass./Toronto 1989 (Issues in World Politics
Series) Lexington Books. D.C. Heath and
Company.
Woher weht der Wind in der Theorie der
internationalen Beziehungen? Die globale
Meteorologie der Disziplin verweist darauf,
daß sich produktive Hochdruckgebiete nur
ausnahmsweise über deutschen Gefilden bil-
den, in aller Regel aber in den Vereinigten
Staaten, Lateinamerika, Frankreich oder
sonstwo zu finden sind. Bei uns heißt es »ex
occidente lux«: Mit dem time lag einer De-
kade rezipierte die hiesige »Diskussion« —
vielleicht — die Regimetheorie. Derweil er-
wärmt sich die amerikanische Debatte be-
reits über Feldern, die vom französischen
Post-Strukturalismus aufgeheizt werden.
Davon zeugt der hier besprochene Band,
in dessen Vorwort Donna U. Gregory be-
merkt: »Derrida’s procedure ... bears upon
every chapter in this book« (S. XV). Wie ge-
lingt solch ein transatlantischer Brückenbau
mit postmodernem Gestus? Zur neugierigen
Prüfung bieten sich 14 Essays an, die sich in
aller thematischen Vielfalt einer gemeinsa-
men Strategie verordnet haben - die lautet
in den Worten von Mit-Herausgeber James
Der Derian: »to deconstruct or denaturalize
through detailed interpretation the inherited
language, concepts, and texts that have con-
stituted privileged discourses in internatio-
nal relations« (S. 4). Handelt es sich also
ausschließlich um eine Interpretation der In-
terpretationssprache der Disziplin »interna-
tional relations«? Oder wird auch gelegent-
lich zur Sache, zu den »world affairs«
(ebd.), gesprochen?
In zwei einleitenden Texten des »Prolo-
gue« handeln James Der Derian von den
»Boundaries of Knowledge and Power in
International Relations« (S. 3-10) und Mi-
chael J. Shapiro vom Projekt des »Textuali-
zing Global Politics« (S. 11-22). Der Derian
kennzeichnet den Prozeß der Dekonstruk-
tion im Kern durch fünf Verfahren: (1) Ver-
fremdung vertrauter Sprache, um zu zeigen,
daß die Diskurse Wirklichkeit eher kon-
struieren als reflektieren; (2) Demontage
verfestigter Gegensätze und Hierarchien
(etwa von typischen Dichotomien wie »Tat-
sache« und »Fiktion«); (3) Infragestellung li-
terarischer Konventionen und positivisti-
scher Praktiken wissenschaftlicher Manipu-
lationen (S. 4). Das zielt (4) darauf ab, die
textuelle Natur jener Differenzen zu erhel-
len, die die internationalen Beziehungen
produzieren und von ihnen konstituiert wer-
den (S.5). Somit wird (5) schließlich die
Analyse der internationalen Beziehungen
unter das Konzept Roland Barthes’ gestellt,
nämlich unter den »intertextual approach«
im Sinne einer kritischen Erörterung eines
Reflexionsfeldes, auf dem es keinen endgül-
tigen Schiedsrichter der Wahrheit gibt, ein
Feld, auf dem sich die Bedeutung durch eine
Beziehung zwischen Texten bildet und wo
Macht durch das Problem der Sprache und
durch andere bedeutunggebende Praktiken
impliziert wird (S. 6).
Diesen Strang setzt Michael Shapiros Es-
say über die Textualisierung der globalen
Politik (S. 11-22) fort, der programmausch
darlegt: Die der Welt zugewiesene Bedeu-
tung und Wertung werde nicht durch unser
unmittelbares Bewußtsein strukturiert, son-
dern durch verschiedene, Realität produzie-
rende Skripten, die man aus den kulturellen
und linguistischen Bedingungen seiner Um-
gebung erbe oder erwerbe. Dieser Pre-Text
der Auffassung sei daher weitgehend institu-
tionalisiert und in den verfügbaren Sprach-
praktiken reflektiert, durch die die vertraute
Welt fortwährend interpretiert und reprodu-
ziert werde (S. 11). Diese Konstruktion poli-
tischer Wirklichkeit und ihr korrespondie-
rendes Interpretationsverfahren exemplifi-
ziert Shapiro dann anhand der Entwicklung
von Raumvorstellungen (S. 12 ff.) und am
modernen Sicherheitsbegriff (S. 17 ff.). Das
postmoderne Verfahren der Dekonstruktion
beansprucht also vermittels seiner Optik der
Vertextlichung der politischen Wirklichkei-
ten mehr zu sein als eine Metainterpretation
der Interpretationssprachen, weil eben Texte
die Realitäten allererst konstruieren, die sie
vorgeben bloß auszusprechen.
Buchbesprechungen
Die übrigen 12 Essays, die sich im zweiten
Teil des Buches - dem »Dialogue« — finden,
widmen sich einem weiten Spektrum theore-
tischer und empirischer Themen.
R. B. J. Walker präsentiert in »The Prince
and the Pauper« eine Auseinandersetzung
mit Machiavelli (S. 25—48), die in der Haupt-
sache darauf hinauslauft, ihn gegen die An-
griffe einer universalistischen Ethik (S. 38),
die Dogmatisierungen der Realpolitischen
Schule (S.40f.) zu verteidigen und den
Gegensatz Idealist-Realist zu dekonstruie-
ren. (Hier wird deutlich, wie sehr die anglo-
amerikanische Debatte über Machiavelli -
inkl. Walker selbst! - daran krankt, daß sie
vor allem die deutschen und italienischen
Arbeiten über ihn ignoriert.) — Bethke
Elshtain wiederholt das interpretative Ver-
fahren in »Freud’s Discourse of War/Poli-
tics« (S. 49-67) anhand des Begriffspaares
von Zivilisation und Aggression. — In »Re-
presenting World Politics: The Sport/War
Intertext« (S. 69-96) zeigt Shapiro die An-
wendung von Barthes’ Konzepten des Zei-
chenvorrates und der interpretativen Codes
auf die Analyse der Konstruktion politischer
Wirklichkeit und arbeitet heraus, wie Sport-
metaphern zur Mobilisierung von Sympathie
und politischem Engagement eingesetzt wer-
den. — Bradley S. Klein untersucht die »Tex-
tual Strategies of the Military« (S. 97-112),
gefolgt von Roger Hurwitz über »Strategic
and Social Fictions in the Prisoner’s Di-
lemma« (S. 113-134). Das sicherheitspoliti-
sche Thema wird fortgesetzt von Alker,
Bierstecker, Inoguchi in: »From Imperial
Power Balancing to People’s Wars«
(S. 135-162), von Timothy W. Luke in sei-
ner semiotischen Interpretation der Ab-
schreckungsdoktrin (»What’s Wrong With
Deterrence?«, S. 207-229), wie auch in Al-
fred J. Fortins Kommentar zu einem Text
von Jeane J. Kirkpatrick aus dem Harpers
Magazin vom Oktober 1984 (S. 44 ff.) unter
dem Titel »Notes on a Terrorist Text«
(S. 189-206). Zwei weitere Texte behandeln
das Feld der Spionage (Der Derian: »Spy
versus Spy: The Intertextual Power of Inter-
national Intrigue«, S. 163-187) sowie die Af-
fare um die Versenkung der Greenpeace
Warrior in Neuseeland im Jahre 1985 und
den Bezug zum »nuclear criticism« (Diane
Rubenstein: »Hate Boat: Greenpeace, Natio-
nal Identity, and Nuclear Criticism«,
S. 231-255).
ZfP 40. Jg. 2/1993
15
217
Der Band schließt in seinem dritten Teil
mit einem »Epilogue«, der nochmals zwei
resümierende Essays mit breiterer Perspek-
tive präsentiert: Richard K. Ashleys »Living
on Border Lines: Man, Poststructuralism,
and War« (S. 259-321) und William E. Co-
nollys »Identity and Difference in Global
Politics« (S. 323-342). Wie schon das Wort-
spiel des Titels erkennen lassen will, setzt
sich Ashley mit Kenneth Waltzs Klassiker:
»Man, the State, and War« auseinander, um
zu zeigen, wie Waltz seinen Begriff des
Menschen vor der Folie des Krieges als dem
Inbegriff des Nicht-Rationalen, Unkontrol-
lierten und Chaotischen konturiert. Ashley
dagegen will durch die »historicizing atti-
tude of poststructuralism« (S.309) drei
Dinge erreichen: erstens, den Staat aus dem
Zentrum des Diskurses über internationale
Politik entfernen; zweitens, die Trennung in
Innenpolitik, als Domäne des rationalen
Menschen, und internationale Politik, als
unbestimmtes »battlefield of »war««, aufhe-
ben; und, drittens, »to think in a wholly new
way the relation between the undecidable in-
determinacy signified by »war« and >interna-
tional politics<, on the one hand, and the de-
cidable identities by »man and »domestic po-
litics<, on the other« (S. 309).
Aber ist dies eine originelle Leistung der
dekonstruktiven Interpretation? Keineswegs
- diese Zielsetzungen gehörten doch schon
z.B. in die Konzepte der Weltsystem- und
Regime-Ansätze. Hier wird augenfällig, daß
das Bild der Disziplin »internationale Bezie-
hungen« in der Optik der Autoren fast aus-
schließlich durch Vertreter des etatistisch
orientierten Neo-Realismus und der (hier
auf Sicherheitsthemen eingeschränkten)
szientifisch-ausgerichteten policy analysis
geprägt wird. Sie werden Opfer jenes Prin-
zips der konstitutiven — und zugleich veren-
genden - Optik, das zu demontieren sie sich
selbst zum Programm gemacht haben. Eine
Auseinandersetzung mit anders konzipierten
Ansätzen — wie z.B. mit der Weltsystem-
Analyse, der Interdependenz-Theorie oder
der Regimetheorie - fehlt, ja selbst deren
kursorische Erwähnung unterbleibt, sie
scheinen nicht zu existieren und man ist ver-
sucht, die Ursachen dieser optischen Verzer-
rung zu dekonstruieren (vgl. den Index,
S. 343-350).
Dieses Defizit ist schon deswegen sehr be-
dauerlich, weil die vorgeführten historisch-
perspektivischen Interpretationen/Dekon-
218
strukuonen - die im übrigen Nietzsche mehr
verdanken als allen Foucaults und Derridas
zusammen - allesamt anregend sind. Von
solchen systematischen Verengungen
befreit, könnte es die Dekonstruktion zu-
wege bringen, unbemerkte und petrifizierte
Selbstverstandlichkeiten in Theorien der
internationalen Beziehungen und den kon-
struktivistischen Charakter politischer Reali-
tät herauszuarbeiten.
Eine andere Problematik teilen die
besprochenen Arbeiten mit der gesamten
strukturalistischen und poststrukturalisti-
schen Konzeption: die beständige Vermi-
schung der Kategorien »Text« und »Reali-
tät« und die Ausklammerung der Kategorien
»Erfahrung« und »Imagination«. Der De-
rian spricht ohne klare Diskriminierung ein-
mal von »world affairs« (S. 4) oder »world
politics« (S.7), ein andermal von »world
text« (S.6). Ahnlich handelt Shapiro pro-
grammatisch von dem »Zu-einem-Text-ma-
chen der globalen Politik« (S. 11 ff.), von
»readings of the world’s text« (S. 13). Dies
ist nicht originell, sondern nur irreführend;
denn es verformt und mifdeutet die Lage
der Dinge. In der Tat ist die politische Reali-
tat kein Inhalt der unmittelbaren Erfahrung
(allenfalls als interpretauions-bedürftige lo-
kale und momentane Eindrücke - z. B. wenn
man ein politisches Ereignis direkt oder am
Fernsehschirm verfolgt). Doch daraus folgt
nicht, daß die Form ihrer Repräsentation
immer der Text sein muß. Das Medium der
Konstruktion und Repräsentation politischer
Wirklichkeit ist vielmehr die /magination
(das Terrain der Vorstellungskraft). Imagi-
nationen aber kennen ein breites Spektrum
von Weisen des Auftretens; neben dem Text
umfassen sie: Bilder, Schemata, Muster,
Symbole und die Erinnerungen an diverse
Arten von Erfahrungen (Gehörtes, Geroche-
nes, Getastetes etc.).
Der Grund für das geläufige und defi-
ziente Realitätskonzept findet sich in dem
hier regelmäßig gebrauchten Wahrheitsbe-
grif, der auf Konsistenz abhebt (vgl. hier
S. 6). Konsistenz hat ihren Ort in der Logik
diskursiver Argumente. Das Medium solcher
Argumente kann nur sprachliche Form sem
(Text, Rede). Wenn man nunmehr den Be-
zug von Text zur Wirklichkeit nicht mehr
mit einem referentiellen Wahrheitsbegriff
(»adaequauo intellectus rei«) denkt (son-
dern nur als Konsistenz), dann muß folglich
die Referenz unterbleiben oder die »Welt«
Kritik
ist in einen Text zu verwandeln. Das aber
geht fehl - was man spätestens dann be-
merkt, wenn man nach der Mifachtung ei-
nes Textes (z.B. der Straßenverkehrsord-
nung) dafür zahlen muß (z. B. ein Bußgeld).
Von solcher Kriuk einmal abgesehen, bleibt
der Band eine Sammlung äußerst empfeh-
lenswerter und anregender Essays, die der
Diskussion um die Theorie der internationa-
len Beziehungen eine neue Richtung geben
werden.
Erlangen Wolfgang H. Leidhold
Richard SaaGe: Politische Utopien der Neu-
zeit. Darmstadt 1991. Wissenschaftliche Buch
gesellschaft. 364 S.
Das Thema »Utopien« hat Konjunktur. Der
Zusammenbruch des Kommunismus und die
(scheinbar) utopielosen Revolutionen in den
Ostblock-Ländern haben manche Beobach-
ter dazu geführt, vom Ende des utopischen
Zeitalters (Joachim Fest) zu sprechen. Das
neue Buch des Göttinger Politikwissen-
schaftlers Richard Saage ist ein wichtiger
Beitrag zur aktuellen Utopie-Diskussion,
obwohl er (hierauf wird noch zurückzukom-
men sein) die marxistische Utopie aus seiner
Betrachtung ausklammert. Er gibt einen aus-
gezeichneten Überblick über die klassischen
Utopie-Entwürfe vom 16. Jahrhundert bis in
die Gegenwart. Am Anfang steht allerdings
Platons Politeia, auf die sich auch Thomas
Morus in seinem 1516 erschienenen Werk
Utopia bezog.
Kennzeichnend für Platon, Morus und
die meisten Autoren utopischer Werke ist
der ausgeprägte Anti-Individualismus. Ri-
chard Marius, der Biograph von Thomas
Morus, brachte dies auf die prägnante For-
mel: »Alle marschieren in Gleichschritt. Die
Eigenarten des Individuums, die das Leben
interessant machen, sind durchweg den ge-
meinschaftlichen Bedürfnissen unterworfen
... Und das Vergnügen - wenn es ein sol-
ches gibt — besteht darin, zu sehen, wie die
ganze Konstruktion funktioniert, und nicht
darin, sich an den Individuen zu erfreuen,
die dort leben« (zit. nach S. 171). Allerdings,
so fügt Saage hinzu, ist nicht sicher, ob Mo-
rus sich eindeutig mit »Utopia« identifizierte
(S.74). Die Gegenthese vertritt Eberhard
Jäckel. Morus habe vor einer ausschließlich
auf der Vernunft gegründeten Gesellschaft
Buchbesprechungen
warnen wollen. Demnach war die vermeint-
lich erste Utopie in Wirklichkeit die erste
»Anu-Utopie«. Leider setzt sich Saage mit
dieser These nicht auseinander, wie tber-
haupt die Auseinandersetzung mit der wis-
senschaftlichen Literatur eher spärlich er-
folgt.
Stärken des Buches sind indes seine Quel-
lennähe und die Klarheit der Darstellung.
Saage hat 36 Utopien unter sehr präzisen
Fragestellungen analysiert. Erfreulich ist,
daß er sich meist auf die Darstellung des
Selbstverstandnisses dieser Utopien be-
schränkt, ohne dies durch übertriebene Aus-
führung eigener »Wertungen« zu stören. So
gelingt es ihm, charakteristische Wesens-
merkmale des utopischen Denkens überzeu-
gend herauszuarbeiten.
Zumindest bei den frühen Utopisten, je-
doch meist auch bei ihren späteren Nachfol-
gern, ıst das Privateigentum beseitigt und
jede Differenzierung zwischen Arm und
Reich aufgehoben. Ein Stadt-Land-Gefälle
gibt es ebensowenig wie regionale Unter-
schiede zwischen den Städten oder den Be-
wohnern des flachen Landes: »Sie stimmen
in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Geset-
zen vollständig überein. Die Gleichheit
macht nicht einmal halt vor dem Tagesab-
lauf der Bewohner des utopischen Gemein-
wesens: Er ist nach einem bestimmten Mu-
ster bis in die Details festgelegt und läßt für
Spontaneität keinen Raum. Selbst die Klei-
der sind nicht selten einheitlich« (S. 28).
In dem 1643 erschienenen Buch von Tom-
maso Campanella über den Sonnenstaat etwa
tragen fast alle Männer und Frauen dieselbe
Kleidung. Und für die Christianopolitaner in
dem utopischen Entwurf von Johann Valen-
tin Andreae sind ebenfalls lediglich zwei Ar-
ten von Kleidung vorgesehen. »Alle sind
nach einem Muster entworfen, unterschei-
den sich aber nach Geschlecht und Alter des
Trägers. Das Material ist Leinen und Wolle
und wird je nach heißer und kalter Jahres-
zeit gewechselt. Die Farben sind bei allen
weiß oder aschgrau, und niemand hat hier
üppig Geschneidertes« (zit. nach S. 28 f.).
In Campanellas Sonnenstaat sind die Bür-
ger einem engmaschigen Netz der Gewis-
senskontrolle und der Nachrichtendienste
ausgeliefert. In Andreaes Christianopolis
herrscht eine strikte Zensur über Presse und
Kunst. Der Anu-Individualismus spiegelt
sich auch in der Architektur: Die utopischen
Staaten sind in der Regel nach exakten geo-
ZfP 40. Jg. 2/1993
15*
219
metrischen Maßen geplant. Dies gilt auch
für viele utopische Entwürfe, die im Zeital-
ter der Aufklärung entstanden sind. In dem
1755 erschienenen Gesetzbuch der natürlichen
Gesellschaft von Morelly ist der Tagesablauf
des einzelnen in hohem Maße reglemeniiert.
Die Wohngebäude sind durch nichts vonein-
ander unterschieden, die Kleidung der Men-
schen ist einheitlich.
Wie ihre Vorläufer in der Renaissance se-
hen die Utopisten der Aufklärung ein groß-
zügig ausgestattetes System der sozialen Si-
cherung vor, »das das Leben des Einzelnen
von der Wiege bis zur Bahre lückenlos von
der Sorge um die materielle Existenz entla-
stet« (S. 112). Allerdings herrscht in der
Regel eine strikte Arbeitspflicht, die mit
massiven staatlichen Zwangsmaßnahmen
aufrechterhalten wird. Das Privateigentum
wird auch von den meisten Utopisten der
Aufklärung scharf abgelehnt. Wer versucht,
das Privateigentum wieder einzuführen, soll,
so Morelly, »nach geschehener Überführung
und Verurteilung von dem höchsten Senat
für sein ganzes Leben wie ein Narr, ein Wü-
tender und Feind der Menschheit (lebens-
lang) in eine Höhle eingesperrt werden«,
die, vergittert und von starken Mauern nach
außen abgeschottet, ihm zugleich als Grab
dient (zit. nach S. 138).
Neu an den utopischen Entwürfen der
Aufklärung ist, daß sie auf tatsächliche Ver-
wirklichung angelegt sind. Die Utopie, bei
den Autoren der Renaissance noch eher als
Gedankenspiel und Traum verstanden, wird
zum »politischen Aktionsprogramm«. Das
ideale Gemeinwesen steht nicht mehr, wie in
früheren Utopien, außerhalb einer zielge-
richteten Entwicklung, sondern ist in diese
als deren »Telos« eingebunden (S. 146).
Die geschichtsphilosophische Gewißheit
von der »Notwendigkeit« der Realisierung
des utopischen Entwurfes erfährt eine wei-
tere Bestärkung bei den Denkern des
19. Jahrhunderts. Als wesentliches Merkmal
dieser Utopie-Entwürfe arbeitet Richard
Saage zu Recht die »Verwissenschaftli-
chung« heraus. Die Autoren des 19. Jahr-
hunderts beteuern in der Regel nachdrück-
lich, ihre Entwürfe seien nicht erwa Phanta-
sie-Konstrukte, sondern —-— so Theodor
Hertzka - »das Ergebnis ernsten, nüchter-
nen Nachdenkens, gründlicher wissenschaft-
licher Forschung« (S. 226). Für Charles Fou-
rier etwa ist die Geschichte ein zielgerichte-
ter Prozeß, der sich gesetzmäßig von einer
220
Gesellschaftsordnung auf die nächst höhere
Stufe hin entwickelt.
Muß nicht an dieser Stelle auch der Mar-
xismus als Utopie erwähnt werden? Der Au-
tor verneint diese Frage aus zwei Gründen:
erstens sei der Marxismus eine »wissen-
schaftliche Disziplin« und zweitens lehnten
es Marx und Engels bekanntlich ab, die zu-
künftige kommunistische Ordnung detail-
liert zu beschreiben (S. 4). Der marxistische
Glaube an einen historischen Endzustand
der klassenlosen Gesellschaft hat jedoch
durchaus einen utopischen Charakter. Und
daß dieser Glaube wissenschaftlich begrün-
det und untermauert wird, ist geradezu cha-
rakteristisch für das utopische Denken des
19. Jahrhunderts. Zugegebenermaßen hat
der Marxismus den wissenschaftlichen An-
spruch in höherem Maße eingelöst als erwa
ie von Marx und Engels gescholtenen »uto-
pischen Sozialisten«. So ist erklärlich, daß
sie es ablehnten, die künftige klassenlose
Gesellschaft in ihren Einzelheiten zu be-
schreiben. Saage sieht darin eine Schwäche
des Marxismus, insofern die »Perhorreszie-
rung der Utopie« entscheidend dazu beige-
tragen habe, den Marxismus zu dogmatisie-
ren (S. 333). Man könnte jedoch auch argu-
mentieren, daß gerade die mangelnde Kon-
kretion der marxistischen Utopie ihre Stärke
bedingte, weil sie den Raum freimachte für
die Phantasien der Anhänger. Jeder konnte
sich die klassenlose Gesellschaft der Zu-
kunft so ausmalen, wie er sie sich wünschte.
Im Unterschied zu den bei Saage beschrie-
benen Utopien wurde im Fall des Marxismus
der praktische Versuch der Verwirklichung
in zahlreichen Ländern unternommen. Hier
sollte sich zeigen, was — allerdings immanent
- schon in den anderen Utopien angelegt
war: daß der extreme Kollektivismus und
Egalitarismus zu einer inhumanen Gesell-
schaft führt, in der der einzelne keinen Frei-
raum zur Entfaltung mehr hat. Seit Platon
und Morus, so schreibt Saage zu Recht, war
dem utopischen Denken »die totalitäre Ten-
denz immanent«. »Der einzelne wurde auf
dem Altar einer kollektiven, monistischen
Vernunft geopfert, deren Institutionen re-
pressiv werden mußten, weil sie sich aller
Korrektive entledigte, die die unverzichtba-
ren Ansprüche des Individuums hätten ein-
klagen können« (S. 337).
Dies erkannten die Verfasser der soge-
nannten »schwarzen« Anti-Utopien des
20. Jahrhunderts, also namentlich Jewgenij
Kritik
Samjatain (»Wir«), George Orwell (»1984«)
und Aldous Huxley (»Brave New World«).
Der neue Mensch ist hier nicht mehr hoff-
nungsvolle Verheißung, sondern abschrek-
kende Horrorvision. Die Anti-Utopien soll-
ten nicht mehr vom künftigen, noch zu
schaffenden Paradies künden: Sie beschrie-
ben die Hölle auf Erden, wollten vor den
Konsequenzen warnen, die die Realisierung
der Utopien herbeiführen mußte.
Die Annahme, damit sei das utopische
Denken an einem Endpunkt angelangt, ist
jedoch unrichtig. Saage beobachtet seit An-
fang der siebziger Jahre »eine Art Renais-
sance des Utopischen« (S. 340). Eine zen-
trale Rolle spielen feministische Utopien. So
könne heute tatsächlich »bereits von einer
neuen Literaturgattung gesprochen werden:
der Frauenutopie« (S. 314). Leider unterläßt
es der Autor, den totalitären, inhumanen
Charakter auch dieser neuen Utopien her-
auszuarbeiten, vielleicht weil er sie positiver
beurteilt als frühere utopische Entwürfe.
Aber sind denn etwa die Utopien von Ökoto-
pia oder von einer zukünftigen feministi-
schen Gesellschaft so sehr von den früheren
Entwürfen unterschieden? Wiederum wird
ein neuer Mensch propagiert, der durch eine
radikale Umerziehung noch zu schaffen seı.
Wiederum wird die Verschiedenheit (etwa
zwischen den Geschlechtern) denunziert
und einem Egalitarismus das Wort geredet.
Wiederum wird im Zweifelsfall die Freiheit
der Gleichheit geopfert. Vielleicht sind diese
Utopien sogar noch gefährlicher, weil es
diesmal darum geht, sogar die intimsten Be-
reiche der zwischenmenschlichen Beziehun-
gen der Ideologie zu unterwerfen.
Andererseits, und hier ıst dem Autor
Recht zu geben, ist es voreilig, das »liberale
Projekt« als »endgültige« Alternative zu den
inhumanen totalitären Utopien zu verklären.
Die Überlegenheit der westlich-demokrati-
schen Gesellschaft gegenüber dem Kommu-
nismus ist bewiesen. Noch nicht bewiesen ist
indes, daß diese Gesellschaft in der Lage
sein wird, die ungeheuren (besonders ökolo-
gischen) Zukunftsherausforderungen zu be-
wältigen. »Überspitzt formuliert, könnte
man sagen, der Problemdruck, der seit Mo-
rus Utopien hervorbrachte, besteht weiter
fort« (S. 339). Ob dies eher Anlaß zur Hoff-
nung oder Grund zur Verzweiflung ist,
daran scheiden sich die Geister. Vielleicht
kann eine Kenntnis der Geschichte des uto-
pischen Denkens dazu beitragen, Menschen
Buchbesprechungen
dafür zu sensibilisieren, daß das Grauen im
Gewand der hoffnungsfrohen Verheißung
kommt.
Berlin Rainer Zitelmann
Carl Friedrich von WeizsAcxerR: Bewußtseins-
wandel. München 1988. Verlag Hanser. 476
S. 45,- DM.
Der vielversprechende Titel steht über einer
Zusammenstellung wiederveröffentlichter,
älterer unveröffentlichter und neuer Bei-
träge (etwa im Verhältnis 4 : 1 : 3) verschie-
densten Inhalts, angefangen von Krisenge-
sprächen, Zeitungsartikeln und Buchaus-
schnitten bis hin zu Kirchentagsreflexionen
und Tonbandaufzeichnungen. Um dem Le-
ser eine Minimalübersıcht über das
labyrinthische Angebot zu ermöglichen, ist
dem Buch höchst originell ein »Schema des
Inhalts« vorangestellt, das mit Pfeilen den
Weg zu den Schätzen der Weisheit andeutet.
Hier interessieren natürlich nur die Auße-
rungen Weizsäckers zu politischen Themen:
Außenpolitik (S.36), politische Krisen
(S. 50), Mut zum Bekenntnis »zur eigenen
Angst« (S. 71), Europa und die Weltmächte
(S. 93), Deutschland und Europa (S. 259),
Macht und Frieden (S. 103), Krieg und Frie-
den (S.461), Politik und Bewußtsein
(S. 145) sowie die eigene Rolle als Zeitzeuge
(S. 301). Nicht ganz so originell wie das
Orienuerungsschema erscheint W.s Ver-
ständnis der Politik als »stets neu zu schaf-
fender Kompromiß von Macht und Ver-
nunft« (S. 37). Zur Erklärung politischer
Krisen ın stabilen Kulturen bietet der Verf.
die »Hypothese« an: keine politische Stabili-
tät ohne politisches Wachstum. »Ein wach-
sender Lebensraum erzeugt Ausweichmög-
lichkeiten, gestattet also das Regieren mit
Kompromissen«. Die These vom »Lebens-
raum« erscheint auch nicht gerade neu und
wird sowohl durch das Vorgehen des Wil-
helminischen Deutschland als auch Hitler-
deutschlands widerlegt. Glaubwürdiger ist
das Bekenntnis des Verf. zur »eigenen
Angst«. Tatsächlich bildet die Angst vor ei-
nem Atomkrieg im Hinblick auf den West-
Ost-Konflikt seit Jahrzehnten eine Kon-
stante in W.s Stellungnahmen. Aber auch
hier sprechen die Tatsachen (Entspannung,
Abrüstungsverträge, Wandel durch Annähe-
rung) eine andere Sprache und haben den
ZfP 40. Jg. 2/1993
221
Unheilprophezeiungen den Boden entzogen:
»Östeuropa ist in ein politisches, militäri-
sches und ökonomisches Bündnis mit der
Sowjetunion eingespannt, aus dem es auf ab-
sehbare Zeit kein Entrinnen gibt« (S. 93).
Schon zwei Jahre nach dieser langfristigen
Prophezeiung (1986) geschah das Gegenteil.
Unheilprognosen können höchstens kraft
ihrer Eigendynamik, zumal wenn sie von
charismatischen Persönlichkeiten verkündet
werden und in Panikmache übergehen, zu
Prophezeiungen werden, die sich selbst er-
füllen und das Unheil, das sie scheinbar ban-
nen, heraufbeschwören. Wieder einmal hat
der Volksmund recht, wenn er davor warnt,
den Teufel an die Wand zu malen. Seine In-
terpretation des Verhältnisses von Deutsch-
land zu Europa stützt W. in der Sache auf
E. Jackels einschlägige Ausführungen zum
Thema, in der Blickrichtung auf eine eigene
Geschichtskonstruktion, der zufolge drei
Prinzipien die Entwicklung bestimmten: die
Natur oder die ȟberkommene germanische
Adelswelt«, das Christentum oder die »un-
vollendete Religion« und die Realität oder
»die Sphäre des rationalen Wissens und der
Macht« (S. 261 f.). Aus dieser Sicht ergeben
sich auch für das Verhältnis Hitlers zum
deutschen Volk neue (?) Aspekte: Die Zau-
berformel: »Geteilte Schuld ist halbe Un-
schuld« und eine abgeschwächte These der
Kollektivschuld ergänzen sich komplemen-
tär: »Schergen, die Tötungsbefehle ausfüh-
ren, finden sich auch in anderen Völkern;
bei den Deutschen hat es wohl der anerzo-
gene Gehorsam erleichtert. Die Schuld einer
halbbewußten Mitwisserschaft bleibt auf
dem ganzen Volk« (S. 297). Über die Rolle
der »germanischen« Adelsschicht bei den
deutschen Katastrophen dieses Jahrhunderts
und früherer Jahrhunderte verliert der Verf.
indes kein Wort. Den schwarzen Peter für
ihre Versäumnisse erhält wieder einmal das
Volk. In »Macht und Frieden« wird die Ge-
duld des Lesers mit höherer Einsicht be-
lohnt: »Nach allen mir bekannten histori-
schen Parallelen wird eine Hegemoniekon-
kurrenz wie die heutige zwischen Amerika
und Rußland nur durch Krieg beendet«
(S. 103). In »Krieg und Frieden« löst sich
das Problem des Weltfriedens überraschend
einfach: »Die Institution des Kriegs wird in
dem Augenblick überwunden werden kön-
nen, in dem die Menschheit es wirklich wol-
len wird« (S. 468). Als Zeitzeuge zitiert W.
in einem »Selbstgespräch« ein von ihm an-
222
derswo veröffentlichtes Sonett, das die sub-
jekuve Problematik des Verfassers erkennen
läßt:
»Ich ließ mit sehendem Aug in dunk-
len Jahren
schweigend geschehen Verbrechen
um Verbrechen.
Furchtbare Klugheit, die mir riet Ge-
duld!
Der Zukunft durft ich meine Kraft
bewahren,
allein um welchen Preis! Das Herz
will brechen.
O Zwang, Verstrickung, Säumnis!
Schuld, o Schuld!« (S. 360).
Vergangenheitsbewältigung in Sonettform
ist originell und wirkungsvoll zugleich. Im
Kapitel »Politik und Bewuftsein« legt W.
ein von ihm schon öfter benutztes »Denk-
modell« vor, das »Baugerüst«, das aus vier
Stockwerken besteht und die abendländi-
sche Kultur darstellen soll:
4. Das Bild der Einheit: Mythos, Religion,
Philosophie.
3. Kulturelle Pointierungen: Moral, Theo-
rie, Kunst.
2. Zweckrationalität: Handlung und Urteil.
1. Die Einheit des Verhaltens: Wahrneh-
mung, Urteil, Affekt, Handlung«
(S. 167).
Mit diesem begrifflichen Rüstzeug ausge-
rüstet, meistert der Verfasser das Rätsel des
Bewußtseinswandels mit der ihm eigenen
Nonchalance, wobei sich »die Krise des Be-
wuftseins als eine Krise der kulturellen Nor-
men« (S.178) »enthüllt«. Andert sich das
Bewußtsein, weil sich die Normen ändern,
oder erscheinen die Normen verändert, weil
sich das Bewußtsein ändert? Der Tag hat
nach wie vor 24 Stunden, ob er mir lang
oder kurz vorkommt. Maße, Normen,
Werte, die sich verändern, sind keine Maße
mehr, oder? Wie sich die Schreckgespenster
der Schamanen in Nichts auflösen, wenn
sich ihre Unheilsprophezeiungen nicht erfül-
len, so brechen die Hypothesengerüste der
Hypothesenbildner am Ende unter der Last
ihrer falschen Prämissen von selbst zusam-
men; denn Wissenschaft unterscheidet sich
von Scheinwissenschaft wie Astronomie von
Astrologie.
St. Ingbert Ernst R. Sandvoss
Kritik
Friedbert PriUcer: Richard von Weizsäcker.
Ein Portrait aus der Nabe. 2. Aufl. Stuttgart
1990. dva. 480 S. 39,80 DM.
Wenn Pflüger im Vorwort zugibt: » »Objek-
tive kann dieses Buch nicht sein«, so wirft
das, von der persönlichen Beteiligung, die
der Autor als Grund anführt, abgesehen,
auch ein bezeichnendes Licht auf den Füh-
rungsstil des »Chefs«. Im 1. Kapitel »Chef,
Politiker, Staatsmann« (S. 9-58) vermittelt
Pflüger ein anschauliches Bild vom Alltag in
der Villa Hammerschmidt. Besonders auf-
schlußreich ist der Abschnitt »Eine Rede
entsteht«. Im 2. Kapitel » »Regierender« in
Berlin« (S. 59-100) kommt W.s Amtszeit in
Berlin zur Sprache. Hier dürfte der Ab-
schnitt »Weizsacker bei Honecker« (S. 70)
besonders interessieren. Das 3. Kapitel »Die
befreiende Kraft der Erinnerung«
(S. 101-172) umfaßt diverse Themen, u.a.
Bitburg, die Rede zum 8. Mai 1985, Besuch
in Israel und Verteidigung des Vaters. Das
4. Kapitel »Verantwortung für die Men-
schen in der DDR« enthält u. a.: »Berlin als
Lebensaufgabe« und »Die Deutschen und
ihre Identität«. Im 5. Kapitel »Weder Grog-
macht noch Spielball« (S. 213-266) ist von
Deutschlands Verhältnis zur Allianz die
Rede sowie von der Überwindung der Krise
Europas, im 6. Kapitel »Motor aktiver Ost-
politik« (S. 267-334) von Gorbatschow und
der Oder/Neiße-Grenze, im 7. Kapitel »Hü-
ter der Mitte« (S. 335-434) von W.s Verhält-
nis zu anderen prominenten Politikern und
weiteren Einzelfragen, im 8. Kapitel Ȇber
die Politik hinaus« (S. 435-472) von mehr
Persönlichem aus W.s Leben. Ein ziemlich
umfangreiches Namenregister und ein Bild-
nachweis (S. 473-480) beschließen den
Band. Das Buch ist politisch interessant, da
es sonst nur verstreute Einzelinformationen
zu einer wenn auch stark subjektiv gefärbten
Gesamtansicht zusammenfügt. Wir erfahren
wissenswerte Einzelheiten über die Genesis
von W.s Entscheidungen bzw. Nichtent-
scheidungen, über seinen Umgang mit Mit-
arbeitern und Menschen, über seine Ansich-
ten und Prinzipien. Nach Abzug des Kosme-
tischen stellt sich heraus, daß die alten
Strukturen, Methoden und »Werte« sich
kaum geändert haben. Was sich veränderte,
sind die Institutionen, die Taktık und der
Stil. Die preußisch-deutschen Idole: Macht,
Ansehen, Überlegenheit, Sieg, Einheit,
Stärke, Ordnung, Disziplin und Gehorsam
Buchbesprechungen
kehren wieder und gelten, geringfügig modi-
fiziert, weiter. An einer Stelle (S. 42) findet
Pflüger zwar die »Traumresultate« der W.-
Wahlen »ein wenig beängstigend«, der Frage
nach den tieferen Gründen für die Faszina-
tion, die W. ausübt, weicht er aber aus. Ins-
gesamt ergibt sich das Bild einer Persönlich-
keit, die sich weniger durch Ideenreichtum
und schöpferische Phantasie als durch rhe-
torisch-dialektisch-taktisches Geschick aus-
zeichnet, weniger durch kritische Urteils-
kraft als durch psychagogische Suggestiv-
kraft, weniger durch großzügig-warmherzi-
ges Wohlwollen als durch kühle Berech-
nung, Distanzierung und Überlegenheitsbe-
dürfnis, weniger durch Aufgeschlossenheit
und Offenheit als durch gelegentlich durch
Scherze und Frotzeleien (S. 46) überspielte
Verschlossenheit und Reserviertheit, weni-
ger durch die Fähigkeit zur Einfühlung, die
Neigung zu Mitgefühl und durch tätige
Solidarität als durch schachspielerhafte Ga-
ben der Abwägung, Lenkung und Kontrolle,
weniger durch das Verständnis für und das
Ignorieren von menschlichen Schwächen als
durch pädagogische Intentionen und die
Gabe, Minderwertigkeits- und Schuldge-
fühle wenn nicht zu erzeugen, so doch zu
erhalten und zur Mehrung der eigenen Au-
torität zu nutzen, weniger durch tatsachen-
orientiertes als durch eindrucksorientiertes
Verhalten, weniger durch Bereitschaft zum
inneren Wandel als durch Festhalten an
Glaubenswahrheiten, Rang- und Standesun-
terschieden sowie durch Abhängigkeit von
Erfolgserlebnissen. Wahrheit ja, aber nur so-
weit sie den eigenen Interessen nicht zuwi-
derläuft, Widerspruch ja, aber nicht gegen
die eigenen Prinzipien und Prämissen, Frei-
heit ja, aber nur die zugestandene, Toleranz
ja, aber ohne Hinterfragung des eigenen
Standpunktes und ohne volle Kompromiß-
bereitschaft, Irrtum ja, aber nicht zugunsten
der eigenen Sache: dann ist es »Irrsinn«!.
Insgesamt ergibt sich das Bild einer zwie-
spältigen, im Kern egozentrischen Persön-
lichkeit, die sich bemüht, innere Zwänge
und äußere Anpassung zu überwinden. An
der subjektiven Ehrlichkeit dieser sich selbst
und andere gelegentlich überfordernden Be-
mühungen sei hier nicht gezweifelt, auch
nicht an dem Bemühen, Uberreaktionen zu
vermeiden, wohl aber an dem Erfolg dieser
Bemühungen. Es ist fraglich, ob W.s Verhal-
tensmuster im Endeffekt auf eine Musterde-
mokratie hinauslaufen oder auf eine Refeu-
ZEP 40. Jg. 2/1993
223
dalisierung der Demokratie, eine pro-
forma-Demokratie, aber de facto auf eine
Oligarchie. Ein intellektualistisches Demo-
kratieverständnis wird zwar die Menge fas-
zinieren, aber sie nicht in echte Demokraten
verwandeln können. Die meisten Menschen
werden das für unerreichbar halten und de-
nen das Regieren überlassen, die sie für von
Natur aus dazu berufen halten. So könnte
wieder die Auffassung an Boden gewinnen,
daß sich das deutsche Volk nicht zur Demo-
kratie eigne, zumal C. F. v. Weizsäcker eine
passende Geschichtskonstruktion liefert, die
»Natur« und »germanische Adelswelt«
gleichsetzt?. Abgesehen von den, wenn nicht
ganz falschen, so doch irreführenden darin
enthaltenen Thesen, führt dieses »Herr-
schaftswissen« oder diese Ideologie zu der -
aus den jüngsten Erfahrungen mit der
DDR-Führung hinlänglich bekannten - Ent-
wicklung, welche die führende Schicht nicht
nur alle Systeme überleben, sondern von al-
len Systemen profitieren läßt, um am Ende
weiterzuführen und die Verantwortung für
Miferfolge den Geführten, dem Schicksal,
der Vorsehung oder Gott anzulasten. Kein
Wunder also, wenn auch R. v. W. mit dem
Begriff der Ideologie und wohl auch mit
dem der Lebenslüge nichts anzufangen weiß
(vgl. S.57). Weitere von W. nicht hinter-
fragte, aber prüfungsbedürftige Kategorien
sind: Protestantismus, Kultur und deutsche
Identität. In unserem ideologiekritischen
Zeitalter, einer wesentlichen und wichtigen
Weiterentwicklung des historischen Be-
wuftseins, erscheint die pauschale Bezeich-
nung Protestantismus für eine politische
Kraft unzulässig. Ist der Thron- und Altar-
protestantismus damit gemeint oder der Kir-
chenprotestantismus? Daß der Protestantis-
mus des 19. Jahrhunderts, den W. vorauszu-
setzen scheint, mit den Idealen Luthers nicht
viel mehr als den Namen gemeinsam hat, ist
evident, bleibt jedoch bei W. unreflektiert.
Die Frage, ob die deutsche Kultur, die W.
als europäischen Machtfaktor gegen die
1 R. v. Weizsäcker, Die deutsche Geschichte
geht weiter, München 1985, S. 19.
2 Bewußtseinswandl München 1988,
S. 262 f. Natürlich gab es bei den Germa-
nen noch keinen Adel. Will man in der
Gleichsetzung von Natur und Adel nicht
schon eine Vorform von Rassismus se-
hen, so erscheint sie mindestens grotesk.
224
Neue Welt ins Feld führt (vgl. S. 243), nicht
zum guten Teil ein Ersatzprodukt für sei-
tens der alten (wie der neuen) Machthaber
vorenthaltene Freiheiten und Menschen-
rechte sein könnte und somit in Form einer
Renaissance zu einer Wiederbefestigung
überwundener Machtstrukturen beitragen
könnte, wird gar nicht gestellt. Wie W.s
ziemlich inhaltsleere Rede über »Die Deut-
schen und ihre Identität« (1985) zeigt, kön-
nen die preußisch-deutschen »Tugenden«
des 19. Jahrhunderts nicht auch die von
morgen sein. Diese »Werte« stammen weder
aus der »germanischen Adelswelt« noch aus
dem christlichen Mittelalter, auch nicht aus
dem Wertekosmos der Reformation oder
der Aufklärung, vielmehr aus der Gefühls-
welt des deutschen Kleinbürgertums mit
Ben Ambitionen, aus der Motten-
iste Wagners und Nietzsches, aus den
Wachträumen der barbarossa- und walhalla-
gläubigen deutschen Weltverbesserer aus
Weltunkenntnis. Die Idole dieser Leute wur-
zeln in drei mächtigen Komplexen, die seit
150 Jahren nicht aufgehört haben, die deut-
sche Politik zu beeinflussen: in der Angst
vor der Wahrheit, in der Angst vor der Frei-
heit und in der Angst vor dem gesellschaftli-
chen Wandel. Daß daraus je eine gesell-
schaftliche oder gar religiöse Erneuerung,
ein generöses oder faires Ethos oder eine
zukunftweisende deutsche Identität, ge-
schweige ein menschlicheres Europa entste-
hen soll, ıst kaum anzunehmen. Betrachtet
man W.s Stellungnahmen zu aktuellen poli-
tischen Anlässen?’ — beredter noch ist sein
Schweigen -, so ergibt sich unübersehbar ein
Grundkonsens mit obsoleten »Werten« und
»Tugenden«, ein Bild des ängstlichen Kon-
formismus, der sich vergeblich von der Do-
minanz des Machtdenkens zu lösen ver-
sucht. Ob W. mit dieser Einstellung und
ideologischen Ausstattung seine »vornehm-
ste Aufgabe« zu erfüllen vermag: »als Staats-
oberhaupt den Deutschen Orientierung zu
geben« (S. 472), die Beantwortung dieser
Frage bleibe der Selbstkritik des selbstbe-
wußten Präsidenten überlassen. Wenn W.
den Abstieg Europas zu einer politisch dritt-
klassigen Macht beklagt (S. 260) oder gar
(unter deutscher Führung?) auf Kosten der
Beziehungen zu den Vereinigten Staaten
rückgängig machen zu können glaubt,
müßte er sich etwas mehr einfallen lassen,
wenn er das erneute Scheitern der tragischen
Ideologie einer vermessenen deutschen Füh-
Kritik
rungsschicht vermeiden will. Mit einem dia-
lektischen Spiel, das das Abhängigkeitsver-
hältnis ideologisch »richtigstellen« soll, ist es
nicht getan: »Das, was wir westlich nennen,
ist nicht amerikanisch, sondern europäisch.
Auch das, was die Amerikaner westlich
macht, ist europäisch. Ihre Freiheitsidee
wurzelt in unseren europäischen Gedanken.
Darin sind wir ihnen unverbrüchlich verbun-
den, genauer gesagt: sie mit uns« (S. 243).
Bei aller Prestigebeflissenheit sollte man al-
lerdings einen kleinen Unterschied nicht
übersehen: Während die Freiheit in
Deutschland dank der »Adelswelt« ein
Wunschtraum blieb, wurde sie in den USA,
Großbritannien und schließlich auch in
Frankreich verwirklicht.
St. Ingbert Ernst R. Sandvoss
Martin Wein: Die Weizsäckers. Geschichte ei-
ner deutschen Familie. 5. Aufl. Stuttgart 1990.
dva. 575 S. 44,- DM.
»Meine Aufgabe war es nicht, zu rühmen
oder zu richten. Ich hatte nach Leopold von
Rankes Maxime anhand von Dokumenten
und Aussagen zu schildern, >wie es eigent-
lich gewesen« « (S. 7). So ehrenwert die Be-
schränkung der Aufgabe ist, so erscheint
doch der Rückzug auf das Objektivitätsideal
des 19. Jahrhunderts im Zeitalter der Ideolo-
giekritik ein wenig naiv, ebenso die Paralleli-
sierung von Familientraditionen mit deut-
scher Geschichte, auch oder gerade wenn
man die Herkunft der Familie bis ins
13. Jahrhundert zurückverfolgen zu können
glaubt (S. 12). Ob die durchgehende Cha-
rakteristik der W.s als »liberalkonservativ«
angesichts der folgenden Beispiele zurrifft,
möge der Leser selbst entscheiden. Wein be-
handelt näher Carl Heinrich v. Weizsäcker
(1822-1899), »Theologe und Politiker
dazu« (S. 27-79), einen Gegner kirchlicher
Reformen (S. 62) und der Demokratisierung
(S. 71); Julius Ludwig Friedrich v. Weizsäk-
ker (1828-1889), den leidenschaftlichen
Verfechter eines Krieges gegen Frankreich
mit dem Ergebnis deutscher Einigung (S. 81)
sowie »Herold des preußisch-deutschen Na-
tionalismus und des Hohenzollernschen
Erbkaisertums« (S. 100): »Macht ist es ja vor
3 Vgl. hierzu Pflüger, aaO. S.109 f.,
158 f., 170 f., 237 ff., 410, 422.
Buchbesprechungen
Allem, was wir brauchen, und abermals
Macht, und Macht suchen wir in Preußen,
weil sie in Preußen ist« (S. 95); Karl Hugo
v. Weizsäcker (1853-1926), den »Staats-
mann zwischen den Zeiten« (S. 143-203),
der sich selbst einen Reaktionär reinen Blu-
tes nannte (S. 158), persönlich den Ersten
Weltkrieg schon 1914 für verloren hielt, vor
dem Landtag aber noch im Frühjahr 1918
die deutsche Situation als »überaus gut« hin-
stellte (S. 144) und die Staatsmänner der Al-
liierten als »die europäische Kultur vergif-
tende Bazillentrager«! bezeichnete (S. 183);
Ernst Heinrich v. Weizsäcker (1882-1951),
der, als sein Bruder 1914 ın Frankreich ge-
fallen war, seine Haßgefühle auf das ganze
französische Volk ausdehnte: »Das Volk,
das ... uns den Bruder nahm, soll, so Gott
will, Deutschland nie mehr gefährlich wer-
den« (S. 222) — unvorstellbar, daß Gott an-
ders entschied! Luther hätte vielleicht sagen
können, warum. E.v.W. gehörte zu den
Deutschen, die kurz nach der ersten Nieder-
lage die Ursachen dafür verdrängten und an
den nächsten Krieg dachten; »mein erster
Gedanke ist: Hieraus entsteht ein neuer
Krieg. Unsere Kinder werden ihn ausfechten
müssen« (S. 228). Als die Alliierten Kaiser
Wilhelm II. und 895 andere Personen als
Kriegsverbrecher zur Aburteilung anforder-
ten, lehnte E. v. W. die Kaceschuld rund-
weg ab und suchte die Abschiebung zu verei-
teln. Im Sommer 1921 wurden nur 12 dieser
Herren vor Gericht gestellt und nur 6 davon
verurteilt, von denen 2 bald aus dem Ge-
fangnis entkamen (S. 231 f.). Ware es nach
Luther gegangen, waren wahrscheinlich der
Kaiser und alle seine Komplicen vor ein
deutsches Gericht gestellt; denn war es nicht
blasphemisch, »Gott mit uns« als Motto auf
die Koppelschlösser der ins Feld ziehenden
Soldaten gravieren zu lassen, während so
mancher im Tornister Nietzsches »Zarathu-
stra« trug? Hätten die Weizsäckers sich über
diese deutsche Schizophrenie Gedanken ge-
macht, hätten sıe als Protestanten andere
Schlüsse aus den Ereignissen ziehen müssen,
aber kaum eine Spur von den christlichen
Tugenden der Reue, Demut und des Mit-
leids auch mit dem Leid anderer Völker. Als
Vertreter einer Demokratie beim Völker-
bund verachtete E.v.W. die Demokratie:
»Die Demokratie ıst der Krebsschaden«
(S. 237), und nannte den Völkerbund »eine
internationale Schwindlerbande« (S. 240).
Das Wort »Abrüstung« hing ihm »zum Hals
ZfP 40. Jg. 2/1993
225
heraus« (S. 243). Zur Nazipropaganda im
»Völkischen Beobachter« bemerkte er:
»Eine Erlösung, ... so wacker schimpfen zu
hören« (S. 246). Im Dritten Reich avancierte
der Freiherr zum Staatssekretär im »Auswär-
tigen Amt«, trat in die NSDAP ein und
nahm einen hohen SS-Rang an (S. 265), na-
türlich nur, um, gut getarnt, gegen das Re-
gime arbeiten zu können. Diese Version
nahm ihm nach dem Scheitern Hitler-
deutschlands das Nürnberger Gericht nicht
ab, das ihn wegen Beteiligung an der Okku-
pation der Rest-Tschechoslowakei und der
Deportation von 6000 Juden aus Frankreich
zu 7 Jahren Haft verurteilte. Er wurde schon
1950 entlassen. Auch dann, im Gegensatz
zum Stuttgarter Schuldbekenntnis, kein Ein-
geständnis der Schuld, keine Billigung des
Gerichtsverfahrens und das für hartherzige
Egozentriker typische Unverständnis für an-
dere Denkweisen und fremdes Leid. Nach
der Darstellung Weins war Viktor v. Weiz-
säcker (1886-1957), der auch ın Fachkreisen
der Medizin als Außenseiter galt, so erwas
wie ein schwarzes Schaf in der »liberalkon-
servativen« Familie. Demokratisch gesinnt,
lehnte er das Hegemoniestreben der Alldeut-
schen ab, durchschaute die pseudopatrioti-
schen Phrasen seiner Zeit und mifbilligte
die Politik der Hohenzollern, deren Schei-
tern er voraussah. Ebenso erkannte er eine
deutsche Tendenz zur Selbstvernichtung
(S. 400). Der Naziherrschaft stand er zwie-
spältig gegenüber; er ließ sich zwar, wohl
aus religiösem Übereifer, zur Teilnahme an
der Verbrennung von Büchern jüdischer Au-
toren hinreißen und übergab selbst ein Werk
des zuvor von ihm sehr geschätzten Sig-
mund Freud den Flammen, aber eine persön-
liche Teilnahme am Euthanasieprogramm
der Nazis konnte man ihm nicht nachweisen
(S.398). Zum Schluß stellt Wein C.F.
v. Weizsäcker (geb. 1912) und Richard
v. Weizsäcker (geb. 1920) vor (S. 411-535),
deren politische Aktivitäten allgemein be-
kannt sind. Ob C. F. v. Weizsäcker »einer
der wenigen Universalgelehrten« ist, die es
noch gibt, wird die Aufstellung der seit Jahr-
1 In dem Buch R. v. Weizsäckers Die deut-
sche Geschichte geht weiter, München
1985, S. 125, kehrt das Motiv im Hin-
blick auf Andersdenkende wieder: »Da-
bei macht ein giftiger Bazillus auch vor
geistig geschulten Köpfen nicht Halt.«
226
zehnten in Aussicht gestellten »Weltformel«
zeigen, ob er ein »trefflicher« Politiker ist,
kann nur das Zutreffen seiner Prognosen
beweisen. Die Verlegenheit, die der Autor
gelegentlich erkennen läßt, wenn es darum
geht, ein so voluminöses Werk durch die
Großtaten seiner Helden zu rechtfertigen,
überspielt Wein ın rührender Ergebenheit
und journalistisch gar nicht ungeschickt
durch die Erwähnung von Ordensverleihun-
gen an seine Helden, durch eine Liste der
Preisverleihungen, durch Erwähnung von
Bekanntschaften mit Nobelpreisträgern und
durch den Griff in die Kiste der lobenden
Urteile seitens der Freunde und einiger Zeit-
genossen. Der erstaunliche Aufstieg vom
erstklassigen »fürstlichen Mundkoch« bis
zum ersten Mann in Deutschland, den die
im Ersten Weltkrieg mit dem Erbadelsdi-
plom für treue Dienste an einem unterge-
henden System ausgezeichnete Familie in
nicht viel mehr als 200 Jahren schaffte, wird
allerdings durch den Vergleich der Karriere-
zeiten der Alten mit der Neuen Welt ein we-
nig relativiert, wo es ein mittelmäßiger
Schauspieler in wenigen Jahrzehnten
schaffte, zum mächtigsten Mann des mäch-
tigsten Landes der Erde zu avancieren. Wie
dem auch sei: Wein hat ein ansprechendes
Buch geschrieben, manchmal etwas schwer-
fallig und langatmig, aber doch so erbaulich,
daß auch anspruchsvolle Nostalgiker voll
auf ihre Kosten kommen dürften.
St. Ingbert Ernst R. Sandvoss
Claus Kocu: Meinungsführer. Die Intelligenz-
blätter der Deutschen. Berlin 1989. Rotbuch
Verlag. 125 S. 12,- DM.
Die führenden überregionalen deutschen
Zeitungen sind beständig dem Verdacht aus-
gesetzt, im Vergleich zu ihren europäischen
und amerikanischen Pendants hinter deren
(leider nie definiertem) Niveau weit abge-
schlagen zu rangieren. Wie wenig auch
Claus Koch von den bundesdeutschen Print-
medien hält, wird im abschließenden Satz
seines Buches deutlich. Koch, selbst (freier)
Journalist, läßt kaum ein gutes Haar an der
überregionalen Presse, wenn er auf die
Frage nach der Wunschvorstellung für das
deutsche Intelligenzblatt antwortet: »Am
Anfang das Streiflicht der »Süddeutschen«,
am Ende die Sportseite der >FAZ<. Die Leere
Kritik
dazwischen wäre zu füllen« (S. 121). Selbst
wenn man die beiden angesprochenen Posi-
uva nicht als Bonmot interpretiert, bleibt
letztlich ein Armutszeugnis.
Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«
kommt noch am besten davon. Der Autor
hat zu Beginn des Jahres 1988 vier Wochen
lang die »FAZ« ausgewertet. Abgesehen von
der Kürze dieses Zeitraums sei einmal da-
hingestellt, ob die drei von ihm zitierten Bei-
spiele tatsächlich ın der Lage sind, den polı-
tischen Teil der Zeitung zu kennzeichnen.
Ungewöhnlich ist jedenfalls, daß zwei Ex-
empel das empfindsame Thema »Vergan-
genheitsbewältigung« (Kurt Waldheim so-
wie Werner Höfer) betreffen. Hier wird oh-
nehin — da ist Koch kein Ausnahmefall - all-
zuleicht tabuisiert und stigmatisiert. Inso-
fern zeugt dessen Kritik eher von der Not-
wendigkeit einer »Historisierung« der Ver-
gangenheit, einer sachlichen, rationalen Be-
schäftigung mit ihr, was nicht mit einer Ver-
harmlosung von Verbrechen zu verwechseln
ist, als von der scheinbar vorhandenen Pro-
vinzialitat der »FAZ«. Im übrigen kommen-
tiert die Zeitung diese Geschehnisse -
ebenso wie das dritte Beispiel: den Strauß-
Besuch im südlichen Afrika — keineswegs
einhellig; es kommen durchaus konträre
Stimmen zu Wort. Überhaupt beschäftigt
sich der Autor ausschließlich mit den Kom-
mentaren. Bedenkt man jedoch, daß sie ım
politischen Teil gerade einmal eine halbe
Seite umfassen — und das bei einem Umfang
von tagtäglich 12, 14 oder 16 Seiten dieses
Ressorts —, dann scheint die Gewichtung der
Kritik, bei allem Verständnis für die beson-
dere Bedeutung der Glossen und des Leitar-
tikels einer Zeitung, unausgewogen. Die ge-
samte Berichterstattung, die Reportagen, die
Güte der Informationen, das Korresponden-
tennetz etc., all das bleibt unberücksichtigt.
Am Wirtschaftsteil mißfällt Koch, daß
dem Leser zu wenige wirtschaftspolitische
Analysen geboten werden; man sei viel zu
sehr auf eine ideologische Auseinanderset-
zung ausgerichtet. »Nicht: Wie sieht die Zu-
kunft einer Wohlfahrtsökonomie aus, die
den Staat ebenso braucht wie den Markt?
Sondern: Jede Staatstätigkeit in der Wirt-
schaft ist von Übel, darum weg mit allen
Subventionen und konsequente Deregula-
tion. (...) Woran es dem Unternehmerleser
in seiner Zeitung mit ihrem internationalen
Korrespondentennetz jedoch fehlen wird,
das sind Perspektiv- und Trendberichte,
Buchbesprechungen
Analysen, die sich nicht nach dem ersten Ab-
satz in die wirtschafts-ideologischen Gebets-
mühlen drehen lassen« (S.29f.). Daher
diene die Zeitung führenden Vertretern der
Wirtschaft allenfalls als Drittblatt.
Dagegen hat das Feuilleton es ihm ange-
tan. »Jedermann, der hierzulande mit Kultur
zu tun hat, wird zustimmen, daß dies das
kompetenteste aller deutschen Feuilletons
ist« (S. 31). Der Kulturteil stelle hohe An-
sprüche an sich selbst, mache die Lektüre
aufgrund der breiten Themenpalette, die er
behandle, für viele zum Muß und besteche
ebenfalls durch seinen (im Vergleich zu an-
deren Tageszeitungen) größeren Umfang.
Koch erkennt seit den achtziger Jahren eine
Trendwende im Feuilleton, die dazu geführt
habe, daß neue Themen behandelt würden,
deren Ergebnis keineswegs präjudiziert sei.
Das Lagerdenken, noch charakteristisch für
die Politik und den Wirtschaftsteil des Blat-
tes, widerstrebe dem Kulturressort heute.
In ähnlichem Ton - wie an der »Frankfur-
ter Allgemeinen Zeitung« vorexerziert — cha-
rakterisiert Koch »Die Zeit«, den »Spiegel«
und die »taz«. Selbst wenn man nicht jeder
seiner Einschätzungen zuzustimmen gewillt
ist, vermag der Autor durchaus bedenkens-
werte Interpretationen der deutschen Intelli-
genzpresse vorzulegen. Allerdings bleibt die
Frage, ob die deutsche Intelligenzpresse im
internationalen Vergleich tatsächlich so
schlecht wegkommt wie viele meinen. Dazu
wäre ein detaillierter Vergleich notwendig;
pauschalisierende (Vor-)Urteile helfen da
nicht weiter.
Wittlich Ralf Altenhof
Horst Mewes: Einführung in das politische
System der USA. 2. überarbeitete Auflage Hei-
delberg 1990. C. F. Müller Juristischer Verlag.
314 S.
Am Ausgang des kalten Krieges sind wir im-
mer noch weit vom »Ende der Geschichte«
(Fukujama) entfernt. In dem Maße, wie der
Systemkonflikt zwischen Kommunismus
und Kapitalismus aus unseren Augen ent-
schwindet, treten latente Konflikte zwischen
den weltwirtschaftlich bedeutsamen Regio-
nen Asien, Westeuropa und Nordamerika
ins Zentrum unserer Wahrnehmungen. Alle
ZfP 40. Jg. 2/1993
227
drei Regionen stehen für spezifische Mo-
delle, wie moderne sozıo-ökonomische
Systeme organisiert werden, auf welchen
Normen und Prinzipien sie beruhen und in
welcher Weise Wohlstand auf die einzelnen
gesellschaftlichen Gruppen verteilt wird.
Wenn aber nicht nur Volkswirtschaften,
sondern gesamte Wirtschafts- und Sozialsy-
steme auf den Weltmärkten miteinander
konkurrieren, ist es notwendig, die Widersa-
cher zu kennen. Zum Kennenlernen des po-
litischen Systems der USA mag Horst Me-
wes’ Einführung dem Unkundigen einen
nützlichen Beitrag leisten.
In einer einfachen und verständlichen
Sprache werden die Verfassung der Verei-
nigten Staaten, Gesellschaft, Wirtschaft und
Politik in ihrer Gesamtheit dargestellt und
die einzelnen Subsysteme, wie z. B. die Ge-
sellschaft ın Kapitel 5 über »Interessengrup-
pen, Eliten und Parteien«, detaillierter un-
tersucht. Im Kapitel über die »Präsidential-
demokratie und die Auswirkungen des Neo-
konservatismus« vertritt Mewes pointierter
als in der ersten Auflage seine Zentralthese,
daß eine »Regierung mit einem gleichzeitig
stark erscheinenden, aber politisch relativ
schwachen Präsidenten und einem politisch
starken, aber als Regierungszweig führungs-
unfahigen Kongreß« (S.17) kaum in der
Lage sein werde, den Wettbewerb mit den
anderen Weltregionen ohne größere Verlu-
ste zu überstehen. Die Fragmentierung der
Macht und eine schleichende Dezentralisie-
rung hätten zu einem »Effizienzverlust der
Präsidialdemokraue« (S. 19) geführt, die als
Regierungstyp damit hinfällig geworden sei
(S. 22). Wer diesem pessimistischen Urteil
keinen Glauben schenken möchte, wird sich
auf das enorme gesellschaftliche Innova-
tionspotential der USA stützen, das in Me-
wes’ Darstellung merkwürdig kurz abgehan-
delt wird. Die weltweite Konkurrenz mit
Asıen und Europa könnte hierbei durchaus
als zusätzlicher Katalysator für eine poli-
tisch-institutionelle und gesellschaftliche
Reform wirken.
Nun müssen an einführende Darstellun-
gen immer besondere Anforderungen hin-
sichtlich der Verständlichkeit, der Gliede-
rung und der Präzision gestellt werden.
Beim Lesen von Horst Mewes’ Beschreibung
gerät allerdings allzu leicht die Tatsache aus
dem Blickfeld, daß es sich beim politischen
System der USA um eine ganz andere Art
und Weise handelt, wie soziale Mitwir-
228
Kritik
kungs- und Verteilungsprozesse geregelt
sind. So verfällt der deutsche Leser häufig
der Versuchung, Versatzstücke in sein eige-
nes, vom Parlamentarismus geprägtes Ver-
ständnis von Politik einzugliedern, was zu
Verständnisproblemen oder gar Mißver-
ständnissen führen kann. Da die Kritik von
Mewes am politischen System der USA noch
zusätzlich aus einer spezifisch deutschen
Perspektive vorgebracht wird (auf welchem
Realitätsverständnis beruht eigentlich der
Satz auf S. 243: »Darüber hinaus leidet die
Außenpolitik unter der immer wiederkeh-
renden Unfähigkeit, Interessen und Beweg-
gründe der sowjetischen Führung realistisch
zu beurteilen.«), wird der Zugang zu und
das Verstehen der USA mit Hilfe von Empa-
thie unnötig erschwert. Die Unterkapitel
über politische Kultur, Wertvorstellungen
und Ideologien ersetzen nicht die verglei-
chende Perspektive, die allein die Systemun-
terschiede verdeutlichen würde.
Einige Überraschungen löst überdies die
Zuordnung von Texten unter Überschriften
aus. So findet man in Kapitel 6.4.2. unter der
Überschrift »Die Rolle des Kongresses« vor
allem Ausführungen über die aufenpoliti-
schen Eliten und wenig über die eigentliche
Rolle, die der Kongreß bei der Formulie-
rung und Implementierung von Außenpoli-
tik spielt. Weiterhin hätte man sich etwas
mehr Sorgfalt bei der Verwendung englisch
zitierter Fachterminologie gewünscht: Der
außenpolitische Ausschuß des Repräsentan-
tenhauses heißt nicht »committee on inter-
national relations« (S. 253), sondern richtig
»committee on foreign affairs«. Der Verei-
nigte Generalstab besteht nicht aus drei
(S. 249), sondern aus vier Stabschefs, die
Heer, Luftwaffe, Marine und Marinekorps
vertreten. Und schließlich hätte es nicht
allzu großer Mühe bedurft, neueres statisti-
sches Daten- und Zahlenmaterial heranzu-
ziehen und das Literaturverzeichnis auf den
neuesten Stand zu bringen. Die empirischen
Daten sind durchschnittlich sieben bis zehn
Jahre alt, weshalb ihr Aussagewert für die
Gegenwart sehr begrenzt ist. Der am politi-
schen System der USA Interessierte wird
auch jetzt nicht darum herumkommen, sich
zusätzlich zu Horst Mewes’ Darstellung der
englischsprachigen Einführungsliteratur zu
bedienen.
Berlin
Christian Tuschhoff
Nikolaus Wenruris: Griechenland und die
EG. Die soziopolitischen Rahmenbedingungen
griechischer Europapolitiken. Tübingen 1990.
Francke Verlag. 382 Seiten.
N. Wenturis, Tubingen, ist schon seit lange-
rem als ausgewiesener Fachmann für die
Probleme der Europäischen Gemeinschaft
wie des politischen Systems Griechenlands
bekannt, welch letzterem er bereits 1984 das
gegenwärtige deutschsprachige Standard-
werk gewidmet hat. Im vorliegenden Band
verknüpft der Verfasser diese beiden Inter-
essen- und Forschungsgebiete zu einer er-
neut beachtenswerten Analyse.
Die beiden ersten Kapitel behandeln die
kulturellen und soziopolitischen Grundla-
gen des neugriechischen Systems sowie die
grundlegenden Wertorientierungen seiner
Gesellschaft, um dann — auf breiter empiri-
scher Grundlage - eine Analyse des Wahl-
verhaltens und der Parteipräferenzen bei
den Europawahlen in Griechenland 1981
und 1984 anzuschließen. Es folgt im vierten
und fünften Kapitel die Darstellung der zen-
tralen Komponenten der Außenpolitik Grie-
chenlands und der »determinierenden Para-
meter« seiner EG-Politik. Im sechsten Kapi-
tel werden schließlich die Einstellungs- und
Wertorientierungen im National- wie im
Europaparlament untersucht und dies auch
im Vergleich mit den Europa-Abgeordneten
aus den anderen EG-Mitgliedstaaten, um
den »Intensitätsgrad des Europabe-
wußtseins« der Europaabgeordneten aus
den 12 verschiedenen Mitgliedsländern ver-
gleichend zu ermitteln.
Die Achse, um die Wenturis’ Untersu-
chungen und Bewertungen kreisen, ist die
Frage nach dem Verhältnis von »nationaler
Identität und Westorientierung«, »Ethno-
zentrismus und Europabewußtsein«. Dabei
gelingen dem Autor wichtige Erkenntnisse
zur Beurteilung des politischen Systems und
der politischen Kultur Griechenlands, die er
als geradezu »brüchig« einschätzt und für
deren bis zu »Anomie« und »soziokulturel-
ler Entropie« reichende Problematik er na-
hezu alle soziokulturellen Kräfte und Insti-
tutionen des Landes verantwortlich macht,
nicht zuletzt die orthodoxe Kirche, die »hel-
lenozentrische« und autoritäre Obrigkeits-
staatsideologie und ein »parakapitalisti-
sches« griechisches Bürgertum, das sich viel-
fach bis heute nicht den Antriebskraften ka-
pitalistischen Unternehmertums und pro-
Buchbesprechungen
duktiven Leistungsdenkens westeuropä-
ischer Provenienz zu öffnen vermochte. Das
reicht, wie Wenturis feststellt, bis zu den
griechischen Europa-Abgeordneten, wo
gleichsam unter der Schicht europäischer
Rhetorik noch mancherlei »Antiokzidenta-
lismus« fortwirkt, sei es in seiner »histo-
risch-konservativen« Form bei der Nea De-
mokratia, sei es in der langere Zeit wirksa-
men »progressiven« Mischung der PASOK
Andreas Papandreous aus Sozialdemokratie,
Marxismus, Tiers-Mondismus und jugosla-
wischem Modell. Vor allem das »merkantile
Kalkul«, so der Verfasser, balanciere eini-
germaßen diesen tief verwurzelten »Helle-
nozentrismus« aus.
Dieser Untersuchungsansatz wie seine Er-
gebnisse sind ebenso wichtig wie originell;
denn sie gehen die bis heute ungelösten Pro-
blem-Dimensionen der EG einmal nicht von
»Brüssel« her an, sondern von der »Basis«
eines einzelnen Mitglieds-Landes und seiner
kulturell-soziopolitischen Mitgift aus, ein
Ansatz, den man sich in gleicher Weise auch
einmal für andere Neu-Mitgliedsländer der
EG, besonders aus dem mediterranen Sü-
den, wünschen möchte. Übrigens könnte
und sollte auch die praktische EG-Politik
aus Analysen wie dieser unmittelbaren Ge-
winn schöpfen, so die Vertreter der politi-
schen Klasse und Bürokratie ın Brüssel über-
haupt zur Lektüre politik- und sozialwissen-
schaftlicher Analysen Zeit und Lust haben
(die ihnen freilich auch durch ein weniger
sozialwissenschaftlich-systemtheoretisch
überfrachtetes Vokabular — wie auch im vor-
liegenden Band - erleichtert werden sollte).
Jedenfalls sollten Ergebnisse wie die der
vorliegenden Studien zu mehr Nachdenk-
lichkeit für technokratisch-unhistorische
Europa-Konzeptionen anleiten. Gewiß: Die
»Exzentrizität« des griechischen Falles, die
auch Wenturis immer wieder betont, ist viel-
leicht nur begrenzt verallgemeinerungsfähig
(was an den Fällen Spanien und Portugal
aber erst noch überprüft werden müßte). Es
könnten aber auch bei anderen EG-Staaten
mit diesem Ansatz überraschende Ergeb-
nisse zutage treten. Nicht zuletzt scheint
sich mir dieser Ansatz als Modell zu eignen
für die Untersuchung der Problematik von
Modernisierungs-Prozessen besonders in
der politisch-kulturell von der Orthodoxie
und Byzanz geprägten süd- und ostslawi-
schen Region - also ein ganz aktuelles
Thema für Rußland oder die Ukraine
ZfP 40. Jg. 2/1993
229
ebenso wie für Serbien, Bulgarien (und Ru-
mänien). In dieser Perspektive könnte die
Untersuchung von Wenturis den Wert einer
Pilotstudie über den »Sonderfall« Griechen-
land hinaus gewinnen.
Reutlingen Klaus Homung
Gilbert-Hanno Gornic: Der Hitler-Stalin-
Pakt: eine völkerrechtliche Studie (Schriften
zum Staats- und Volkerrecht, Bd. 41). Frank-
furt am Main/Bern/New York/Paris 1990. Ver-
lag Peter Lang. XII, 184 S.
Am 23. August 1989 jahrte sich zum fünfzig-
sten Male der Abschluß des Hitler-Stalin-
Paktes, dessen Geheimes Zusatzprotokoll
die Gebiete der Staaten Finnland, Estland,
Lettland, Litauen und Polen sowie Bessara-
biens zum Teil der sowjetischen, zum Teil
der deutschen Interessensphäre zuwies. Die
Erhaltung eines unabhängigen polnischen
Staates wurde in Frage gestellt.
Die von Gornig vorgelegte Studie unter-
sucht den Pakt auf seine Vereinbarkeit mit
den zur Zeit des Vertragsschlusses und
heute geltenden völkerrechtlichen Normen.
Zunächst werden die deutsch-russischen
Kontakte seit April 1939 geschildert, die zur
Abgrenzung der beiderseitigen Interessen-
sphären im Hitler-Stalin-Pakt (Nicht-
angriffspakt) und in der Folge sowohl zum
deutschen als auch zum sowjetischen Ein-
marsch in Polen führten. Die Aufteilung des
polnischen Staates sowie der Einflußgebiete
im Baltikum wurde im deutsch-sowjetischen
Grenz- und Freundschaftsvertrag vom
28.9. 1939 und einem Geheimen Zusatzpro-
tokoll festgeschrieben; im Laufe des Jahres
1940 wurden daraufhin die Baltenstaaten
und Bessarabien von der Sowjetunion an-
nektiert. Der Nichtangriffspakt und das Ge-
heime Zusatzprotokoll (dessen Echtheit von
der Sowjetunion immerhin noch bis Juli
1989 bestritten wurde) werden einer kurzen
Textanalyse unterzogen, ehe sie eingehend
auf ihre rechtliche Bedeutung untersucht
werden. Obwohl das Völkerrecht kein allge-
meines Verbot der Rückwirkung kennt,
weist Gornig darauf hin, daß Völkerrecht
nichts Unmögliches fordern kann und somit
die im Jahre 1939 geltenden vdlkerrechtli-
chen Normen für die Analyse heranzuzie-
hen sind.
230
Zwar zählte der Inhalt des Briand-Kel-
logg-Paktes noch nicht zu den zwingenden
Normen des Völkerrechtes, so daß der Hit-
ler-Stalin-Pakt nicht gegen das Kriegsverbot
als ius cogens verstoßen konnte, aber die
Verpflichtung zur Respektierung der Souve-
ranitat und Unabhängigkeit fremder Staaten
sowie das Interventionsverbot gehörten be-
reits in den Dreißiger Jahren zum ius co-
gens. Da das Geheime Zusatzprotokoll in
wesentlichen Bestimmungen gegen diese
zwingenden völkerrechtlichen Grundsätze
verstößt, ist es in Verbindung mit dem
Grundsatz von Treu und Glauben insgesamt
nichtig. Es war daher von Anfang an un-
wirksam und erzeugte keine Verpflichtun-
gen. Eine nachträgliche Annullierung, wie
sie im Laufe des Jahres 1989 von den balti-
schen Staaten angemahnt wurde, hätte somit
rein deklaratorischen Charakter.
Als Konsequenz der Nichtigkeit des Hit-
ler-Stalin-Paktes von Anfang an ergibt sich,
daß unter den Vertragsparteien die Wieder-
herstellung der vorigen Lage (Rückgängig-
machung aller aufgrund des nichtigen Ver-
trages vorgenommenen Handlungen) gefor-
dert werden kann; gegenüber dritten Staaten
besteht die Verpflichtung der Wiedergutma-
chung für vélkerrechtsverletzende Handlun-
en durch den dafür verantwortlichen Staat.
as bedeutet: Staaten, denen ein ideeller
Schaden zugefügt wurde, haben Anspruch
auf Leistung einer Genugtuung, etwa durch
eine feierlich ausgesprochene Entschuldi-
gung; Staaten, die als politische Konsequenz
Kritik
des Paktes die Annexion erdulden mußten
(wie etwa Lettland, Litauen und Estland),
haben Anspruch auf Wiederherstellung ihrer
Unabhängigkeit. Weiterhin stellt Gornig
fest, daß der Hitler-Stalin-Pakt, insbeson-
dere das Geheime Zusatz-Protokoll, gegen
eine Reihe von Verträgen verstößt, so gegen
den Briand-Kellogg-Pakt von 1929, den
deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von
1934, den sowjetisch-polnischen Nichtan-
griffspakt von 1932, die Friedensverträge
der Russischen Sozialistischen Föderativen
Räterepublik mit Estland, Litauen und Lett-
land aus dem Jahre 1920, die Nichtangriffs-
pakte der Sowjetunion mit Litauen (1926),
Lettland und Estland (beide 1932), sowie
gegen die Londoner Konvention über die
Bestimmung des Angreifers (Aggressions-
ächtung) von 1933. Diese vertraglich nor-
mierten Verpflichtungen wurden durch den
Hitler-Stalin-Pakt verletzt.
Der Einmarsch deutscher Truppen in die
Sowjetunion 1941 stellte einen schwerwie-
genden Vertragsbruch dar, der den Pakt mit
Wirkung ex nunc beendete.
Die völkerrechtliche Studie zum Hitler-
Stalin-Pakt wird von einem ausführlichen
und informativen Dokumententeil abgerun-
det, in dem sich nicht nur die wichtigsten
Verträge in Auszügen, sondern auch meh-
rere Dokumente zur Vertragsvorbereitung
und zu den Absichten Hitlers finden.
Würzburg Dieter Blumenwitz
Autoren dieses Heftes
Dr. Michael Sachs, Professor fiir Staatsrecht an der Universitit Potsdam
Dr. Hermann Lübbe, Professor (em.) für Philosophie an der Universitat Zürich
Dr. Helmut Dahm, Professor (em.) für Sowjetologie am Bundesinstitut für ostwis-
senschaftliche und internationale Studien, Köln
Dr. Christiano German, Politikwissenschaftler am Zentralinstitut für Lateiname-
rika-Studien der Universität Eichstätt
ZfP 40. Jg. 2/1993
MITTEILUNG
Deutscher Bundestag vergibt
Wissenschaftspreis und Medienpreis
für Arbeiten zum Parlamentarismus
Der Deutsche Bundestag hat zwei Preise ins Leben gerufen, durch die hervorra-
gende wissenschaftliche und publizistische Arbeiten zum Parlamentarismus geför-
dert werden sollen. Die Vergabe der Preise soll zu einer intensiven Beschäftigung
mit Parlamentsfragen anregen und zu einem vertieften Verständnis der parlamen-
tarıschen Praxis beitragen. Die Preise sind mit je 10 000 DM dotiert und sollen —
in der Regel alljährlich — durch die Präsidentin/den Präsidenten des Deutschen
Bundestages verliehen werden.
Die Bundestagspräsidentin hat fünf unabhängige Wissenschaftler berufen, die
über die Vergabe des Wissenschaftspreises beraten und entscheiden sollen. Sie ver-
treten die Disziplinen Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft und Politikwis-
senschaft: Prof. Dr. Ulrich Karpen (Hamburg), Prof. Dr. Rudolf Morsey (Speyer),
Prof. Dr. Heinrich Oberreuter (Passau), Prof. Dr. Hans-Peter Schneider (Hanno-
ver) und Prof. Dr. Uwe Thaysen (Lüneburg). Prof. Dr. Rudolf Morsey ist Spre-
cher der Jury.
Der Jury für den Medienpreis des Deutschen Bundestages gehören an: Dr. Hen-
ning Frank (freier Journalist), Dr. Friedrich Karl Fromme (FAZ), Dr. Helmut Her-
les (General-Anzeiger), Carl-Christian Kaiser (freier Journalist), Wolf von Lojew-
ski (ZDF), Dr. Heinz-Joachim Melder (Hannoversche Allgemeine Zeitung), Mar-
tin E. Süskind (Süddeutsche Zeitung). Sprecher der Jury ist Dr. Helmut Herles.
Die Jurys fordern Interessierte auf, ihre Arbeiten einzureichen. Diese sind zu
richten an:
— Wissenschaftspreis/Medienpreis des Deutschen Bundestages —
Referat WD 1
Görresstraße 15
5300 Bonn 1 (ab 1. 7. 1993: 53113)
Telefon: 02 28 / 16 - 74 10 / 38 13
Fax-Nr. 16 - 8 51 09
Inhaltsverzeichnis
Seite
Aufsätze
Prof. Dr. Michael Sachs, Potsdam: Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum
Strafverfahren gegen Erich Honecker ...............ccecceeceeeeees 121
Prof. Dr. Hermann Lübbe, Zürich: Oswald Spenglers »Preußentum und
Sozialismus« und Ernst Jüngers »Arbeiter«. Auch ein Sozialismus-Rück-
Blick nn. are ea re 138
Prof. Dr. Helmut Dahm, Köln: Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter - Ist
das Zeitalter der Ideologien zu Ende?.............. 2... eee e eee eens 158
Dr. Christiano German, Eichstätt: Zur politischen Rolle protestantischer Sek-
Cen ın LateinamenkaicciG chase a eens aaa ewe ewe Saree 184
Kritik
Sammelbesprechung
Dr. Michael Lißke, Schwerin: Gab es eine E -Revolution«? Reagans
Präsidentschaft und das politische System der USA im Urteil amerikani-
scher und britischer Politikwissenschaftler...............2.-02 ee eee 210
Buchbesprechungen 4620.04 heh ene note u 216
Autoren dieses Heftes ............ 00. cece cece cece eee e teen eenenes 231
Mitteilung 22232 een seine 232
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ee ersehen von a Dr. ring. Hans- Ludvig Drege — 2
T Ökologische Folgenbewertung ee,
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BR ad Professor Dr. i iur. Walter. Bück na | N N I IS AO in EEREN
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tRy ys
Die, Autoren Jejsten einen wichtigen Beitrag: zur. Diskuss iont det RN |
3 tischen Entscheid ungsfindung- Im ersten Teil des Bardes werden di ie. aheore-
-oxisch-mettiodischen und die juristischen Probleme der Umwelverwäglich- |
keitsprüfung behandelt. Im Anschluß daran. ‚stellt der; zweite Tel das Koneet N
zept der skologischen Folgenbewertung als ein Verfahren vor, das getignet > & | oe
istok a ‘Rahinen: der politischen : und: administrativen. ERSRESUEIRSIER. VER
durch Einbeziehung der Beteiligten. a Baral tenes © gine es nd:
| Akzepranzuptimiernag, zu EIER PETE RER
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“Bodenschutzrecht — oe Se a o ja
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tiche und verwaltungsmäßige Gada da Bodenschuczes : pila
! "unter besonderer Berücksichtigung der Altlastensanierung |
tee Peines Die, iur. Walter. Bückmann Sin, Hiya UN ERED AN
2 TREE XIV 234, ‚Seiten. Kartoniert Dia 120, SBN 3-432-22313-2 my GMa N, a WARE
Gepenstand dieses. ‚Bandes: sin. die "wesentlichen echisprableme BE REITEN
y - Bodenschurzes u umer hesoudérer Beachtung der Altlasten. To. einem: einfüh- TEN eu te
“render Kapel: werden zunächst allgemeine Fragen erörtert. Sodann werden > 2 Q Ns
qo dae: Regelungen der. Kernbereiche des. Umweltschutzrechts daraufhin unter \
Y- suche, ob und inwiewein ste gerignei. ‚sind; den Baden vor stofflichen und. Wt IN
| - ticht-suofflicher n Belastungen zu schützen. Den Abschluß bildet eine kurze N
| zechtvergleichende ‚des schweizerischen. und, ‚des ‚Onerreicht ; a:
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Heft 3 - September 1993 - Gegründet 1907 A 85340 F
ZEITSCHRIFT
FUR POLITIK
Organ der Hochschule für Politik München
Aus dem Inhalt:
Henning Ottmann: Hegel und Carl Schmitt
Heinz-Jürgen Axt: Zur außenpolitischen Zusammenarbeit
der EG-Staaten
Zsolt K. Lengyel: Wunder in Ungarn?
Stefan Fröhlich: Amerika und die gesamteuropäische Ordnung
Günter Rieger: Literatur zum Kommunitarismus
Nachruf auf Rudolf Wildenmann
NOV 15 1993
CURRENT sepia) s
& ZfP Jahrgang 40 Heft 3 September 1993 S. 233-354 ISSN 0044-3369
CARL HEYMANNS VERLAG - KÖLN - BERLIN - BONN -© MÜNCHEN
Zeitschrift fiir Politik
Organ der Hochschule fiir Politik Miinchen
(Zitierweise: ZfP)
Gegriindet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt
Herausgegeben von: Dieter Blumenwitz, Rupert Hofmann, Franz Knöpfle,
Nikolaus Lobkowicz, Hans Maier, Henning Ottmann, Mohammed Rassem,
Theo Stammen
Redaktion: Karl-Heinz Nusser
Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher, Karl W. Deutsch t,
Friedrich Karl Fromme, Utta Gruber, Peter Häberle, Wilhelm Hennis,
Ferdinand Aloys Hermens, Friedrich August Frhr. von der Heydte, Christian
Graf von Krockow, Hermann Lübbe, Niklas Luhmann, Theodor Maunz,
Dieter Oberndörfer, Hans Heinrich Rupp, Fritz Scharpf
Redaktion
Prof. Dr. Karl-Heinz Nusser, Ludwigstraße 8, 80539
München. Alle Beiträge sind an die Redaktion zu adres-
sieren. Dasselbe gilt für Rezensionsexemplare.
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1993
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ZEITSCHRIFT FUR POLITIK
JAHRGANG 40 (NEUE FOLGE) . HEFT 3 - 1993
Henning Ottmann
Hegel und Carl Schmitt*
I.
Im Zuge der Renaissance, die dem Denken des Carl Schmitt in den letzten Jahren
widerfahren ist, hat ein Thema Beachtung gefunden, von dem man zunächst glau-
ben möchte, daß es gar keines ist: das Thema »Hegel und Carl Schmitt«. Wie der
Jurist Carl Schmitt zum Philosophen Hegel steht, ist Thema eines Aufsatzes, der
1988 in der Zeitschrift »Der Staat« erschien', und es ist auch Gegenstand einer
1989 veröffentlichten, vorzüglichen Dissertation. Diese versucht, den gesamten
Denkweg Carl Schmitts auf Motive der Hegelschen Philosophie zu beziehen.
Man kann diesen Veröffentlichungen entnehmen, daß das Thema »Hegel und
Carl Schmitt« mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie ihm bisher beschieden war.
So ist - um ein Beispiel zu geben - der vielzitierte Satz des Carl Schmitt, Hegel sei
am 30. Januar 1933 »>gestorben««, ausgesprochen irreführend. Dieser Satz klingt
wie eine Grabrede; aber er war allenfalls teilweise so gemeint. Wie schon Ernst
Topitsch bemerkt hat, hatte sich Schmitt mit diesem Wort nicht von Hegel verab-
schieden wollen. »Wie wenig Schmitt den schwäbischen Denker als >gestorben<
betrachtete«, so Topitsch, »geht sehr deutlich aus einem bezeichnenden Detail her-
vor. Er übersandte ... Freisler ein Exemplar seiner Arbeit (Es handelt sich um
»Staat, Bewegung, Volk«, H. O.).... und schrieb als Widmung das Hegelzitat hin-
ein: »Ich halte mich daran, daß der Weltgeist das Kommandowort zu avancieren
gegeben hat; solchem Kommandowort wird pariert«.«?’ Weit entfernt davon, sich
1933 von Hegel zu verabschieden, hat Carl Schmitt gerade damals versucht, sich
Hegel zu nähern. Wer das berühmte Zitat in vollem Wortlaut liest, wird erkennen,
daß Carl Schmitt allein dem »Hegelschen Beamtenstaat« den Totenschein ausstel-
+ Vortrag auf dem XIX. Kongreß der Internationalen Hegel-Gesellschaft, Nürnberg,
30. April 1992.
I J.-F. Kervegan, »Politik und Vernünftigkeit. Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Carl
Schmitt und Hegel« in: Der Staat 27 (1988), S. 371-391.
2 R. Mehring, Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels. Katholische
Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989. Nicht zugänglich war mir
R. D. Winfield, »Rethinking Politics: Carl Schmitt vs. Hegel« in: The Owl of Minerva 22
(1991), S. 209-225.
3 E. Topitsch, Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, München
21981, S. 91.
ZFP 42 Te 3/1993
16
234 Ottmann - Hegel und Carl Schmitt
len wollte, keineswegs Hegels Philosophie als ganzer. So heißt es: »An diesem
30. Januar ist der Hegelische Beamtenstaat des 19. Jahrhunderts ... durch eine
andere Staatskonstruktion ersetzt worden. An diesem Tage ist demnach, so kann
man sagen, »Hegel gestorben«. Das bedeutet aber nicht, daß das große Werk des
deutschen Staatsphilosophen bedeutungslos geworden und der Gedanke einer
über dem Egoismus gesellschaftlicher Interessen stehenden politischen Führung
preisgegeben wäre. Was an Hegels mächtigem Geisterbau überzeitlich groß und
deutsch ist, bleibt auch in der neuen Gestalt weiter wirksam. Nur die der inner-
staatlichen Lage des 19. Jahrhunderts entsprechenden Formen des Hegelischen
Beamtenstaates sind beseitigt und durch andere, unserer heutigen Wirklichkeit
entsprechende Gestaltungen ersetzt.«* Hegel war für Carl Schmitt 1930 nicht
»gestorben«. Ganz im Gegenteil. Hegels Philosophie blieb für das Denken des Carl
Schmitt — auch nach 1933 — von Bedeutung. Ja, in gewissem Sinne wurde Hegels
Denken für Schmitt nach 1933 sogar bedeutsamer, als es dies zuvor gewesen war.
Welche Bedeutung hatte die Philosophie Hegels für das Denken des Carl
Schmitt?
Die folgenden Ausführungen geben auf diese Frage eine zweifache Antwort. Sie
zeigen, daß die Auseinandersetzung mit Hegel Carl Schmitt auf jeder Station sei-
nes Denkweges begleitet hat; sie zeigen darüber hinaus, daß es zwischen dem Den-
ken des Philosophen und dem des Juristen weit mehr Differenzen als Gemeinsam-
keiten gibt. Schmitt war kein Hegelianer. Meist liegen Welten zwischen seiner
Lehre und der Hegelschen Philosophie.
II.
Wer der Entwicklung des Denkens des Carl Schmitt folgt, begegnet den Anspie-
lungen und Berufungen auf Hegel auf jeder Station des Schmittschen Denkweges.
Bereits im Frühwerk Carl Schmitts ist Hegel »der meistgenannte Autor«°. Aller-
dings wird der Name Hegels zunächst mit kritischem Unterton genannt. Hegel
wird beispielsweise als »Panlogist« oder als »Logizist«* bezeichnet. Ähnlichkeiten
in den Lehren beider Denker kann man zunächst wohl nur in der beiden gemeinsa-
men Distanz zur Romantik entdecken. Ähnlich wie Hegel die Romantik kritisiert,
so hat Schmitt 1919 die politische Romantik verworfen. Er nannte sie einen »sub-
jektivierten Occasionalismus«, und dies ähnelt in der Tat Hegels Kritik romanti-
scher Subjektivitat’.
Eine weitere Spur findet sich zu Beginn der dreißiger Jahre. Schmitts berühmter
»Begriff des Politischen« enthält in der Ausgabe von 1932 eine Lobrede auf Hegel,
4 C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg
21934, S. 31/32.
5 H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts,
Neuwied 1964, S. 54, Fußnote.
6 C. Schmitt, Theodor Daublers »Nordlicht«. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die
Aktualität des Werkes (1916), Berlin 1991, S. 51.
7 Mehring, aaO. (FN 2), S. 37 ff.
Ottmann : Hegel und Carl Schmitt 235
der, so Schmitt, »überall in größtem Sinne politisch« sei’. Schmitt ist damals offen-
sichtlich bemüht, sein »Kriterium« des Politischen, die »Unterscheidung von
Freund und Feind«, mit den Weihen der Dialektik zu versehen, und die Frage ist
von Bedeutung, ja sie ist von großer Bedeutung: Ist die Freund-Feind-Lehre »dia-
lektischen Ursprungs«? Ist Carl Schmitts Begriff des »Feindes« begreifbar als dia-
lekusche Negation?
Ferner, gerade in den Jahren 1933 bis 1936 hat Carl Schmitt eine Annäherung an
die Hegelsche Philosophie versucht. Während Schmitt bis 1933 Dezisionist und
nichts als Dezisionist gewesen war, so hat er diese Position ab 1933 relativiert. Aus
der sonst üblichen Entgegensetzung von Normativismus und Dezisionismus
wurde eine Triade. Schmitt unterschied damals drei Arten des rechtswissenschaftli-
chen Denkens: Dezisionismus, Normativismus und »konkretes Ordnungs- und
Gestaltungsdenken«, und letzteres wurde nicht nur mit Verweis auf Hauriou, son-
dern auch mit Berufung auf Hegel begründet’. Hegel habe das »konkrete Ord-
nungsdenken« vorgedacht. Sein Staat sei »konkrete Ordnung der Ordnungen, die
Institution der Institutionen« "°.
Ein weiteres Zeugnis für Schmitts Berufung auf Hegel bietet schließlich die
kleine Schrift Land und Meer, die 1942 erschien. Nach Schmitts eigener Aussage
sollte diese Schrift die Explikation eines Paragraphen der Hegelschen Rechtsphilo-
sophie sein, nämlich des Paragraphen 247. Schmitt bekannte sich zu der Absicht,
»diesen § 247 in ähnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen, wie die §§ 243-246 im
Marxismus zur Entfaltung gebracht worden sind« !.
Schmitt hat sich — die Beispiele beweisen es — des öfteren berufen auf Hegels
Philosophie, und man kann sich sogar fragen, ob es nicht weitere und weiterrei-
chende Affinitäten in den Lehren beider gibt. Waren Schmitt und Hegel nicht in
gleicher Weise Denker souveräner Staatlichkeit? Sind nicht beide Gegner des Kos-
mopolitismus und der Kantischen Idee des ewigen Friedens? Sind nicht beide Kri-
tiker des unpolitischen bourgeois und des Liberalismus überhaupt? Und begrün-
den nicht beide ihre Theorie durch politische Theologie?
IH.
Wer beide Denker studiert, wird auf solche Affinitaten und Gemeinsamkeiten sto-
ßen. Tiefgreifende Gemeinsamkeiten sind es nicht. Vielmehr zeigt sich hinter
oberflächlicher Übereinstimmung stets größte Differenz. Dies soll anhand von
vier Beispielen bewiesen sein.
8 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corol-
larıen, Berlin 1963, S. 62.
9 C. Schmitt, Die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934.
10 Schmitt, aaO. (FN 9), S. 47.
11 »Nachbemerkung« in: C. Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung
(1942), Köln-Lövenich 1981.
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16*
236 Ottmann - Hegel und Carl Schmitt
Beispiel Nr. 1: die Theorien des Liberalismus. Oberflächlich besehen handelt es
sich um vergleichbare Theorien. Bei beiden Denkern ist mit dem bourgeois kein
Staat zu machen; beide heben den Unterschied hervor zwischen Bürger und Sol-
dat, zwischen risikolos privater Existenz und der Notwendigkeit, im Fall des Falles
das Leben riskieren zu müssen 2. Hegels Kritik des Privatbürgers hat ihr Gegen-
stück in Schmitts Kritik der liberalen Entpolitisierung des Politischen.
Oberflächlich ähnlich, im Kern aber höchst different — dieses Ergebnis zeigt die
nähere Betrachtung. Schmitt will den Liberalismus zerstören, Hegel will ihn beer-
ben. Unterschiedlicher könnten die Motive der Kritik des Liberalismus gar nicht
sein.
Für Hegel geht es darum, die mit der bürgerlichen Gesellschaft gewonnene
Freiheit und Gleichheit zu bewahren, und diese liegen ıhm so sehr am Herzen, daß
der bourgeois bei Hegel sogar bis zum Extrem der »Willkür« frei sein darf’. Zwar
ist diese Freiheit des bourgeois nicht die Freiheit, die Hegel eigentlich meint und
sucht; die bürgerliche Gesellschaft bedarf der Versittlichung, wenn sie Bestand
haben soll; auch bedarf sie des Staates, der sie zähmt und trägt. Aber für Hegel
sind der Privatismus und der Egoismus des bourgeois nicht ein reines Verhängnis;
sie sind auch etwas, was in der Gesellschaft freizulassen ist und sich dort »austo-
ben« darf.
Schmitts politische Philosophie steht gänzlich anders zur bürgerlichen Gesell-
schaft. Schmitt ist es nicht darum zu tun, die Freiheit des bourgeois innergesell-
schaftlich oder staatlich zu bewahren. Schmitt löst die liberale Freiheit auf in der
Homogenität des staatlichen Lebens, in der Lehre vom qualitativ totalen Staat, in
der radikalen Entgegensetzung von Rechtsstaat und Demokratie. Bei Schmitt ver-
schwindet die Eigenständigkeit der Gesellschaft und ihrer Freiheit in der Totalitat
des Politischen, während Hegel gerade die Differenz von Gesellschaft und Staat
offenzuhalten versucht“.
Man mag sagen, aber beide seien doch interessiert an einem Staat, der über den
gesellschaftlichen Interessen thront, und auf dieser hohen Ebene der Abstraktion
ist die Wahrheit des Satzes auch nicht zu bestreiten. Aber was hat Hegels Staat mit
dem Staat des Carl Schmitt gemein? Hegels Staat ist eine konstitutionelle Monar-
chie; Schmitts Staatsideal ist die cäsarıstische Demokratie. Hegel will die Franzési-
sche Revolution beerben; Schmitts Sympathien gelten der Gegenrevolution. Hegel
tritt ein für die Judenemanzipation; Schmitt war Antijudaist (wenn nicht sogar
Antisemit). Hegel hat eine Lehre vom sittlichen Staat; Schmitt eine Lehre von der
normativ unbeschränkten Dezision. Hegel fordert Öffentlichkeit und öffentliche
Verhandlungen, Publizität; Schmitt ist der Grabredner der liberalen Öffentlichkeit
und Diskussion. Das sind Differenzen, die zeigen, wo der fundamentale Unter-
12 Schmitt, aaO. (FN. 8), S. 42. Rph $ 324.
13 In der bürgerlichen Gesellschaft hat, so Hegel, die Besonderheit das »Recht, sich nach
allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen«, Rph § 184.
14 Dazu vom Verf., »Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel« in: Hegel-Jahrbuch 1986,
Bochum 1988, S. 339-347.
Ottmann - Hegel und Carl Schmitt 237
schied in den Lehren beider liegt: Der eine will den Liberalismus durch eine postli-
berale Lehre beerben und bewahren, der andere will ihn ablösen durch eine Poli-
tik, die den Liberalismus zerstört ®.
Beispiel Nr. 2: die politische Theologie. Schmitt und Hegel, beide haben politi-
sche Theologie, und beide haben politische Theologie in der Form der Geschichts-
philosophie. So weit, so ähnlich. Aber auch in der politischen Theologie sind die
Differenzen unübersehbar. Hegel war Lutheraner, Schmitt Katholik. Hegel denkt
politisch-theologisch von der Reformation zur Revolution, von der Freiheit der
Innerlichkeit zur Gewinnung der Freiheit auch im Äußeren. Schmitt ist wie die
Gegenrevolutionäre eher am autoritaristischen Ertrag der politischen Theologie
interessiert, am nicht diskutierten, sondern unfehlbar verkündeten Wort, an der
katholisch-kirchlichen Repräsentation, an der Theologie der Erbsünde, die, wie er
meint, zu seiner Anthropologie des von Natur aus »bösen« Menschen paßt".
Noch deutlicher wird die Differenz in den Lehren beider, sieht man die unter-
schiedliche Beurteilung christlicher Eschatologie. Bei Hegel vollendet sich die
christliche Freiheit und Gleichheit im Fortschritt der geschichtlichen Vernunft; der
Mensch als Mensch wird frei und gleich, und auf diesem Niveau der Freiheit
kommt die Geschichte bei Hegel an ein Ende, dessen Sinn Vollendung ist.
Schmitts politische Theologie ist demgegenüber Theologie der Apokalypse; die
Geschichte wird nicht verstanden als Fortschritt der Freiheit und Vernunft; sie
wird vielmehr begriffen als Zeit der nahenden Katastrophe, als dem Menschen
gewährte Frist und Zeit der Entscheidung”. Das Ende ist bei Schmitt nicht Vollen-
dung, sondern Finale. Die Hegelsche Gewißheit des »spekulativen Karfreitags« ist
bei Schmitt dem Bewußtsein gewichen, daß bereits das 19. Jahrhundert Züge des
Endkampfes und der letzten Entscheidungsschlacht um Glauben und Nicht-Glau-
ben trägt (der gottlose Marxismus und Anarchismus als Boten des Antichrist), und
so war Schmitt immer nur interessiert an der einen Frage, was das Ende denn noch
»aufhalten« kann, wer oder was der oder das Katechon des Paulus ist'*®.
Hegel und Schmitt sind politische Theologen, beide denken endgeschichtlich,
beide sehen in der Geschichte christliche Verheißungen, aber beide haben vom
15 Eine Liste der von Hegel anerkannten »liberalen« Forderungen und Institutionen bei J.
Ritter, »Hegel« in: Staatslexikon Bd. IV, Freiburg 1959, S. 29-32.
16 Schmitt, aaO. (FN 8), S. 59 ff.; 64. C. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische
Form (1923, 1925), München 1984.
17 Dies hat J. Taubes sehr zu Recht hervorgehoben; J. Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstre-
bige Fügung, Berlin 1987.
18 Schmitt hat in die Rolle des paulinischen Aufhalters, in der seit Tertullian das römische
Reich, seit den Ottonen das Reich der mittelalterlichen Kaiser gesehen worden war, auch
einmal Hegel eingeordnet, weil er den Atheismus aufgehalten habe. »Die Lage der euro-
päischen Rechtswissenschaft« in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren
1924-1954, 3. Aufl. Berlin 1985, S. 429. Bei Schmitts großzügiger Auslegung der Kate-
chon-Lehre sind allerdings auch einige andere Personen und Mächte mit dieser Rolle
identifiziert worden: Rudolf II., Kaiser Franz Joseph, Masaryk, Pilsudski, Savigny, das
englische Weltreich. »Katechon« hat bei Schmitt viele Bedeutungen. F. Grossheutschi,
Carl Schmitt und die Lehre vom »Katechon«, unveröff. Lizentiatsarbeit, Basel 1992.
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238 Ottmann - Hegel und Carl Schmitt
Ende jeweils etwas radikal anderes erwartet: Hegel den Fortschritt von Freiheit
und Vernunft, der die christliche Versöhnung in die Geschichte bringt; Schmitt
das Kommen des schrecklichen Endes, das aufzuhalten wäre, aber vielleicht nicht
mehr aufzuhalten ist.
Beispiel Nr. 3: die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie ist das Kernstück
der Schmittschen Lehre, und man kann sich fragen, ob diese Lehre »dialektischen
Ursprungs« ist!°. War Schmitt insofern Hegelianer, als er seine Hauptlehre dialek-
tisch begründet hat? Schmitts berühmter »Begriff des Politischen« versucht diesen
Eindruck zu erwecken. Aber der Nachweis ist Schmitt nicht geglückt. Hegels Poli-
tik ist keine Lehre von Freund und Feind. Dagegen sprechen mindestens vier
Gründe.
Erstens: Bei Hegel ist das Politische nicht in der Unterscheidung von Freund
und Feind zu finden. Politisch ist bei Hegel der Staat mit seinem Politikmonopol,
und für den Staat grundlegend ist der freie Wille, oder, in Hegels Worten, »die
Wirklichkeit der konkreten Freiheit« (Rph $ 260). Wenn Hegel ein »Kriterium«
des Politischen besaß, dann war es das Zusammengehen von freier Subjektivitat
und substantieller Sittlichkeit. Und das ist eine ganz andere Politiklehre als die
Unterscheidung von Freund und Feind.
Zweitens: Hegels Rechtsphilosophie ist noch eine Politik im Rahmen des klassi-
schen Völkerrechts. Der systematische Ort, an dem Hegel von Feindschaft spre-
chen könnte, wenn er es tite, wäre das äußere Staatsrecht, der Naturzustand zwi-
schen den Staaten, der Krieg im Rahmen des Völkerrechts. Der Feindbegriff gehört
primär in die Außenpolitik, und aus der außenpolitischen Perspektive ist er bei
Schmitt wohl entsprungen, um dann erst in einem zweiten Schritt zum universalen
Kriterium des Politischen zu avancieren. Bei Hegel gelten noch die klassischen
Unterscheidungen von Krieg und Frieden, von Militärisch und Zivil; der Krieg ıst
bei Hegel noch gehegter Krieg der Staaten, nicht der Individuen (Rph § 338). Die
Unterscheidung von staatlich-politisch und privat-unpolitisch ist bei Hegel noch
intakt. Hegel denkt nicht den Bürgerkrieg. Und er denkt schon gar nicht den tota-
len Krieg des 20. Jahrhunderts, der die Grenze zwischen Krieg und Frieden aufge-
löst hat.
Drittens: Schmitts Freund-Feind-Lehre ist eine streng anti-normativistische exi-
stentialistische Theorie, zumindest hat Schmitt selbst sie so sehen wollen. Dieser
antinormativistischen Theorie geht es um einen Kampf um Sein oder Nicht-Sein,
Selbsterhaltung oder Tod. Hegels Politik ist eine Theorie des sittlichen Staates, und
selbst der Krieg, den Hegel auf eine für uns heute anstößige Weise feiert, wird von
ihm als ein Phänomen der Sittlichkeit begriffen 2. Das bedeutet, daß es Hegel auch
19 So Mehring, aaO. (FN 8), S. 182 ff.
20 Sittliche Elemente des Krieges sind die »Pflicht« zur Aufopferung von Eigentum und
Leben (Rph § 324) sowie das in Kriegen »auf den Sitten der Nationen« (Rph $ 339) beru-
hende Verhalten. Solche Elemente der Sittlichkeit widersprechen allerdings der Systema-
tik der Hegelschen Rechtsphilosophie, die das äußere Staatsrecht logisch als abstraktes
Ottmann - Hegel und Carl Schmitt 239
im Verhältnis der Staaten nie bloß um Sein oder Nicht-Sein ging. Der Krieg der
Völker wie das Leben der einzelnen dreht sich fiir ihn vielmehr um »Anerken-
nung«, und das bedeutet, auch der Krieg läßt sich normativ nur rechtfertigen,
insofern er ein Kampf ist um Anerkennung der Freiheit und Selbständigkeit. Die-
ser Unterschied ist bedeutsam auch für die unterschiedlichen Anthropologien.
Hegels Anthropologie ist die einer Anerkennung freier Wesen. Schmitt folgt eher
dem Menschenbild des Thomas Hobbes, und dessen Unzulänglichkeit hat Hegel
schon in der Herr-Knecht-Dialektik aufgewiesen, die man geradezu als eine Par-
odie auf die Hobbessche Lehre lesen kann.
Viertens: Die entscheidende Frage ist, ob der Feindbegriff bei Schmitt in einem
weiten Sinne »dialektisch« genannt werden kann. Dialektisch klingt vor allem die
Definition, die Schmitt in den Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft, in »Ex
captivitate salus«, gegeben hat. Dort zitiert er das Wort des von ihm verehrten
Dichters Däubler: »»Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt.««?? Und hier beruft
sich Schmitt erstaunlicherweise auf Hegels Anerkennungstheorie, auf »Herrschaft
und Knechtschaft«, auf die idealistische Reflexion im anderen. »Der Feind dage-
gen ist der Andere. Erinnere dich der großen Sätze des Philosophen: Die Bezie-
hung im Andern auf sich selbst, das ist das wahrhaft Unendliche.« ?
Vielleicht war Schmitt Hegel nie näher als in diesem Versuch, den Feind als das
»Andere unserer selbst« zu bestimmen, als Bedingung des eigenen Selbstbe-
wuftseins. Aber diese Definition des Feindes, das ist gewiß nicht der Feindbegriff,
den Schmitt im »Begriff des Politischen« vertrat. Es ıst eine Umformulierung, eine
Entschärfung, eine versöhnlichere Fassung der früheren Lehre; es ist eine neue
Formulierung, die der Gefangenschaft und den Jahren 1945-1947 geschuldet ist.
Von Konsequenz für Schmitts Veröffentlichungen war sie nicht. Denn dann hätte
Schmitt benennen müssen, wo das Gemeinsame ist, die Einheit der Selbstbe-
wuftseine, der ihnen gemeinsame Geist und die ihnen gemeinsame Freiheit. Er hat
das alles nie benannt.
Schließlich ein letztes Beispiel: die Frage, wie es um den Denkstil der beiden
steht. Hier muß die Entscheidung fallen, ob Schmitt und Hegel mehr als nur
äußerlich miteinander verbunden sind. Dabei fällt ins Auge, daß schon die Form
der Werke auf Unterschiede des Denkstils verweist. Hegel hat ein System. Schmitt
ist Essayist und Rhetoriker, und er hat für seine stets occasionalistisch motivierten
Schriften eine eigene Form gefunden: Es ist die des längeren Aufsatzes, der Bro-
schüre und immer wieder die des Corollariums, einer Zwischenform zwischen
Aphorismus und Essay *.
Recht zu fassen versucht. Wie dies in den systematischen Aufbau der Rechtsphilosophie
paßt, die mit Familie und Staat das Niveau der Sittlichkeit erreicht hat, ist ratselhaft.
21 Dazu vom Verf., »Herr und Knecht bei Hegel« in: Zeitschrift für philosophische Forschung
Je. 35 (1981), S. 365-385.
22 C. Schmitt, Ex captivitate salus, Köln 1950, S. 90.
23 Ebd.
24 Mehring, aaO. (FN 8), S. 20 f.
ZfP 40. Jg. 3/1993
240 Ottmann - Hegel und Carl Schmitt
So unterschiedlich wie die Form ist aber auch der Denkstil selbst. Bei Hegel
werden die Gegensätze aufgehoben und in einem Dritten jeweils versöhnt. Schmitt
denkt von einer unaufhebbaren Dualität her. Alle Begriffe sind dualistisch und
einander polemisch entgegengesetzt. Hegel hat Vermittlung, Schmitt Antithetik.
Hegel bestimmte Negation, Schmitt nur abstrakte. Hegel will durch Vernunft und
Geist vermitteln, Schmitt zerschlägt die Antithesen durch Dezision, durch den blo-
ßen Machtspruch aus dem normativen Nichts. Bei Schmitt wird die polemische
Struktur des Politischen als perennierende Dualität gedacht, als prinzipiell unauf-
hebbar. Hegels letztes Wort ist Versöhnung. Diese fundamentalen Unterschiede
des Denkstils weisen zurück auf die unterschiedlichen Theologien beider, versöh-
nungs-optimistisch die eine, apokalyptisch-düster die andere. Für Hegel war die
wesentliche Entscheidung schon gefallen, das Wort der Versöhnung bereits
gesprochen. Für Schmitt war die Entscheidung noch zu fällen - für oder gegen
den Glauben, und das Gewicht letzter Entscheidung ruhte für ihn auf der Dezi-
sion, die das Ende aufhalten kann.
Hegel und Carl Schmitt, Carl Schmitt und Hegel. Es sind mehr Bezüge da zwi-
schen den Lehren beider Denker, als man bisher vermutet hat. Mehr als äußerliche
Bezüge ergeben sich allerdings nicht. Schmitt schöpfte aus anderen Quellen als
denen der Hegelschen Philosophie. Seine wahren Autoritäten waren Hobbes und
Bodin, Kierkegaard und Max Weber, Donoso Cortes und sein ganz spezifischer
Katholizismus. Schmitt war kein Hegelianer. Er gehört ganz woanders hin. Über
Carl Schmitt läßt sich Hegel weder zum Vater deutscher Machtstaatslehre noch
gar zum Vorläufer des Totalitarismus machen. Wie denn auch? Wo Hegel mit bei-
den gar nichts zu schaffen hat.
Zusammenfassung
Im Werk des Carl Schmitt begegnen mehr Anspielungen und Berufungen auf
Hegel, als man bisher vermutet hat. Eine nähere Verwandtschaft zwischen dem
Philosophen und dem Juristen folgt aus diesen Anspielungen und Berufungen
gleichwohl nicht. Schmitt war kein Hegelianer. Sowohl seine Theorie des Libera-
lismus und seine politische Theologie, als auch sein Begriff von Politik und sein
Denkstil selbst erweisen sich als unvereinbar mit Hegels Dialektik und Philoso-
phie.
Summary
There are more allusions and references to Hegel in Carl Schmitt’s work than was
hitherto known. It would, however, be wrong to conclude from these allusions and
references that there was a strong affinity between the philosopher and the man of
the law. Schmitt was no follower of Hegel’s. Both his theory of liberalism and his
political theology, as well as his conception of politics and his way of thinking
have proved to be incompatible with Hegel’s dialectics and philosophy.
Heinz-Jürgen Axt
Kooperation unter Konkurrenten
Das Regime als Theorie der außenpolitischen Zusammenarbeit
der EG-Staaten!
Es ist schon paradox: In der aktuellen Jugoslawienkrise haben sich die Staaten der
Europäischen Gemeinschaft bislang nur schwer auf eine einheitliche Bewertung
und auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen können. Das hat sie freilich nicht
daran gehindert, im Dezember 1991 in Maastricht einen Vertrag zur Europäischen
Union zu verabschieden, mit dem eine »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli-
tik« (GASP) als Weiterentwicklung der »Europäischen Politischen Zusammenar-
beit« (EPZ) begründet werden soll. Es stellt sich die Frage: Was veranlaßt Regie-
rungen zur außenpolitischen Zusammenarbeit, obwohl »nationale Interessen« so
nachhaltig ihre Außenpolitik bestimmen? Angesichts unbefriedigend bleibender
Antworten auf diese Frage? soll der Regime-Ansatz bemüht werden, um dieses für
die außenpolitische Zusammenarbeit im Rahmen der bisherigen EPZ und der
künftigen GASP konstitutive Phänomen zu erklären’.
Im folgenden geht es nicht um eine Weiterentwicklung des Regime-Begriffs
oder gar um eine Regimetheorie. Auch nach etlichen Veröffentlichungen ist, wie
Beate Kohler-Koch angemerkt hat, die Regimediskussion noch immer disparat‘.
Der Anspruch ist bescheidener. Es steht die Frage im Vordergrund, inwieweit sich
durch die Verwendung des Regime-Ansatzes neue Einsichten bei der Analyse und
Interpretation der EPZ gewinnen lassen. Diese außenpolitische Kooperation der
1 Der Verfasser dankt der Volkswagen-Stiftung für die Gewährung von Mitteln für ein in
Kooperation mit der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen durchgeführtes
Forschungsvorhaben, in dessen Kontext auch der vorliegende Artikel entstand.
2 Zu den Schwierigkeiten der Theoriebildung im Bereich der außenpolitischen Zusammen-
arbeit der EG-Länder vgl. Joseph Weiler / Wolfgang Wessels, »Die EPZ: eine Herausfor-
derung an die Theorie« in: Alfred Pijpers / Elfriede Regelsberger / Wolfgang Wessels
(H.), Die Europäische Politische Zusammenarbeit in den achtziger Jahren. Eine gemeinsame
Außenpolitik für Westeuropa?, Bonn 1989, S. 279-316.
3 Dazu wird zunächst die Funktionsweise der EPZ analysiert, bevor in Abschnitt 4 auf die
Neuerungen ım Rahmen der GASP eingegangen wird.
4 So Beate Kohler-Koch in der Einführung »Zur Theorie und Empirie internationaler
Regime« zu dem von ihr herausgegebenen Band Regime in den internationalen Beziehun-
gen (Baden-Baden 1989, S. 45). Mit dieser Sammeledition — Ergebnis der Sektionsarbeit
in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft - wurde die Regimediskussion
in der Bundesrepublik theoretisch wie empirisch in besonderer Weise gefördert.
ZfP 40. Jg. 3/1993
242 Axt Kooperation unter Konkurrenten
EG-Staaten ist bislang vornehmlich als Intergouvernementalismus interpretiert
worden.
Am Verhalten eines EPZ-Außenseiters und an der Reaktion der übrigen Partner
- so wird im folgenden unterstellt - muß sich die Funktionsweise der EPZ als
Regime in besonderer Weise erhellen lassen. Es wird deshalb auch auf Griechen-
lands Rolle in den achtziger Jahren eingegangen.
1. Merkmale von Regimen in den internationalen Beziehungen
Nach der häufig zitierten Definition von Krasner sind Regime als Satz impliziter
oder expliziter Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsprozeduren aufzu-
fassen, auf den hin in einem gegebenen Feld der internationalen Beziehungen die
Erwartungen der Akteure konvergieren’. Dabei, so wird allgemein angenommen,
müsse es sich um mehr als eine zeitweise Verständigung handeln und müsse ein
gewisser Grad an Effektivität erreicht werden. Kommen in den Prinzipien die
Grundüberzeugungen zum Ausdruck, so sind die Normen verhaltensorientiert, die
Regeln handlungsleitend und die Entscheidungsroutinen darauf ausgerichtet,
Praktiken zur kollektiven Wahl bereitzustellen. Mit Regimen lassen sich also
regelhafte Interaktionsmuster von Akteuren auf einem Sektor der internationalen
Politik erfassen.
Daß die beteiligten Akteure Eigeninteressen verfolgen, wird keineswegs igno-
riert. Ein Regime kann allerdings nur dann bestehen, wenn die Beteiligten ihre
egoistischen Interessen zumindest partiell in dem Maß zurückstellen, wie es die
Existenzsicherung des Regimes verlangt. Die dem Regime-Ansatz adäquate Theo-
rie der Internationalen Politik ist vor allem die der Interdependenz. Ihr ist der
Machtbegriff zwar nicht fremd’, doch steht die Einsicht im Vordergrund, daf
auch unter Akteuren, die sich an eigener Nutzenmaximierung orientieren, die
Abstimmung der Aktivitäten für alle Beteiligten von Vorteil sein kann. Machttheo-
rien der realistischen Schule, für die die Begriffe Macht, Interesse und Rationalıtät
im Vordergrund stehen, ist dieser Zugang versperrt®. Regime erklären demnach
die »Kooperation in einer interdependenten Welt von Egoisten«®°.
Wenn in einem Regime das Verhalten der Beteiligten berechenbarer wird, und
sich die Kosten der Kooperation vermindern, dann liegt dies nicht an der Wirkung
5 Vgl. Stephen D. Krasner, »Structural causes and regime consequences: regimes as interve-
ning variables« in: /nternational Organization, (1982), 36, S. 185-205 (186).
6 Vgl. Klaus Dieter Wolf / Michael Zürn, »International Regimes und Theorien der Inter-
nationalen Politik« in: Politische Vierteljahresschrift, 27 (1986) 2, S. 201-221 (202).
7 Vgl. Robert O. Keohane / Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in
Transition, Boston/ Mass. 1977.
8 Vgl. als Begründer Hans J. Morgenthau, Macht und Frieden, Gütersloh 1963, und als
kommentierenden Überblick Henning Behrens / Paul Noack, Theorien der Internationa-
len Politik, München 1984.
9 So Beate Kohler-Koch (Zur Theorie und Empirie internationaler Regime, aaO., S. 22) in
Anlehnung an Robert Axelrod.
Axt - Kooperation unter Konkurrenten 243
einer mit Sanktionsgewalt ausgestatteten Zentralgewalt, sondern an der freiwilli-
gen Bereitschaft der Akteure, ihre Aktivitäten auf die der anderen Beteiligten
abzustimmen. Diese Bereitschaft ändert nichts an der Tatsache, daß sich die Betei-
ligten in Konkurrenz zueinander befinden. Freilich kann der Grad der Abwei-
chung zwischen den Regime-Partnern erheblich differieren, wie die Ausführungen
zur EPZ verdeutlichen.
Regime gehen aus von der Existenz unterschiedlicher Interessen von Gruppen
und Nationen. Die Bereitschaft zur Kooperation leiten sie aus der — auch in den
sozialwissenschaftlichen Modellen des »rational-choice« unterstellten - Annahme
ab, daß eine ausschließlich an partikularer Nutzenmaximierung ausgerichtete Stra-
tegie suboptimale Ergebnisse zeitigt. Macht bleibt deshalb eine untergeordnete
Erklärungsinstanz. Hegemoniale Positionen werden nicht herangezogen, wenn die
Bereitschaft der Akteure zur Kooperation — auch derjenigen, die über eine geringe
Ausstattung an ökonomischen Ressourcen und politischen Machtmitteln verfügen
- erklärt werden soll.
Die Wahrnehmung, daß auf nationalstaatlicher Ebene drängende Probleme nur
noch unzureichend zu lösen sind, dürfte die Bereitschaft zur internationalen
Kooperation konstituieren, ohne daß aus dem Bedarf automatisch die Herausbil-
dung eines Regimes abzuleiten wäre”. Die Entstehung eines Regimes, die Rolle
interessierter Parteien und die Herausbildung relevanter Normen bleibt noch
immer weitgehend eine »black box« 1. Das Regime stellt dabei mehr als die bloße
Aggregation der Einzelpolitiken dar, aus der quantitativen Anreicherung kann
durchaus eine neue Qualität entstehen.
Ausgehend vom gegenwärtigen Stand der Debatte '? können folgende Leitfragen
zur Interpretation internationaler Kooperationsformen als Regime formuliert wer-
den:
— Welche Situation führt konkurrierende Akteure zur Perzeption gemeinsamer
Probleme und zur Überwindung von Kooperationshemmnissen, schafft also den
Bedarf an einem Regime?
- Welche Rolle spielen interessierte Parteien und das institutionalisierte interna-
tionale Umfeld bei der Entstehung eines Regimes?
- In welcher Form konstituieren die Strukturelemente der Prinzipien, Normen,
Regeln und Entscheidungsverfahren das Regime und wie verhalten sich die Ele-
mente zueinander?
10 Dies käme einem funktionalistischen Kurzschluß gleich. Vgl. Beate Kohler-Koch, Zur
Theorie und Empirie internationaler Regime, aaO., S. 29. Zur Perzeptionsproblematik
vgl. Gottfried-Karl Kindermann (H.), Grundelemente der Weltpolitik, München 1981.
11 Vgl. Volker Schneider / Raymund Werle, »Vom Regime zum korporativen Akteur. Zur
institutionellen Dynamik der Europäischen Gemeinschaft« in: Beate Kohler-Koch (H.),
Regime in den internationalen Beziehungen, aaO., S. 409-434 (423).
12 Hierzu wird auf den bereits zitierten Band »Regime in den internationalen Beziehungen«
und die darin enthaltene Einführung von Beate Kohler-Koch zurückgegriffen.
ZfP 40. Jg. 3/1993
244 Axt - Kooperation unter Konkurrenten
— Welchen Nutzen erbringen Regime hinsichtlich der Prinzipien, Normen, Regeln
und Verfahren für die Beteiligten?
— Welche Wirkung zeigen Regime, und zwar bezüglich der Anpassung des Ver-
haltens der Akteure, der Verwirklichung der selbst formulierten Ziele und der
Beeinflussung des internationalen Umfelds?
~ Wodurch unterscheidet sich das Regime vom Handeln und Verhalten auf der
Basis eines sich situativ herausbildenden Multilateralismus?
Schließlich ist zu fragen, inwieweit das Konzept der Regime überhaupt geeignet
ist, das für eine internationale Kooperationsform Typische herauszuarbeiten. Wo
liegen also die Grenzen dieses Ansatzes?
2. Die EPZ als Regime
Die EPZ hat sich nach rund zwanzig Jahren ihres Bestehens einen festen Platz in
Westeuropa erobert. EG-Integration und EPZ-Kooperation haben sich — jede
entsprechend ihrer Eigenheiten — parallel zueinander entwickelt. Nationale Priori-
täten und internationale Rahmenbedingungen, nicht aber die EPZ, haben die
Außenpolitik der EG-Länder geprägt. Die EPZ ist nicht das exklusive Instrument
zur Vertretung außenpolitischer Interessen der EG-Länder geworden, sie hat viel-
mehr die Rolle eines »zusätzlichen Kanals« gespielt, der neben den individuellen
diplomatischen Aktivitäten der Gemeinschaftsländer genutzt wird "4.
2.1 Regimebedarf und Interesse an Zusammenarbeit
Das Schlagwort vom »wirtschaftlichen Riesen und politischen Zwerg« mag die
Entstehungs-Situation der EPZ kennzeichnen. In der Perzeption der Beteiligten
wurde deutlich, daß die EG-Länder als der Welt größter Handelsblock eines Mini-
mums an harmonisierten Positionen in der Außenpolitik bedürfen. Einerseits ver-
langten dies die Außenwirtschaftsbeziehungen. Sanktionspolitik setzt z.B. eine
Annäherung politischer Positionen voraus. Andererseits wurden an die Gemein-
schaft »von außen« Erwartungen eines aktiveren internationalen Engagements
gerichtet. Mit der Entspannungspolitik ging zusätzlich eine Verringerung der ame-
13 Als grundlegende Literatur zur EPZ vgl.: Alfred Pijpers / Elfriede Regelsberger / Wolf-
gang Wessels (H.), Die Europäische Politische Zusammenarbeit ın den achtziger Jah-
ren..., aaO.; Reinhard Rummel, EPZ - Erfolgsformel für die gemeinsame europäische
Außenpolitik? Entwicklungsmöglichkeiten der Europäischen Politischen Zusammenarbeit auf
der Basis der Einheitlichen Europäischen Akte, hrsg. von Stiftung Wissenschaft und Politik,
Ebenhausen 1987; Christopher Hill (H.), National Foreign Policies and European Political
Cooperation, London 1983; Phillippe de Schoutheete, La coopération politique européenne,
Brüssel 1986; Panayiotis Ifestos, European Political Cooperation. Towards a Framework of
Supranational Diplomacy?, Aldershot 1987; Simon Nuttall, European Political Cooperation,
London 1992.
14 Alfred Pijpers / Elfriede Regelsberger / Wolfgang Wessels, »Eine gemeinsame Außenpo-
litik für Westeuropa?« in: Dies. (H.), Die Europäische Politische Zusammenarbeit .. .,
aaO., S. 317-332 (326).
Axt - Kooperation unter Konkurrenten 245
rikanischen Führungsrolle einher. Keines der EG-Länder konnte aber allein auf
sich gestellt eine herausragende internationale Rolle spielen, dies wurde nur noch
im westeuropäischen Verbund für möglich gehalten. War damit der Bedarf an
einem Regime der außenpolitischen Kooperation gegeben, so konnten die bisheri-
gen Hemmnisse der Zusammenarbeit erst überwunden werden, als neue Konstella-
tionen die gegenseitige Blockierung zwischen Befürwortern der Gemeinschaftsme-
thode und den Verfechtern der nationalen Souveränität überwinden halfen.
Diese Situation ergab sich gegen Ende der sechziger Jahre. Das Scheitern der
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der daran gekoppelten Europäi-
schen Politischen Gemeinschaft sowie der Fouchet-Pläne hatte bewiesen, daß die
Politische Union unter Einschluß einer gemeinsamen Außenpolitik nicht »auf
einen Schlag« herzustellen war. Der bevorstehende Beitritt Großbritanniens zur
EG und der Rücktritt von General de Gaulle schafften indessen eine Ausgangs-
lage, in der sich die widerstreitenden Parteien auf einen kleinsten gemeinsamen
Nenner in der außenpolitischen Zusammenarbeit einigen konnten. Die französi-
sche Regierung hatte nach dem Rücktritt von de Gaulle zwar eine vorsichtige
europäische Öffnung vollzogen und der EG-Erweiterung zugestimmt, mußte diese
Entwicklung jedoch - gleichsam als Zugeständnis an traditionelle Doktrinen —
durch das Beharren auf zwischenstaatliche Formen der außenpolitischen Koopera-
tion kompensieren. Damit wurde den Ansprüchen der Kommission und den Plä-
nen zu einer gemeinschaftlichen Außenpolitik ebenso begegnet wie dem Streben
nach einer eigenständigeren Politik Europas gegenüber den USA entsprochen
wurde. Die deutsche Regierung ließ sich auf die EPZ ein, um französische Wider-
stände gegen den britischen EG-Beitritt auszuräumen. Außerdem wollte die Regie-
rung Brandt ihre Ostpolitik durch eine aktive Westpolitik ausbalancieren.
Die Niederlande konnten sich mit ihrem Vorbehalt gegen die EPZ, von der sie
eine Schwächung des Gemeinschaftsgedankens und des supranationalen Ansatzes
der EG befürchteten, nicht durchsetzen. Ebensowenig konnte verhindert werden,
daß über mehrere Jahre eine strikte Trennung zwischen »wirtschaftlichen« und
»politischen« Aspekten durchgehalten wurde — mit der bekannten Absurdität, daß
die Außenminister einmal als Ministerrat und das andere Mal als »Außenminister-
konferenz der EWG-Länder« am gleichen Tag an verschiedenen Orten (Juli 1973
in Kopenhagen und Brüssel) zusammentreten mußten.
Die spezifische Situation zur Überwindung gegebener Kooperationshemmnisse
ist also darın zu sehen, daß den Befürwortern der nationalen Souveränität der zwi-
schenstaatliche Charakter der EPZ entgegenkam, daß man sich auf Verfahren statt
auf Prinzipien verständigte und die Zusammenarbeit von der politischen Finalitat
her offen gestaltete. Diese Offenheit ließ den Befürwortern des Gemeinschaftsge-
dankens andererseits die Hoffnung, daß sich die EPZ allmählich zu einer gemein-
samen Außenpolitik als Bestandteil einer Politischen Union ausbauen ließe.
Daß sich die EPZ zu einem dauerhaften Regime entwickelte, lag daran, daß sie
— die nicht als konstitutioneller Akt geschaffen wurde - erfolgreich in einem konti-
nuierlichen Prozeß Kooperationshemmnisse abbauen konnte. Dies gelang um so
ZfP 40. Jg. 3/1993
246 Axt - Kooperation unter Konkurrenten
mehr, als sich für alle Beteiligten die Vorteile der außenpolitischen Zusammenar-
beit herausstellten. Eine suboptimale Lösung erwies sich besser als keine. Vier Ent-
wicklungsetappen können als Abfolge von Reform und Krise bisher unterschieden
werden: die Konstitutionsphase (1969 bis 1974) mit der Verankerung von »Spielre-
geln«, die ehrgeizige zweite Etappe (1975 bis 1980) mit dem Versuch zur Etablie-
rung einer zentralen Entscheidungsinstanz, die dritte Etappe (1981 bis 1984/85)
mit der Rückkehr zur pragmatischen Methode und die Reform-Phase ab 1984/85
mit ihrem Höhepunkt, der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte
im Februar 1986. Noch ist offen, ob der in Maastricht vereinbarte Vertrag zur
Europäischen Union die Reformperiode vorläufig abschließt oder den Weg zu
einer neuen Phase der außenpolitischen Zusammenarbeit öffner':.
Pragmatisch wurde die EPZ weiterentwickelt, wobei die jeweils erreichbare
Verständigung auf Normen und Verfahren der Zusammenarbeit in mehreren
Dokumenten festgehalten wurde: Nachdem die Staats- und Regierungschefs der
EG-Länder im Dezember 1969 in Den Haag beschlossen hatten, die Zusammenar-
beit in der Außenpolitik zu intensivieren, legte der Luxemburger Bericht die Ver-
pflichtungen zur Kooperation noch recht vage fest'*. Prozedurale Fragen wurden
angesprochen, nicht aber die Substanz der außenpolitischen Kooperation. Die
Außenminister sollten sich ebenso wie das aus den Politischen Direktoren der
Außenministerien gebildete Politische Komitee regelmäßig treffen. Von kontinu-
ierlicher Unterrichtung, von der Harmonisierung der Standpunkte und — wo mög-
lich — von einem gemeinsamen Vorgehen war die Rede. Der Bericht von Kopenha-
gen aus dem Jahr 1973 führte mit den Arbeitsgruppen, der Gruppe der Korrespon-
denten und einem eigenen Telexnetz neue Konsultationsinstrumente ein. Die
Regierungen wurden darauf verpflichtet, ihre Haltung »im Grundsatz« erst nach
erfolgter Konsultation festzulegen. Seit 1974 wird die EPZ international durch die
jeweilige Präsidentschaft vertreten.
Als der Tindemans-Bericht 1975 versuchte, durch die Schaffung eines einheitli-
chen Entscheidungsorgans für EG und EPZ, durch die Verpflichtung auf eine
gemeinsame Politik und die Einführung von Mehrheitsabstimmungen den
Zustand der unverbindlichen Zusammenarbeit in der Außenpolitik zu überwinden,
meldeten die auf ihre Souveränitätsrechte bedachten Regierungen massiven
Widerstand an. Die EPZ mußte sich, so wie bisher, ohne vertragliche Basıs weiter-
entwickeln. Der Londoner Bericht von 1981 führte das Troika-System ein und
präzisierte die Konditionen für Ministertagungen im Krisenfall. Die Sicherheits-
polıtik wurde nunmehr bezüglich ihrer politischen Aspekte einbezogen. Eine Insti-
tutionalisierung der EPZ wurde erst mit der Einheitlichen Akte erreicht. Titel III
begründet für die Zusammenarbeit einen eigenen Vertragstext, substantiell geht
die Akte jedoch über die bisherige Methode der Kooperation nicht hinaus. Mit
15 Vgl. dazu Abschnitt 4.
16 Der Luxemburger und die nachfolgend erwähnten Berichte sind dokumentiert in: Aus-
wärtiges Amt (H.), Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ). Dokumentation, Bonn
1984 und 1987.
Axt - Kooperation unter Konkurrenten 247
dem Sekretariat wurde eine neue, personell allerdings bescheiden ausgestattete
Institution geschaffen.
Ohne die EG wäre die EPZ nicht denkbar. Die EG stellt jenes institutionali-
sierte internationale Umfeld dar, auf dessen Basis sich die Notwendigkeit und
Möglichkeit außenpolitischer Zusammenarbeit ergaben. Kennzeichnend für die
EPZ ist, daß man sich bei ihr nicht mehr, wie bei der EG, auf eine im Ansatz
supranationale Vergemeinschaftung einigen konnte.
2.2 Politische Zusammenarbeit: Prinzipien durch Verständigung auf Verfahren
Auch nach rund zwanzigjähriger Praxis der politischen Zusammenarbeit und nach
der vertragsmäßigen Verankerung durch die Einheitliche Akte beruht die EPZ
zwar auf einer Verständigung über Verfahren, also Normen, Regeln und Entschei-
dungsroutinen, nicht aber auf einer Einigung über außenpolitische Substanz. Der
mit Bezug auf den »acquis communitaire«, den Gemeinschaftsbestand der EG, so
genannte »acquis politique« der EPZ besteht in der den Mitgliedern abverlangten
Einhaltung von Prozeduren, verlangt aber nicht eine gemeinsame, auf allgemein
akzeptierten Prinzipien begründete Außenpolitik.
Prinzipien der EPZ werden — wenn überhaupt — nur äußerst vage und unver-
bindlich expliziert'’. Wo sich der Luxemburger Bericht zu »Zielen« der Zusam-
menarbeit äußert, handelt es sich bezeichnenderweise nicht um Prinzipien, son-
dern lediglich um Verfahren der Unterrichtung, Konsultation und Harmonisie-
rung'®. Wenn auch die EPZ keine originären Prinzipien formuliert hat, so lassen
sich jedoch aus der Praxis der Zusammenarbeit mittlerweile zumindest vier - aller-
dings regimeübergreifende — Grundüberzeugungen der Partner herauslesen:
— Präferenz für die friedliche Beilegung von Konflikten,
— Wahrung der Unabhängigkeit,
— Beharren auf der Selbstbestimmung und
— Achtung der Menschenrechte.
Prinzipien bilden sich also durch Verfahren heraus. Das geschieht da, wo sich
die EPZ-Partner kontinuierlich mit bestimmten Problemen auseinandergesetzt
haben, und wo Kompromisse zwischen widerstreitenden Interessen möglich sind.
Folgende Themen waren bzw. sind auf der EPZ-Agenda von Bedeutung: der
Nahostkonflikt, das südliche Afrika, die asiatischen Länder, Lateinamerika, die
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der Terrorismus,
Zypern, die Menschenrechte und die Vereinten Nationen. Eine prinzipielle Ver-
17 In den »Gründungsdokumenten« der EPZ (s. 0.) tauchen u. a. folgende Prinzipien auf:
Das vereinte Europa müsse seiner Verantwortung in der Welt von morgen gerecht wer-
den. Das Gleichgewicht der Welt sei ebenso wie der Friede zu erhalten. Internationale
Entspannung und die Verständigung der Völker seien zu fördern, Freiheit und Men-
schenrechte zu achten. Den Entwicklungsländern müsse geholfen werden. Und der Wille
zur politischen Einigung Europas müsse gestärkt werden.
18 Vgl. »Erster Bericht der Außenminister an die Staats- und Regierungschefs der EG-Mit-
gliedstaaten vom 27. Oktober 1970« in: Auswärtiges Amt (H.), Europäische Politische
Zusammenarbeit, Bonn 1984, S. 25-31 (27).
ZfP 40. Jg. 3/1993
248 Axt - Kooperation unter Konkurrenten
ständigung der Partner gelingt freilich nur, soweit die jeweiligen außenpolitischen
Positionen kompromißfähig sind. Die Afrıka-Politik gilt als Beispiel, wo dies nur
wenig gelingt. Die Konkurrenz zwischen Frankreich, das auf seinen besonderen
Beziehungen zu Afrika insistiert, den »Realisten« (Großbritannien, Bundesrepu-
blik Deutschland und Frankreich), die enge ökonomische Beziehungen zu Süd-
afrıka unterhalten, und den »Moralisten« (Dänemark, Irland und die Nieder-
lande), die für eine entschiedenere Anti-Apartheid-Politik eintreten, hat bislang
nur eine fragmentarische und oberflächliche Afrika-Politik ermöglicht °.
Das von den EPZ-Partnern verlangte Verhalten ist sukzessive auf pragmatische
Weise in Normen und Regeln gefaßt worden”. Die Einheitliche Europäische Akte
faßt zusammen, was zuvor in einzelnen Erklärungen als Verpflichtung normiert
wurde:
— die Partner informieren und konsultieren sich in allen außenpolitischen Fragen
von allgemeinem Interesse;
— außenpolitische Positionen werden erst nach Konsultation der Partner festge-
legt;
— die Standpunkte der Partner und der EPZ sind zu berücksichtigen;
— Maßnahmen sind zu vermeiden, “die der Kohärenz der EPZ in den internationa-
len Beziehungen schaden;
— bei internationalen Organisationen und Institutionen sind die Standpunkte auch
derjenigen Partner zu berücksichtigen, die dort nicht vertreten sind.
Die EPZ verfügt über keinerlei Sanktionsmöglichkeiten, wenn Partner gegen
diese Normen verstoßen. Die Normen haben appellativen Charakter. Daß sich die
Partner — abgesehen von mehr oder weniger temporärem Aufenseiterverhalten
einzelner Mitglieder - ohne Zwangsgewalt auf die politische Zusammenarbeit ein-
gelassen haben, darin kann gerade die Begründung gesehen werden, die EPZ als
ein Regime zu interpretieren.
Die Informations- und Entscheidungsprozesse werden dadurch bestimmt, daß
die nationalen Außenministerien letztlich allein verantwortlich für die politische
Zusammenarbeit bleiben. Souveränitätsabtretungen erfolgen nicht. Die EPZ-Prä-
sidentschaft ist zum zentralen Instrument der EPZ geworden. Ihr fällt das Mana-
gement und die Initiative zu. Die Präsidentschaft wird seit 1987 vom Sekretariat
unterstützt. Beschlüsse fassen bei der EPZ entweder die im Europäischen Rat ver-
sammelten Staats- und Regierungschefs oder die viermal jährlich, bei Bedarf häu-
figer, zu Ministertreffen zusammentretenden Außenminister. Die Ministertreffen
stellen das eigentliche Entscheidungsorgan dar.
19 Vgl. Philippe de Schoutheete, La coopération ..., aaO., S. 97; William Wallace, »Euro-
pean Political Cooperation: A New Form of Diplomacy« in: Irish Studies in International
Affairs, (1984) 4, S. 3-14.
20 Die ım Regime-Ansatz angelegte Scheidung zwischen Normen als prinzipiellen Verhal-
tensgeboten und Regeln als Handlungsorientierung scheint wenig überzeugend, wenn sie
im Fall der EPZ empirisch gefüllt werden soll. Die Trennschärfe ist zu gering. Beide
Begriffe werden daher hier als Einheit verstanden.
Axt - Kooperation unter Konkurrenten 249
Der Informationsaustausch findet regelmäßig im monatlich tagenden Politi-
schen Komitee statt. Der Koordinations-Reflex, die ständige Abstimmung der
eigenen Außenpolitik mit der der Partner, dürfte im Politischen Komitee am effek-
tivsten wirksam werden”. Auch haben die häufigen Zusammenkünfte die Entste-
hung eines intimen Arbeitsklimas gefördert. Der Informationsaustausch wird dar-
über hinaus durch die thematisch ausgerichteten Arbeitsgruppen, durch die in
jedem Außenministerium für die Übermittlung von EPZ-Dokumenten zuständi-
gen Europäischen Korrespondenten und durch das eigene COREU-Telexnetz
gefördert. Die Botschaften in Drittländern arbeiten zusammen. Die Tatsache, daß
die EPZ-Informations- und Entscheidungsstrukturen intergouvernemental ange-
legt sind, äußert sich auch in der schwachen Beteiligung der Kommission. Sie ist
bei der EPZ bloß Beobachter. Die Rechte des Europäischen Parlaments bleiben
hinsichtlich der politischen Zusammenarbeit bescheiden 2.
Sieben Merkmale prägen die Informations- und Entscheidungsstrukturen der
EPZ:
- das Fehlen einer dem EG-Vertrag vergleichbaren vertraglichen Grundlage;
— der Konsens als Entscheidungsprinzip;
— der Verzicht auf eigene, der EG-Kommission vergleichbare Institutionen;
— der Pragmatismus als Arbeitsprinzip und Methode einer evolutionären Fortent-
wicklung der Zusammenarbeit;
- der vertrauliche Charakter, der Divergenzen in der Regel nicht öffentlich
macht;
— das Fehlen einer Sanktionsgewalt;
- und schließlich der intergouvernementale Charakter der EPZ.
2.3 Nutzen und Effekte des EPZ-Regimes
Die gegenseitige Information, die Harmonisierung von Positionen und die stän-
dige Konsultation haben bislang das Bild der EPZ geprägt. Die gemeinsame
Aktion und das Krisenmanagement sind demgegenüber zurückgeblieben. Gemein-
same EPZ-Positionen gibt es nur da, wo die Beteiligten kompromißbereit sind.
Von den Außenministerien werden keine Kompetenzabtretungen verlangt. Bislang
haben die EPZ-Partner auf unterschiedliche Weise versucht, international Einfluß
auszuüben: mit Deklarationen und Demarchen, mit einer abgestimmten Konfe-
renzdiplomatie, mit den (allerdings rudimentär bleibenden) Bemühungen um ein
gemeinsames Krisenmanagement und mit der Konsultationsdiplomatie ».
21 Vgl. Gianni Bonvicini, »Strukturen und Verfahren der EPZ: mehr als traditionelle Diplo-
matie« in: Alfred Pijpers / Elfriede Regelsberger / Wolfgang Wessels (H.), Die Europäi-
sche Politische Zusammenarbeit . . ., aaO., S. 71-94 (79).
22 Vgl. Philippe de Schoutheete, La Cooperation ..., aaO., S. 64.
23 Vgl. ausführlich Reinhardt Rummel, »Nur mit einer Stimme sprechen - oder mehr?« in:
Alfred Pijpers / Elfriede Regelsberger / Wolfgang Wessels (H.), Die Europäische Politi-
sche Zusammenarbeit . . ., aaO., S. 149-177.
ZfP 42. Ie. 3/1993
17
250 Axt - Kooperation unter Konkurrenten
Der Nutzen der Prinzipien, Normen und Verfahren der EPZ kann aus der Sicht
der Mitgliedslander darin gesehen werden, daß die Regierungen auf der einen
Seite immer da gemeinsam auftreten können, wo sie dies wünschen, daß sie früh-
zeitig und kontinuierlich über die Haltung der Partner informiert sind, daß sie ın
internationalen Organisationen mit einer Stimme sprechen, daß »Transaktionsko-
sten« im diplomatischen Verkehr mit Drittländern verringert werden und daß die
Zusammenarbeit je nach Bedürfnissen und Kompromißmöglichkeiten weiterent-
wickelt werden kann. Die Regierungen können all diese Vorteile kollektiver
Diplomatie nutzen, ohne auf der anderen Seite zum Souveränitätsverzicht in der
Außenpolitik gezwungen zu sein.
Die EPZ bleibt ein flexibles Instrument, das nur unverbindlich auf die politische
Finalitat der Europäischen Union verpflichtet ist. Die Institutionen bedrohen die
Rechte der nationalen Exekutiven nicht. Regierungen können nicht zum Konsens
verpflichtet werden, wenn sie vitale Interessen berührt sehen. Das Erfolgsgeheim-
nis des EPZ-Regimes liegt also in seiner größeren Effizienz gegenüber der rein
nationalen und auch multilateralen Diplomatie und dem Minimum an Kosten in
Form von Kompetenzverzicht.
Die institutionell-vertragliche Offenheit der EPZ ermöglichte den Mitgliedslän-
dern, die Zusammenarbeit bis an die Grenze des jeweils Möglichen und Wün-
schenswerten zu treiben und diese Praxis in einem Normenkatalog festzuschrei-
ben. Dieses Verfahren hat verhindert, daß die Zusammenarbeit blockiert wurde,
wie dies bei einer verbindlicher geregelten Form hätte der Fall sein können. Gäbe
es Sanktionsmöglichkeiten und wäre die EPZ institutionell und instrumentell stär-
ker, dann hätten divergente nationale Interessen die Zusammenarbeit wahrschein-
lich häufiger lahmgelegt. Durch das aufwendige Abstimmungsverfahren und
durch den Verzicht auf Themen, die sich als nicht kompromißfähig herausstellten,
ist dies weitgehend verhindert worden. Gerade die »schwache« EPZ hat Außensei-
terpositionen integrieren kénnen. Gemeinsame Ansichten und gegenseitiges Ver-
trauen entscheiden beim gegenwärtigen Stand der Zusammenarbeit über deren
Erfolge.
Zusammenfassend kann die EPZ als ein Regime der Kooperation ohne den
Zwang zur Übertragung nationaler Loyalitäten gekennzeichnet werden. Die
ständige Kooperation fördert die »Europäisierung« der Diplomaten in ihrem
Arbeitsstil, ihren Denkgewohnheiten und Perzeptionen. Die Vertrauensbildung
unter den Regierungen nimmt zu. Auf der anderen Seite orientieren sich Diploma-
ten und Beamte weiterhin vorrangig daran, was sie bzw. ihre politischen Führun-
gen als nationales Interesse wahrnehmen.
Die EPZ verlangt keine Interessenidentität, jeder Partner kann sich an der Nut-
zenmaximierung orientieren — allerdings nur soweit die Zusammenarbeit nicht
grundsätzlich in Frage gestellt wird. Dies würde nämlich allen Beteiligten schaden.
24 Alfred Pijpers / Elfriede Regelsberger / Wolfgang Wessels, Eine gemeinsame Außenpoli-
tik für Westeuropa?, aaO., S. 320 f.
Axt - Kooperation unter Konkurrenten 251
Die Kooperation von Konkurrenten akzeptiert wechselseitig, daß vitale nationale
Interessen nicht einem Harmonisierungsbemühen untergeordnet werden: Irland
schließt Fragen aus, die seinen neutralen Status beeinträchtigen; die Bundesrepu-
blik tat dies bei der Deutschlandpolitik, und Griechenland läßt sich von den Part-
nern nicht seine Politik gegenüber der Türkei vorschreiben.
Die Beantwortung der Frage, inwieweit die EPZ die von ihr selbst gesetzten
Ziele erreicht hat, stößt auf die Schwierigkeit, daß — wie bereits erwähnt - die
»Oberziele« sehr allgemein formuliert wurden: Verantwortung in der Welt, inter-
nationales Gleichgewicht, Erhaltung des Friedens, internationale Entspannung,
Verständigung der Völker, Wahrung der Freiheit und der Menschenrechte, Förde-
rung der Entwicklungsländer und Beschleunigung der politischen Einigung Euro-
pas — daß der EPZ international die Durchsetzung dieser Prinzipien gelungen
wäre, wird kaum jemand erwarten.
Bestätigen läßt sich allerdings, daß die Deklarationen der EPZ geprägt sind von
dem Eintreten für eine friedliche Beilegung von Konflikten, die Wahrung der
Unabhängigkeit, das Beharren auf der Selbstbestimmung und die Achtung der
Menschenrechte. Damit haben die Europäer moralische Prinzipien zur Konflikt-
beilegung formuliert. Kritiker wenden indessen ein, daß sich die EPZ gerade
bezüglich der Ost-West-Beziehungen auf die kooperativen Elemente konzentriert
und den USA sowie der NATO die antagonistischen und militärischen Fragen
überlassen haben 3. Insgesamt hat die EPZ aber sicher zu einem effizienten Auf-
treten des Westens gegenüber der Sowjetunion beigetragen. Für die Krisenherde
der Dritten Welt hat die außenpolitische Kooperation wichtige Konzepte zur Sta-
bilisierung der Konfliktregionen entwickelt, ohne deshalb schon als Krisenmana-
ger in Erscheinung treten zu können. Für die innerwestlichen Beziehungen hat
sich die EPZ als förderlich erwiesen. Lassen sich so — je nach Region und Thema
voneinander abweichende - Erfolge der Zusammenarbeit ausmachen, so dürfte die
Feststellung unstrittig sein, daß sich die Europäer auch mit der EPZ nicht zu einer
den Großmächten ebenbürtigen Formation in der Weltpolitik entwickelt haben.
Zu wichtigen Themen haben die EG-Staaten gemeinsame Positionen eingenom-
men, Europas Stimme war zu vernehmen. Mißt man den Beitrag der EPZ an der
Gemeinschaftsbildung in Europa, so waren ihre Effekte bescheiden. Stellt man die
EPZ dagegen einem rein nationalen Vorgehen in der Außenpolitik gegenüber, so
sind positive Entwicklungen unübersehbar.
3. Einbindung von EPZ-Außenseitern
Nachdem Griechenland 1981 der EG beigetreten war, verhielt sich seine sozialisti-
sche Regierung wenig EPZ-konform. Athen wurde zum Außenseiter der politi-
schen Zusammenarbeit”. Dies läßt sich hinsichtlich der verschiedenen Strukturele-
mente des EPZ-Regimes aufzeigen:
25 Vgl. Reinhardt Rummel, EPZ - Erfolgsformel ..., aaO., S. 58.
26 Zur griechischen Außen- und EPZ-Politik vgl. ausführlich Heinz-Jürgen Axt, Griechen-
7fP 42. Ig. 3/1993
17*
252 Axt - Kooperation unter Konkurrenten
Die unverbindlich formulierten EPZ-Prinzipien zu befürworten, fiel auch der
griechischen Regierung nicht schwer. Friedliche Konfliktbeilegung, Unabhängig-
keit, Selbstbestimmung und Menschenrechte — mit diesen Prinzipien stimmte man
auch in Athen überein.
Differenzen ergaben sich dagegen bezüglich des durch Normen und Regeln
festgeschriebenen Verhaltens in der EPZ: Athen hielt sich wiederholt weder an
den Grundsatz der Information und Konsultation, noch legte es seine außenpoliti-
schen Positionen erst nach Konsultation mit den Partnern fest. Die Standpunkte
der Partner berücksichtigte Athen bei wichtigen Entscheidungen ebensowenig wie
es sich an der EPZ-Kohärenz orientierte, wenn dies opportun erschien. Derartige
Verstöße gegen EPZ-Regeln waren zwar auch bei anderen Regierungen zu beob-
achten, nur nicht im Ausmaß und der deklaratorischen Radikalitit wie bei Grie-
chenland unter der PASOK-Regierung.
Bezüglich der Entscheidungsprozeduren der EPZ waren bei Griechenland seit
1981 gegenläufige Entwicklungen zu verzeichnen: Auf der einen Seite beteiligte
sich das Athener Außenministerium — mit technischen Schwierigkeiten zwar, aber
ohne grundsätzliche Opposition — an den Informations- und Entscheidungsrouti-
nen. Auf der anderen Seite zögerte vor allem der Ministerpräsident, aber auch der
Außenminister nicht, die vorgesehenen Verfahren immer dann zu ignorieren,
wenn dies aus nationaler Perspektive vorteilhaft erschien.
Nicht nur außenpolitische Entscheidungen, sondern auch die verschiedenen
Pläne zur EG-Reform trafen auf den Widerstand der Regierung Papandreou.
Symptomatisch war dafür der griechische Vorbehalt gegen jenen Abschnitt der
Feierlichen Erklärung von Stuttgart, in dem Staats- und Regierungschefs im Juni
1973 die politische Zusammenarbeit effektiver und verbindlicher gestalten wollten:
Griechenland, so wurde protokollarisch festgehalten, werde sich in keiner Weise
davon abbringen lassen, eine seinen nationalen Interessen verpflichtete Außenpoli-
tik zu betreiben. Die Regierung Papandreou ignorierte damit, daß zwar alle Part-
ner in der EPZ nationale Interessen verfolgen, daß sie dies aber am effektivsten
tun können, wenn sie auch die Interessen der Partner berücksichtigen und zur For-
mulierung gemeinsamer Positionen beitragen. Die ausschließliche Ausrichtung der
Außenpolitik am Nationalinteresse blockiert die EPZ.
Die Athener Außenpolitik mußte deshalb zu Konflikten mit den Partnern füh-
ren”. Griechenland hat zwar die Mehrzahl der EPZ-Entscheidungen mit seinen
lands Außenpolitik und Europa: Verpaßte Chancen und neue Herausforderungen, Baden-
Baden 1992.
27 Griechenland wandte sich u.a. gegen eine Beteiligung an der multinationalen Sinai-
Truppe, schloß sich den Polen-Sanktionen gegen die Sowjetunion nicht an, forderte ohne
Konsultation mit den Partnern gemeinsam mit Rumänien den atomwaffenfreien Balkan,
verhinderte die gemeinsame Verurteilung der Sowjetunion wegen des Abschusses des
koreanischen Verkehrsflugzeugs, veröffentlichte ohne Absprache mit den Partnern ein
Moratorium zur Stationierung der NATO-Mittelstreckenraketen, übernahm nicht die
Sanktionen gegen Libyen und konsultierte während der Ägäis-Krise 1987 seine EPZ-
Partner nicht rechtzeitig.
Axt - Kooperation unter Konkurrenten 253
Partnern gemeinsam verabschiedet, doch nahm es hinsichtlich der abweichenden
Stellungnahmen den Spitzenplatz in der EPZ ein. Dabei darf freilich der Wandel
in der griechischen EPZ-Politik nicht übersehen werden: Seit Mitte der achtziger
Jahre hat sich Griechenland deutlich dem EPZ-Konsens angenähert. Heute nimmt
Athen unter der konservativ-liberalen Regierung Mitsotakis nur noch dann eine
Sonderposition ein, wenn es um die Türkei und um den Balkan (Makedonien)
geht. Das ist auch bei anderen EG-Ländern und ihren nationalen Anliegen durch-
aus üblich.
Die Gründe für die Annäherung der griechischen Außenpolitik an den EPZ-
Konsens können in zwei unterschiedlichen Faktorenbündeln gesehen werden.
Zum einen geht es um historische bzw. spezifisch griechische Umstände, zum
andern um Faktoren, bei denen die Fähigkeiten des EPZ-Regimes zur Einbindung
von Außenseitern hervortreten.
Historische bzw. spezifisch griechische Faktoren für die Annäherung Athens an
die EPZ-Partner kamen in folgenden Momenten zum Ausdruck:
— Die wieder erstarkende Entspannungspolitik in der zweiten Hälfte der achtziger
Jahre erleichterte den PASOK-Sozialisten das Zusammengehen mit den EPZ-
Partnern.
- Die PASOK-Regierung hatte ihre alternativen außenpolitischen Optionen aus-
gereizt. Weder die Drittwelt-Orientierung (Terzomundismus) noch der
Anschluß an die Blockfreien oder die Kooperation mit den Mittelmeerländern
waren echte Alternativen zur Kooperation mit den EG-Partnern. Griechische
Wähler waren für derartige Alternativen auch nicht länger zu begeistern.
- Die Annäherung an die EPZ holte mit zeitlicher Verzögerung die generelle Aus-
richtung Griechenlands auf Westeuropa nach. Die Modernisierung und Indu-
strialisierung der sechziger Jahre hatten Griechenland immer mehr der EG
angenähert. Mit den Bindungen an die EG sollte zugleich die Abhängigkeit von
den USA vermindert werden.
Das zweite Faktorenbündel verdeutlicht die Integrationskraft des EPZ-Regi-
mes. Dabei gelten die nachfolgenden Argumente nicht nur für Griechenland, son-
dern mehr oder weniger für alle Länder, die sich an der politischen Zusammenar-
beit beteiligen:
— Das institutionelle Umfeld der EG verdichtet die Kontakte zwischen den Regie-
rungen in einem Maße, daß davon auch die politische Zusammenarbeit profi-
tiert. Zwar kommt es nicht zum funktionalistischen »spill over«, dazu, daß die
ökonomische Integration die politische Vergemeinschaftung produziert. Auf
niederer Stufe wird jedoch die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zwischen
den EG-Partnern gefördert. Das gilt für die Gründungsmitglieder der EG
offensichtlich ebenso wie für Griechenland als »late comer«.
— Griechenland hatte — später als andere Regierungen — erkennen müssen, daß es
isoliert international noch weniger Einfluß hat als im EPZ-Verbund. Als Außen-
seiter kann Griechenland die EPZ-Politik überhaupt nicht beeinflussen, im
EPZ-Konzert ist dies begrenzt möglich.
ZfP 40. Jg. 3/1993
254 Axt - Kooperation unter Konkurrenten
— Nationale Themen bleiben auch in der EPZ tabu. Von Griechenland wurde kein
grundsätzlicher Souveränitäts- und Loyalitätsverzicht zugunsten der EPZ ver-
langt. Die Kooperation wird so weit betrieben, wie es für alle Beteiligten akzep-
tabel ıst.
- Die Kosten der Annäherung an die EPZ sind gering: Es wird lediglich die
Akzeptanz von Verfahren verlangt, eine verbindliche EPZ-Substanz gibt es
nicht.
- Für kleine Lander wie Griechenland ist mit der EPZ ein Informationsgewinn
verbunden - bezüglich der Positionen der Partner ebenso wie der von Drittlän-
dern, in denen kleinere EG-Länder oft gar nicht diplomatisch vertreten sind.
~ In Zeiten der Präsidentschaft gewinnen kleine Länder eine stärkere außenpoliti-
sche Gestaltungsfunktion, denn sie treten bei internationalen Organisationen
und Konferenzen sowie gegenüber Drittländern als Sprecher der EG-Länder
auf. Ihnen kommt eine Bedeutung zu, die sie national nicht erlangen können.
Dieser Bedeutungsgewinn ist freilich stets mit der Verpflichtung zu besonders
EPZ-konformem Verhalten verbunden. Am Beispiel der beiden griechischen
Präsidentschaften (1983 und 1988) läßt sich dieser Lernprozeß nachvollziehen:
Die erste Präsidentschaft war zugleich der Höhepunkt griechischer Alleingänge
in der politischen Zusammenarbeit (Haltung zur Nachrüstung und zum
Abschuß des koreanischen Verkehrsflugzeugs), während Athen bei der zweiten
Präsidentschaft seinen EPZ-Verpflichtungen entsprach.
Für die Interpretation der EPZ als Regime ergibt sich aus der bisherigen Dar-
stellung folgendes: Für die Annäherung Griechenlands an seine EPZ-Partner war
nicht eine von Athen per Vertrag oder Sanktionsgewalt zu übernehmende gemein-
same EPZ-Substanz verantwortlich. Verbindliche Prinzipien gibt es bei der politi-
schen Zusammenarbeit ebensowenig wie Sanktionsmöglichkeiten. Entscheidend
war vielmehr, daß Griechenlands allgemeine Entwicklung seit rund dreißig Jahren
auf die EG bezogen ist, und daß eine fortgesetzte Außenseiterrolle die Möglich-
keit Griechenlands zur Beeinflussung der EG- und EPZ-Politik nur geschmälert
hätte. Ohne die enge Bindung an die EG hätte sich Griechenland wohl kaum auf
das Regime der EPZ eingelassen.
Die normierten Verfahren der EPZ haben zur Annäherung Griechenlands an
die Partner beigetragen. Allerdings war die »europäische Sozialisation« der grie-
chischen Außenpolitik durch die EPZ in ihren Wirkungen stets begrenzt: Sie
erfaßte die mit der politischen Zusammenarbeit befaßten Diplomaten und Beam-
ten im Außenministerium. Sie beeinflußte offensichtlich auch den in ständigem
Kontakt zu seinen Amtskollegen stehenden und für Europafragen zuständigen
stellvertretenden Außenminister. Der Außenminister und vor allem Ministerpräsi-
dent Papandreou waren für die EPZ-Normen offensichtlich wenig empfänglich.
Sie setzten sich, wann immer dies opportun erschien, darüber hinweg und brüs-
kierten die Partner.
Als lockeres Regime der Kooperation hat die EPZ auch Außenseiter, die
anfangs ausschließlich auf nationale Nutzenmaximierung aus waren, einbinden
Axt - Kooperation unter Konkurrenten 255
können. Aus der Sicht Griechenlands waren die Kosten einer Beteiligung an der
Zusammenarbeit so gering, daß der feststellbare Nutzen — Einfluß auf die EPZ,
Informationsgewinn und Sprecher im Namen der Zwölf — den Ausschlag für eine
Annäherung an den EPZ-Konsens gab. Außenpolitische Zusammenarbeit ist zwar
nicht zum »Nulltarif« zu haben. Der Verzicht auf die Außenseiterrolle und die
Annäherung an den EPZ-Konsens verlangen aber nur begrenzte Zugeständnisse,
der außenpolitische Zugewinn bleibt allerdings ebenfalls bescheiden.
4. Vom EPZ-Regime zur »gemeinsamen« Außenpolitik?
Nachdem sich die Staats- und Regierungschefs in Maastricht auf den Vertrag zur
Europäischen Union und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geeinigt
haben, stellt sich die Frage, ob eine Weiterentwicklung der politischen Zusammen-
arbeit zur Vergemeinschaftung der Außenpolitik zu erwarten ist. Oder anders for-
muliert: Wird die außenpolitische Kooperation künftig statt von einem Regime
von einem »korporativen« Akteur betrieben?
In Anlehnung an die Korporatismusdebatte über die Verselbständigung von
Funktionären in Parteien, Gewerkschaften und Verbänden ist auch die EG als kor-
porativer Akteur dargestellt worden ®*. Danach bilden sich in der EG Eigeninteres-
sen heraus, die nicht mehr die bloßen Aggregate der Mitglieder sind. Die EG ist
danach mehr als die Summe ihrer Mitgliedsregierungen. Vor allem Kommission
und Gerichtshof verfolgen Eigen- oder Gemeinschaftsinteressen, die sich von den
aggregierten Einzelinteressen abheben. Die Eigeninteressen beziehen sich u. a. auf
den Wunsch nach einer möglichst starken Gemeinschaft mit umfassenden Kompe-
tenzen und Ressourcen, weil dann auch die Stellung von Kommission und
Gerichtshof gestärkt werden. Allerdings können bei der EG in den Kontroll- und
Vetorechten der nationalen Regierungen auch starke Elemente eines internationa-
len Regimes ausgemacht werden.
Was hat sich mit dem Maastrichter Vertrag zur Europäischen Union in der
außenpolitischen Kooperation geändert??? Zwei Aspekte sind von besonderer
Bedeutung: Erstens erhält die GASP (in Art. J.4) eine umfassende Zuständigkeit
für Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, wozu »auf längere Sicht auch die
Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit
auch zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte«. Zweitens werden erst-
mals Mehrheitsentscheidungen ermöglicht. Künftig können bei »gemeinsamen
Aktionen« nach Art. J.3 Einzelfragen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wer-
den. Zuvor hat der Rat jedoch im Konsens in jedem Stadium des Verlaufs einer
Aktion zu bestimmen, ob eine Einzelentscheidung mit qualifizierter Mehrheit
getroffen werden soll. Mit der Fusion von Außenministertreffen und Rat ist man
28 Vgl. Volker Schneider / Raymund Werle, Vom Regime zum korporativen Akteur..,
aaO.
29 Vgl. hierzu Titel V, Art. J. des Vertrags über die Europäische Union in: Bulletin/Presse-
und Informationsamt der Bundesregierung, (12. 2. 1992) 16, S. 113-184.
ZfP 40. Jg. 3/1993
256 Axt - Kooperation unter Konkurrenten
in Maastricht dem Streben nach einem einheitlichen Entscheidungszentrum nur
bedingt nachgekommen.
Zusammenfassend: Mit der GASP wird die außenpolitische Kooperation nicht
auf eine qualitativ neue Stufe gehoben; es wird allenfalls die Chance eröffnet, daß
sich die Zusammenarbeit in Richtung einer vergemeinschafteten Politik, wie wir
sie z. B. im Bereich der »Gemeinsamen Agrarpolitik« mit entsprechenden Zustän-
digkeiten der EG-Organe kennen, entwickeln kann”. Die GASP impliziert eine
solche Vergemeinschaftung noch nicht, sie bleibt eine Ergänzung der einzelstaatli-
chen Außenpolitik der EG-Länder. »Vitale nationale Interessen« bleiben unange-
tastet. In der GASP bilden sich gerade nicht Steuerungs- und Sanktionsinstanzen
so wie in der EG mit Kommission und Gerichtshof heraus.
Das europäische Gemeinschaftsinteresse in der Außenpolitik ist ebensowenig in
Sicht wie die Möglichkeit, Regierungen bei abweichendem Verhalten mit Sanktio-
nen auf die Einhaltung einer gemeinsamen Politik verpflichten zu können. Auf
absehbare Zeit ist nicht damit zu rechnen, daß die außenpolitische Zusammenar-
beit ihren Regime-Charakter ablegen und Strukturen nach dem Muster des korpo-
rativen Akteurs annehmen wird.
5. Konklusionen: der Regime-Ansatz als eine Status-quo-Analyse
Nach den bisherigen Darlegungen dürfte deutlich geworden sein, wodurch sich im
Fall der EPZ/GASP das Regime vom Multilateralismus unterscheidet. Es sind vor
allem folgende Faktoren: Die Zusammenarbeit beruht auf Dauerhaftigkeit, die
Beteiligten sind von der Effektivität der Kooperation überzeugt, das Verhalten der
Partner wird transparenter und berechenbarer, und die Kommunikationskosten
verringern sich.
Wenig ist zur Beantwortung der Frage beizutragen, weshalb der Bedarf an
einem Regime auch zu dessen Entstehung führt. Am Beispiel der EPZ lassen sich
zwar historische Interessenkonstellationen auf der Ebene der Nationalstaaten auf-
zeigen, die zur Verständigung auf die Kooperation geführt hat, und läßt sich auch
die Einbindung eines später hinzugetretenen anfänglichen Einzelgängers erklären.
Doch sind die hier gefundenen Erklärungsmomente nicht für Regime insgesamt
zu verallgemeinern.
Für die sukzessive Etablierung der EPZ als Regime dürfte auch der Umstand
entscheidend gewesen sein, daß die Beteiligten durch Fakten, durch die Einsicht in
reale oder perzipierte Vorteile von der Zusammenarbeit überzeugt wurden und
deshalb daran festhielten. Dagegen spielte eine Konvergenz der Erwartungen sei-
tens der Beteiligten eine geringere Rolle. Diese wäre bei einem konstitutionellen
Akt zur Gründung der EPZ wahrscheinlich eine Voraussetzung gewesen. Bedarf
die außenpolitische Zusammenarbeit der EG als institutionellem Umfeld? Die Ant-
30 Vgl. Elfriede Regelsberger, »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach Maastricht
- Minimalreformen in neuer Entwicklungsperspektive« in: Integration, 15 (1992) 2,
S. 83-93.
Axt - Kooperation unter Konkurrenten 257
wort macht auf zwei Momente aufmerksam: Das Funktionieren der EPZ/GASP
ist zwar nicht direkt von der Gemeinschaft abhängig. Die Herausbildung der EPZ
mit den Regierungen und Diplomatien der EG-Länder als Beteiligten, aber auch
die Einbindung von Außenseitern ist jedoch durch die EG und die Intentionen
einer Unionsbildung sicher entscheidend gefördert worden.
Es bleibt auch weiterhin die Frage zu untersuchen, ob die EPZ/GASP als
Regime insofern einen Sonderfall darstellt, als bei ihr zwar normierte Prozeduren
konstitutiv sind, nicht aber verbindliche Prinzipien’!. Welcher Grad an Verbind-
lichkeit muß also gegeben sein, damit von Prinzipien gesprochen werden kann?
Gibt es gar Regime ohne Prinzipien?
Bezüglich des Erklärungswerts des Regime-Ansatzes für die Analyse der politi-
schen Zusammenarbeit sind mehrere positive Beiträge hervorzuheben. Anderen
Ansätzen erweist sich das Regime-Theorem in folgender Hinsicht überlegen:
Machttheorien - gleich ob sie ihren Machtbegriff von Max Weber als Chance
zur Durchsetzung eigener Interessen gegen Widerstand oder von Johan Galtung
und seinem Terminus der strukturellen Gewalt herleiten — können das für die EPZ
Spezifische, die Freiwilligkeit, nicht erklären. Es gibt weder eine zentrale Steue-
rungs- noch eine Sanktionsinstanz bei der Zusammenarbeit. Dependenztheorien
führen letztlich zu ökonomistischen Erklärungsmustern: Die Außenpolitik folgt
der Wirtschaftsverflechtung und -integration. Das Beispiel Griechenland kann hier
nicht als Gegenargument herangezogen werden. Daß sich die Regierung Papan-
dreou dem EPZ-Konsens annäherte, lag nicht bloß an der unbestreitbar engen
ökonomischen Verflechtung zwischen Griechenland und der EG, sondern resul-
tierte ebenso aus dem griechischen Wunsch nach einem Abbau der einseitigen
Orientierung auf die USA. Dependenzmomente sind, wenn überhaupt, dann im
generellen Industrialisierungs- und Modernisierungsmuster zu sehen.
Das Regime-Modell erweist sich auch (neo-)funktionalistischen Theorien
gegenüber insofern als vorteilhaft, als die EPZ nicht nur als »Durchgangsstadium«
begriffen, sondern auf ihre spezifischen Funktionsmechanismen hin untersucht
wird. Die Finalitat der Zusammenarbeit bleibt offen. Supranationale Lösungen
erscheinen ebenso möglich wie die Beibehaltung der intergouvernementalen
Kooperation oder der Rückfall ın rein nationale Außenpolitik.
Insgesamt ist positiv zu bewerten, daß Regime die Kooperation als die zwischen
Konkurrenten interpretieren. Um die Zusammenarbeit zu erklären, muß keine
Interessenkongruenz unterstellt werden, die real gar nicht gegeben ist. Daß der
Grad der Konkurrenz zwischen den Beteiligten variieren kann, dürfte anhand der
Darstellung deutlich geworden sein. Der Regime-Ansatz ist also keine Neubele-
bung sozialwissenschaftlicher Konflikttheorien, die den Konflikt gleichsam zum
zentralen gesellschaftlich-politischen Tatbestand erklären.
31 Daß Prinzipien sehr allgemein, fast beliebig formuliert werden, konstatiert auch Michael
Strübel, »Umweltregime in Europa« in: Beate Kohler-Koch (H.), Regime in den interna-
tionalen Beziehungen, aaO., S. 247- 273.
ZfP 40. Jg. 3/1993
258 Axt Kooperation unter Konkurrenten
Im Rahmen des Regime-Modells läßt sich auch überzeugend aufzeigen, daß die
Verfolgung von Eigeninteressen durchaus kein Chaos bewirkt und die Regierun-
gen auch nicht kooperationsunfähig macht. Im Falle der EPZ erweisen sich die
Beteiligten lediglich bei vitalen nationalen Anliegen als nicht kompromißbereit, bei
anderen Themen sind sie aber durchaus zur Zusammenarbeit und Abstimmung
ihrer Positionen bereit. Die gegenseitige Respektierung nationaler Interessen fin-
det sich nicht explizit als Prinzip oder Norm in den Dokumenten der EPZ, die
faktische Anerkennung genügt.
Schwächen zeigt der Regime-Ansatz immer da, wo Prozesse und Entwicklun-
gen interpretiert werden sollen. Das Regime ist eine geeignete Status-quo-Analyse.
Grenzen werden sichtbar, wenn das dynamische Potential - in diesem Fall der
EPZ/GASP - aufgezeigt werden soll. Beinhaltet die politische Zusammenarbeit
eine Vergemeinschaftungspotenz, hat sie die Kraft, aus der abgestimmten eine
gemeinsame Außenpolitik in einer Europäischen Union werden zu lassen? Inwie-
weit kann sich ein Regime selbst überflüssig machen und beispielsweise einem kor-
porativen Akteur den Boden bereiten? Wo wäre bei der politischen Zusammenar-
beit mit Hilfe des Regime-Ansatzes ein qualitativer Sprung — so es ihn denn über-
haupt gibt - auszumachen? Antworten auf diese Fragen fallen der Regime-Analyse
schwer. Freilich trifft diese Kritik andere Erklärungsmuster nicht weniger.
Modelle, die sich wie die Funktionalisten darum bemüht haben, blieben wenig
überzeugend. Die kritische Anmerkung bedeutet deshalb nicht weniger, aber auch
nicht mehr, als die Grenzen der Interpretation internationaler Kooperationsfor-
men mit Hilfe des Regimebegriffs zu verdeutlichen.
Zusammenfassung
Die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) und — nach Maastricht - die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) werden als Regime außenpoli-
tischer Kooperation interpretiert. Der Regime-Ansatz ist eher als andere Modelle
in der Lage, die Zusammenarbeit als eine von Konkurrenten zu erklären. Zur
Erklärung der EPZ/GASP braucht keine Interessenkongruenz unterstellt werden,
wo sie realiter nicht vorhanden ist. Die EG-Staaten koordinieren ihre Außenpoli-
tik, ohne auf ihr außenpolitisches Entscheidungsmonopol verzichten zu müssen.
Als Schwäche des Regime-Ansatzes erweist sich der Umstand, daß er lediglich eine
Status-quo-Analyse bietet.
Summary
European Political Cooperation (EPC) and - after Maastricht - Common Foreign
and Security Policy (CFSP) are interpreted as regimes of political cooperation.
More than other models that approach gives a plausible explanation for coopera-
tion among competitors. To interprete EPC and CFSP ist is not necessary to sup-
pose an identity of interests which does not exist in reality. EC member states
Axt Kooperation unter Konkurrenten 259
coordinate their foreign policy without being obliged to give up essential compe-
tences in foreign policy. It is a weakness of the regime approach that it provides
only a status-quo oriented analysis.
ZfP 40. Jg. 3/1993
Zsolt K. Lengyel
Warten auf das Wunder
Dilemmata des Systemwandels in Ungarn 1990-1992 *
Wunder dauern etwas langer, und auf manche wartet man vergebens. Bei der Ana-
lyse des jungen ungarischen Postsozialismus wird diese wohlbekannte Weisheit
von Ergebnis zu Ergebnis wahrer. Zusammenfassend lassen sich namlich drei
Dilemmata greifen. Sie sind — nicht anders als bei den alten Griechen — »zweitei-
lige Annahmen«, die zur Wahl zwischen gleich unangenehmen Dingen verleiten‘.
Das Wunder: der vollständige Systemwandel, muß in Ungarn noch vollbracht wer-
den, da die Einberufung des ersten frei gewählten Parlaments? nach gut vier Jahr-
zehnten im Frühling 1990 streng genommen nur die letzte Wende in der allerjüng-
sten politischen Geschichte des Landes markierte. In der ersten Hälfte der achtzi-
ger Jahre war bekanntlich ein oppositionelles — nicht mehr nur nonkonformisti-
sches — Aktionssystem neben das offizielle getreten und hatte sich schrittweise auf
einer intellektuell-bürgerlichen, einer intellektuell-populistischen und einer
reformkommunistischen Ebene zu artikulieren begonnen. Die wirtschaftlichen
und politischen Krisen des Landes hatte auch das Regime wahrgenommen, jedoch
ohne sie gleichermaßen bekämpfen zu wollen. Nach der Ablösung ihres langjähri-
gen Vorsitzenden Jänos Kädär hatte die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei
ihre Interessen durch eine vorsichtige Vertiefung der Wirtschaftsreform teilweise
denjenigen der Opposition angenähert, sich aber dagegen gesträubt, auf das politi-
sche Monopol zu verzichten. Da sie ihre Positionen an den Schaltstellen der
Staatsführung wegen wiederholter Mißgriffe bei der Sanierung der Wirtschaft, der
innerparteilichen Gegensätze und des Verfalls des östlichen Bündnissystems weder
innen- noch außenpolitisch zu behaupten vermocht hatte, war ihr Widerstand
gegen die systemische Pluralisierung ’ bald gebrochen, die dann eher durch Koope-
* Abschluß des Manuskripts: 31. Dezember 1992.
Philosophisches Wörterbuch, begründet von Heinrich Schmidt, 20. Auflage, neu bearbeitet
von Georgi Schischkoff, Stuttgart 1978, S. 125.
2 Zu seiner personellen und parteipolitischen Zusammensetzung: Szabadon valasztott. Par-
lamenti almanach 1990, Budapest 1990. Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom
25. März und 8. April 1990: »A parlamenti välasztäsok eredménye« in: Lajos Pändi, A
keleteurópai diktatúrák bukása (Kronológia, dokumentumok, bibliográfia), Szeged 1991,
S. 483.
3 Zu deren wirtschafts- und außenpolitischen Rahmenbedingungen: Klaus-Detlev Grothu-
sen, »Außenpolitik« in: Ungarn, herausgegeben von Klaus-Detlev Grothusen, Göttingen
paani
Lengyel - Warten auf das Wunder 261
ration als Konfrontation der an ihr unmittelbar Beteiligten gekennzeichnet gewe-
sen war‘.
Bereits im Vorfeld der eigentlichen Wende herrschten wieder die Konflikte vor.
Sie traten danach im Rahmen der neuen politischen Ordnung auf. In ihrem Kern
verbarg sich der durch die innere Entwicklung der Opposition vorprogrammierte
Gegensatz zwischen Interessen und Normen der Träger des sich wandelnden
Systems, die zuvor nur ihre Interessen angeglichen hatten‘. Während der nachfol-
gend bis Ende 1992 in Grundlinien nachgezeichneten Ereignisse‘ hatten sie sich
hauptsächlich im ideologischen, im wirtschaftlichen und im außenpolitischen
Bereich mit zwiespaltstiftenden Optionen auseinanderzusetzen.
1. Institutionell-rechtliche Umgestaltung und ideologische Neuorientierung
Nach mehreren gesetzlich verankerten Änderungen der überlieferten Grundprinzi-
pien des Staates wurde am 23. Oktober 1989 eine umfassend reformierte, vorläu-
fige Verfassung verabschiedet, die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ihren
1986, S. 107-145; Peter Hardi, »A nyolcvanas &vtized magyar külpolitikäja« in: Sztaliniz-
mus és desztälinizäciö Magyarországon. Felszämoltuk-e a szovjet rendszert? Politikai tanulma-
nyok, Bern 1990, S. 169-175; Andreas Wass von Czege, »Ungarns Wirtschaftsreformen
unter geänderten Rahmenbedingungen« in: Südosteuropa in der Ära Gorbatschow, heraus-
gegeben von Walter Althammer, München 1987, S. 65-73.
4 Aus der inzwischen überaus reichhaltigen Literatur zum Niedergang des Einparteiensy-
stems in Ungarn seien erwähnt: Attila Ägh, A szazadveg gyermekei, Budapest 1990; Jenö
Bangó, »Anzeichen des Nonkonformismus in Ungarn« in: Ungam-Jahrbuch 14 (1986),
S. 147-192; Peter Kende, »Leistungen und Aussichten der demokratischen Opposition in
Ungarn« in: Die Rolle oppositioneller Gruppen. Am Vorabend der Demokratisierung in Polen
und Ungarn (1987-1989), herausgegeben von A. Smolar/P. Kende, Köln 1989, S. 64-93;
Pierre Kende/Paul Gradvohl, »Der Rohbau eines politischen Systems im Belastungstest:
Die Jahre 1989 bis 1991 in Ungarn« in: Südosteuropa 41 (1992), S. 495-507; Läszlö Len-
gyel, Micsoda év!, Budapest 1991; Szilveszter Póczik, »Zwischen Hoffnung und Zweifel.
Ungarns jüngster Weg in die Demokratie« in: Ungam-Jahrbuch 19 (1991), S. 263-285.
Die Bandbreite der oppositionellen Standorte bis 1989/1990 fangen in Gesprächen mit
ausgewählten Führungspersönlichkeiten ein: Katalin Bossányi, Szölampröba. Beszélgetések
az alternativ mozgalmakröl, Budapest 1989; Hans-Henning Paetzke, Andersdenkende in
Ungarn, Frankfurt/Main 1986. Zusammenfassend: Zsolt K. Lengyel, »Ungarische Oppo-
sition« in: Das neue Osteuropa von A-Z. Neueste Entwicklungen in Ost- und Südosteuropa,
herausgegeben von Peter Rehder, München 1992, S. 765-766.
5 Neben den in FN 4 angegebenen Werken siehe hierzu den Sammelband A többpartrend-
szer kialakulása Magyarországon 1985-1991. Tanulmanykötet, herausgegeben von Mihaly
Bihari, Budapest 1992.
6 Dem an Einzelheiten und weiterführender Literatur interessierten Leser sei das bisher in
vier Bänden vorliegende Politische Jahrbuch Ungams empfohlen: Magyarorszag politikai
évkönyve 1988, 1990, 1991, 1992, szerkesztette Sandor Kurtän / Péter Sandor / László
Vass, Budapest 1989, 1990, 1991, 1992. Eine Chronologie des Systemwandels zwischen
April 1990 und März 1992 bietet Félúton 1992. A Nemzeti Megujhodas Programjának első
két éve. A Miniszterelnöki Sajtóiroda kiadása, Budapest 1992, S. 122-159.
ZfP 40. Jg. 3/1993
262 Lengyel - Warten auf das Wunder
endgültigen Text erhalten soll’. Sie sah anstelle des früheren Präsidialrats das Amt
des Staatspräsidenten vor, in das am 2. August 1990 der Schriftsteller und Uberset-
zer Arpad Göncz vom Parlament für vier Jahre gewählt wurde. Die zweite bedeu-
tende verfassungsrechtliche Neuerung bezog sich auf die Volksvertretung. Das
Einkammerparlament wurde anstelle des Ministerrats, der früheren Exekutive, die
höchste, auf vier Jahre gewählte Staatsgewalt. Ende 1989 bestätigte es gesetzlich
das praktisch bereits existierende Mehrparteiensystem und setzte damit sowohl die
Suprematie der ehemaligen Staatspartei als auch dessen Erhaltungselement, den
demokratischen Zentralismus, außer Kraft. 1990-1992 widmete es sich — neben der
Gründung rechtsstaatlicher Organe! — hauptsächlich der Beseitigung der übrigen
Grundprinzipien des vormaligen Systems, nämlich der sozialistischen Rechtsauffas-
sung, der Planwirtschaft, der zentralen Verwaltungsorgane, der Sonderverwaltungen
und der allgemeinen örtlichen Verwaltung. Das Ende der Zugehörigkeit zum sowjeti-
schen Hegemonialbereich verkündete es im Frühsommer 1991, als die Besatzungs-
truppen abgezogen und gleichzeitig der Warschauer Pakt sowie der Rat für
Gegenseitige Wirtschaftshilfe aufgelöst wurden’.
Das dritte Grundelement des neuen Systems entstammt dem Konzept der poli-
tisch starken Regierungsmacht. Die Verfassungsreform vom Oktober 1989 über-
nahm mit der Machtverteilung zwischen Staatspräsident, Parlament und Regie-
rung den Maßstab der westlichen Demokratien mit parlamentarischem Regie-
rungssystem. Dementsprechend wurde die aus Mitgliedern des Ungarischen
Demokratischen Forums (Magyar Demokrata Förum, MDF), der Unabhängigen
Kleinlandwirte-, Landarbeiter- und Bürgerpartei, kurz Unabhängige Kleinland-
wirtepartei (Független Kisgazda-, Földmunkäs &s Polgär Pärt, FKgP), der Christ-
lich-Demokratischen Volkspartei (Keresztenydemokrata Néppárt, KDNP) sowie
aus Unabhängigen formierte Regierung" nicht vom Staatspräsident bestimmt,
sondern in dessen Auftrag nach Anhörung der Fraktionsvorsitzenden gebildet. Sie
7 Ferenc Majoros, »Änderung der ungarischen Staats- und Verfassungsordnung. Teil I-II«
in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 17,
27/1990. Die allgemeinen Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Neuerungen im
innerstaatlichen Bereich stellt dar Holger Lietz, »Ordnungs- und Stabilisierungspolitik
im ungarischen Transformationsprozeß« in: Südosteuropa Mitteilungen 32 (1992) 1,
S. 10-34. Siehe auch die einschlägigen Aufsätze in: Politischer Pluralismus und Verfassungs-
staat in Deutschland und Ungarn, herausgegeben von Georg Brunner, München 1992.
8 Wie des Verfassungsgerichts, des Rechnungshofs und des von der Volksvertretung
bestellten Ombudsman: Majoros: Änderung der ungarischen Staats- und Verfassungsord-
nung, II, aaO.
9 Zsolt K. Lengyel, »Ungarn« in: Das neue Osteuropa von A-Z, aaO., S. 777; Silvia Topf,
»COMECON«g in: Das neue Osteuropa von A-Z, aaO., S. 170. Zu den Strukturmerkmalen
des kädäristischen Systems: Georg Brunner, »Das Regierungssystem. Verfassung und
Verwaltung« in: Ungam, aaO., S. 213-249.
10 Die drei Koalitionsparteien zogen 1990 mit insgesamt 42,58 % der auf die Komitatslisten
verteilten Wählerstimmen ins Parlament; Ende 1991 verfügten sie über 59 % der Abge-
ordnetenstimmen: Kathrin Sitzler, »Parteiensystem und Gesellschaft in Ungarn« in: Süd-
osteuropa 41 (1992), S. 177, A parlamenti välasztäsok eredménye, aaO., S. 483.
Lengyel - Warten auf das Wunder 263
übt seither die Funktionen des ehemaligen Ministerrats unter alleiniger und
umfangreicher Richtlinienkompetenz von Jözsef Antall (MDF) aus. Über die
angemessene Ausdeutung des Prinzips politisch starke Regierungsmacht herrschte in
der ersten Hälfte der Legislaturperiode allerdings Unklarheit, da der Ministerprä-
sident sowohl zentralistische als auch antidirigistische Richtungen innerhalb seines
Kabinetts unterstützte oder zumindest gewähren lief".
Die Umgestaltung alter und die Schaffung neuer Staatsorgane spiegelt den
friedlichen Systemwandel wider, der ja eher einer Refolution!: als einem Aufstand
glich: Politische Führungsgruppen festigten ihre Interessen- und Machtlagen und
brachten ihre Reformen durch deren Verrechtlichung zu Ende, ohne dabei durch
gesellschaftliche Umwälzungen oder gar militärische Auseinandersetzungen aufge-
halten oder radikalisiert worden zu sein. Doch gerade weil diese »Revolution
ohne Revolutionäre«!* das Werk von gemeinsam aufsteigenden, bald jedoch aus-
einanderdrängenden Eliten war, mußte sie spätestens anläßlich des Wahlkampfes
1989/1990 einen ideologischen Widerstreit verursachen, in dem die Kommunisten
keine Hauptrolle mehr spielten. Bald stritten vornehmlich die neuen und die neu
belebten historischen Parteien mitsamt Fraktionen und Flügeln um die weiteren
Inhalte und Formen des Systemwandels; unterschiedliche gesellschaftliche Interes-
sengruppen — etwa die Gewerkschaften — meldeten sich in der ersten Phase des
ungarischen Postsozialismus auffällig selten zu Wort'*. Dieser Umstand verlieh
den Auseinandersetzungen zwischen den Demokraten, als welche sich ja alle
Beteiligten bezeichneten, einen verstärkt subjektiv-ideellen Charakter. An mate-
riellen Werten ausgerichtete pragmatische Interessen wurden oftmals überlagert
von emotionell definierten moralischen Normen, die in der überlieferten Bipolari-
tät des ungarischen Geisteslebens * liberale und konservative, oder progressive und
11 So das Ministerium für Internationale Wirtschaftsbeziehungen bzw. das Finanzministe-
rium. Tamas Bauer, »Ungarn« in: Osteuropa-Perspektiven. Polen, Tschechoslowakei,
Ungarn, Herausgeber Frankfurter Allgemeine Zeitung Informationsdienste — Dresdner
Bank. 2., unveränderte Auflage Frankfurt/Main 1992, S. 20. Das Programm der Antall-
Regierung: »A nemzeti megüjuläs programja (1990. mäjus 23)« in: Pändi, A keleteuröpai
diktatúrák bukása, aaO., S. 488-516. Über das neue Regierungssystem Ungarns siehe z. B.
Peter Schmidt, »The Constitutional Contradictions of Hungarian Parliamentarism« in:
Magyarország politikai évkönyve 1992, aaO.; Andras Körösenyi, »Hatalommegosztas és
parlamentarizmus. Magyarország, 1991« in: Magyarország politikai évkönyve 1992, aaO.,
S. 58-62; Kende/Gradvohl, Der Rohbau ..., aaO., S. 501-504.
12 Reform + Revolution, nach Timothy Garton Ash, zitiert bei László Lengyel, »Megjött a
tél. Szakértelem és profécia« in: 2000, 1990/Dezember, S. 3.
13 Vgl. die Beiträge zu Ungarn in: Democracy and Political Transformation. Theories and East-
Central European Realities, hg. von György Szoboszlai, Budapest 1991.
14 Wie die ungarische »Refolution« bei Francois Fejtö / Ewa Kulesza-Mietkowski, La fin
des democraties populaires. Les chemins du post-communisme, Paris 1992, S. 505, heißt.
15 Bauer, Ungarn, aaO., S. 19-20; Máté Szabó, »Das erste Jahr der Republik Ungarn: Von
der Etablierung der parlamentarischen Demokratie zu ihrer ersten Krise« in: Südosteu-
ropa 40 (1991), S. 156-159; Sitzler, Parteiensystem, aaO., S. 173-175.
16 Vgl. Péter Värdy, »Identitätsmodelle und Zukunftsbilder. Populisten, Urbane und die
Judenfrage zwischen den beiden Weltkriegen« in: Ungarn-Jahrbuch 17 (1989), S. 227-240.
ZfP 40. Jg. 3/1993
264 Lengyel - Warten auf das Wunder
retrograde, oder bürgerliche und volkstümliche, oder sozialistische und nationale,
oder urbane und populistische, oder moderne und agrarische, und letztlich nicht
nur unterschwellig jüdische und christliche Standpunkte gegeneinanderstellten.
Deren Vertreter waren im politischen Leben hauptsächlich der Verband Freier
Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége, SZDSZ) und das MDF, also die
mit 90 und 161 Parlamentsmandaten größte Oppositions- beziehungsweise Regie-
rungspartei ”.
Das Dilemma ist das der meisten neuen politischen Eliten. Sollen diese den
Staat entweder nach nationalkonservativem beziehungsweise sozialliberalem Pro-
gramm aufbauen? Damit nährten sie die gefühlsmäßige Spaltung der politischen
Öffentlichkeit. Oder sollen sie in einer großen Koalition nach einer Nivellierung
der ideologischen Normen streben? Damit könnten sie das Profil des Parteienplu-
ralismus abfahren, ferner der staatlichen Übermacht gegenüber der Gesellschaft
Vorschub leisten. Ehe es erkannt wurde, trat dieses Dilemma anläßlich der Kom-
‘munalwahlen im September und Oktober 1990 in seiner ganzen Tragweite hervor.
Beim ersten Wahlgang blieb die Beteiligung vielerorts unter den erforderlichen
40 %; der zweite Urnengang brachte den wenigen Monaten zuvor Triumphieren-
den eine empfindliche Niederlage. In der Hauptstadt erreichte das MDF nur
27,35 % gegenüber 34,68 % des SZDSZ, der mit Gabor Demszky den Bürgermei-
ster stellte. Landesweit erlitten beide großen Parteien schmerzliche Einbrüche:
71 % der Gemeindevertreter und 82 % der Bürgermeister kamen aus den Reihen
der Unabhängigen - zumeist ehemalige Ratsvorsitzende, also Kommunisten. Auch
sank die Zahl der Wähler weiter, nämlich auf 29 %1*. Das Gesamtergebnis bestä-
tigte im negativen Sinne die isolierte Elitenkonkurrenz und die grassierende Poli-
tikverdrossenheit der Bevölkerung; außerdem war ihm eine erste Kritik an der
vorherrschenden ideologischen Norm der institutionell-rechtlichen Umgestaltung
zu entnehmen.
Auf der ersten Ebene des Dilemmas, die von nationalkonservativem und libera-
lem Standort gestützt wird, mehrten sich bei der beginnenden Festsetzung des
politischen Systems die Anzeichen für eine gegenseitige Behinderung der beiden
maßgeblichen Elitengruppen. Das gespannte Verhältnis zwischen Regierung und
Staatspräsident Arpad Göncz (SZDSZ) ging auf unterschiedliche Interpretationen
von dessen Machtbefugnissen zurück. Die oppositionellen Theoretiker legten
dabei wenig Konsequenz an den Tag, brachen sie doch am Vorabend der Wende
für ein politisch einflußloses Präsidialamt eine Lanze. Nur war damals, im Herbst
1989, der einzige aussichtsreiche Kandidat der Reformkommunist Imre Pozsgay,
17 András Bozóki, »Political transition and constitutional change in Hungary« in: Südosteu-
ropa 39 (1990), S. 538-549; Ervin Csizmadia / Tamás Fricz, »Tävol a demokraciatél« in:
2000, 1990/November, S. 17-21; Szabó, Das erste Jahr der Republik Ungarn, aaO.,
S. 161-164. Zu den programmatischen Zielen der beiden Parteien siehe Magyar Demo-
krata Forum programja, [Budapest] 1989; A rendszerváltás programja. SZDSZ, [Budapest]
1989. Ihre Mandatzahl Ende 1991: Sitzler, Parteiensystem, aaO., S. 176.
18 Sitzler, Parteiensystem, aaO., S. 179-180.
Lengyel - Warten auf das Wunder 265
den die Freien Demokraten wegen seiner engen Verbindungen zu den Populisten,
den Griindern des MDF, fir ihren gefahrlichsten Widersacher hielten; zwei, drei
Jahre später, da einer der ıhren an der Spitze des Staates den Gegenpol Antalls zu
bilden suchte, schienen ihre vormaligen Bedenken verflogen'?. Diese parteiisch
geführte Diskussion, die sich in einer Reihe von innenpolitischen Angelegenhei-
ten2°, am nachhaltigsten im sogenannten Medienstreit niederschlug?!, war 1992
weit davon entfernt, die Vorteile und Nachteile des parlamentarischen, des präsi-
dentiellen und des — erwa nach französischem Muster — gemischten Regierungssy-
stems für Ungarn sachbezogen zu erkunden 2.
Nicht ausgeschlossen war hingegen, daß der Verband Junger Demokraten (Fia-
tal Demokraták Szövetsége, FIDESZ) einen Aufbruch zu neuen staatstheoreti-
schen Erkenntnissen mitsamt praktischer Umsetzung mittragen werden würde.
Immerhin stand er, der sich ebenfalls als liberal bezeichnete, schon aus Altersgrün-
den, aber auch programmatisch zwischen den Urbanen und Populisten, so daß es
wohl auf der Hand lag, von ihm eine Bereicherung des ideologischen Grundmu-
sters der ungarischen Innenpolitik zu erwarten. Der FIDESZ, der 1990 21 Abge-
ordnete ins Parlament entsandte, ging seit seinem III. Kongreß im Februar 1992
daran, sich alsbald in eine generationsübergreifende Partei umzuwandeln und
seine anfängliche Scheu vor der Regierungsverantwortung zu überwinden ?.
19 Vgl. Göncz Arpad, »titkos« talälkoz6ja« in: 168 óra 4 (1992) 6, S. 4-5; Kende/Gradvohl,
Der Rohbau, aaO., S. 499-500.
20 So bei den Auseinandersetzungen um das nach zwei Abgeordneten des MDF benannte
Zétényi- Takacs-Gesetz. Arpad Göncz lehnte es ab, dieses vom Parlament mit den Stim-
men der Mehrheitsfraktionen am 4. November 1991 angenommene Gesetz über die
»Ahndbarkeit der zwischen dem 21. Dezember 1944 und 2. Mai 1990 begangenen und
aus politischen Gründen nicht verfolgten schweren Straftaten«, also über die Verlänge-
rung der Verjährungsfristen, zu verabschieden, und beantragte seine Prüfung durch das
Verfassungsgericht. Dieses erklärte das Gesetz Anfang März 1992 für verfassungswidrig
(»Aufhebung der Verjährung verworfen« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. März
1992; Georg Paul Hefty, »Im Namen der Republik« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 5. März 1992).
21 Da die Regierung im Rundfunk und Fernsehen eine ausgewogene Berichterstattung für
akut gefährdet sah, unterbreitete Ministerpräsident Antall 1992 kraft seiner verfassungs-
rechtlichen Befugnis die Amtsenthebung von Elemer Hankiss und Csaba Gombär, der
beiden Medienpräsidenten; zwei Parlamentsausschüsse unterstützten ihn dabei. Da sich
Staatspräsident Göncz weigerte, die Vorschläge gegenzuzeichnen, blieben die Intendan-
ten im Amt — zur Genugtuung vor allem des SZDSZ, welcher der Regierung unterstellte,
unter dem Vorwand disziplinarischer Maßnahmen ihren Einfluß auf die elektronischen
Medien ausdehnen, somit ihrerseits die Pressefreiheit einschränken zu wollen. Ende 1992
waren Hankiss und Gombär nahe daran, zurückzutreten (»Jözsef Antall zu innenpoliti-
schen Fragen« in: Ungarische Wochenschau 1 (1992) 16, S. 1; »»Vollendete Tatsachen nicht
anerkennen. Mit dem ungarischen Ministerpräsidenten sprach Georg Paul Hefty« in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Dezember 1992).
22 Vgl. als eine Ausnahme Körösenyi, Hatalommegosztäs, aaO. Zur Problematik neuer-
dings grundsätzlich: Arend Lijphart, »Presidentialism and Majoritarian Democracy:
Theoretical Observations« in: Democracy and Political Transformation, aaO., S. 75-93.
23 »Fiatal Demokraták Szövetsége (FIDESZ)« in: Magyarország politikai évkönyve 1990,
7fP 40. Ie. 3/1993
18
266 Lengyel - Warten auf das Wunder
Bis zu den nächsten Parlamentswahlen 1994 wird es sich entscheiden müssen,
ob eine jungdemokratisch beeinflußte Neudefinierung des vom SZDSZ linksge-
richteten ungarischen Liberalismus möglich ist. Eine solche Entwicklung der poli-
tischen Kultur setzt freilich voraus, daß der Begriff Liberalismus sich nicht nach
dem Geschmack eines vom Schriftsteller und Parlamentsabgeordneten Istvan
Csurka geprägten MDF-Flügels als Schimpfwort ins Vokabular der Lenker und
der Gelenkten festsetzt?*. Es muß sich überdies herausstellen, ob diese Ideologie
fähig ist, nach dem Vorschlag eines anderen Flügels der größten Regierungspartei
die Eigenschaften eines »doktrinären Liberalismus« abzulegen und diejenige eines
»nationalen Liberalismus« aufzunehmen, oder ob ein Teil der Führung des
FIDESZ, aber auch Kritiker aus forumnahen Kreisen mit dem Einwand recht
behalten, wonach der Liberalismus keine nationale Prägung nötig habe, da er sie
ursächlich aufweise. Der Begriff »nationaler Liberalismus« entbehre der Griff-
kraft, er sei eine Tautologie *.
Diese Kritik schafft den Übergang zur zweiten Ebene unseres ersten Dilemmas,
auf der die Beschaffenheit des Parteienpluralismus im Vordergrund steht und die
1991/1992 eine gewisse Destabilisierung des parlamentarischen Lebens erkennen
ließ. Deren Hauptursachen lagen in der Führungskrise der größten Oppositions-
partei und im abnehmenden Einheitswillen beim Koalitionsführer sowie in den
Spaltungserscheinungen der Kleinlandwirte, untermalt vom Austritt ihrer soge-
nannten 10er Fraktion aus der Regierungskoalition im Februar 1992. Peter Töl-
gyessy löste im November 1991 Janos Kis, den linksliberalen Vorsitzenden des
SZDSZ, in der erklärten Absicht ab, die Spannungen zwischen seiner Partei und
den nationalgesinnten Gruppierungen im Lande — so auch den Kirchen - zu ent-
schärfen; zwölf Monate später mußte er Ivän Petö vom Gegenflügel, einem Befür-
worter der konfrontativen Regierungskritik, weichen2*. In dieser Zeitspanne ver-
sammelten sich um Istvan Csurka Anhänger eines nationalen Radikalismus, die mit
eigensinnig vermischten antibolschewistischen, antiliberalen und antikapıtalisti-
schen Parolen aus der offiziellen Richtung ihrer Partei immer wieder ausscherten
und offenbar mit dem Gedanken spielten, das MDF durch Verdrängung Jözsef
aaO., S. 494-500; »A parlamenti választások eredmenye« in: Pándi, A keleteurópai dikta-
túrák, aaO., S. 483; János Ader, »Miniszterjelöltekröl korai még beszelni« in: Magyar Hír-
lap, 24. November 1992. Vgl. Béla Pomogáts, »Tiszta lappal« in: Élet és irodalom 26
(1992) 14, S. 5.
24 So z. B. im Pamphlet über »zwei Jahre Systemwandel« und »das Programm des MDF«
von Istvan Csurka, Néhány gondolat a rendszerváltozás két esztendeje és az MDF új pro-
gramja kapcsán, Budapest 1992.
25 Angaben und Kritik dazu bei Gusztáv Molnár, »Nemzeti liberalizmus« in: Limes 1 (1991)
1, S. 20-23, und Gusztáv Molnár, »Az igen és a nem határán. A liberalizmus esélyei
Közép-Európában és környékén« in: Limes 1 (1991) 3, S. 2-5. Vgl. in seinem Sinne:
»Kelts vihart, s uralkodj'!« in: 768 óra 4 (1992) 4, S. 9. Zu den Liberalen im MDF siehe
eine repräsentative Auswahl ihrer Grundsatzstellungnahmen und wissenschaftlichen
Essayistik: Esélyek és remények a Kárpát medencében 1992, főszerkesztő Nahimi Péter,
Budapest 71992.
26 Tamás Fricz, »Minden tisztázódott?« in: Köztärsasag, 27. November 1992.
Lengyel - Warten auf das Wunder 267
Antalls von der Spitze und gegen dessen ausdrücklichen Willen?’ aus dem Zentrum
in ein schillernd rechtes Spektrum zu rücken. Auf ihre Absicht ließen sie allerdings
keine Taten folgen, die einen Zerfall des MDF herbeigeführt hatten?* - Csurka
befand sich im Herbst 1992 sogar zeitweilig im Rückzug, seine nationalliberalen
Widersacher mit Antall auf dem Vormarsch —, während die sogenannte 33er, von
ihrer eigenen Parteiführung abgespaltene Fraktion der Kleinlandwirte dem Koali-
tionsführer weiterhin die Treue hielt. Diese Gesten gewannen jedoch nicht den
Stellenwert einer Aussage für eine langfristige, womöglich über 1994 hinaus unter
der einigen Führung des MDF beständige Mitte-Rechts-Koalition ”.
Das zunehmende Machtbewußtsein des FIDESZ berechtigte außerdem zur
Annahme, daß sich die neue ungarische Demokratie im dritten und vierten Jahr
ihres Bestehens auf ein fragmentiertes Mehrparteiensystem hin entwickeln werde,
das mit seinen nur relativen — ja möglicherweise instabilen, leicht abwählbaren -
Mehrheiten den Bürgern in der alltäglichen Praxis der Demokratie größere Entfal-
tungsräume zu bieten vermag als das Zweiparteiensystem. Der FIDESZ, der seine
hohen Popularitätswerte 1991/1992 zu Lasten des MDF und des SZDSZ erwarb”,
meldete immer selbstbewußter, wiewohl nicht einheitlich, den Anspruch an, zwi-
schen linkem und rechtem Liberalismus zu vermitteln oder notfalls über die beiden
Extreme als dritter Sieger zu richten. Jedenfalls war er nicht mehr wegzudenken
aus jener vielfach erhofften >? Abstimmung auf einen Liberalismus, der die Nation
in der ethnisch-gemeinschaftlichen und bürgerlich-individualistischen Dimension
gleichmäßig zu gewichten sucht, also ein System von politischen Leitwerten her-
vorbringen will, in dem sich die Angst vor der und der Stolz auf die Nation die
Waage halten. Einer solchen neuungarischen freisinnigen Ideologie war es — neben
anderen Aufgaben — aufgetragen, den fortdauernden Systemwandel vor einem
Abgleiten ins Fahrwasser des im gegenwärtigen Ost- und Südosteuropa vielerorts
27 »Antall elhatárolódott Csurkätöl« in: Népszabadság, 1. September 1992.
28 Wie von Victor Meier, »Antall zwischen Rechts und Links« in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 18. Dezember 1992, übereilt und desinformierend festgestellt.
29 Vgl. Sandor Faggyas, »Nemzeti liberálisok. Politikai mazochizmus?« in: Köztársaság,
27. November 1992; Istvan Csurka, »Helyszini közvetítés. Egy hét dsszefiiggései« in:
Magyar Forum, 26. November 1992, »A nemzet és demokrácia iránti elkdtelezettséggel«
in: Uj Magyarorszdg, 1. Dezember 1992; »Vollendete Tatsachen nicht anerkennen«, aaO.
30 »Kısgazdäk és a nagy botranyok« in: 768 óra 4 (1992) 8, S. 4-5. Vgl. Andreas Schmidt,
»Die Unabhängige Kleinlandwirte-Partei im gegenwärtigen Ungarn: Versuch einer politi-
schen »Wiederbelebung«« in: Südosteuropa-Mitteilungen 32 (1992), S. 281-301.
31 »Ki szereti a narancsot?« in: 168 óra 4 (1992) 7, S. 6-7.
32 Vgl. Gusztáv Molnar, »Politikai häromszög« in: Világszövetség, 15. Oktober 1992; Ese-
lyek és remények a Kárpát medencében, aaO.
33 Wie es in der Verlautbarung über die »Nation und die nationalen Minderheiten«, welche
die Minderheitensektion des FIDESZ am 8. Februar 1992 auf dem IV. Parteikongreß
gedruckt herausgab, nachzuvollziehen ist: A FIDESZ állásfoglalása a nemzetről és a
nemzeti kisebbségekről.
7{P 42. le. 3/1993
18*
268 Lengyel - Warten auf das Wunder
tobenden oder bedrohlich aufkeimenden Nationalismus * zu bewahren und auch
dadurch den Glauben im Bürger zu stärken, daß es sinnvoll ist, sich an der Demo-
kratie zu beteiligen.
2. Wirtschaftlicher Modellwechsel und soziale Befriedung der Gesellschaft
Die erste Regierung des postsozialistischen Ungarn trat mit der wirtschaftspoliti-
schen Hauptaufgabe an, die Planwirtschaft und deren Folgen zu beseitigen».
Anstelle des früheren Staatlichen Planungsamtes rief sie Fachministerien für die
Einführung der Marktwirtschaft und die Behandlung der sozialen Probleme ins
Leben, die teils das alte Regime vererbt hatte, teils unter den neukapitalistischen
Bedingungen entstanden waren. Seit August 1990 regelt ein Selbstverwaltungsgesetz
neben den politischen auch die privatwirtschaftlichen Belange der Gemeinden *.
Dem Antall-Kabinett schwebte eine soziale Marktwirtschaft vor, ın welcher der
Grad der Liberalisierung der Eigentumsformen bis zu den Parlamentswahlen 1994
den westlichen Standard erreicht. Dazu wollte es die Eigentumsreform mit einer
Privatisierung verbinden und durch neue Unternehmensstrukturen abstützen ”.
Die langersehnte Modernisierung der Wirtschaftsstruktur griff 1990/1991 nicht
durch. Noch stand die Schadensbegrenzung an erster Stelle, vor allem die Abwen-
dung der nach wie vor akuten Gefahr der Zahlungsunfähigkeit und des Gleichge-
wichtsverlustes im Staatshaushalt. In jenem Jahr wurden zunächst Bankanlagen im
Wert von 800 Millionen Dollar aus dem Land abgezogen. Obwohl nichtungari-
sche Anleger bald wieder Vertrauen zum ungarischen Markt faßten und auch die
Summen der einheimischen Devisenanlagen stiegen, blieben schließlich die auslän-
dischen Investitionen unter dem gewünschten Ausmaß. Die Inflation drohte aus
der Kontrolle zu geraten, während der Ausbau der unterentwickelten Infrastruk-
tur stockte. Die rund 1500 Joint Ventures spielten im ungarischen Wirtschaftsle-
ben eine zweitrangige Rolle; die ausländischen Anleger waren eher vorsichtig, die
inländischen aus Kapitalmangel zum größeren Einsatz unfähig. Die Zahl der wirt-
schaftlichen Kalamitäten erhöhte sich infolge des rasanten Zusammenbruchs des
ost- und südosteuropäischen Marktes, der die abgestufte Umorientierung zum
westlichen Markt hin verhinderte und der Außenwirtschaft höchste Absatzschwie-
rigkeiten bereitete. Zu allem Überdruß kamen im Sommer 1990 zwei unvorherseh-
bare Ereignisse hinzu: Die langanhaltende Dürre traf die ansonsten überaus
exportfähige Landwirtschaft besonders hart, und die nach der irakischen Beset-
34 Vgl. Nationalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie, herausgegeben von
Margareta Mommsen, München 1992.
35 Bei ihrem Antritt kennzeichneten die ungarische Wirtschaft »Stagnation, Inflation, ein
veralteter Produktionsapparat und starke Umweltverschmutzung«: Bauer, Ungarn, aaO.,
S. 19.
36 Lengyel, Megjött a tél, aaO.; Csizmadia/Fricz, Távol a demokráciától, aaO.
37 Gerd Biro, »Diversifizierung der ungarischen Außenwirtschaftsbeziehungen« in: Südost-
europa 39 (1990), S. 527-537; Gerd Biro, »Privatisierung in Ungarn« in: Südosteuropa 39
(1990), S. 673-685.
Lengyel : Warten auf das Wunder 269
zung Kuweits drastisch angestiegenen Erdölpreise bürdeten dem auf westliche
Devisenabrechnung umgestellten östlichen Außenhandel neue Lasten auf *.
Der wirtschaftliche Modellwechsel war also notgedrungen von Kürzungen der
staatlichen Subventionen, beschleunigten Konkursverfahren bei etwa 100 Großbe-
trieben, zunehmender Arbeitslosigkeit, Preiserhöhungen und — 1991 bis auf 35 %
anwachsender — Inflation begleitet. Der Plan der Regierung, neue Arbeitsplätze
durch Sonderinvestitionen zu schaffen, soziale Hilfsfonds einzurichten und bei
Bedarf die Möglichkeit der Umschulung anzubieten, war wegen akuter Finanz-
schwäche nur bedingt auszuführen, während die Drosselung des inländischen
Konsums, die pünktliche Tilgung der rund 20 Milliarden Dollar Auslandsschulden
und die Bewahrung der internationalen Kredirwürdigkeit weiterhin als ökonomi-
sche Leitprinzipien gelten mußten ”.
Daß die Wirtschaftspolitik sich dem allgemeinen Krisenmanagement und den
aktuellen Fragen des Überlebens unterordnet, ist aus der jüngsten Geschichte
Ungarns wohl bekannt“. Neu an ihr war 1990-1992, daß sie sich in die Elitenkon-
kurrenz einband und nicht mehr - wie in den achtziger Jahren — die Anklageschrift
gegen ein alleinherrschendes Machtzentrum verlängerte. So wurde der Privatisie-
rungsprozeß nicht nur durch eine unbewegliche Bürokratie, überzogen hochge-
setzte Preise und ungünstige Finanzierungsangebote gebremst“. Zwischenparteili-
che Meinungsverschiedenheiten behinderten die gesetzliche Vorbereitung der
Bodenreform zusätzlich, vor allem im Zusammenhang mit der Frage, ob und wie
die Reprivatisierung, also die Wiederherstellung des Eigentumsrechts der
ursprünglichen Besitzer und von deren Nachkommen, ablaufen soll beziehungs-
weise wie Letztgenannte zu entschädigen und/oder mit einem Schadenersatz
zufriedenzustellen wären. Immerhin ersparte sich die ungarische Regierung die
Konflikte, die Bonn/Berlin aus dem Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung«
erwachsen waren, indem sie die »spontane Privatisierung« unter Kontrolle der
Staatlichen Vermögensagentur in erster Linie durch Verkauf vornehmen und gege-
benenfalls ehemalige Eigentümer als Entschädigung zum Kauf von Anteilen
berechtigen ließ“. Die streitbaren Kleinlandwirte, die im Wahlkampf 1990 eine
38 Zsolt K. Lengyel, »Ungarisches Krisenmanagement« in: Das neue Osteuropa von A-Z,
a20., S. 767-769; Peter-Udo Rosenau, »Ungarn zur Jahresmitte 1991« in: Wirtschaftslage,
Bundesstelle für Außenhandelsinformation, Juli 1991, S. 3.
39 Rosenau, Ungarn zur Jahresmitte 1991, aaO., S. 2-3.
40 Andreas Wass von Czege, »Wirtschaftskrise und Systemwandel: Ungarn 1988/1989« in:
Südosteuropa 38 (1989), S. 107-117; Endre Antal, »Ungarns Wirtschaft im Übergang:
Modellwechsel unter außenwirtschaftlicher Bedrängnis und sozialpolitischer Krisenlage«
in: Südosteuropa 38 (1989), S. 173-190.
Bauer, Ungarn, aaO., S. 21; Dag-Uwe Holz, Ungarn, aaO., S. 64. Vgl. Peter-Udo Rose-
nau, »Ungarn zur Jahresmitte 1992« in: Wirtschaftslage, Bundesstelle für Außenhandelsin-
formation, Juli 1992, S. 2; »Stagnation oder Wachstum?« in: Ungarische Wochenschau 1
(1992) 21, S. 5.
42 Holz, Ungarn, aaO., S. 64. Zusammenfassend Brigitta Fischer, »Das Entschädigungsge-
setz von 1991 und die marktwirtschaftliche Umgestaltung des Agrarsektors in Ungarn«
in: Südosteuropa-Mitteilungen 32 (1992) 1, S. 35—44.
4
u
ZfP 40. Jg. 3/1993
270 Lengyel - Warten auf das Wunder
dem rechtlichen Zustand von 1947 angepaßte Bodenreform durch Rückgabe vor
Verkauf und vor Entschädigung forderten *, vermochte dieser Lösungsweg nicht
zufriedenzustellen. Allerdings verließ ihre 10er Fraktion die Koalition im Frühjahr
1992 keineswegs nur aus programmatischen Erwägungen; persönliche Gründe des
Vorsitzenden Jözsef Torgyän, der sowohl innerparteilich als auch bei den Koalı-
tionspartnern mächtig umstritten war und sich deshalb in die Enge getrieben
fühlte, spielten dabei eine mindestens genauso entscheidende Rolle“.
Im Jahr der Wende, als das Ende der sozialen Schonzeit eingeläutet war, regte
sich landesweit Widerstand in der Bevölkerung. Als Antwort auf die neuerliche
Anhebung der Benzinpreise — diesmal um rund 65 % — blockierten Ende Oktober
1990 private Taxi- und Speditionsunternehmen alle wichtigen Straßenverbindun-
gen der Hauptstadt und der Provinz #. Die vom SZDSZ unterstützte und teilweise
mitorganisierte Verkehrsblockade lähmte für zwei Tage das öffentliche Leben der
gesamten Republik, löste die erste Regierungskrise mit Kabinettsumbildung aus,
und erinnerte alle verantwortlichen Erben der sozialistischen Altlasten an das
zweite Dilemma des Systemwandels. Sollten sie den wirtschaftlichen Modellwech-
sel vordergründig im politisch-rechtlichen Bereich absichern? Damit konzentrier-
ten sie sich zu stark auf die klassischen Institutionen des parlamentarischen Regie-
rungssystems und trügen zu wenig zur Akzeptanz ihrer Entscheidungen in der
ungeduldigen Bevölkerung bei. Oder sollten sie die soziale Schonzeit verlängern?
Entsprechende populäre Maßnahmen zehrten wiederum an der konzeptionellen
Substanz der unabdingbaren Strukturumwandlung, gefährdeten mithin erst recht
deren politische Legitimation.
Auf der ersten Ebene dieses Dilemmas, auf der die institutionell-politischen
Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Modellwechsels zu betrachten sind, fällt
das im April 1991 verabschiedete vierjährige Wirtschaftsprogramm des Finanzmi-
nisters Mihäly Kupa vielsagend ins Gewicht. Es postulierte für das laufende Jahr
die Errichtung sämtlicher Institutionen der Marktwirtschaft, für 1992/1993 die
vollständige Liberalisierung des Außenhandels und ein Assoziierungsabkommen
mit der Europäischen Gemeinschaft, für 1994 die Konvertibilität des Forint,
schließlich perspektivisch die EG-Vollmitgliedschaft Ungarns zwischen 1995 und
2000. Obzwar diese kurz- und mittelfristige Planung hohe Anpassungskosten
ankündigte, rief sie keine Gegenwehr vom Schlage der 1990er Verkehrsblockade
hervor. Daß sie als notwendiges, möglicherweise nützliches Übel aufgenommen
schien, sei einerseits auf das hohe Ansehen seines Schöpfers als Sachverständigen-
Politiker zurückgeführt. Andererseits verwandelte Mihäly Kupa mit seinem Bei-
trag das Bild von der starken, weil zentralisierten Exekutive zu einem Bild von der
43 Schmidt, Die Unabhängige Kleinlandwirte-Partei, aaO., S. 294-301.
44 »Sohasem kedveltem a hatalmat« in: /68 dra 4 (1992) 2, S. 4-5; »Kisgazdäk és a nagy
botränyok« in: /68 óra 4 (1992) 8, S. 4-5. Vgl. Schmidt, Die Unabhängige Kleinland-
wirte-Partei, aaO., S. 294-301.
45 Dazu Kende/Gradvohl, Der Rohbau, aaO., S. 501-504.
Lengyel - Warten auf das Wunder 271
starken, weil auch mehrpoligen Exekutive. Ohne ein sogleich wirkendes Mittel
gegen die Politikverdrossenheit der Bürger aufgetischt zu haben, vermochte er
damit zumindest deren Ängste vor einer undemokratischen Machtanballung an
der Staatsspitze abzubauen “.
Auf der zweiten Ebene dieses Dilemmas, nämlich jener der sozialen Verträglich-
keit, waren populäre Maßnahmen, die den Übergang zur Marktwirtschaft taktisch
hinauszögern sollten, ebensowenig zu beobachten wie prinzipielle Gründe für das
ungleichmäßige Tempo des Übergangs. Eckdaten und Perspektiven des Außen-
handels und der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, der Zahlungsbilanz, des
Inflationsmanagements und der Privatwirtschaft erlaubten Ende 1992 vielmehr
eine nicht mehr nur negative Zwischenbilanz der theoretischen Glaubwürdigkeit
und praktischen Leistung der postsozialistischen Wirtschaftsführung *. Deren von
nationalen und internationalen Wirtschaftsforschungsinstituten insgesamt nicht
46 »Programm der Umgestaltung und Entwicklung der Ungarischen Wirtschaft (Stabilisie-
rung und Konvertibilität)« in: Südosteuropa 40 (1991), S. 262-281. Dazu Holz, Ungarn,
aaO., S. 63-67. Vgl. Istvan Kemény, »A Kupa-programm« in: Magyarorszag politikai év-
könyve 1992, aaO., S. 280-284.
47 Wie Bauer, Ungarn, aaO., S. 20, suggerieren will, wenn er undifferenziert behauptet, daß
die Parteien der Koalition »nur bedingt bereit« seien, »die Marktwirtschaft zu akzeptie-
ren«.
48 Der ungarische Außenhandel verzeichnete im 1. Quartal 1991 eine Umfangsvergröße-
rung gegenüber der Vergleichszeit 1990 um 39,4 % und 40,4 % bei der Ausfuhr bzw. Ein-
fuhr. 1990 und 1991 tätigten Ausländer mehr Investitionen in Ungarn als in allen anderen
Ländern Osteuropas. 1991, als bereits der gesamte Außenhandel in Hartwährung ver-
rechnet wurde, stiegen Einfuhren und Ausfuhren dynamisch an. Die Mehrzahl der in
Ungarn ansässigen ausländischen Unternehmen stammte aus Österreich und Deutsch-
land mit 30 % bzw. 29 %. Auf die USA und die Schweiz entfielen nur 5 %. Für 1993 rech-
nete die Regierung mit einem Zuwachs des Exports um weitere 5-7 % (Rosenau, Ungarn
zur Jahresmitte 1991, aaO., S. 3; Bauer, Ungarn, aaO., S. 20-21; Holz, Ungarn, aaO.,
S. 65-66; Andras Inotai, »Ungarn« in: Osteuropa-Perspektiven, aaO., S. 43; Stagnation
oder Wachstum?, aaO.). Allerdings erlitt nach Angaben des Ost-Ausschusses der Deut-
schen Wirtschaft der deutsche Handel mit Ungarn 1991 einen Rückschlag: Die Ausfuhr
ging um mehr als 30 % auf 4,2 Milliarden DM, die Einfuhr um rund 5 % auf 4,3 Milliar-
den DM zurück (»Export nach Osteuropa um ein Drittel gesunken« in: Frankfurter Allge-
meine Zeitung vom 27. März 1992). Nach Vorschriften des Internationalen Währungs-
fonds sollte das Defizit des ungarischen Staatshaushalts 1990 bei 10 Milliarden Forint
liegen; es betrug schließlich nur 1,4 Milliarden Forint (1989: 53 Milliarden). Allerdings
veranschlagte der Budgetvorschlag für 1991 einen Fehlbetrag von 78,8 Milliarden Forint.
Nach einem Defizit von 2,9 % des Bruttoinlandsprodukts 1991 wurde für 1992 mit einem
Haushaltsdefizit von nurmehr 2,3 % des Bruttoinlandsprodukts gerechnet. Diese 70 Mil-
liarden Forint wurden aber — mit unablässig nach oben zeigender Tendenz - bereits im
August 1992 um 54 Milliarden überschritten. Dafür zeigte die Zahlungsbilanz mit vor-
aussichtlichen 800 Millionen US-Dollar ein beachtlich starkes Aktivum. Die Inflation
senkte sich 1992 auf den Stand der vorgegebenen Wachstumsrate von 20-25 % und sollte
1993 sogar unter 20 % fallen. 1992 beteiligte sich die Privatwirtschaft am Bruttonational-
produkt mit 40 % (Rosenau, Ungarn zur Jahresmitte 1991, aaO., S. 2; Holz, Ungarn,
aaO., S. 64; Bauer, Ungarn, aaO., S. 22; Stagnation oder Wachstum?, aaO.).
ZfP 40. Jg. 3/1993
272 Lengyel - Warten auf das Wunder
ungeteilter“ Optimismus ’° mußte freilich angesichts des seit 1990 erheblichen,
1992 nur leicht gebremsten Produktionsrückgangs im Lande gedämpft werden.
Dieser wiederum hing mit dem Niedergang des ost-südosteuropäischen Marktes
und der dürftigen Binnennachfrage zusammen und bedingte seinerseits einen
rasanten Anstieg der Arbeitslosenzahl, eine Senkung des Bruttonationalprodukts
um 5 % im Jahre 1992 sowie verschärfte Subventionskürzungen und Preiserhöhun-
gen, alles in allem die Verarmung weiter — diesmal auch mittelständischer — Teile
der Bevölkerung’. Bezeichnenderweise galt es in der ersten Hälfte der neunziger
Jahre auch der Agrar- und Lebensmittelindustrie, der früheren Paradedisziplin der
ungarischen Wirtschaft, zuvörderst auf mehr Rentabilität und Qualität hinzuarbei-
ten und sich bestenfalls mit einem mäßigen Wachstum zu begnügen *?.
Insgesamt betrachtet ließ die Antall-Regierung mit ihren Maßnahmen im öko-
nomischen Bereich keine Zweifel an ihrer politischen Legitimation aufkommen,
sehr wohl aber daran, daß die ungarische Marktwirtschaft in absehbarer Zeit eine
soziale sein könnte. Zwar war abzusehen, daß die Verantwortlichen dem Druck
der unzufriedenen Verbraucher bis zu einem gewissen Grad immer wieder nachge-
ben und die Arbeitslosen- sowie Rentenkasse nebst schließungsgefährdeten Unter-
49 Vgl. Rosenau, Ungarn zur Jahresmitte 1992, aaO.; Stagnation oder Wachstum?, aaO.
50 Das Ministerium für Internationale Wirtschaftsbeziehungen ließ im März 1992 verlauten,
daß für Ende 1992/Anfang 1993 ein erster Konjunkturaufschwung und außerdem eine
Lockerung der Budgetpolitik zu erwarten sei, da die Inflation bis dahin unter Kontrolle
gebracht werde; die wieder großzügigere Steuerung der Geldmenge sollte dem Export
zugute kommen. Im Herbst 1992 klangen die offiziellen Wirtschaftsprognosen für 1993
ähnlich zuversichtlich (»Tempo der Umwandlung in den östlichen Reformländern
umstritten« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. März 1992; »Regierung rechnet
für 1993 mit Wachstum« in: Ungarische Wochenschau 15 (1992) 15, S. 4; »Ungarn wünscht
umfangreichere deutsche Direktinvestitionen« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
9. Oktober 1992). Vgl. Rosenau, Ungarn zur Jahresmitte 1992, aaO., S. 1.
51 Szabó, Das erste Jahr der Republik Ungarn, aaO., S. 159-161; Joseph Pozsgai, »Ungarn:
Der schwierige Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft« in: Südosteuropa
40 (1991), S. 117-125. Industriebetriebe mit mehr als 50 Beschäftigten produzierten im er-
sten Halbjahr 1991 um 15 % weniger als in der Vorjahresperiode, das Bauwesen um 16 %,
der Warentransport um 17 %. Besonders hohe Verluste bescherte die RGW-Auflösung
dem ungarischen Maschinenbau. Der Rückgang der Produktion war allerdings 1992 im
Vergleich zum Vorjahr langsamer; zwischen August und November nahm sie in der
Industrie sogar um 5 % zu (Bauer, Ungarn, aaO., S. 22; Raimund Hörth, »Ungarn« in:
Osteuropa-Perspektiven, aaO., S. 139; Holz, Ungarn, aaO., S. 64; »Öt szäzalekkal nött az
ipari termelés« in: Uj Magyarorszag, 27. November 1992). Nach offiziellen und nichtoffi-
ziellen Schätzungen war für 1991 eine Arbeitslosenquote von annähernd 6 % (300 000 bis
400 000) zu erwarten, dies gegenüber 0,5 % im Januar 1990. Nach amtlichen Schätzungen
bezogen im Frühjahr 1991 etwa 1 Million Bürger Einkommen unter dem Existenzmini-
mum; im gleichen Jahr erhöhten sıch die Verbraucherpreise um durchschnittlich 35 %. Im
September 1992 waren bereits über 600 000 Arbeitslose (11 %) verzeichnet (Rosenau,
Ungarn zur Jahresmitte 1991, aaO., S. 2-3; Stagnation oder Wachstum?, aaO.).
52 Gyula Varga, »Auf dem Wege - aber wohin? Die Transformation der ungarischen Agrar-
wirtschaft und ihre Fragezeichen« in: Südosteuropa 40 (1991), S. 380-390; Endre Antal,
»Agrarpolitik des Wandels zur sozialen Marktwirtschaft in Ungarn« in: Südosteuropa 41
(1992), S. 508-527.
Lengyel - Warten auf das Wunder 273
nehmen eine Zeitlang weiter subventionieren werden. Doch ebenso klar lag es auf
der Hand, daß sie diese Zusatzausgaben — schon wegen der strengen Auflagen des
Internationalen Währungsfonds — aus dem Staatshaushalt nur bei deren gleichzei-
tiger Entlastung durch Preis- und Steuererhöhungen sowie Kürzungen im
Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen bestreiten werden’. Wie hoch die Risi-
ken dieser Ausgaben-Kürzung-Spirale tatsächlich waren und noch werden könn-
ten, ließe sich erst dann ermessen, wenn deren Drehungen den ideologischen
Bereich voll erfaßten — dann nämlich, wenn sich die gegenüber der restriktiven
Haushaltspolitik ohnehin kritisch eingestellten Kleinlandwirte und Sozialisten
oder andere, von der parlamentarischen Demokratie und der noch wenig sozialen
Marktwirtschaft enttäuschten Gruppierungen anschickten, mit rechten oder linken
Interventionsstaatstheorien für die untersten Schichten der Gesellschaft die Wie-
derkehr des Wohlstands zu verheißen **. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird es
sich erweisen, ob die noch so unzufriedenen Verbraucher politisch reif genug sind,
wirtschaftliche Selbstbeschränkungen neuen Abhängigkeiten vorzuziehen, oder ob
sie ihre demokratischen Freiheiten aufs Spiel setzen, nur um — wie in den goldenen
Jahren des Kädärismus — erneut über ihre Verhältnisse zu leben.
3. Politische Selbstbestimmung und gesamtnationale Integration
Deuten wir die ungarische Geschichte einschließlich ihrer volksdemokratischen
Periode in der Überschau, so drängt sich ein zweiteiliges Grundphänomen ins
Blickfeld. Es handelt sich einerseits um die Diskrepanz zwischen west-mitteleuro-
päischem Selbstverständnis und der strukturell ost-südosteuropäischen Einbin-
dung, andererseits um die Dualität von staatlicher Souveränität und nationaler
Einheit’. Die Bedeutung des jungen ungarischen Postsozialismus liegt in histori-
scher Perspektive darin, daß er den Widerstreit zwischen den beiden Formen der
Selbstbestimmung, der politischen und der nationalen, die seit den bürgerlichen
53 Vgl. Rosenau, Ungarn zur Jahresmitte 1992, aaO., S. 1; »Kohlebergbau wird stufenweise
verringert« in: Ungarische Wochenschau 1 (1992) 16, S. 6.
54 Vgl. Bauer, Ungarn, aaO., S. 23. Zur Lage der sozial niederen Schichten der ungarischen
postsozialistischen Gesellschaft am Ende der achtziger Jahre Jenő Bango, Die postsozialı-
stische Gesellschaft Ungarns, München 1991, S. 79-145. Eine unheilige Allianz von Kräf-
ten, die sich von der parlamentarischen Demokratie mißachtet oder verraten fühlen,
könnte sich anbahnen, sollte 1993, wie von einigen Fachleuten vorausgesagt, die Arbeits-
losigkeit 20 %, in einzelnen Regionen des Landes sogar 50 % erreichen (Stagnation oder
Wachstum?, aaO.). Die Gesellschaft der unter dem Existenzminimum Lebenden (Létmi-
nimum Alatt Elök Tärsasäga) wies einen Weg in die politische Destabilität, als sie im
Dezember 1992 Unterschriften für eine Volksabstimmung über die vorzeitige Auflösung
des Parlaments und die Ausschreibung von Neuwahlen zu sammeln begann (»Létmini-
mum Alatt Élők. Alairast gyüjtenek« in: Magyar Nemzet, 7. Dezember 1992). Die Gefahr
des demagogischen Links- oder Rechtspopulismus sieht auch Sitzler, Parteiensystem,
aaO., S. 174, 187.
55 Thomas von Bogyay, Grundzüge der Geschichte Ungarns. Vierte, überarbeitete Auflage
Darmstadt 1990; Bälint Balla, »Mitteleuropa aus der Sicht des ungarischen Dauerdilem-
mas »zwischen Ost und West«« in: Ungarn-Jahrbuch 18 (1990), S. 237-251.
ZfP 40. Jg. 3/1993
274 Lengyel : Warten auf das Wunder
Revolutionen im Europa des 19. Jahrhunderts das Denken und Handeln der Staa-
ten und Nationen bestimmen, wieder auflegt und den eigenen Standort zwischen
West-, Mittel- und Osteuropa erneut bestimmen läßt.
Seit 1920 blieb den Magyaren die volle nationale Selbstbestimmung durchweg
versagt — die Geschichte der ungarischen Nation ist seither nicht mit derjenigen
des ungarischen Staates identisch. Auch das dem Postsozialismus zustrebende
Ungarn erstritt sich 1988-1990 nur die politische Freiheit; weder die einheimi-
schen maßgeblichen politischen Kräfte noch die Wortführer der ungarischen Min-
derheiten in den Nachbarstaaten verlangten seither Veränderungen der bestehen-
den Grenzen zu eigenen Gunsten *. Die diplomatische Vorbereitung und Unter-
stützung der deutschen Vereinigung fußte 1989 — im Gegensatz zur prodeutschen
Außenpolitik Ungarns im Ersten und Zweiten Weltkrieg — nicht auf Großmacht-
und Revisionsansprüchen an die Adresse der Nachbarstaaten, sondern auf Leit-
werten der Demokratie’. Aber die jüngste West-Option war selbst bei der im
Oktober 1989 neu formierten sozialistischen Partei vom Anspruch geleitet, die
neue politische Ordnung durch die »Verantwortung für das Schicksal« der Lands-
leute außerhalb der Staatsgrenzen** auch national zu legitimieren.
Das Modell der deutschen Einheit in Freiheit beeindruckte nicht nur die abtre-
tenden Staatslenker**. Doch die Antall-Regierung relativierte seine Vorbildlichkeit
- und zwar unabhängig davon, daß in Bonn/Berlin die anfängliche Euphorie ob
der für die deutsche Nation »unvergeßlichen« Hilfestellung bald spürbar nach-
ließ. Gerade durch die Auflösung der Dichotomie zwischen staatlicher Selbstbe-
stimmung und blockinterner Patronage durch Moskau“ wurde es der neuen Füh-
rung Ungarns möglich, eigene außenpolitische Grundsätze zu formulieren, die
56 »Antall Jozsef beszéde Istvan király napján. A határokon belül keressük a boldoguläst«
in: Népszabadsdg, 21. August 1992. Vgl. Esélyek és remények a Kärpät medencében, aaO.;
Kende/Gradvohl, Der Rohbau, aaO., S. 505-506.
57 Gyula Horn, »Einigung der zwei deutschen Staaten liegt im Interesse unserer Region« in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Mai 1990.
58 »Proklamation der Republik Ungarn durch Präsident Mätyäs Szürös vom 23. Oktober
1989« in: Umbruch in Europa. Die Ereignisse im 2. Halbjahr 1989. Eine Dokumentation,
herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Bonn 1990, S. 56.
59 »Der Bezwinger des Kädär-Regimes. Der Ungar Imre Pozsgay im Gespräch« in: Frank-
furter Allgemeine Zeitung vom 26. November 1990.
60 »Bundeskanzler Dr. Kohl: >... Die beispielhafte Haltung Ungarns bleibt uns Deutschen
unvergeßlich«« in: Komet 1990/121-122, S. 5. Ministerpräsident Antall zeigte sich einmal
enttäuscht darüber, daß die Bundesregierung die Rolle des MDF, des Mitveranstalters
des »Paneuropa-Picknicks«, bei dem Ende August 1989 das erste Mal die Grenzen
Ungarns für ostdeutsche Flüchtlinge geöffnet wurden, nicht in gebührender Weise
gewürdigt habe (Georg Paul Hefty, »Der deutsch-ungarische Vertrag steht in der Tradi-
tion der tausendjährigen guten Beziehungen« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
5. Februar 1992).
61 Klaus-Detlev Grothusen, »Zwischen Selbstbestimmung und Patronage. Ein Beitrag zur
Analyse außenpolitischer Strukturen in Südosteuropa seit dem Zweiten Weltkrieg unter
besonderer Berücksichtigung Albaniens« in: Südosteuropa-Mitteilungen 29 (1989),
S. 271-284.
Lengyel - Warten auf das Wunder 275
eine rein deutsche Orientierung erstens nicht erforderten, zweitens nicht unbe-
dingt einschlossen. Das Prinzip der Anbindung an die Europäisch-Atlantische
Wertegemeinschaft nahm vom Beitritt zum Europarat und zur Europäischen Men-
schenrechtskonvention im Herbst 1990 bis zur Ratifizierung des Assoziierungsab-
kommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Ungarn durch das unga-
rische Parlament zwei Jahre später Gestalt an; es wurde durch den Wunsch, mittel-
fristig Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden, zum einen wirt-
schaftlich dimensioniert. Zum anderen fußte die neue ungarische Außenpolitik
von Anbeginn auf der Priorität der nationalen Interessen und der Vermeidung ein-
seitiger Abhängigkeiten in West-, Mittel- oder Osteuropa 2.
Ohne zu bezweifeln, daß Ungarns Weg in die Europäische Gemeinschaft über
Deutschland führt und seine Erfolge in der Behandlung von Minderheitenfragen
von der Unterstützung der deutschen Bundesregierung ebenfalls in hohem Maße
abhängt”, legte die von Géza Jeszenszky geführte ungarische Diplomatie bislang
großen Wert auf mitteleuropäische Regionalkooperationen. Aus sicherheits-, wirt-
schafts- und nationalpolitischen Motiven heraus brachte sie noch 1990 die Triago-
nale Ungarn-Tschechoslowakei-Polen und die »Mitteleuropäische Initiative« auf
den Weg. Bei der letzteren handelte es sich um die Pentagonale Italien-Österreich-
Jugoslawien-Tschechoslowakei-Ungarn, die 1991 mit Polen zur Hexagonale
erweitert und ein Jahr darauf, im Süden auf Kroatien und Slowenien zusammenge-
schrumpft, grenzüberschreitend gemeinsame Wirtschafts- und Sicherheitsinteres-
sen bestimmen und pflegen sollte. Die subregionale Karpaten-Theiß-Kooperation
wurde dazu berufen, unter Einschluß Ostungarns und der ehemaligen ungarischen
Hoheitsgebiete der Slowakei, der Karpato-Ukraine, der Wojwodina und Sieben-
bürgens auch die ungehinderte Kontakthaltung ungarischer Volksteile über die
trennenden Staatsgrenzen hinweg zu ermöglichen“. Die im Frühjahr 1991 teil-
62 Peter Baläzs, »Vertragsbeziehungen zwischen Ungarn und der Europäischen Gemein-
schaft: Aktuelle Lage und Perspektiven« in: Südosteuropa 39 (1990), S. 341-349; »In Rom
tritt Ungarn dem Europarat bei« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. November
1990; Kathrin Sitzler, »Regionale Kooperation und europäische Integration. Die Penta-
gonale aus ungarischer Sicht« in: Südosteuropa 39 (1990), S. 686-708; Kathrin Sitzler,
»Ungarn und Europa. Möglichkeiten und Grenzen« in: Südosteuropa 40 (1991),
S. 353-379; »Zusammenfassung der Parlamentserklärung des ungarischen Außenwirt-
schaftsministers Bela Kädär am 16. November 1992« in: Newsletter Ungam 4 (1992) 6,
S. 2-4.
63 Vgl. die hauptsächliche Motivation Budapests zum Abschluß des von Helmut Kohl und
Hans-Dietrich Genscher sowie von Jözsef Antall und Ferenc Mädl am 6. Februar 1992 in
Budapest unterzeichneten Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Ungarn über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa
(Hefty, »Der deutsch-ungarische Vertrag. Zwischen Bonn und Budapest herrscht weitge-
hend Übereinstimmung« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Februar 1992). Der
Text des Vertrags in: Bulletin. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung vom
11. Februar 1992, S. 105-109.
64 Félúton, aaO., S. 17-19; Rudolf Joó, »Közep-Euröpa és Magyarország biztonsági problé-
mäiröl« in: Esélyek és remények a Kárpát medencében, aaO., S. 56—62; Sitzler, Regionale
Kooperation, aaO.
ZfP 40. Jg. 3/1993
276 Lengyel - Warten auf das Wunder
weise militärisch ausgerichtete Allianz Warschau-Prag-Budapest ließ angesichts
der damals einmal mehr gefährdeten Perestroika das sicherheitspolitische — und
nicht etwa ein antideutsches — Element des mitteleuropäischen Konzepts stärker
hervortreten ®.
Die solcherart motivierten auswärtigen Beziehungen Ungarns drücken das
dritte Dilemma des Systemwandels aus, das im Spannungsfeld Demokratie-Nation
anzusiedeln ist. Nach der sozialistischen Ara ist die nationale Legitimierung des
neuen politischen Systems gewiß unerläßlich. Sie darf jedoch nur bis zu den Lan-
desgrenzen reichen: Eine demokratische Entscheidung etwa für die Rückgliede-
rung von Siebenbürgen an Ungarn ist in der mindestens zu 70 % rumänischbe-
wohnten Region” angesichts der dortigen Mehrheitshaltung schon rechnerisch
undenkbar. Auf der ersten Ebene dieses dritten und - hier - letzten Dilemmas des
ungarischen Systemwandels beschränkt sich die nationale Legitimierung der neu
eingeführten parlamentarischen Demokratie also auf den ungarischen Staat als
völkerrechtlichen Souverän. Wenn aber aus dieser Notlage das gesamteuropäische
Zukunftsbild herausführen soll, so läßt sich die Westanbindung trotz des entspre-
chenden geistigen Selbstverständnisses und wirtschaftlichen Interesses nicht
bedenkenlos vollziehen. Auf der zweiten Ebene dieses Dilemmas läuft nämlich die
in der Europäischen Gemeinschaft allzu gern westlich eingeengte Idee der konti-
nentalen Integration gerade mit ihrem Element der zwischenstaatlichen Zusam-
menarbeit außenpolitischen Konzepten zuwider, die eine interessenpolitisch
durchdachte Einbeziehung der östlich-südöstlichen Räume anmahnen, eine Aus-
wahl der Bündnispartner treffen und von der Mitwirkung nichtsouveräner ungari-
scher Volksteile beziehungsweise deren Siedlungsregionen ausgehen. 1990-1992
fiel in den einschlägigen Überlegungen der Budapester Regierung insbesondere
der Ausschluß Bukarests aus dem versuchten Vorstoß in die transatlantische
Sicherheitszone auf, der freilich im Vorfeld der offiziellen Geburtsstunde der
Triagonale im ungarischen Visegräd mit Warschau und Prag abgesprochen wor-
den war, und den im Frühjahr 1992 auch Führungskreise der Hexagonale bestätig-
ten.
Angesichts des nationalstaatlich, kaum zwischenregional bestimmten, im steifen
Vorsatz des Status Quo zeitgemäßen Veränderungen abholden westeuropäischen
Strategiedenkens schrieb die ungarische Staatsführung eine bestimmte Variante
der europäischen Integration auf ihre Fahnen. Gemeint ist die Schlußakte der
65 »Nicht gegen Deutschland gerichtet« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Januar
1991; Hefty, Der deutsch-ungarische Vertrag, aaO. Vgl. Sandor Peisch, »Zur Einführung
in die zweite Runde des Ungarisch-Deutschen Forums« in: Ungarischer Börsen-Kurier
1992/Oktober, S. 17.
66 Vgl. Máté Szabó, »Legitimationsprobleme des institutionellen Wandels — der Fall
Ungarn« in: Südosteuropa 39 (1990), S. 222-240.
67 Report on the Situation ofthe Hungarian Minority in Rumania, prepared for the Hungarian
Democratic Forum, Budapest 1988, S. 28.
68 »Für Stabilität und Sicherheit« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. April 1992. Vgl.
»Vollendete Tatsachen nicht anerkennen«, aaO.
Lengyel - Warten auf das Wunder 277
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die bekanntlich in
ihrem achten Prinzip das Selbstbestimmungsrecht der Völker, nicht nur das der
Staaten, verkündet und zur Erlangung dieses Rechts auch Grenzkorrekturen,
soweit sie einvernehmlich erzielt werden, zuläßt*. Mit dem Verweis auf das in der
jüngeren ungarischen Geschichte eher unselige Wilsonssche Prinzip gaben
1990-1992 Beauftragte und Mitglieder der Budapester Regierung ihrem wieder-
holten Drängen auf eine menschenrechtliche Auslegung, also Aufwertung von
Minderheitenrechten und — einem Teil der internationalen Politik- und Rechtswis-
senschaft ähnlich” — auf einen kollektivistischen, mitunter territorialbezogenen
Minderheitenschutz”! ein besonderes Gepräge. Denn gleichzeitig wandten sie ihre
diplomatische Kraft daran, Frankreich für eine zunächst prinzipielle Kritik der
1919/1920 beziehungsweise 1947 in und um Paris beschlossenen Friedensordnung
zu gewinnen. Der Appell an das politische Gewissen jener Macht, die im 20. Jahr-
hundert eine einflußreiche Urheberin der Aufteilungen Ungarns gewesen war,
gehörte 1990-1992 als moralisierender Bestandteil zur ebenso französisch- wie
deutschorientierten ungarischen Diplomatie”. In ihrer Absicht, ein althergebrach-
tes Tabu der internationalen Politik, nämlich das der unbedingten Staatssouveräni-
tät” mit fachlicher Unterstützung politologischer Sachverständiger”* allmählich
abzubauen, suchte sie den Bewegungsraum zu nützen, den ihr vor allem zwei Ent-
69 Gerhard Wettig, »KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)«
in: Handwörterbuch Internationale Politik, herausgegeben von Wichard Woyke, zweite,
aktualisierte und erweiterte Auflage Opladen 1980, S. 219.
70 Einige Beispiele: Eckart Klein, »Ein Gruppenrecht macht Minderheiten resistenter. Über-
legungen zum Schutz der Nationalitäten« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni
1991; Georg Brunner, »Vom Zwang befreit — Rückbesinnung auf die eigene Identität.
Nationalstaaten und Minderheiten in Osteuropa« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
28. Oktober 1991; Rudolf Kern, »Europäische Institutionen und Minderheiten« in: Min-
derheitenfragen in Südosteuropa, herausgegeben von Gerhard Seewann, München 1992,
S. 61-77. Vgl. den Forschungsbericht von Rainer Hofmann, »Minderheitenschutz in
Europa. Überblick über die völker- und staatsrechtliche Lage« in: Zeitschrift für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht 52 (1992) 1, S. 1-65.
71 Sitzler, Regionale Kooperation, aaO., S.705. Vgl. z.B. die Äußerungen von György
Csöti (MDF), dem stellvertretenden Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des
Budapester Parlaments, »Minderheitencharta vorgeschlagen« in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 9. November 1992, ebenso die von den jeweiligen Außenministern unter-
zeichnete Erklärung über die Prinzipien der Zusammenarbeit zwischen der Republik Ungarn
und der Ukrainischen Sowjetrepublik auf dem Gebiet der Sicherung der Rechte der nationalen
Minderheiten, Budapest, 31. Mai 1991 [Typoskript], sowie zusammenfassend Gäspär
Birö, »Kisebbségek és kollektiv jogok« in: Korunk III. Folge, 3 (1992) 3, S. 74-78.
72 Vgl. die Stellungnahme von Tamäs Katona, »Külpolitika több pilleren. Szordinösan, de
hatärozottan« in: 169 óra 4 (1992) 1, S. 6. Zum ordnungspolitischen Einfluß Frankreichs
z.B. 1919/1920: Jozsef Galantai, A trianoni bekekötes 1920, Budapest 1990.
73 Dazu historisch, kritisch und perspektivisch: Horst Dreier, »Souveränität« in: Staatslexi-
kon. Recht — Wirtschaft - Gesellschaft in 5 Bänden, herausgegeben von der Görres-Gesell-
schaft, IV, Freiburg/Basel/Wien 1988, Sp. 1203-1210.
74 Etwa von Gáspár Bíró, »A nemzet mint alkotmányjogi kategöria?« in: Pro Minoritate
1992/III-IV, S. 26-29.
ZfP 40. Jg. 3/1993
278 Lengyel - Warten auf das Wunder
wicklungsprozesse verschafften: der Aufstieg neuer völkerrechtlicher oder zumin-
dest staatspolitisch ehrgeiziger Faktoren in Ostmittel- und Südosteuropa sowie der
deutsch-französische Wettbewerb um politischen und wirtschaftlichen Einfluß in
eben diesem Raum.
Vor allem an zwei westeuropäische Nationalstaaten und an potentielle mitteleu-
ropäische Bündnispartner angelehnt, verfolgte die ungarische Regierung im Unter-
suchungszeitraum den Zweck, die internationale politische Öffentlichkeit auf das
seit den siebziger Jahren angemahnte Zuropa der Regionen im Rahmen einer Föde-
ration der Nationalstaaten einzustimmen, tendenziell aber möglichst auf ein Mit-
teleuropa der Regionalstaaten, die aus Gebietsautonomien durch eine immer stär-
kere Ausprägung von deren exekutiven-legislativen-judikativen Selbständigkeiten
hervorgehen, sich in konföderative Systeme eingliedern und unter Umständen
selbst bundesstaatlich aufgebaut sind”.
Dieser Kernpunkt der neuen ungarischen Außenpolitik läßt sich mit den bis
Ende 1992 erschienenen schriftlichen Belegen nur unvollständig aufhellen. Am
leichtesten ist er in Texten regierungsnaher Experten zu greifen, die den — oben
schon erwähnten — »nationalen Liberalismus« eines Flügels der größten Regie-
rungspartei vom »doktrinären« oder »die Nation fürchtenden Liberalismus« ”” wie-
derum eines Flügels der größten Oppositionspartei abgrenzten, um ihn als den
Einsatz für das Wohlergehen der gesamtungarischen »Gemeinschaft freier Men-
schen« zu charakterisieren. Hierbei sei es »zweitrangig«, so der Direktor des
Budapester Donauraum-Instituts, seines Zeichens Oberregierungsrat im minister-
präsidiellen Amt für Nationale und Ethnische Minderheiten, in welchem »staatli-
chen Rahmen die den Nationskörper bildenden einzelnen Teile von ihrem Selbst-
bestimmungsrecht Gebrauch machen«; entscheidend sei vielmehr, »daß sie davon
Gebrauch machen können, daß die einzelnen Nationsteile anderen Nationen nicht
75 Günther Nonnenmacher, »Locarno und Maastricht« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 28. April 1992. Zu den deutsch-französischen Beziehungen im Lichte der osteuropä-
ischen Veränderungen siehe noch den Kurzbericht von Tilman Krause, »Eine alternde
Schönheit« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Dezember 1992. Nach der Beurtei-
lung von Tamäs Katona, damals politischer Staatssekretär im Budapester Außenministe-
rium, habe sich Frankreich »durchaus schnell« entschieden, ins ungarische Wirtschaftsle-
ben einzusteigen, obwohl es »über solche Traditionen« nicht verfüge (Külpolitika több
pilleren, aaO.). Zurückhaltender, jedoch ebenso erwartungsvoll äußerte sich bezüglich
des französischen Einsatzes in und für Ungarn Janos Martonyı, Staatssekretär im glei-
chen Ressort, »Kifejezetten azt szeretném, ha erösödne a francia befolyäs« in: Magyar
Hirlap, 8. Dezember 1992.
76 Guy Héraud, »Regionen im europäischen Einigungsprozeß und in einer Europäischen
Föderation« in: Regionalismus. Phanomen, Planungsmittel, Herausforderung für Europa.
Eine Einführung, herausgegeben von Fried Esterbauer, München 1978, S. 181-193. Zur
qualitativen Unterscheidung zwischen »autonomen Regionen« und »Regionalstaaten
föderativer Systeme« Fried Esterbauer, »Grundzüge der Formen und Funktionen regio-
naler Gliederung in politischen Systemen« in: Regionalismus, aaO., S. 48-51.
77 Molnar, Az igen és a nem határán, aaO., S. 3; Gusztáv Molnar, »Nemzeti és nemzettöl
felö liberälisok« in: Esélyek és remények a Kärpät medencében, aaO., S. 185-196.
Lengyel - Warten auf das Wunder 279
ausgeliefert sind«’*. Nachdem ihm Oppositionelle antidemokratische Revisionsge-
liste unterstellt hatten”, klärte dieser späte Interpret der Prinzipien Woodrow
Wilsons auf, daß er die »Integration der seit mehr als siebzig Jahren in unter-
schiedlichen politischen Gefügen lebenden ungarischen nationalen Gemeinschaf-
ten und der mit dem Ungartum in historischer Schicksalsgemeinschaft lebenden
Nationen« nicht in einem wiedererrichteten Großungarn, sondern nur in einer
»mitteleuropäischen Konföderation« Kroatiens, Sloweniens, Ungarns, Österreichs,
der Tschechei und der Slowakei sowie Polens für möglich hielt. Als südöstlicher
Block der bis zur Jahrhundertwende wohl institutionell runderneuerten Europäi-
schen Gemeinschaft sollte dieses Gebilde in der Lage sein, erstens ein politisch-
kulturelles Gegengewicht zum vereinigten Deutschland zu bilden, zweitens welt-
anschauliche und nationale Intoleranz in den eigenen Reihen einzudämmen,
schließlich drittens die »politische Verselbständigung« der Karpato-Ukraine,
Vojvodina und Siebenbürgens unter »aktiver Mitwirkung der Mehrheitsbevölke-
rung der besagten Regionen« herbeizuführen ©.
Die »mit Sordino, wiewohl entschieden« agierenden offiziellen Außenpoliti-
ker*! näherten sich dem hier angerissenen Thema eines einvernehmlich gewählten
dritten siebenbürgischen Weges zwischen Bukarest und Budapest mit ähnlichen
Vorthesen, wenngleich erheblich zurückhaltender und prinzipieller. Ihre einschlä-
gigen Stellungnahmen stützen sich in der Regel auf zwei Grundsätze, deren
Anwendung beispielsweise auch die Lage der Minderheiten Rumäniens nachhaltig
verändern würde. Erstens solle der Staat seine Eigenschaft, Besitztum einer
bestimmten Nation zu sein, allmählich verlieren und sich zur Verwaltungseinheit
umfunktionieren lassen. Zweitens liege die Lösung des Minderheitenproblems in
der verfassungsrechtlichen Anerkennung der ethnisch-kulturellen Vielfalt inner-
halb des Heimatstaates, somit nicht in der Veränderung der Grenzen, sondern in
deren Durchlässigkeit®.
78 Molnar, Nemzeti liberalizmus, aaO., S. 22.
79 Vgl. Molnar, Nemzeti liberalizmus, aaO.
80 Gusztäv Molnar, »Miért kell a konföderäciö?« in: Limes 2 (1992) 7-8, S. 56, 58. Nicht
weniger offiziös äußerte sich Molnar am 22. April 1992 im Radio Kossuth, Budapest, als
er das rumänisch-ungarisch-deutsche bzw. orthodox-katholisch-protestantische Sieben-
bürgen mit der ethnisch-religiös ebenfalls dreigeteilten Republik Bosnien-Herzegowina
in Verbindung brachte, um darauf hinzuweisen, daß deren aufgeklärteren Kroaten, Ser-
ben und Muslime ihr Zusammenleben in einem eigenen Staatswesen nach Schweizer
Muster zu regeln suchten. Erwähnt sei noch ein Kollege von Molnar, der zuletzt am Bei-
spiel der Ukraine die institutionell-rechtlichen Möglichkeiten einer ungarischen Territo-
rialautonomie erwog (Gáspár Bíró, »A területi autonómia statütuma« in: Kapu 5 (1992) 3,
S. 58).
81 Külpolitika több pilléren, aaO.; »Az MDF nem próbálkozik új külpolitikäval« in: Magyar
Hirlap, 12. Dezember 1992.
82 Nachzulesen etwa bei den Staatssekretären im Amt des Ministerpräsidenten bzw. im
Außenministerium, G&za Entz und Tamäs Katona, »Nem akarjuk a hatärokat megväl-
toztatni« in: Magyar Nemzet, 4. November 1992. Vgl. »Statement by the Government of
the Republic of Hungary on Hungarian Minorities (18. August, 1992)« in: Pressemittei-
ZfP 40. Jg. 3/1993
280 Lengyel - Warten auf das Wunder
Dieses anspruchsvolle Programm zur gleichzeitigen Uberwindung des Natio-
nalstaatsprinzips und der antidemokratisch-pluralismusfeindlichen Denkungsart
ließ die ungarische Regierung zuerst in die Verhandlungen mit Kiew einfließen.
Mit der Unterzeichnung einer Erklärung über Minderheitenrechte im Mai 1991
und der diplomatischen Anerkennung der Ukraine im Dezember des gleichen Jah-
res®, vertiefte sie ihre Beziehungen zu einem Nachbarn, dessen karpato-ukraini-
scher Region als mitteleuropäischer Subregion bei grenzüberschreitenden Projek-
ten und der Begründung ungarischer Minderheitsautonomie eine ähnliche Rolle
zukommen könnte wie Siebenbürgen. Als territorialpolitischer Gegenspieler Buka-
rests im Konflikt um Bessarabien empfiehlt sich der GUS-Staat außerdem als Part-
ner Ungarns, sollte — wie in Budapester Regierungskreisen mit Blick auf das Kern-
problem der ungarischen Minderheiten“ und andere kürzlich entstandene zwi-
schenstaatliche Spannungen® bisweilen befürchtet — eine neue rumänisch-ser-
bisch-slowakische Kleine Entente das Land bedrohlich einkreisen. Das bis Ende
1992 auch zu Rußland eng geknüpfte Verhältnis® eröffnete die Perspektive einer
ähnlichen Bündnishilfe für den Fall unverhoffter geopolitischer Isolierung.
Es trifft wohl zu, daß ın den ukrainischen Plänen Budapests nicht der Wunsch
nach Grenzverschiebung, sondern vielmehr nach diplomatischer Absicherung eige-
ner sicherheits- und nationalpolitischer Interessen der Vater der Zielvorstellung
lungen [Ungarisches Außenministerium] 40/1992; Géza Entz, »Nemzetek és nemzetisé-
gek« in: Esélyek és remények a Kárpát medencében, aaO., S. 34—41.
83 Erklärung über die Prinzipien der Zusammenarbeit zwischen der Republik Ungarn und der
Ukrainischen Sowjetrepublik auf dem Gebiet der Sicherung der Rechte der nationalen Minder-
heiten, Budapest, 31. Mai 1991 (Typoskript); Viktor Meier, »Ungarn erkennt Rußland
und die Ukraine an« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Dezember 1991. Tamás
Katona führte bereits im August 1990 Verhandlungen mit dem ukrainischen Außenmini-
ster, und Géza Jeszenszky unterschrieb im Frühling 1991 neun Vereinbarungen und Pro-
tokolle über die Beziehungen zwischen Ungarn und der Ukraine (Külpolitika több pille-
ren, aaO. Siehe noch: Alfred A. Reisch, «Hungary Intensifies Bilateral Ties with
Ukraine« in: Südosteuropa 40 (1991), S. 324-330).
84 Eine Chronologie der jüngsten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklun-
gen betreffend deren Lage findet sich in: Magyarság és Európa. Évkönyv. A magyarság éle-
tet befolyásoló politikai, gazdasági és kulturális események a környező országokban 1992, fð-
szerkesztő Nahimi Péter, Budapest 1992.
85 Neben dem auch die Magyaren der Vojvodina bedrohenden großserbischen Nationalis-
mus gehörte dazu 1992 der international ausgetragene Rechtsstreit um das Wasserkraft-
werk an der Donau bei Gabčikovo/ Nagymaros im slowakisch-ungarischen Grenzgebiet,
dessen Bau die ungarische Seite einstellen, die slowakische noch vor Jahresfrist vollenden
wollte. Über die jeweiligen Argumente ausführlicher: »Meinungsverschiedenheiten
Ungarn-Slowakei« in: Ungarische Wochenschau 1 (1992) 15, S. 3; Viktor Meier, »Ungarn
und die Slowakei tragen schwer an der Altlast Gabčikovo« in: Frankfurter Allgemeine Zei-
tung vom 29. Dezember 1992. Siehe auch die Rede des ungarischen Ministerpräsidenten
anläßlich der Eröffnung des Main-Donau-Kanals in Nürnberg am 25. September 1992:
»Jözsef Antall’s Nuremberg Speech« in: The Hungarian Observer 6 (1992) 11, S. 5-7. Vgl.
»Az átmeneti diplomácia felelössege. Évzáró interjú Martonyi János ällamtitkärral« in:
Pesti Hírlap, 30. Dezember 1992.
86 Vgl. »Vollendete Tatsachen nicht anerkennen«, aaO.
Lengyel - Warten auf das Wunder 281
war. Um so verwunderlicher ist es, daß ein Osteuropa-Korrespondent einer vielge-
lesenen deutschen Tageszeitung, der dieser Einschätzung beipflichtete, im glei-
chen Zusammenhang dennoch das Bild einer allgemein »rhetorischen« ungari-
schen Ostpolitik zeichnen zu müssen meinte”. Aus dem historisch tief eingewur-
zelten Gegensatz zwischen ungarischem und rumänischem Nationalinteresse war
1991/1992 klar genug zu ersehen, daß der größte Prüfstein der integrationsfreudi-
gen Außenpolitik Neuungarns trotz der Spannungen mit der Slowakei und Serbien
jenseits der östlich-südöstlichen Grenzen lag. Hier war es aber mehr als fraglich,
ob die »rumänischen Ängste vor Autonomiewünschen oder vor ungarischen Inve-
stitionen in Siebenbürgen« nicht »paranoisch« erschienen wären, hätte Jozsef
Antall darauf verzichtet, bei seinem Amtsantritt 1990 sich »als Regierungschef von
zehn Millionen ungarischen Staatsbürgern, in der Seele und in Gefühlen aber als
Ministerpräsident von 15 Millionen Magyaren« zu erklären. Besagte Ängste las-
sen sich nämlich als Grundelemente des rumänischen politischen Denkens im
20. Jahrhundert erklären, etwa am Beispiel der ungarischen Bewegung des Trans-
silvanismus, die in den zwanziger Jahren mit einem föderalistisch und einem
dezentralistisch ausgerichteten Autonomiekonzept aufwartete®. Die Furcht der
Bukarester Machthaber und Oppositionellen vor einer völkerrechtlichen Radikali-
sierung der in unseren Tagen vom Demokratischen Verband der Magyaren in
Rumänien (Romäniai Magyar Demokrata Szévetség) geäußerten Forderung nach
kritischer Prüfung des rumänischen Zentralismus führte in den vergangenen drei
Jahren zu einer gleichlautend harschen Ablehnung einer auch nur dezentralisti-
schen inneren Umgestaltung des rumänischen Staates und einer grenzüberschrei-
tenden Zusammenarbeit im mitteleuropäischen Raum, die, so die schon traditio-
nelle Mutmaßung, Ungarn sicher zu hegemonialem Aufschwung nutzen wolle”.
87 Meier, Ungarn erkennt Rußland und die Ukraine an, aaO.; Viktor Meier, »Ungarn in
Europa« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Mai 1992.
88 Wie uns Meier, Ungarn in Europa, aaO., einreden will. Jozsef Antalls mehrfach, so anläß-
lich des III. Kongresses des Weltverbands der Ungarn im Sommer 1990 wiederholter
Ausspruch: »Antall Jöszef miniszterelnök beszéde a III. Magyar Orvostudomänyi Taläl-
kozó megnyitöjän« in: A Magyarok III. Vilagkongresszusanak és az MVSZ küldöttközgyüle-
senek dokumentumai, Budapest, 18-21. August 1992, S. 45.
89 Zsolt K. Lengyel, Auf der Suche nach dem Kompromiß. Ursprünge und Gestalten des frühen
Transsilvanismus 1918-1928, München (1993, im Druck). Zusammengefaßt bei Zsolt K.
Lengyel, »Rumänische Rechtfertigung und magyarischer »Revisionismus<. Anmerkungen
zur siebenbürgischen Frage 1918-1992« in: Siebenbürgische Semesterblätter 7 (1993) (im
Druck).
90 Ausführlicher K. Lengyel, Rumänische Rechtfertigung und magyarischer »Revisionis-
mus«, aaO. Vgl. Georg Brunner, »Föderation, Konföderation und Regionalismus in ver-
fassungsrechtlicher Sicht« in: Südosteuropa-Mitteilungen 32 (1992), S. 98-99; Viktor
Meier, »Unveränderte Fronten in Siebenbürgen« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
28. Februar 1992. Eine reichhaltige Auswahl von rumänischen Pressestimmen gegen eine
mitteleuropäische Kooperation unter besonderer Berücksichtigung Siebenbürgens bringt
»A roman sajtó a regionális együttműködés ellen« in: Limes 1 (1991) 3, S. 13-28.
7fP 42. Ig. 3/1993
19
282 Lengyel - Warten auf das Wunder
Budapest und Bukarest waren 1990-1992 einmal mehr unversöhnliche Gegen-
spieler in der internationalen Politik und bei der Sondierung neuer Blockbindun-
gen nach dem Zerfall der alten Ordnung bipolarer Machtballung”. Und die sie-
benbürgisch-rumänischen Führungskreise machten auch zur Enttäuschung der
binnenungarischen Nationalliberalen ” nicht nur keine Anstalten, sich mit den Sie-
benbürger Magyaren gemeinsam staatspolitisch zu ambitionieren, sondern schür-
ten vielfach den Konflikt mit letzteren”. Während für Budapest die vom histori-
schen Kernland abgetrennten Gebiete, in denen über drei Millionen Konnationale
leben *, ethnisch, wirtschaftlich und politisch schwer oder — zumindest was Rumä-
nien betraf — kaum integrierbar waren”, griff Bukarest unter Zustimmung der
Opposition nach dem noch moldawischen Bessarabien%. Die Erben des Ceau-
sescu-Regimes deuteten damit unmißverständlich an, daß sie die nationalstaatliche
Integration über die regionale oder regionalstaatliche zu setzen gedachten. Die
Gefahr dieser Priorität, die aus dem absoluten Souveränitätsanspruch der eigenen
Nation hergeleitet ist, liegt darin, daß sie im Bereich der internationalen Beziehun-
91 Zuletzt galt Rumäniens außenpolitische Aufmerksamkeit der Schwarzmeer-Iniuative, die
jene südosteuropäischen Staaten erfassen sollte, deren kurz- oder mittelfristiger
Anschluß an die europäische Wirtschafts- und Sicherheitszone eher unwahrscheinlich
schien. Die Anfang 1992 in Istanbul auf einer Ministerkonferenz verabschiedete »Erkla-
rung über wirtschaftliche Zusammenarbeit um das Schwarze Meer« kam unter Mitwir-
kung der Türkei, Rumäniens, Bulgariens, Rußlands, der Ukraine, Moldawiens,
Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans zustande. Griechenland und Rest-Jugoslawien
sollen ebenfalls ıhr Interesse an diesem Zusammenschluß bekundet haben (Viktor Meier,
»Schwieriges Einrichten im Vorhof Europas« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
20. Februar 1992). Zur bestimmenden Rolle der Türkei in der Schwarzmeer-Koopera-
tion: Heinz Kramer, »Die Türkei zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten - eine
aufstrebende Regionalmacht?« in: Südosteuropa-Mitteilungen 32 (1992), S. 129-140.
92 Molnar, Nemzeti liberalizmus, aaO., S. 22.
93 Vilmos Tänczos, »Hungaroföbia a szekelyföldi roman sajtöban« in: Limes 2 (1992) 7-8,
S. 17-20. Eine neue, in ihrem Geist aber alte Verweisgrundlage, Wünsche von Nichtru-
mänen nach gruppenrechtlicher Anerkennung zurückzuweisen, bietet die im Dezember
1991 angenommene Verfassung, die dem Unitarismus der 1923er folgt. Die Artikel 1 bis
4 des Abschnitts I bestimmen, daß Rumänien als »nationaler« Staat »einheitlich und
unteilbar« sei, aus »unveräußerlichen« Territorien bestehe und durch die »Einheit des
rumänischen Volkes« untermauert werde, der die »nationale Souveränität« zukomme
(Constituția României. The Constitution of Romania 1991, Bukarest 1991, S. 5-6). Vgl.
Brunner, Föderation, aaO., S. 99.
94 Y: 300 000; TSCH: 700 000; SU: 200 000; RO: 2,2 Mio. (World Directory of Minorities,
edited by the Minority Rights Group, London 1991).
95 So nahmen im Frühsommer 1992 Kommunalpolitiker aus dem nordwestrumänischen
Frauenbach (Baia Mare, Nagybänya) an der Tagung der Karpaten-Euroregion, die sie
mit begriindet hatten, nicht teil; es kamen nur ungarische, tschechoslowakische, ukraini-
sche und polnische Vertreter zusammen (»Nyilatkozat az együttmüködesröl« in: Uj
Magyarország, 24. Juni 1992).
96 Siehe das oppositionelle Flugblatt im Wahlkampf zu den Parlamentswahlen Declarația de
la Cluj a reprezentanților Convenției Democratice din Romania din județele Transilvaniei,
Klausenburg, 12. September 1992. Weitere Quellen bei K. Lengyel, Rumänische Recht-
fertigung und magyarischer »Revisionismus«, aaO.
Lengyel - Warten auf das Wunder 283
gen desintegrativ wirkt und die militärische Durchsetzung national- und sicher-
heitspolitischer Strategien mit einschließt”, dies sogar dann, wenn — wie im Falle
Transnistriens — die gleichethnische, also die rumänische Bevölkerung die demo-
graphische Minderheit bildet”.
Die ungarische Staatsführung wirkte in den letzten Jahren an der Wiedergeburt
des Nationalen * tatkräftig mit. Dessen Vorrang erschwerte ihr nicht nur die Weg-
suche zwischen dem Europa der Nationalstaaten und dem Zuropa der (womöglich
noch zu gründenden) Regionalstaaten. Auf den Wettbewerb der Eliten im Land
rückwirkend, behinderte er auch die Verständigung auf die ideologischen und
wirtschaftlichen Grundsätze des Staatsaufbaus, welche die nationskritisch-sozialen
Liberalen in der Opposition und die traditionsbewußt-nationalen Liberalen an der
Macht gleichermaßen als verbindlich anerkennen. Es wäre müßig, abzuwägen,
welcher der drei geschilderten Entscheidungszwänge in der Donaumetropole um
die Jahreswende 1992/1993 am schwersten wog. Jözsef Antall führte eine Regie-
rung an, die sich 1990 mit der europäischen und gesamtnationalen Integration eine
nicht minder verwickelte Aufgabe gewählt hatte als in den beiden anderen Berei-
chen des Systemwandels. Die Überwindung aller drei Dilemmata wird ihr wohl
erst gelingen, wenn sie sich nicht mehr nur Optionen gegenübersieht, die miteinan-
der unverträglich sind. Solange ihr die Wahlen zwischen guten Dingen, also die
Alternativen, verwehrt sind, muß auch der Beobachter die eingangs aufgeworfene
Frage offen lassen, wie lange denn besagte Wunder dauerten? Aber sollte Ungarn
auf sie überhaupt erpicht sein? Im Wunder verkümmert nämlich die Eigenschaft
des Menschen, auf der doch wohl unendlichen Suche nach dem nächst Vollkom-
menen vorerst auch mit bescheideneren Leistungen zufrieden zu sein.
Zusammenfassung
Im Kern der Konflikte, die seit der Wende in Ungarn 1990 im Rahmen des sich
wandelnden Systems bis Ende 1992 auftraten, verbarg sich der durch die innere
Entwicklung der vormaligen Opposition vorprogrammierte Gegensatz zwischen
Interessen und Normen der politischen Eliten. Diese sahen sich in der ersten, zwei-
jährigen Phase des Postsozialismus ım wesentlichen drei Dilemmata gegenüber,
die jeweils eine Wahl zwischen gleich unangenehmen Dingen nahelegten. Das
97 Jody Jensen, »Integräciö és dezintegräciö Európában. A tärsadalomtudomänyok és a poli-
tika új kérdései« in: Kelet-Európa 1991/2, S. 89.
98 Die Ruminen, in der Fachliteratur oft als »Moldawier« bezeichnet, stellen nur in der
gesamten ehemaligen Moldawischen Sozialistischen Sowjetrepublik, der heutigen Repu-
blik Moldawien, eine 63,9 %-Mehrheit, neben 14,2 % Ukrainern, 12,8 % Russen, 3,5 %
Gagausen (griechisch-orthodoxe Türken), 2% Bulgaren und 2% Juden (Silvia Topf,
»Moldawien« in: Das neue Osteuropa von A-Z, aaO., S.422; World Directory of Minori-
ties, aaO., S. 164).
99 Kurt Hübner, Das Nationale. Verdrängtes, Unvermeidliches, Erstrebenswertes, Graz/Wien/
Köln 1991; Richard Schröder, »Renaissance des Nationalen?« in: Die politische Meinung
37 (1992) 268, S. 90-95.
7fP 40. Jg. 3/1993
19*
284 Lengyel - Warten auf das Wunder
erste Dilemma fing die institutionell-rechtliche Umgestaltung und ideologische Neu-
orientierung ein, weil diese Aufgabe entweder zur gefühlsmäßigen Spaltung der
Öffentlichkeit durch scharf gegensätzliche Parteiprogramme verleiten oder die
Einebnung des Parteienpluralismus in einer großen Koalition bedingen konnte.
Zweitens mochte der wirtschaftliche Modellwechsel und der Versuch zur sozialen
Befriedung der Gesellschaft die Gefahr heraufbeschwören, entweder mit einer über-
mäßigen institutionell-rechtlichen Absicherung des ökonomischen Neuanfangs die
Transparenz hoher Entscheidungen zu schmälern oder mit populären Maßnah-
men die soziale Schonzeit auf Kosten der Marktwirtschaft zu verlängern. Das
dritte Dilemma setzte politische Selbstbestimmung und gesamtnationale Integration ın
spannungsreiche Beziehung, weil es die westlich eingeengte und auf zwischenstaat-
liche Zusammenarbeit abgestellte Idee der kontinentalen Integration mit außenpo-
litischen Konzepten konfrontierte, die eine interessenpolitisch durchdachte Einbe-
ziehung der östlich-südöstlichen Räume anmahnten, eine Auswahl der Bündnis-
partner trafen und von der Mitwirkung nichtsouveräner ungarischer Volksteile
beziehungsweise deren Siedlungsregionen ausgingen.
Summary
In the heart of conflicts, appearing since the beginning of systematical reforms in
1990 until end of 1992, there could be found the difference between the interests
and the norms of the political elite. They were predetermined by the different
intern developments of the former political opposition. These political elites saw
themselves confronted in the main with three dilemmas implying the choice be-
tween substancially unpleasant options.
First was the institutional-legal reorganization and ideological reorientation. This
task could have led either to the emotional splitting of the public through con-
trasting party manifesties or to the levelling of pluralism in a great coalition.
Second was the economic reforms and the task to satisfy social demands in order to
stabilize the community. These aims comprised the unintended consequences of ei-
ther reducing political option’s lucidity through excessive legalization and insutu-
tionalization of economy’s reconstruction, or extending its way to open market
economy through popular and mainly socio-political but economical ineffective
decisions.
Third was the tension between the political self-determination and the national (in
the sense of ethnical) integration as a whole. The idea of international cooperation
and westward oriented continental integration was in competition with eastward
oriented foreign policy concepts. These last mentioned programmes demanded
namely the eastern- and southeastern aera’s inclusion, the (political motivated)
allies’ selection and the participation of the non-sovereign magyar population and
their regions of settlement.
Stefan Fröhlich
Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
Amerikanische Vorstellungen auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Ordnung
Nach den revolutionären Veränderungen in Europa rückt eine Entwicklungsten-
denz, die bereits seit langem das Interesse der Analytiker internationaler Beziehun-
gen findet, auch in den USA in den Mittelpunkt der Diskussion um das künftige
Engagement auf dem alten Kontinent: Die Entdeckung, daß in der Gegenwart
weniger militärische Macht und Stärke als vielmehr Wirtschaftskraft, Handels-
überlegenheit und technologischer Fortschritt die Kräfteverhältnisse in den inter-
nationalen Beziehungen bestimmen!. Der Zusammenbruch des Sowjetreiches und
das Streben der vorgelagerten Staaten Mitteleuropas nach Demokratie und markt-
wirtschaftlicher Ordnung lassen das Konzept offener und interdependenter Han-
delsstaaten nach westlichem Muster als das letztlich erfolgreichere erscheinen.
Macht definiert sich nicht mehr — wie noch zu Zeiten des Ost-West-Gegensatzes —
primär durch militärische Stärke und durch die Kontrolle territorial klar umgrenz-
ter Einflußsphären zweier Supermächte, sondern eben durch wirtschaftliche und
technologische Überlegenheit sozial disziplinierter Handelsstaaten?.
Parallel beobachten wir einen Prozeß, in dem die Staaten Osteuropas und
Lateinamerikas, China und Indien mit mehr als drei Milliarden Menschen auf die
Welt- und internationalen Kapitalmärkte drängen und in der amerikanischen Poli-
tık Protagonisten einer unverändert richtungsweisenden Führungsrolle des Landes
im liberalen Geiste der Mitte der vierziger Jahre zunehmend unter Druck durch
Apologeten einer nationalen Engstirnigkeit geraten, die in den zwanziger Jahren
dieses Jahrhunderts schon einmal so verhängnisvoll war für den europäischen
Kontinent’. Drohen die USA deswegen zur zögerlichen Supermacht zu werden?
Michael Brenner und Phil Williams von der University of Pittsburgh erinnern in
einer Studie zur amerikanischen Sicherheitspolitik der neunziger Jahre an eine
Prophezeiung Alexis de Tocquevilles, nach der »die Gefahr eines amerikanischen
1 Richard Rosecrance, The Rise of The Trading State: Commerce & Conquest in the modern
World, New York 1986.
2 Walter Wriston, »Technology and Sovereignty« in: Foreign Affairs, Winter 1988, S. 63-75.
3 Vgl. David D. Hale, »Global Super Market: The Real Peace Divident is Three Billion New
Customers« in: Policy Review, No. 60, Spring 1992, S. 4-8.
ZfP 40. Jg. 3/1993
286 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
Niedergangs vom »Mangel an Ehrgeiz: herrühren würde, und nicht von der Nie-
derlage im Krieg oder von wirtschaftlichem Versagen. Ein wankendes Zielbe-
wuftsein, dachte er, könnte das Vertrauen in die amerikanische Einzigartigkeit
untergraben, die den Kern von Amerikas nationalem Selbstverständnis bildet. Die
gegenwärtige Infragestellung des amerikanischen Beitrags in der Welt nach dem
Kalten Krieg«, so die Schlußfolgerung beider Autoren, »verleiht Tocquevilles Vor-
ahnung Relevanz und Schärfe«‘*.
Einige grundlegende Perspektiven des Wandels in Osteuropa
Die Vision einer internationalen Ordnung in Europa nach dem Muster der die
Mitgliedstaaten der OECD umfassenden westlichen Handelswelt könnte in nicht
allzu ferner Zukunft Gestalt annehmen, vorausgesetzt allerdings, die Unabhängig-
keits- und Demokratiebestrebungen im Osten Europas führen zu einem erfolg-
reichen Abschluß. Die allmähliche Einbindung der neuen Demokratien wie
Polens, der CSFR oder Ungarns, ın das Weltwirtschaftssystem und die Vielzahl
bestehender Interdependenzen von der EG und den GATT-Systemen bis hin zu
den Vereinten Nationen wäre ein erster Schritt in diese Richtung. Er könnte sich
dank ihrer besseren Vorbereitung des Übergangs und ihrer traditionellen Zugehö-
rigkeit zur westlichen Welt relativ rasch verwirklichen lassen.
In den USA hat man daher bereits sehr früh die »Bildung eines Zentrums für
Volkswirtschaften im Übergang durch die OECD gefordert und engere Beziehun-
gen zwischen den Reformstaaten und der OECD gefordert«*. Man ist durchaus
gewillt, Osteuropa zunehmend in politische und wirtschaftliche Strukturen einzu-
schließen, wie etwa in den Europarat oder langfristig auch in eine erweiterte Euro-
päische Gemeinschaft.
Problematischer wird die Sache aus der Sicht der GUS oder solcher labilen,
halb-autoritären Staaten wie Bulgarien, Rumänien, Albanien oder der Zerfalls-
masse Jugoslawien. Sie stehen den rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen
Traditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weniger nah, so daß sich Pro-
gnosen über den ungefähren Zeitrahmen ihrer Integration nach Meinung der
Amerikaner kaum stellen lassen. Auch in Washington stellt man eben mit Blick
über die Oder nach Osten und über das Donautal nach Südosten fest, daß die
Lage weiterhin recht labil ist und in manchen Regionen gar proto-anarchische
Züge aufweist. Dies wiederum läßt die Aussichten auf eine solche europäische
Friedensordnung gering veranschlagen.
4 Michael Brenner / Phil Williams, »Europa und die Vereinigten Staaten: Amerikanische
Sicherheitspolitik ın den neunziger Jahren« in: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-
Stiftung, Interne Studien, Nr. 36 (Mai)/ 1992, S. 85.
5 Clay Clemens, »Die inneramerikanische Diskussion um die künftige Rolle der USA ın
Europa« in: Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, /nterne Studien, Nr. 28
(August)/1991, S. 55.
Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional 287
Skeptiker gehen sogar noch einen Schritt weiter und geben ganz im Stile der
Dependencia-Theoretiker zu bedenken, daf fiir den Fall einer Eingliederung die-
ser Staaten eine noch stärkere Abhängigkeit von den Industrieländern zu erwarten
sei. So bestehe die Gefahr, daß die Macht der industriellen Demokratien mittelfri-
stig gar erheblich gestärkt werde und es zu gefährlichen wirtschaftlichen Ungleich-
gewichten im europäischen Gefüge komme. Dies wiederum könne den traditionel-
len Widerstreit der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zwi-
schen den Vernunftgeboten der industrialisierten Handelswelt und dem Atavismus
der »militärisch-politisch-territorialen« Welt, die auf dem Prinzip der Maximie-
rung einzelstaatlicher Souveränität, des relativen Machtvorsprungs und der Kon-
trolle der übrigen Staatenwelt beruhe, einmal mehr zugunsten der letzteren Ten-
denz aufleben lassen‘.
Der deutsche Nationalökonom Friedrich List hat die möglichen Konsequenzen
solcher ökonomischen Asymmetrien mit Blick auf die wirtschaftliche Überlegen-
heit Großbritanniens bereits in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
wie folgt beschrieben: »Je mehr ihre Ökonomie entwickelt und vervollkommnet
ist, desto zivilisierter und mächtiger ist die Nation.«? Demnach könnte der derzei-
tige Umbruchprozef in Europa kurz- wie mittel- bis langfristig gleich zwei Gefah-
ren bergen: Erstens, wenn Aufbau und Erhalt einer leistungsfähigen Wirtschaft
grundsätzlich Voraussetzung für politische Stabilität sind, dann bilden wirtschaft-
liches Chaos, soziale und interethnische Spannungen in den Staaten der zweiten
Kategorie die gegenwärtigen Hauptgefahrenquellen für die Schaffung einer euro-
päischen Friedensordnung®. Zweitens, werden diese Staaten aufgrund ihres ver-
ständlichen Drängens zu früh in die westeuropäischen und transatlantischen Insti-
tutionen wirtschaftlicher und (sicherheits-)politischer Zusammenarbeit integriert,
besteht eben zusätzlich diese Gefahr, daß wirtschaftliche Überlegenheit der indu-
striellen Demokratien des Westens in außenpolitische Macht umgesetzt wird und
deren Machtposition gegenüber diesen Ländern weiter vergrößert.
Solche neuen Formen der Machtpolitik passen nicht gut in eine Zeit, da manche
meinen, dem Frieden nach der Zäsur der Jahre 1989-91 ein erhebliches Stück
näher gerückt zu sein, sind aber nun einmal nicht auszuschließen. Wer sagt nicht,
daß die westlichen Handelsmächte ihre Überlegenheit nicht verdeckt, und doch
ganz gezielt zur wirksamen Durchdringung der osteuropäischen Wirtschaftsräume
nutzen werden und so ein dem globalen Nord-Süd-Gefälle ähnliches innereuropä-
isches West-Ost-Gefälle schaffen.
So oder so stellt die praktisch über Nacht offen zu Tage getretene, beinahe
totale Abhängigkeit des Ostens von westlicher Hilfestellung für diese Länder das
größte Problem und für den Westen die entscheidende (sicherheits-)politische
Herausforderung dar. Nach jahrzehntelanger Abschottung von den Weltmärkten
6 Beispiele hierfür liefert Rosecrance, aaO.
7 Friedrich List, Schriften in zwölf Bänden, VI, S. 49.
8 James Gregor, »The Balance of Power Conflicts in Eurasia« in: Global Affairs, Spring
1990, S. 45-70.
ZfP 40. Jg. 3/1993
288 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
und internationaler Kommunikation aufgrund des oktroyierten »Außenschutzes«
wirkt das plötzliche Hineinstolpern in die Strukturen der modernen Handelswelt
vor dem Hintergrund des nunmehr offenen Hinwegspülens vermeintlicher wirt-
schaftlicher und sozialer Errungenschaften des alten Systems wie ein Schock. Bei
mangelnder Abfederung durch eigene Anstrengungen und entsprechender Hilfe-
stellung des Westens bei der Modernisierung dürfte er rasch Vorbehalte und Res-
sentiments der Ostländer hervorrufen, die aus ganz plausiblen Gründen zu einer
stabilitätsbedrohenden Neubewertung militärischer Macht und Gewaltanwendung
nicht nur in der Region führen könnten. In dem Maße nämlich, wie wirtschaftliche
Ungleichgewichte nicht abgebaut werden, erwächst den wohlhabenden westlichen
Industriestaaten die Gefahr der Masseneinwanderung aus der verarmten Periphe-
rie, mit all den Konsequenzen für die eigene soziale und wirtschaftliche Kohäsion.
Man verfolge nur die anhaltende Debatte hierzulande über die wachsende Zahl
von Asylanten, um eine annähernde Vorstellung davon zu bekommen, welch unge-
heuren sozialen Sprengstoff ein weiterer Zuzug in jedem Fall birgt.
Die Ursachen für mögliche Konflikte auf dem europäischen Kontinent werden
demnach in den neunziger Jahren wesentlich vielschichtiger sein als zu Zeiten des
ideologisch bedingten, eindimensionalen Ost-West-Gegensatzes der vergangenen
vier Jahrzehnte. Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional. Transatlantische
Bemühungen um Stabilität in Europa werden sich sowohl auf die im Zuge von
Dezentralisierungs- und Autonomiebestrebungen im Osten zunehmenden Grenz-
probleme als auch die mit den ökonomischen Schwierigkeiten verbundenen Pro-
bleme bei der Errichtung der Demokratie in Form entsprechender politischer
Strukturen konzentrieren müssen. Parallel dazu geht es um eine angemessene
Adjustierung transatlantischer Sicherheitspolitik in Europa, die einerseits den Ver-
änderungen im Osten Rechnung trägt, andererseits die neuen Größenverhältnisse
des durch die Wiedervereinigung erneut in die Mittellage Europas gerückten
Deutschlands berücksichtigt.
Von den amerikanischen Schwierigkeiten als europäische Macht
Diese Trends stellen die amerikanische Außenpolitik vor ein doppeltes Dilemma:
Erstens hinterläßt die Aufhebung des Ost-West-Antagonismus für die Vereinigten
Staaten insofern ein Machtvakuum, als der künftige Einsatz militärischer Mittel
als ultima ratio der Konflikt- und Krisenbewältigung auf dem alten Kontinent
fraglicher geworden ist. Nach dem Zerfall des Sowjetreiches hegen viele zwar die
Befürchtung, die nunmehr einzig verbliebene Supermacht werde ihre traditionellen
Ordnungsvorstellungen der »Neuen Welt« auf die Welt von heute mit noch größe-
rem Nachdruck zu übertragen versuchen. Es könnte aber auch der umgekehrte,
derzeit unter der Clinton-Administration erkennbare Trend einsetzen, daß eine
Demokratie wie die USA ohne den existenzbedrohenden Gegenspieler gar nicht
mehr dazu in der Lage ist, Supermacht zu bleiben, weil die eigene. Bevölkerung
nun die Umleitung der Ressourcen auf innere Erneuerung und Ausbau des Wohl-
Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional 289
fahrtsstaates bei gleichzeitiger Reduktion des weltpolitischen Engagements for-
dert. Wir kennen mittlerweile auch hierzulande die verstärkt seit den Thesen des
Historikers Paul Kennedy vom »wirtschaftlichen Niedergang« (economic decline)
und der »imperialen Überdehnung« (imperial overstretch) in den USA geführten
Rückzugsgefechte um die Schule der sogenannten »declinists« oder »devolutio-
nists«?. Beschleunigt werden könnte dieser Prozeß einer allmählichen amerikani-
schen Abwendung durch allzu großzügiges Experimentieren der deutschen und
französischen Bündnispartner mit den Plänen eines gemeinsamen Korps als Vor-
stufe eines Euro-Korps oder der WEU als europäische Verteidigungsalternative
zur NATO; beides belastet die traditionelle Debatte um eine angemessene Risiko-
teilung zusätzlich.
Will man sich somit seinen Platz als europäische Macht über dieses Jahrhundert
hinaus erhalten, wird man einerseits um eine stärkere Politisierung der militäri-
schen Organisation, sprich der NATO, nicht herumkommen, andererseits über
den sicherheitspolitischen Fokus hinweg neue Formen der transatlantischen
Zusammenarbeit finden müssen. Amerikanische Europapolitik wird Dominanz
durch Abhängigkeit ersetzen müssen, um den Herausforderungen eines interde-
pendenten Multilateralismus begegnen zu können. Nationale wie regionale Diffe-
renzen bestimmen zunehmend den Charakter der internationalen Handels- wie
Kapitalströme. In Europa zeichnet sich bereits unmittelbar vor Vollendung des
Binnenmarktes ähnlich wie in Japan eine Tendenz zur Entwicklung unabhängiger
Technologiebasen ab, die bei ausbleibender Adjustierung der amerikanischen
Europapolitik zu empfindlichen Rückschlägen in den transatlantischen Beziehun-
gen führen könnte”. Die Tatsache, daß der Aufbau der Ostländer auf vorerst
unbestimmte Zeit die Wirtschafts- und Finanzkraft sowohl der Einzelstaaten wie
der EG absorbieren wird, könnte den Trend zur Regionalisierung aus amerikani-
scher Perspektive zusätzlich verstärken.
Zweitens fühlen sich die Amerikaner als Demokraten einerseits natürlich ver-
pflichtet, die Demokratisierungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen im Osten zu
unterstützen, andererseits aber neigt man aus realpolitischen Erwägungen dazu,
jeweils auf die stärkste Kraft im Verbund, so im Falle der GUS auf die Russische
Föderation, zu setzen, da man bei Verlust einer Zentralgewalt befürchtet, daß
wirtschaftliche, soziale und ethnische Spannungen noch an Explosivität zunehmen
könnten und der Wandel in diesen Ländern dann erst recht nicht durch geordnete
demokratische Prozesse, sondern durch Gewalt vonstatten geht. Die Amerikaner
suchen daher nach einer mit den Bündnispartnern abgestimmten Antwort auf die
Identitätsdebatten und Demokratieentwicklungen in Ost- und Mitteleuropa, die
9 Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers: Economic Change and Military Con-
flict from 1500-2000, New York 1987, S. 438-535. Desw. David C. Calleo, Beyond Ameri-
can Hegemony, New York 1987, Kap. 12.
10 Vgl. hierzu Michael Borrus / John Zysman, »Industrial Competitiveness and National
Security« in: Graham Allison / Gregory Treverton (H.), Rethinking America’s Security.
Beyond Cold War to New World Order, New York 1992, S. 136-175.
ZfP 40. Jg. 3/1993
290 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
dem Dilemma zwischen demokratischer und geostrategischer Verantwortung ent-
spricht, d. h. sowohl eine Politik wohlwollender Unterstützung der demokratisch
und wirtschaftlich orientierten Bewegungen in Osteuropa wie auch eine Politik
des vorsichtigen Attentismus und differenzierter Behandlung entwickelt".
Europapolitische Konzeptionen in den USA
Sicherheit und Wohlstand Westeuropas und des Westens insgesamt werden primär
vom Erfolg einer »Second European Reconstruction« bestimmt werden. Die wich-
tigste Sicherheitsvorsorge für Europa liegt im Aufbau eines umfassenden Kon-
zepts, welches den ökonomischen, sozialen und politischen Instabilitäten Osteuro-
pas Rechnung trägt; sie könnten einzig der Ursprung militärischer Risiken sein.
Schließlich war ja auch die völlig desolate wirtschaftliche Lage der Sowjetunion
aufgrund einer eher halbherzigen Perestrojka neben den Sezessionsbestrebungen
der Einzelrepubliken das zumindest vordergründige Motiv für die Putschisten im
August 1991.
Anders als bei der Initiative »Year of Europe« Anfang der siebziger Jahre geht
es den Amerikanern diesmal deshalb nicht darum, sıch mit Hilfe einer neuen
Atlantic Charta ausschließlich auf Westeuropa zu konzentrieren. Washington ist
bestrebt, die europäisch-amerikanischen Beziehungen so zu gestalten, daß sie den
weitgehenden Veränderungen in ganz Europa gerecht werden. Dabei stellt man
sich eine Arbeitsteilung unter den Bündnispartnern dergestalt vor, daß die EG die
Hauptkosten für den wirtschaftlichen Aufbau des Ostens übernimmt und die
NATO unter unveränderter Ägide der Amerikaner für die Sicherheit Europas ver-
antwortlich bleibt. Der Dritte in diesem Komplementärgefüge, die KSZE, soll
schließlich dem Sicherheitsbedürfnis der Länder Mittel- und Osteuropas und der
GUS-Staaten durch Einbeziehung in verläßliche gesamteuropäische Strukturen
entsprechen "2.
Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen in gesamteuropäischer Perspektive
Die Vorteile der europäischen Einigungsdynamik hinsichtlich der neuen Markt-
chancen für die eigene stark exportabhängige Wirtschaft sind mittlerweile auch
von den Amerikanern erkannt worden. Der große Schub besonders in der zweiten
Hälfte der achtziger Jahre läßt die Amerikaner trotz der zeitweise weitverbreiteten
Annahme, die Entwicklungen im Osten Europas könnten vorübergehend eher re-
tardierende Auswirkungen auf den Integrationsprozeß haben, davon ausgehen,
daß die Dynamik anoh in den neunziger Jahren weitgehend anhalt und ihnen nach
Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion aus dem derzeit noch stark
11 Zbigniew Brzezinski, »Selective Global Commitment« in: Foreign Affairs, Fall 1991,
S. 1-20.
12 So Außenminister Baker bereits am 13. Dezember 1989 nach Amerika- Dienst (USIS) vom
gleichen Tag.
Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional 291
fragmentierten europäischen Markt neben Japan die größte wirtschaftliche Her-
ausforderung erwächst.
Damit dieser Prozeß nicht gefährdet wird, hofft man in Washington, daß sich
die Bündnispartner weiterhin von einigem Realitatssinn bei ihren Erweiterungsbe-
mühungen leiten lassen. Mehr als ein assoziierter Status ist für die ost- und mittel-
europäischen Länder schon aufgrund der zuletzt mit der Römischen Erklärung
vom Dezember 1990 angehobenen politischen Schwelle aus ihrer Sicht vorerst
nicht möglich’; die derzeitigen Schwierigkeiten in den neuen Ländern Deutsch-
lands machen dies überdeutlich. Und wenn es denn doch zu solchen Fehlern wie
bei der seinerzeitigen Aufnahme des im Grunde noch nicht EG-reifen Griechen-
lands kommen sollte, so hat man in Washington wenigstens unmißverständlich
klar gemacht, daß man die Übernahme der Hauptlasten von den Westeuropäern
erwartet.
Konkret heißt dies für Washington, daß man sich mit der Europäischen
Gemeinschaft vor allem um eine Koordinierung der aus Sicht der Amerikaner
wichtigen Politiken im Handelsbereich, bei wirtschafts- und währungspolitischen
Fragen, der technologischen Zusammenarbeit einschließlich Wissenschafts- und
Standardisierungsfragen, bei Umweltfragen und schließlich auf dem Felde der
Ostpolitik unter sicherheitspolitischen Aspekten bemüht. Washington will in jeder
Phase Einfluß auf die Gestaltung des Binnenmarktes und seine strukturellen Aus-
wirkungen auf Amerika nehmen und durch verstärkte transatlantische Konsulta-
tionen überraschenden Zwölfer-Positionen in internationalen Gremien wie OECD
und IWF vorbeugen, in denen bisher eher multilaterale Zusammenarbeit
herrschte“. In der Diskussion um die rivalisierenden Tendenzen der Politik der
Gemeinschaft zwischen Vertiefung auf der einen und Erweiterung auf der anderen
Seite haben die USA von Anfang an unmißverständlich zum Ausdruck gebracht,
daß Integrationsfortschritte der Gemeinschaft Voraussetzung für jede Erweite-
rung durch die neuen Demokratien des Ostens sind.
Die Haltung gegenüber den Reformprozessen im Osten
Entsprechend übt sich auch die Clinton-Administration bei der Unterstützung des
wirtschaftlichen Aufbaus im Osten bis heute in vornehmer Zurückhaltung. Ein
zweiter Marshallplan wurde aufgrund der eigenen angespannten Haushaltslage
von vorneherein abgelehnt‘. Auf europäische Einwände, Amerika solle sich auch
finanziell stärker an den Reformprozessen beteiligen, reagierte man in Washing-
ton schon unter der Bush-Administration mit dem Hinweis auf die im Vergleich
13 Vgl. Peter Weilemann, »Der Wandel in Westeuropa« in: Dieter Mahncke (H.), Amerika-
ner in Deutschland, Bonn/Berlin 1991, S. 53-97.
14 Vgl. die Rede Bakers in Berlin vom 12. Dezember 1989 in: ZA, Vol.45, Nr. 4
(25. 2. 1990), S. D. 80.
15 Jenonne Walker, »Avoiding Risks and Responsibility. The United States and Eastern
Europe« in: Current History, Vol. 91, No. 568, November 1992, S. 364-368.
16 U.S. Policy Information and Texts, 27. Mai 1993.
ZfP 40. Jg. 3/1993
292 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
zur Situation des westlichen Nachkriegseuropas grundsätzlich andersartige Aus-
gangslage Osteuropas zu Beginn der neunziger Jahre. 1948 habe es sich zwar um
eine vom Krieg zerstörte Region gehandelt, jedoch verfügte sie über das für einen
raschen Wiederaufbau erforderliche »Know-how, die wirtschaftliche Infrastruk-
tur, die demokratischen Institutionen und Traditionen«; in Osteuropa aber wären
vergleichbare Voraussetzungen nicht erfüllt”. Dort, wo die zentralen Werte der
amerikanischen Philosophie, freie Märkte und Demokratie, allerdings erfolgreich
eingeführt würden, sei man bereit, ideelle Hilfe zu leisten und normale Wirt-
schaftsbeziehungen aufzunehmen.
Einen Sonderfall in diesem Strategieansatz bildet aus Washingtoner Sicht ledig-
lich die Russische Féderation. Nachdem sich die Hilfsbereitschaft anfanglich auf-
grund zweifelhafter Erfolgsaussichten der innersowjetischen Perestrojka und der
zögerlichen Haltung zu ristungskontrollpolitischen Fragen, nicht zuletzt aber
auch wegen der Repressionspolitik gegenüber den Freiheitsbestrebungen der Ein-
zelrepubliken in engen Grenzen hielt, ist seit der Auflésung des Sowjetreiches
doch eine deutliche Kursänderung der Clinton-Administration erkennbar. Nun-
mehr besteht zumindest eine auffällige Tendenz, vom traditionellen »lin-
kage«-Konzept, das zur Richtschnur des außenpolitischen Ansatzes gegenüber
den neuen Demokratien und den GUS-Staaten erhoben wurde, abzuweichen und
von Moskau zunächst lediglich bestimmte makroökonomische Stabilisierungsmaß-
nahmen einzufordern, während man vor allem von den neuen Demokratien gleich-
sam die parallele Einführung der ganzen Palette der Grundelemente einer Markt-
wirtschaft durch Privatisierung, Landreform und Reformierung des Rechtswesens
verwirklicht sehen will. Wie sonst wollte man erklären, daß allein die von Clinton
in Vancouver Anfang April dieses Jahres zugesagten Hilfen an Moskau in Höhe
von 1,6 Mrd. Dollar trotz unterschiedlicher Reformstände die für Mittel- und
Osteuropa, die baltischen Staaten und die übrigen Republiken der ehemaligen
Sowjetunion bisher jährlich eingeplanten Mittel in Höhe von ca. 1 Mrd. Dollar
weit überschreiten!*. Würde man in der Praxis strikt nach eben diesem »lin-
kage«-Prinzip verfahren, müßten die Rußland gewährten Mittel geringer ausfallen
oder umgekehrt der von Prag oder Warschau mit Phantasie und Wagemut
beschrittene »Weg zurück nach Europa« großzügiger begleitet werden. In den
neuen Demokratien jedoch beschränkt Washington sich primär auf kurzfristige
humanitäre und technische Hilfe, um so die Infrastruktur für spätere westliche
Investitionen und finanzielle Hilfe zu schaffen.
Die Clinton-Administration verweist zwar auf umfangreiche Nahrungsmittellie-
ferungen bereits ihres Vorgängers unter den Operationen »Provide Hope«, Hilfe-
stellungen bei der Reform des Rechts-, Rechnungs- und Bankwesens als Voraus-
setzung für höhere ausländische Investitionen, Unterstützung bei der Erstellung
17 Amerika Dienst vom 21. März 1990.
18 Bundesinstitut für ostwissenschaftliche Studien (H.), Aktuelle Analysen, Nr. 22/1993
(25. Mai), »Mehr Hilfe für Rußland? Neue multi- und bilaterale Unterstützungsansätze
seitens der G7-Staaten«, Teil III, Köln; U.S. Policy Information and Texts, 29. Juni 1992.
Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional 293
von zuverlässigen, für das Funktionieren marktwirtschaftlicher Instrumente uner-
läßlicher Statistiken, auf Lockerungen der Kontrolle für Hochtechnologieexporte
(Cocom) nach Prag, Warschau oder Budapest oder auf die direkten Hilfen der
zahlreichen Peace Corps, die sich insbesondere im Ausbildungssektor (Englischun-
terricht an Schulen und Universitäten) verdient machten. Unter dem Strich aber
nımmt auch bei der jetzigen Administration der Privatsektor als »wichtigstes Mit-
tel amerikanischer Präsenz und amerikanischen Einflusses« in der Strategie Wash-
ingtons gegenüber den Staaten Mitteleuropas die zentrale Stellung ein '°.
Die Regierung in Washington argumentiert, daß für alle Staaten verbindliche
Normen und Regeln im mikroökonomischen Bereich letzten Endes gar nicht fest-
zulegen sind, um an ihnen die Bedingungen für konkrete Wirtschaftshilfe auszu-
machen; hier kann der Westen insgesamt nur beratend tätig werden. Es muß den
einzelnen Ländern überlassen bleiben, ob sie beispielsweise bei der Privatisierung
das wesentlich stärker auf Fairneß und Kompensation bedachte, komplizierte
Zuteilungssystem Warschaus oder das spekulative und zeitsparende Losverfahren
Prags wählen wollen. Die Vorstellung, daß in diesen Ländern der (individuelle)
Emanzipationsprozeß zudem bereits so weit fortgeschritten seı, daß der Schritt in
die gemeinsam vermarktete Welt praktisch schon vollzogen ist und aus ihnen
keine für Europa stabilitätsbedrohenden Rückschläge mehr zu befürchten sind,
läßt Washington seine finanziellen Anstrengungen primär auf Rußland als letzte
potentielle Großmacht in der Region konzentrieren. Vielleicht verläßt man sich
dabei allzu sehr auf »die Tatsache, daß zumindest in Ungarn, Polen und in der
Tschechoslowakei« die Revolutionsführer »eine klare Vorstellung von dem Ver-
fassungssystem hatten, das sie aufzubauen gedachten, ein System, das nicht wenig
an jenes erinnert, das in den Vereinigten Staaten (die man auch ein transatlantı-
sches Europa nennen könnte) vor zweihundert Jahren eingeführt wurde« %.
Im Falle Rußlands jedenfalls war Washington wenigstens bereit, im Rahmen des
Tokioter Finanzpakets der Siebenergruppe in diesem Jahr einen nennenswerten
finanziellen Beitrag zu leisten, da man bei Ausbleiben entsprechender materieller
wie ideeller Unterstützung vor allem um die Stabilität der Region fürchtet. Unge-
achtet periodisch auftauchender Warnungen aus Moskau vor möglichen Putsch-
versuchen einer Koalition aus Alt-Kommunisten und Neo-Nationalisten ?', die den
demokratischen Kräften vorwerfen, sie würden sich zu sehr westlichen Vorstellun-
gen beugen und das Land dem amerikanischen Diktat unterwerfen, zeigte sich
jedoch selbst hier die Tendenz, die Integration Rußlands und der anderen Nach-
folgestaaten in die Weltwirtschaft in erster Linie den internationalen Finanzorga-
19 Vgl. Amerika-Dienst vom 21. März 1990.
20 Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas
1980-1990, München/Wien 1990, S. 346.
21 Siehe hierzu die Studie von Heinz Timmermann, »Schwerpunkte der Außenpolitik Ruß-
lands unter Jelzin« in: Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche Studien,
Nr. 25, 1. Juni 1992.
ZfP 40. Jg. 3/1993
294 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
nisationen zu überantworten2. Bereits im Vorfeld des Gipfels drängte man auf
eine Übereinkunft des IWF mit Rußland, damit dieser den Tokioter Gipfelteilneh-
mern ein deutliches Signal setzen konnte. Immerhin aber kiindigten die Amerika-
ner auf der Tokioter G7-Konferenz am 14. und 15. April dieses Jahres parallel zu
dem von den Außen- und Finanzministern geschnürten multilateralen Hilfspaket
für Rußland im Volumen von 43,4 Mrd. Dollar eine Aufstockung ihres Vancou-
ver-Hilfsprogramms um weitere 1,8 Mrd. Dollar vorbehaltlich der Zustimmung
des US-Kongresses an — die Summe wurde allerdings bereits wenige Tage darauf
um 500 Mio. Dollar gekürzt, die für einen von den Amerikanern angeregten, von
den anderen G7-Partnern anfangs abgelehnten, später aber doch noch zustandege-
kommenen Privatisierungsfonds in Höhe von 3 Mrd. Dollar bereitgestellt werden
sollten.
Spannungsverhaltnis zwischen finanziellem Transfer und wachsenden
Problemen im Innern
Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Nachkriegs-Administrationen in vier
Jahrzehnten Ost-West-Gegensatz annähernd 5 Billionen Dollar zur Verteidigung
der sowjetischen Bedrohung investiert haben, scheint vielen die insgesamt doch
deutliche amerikanische Zurückhaltung in bezug auf die finanzielle Unterstützung
der Reformprozesse unverständlich. Sicherlich nimmt sich die bisher geleistete
Osteuropa-Hilfe der Amerikaner in Höhe von ca. 8 Milliarden Dollar vergleichs-
weise geringfügig aus, verteilt man sie noch dazu auf die Einzelstaaten oder mißt
sie an der von anderen westlichen Bündnispartnern trotz ähnlicher Haushalts-
engpässe geleisteten Hilfe. Die Diskrepanz zwischen symbolischen Versuchen,
eine über Europa hinausweisende stabile Ordnung zu schaffen, wie durch die
Anwesenheit des russischen Präsidenten Jelzin auf dem G7-Treffen dokumentiert,
und einer eher halbherzigen Unterstützung insbesondere der dem Westen gegen-
über aufgeschlosseneren Staaten Mitteleuropas ist auffällig.
Die zögerliche Behandlung des Milliarden-Hilfsprogramms für Rußland durch
den Auswärtigen Ausschuß des Senats im vergangenen Jahr deutete jedoch an, wie
schwer es künftig würde, große Hilfspakete, gleich welcher Zweckbestimmung, zu
schnüren. Auch als der Senatsausschuß den »Freedom Support Act of 1992«, der
neben dem amerikanischen Beitrag (12 Milliarden Dollar) zur Quotenerhöhung
des Internationalen Währungsfonds (IWF) auch den amerikanischen Anteil (4,5
Milliarden Dollar) an dem Hilfspaket der Siebenergruppe umfaßte, verabschie-
det hatte, schien man an einer Abstimmung im Plenum lange Zeit kaum interes-
22 Hans-Hermann Höhmann/Christian Meier, Der Tokioter G7-Gipfel und die Unterstüt-
zung Rußlands: Neue Impulse oder Routine ohne Profil?. Aktuelle Analysen des BIOST,
Nr. 20, 25. Mai 1993.
23 Graham Allison / Robert Blackwill, »The Grand Bargain: The West and The Future of
the Soviet Union« in: Rethinking Amerika’s Security, aaO., S. 378.
24 Vgl. U.S. Policy Information and Texts, No. 75, 19. Juni 1992, S. 44.
Fröhlich - Der Sicherbeitsbegriff wird mehrdimensional 295
siert. Eine ähnliche Stimmung verspürte man auch im Repräsentantenhaus, wo die
notwendigen Ausschußarbeiten erst später begannen. Keiner wollte sich im Wahl-
jahr dem Vorwurf aussetzen lassen, trotz größter sozialer Schwierigkeiten im eige-
nen Land Milliardenbeträge für Auslandshilfe bewilligt zu haben. Umfragen im
Lande ergaben im Juni 1992 laut CBS/New York Times, daß immerhin 55 % der
Befragten sich gegen die Vergabe allzu großzügiger Investitions- und Kreditpro-
gramme Washingtons an die GUS-Staaten aussprachen. Dagegen befürworteten
70 % Hilfsmaßnahmen im technischen und humanitären Bereich sowie eine rasche
Gewährung des Meistbegünstigungsstatus für alle Nachfolgestaaten *.
Unterstützt wurde solche Haltung von zahlreichen prominenten Vertretern des
politischen Establishments aus beiden Parteien, deren eher pragmatischer Ansatz
in dieser Frage gleichsam genährt wird von einem insgesamt »introvertierten« bis
»aufgeklärten nationalen Geisteszustand«, der auf »den Aufstieg von ökonomi-
schem Nationalismus und auf eine stärker ichbezogene Sichtweise amerikanischer
Nationalinteressen« hinweist?”. Henry Kissinger warnte in diesem Zusammenhang
in direkter Reaktion auf den Vorschlag des ehemaligen Präsidenten Richard
Nixon, die Hilfsgelder für den Aufbau der Demokratie in Rußland zu erhöhen,
vor der irrigen Annahme, der Zufluß von Geldern in Milliardenhöhe könne den in
dieser Phase wesentlich entscheidenderen politischen Dialog mit allen Nachfolge-
staaten der GUS ersetzen. Jede Hilfe müsse, wenn überhaupt, auf einem präzisen
und realistischen Konzept für die gezielte Unterstützung des jeweiligen nationalen
Interesses basieren, also zuvorderst solchen Feldern zufließen, bei denen, wie ım
Energiesektor, die Aussichten auf rasche Devisengewinne bestünden, oder aber,
wie in der Landwirtschaft und bei der Infrastruktur, der Bedarf an direkten
Zuwendungen am größten ist”.
Angesichts der Stimmung im Lande und der unverändert kritischen Haushalts-
lage wundert es nicht, daß bereits im letzten Jahr das Repräsentantenhaus nach
den Worten des Vorsitzenden des Unterausschusses des Haushaltsbewilligungs-
ausschusses, David Obey, den seit der Verkündung des Marshall-Plans niedrigsten
Auslandshilfe-Etat in Höhe von 13,8 Milliarden verabschiedete”. Nachdem die
Nachrichten aus Moskau und den anderen Zentralen der GUS zu diesem Zeit-
punkt ohnehin immer mehr auf eine Retardierung der notwendigen Wirtschaftsre-
formen hindeuteten und man in bezug auf die jungen Demokratien von Anfang an
nach dem Prinzip Wirtschaftshilfe zur Selbsthilfe verfahren war, um nur ja keine
25 Vgl. U.S. Policy Information and Texts, No. 54, 30. April 1992, S. 13-17.
26 »U.S. Public Divided on Aid to Former Soviet States« in: U.S. Policy Information and
Texts, No. 83, 7. Juni 1992, S. 29.
27 Michael Brenner / Phil Williams, Europa und die Vereinigten Staaten: Amerikanische
Sicherheitspolitik in den Neunziger Jahren, aaO., S. 74 f.
28 Henry Kissinger in: Los Angeles Times vom 29. März 1992.
29 U.S. Policy Information and Texts, No. 79, 29. Juni, S. 19.
ZfP 40. Jg. 3/1993
296 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
neue Versorgungs- und Empfängermentalität entstehen zu lassen, sah man in
Washington keine Veranlassung mehr zu abundanter Hilfspolitik ».
In der Tat gaben die bis dato von Moskau auf den Weg gebrachten Reformen
wenig Anlaß zu allzu optimistischen Erwartungen. Der Ende Juni 1992 von der
russischen Regierung verabschiedete Entwurf eines Programms zur Fortsetzung
und Vertiefung der Wirtschaftsreform kündigt in sechs Punkten zwar wesentliche
Schritte zur Transformation planwirtschaftlicher in marktwirtschaftliche Systeme
an: Aufhebung preislicher und administrativer Regulierungen, Stabilisierung des
Geld- und Finanzsystems, Entmilitarisierung der Industrie und ihre Anpassung an
die Nachfrage der Verbraucher, Schaffung marktwirtschaftlicher Konkurrenzver-
hältnisse sowie die aktive Beteiligung der Bevölkerung am Wirtschaftsleben und
den Schutz der am meisten benachteiligten Schichten durch Maßnahmen der
Sozialpolitik *. In der Praxis aber fehlte es noch immer an einer funktionierenden
Privatrechtsordnung, an haltbaren Eigentumsgarantien, annähernder Währungs-
stabilität und einer effizienten Staatsverwaltung. Weder gab es hinreichend unab-
hängige Gerichte, noch hatte bis dahin eine nennenswerte Entflechtung der Mono-
pole stattgefunden. Die Bauern warteten unverändert auf die bereits von Gorba-
tschow verweigerte Landreform, die ihnen Eigentum und Produktionsanreize ver-
schaffen sollte, die industriellen Großberriebe mit ihrer monopolistischen Produk-
tionsstruktur standen der Gewerbefreiheit nach wie vor im Wege. Auch ım Jahr
1993 hält dieser Trend an. Das reformerische Durcheinander, durch die politische
Unsicherheit um den weiteren Kurs der Administration und die praktisch institu-
tionalisierte Doppelherrschaft zusätzlich verstärkt, hat mittlerweile zu bedenkli-
chen Inflationsraten bei gleichzeitiger Geld- und Güterknappheit geführt. Die
Ankündigung des russischen Ministerpräsidenten, Preisstabilität und die Rückfüh-
rung des Haushaltsdefizits zum vorrangigen wirtschaftspolitischen Ziel Moskaus
zu machen, war daher auch für die Clinton-Administration das mindeste, um den
Boden für eine Übereinkunft mit dem IWF und fortgesetzte eigene Unterstützung
zu bereiten.
Auch aus diesem Grund hat man sich in Washington mehr und mehr auf einen
aus der veränderten Qualität seines Status in Europa herrührenden Politikansatz
verlegt, der seine Attraktivität künftig verstärkt aus seiner moralischen Autorität
bezieht. Als »Aufbewahrungsort gemeinsamer Werte, die sıch jetzt überall auf dem
Kontinent befinden«, so Michael Brenner und Phil Williams, habe Amerika die
besten Voraussetzungen, »europäisch zu sein, ohne in Europa zu sein« *. Die Clin-
ton-Administration konzentriert eigene Anstrengungen in erster Linie auf die Mit-
gestaltung eines ordnungspolitischen Rahmens für Gesamteuropa. Die Forcierung
der institutionellen Eingliederung der Staaten Mittel- und Osteuropas in das euro-
päische Konzert, sozusagen als psychologisches und politisches Auffangbecken,
30 Washington Post, 8. Juni 1992; U.S. Policy Information and Texts, No. 71, 8. Juni 1992,
S. 3-5.
31 FAZ vom 1. Juli 1992.
32 M. Brenner / P. Williams, aaO., S. 84.
Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional 297
steht dabei im Mittelpunkt, ohne allerdings dem Anspruch aller Länder auf inter-
nationale Anerkennung immer in gleicher Weise gerecht zu werden.
Gerade sie dürfte jedoch die beste Rückversicherung gegen eventuelle Gebiets-
ansprüche und einen übersteigerten Nationalismus nach außen sein, der nur allzu
leicht in offene Konflikte münden kann. Die Förderung der Einzelstaatlichkeit auf
diese Weise ist am ehesten geeignet, einem solchen aggressiven Nationalismus vor-
zubeugen. Die allenthalben verheerende wirtschaftliche Situation leistet ohnehin
schon jeder Administration Vorschub, die eine Verbesserung der Lebensverhält-
nisse verspricht, und erhöht so die Gefahr eines Zurücksinkens dieser Staaten in
autoritäre Herrschaft. Selbst vorübergehend eingesetzte Zivilregierungen sind
keine Garantie für das Funktionieren des großen Experiments, betrachtet man es
im Lichte historischer Analogien. In einer Reihe von Dritte-Welt-Staaten sind
weder die Zivilregierungen noch autoritäre Militärregime und Technokratien mit
der wirtschaftlichen Misere und dem Massenelend fertig geworden. Die Gefahr
des Anarchismus im Osten Europas bleibt also groß.
Die KSZE als institutioneller Schutzschirm
Ein KSZE-Europa soll daher nach Ansicht der Amerikaner in erster Linie reaktio-
nären Elementen ın den ost- und mitteleuropäischen Ländern vorbeugen. Es soll
den Risiken der Übergangsphase in kooperativen Formen begegnen und könnte
der Ansatz sein für die von amerikanischer Seite bereits an die Sowjetunion ausge-
sprochene Einladung zum Eintritt in die »euro-atlantische Gemeinschaft« ”. Ame-
rikaner wie Europäer sehen in einem kontinuierlichen Prozeß institutionalisierter
Zusammenarbeit ein wesentliches Fundament der Sicherheit in Europa. Die KSZE
scheint ıhnen das geeignete Instrument zur Entwicklung einer europäischen
Sicherheitsidentitat, die allen Verbündeten, die daran teilhaben wollen, einen Platz
bietet; mittlerweile haben daher fast alle Länder Mittel- und Osteuropas sowie die
Einzelrepubliken der GUS an ihrem Tisch Platz genommen. Dies kommt den
Europäern entgegen, die sich dem Einigungsprozeß zwar nicht verschließen wol-
len, andererseits aber nur bedingt zu Souveränitätsverzichten bereit sind. Und es
kommt den Amerikanern gelegen, weil sie nur auf diese Weise mit ganz Europa
verbunden sind *.
Die meisten wollen es daher auch bei dieser relativen Unverbindlichkeit belas-
sen. Trotz unbestreitbarer Erfolge beim Abbau der Ost-West-Spannungen und
eines sicherlich nicht geringer einzuschätzenden Beitrags — sieht man einmal vom
Fall Jugoslawien ab — zu einem insgesamt friedlichen Verlauf der revolutionären
Veränderungen im Osten Europas, lassen auch die zum Abschluß des KSZE-Gip-
feltreffens in Helsinki im Juli 1992 von den Staats- und Regierungschefs verein-
barten Maßnahmen zur Stärkung des sogenannten Krisenmanagements weiterhin
33 So ausgesprochen in der deutsch-amerikanischen Erklärung vom Oktober 1991.
34 Robert E. Hunter, » The Future of European Security« in: Washington Quarterly, Autumn
1990, $. 55-68.
ZIP 47 Te 371993
rn
‘>
298 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
zu wünschen übrig. Noch immer ist man mit Ausnahme Frankreichs nicht bereit,
sich auf einen verbindlichen KSZE-Vertrag festzulegen. Noch immer verhindern
die natürlichen politischen Divergenzen von nunmehr über 50 Teilnehmerstaaten
die Einigung auf den notwendigen Sicherheitsgehalt eines solchen Vertrages, fehlt
ein durchgreifendes Instrumentarium zur Verhinderung eines solch blutigen Kon-
fliktes, wie er nunmehr schon so lange im zerfallenen Jugoslawien tobt.
Immerhin belegen jedoch die in Helsinki über die Inkraftsetzung umfangreicher
Vereinbarungen zur konventionellen Abrüstung und über Höchstgrenzen für
Truppenstärken vom Atlantik bis zum Ural hinaus getroffenen Maßnahmen mit
Blick auf Jugoslawien, daß man sich künftig nicht mehr bloß als reines Verhand-
lungsforum verstanden wissen, sondern mit größerer Autorität und einem wirksa-
meren Instrumentarium ausgestattet sein will’. Der Beschluß, die KSZE zu einer
mit der UN-Charta ausdrücklich vereinbaren regionalen Organisation der Verein-
ten Nationen zu machen, verleiht der europäischen Sicherheitskonferenz das
Recht zur Beilegung von Streitigkeiten mit Hilfe operativen Eingreifens friedens-
erhaltender Militäreinheiten ”.
In den USA hat man diese in dem neuen Schlußdokument von Helsinki vorge-
sehenen Maßnahmen begrüßt und unverzüglich die Dienste der NATO angebo-
ten; zusammen mit der WEU stimmte man einer maritimen Unterstützung der
gegen Serbien und Montenegro verhängten Wirtschaftssanktionen unter dem Vor-
behalt zu, daß die letztendliche Einsatzbefugnis in diesem und in allen künftigen
Fällen grundsätzlich dem NATO-Rat obliege und die Teilnahme an gemeinsamen
Aktionen mit der WEU jedem einzelnen Bündnismitglied offen stehe. Bereits die
Bush-Administration sah in diesen ersten gemeinsamen Schritten von WEU und
NATO den ernsthaften Versuch, der KSZE eine »euro-atlantische« Komponente
auch in bezug auf künftige friedenserhaltende militärische Einsätze zu geben”.
Immerhin ist man damit neuerdings angestellten Überlegungen in den USA
näher gekommen, im Rahmen der KSZE eine Art »Kern-Sicherheitsgruppe«,
bestehend aus den USA, der GUS, Großbritannien, Frankreich und Deutschland,
zu bilden, die über das Instrumentarium einer echten Verteidigungsorganisation
verfügt und nach einer Übergangszeit von etwa 5-10 Jahren die NATO ersetzen
soll”. Eine solche Kerngruppe hätte gleich dreierlei Vorteile: Sie könnte der das
Bündnis belastenden Diskussion um den Aufbau der WEU als alternatives Vertei-
digungsorgan zur NATO vorbeugen, würde - in der inneramerikanischen Debatte
bisher überhaupt nicht berücksichtigt — die Entwicklung der KSZE zu einem Kon-
35 Gregory Flynn / David J. Scheffer, »Limited Collective Security« in: Foreign Policy, Fall
1990, S. 77-101; siehe FAZ vom 11. Juli 1992.
36 U.S. Policy Information and Texts, No. 87, 13. Juli 1992, S. 13 ff.
37 Sıehe FAZ vom 11. Juli 1992.
38 U.S. Policy Information and Texts, No. 86, 10. Juli 1992, S. 3, und No. 87, 13. Juli 1992,
S. 9 ff.
39 Charles A. Kupchan / Clifford A. Kupchan, »A New Concert for Europe« in: Rethinking
Americas Security, aaO., S. 249-266.
Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional 299
kurrenzverbund der UN verhindern, was auch durch die Vorschläge von Helsinki
der Fall wäre, und brächte schließlich vor allem die so wichtige Frage der militari-
schen Rückführung Frankreichs in ein transatlantisches Sicherheitsbündnis einen
wesentlichen Schritt voran. Die einfachere Lösung wäre aber wohl darin zu sehen,
Frankreich für die NATO zurückzugewinnen und die GUS und beitrittswillige
osteuropäische Staaten nach einer Übergangsphase an die NATO heranzuführen.
Die USA sind also durchaus bereit, dem bislang zu Recht nur als »Prozeß«
bezeichneten Wirken der KSZE künftig einen festeren Rahmen zu geben, um den
tiefgreifenden Umwälzungen in der Mitte und im Osten Europas gerecht zu wer-
den. Auch für sie gehört dieser Prozeß heute genauso zur Diplomatie im europä-
isch-atlantischen Verhältnis wie die bilaterale Zusammenarbeit. Man ist allerdings
realistisch genug zu sehen, daß auch dieser erste ernsthafte Versuch im Falle Jugo-
slawiens immer noch auf zahlreiche politische Vorbehalte stößt. Die Tatsache, daß
man in Helsinki Operationen der KSZE nur für die Fälle vereinbarte, in denen ım
jeweiligen Krisengebiet bereits Waffenstillstand herrscht und ein militärisches Ein-
greifen keine »Zwangsaktionen« notwendig macht, läßt künftig kaum wirkungs-
vollere Aktionen von Blauhelmen der KSZE erwarten als sie bisher unter der UN
ım zerfallenen Jugoslawien stattfanden. Um regionale Konflikte regional lösen zu
können, bedarf es mehr. Eine neue Regionalorganisation benötigte zumindest
einen eigenen Sicherheitsrat und ein Instrumentarium, das sich endlich des hinder-
lichen, nach wie vor bindenden »Konsensus-minus-eins-Prinzips« entledigt“.
Was die aus der Sicht Washingtons zweite wichtige Aufgabe der KSZE betrifft,
die Einbindung des Ostens, so halt man die Hereinnahme der beitrittswilligen
Lander in eine der westlichen Sicherheitsgemeinschaften erst im Falle der Norma-
lisierung des Verhältnisses mit den östlichen Republiken für denkbar, so wie eine
EG-Mitgliedschaft erst nach annähernder Beseitigung der wirtschaftlichen
Ungleichgewichte in Frage kommt; noch aber ergeben sich für die Clinton-Admi-
nistration keine festen und endgültigen Strukturen für diese Lander. Mehr als ein
provisorischer Sicherheitsschirm über ein fortzuentwickelndes KSZE-System
sowie im anderen Falle großzügige Assoziationsverträge und bilaterale Abkommen
mit der EG sind nicht möglich. Man muß eben klar erkennen, daß vor allem die
GUS eine unverändert labile, schwierige und kaum kalkulierbare Zerfallsmasse ist.
Sie in fairer Weise in einem neuen europäischen Konzert unter Einschluß der USA
zu sozialisieren und die Voraussetzungen für das Funktionieren der westlichen
Interdependenzsysteme zu schaffen, stellt derzeit die entscheidende Herausforde-
rung für den Westen aus Sicht der Amerikaner dar.
Will man Rückschlägen in diesem Prozeß vorbeugen, so sind gezielte Investitio-
nen in den Aufbau durch koordiniertes Handeln in der Übergangsphase unerläß-
lich. Ebenso unerläßlich wird es sein, diese Investitionen an die Bedingung einer
ordentlichen Investitionsrechnung zu knüpfen. Allerdings darf man sich dabei im
Westen nicht der Illusion hingeben, daß der Übergang ohne ein gewisses Maß an
40 FAZ vom 11. Juli 1992.
/fP 47. Te. 371993
207
300 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
staatlichem Regulativ vonstatten geht. Sich ausschließlich auf die Selbstheilungs-
kräfte freier Märkte zu verlassen und dabei dem relativ trägen Muster amerikani-
scher Osteuropapolitik zu folgen, wäre aus Sicht der EG ebenso töricht, wie über-
zogene Forderungen an den Bündnispartner zu stellen, erneut die Hauptlasten in
diesem Prozeß zu übernehmen.
Die NATO als unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Friedensordnung
Diejenigen, die die amerikanische Präsenz gar an eine solche stärkere Inpflicht-
nahme knüpfen wollen, sollten dies im eigenen Interesse nicht allzu lautstark ver-
künden und statt dessen von Glück reden, daß man in den USA in dieser labilen
Übergangsphase die amerikanische Präsenz teilweise gar für notwendiger hält als
zu Zeiten des Ost-West-Gegensatzes. John Mearsheimer löste mit seiner provo-
kanten These, daß man den Kalten Krieg bald noch »vermissen« werde, zwar hef-
tige Diskussionen in den USA aus. Seine Schlußfolgerung hingegen, die jetzt ent-
stehende multipolare Welt werde instabiler sein als der bisherige Bipolarismus,
könnte sich durchaus bewahrheiten. Gewaltausbrüche sind nach dem Ende des
Kalten Krieges auch in Europa vorstellbar, besonders dann, wenn die USA nicht
als Ordnungsmacht in Europa verbleiben“.
Die Amerikaner legen daher zu Recht Wert darauf, daß die Allianz bei aller
Notwendigkeit einer Weiterentwicklung ihrer politischen Dimension eine solide,
kollektive und militärische Struktur behält. Eine glaubwürdige amerikanische
Garantie ohne eine militärische Strategie, ohne ein Minimum an militärischen Mit-
teln in Europa, allerdings mit einer logischen Risikoteilung, kann es so lange nicht
geben“, wie es keine adäquate europäische Verteidigungsalternative gibt. Eine
effektive Rolle bei der Verteidigung kann das EG-System aus verschiedenen, vor-
wiegend politischen Gründen nun einmal nicht spielen. Wenn aber nicht der
Sprung zur Politischen Union in Form eines europäischen Staatenbundes erfolgt -
von Bundesstaat mag man selbst als kühner Optimist kaum mehr sprechen -, wird
man mehr als eine außenpolitische Koordination in krisenfreien Zeiten nicht errei-
chen können. Alle Bemühungen, die WEU auf Kampfeinsätze zur Krisenbewalti-
gung vorzubereiten - so in der Petersberger Erklärung von den WEU-Außen- und
-Verteidigungsministern formuliert —, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß
auf dem Weg dorthin noch zahlreiche Hindernisse auszuräumen sind. Das fängt
bei der Einschränkung des Dokuments an, daß jeder WEU-Mitgliedsstaat souve-
rän entscheiden kann, ob er an der jeweilig gemeinsam beschlossenen Aktion
selbst teilnimmt — in diesem Fall dürfte der Grundgesetzvorbehalt Deutschlands
eine entscheidende Rolle gespielt haben -, und hört auf bei den mit der Ausarbei-
tung einer Einsatzplanung für WEU-Truppen in bestimmten Krisenfällen oder
41 John Mearsheimer, »Why We Will Soon Miss the Cold War« in: /he Atlantic Monthly,
No. 8/1990, S. 35.
42 George Bush in ciner Rede an der Oklahoma State University am 4. Mai 1990 in: Surct-
val, Doc. No. 4/1992, S. 304.
Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional 301
Vorschlagen zum Aufbau notwendiger Kommando-, Kontroll- und Verbindungs-
einrichtungen der WEU verbundenen Schwierigkeiten in bezug auf den Rückgriff
auf NATO-assignierte Einheiten, das Problem der Verdopplung und Überschnei-
dung von Entscheidungsinstanzen und nicht zuletzt auf die völlig offen gebliebene
Frage nach dem Vorrang der NATO”.
Das heißt nicht, daß nicht eines fernen Tages eine Europäische Verteidigungs-
gemeinschaft als Ersatz für die NATO nötig werden kann oder man in den USA
nicht bereits jetzt über eine stärkere Kollektivierung bzw. Multilateralisierung der
Sicherheitsstrukturen im Sinne der Clinton-Doktrin nachdenkt“; beides ist
Bestandteil eines Neuansatzes in der amerikanischen Verteidigungsstrategie fir
den europäischen Kontinent und könnte bei allzu leichtfertigem und hektischem
Agieren der Europäer die Vorstufe für einen allmählichen Rückzug der Amerika-
ner vom Kontinent bedeuten ®.
Vorläufig aber bleiben einzig die USA der Garant für die nukleare Sicherheit,
und zwar auch dann, wenn die Hauptaufgabe der Zukunft in Europa nicht in der
Abschreckung, sondern neben dem wirtschaftlichen Aufbau der osteuropäischen
Länder in der Abrüstung der sowjetischen Nukleararsenale liegt. Der GUS fehlen
die Mittel und technischen Möglichkeiten, die große Zahl ihrer nuklearen
Gefechtsköpfe unschädlich zu machen. Gleiches gilt für die Entwicklung eines
Systems zur kontrollierten Demontage des waffenfähigen Nuklearmaterials und
die zahlreich geplanten Konversionsprojekte. Rußland ist in beiden Fällen auf die
amerikanische Unterstützung angewiesen, wie auch die gemeinsame amerikanisch-
russische Erklärung zur Rüstungskonversion vom 17. Juni 1992 und die Einrich-
tung eines bilateralen Ausschusses zur wirtschaftlichen Entwicklung belegen.
Allein die USA besitzen die dafür erforderliche technische und politische Erfah-
rung.
Die amerikanische Kooperationsbereitschaft auf diesen Feldern wird daher
auch der Schlüssel zum Erfolg für den weiteren Abrüstungsprozeß sein. Die noch
zwischen Bush und Jelzin vereinbarten drastischen Einschnitte bei den strategi-
schen Nuklearwaffen, bei denen auf russischer Seite erstmals auf den Fetisch der
Parität verzichtet wurde, deuten auf eine Politik des Quidproquo in den künftigen
Beziehungen beider Länder hin: Jelzins Bereitschaft, sozusagen auf das »Rück-
grat« des russischen Nukleararsenals, die landgestützten mobilen Interkontinental-
raketen mit Mehrfachsprengköpfen, zu verzichten und darüber hinaus auch nach
Abbau von etwa Zweidrittel des Gesamtbestandes an Gefechtsköpfen bis zum
Jahre 2003 (derzeit ungefähr 21 000) — der START-Vertrag sah lediglich 8500 auf
amerikanischer und 7000 auf russischer Seite vor — der amerikanischen Seite einen
43 FAZ vom 19. Juni 1992.
44 Nach Umfragen befürworten mittlerweile 54 % der amerikanischen Bevölkerung einen
solchen multilateralen Ansatz in den Außenbeziehungen des Landes; vgl. U.S. Policy
Information and Texts, No. 69, 5. Juni 1992, S. 7.
45 Paul D. Wolfowitz, »The New Defense Strategy« in: Rethinking America’s Security, aaO.,
S. 176-195.
ZfP 40. Jg. 3/1993
302 Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional
numerischen Vorsprung einzuräumen (3500 zu 3000 Sprengköpfen) *, ist nicht nur
der Einsicht Moskaus zu verdanken, daß man sich als ökonomisches Entwick-
lungsland keine kostspieligen Großmachtallüren im Rüstungsbereich leisten kann.
Sie ist eben auch darauf zurückzuführen, daß man bei entsprechender Unterstüt-
zung der Reformanstrengungen durch Washington durchaus willens ist, mehr
oder weniger die Amerikaner den Abrüstungsprozeß diktieren zu lassen.
Bleiben zwei weitere Gründe, die die amerikanische Präsenz auch nach der
Abnahme der Bedrohung aus dem Osten wünschenswert machen: Zum einen will
sich das EG-Europa einen völligen militärischen Rückzug der Amerikaner schon
deshalb nicht leisten, weil Deutschland dann endgültig zur stärksten Kontinental-
macht avancierte, was anti-deutsche Koalitionen der Nachbarn allzu leicht provo-
zieren könnte. Zum anderen vergißt man eben, daß die amerikanische Präsenz
auch am besten dazu geeignet ist, die Sicherheit im Mittelmeer zu gewährleisten
und von dort aus ihren Einfluß zum Vorteil aller Bündnispartner auf den mittel-
östlichen Krisenherd auszuüben. Die künftige Sicherheit Europas dürfte in viel
stärkerem Maße als bisher wahrgenommen eben an seiner Südflanke entschieden
werden.
So wird man alles in allem feststellen müssen, daß zu Beginn der neunziger
Jahre jedenfalls noch immer gilt, was beim Rückblick auf die Geschichte Europas
das ganze 20. Jahrhundert hindurch gegolten hat: Ein stabiler europäischer Friede
scheint ohne eine starke amerikanische Militärpräsenz noch nicht gewährleistet,
nach den Veränderungen in Europa aber vielleicht greifbarer denn je.
Zusammenfassung
Sicherheit und Wohlstand in Europa werden primär vom Erfolg einer »Second
European Reconstruction« bestimmt werden. Für die Amerikaner liegt die wichtig-
ste Sicherheitsvorsorge für Europa im Aufbau eines umfassenden Konzepts, wel-
ches den ökonomischen, sozialen und politischen Instabilitäten Osteuropas Rech-
nung trägt. Dabei stellt man sich vor dem Hintergrund der eigenen angespannten
Haushaltslage eine Arbeitsteilung unter den Bündnispartnern dergestalt vor, daß
die EG die Hauptkosten für den wirtschaftlichen Aufbau des Ostens übernimmt
und die NATO als Garant für die US-Präsenz unverändert für die Sicherheit
Europas verantwortlich bleibt. Die KSZE schließlich soll dem Sicherheitsbedürfnis
der Länder Ost- und Mitteleuropas durch Einbeziehung in verläßliche gesamteu-
ropäische Strukturen entsprechen.
46 Arms Control and Disarmament Agency, »Fact Sheet on »The Joint Understanding on the
Elimination of MIRVed ICBMs and Further Reduction in Strategic Offensive Arms«« in:
U.S. Policy Information and Texts, No. 82, 6. Juli 1992, S. 21.
Fröhlich - Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional 303
Summary
The United States has clearly signaled that due to its enormous deficit and other
domestic problems there will be no second Marshall-plan for the reconstruction of
Eastern and Central Europe. Against the background of the region’s economic,
social and political instabilities Washington calls for a more coherent US and
Western assistance strategy, which can balance the disparity between the urgent
resource needs of these countries and the timely supply of appropriate Western
assistance and investment. In this concept the EC shall be mainly responsible for
the economic development of the region whereas NATO remains the decisive
instrument to guarantee its security. Finally the CSCE not only offers another
forum where US leadership could be well utilized but shall also provide the plat-
form for the integration of these countries into a more complex European security
framework.
ZfP 40. Jg. 3/1993
LITERATURBERICHT
Günter Rieger
Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
- Zur Diskussion um den Kommunitarismus —
I. Einführung
»Gemeinschaft« hat Konjunktur. Aktuelle politische und gesellschaftliche Umbrü-
che in West- und Osteuropa erzwingen geradezu ein Nachdenken über die Bedeu-
tung von Gemeinschaften.
Soziologen beobachten eine zunehmende Individualisierung in den modernen
westlichen Industriegesellschaften'. Die Institution Familie zeigt seit langem Auf-
lösungserscheinungen; einstmals stabilisierende Milieus verlieren ihre integrie-
rende Funktion. Die politische Klasse beklagt einen wachsenden Vertrauensver-
lust, und die sozialen Sicherungssysteme verkommen gemäß der Logik individuali-
stischer Kosten-Nutzen-Rechnungen zu reinen Selbstbedienungsläden. Diese Ver-
einzelung erzeugt Gefühle der Unsicherheit oder Sinnlosigkeit und mündet
zunehmend in politischen Extremismus oder religiösen Fundamentalismus.
Gerade der Siegeszug des westlichen Modells nach dem Zusammenbruch der
sozialistischen Staaten offenbart auch dessen Schwächen und lenkt die Aufmerk-
samkeit auf Traditionen und gemeinschaftliche Wertvorstellungen, von denen
Institutionen wie der Parlamentarismus oder die Marktwirtschaft getragen werden
müssen. Marktwirtschaft ohne gemeinschaftlich akzeptierte Rahmenbedingungen
degeneriert — wie sich in den »postkommunistischen« Staaten zeigt — zu brutalem
Manchesterkapitalismus. Es besteht die Gefahr, daß die Tyrannei des Plans durch
die Tyrannei des Marktes ersetzt wird. In Ermangelung anderer sinnstiftender
Traditionen wird in den ehemaligen Ostblockstaaten nun die Nation, mit einem
für Europa schon überwunden geglaubten Absolutheitsanspruch, als Möglichkeit
der Gemeinschaft wiederentdeckt — was zu einer aggressiven Abgrenzung gegen-
über anderen Nationalitäten und zunehmender Intoleranz und Gewalt führt.
1 Vergl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1. Aufl. Frank-
furt a. M. 1986.
2 Zur Einordnung der Vorgänge in Osteuropa in die kommunitäre Theorie vergl. Michael
Walzer, »Das neue Stammeswesen« in: Lettre International, Heft 16, Frühjahr 1992,
S. 8 ff., jetzt auch in: Ders., Zivile Gesellschaft und Amerikanische Demokratie, Berlin 1992
(mit einer Einleitung von Otto Kallscheuer, On the Road. Michael Walzers Deutung der
amerikanischen Freiheit), S. 115 ff.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 305
War der Glaube an das Individuum und seine Möglichkeiten rationaler Welt-
verarbeitung bisher weitgehend ungebrochen, so zwingen o.e. Krisenanzeichen
dazu, die »Gemeinschaft« erneut ins Kalkül zu ziehen. Wieviel »Gemeinschaft«
braucht der Mensch? Wieviel Konsens braucht die Demokratie? Gibt es einen Weg
zwischen Partikularismus und Universalismus? In der theoretischen, politikphilo-
sophischen Bewältigung dieser Phänomene gewinnt seit nunmehr zwei Jahren ein
Import aus Nordamerika stetig an Bedeutung: der »Kommunitarismus«?.
Unter diesem Sammelbegriff firmieren so unterschiedliche Autoren wie Robert
N. Bellah, Amitai Etzioni, Alasdair MacIntyre, Richard Rorty, Michael Sandel,
Charles Taylor, Michael Walzer . . . - um hier nur einige prominente Vertreter des
»Communitarianism« zu nennen. Dabei deutet sich in den hier aufgezählten Theo-
retikern schon etwas von der Vielfalt der bearbeiteten Themenbereiche an. Wäh-
rend Etzioni‘ gerade in seinen Jüngsten Schriften sich insbesondere um eine Rück-
bindung ökonomischer Verhaltensweisen und Strukturen an das »Gemeinwohl«
bemüht, führen uns die Philosophen Rorty und Taylor mit der Betonung der
sozialen Bedingtheit des Individuums auf das Gebiet der Anthropologie und der
Erkenntnistheorie; MacIntyre versucht unter Rückgriff auf Aristoteles eine Neu-
begründung der Ethik, und Bellah, eher soziologisch orientiert, entwirft seine Vor-
stellungen einer »Good Society« aus empirischen Studien zu den Zerfallserschei-
nungen der U.S.-amerikanischen Gesellschaft. Über den jeweiligen Schwerpunkt
des Autors hinaus enthalten ihre Werke in der gemeinsamen Betonung der Bedeu-
tung von Sprach- und Wertegemeinschaften zwangsläufig auch die Beschäftigung
mit politiktheoretischen Fragestellungen. Dezidiert das Feld der Politikwissen-
schaft bearbeitet Michael Walzer.
3 Beiträge von Honneth, Kallscheuer und Kersting boten erste Einführungen in die The-
matik und machten vor dem bundesrepublikanischen Hintergrund präzise auf die
Schwachstellen des Ansatzes aufmerksam. Axel Honneth, »Grenzen des Liberalismus.
Zur politisch-ethischen Diskussion um den Kommunitarismus« in: Philosophische Rund-
schau, 38. Jg., Heft 1-2, 1991, S. 83 ff. Otto Kallscheuer, »Michael Walzers kommunitärer
Liberalismus oder Die Kraft der inneren Opposition. Nachwort« in: Michael Walzer,
Kritik und Gemeinsinn, 1. Aufl. Berlin 1990, S. 126 ff. Wolfgang Kersting, »Die Liberalis-
mus-Kommunitarismus-Kontroverse in der amerikanischen politischen Philosophie« ın:
Jahrbuch für politisches Denken 1991, Stuttgart 1991, S. 82 ff.
4 1989 haben sich Ökonomen, Soziologen, Psychologen und Politologen an der Harvard
Universität in Massachusetts zu einer Vereinigung (Society for the Advancement of
Socio-Economics (Sase)) zusammengeschlossen, um der Wirtschaftswissenschaft eine
neue, kommunitäre Orientierung zu geben. Die Vereinigung soll inzwischen 1100 Mit-
glieder zählen (vergl. Nikolaus Piper, »Moral schlägt Politik« in: DIE ZEIT, Nr. 16,
10. April 1992, S. 31). Die Grundlagen der »socio-economics«, ausgehend von einem
»1& We«-Paradigma, hat Etzioni in seiner programmatischen Schrift »The Moral Dimen-
sion« formuliert. Beginnend mit einer Kritik am »Mainstream« der Wirtschaftswissen-
schaften fordert er dort die Berücksichtigung der Einbettung und der Abhängigkeit des
Marktes (»encapsulated competition«) und der darin getroffenen individuellen Entschei-
dungen von gesamtgesellschaftlichen Strukturen und gemeinschaftlich geteilten Wertvor-
stellungen. Vergl. Amitai Etzioni, The Moral Dimension. Toward a New Economics, New
York 1988.
ZfP 40. Jg. 3/1993
306 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
Zweifelsfrei stellt der »Communitarianısm« eine Reaktion auf die im Zuge des
erneuten Individualisierungsschubs auftretenden Krisen dar. Gerade in den USA
wurden die Erosionserscheinungen des Kapitalismus aufgrund einer in der
Reagan-Ara forcierten neoliberalen Wirtschaftspolitik, der schon immer schwach
ausgeprägten wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme und einer traditionell stär-
keren ideologischen Ausrichtung auf das Individuum früher sichtbar als auf dem al-
ten Kontinent. Theorieimmanent muß man den »Communitarianism« als Gegenbe-
wegung zum bisherigen »Mainstream« in den Sozialwissenschaften : verstehen. Der
»Paradigmenwechsel« findet vor dem Hintergrund eines sprachphilosophisch (Witt-
genstein, Quine) untermauerten, erkenntnistheoretischen Skeptizismus und unter
Rückgriff auf die für die Theorieentwicklung in Nordamerika besonders bedeut-
samen Traditionen des »Pragmatismus« (Peirce, James, Dewey, Mead) statt‘.
Für die Politische Philosophie in den USA läßt sich der Streit der Theoretiker
durch das Gegensatzpaar »Liberalismus vs. Kommunitarismus«’ kennzeichnen. Zu
Beginn der siebziger Jahre hatte die amerikanische Politische Philosophie durch
die grundlegenden Werke von Rawls und Nozick® eine » Wiederbelebung«° erfah-
ren. In den folgenden Jahren wurde dort insbesondere Rawls’ »Eine Theorie der
Gerechtigkeit« zum Dreh- und Angelpunkt des politischen Philosophierens. In der
ersten Hälfte der achtziger Jahre begann sich eben jene aristotelisch inspirierte,
kommunitäre Gegenströmung zu formieren, die eine fundamentale Kritik an dem
den liberalen Vertragstheorien zugrundeliegenden, individualistischen Menschen-
bild übte und den Blick stärker auf die sozialen Gemeinschaften zu lenken begann.
5 Paradigmatisch scheint dieser Gegensatz in den Wirtschaftswissenschaften auf, wenn
man o. e. Werk von Etzioni (FN 4) mit den Thesen des Nobelpreisträgers für Wirtschaft
im Jahre 1992, Gary S. Becker, vergleicht, der die Möglichkeit einer Anwendung der
neoklassischen Wirtschaftstheorie mit den Prinzipien der Konkurrenz und der Kosten-
Nutzen-Kalküle auf alle Bereiche des menschlichen Lebens (Ehe, Religion, Kriminalitat
...) propagiert.
6 Zur Philosophie des Pragmatismus und den Mißverständnissen seiner Rezeption in
Deutschland (S. 114 ff.) vergl. Hans Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt
a.M. 1992.
7 Zu Verlauf und gegenwärtigem Stand der Auseinandersetzung zwischen »Liberalen« und
»Kommunitären« vergl. Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«
in: Political Theory, Vol. 18, No. 1, 1990, S.6 ff.; ebenso: John R. Wallach, »Liberals,
Communitarians, and the Tasks of Political Theory« in: Political Theory, Vol. 15, Nr. 4,
Nov. 1987, S. 581 ff. Der Aufsatz von Walzer ist im Rahmen einer Aufsatzsammlung der
wichtigsten, an der nordamerikanischen Diskussion beteiligten Autoren (Gutmann, Lar-
more, MacIntyre, Rawls, Sandel, Taylor), ergänzt um eine kommentierte Bibliographie
(Rainer Forst), nun auch in deutscher Übersetzung zugänglich: Axel Honneth (H.), Kom-
munitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften,
Frankfurt a. M./New York 1993.
8 Robert Nozick, Anarchie, Staat und Utopia, München o. J. 1979 (Orig.: Anarchy, State and
Utopia, New York 1974); John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.
gebunden 1975, paperback 1979 (Orig.: A Theory of Justice, Cambridge 1971).
9 Jürgen W. Falter / Harro Holonka / Ursula Ludz, Politische Theorie in den USA. Eine
empirische Analyse der Entwicklung von 1950-1980, Opladen 1990, S. 42.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 307
Einig sind sich die »Communitarians« in ihrer Kritik an einer Form des Libera-
lismus, der das Individuum als eine Art vorgesellschaftliches Atom zur Begrün-
dung moralischer Normen und zur Begriindung des Aufbaus und des Zusammen-
halts von Gesellschaft heranzieht. Dabei eint diese Fiktion eines un- oder vorge-
sellschaftlichen Individuums in den Augen der »Communitarians« ansonsten
durchaus unterschiedliche moral- bzw. sozialphilosophische Begründungsversu-
che: »... sei es in der utilitaristischen Version eines rational kalkulierenden
Bedürfnissubjekts; sei es in der kantianischen Variante eines a priori regelgeleite-
ten Vernunftsubjekts; sei es in der methodischen Fiktion eines ursprünglichen un-
oder vorgesellschaftlichen »Naturzustands« aus der Tradition der angelsächsischen
Vertragstheorie ... .«!°
Trotz fundamentaler Kritik am gegenwärtigen »Mainstream« des Liberalismus
propagieren die »Communitarians« durchaus kein Zurück hinter die Errungen-
schaften der Aufklärung - einzig MacIntyre ist hier nicht so eindeutig. Auch für
die »Communitarians« sind die dem Liberalismus innewohnenden individuellen
Freiheitsrechte höchste, verteidigenswerte Güter. Allerdings gehen sie davon aus,
daß sich der Liberalismus, ohne eine Rückbesinnung auf die Gemeinschaft als Trä-
gerin dieser Werte, mit einer unbegrenzt vorangetriebenen Individuation selbst
zerstört. Denn das, was in den westlichen Demokratien unter individueller Freiheit
verstanden wird, erfordert vorgängig eine bestimmte Konzeption von Gemein-
schaft. »Was Freiheit des Einzelnen heißt, ..., läßt sich nicht jenseits der gesell-
schaftlich geteilten Bedeutungen von Ehre, Würde, Unabhängigkeit, von Solidari-
tät und Unterdrückung bestimmen.« "
Die aus der Kritik folgenden Alternativen der »Communitarians« sehen recht
unterschiedlich aus. Sıe reichen von den konservativen, an der antiken Polis und
mittelalterlichen christlichen Gemeinschaften orientierten Vorstellungen eines
MacIntyre, der eine Rückbesinnung auf alte Werte verlangt und der gegenwärti-
gen Gesellschaftsform jegliche Konsensfähigkeit abstreitet, über den postmoder-
nen »fröhlichen Nihilismus« !? eines Rorty bis zu den eher linksliberalen Ausfüh-
rungen Michael Walzers, der unter uneingeschränkter Befürwortung liberaler
Freiheitsrechte davon ausgeht, daß ». .. no communitarian critique, however pene-
trating, will ever be anything more than an inconstant feature of liberalism« . Er
10 Otto Kallscheuer, Die Kraft der inneren Opposition, aaO. (FN 3).
11 Ebd., S. 133 f.
12 Jon Hellesnes, »Toleranz und Dissens. Diskurstheoretische Bemerkungen über Mill und
Rorty« in: Karl-Otto Apel / Matthias Kettner (H.), Zur Anwendung der Diskursethik in
Politik, Recht und Wissenschaft, 1. Aufl. Frankfurt a. M. 1992, S. 200.
13 Michael Walzer, The Communitarian Critique of Liberalism, aaO. (FN 7), S. 6. Wie sehr
es Walzer darum geht, den Kommunitarismus nicht als Alternative zum Liberalismus auf-
zubauen, sondern ihn nur in dessen notwendiger Funktion als kritischem Begleiter gelten
zu lassen, wird noch deutlicher, wenn er inbezug auf das Zusammenleben unterschiedli-
cher »communities« in den USA bekennt: »In these circumstances, . .. American nationa-
lism or communitarianism is not a plausible option; it doesn’t reach to our complexity.«
Ders., »What Does it Mean to Be an »American«« in: Social Research, Vol. 57, No. 3, 1990,
ZfP 40. Jg. 3/1993
308 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
erkennt im »Communitarianism« eine im Liberalismus von Anfang an mitenthal-
tene Möglichkeit. Er, wie im übrigen auch Charles Taylor, sieht im politischen
Bereich Lösungen durch eine stärkere Partizipation der Bevölkerung, durch
Dezentralisierung von Entscheidungen und einer daraus resultierenden Stärkung
der »civil society«: Beteiligung erzeugt Gemeinschaft!?
Die in den USA nun schon mehr als zehn Jahre andauernde Auseinanderset-
zung zwischen »Liberals« und »Communitarians« spiegelt sich in einer Flut von
Aufsätzen in den jeweiligen Fachpublikationen des angelsächsischen Sprachraums
wider. In der Bundesrepublik hat die Rezeption dieses Ansatzes erst begonnen.
Neben den bereits erwähnten Einführungen“ finden sich bisher nur in wenigen
politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen eingehende kritische Auseinander-
setzungen®. Ein Großteil der wichtigsten Werke der zur Gruppe der »Communi-
tarians« gerechneten Autoren sind inzwischen übersetzt. Sie, und einige weitere,
für die Politische Philosophie wichtige, bisher nur im englischen Original zugäng-
liche Arbeiten, sollen hier besprochen werden. Um sowohl das Grundanliegen des
»Communitarianism« herauszuarbeiten, aber auch um die stark divergierenden
Strömungen innerhalb dieser Bewegung deutlich zu machen, ist es sinnvoll, die
Werke der unterschiedlichen Autoren zu zentralen Issues zu befragen und sie
bestimmten Einzelthemen unterzuordnen.
S. 613, in deutscher Übersetzung jetzt in: Ders., Zivile Gesellschaft und amerikanische
Demokratie, aaO. (FN 2), S. 197 ff.
14 Neben den in FN 3 bereits erwähnten Aufsätzen bietet die im Rotbuch Verlag neu
erschienene »streitbare Einführung« in den Kommunitarismus den gegenwärtig besten
Überblick über den Stand der Diskussion. Der von Christel Zahlmann herausgegebene
Sammelband beinhaltet zum überwiegenden Teil Aufsätze einer zuvor in der Frankfurter
Rundschau zwischen dem 5. November 1991 und dem 10. März 1992 unter der Über-
schrift »Individualisierung und Gemeinschaft« erschienenen Artikelserie. Die Aufsätze
von Albers, Bellah u. a., Brumlik, Honneth, Fach, Kallscheuer, v. Soosten, Steinfath und
Ziehe wurden dazu überarbeitet und um Fußnoten ergänzt. Hinzugekommen sind Auf-
sätze von Beate Rössler (S. 74 ff.), die den Kommunitarismus einer feministischen Krıtik
unterzieht, und Christoph Menke (S. 24 ff.), der den schillernden Begriff der »Gemein-
schaft« zu analysieren versucht. Besonders hervorzuheben sind die von Otto Kallscheuer
zusammengestellten »Anregungen zum Weiterlesen« (S. 124 ff.). In dieser sehr beschei-
den als »subjektive Auswahl« charakterisierten Bibliographie finden sich alle für die kom-
munitaristische Diskussion wesentlichen Bücher und Aufsätze. Vergl. Christel Zahlmann
(H.), Kommunitarismus in der Diskussion. Eine streitbare Einführung, Berlin 1992.
15 Zur Auseinandersetzung der »Frankfurter« mit dem »Communitarianism« vergl. Jürgen
Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 1. Aufl. Frankfurt a. M. 1991 (dort insb. Kapi-
tel »4. Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus«, S. 77 ff.); ebenso: Karl-Otto
Apel / Matthias Kettner (H.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und
Wissenschaft, aaO. (FN 12) (dort: Wolfgang Kersting, »Liberalismus, Kommunitarismus,
Republikanismus«, S. 127 ff., und Hauke Brunkhorst, »Gesellschaftskritik von innen ?«,
S. 149 ff.).
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 309
lI. »Individualismus« und »Vereinigungslust«'
Mit den »Gewohnheiten des Herzens« ” bezeichnete Alexis de Tocqueville in seiner
1835/40 erschienenen Untersuchung über die »Demokratie in Amerika« »... die
Sitten und Bräuche des amerikanischen Volkes ... und zeigte, wie sie den ameri-
kanischen Charakter formten«'*. Der französische Sozialphilosoph Tocqueville
hatte als einer der ersten ihre Bedeutung für die Erhaltung einer demokratischen
Gesellschaft mit freien Institutionen erkannt. Denn der den »amerikanischen Cha-
rakter« prägende »Individualismus« '? — auch dies ein von Tocqueville geprägter
Begriff — steht für ihn immer in der Gefahr, die Menschen voneinander zu isolie-
ren, einen Rückzug ins Private zu fördern und damit dem »Verwaltungsdespotis-
mus« Tür und Tor zu öffnen.
Eben jene Sorge, daß eine »... schrankenlose individuelle Freiheitsentfaltung
... schließlich zur Zerstörung von Freiheit und Demokratie (führt)« 2°, inspiriert
auch das Forscherteam 2! um Robert N. Bellah. »Explizit und implizit ist . . . (ihre)
Studie eine detaillierte Rezeption und Kommentierung Tocquevilles ...«22. Mit
qualitativen Interviews bei 200 Amerikanern - allesamt Angehörige der weißen
Mittelschicht — versuchen sie erneut die Zusammenhänge zwischen dem »morali-
schen Charakter eines Volkes und dem Wesen seiner politischen Gemeinschaft« »
zu ergründen.
Schon in Kapitel 1 der Einführung wird für die Autoren in den vier dargestell-
ten Lebensgeschichten das Dilemma der gegenwärtigen amerikanischen Gesell-
schaft deutlich. Zwar sind in den Aussagen der »repräsentativen« Interviewpartner
zur Rechtfertigung ihres Handelns und ihrer Lebensentwürfe alle vier den »ameri-
kanischen Charakter« prägenden Traditionen weiterhin vorhanden; allerdings ist
16 Zu den kommunitaristischen Anleihen bei Tocqueville vergl. Irene Albers, »Kunst der
Freiheit« in: Christel Zahlmann (H.), Kommunitarismus in der Diskussion, aaO. (FN 14),
S. 35 ff.
17 Robert N. Bellah / Richard Madsen / William M. Sullivan / Ann Swidler / Steven M.
Tipton, Gewohnbeiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen
Gesellschaft, Köln 1987 (Orig.: Habits of the Heart. Individualism and Commitment in Ame-
rican Life, Berkley/Los Angeles/London 1985).
18 Ebd., S. 16.
19 Vergl. ebd., S. 174 ff.
20 Herrmann Scheer, Die andere Seite der Freiheit, Vorwort zur dt. Ausgabe, in: ebd., S. 7.
21 Unter den an verschiedenen Universitäten der USA lehrenden Forschern finden sich
Soziologen, Religionswissenschaftler und Philosophen.
22 Ebd., S. 349. Im Anhang (S. 339 ff.) weisen die Autoren darauf hin, dafs sie mit ıhrer an
den Methoden der teilnehmenden Beobachtung und des offenen Interviews (S. 348)
orientierten Studie auch die T'ocquevillesche Forderung nach einer neuen politischen
Wissenschaft wiederbeleben wollen. »Soztalwissenschaft als politische Philosophies
bedeutet fur sie eine Skepsis gegenüber dem Wertneutralitätsgebot (S. 345) und eine Hin-
wendung zur evaluativen Sozialwissenschatt als Orientierungswissenschaft. Erstrebt wird
nicht ein » Neotradlitionalisnuse sondern cine »soziale Okologiee (S. 321).
2> Fbd., S. 15.
ZfP 40. Jg. 3/1993
310 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
die Sprache des »utilitaristischen« und »expressiven Individualismus« so dominant,
daß die den Individualismus begrenzenden biblischen und republikanischen Tradi-
tionen keinen kohärenten Ausdruck finden können‘.
Hier wird deutlich, daß die Studie neben der zugegebenen Anlehnung an Toc-
queville auch als der Versuch einer empirischen Bestätigung des von Alasdair Mac-
Intyre konstatierten Verlusts der Tugend gesehen werden kann. MacIntyre hatte
in seinem für die konservative Strömung des Kommunitarismus grundlegenden
Werk von 1981 die Widersprüche und Unvereinbarkeiten der gegenwärtigen
Moralphilosophie unter dem Etikett des »Emotivismus«?* angeprangert, um
schließlich zu folgern, daß das ganze »Projekt der Aufklärung« ?’ von Anfang an
zum Scheitern verurteilt ist. Er spitzt die Auseinandersetzung um die moralische
Krise der Gegenwart zu einer notwendigen Wahl zwischen Nietzsche, den er in
der logischen Konsequenz der Aufklärung als deren Vollender sieht, und Aristote-
les zu. Er entscheidet sich für Aristoteles und rechtfertigt im zweiten Teil seines
Hauptwerkes unter Berücksichtigung der Tugendlehren von der vorsokratischen
Antike bis ins Mittelalter eine Tugendkonzeption der Ethik. Tugend braucht die
Einbettung in die ȟbergreifende Vorstellung vom Telos eines ganzen, als Einheit
begriffenen Menschenlebens« 2 und dessen Zusammenhang mit den Traditionen
von Gemeinschaften ”. Nur innerhalb gelebter Traditionen werden jene Geschich-
ten erzählt und repräsentativen »Charaktere« ° zur Verfügung gestellt, die dem
individuellen Lebensentwurf Orientierung und Sinn geben können.
Der »repräsentative Charakter«, der den Erfolg der amerikanischen Demokra-
tie in der Zeit Tocquevilles zu garantieren schien, war der »unabhängige Bürger«".
Eingebunden in die kleinstadtische Struktur Neuenglands gelang ihm — wenn auch
schon damals nicht ohne Spannungen - die Integration von privatem und 6ffentli-
chem Bereich, der Ausgleich zwischen individuellem Nutzen und republikanı-
schem, sozialem Engagement. Die von Bellah und seinen Kollegen in der gegen-
wärtigen amerikanischen Kultur als dominant identifizierten Charaktere »Mana-
ger« und »Therapeut« leisten dies nicht. Aus der für sie typischen Dominanz des
24 Vergl. ebd., S.51 f. Kapitel 2 liefert die historische Einordnung der vier Traditions-
stränge durch ihre Zuordnung zu »repräsentativen« Persönlichkeiten der Vergangenheit:
John Winthrop (1588-1649) für die biblische, Thomas Jefferson (1743-1826) für die
republikanische Tradition, Benjamin Franklin (1706-1790) für den utilitarisuschen und
Walt Whitman (1819-1892) für den expressiven Individualismus.
25 Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frank-
furt a. M./New York 1987 (Orig.: After Virtue. A Study in Moral Theory, Indiana 1981).
26 Vergl. ebd., S. 19 ff.
27 Vergl. ebd., S.75 ff.
28 Ebd., S. 270.
29 Vergl. ebd., S. 295.
30 Vergl. ebd., S. 47.
31 Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens, aaO. (EN 17), S. 64 ff.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 311
utilitaristischen bzw. expressiven Individualismus folgt ein Rückzug ins Private
und eine Vernachlässigung der öffentlichen Sphäre. »Therapeut« und »Manager«
sind das Resultat der Entwicklung der USA zur industriellen Weltmacht. Ihr
Lebensraum ist die Metropole!
Um eine erneute Verklammerung der beiden Sphären zu fördern und die für die
Demokratie zwar als unaufhebbar erkannte, aber auch fragile Spannung zwischen
Individualismus und Gemeinsinn auf ein verträgliches Maß zu reduzieren, scheint
eine Wiederbelebung bürgerlicher, republikanischer Tugenden dringend geboten.
Die Vorschläge allerdings, wie dies geschehen soll, bleiben unkonkret. Die Auto-
ren sprechen von Dezentralisierung ”? und wollen »... all jene Vereinigungen und
Bewegungen stärken, durch die sich der Einfluß der Bürger auf die Regierung
erhöht und die administrative Macht beschnitten wird, um so eine Politik zu revi-
talisieren, die dem Verwaltungsdespotismus widerstehen kann«®, und hoffen
dabei auf die von Tocqueville bei den Amerikanern diagnostizierte »Vereinigungs-
lust« in »freien Assoziationen«. Sie wollen — ganz im aristotelischen Sinne — einen
Schwerpunkt auf (politische) Bildung legen und allgemein den öffentlichen Dis-
kurs intensivieren.
Wenn man sich vom zweiten Werk der Autorengruppe, das als Entwurf einer
»Good Society«* angekündigt wurde, präzisere Auskunft über die Strategien zur
Überwindung der Krise erhofft hatte, so sieht man sich enttäuscht. Auch dort fin-
det sich eine detaillierte, erkenntnisreiche Diagnose der Krise der amerikanischen
Gesellschaft und deren mentalitätsgeschichtlichen Ursachen. Die Aussagen zu
Reformstrategien und deren Durchsetzungsmöglichkeiten allerdings bleiben vage.
Positiv unterscheiden sich Bellah u. a. allerdings von MacIntyre dadurch, daß
sie nicht auf die Schaffung kleiner esoterischer Gemeinschaften hoffen, um »das
neue finstere Zeitalter«° zu überstehen, eben nicht auf einen »... anderen, zwei-
fellos völlig anderen heiligen Benedikt«°* warten müssen, sondern ihre »Good
Society« innerhalb der Errungenschaften der Aufklärung ansiedeln.
32 Vgl. ebd., S. 239.
33 Ebd., S. 246.
34 Robert N. Bellah u. a., The Good Society, New York 1991.
35 Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend, aaO. (FN 25), S. 350.
36 Ebd., S. 350. Zur Kritik an MacIntyre vergl. Richard J. Bernstein, »Nietzsche or Ari-
stotle? Reflections on Alasdair MacIntyre’s After Virtue« in: Ders., Philosophical Profiles.
Essays in a Pragmatic Mode, Cambridge and Oxford 1986, S. 115 ff. Insbesondere wirft er
MacIntyre vor, daß sich in seiner Kritik am Projekt der Aufklärung wenig findet, was
nicht schon von Hegel als Dilemma der Moderne erkannt und von diesem im Konzept
der »Sittlichkeit« aufzuheben versucht wurde (vergl. ebd., S. 138 f.).
ZfP 40. Jg. 3/1993
312 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
III. Sprache, positive Freiheit und moderne Identität
Eine philosophisch anspruchsvolle Untersuchung zur Problematik der modernen
Identität und deren Zusammenhang mit den Krisenerscheinungen der westlichen
Industriegesellschaften liefert Charles Taylor. Das Werk des an der McGill-Uni-
versität in Montreal lehrenden Kanadiers ist in seiner souveränen Verbindung
angelsächsischer und kontinentaleuropäischer Philosophietraditionen ganz dem
Projekt einer »philosophischen Anthropologie« gewidmet.
Die Grundfragen seines Denkens sind bereits in den Schriften »Erklärung und
Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen« ” und »Hegel« * angedeutet.
Schon in seinen frühen Schriften setzt sich Taylor gegen die behavioristischen
Reduktionismen in den Sozialwissenschaften zur Wehr und verteidigt die nur dem
hermeneutischen Verstehen zugängliche, grundsätzliche Sinnhaftigkeit menschli-
chen Handelns. In seiner Studie zu Hegel, die ihn in der Bundesrepublik als exzel-
lenten Kenner des deutschen Idealismus bekannt gemacht hat, tritt sein philoso-
phisches Grundthema als Gegensatz zwischen Rationalität und Expressivität her-
vor. In seinem systematischen Zusammenhang wird Taylors Projekt einer »philo-
sophischen Anthropologie« hierzulande erstmals durch die Veröffentlichung der
Aufsatzsammlung »Negative Freiheit?«>? erkennbar.
Dort führt Charles Taylor zunächst anhand zweier Aufsätze über »menschli-
ches Handeln« und »Bedeutungstheorien« in sein Konzept der menschlichen Per-
son ein, klärt dann über den »Irrtum der negativen Freiheit« und »Wesen und
Reichweite distributiver Gerechtigkeit« auf, um schließlich nach einer Erörterung
des Foucaultschen Freiheits- und Wahrheitsbegriffs die Frage nach der »Legitimi-
tätskrise« “ in den westlichen kapitalistischen Systemen und deren Zusammenhang
mit der modernen Identität zu stellen.
Für Taylor ist der Mensch ein sich selbst interpretierendes Tier“. Er allein ist
zu Wünschen »erster« und »zweiter Ordnung« * fähig. Während Wünsche »erster
Ordnung« unmittelbar aus Bedürfnissen folgen und man deshalb annehmen kann,
37 Charles Taylor, Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen, Frank-
furt a.M. 1975.
38 Charles Taylor, Hegel, Frankfurt a. M. 1978.
39 Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt
a. M. gebunden 1988, paperback 1992. Die dort abgedruckten Aufsätze sind den 1985 in
Cambridge erschienenen Philosophical Papers (Band I »Human Agency and Language«
und 2 »Philosophy and the Human Sciences«) entnommen. In einem Nachwort
(S. 295 ff.) zeichnet Axel Honneth ein informatives Bild des akademischen Werdegangs
und der philosophischen Entwicklung Taylors. Dankenswerterweise enthält das Buch
darüber hinaus ein Verzeichnis der Schriften Taylors bis 1986 einschließlich (S. 315 ff.).
40 Die Zitate dieses Absatzes sind den jeweiligen Aufsatzüberschriften entnommen.
41 Ebd., S. 49.
42 Vergl. cbd., S. 9. Tavlor bezieht sich hier auf einen Grundgedanken von Harry Frankfurt,
»Freedom of the Will and the Concept of a Person« in: Joumal of Philosophy, Vol. 67,
No. 1, 1971. S.5 ff.; deutsch in: Peter Bieri (Ho, Analytische Philosophie des Geistes,
Kontgsteins I's. 1981, S. 287 tf.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 313
»... daß (zumindest die höheren) Tiere Wünsche haben und in manchen Fällen
zwischen Wünschen wählen oder zumindest manche Wünsche zugunsten anderer
zu hemmen vermögen ...«*, hat nur der Mensch ». . . die Fähigkeit, . .. Wünsche
zu bewerten, manche als wünschenswert und andere als nicht wünschenswert zu
betrachten.« “
Auf dieser zweiten, spezifisch menschlichen Stufe reflektierender Selbstbewer-
tung führt Taylor die Unterscheidung zwischen »schwachen« und »starken Wer-
tungen«® ein. Als »schwache Wertungen« kennzeichnet er das auf maximale
Bedürfnisbefriedigung gerichtete utilitaristische Abwägen, das allein quantitative
Kriterien als relevant berücksichtigt und den Wertenden letztendlich auf ein nicht-
artikulierbares Gefühl zur Begründung seiner Wertung verweist“.
»Das stark wertende Subjekt jedoch ist nicht in ähnlicher Weise artikulationsunfähig. Es
gibt Ansätze einer Sprache, in der sich die Überlegenheit einer Alternative gegenüber einer
anderen ausdrücken läßt, die Sprache des »Höher: und »Niedriger«, des »Edel« und »Gemein«
... Das stark wertende Subjekt kann den Vorrang artikulieren, genau weil es über eine Spra-
che kontrastiver Charakterisierung verfügt.« 4
Als sprachlich artikulierte Wertungen aber können sie nie allein auf individuelle
Geschmacksfragen und Vorlieben reduziert werden; sie sind von einer gemein-
schaftlichen Sprache abhängig. »(D)ie Sprache wird als subjektübergreifendes
Gewebe vorgestellt, das sich in der Praxis einer expressiven Sprachverwendung
zugleich erhält und erneuert.«“* Sprache in ihrer Ausdrucksfunktion für den Men-
schen ® — im Gegensatz zu einer rein weltabbildenden Funktion — wird hier zum
Wechselspiel zwischen Individuum und Gemeinschaft: Indem der Mensch Wertun-
gen aus dem sprachlichen Traditionszusammenhang seiner Gemeinschaft über-
nimmt, ist ihm die Überprüfung seines Lebensentwurfs und seiner Handlungen
möglich. Wollen Menschen aber
»... Wertempfindungen hervorbringen, für die der evaluative Wortschatz fehlt, müssen sie
den intersubjektiv geteilten Sprachhorizont überschreiten und neue Wertungen kreativ her-
vorbringen. Allerdings können sich die Interpretationen, in deren Licht Menschen ihr Leben
auf innovative Weise bewerten, auch nie vollständig aus dem Werthorizont ihrer sozialen
Gemeinschaft herauslösen; stets bleiben solche Wertungen auf die Unterstützung einer kol-
lektiv geteilten Lebensform angewiesen.« °°
43 Ebd., S. 10.
44 Ebd., S. 10.
45 Ebd., S. 11.
46 Vergl. ebd., S. 22.
47 Ebd., S. 22.
48 Axel Honneth, Nachwort, ın: ebd., S. 308.
49 In seinen sprachphilosophischen Ausführungen stellt sich Taylor in die »Herder-Hum-
boldt-Hamann-Tradition« (S. 115) (»triple-H theory«). Bei Taylor (und bei Rorty) wird
besonders eindringlich deutlich, daß die Wiederaufnahme einer aristotelischen Tradition
im »Communitarianism« unter den Bedingungen des »linguistic turn« (Rorty) geschieht
und nur vor diesem Hintergrund verstehbar ist.
50 Ebd., S. 309 f.
7tP 32. Te. 3/1993
21
314 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
Dieses Konzept der menschlichen Person ist der Hintergrund, vor dem Taylor
seine ethisch-politikphilosophischen Überlegungen entfaltet. In diesem Menschen-
bild fußen seine Erörterungen zur Freiheit und zur modernen Identität.
Zur Entfaltung seiner Freiheitskonzeption benutzt Taylor die von seinem
Freund und Lehrer Isaiah Berlin in dem Essay »Two Concepts of Liberty« °! vorge-
nommene Gegenüberstellung von »negativer« und »positiver Freiheit«. Wobei
erstere in liberalen Gesellschaftskonzeptionen als ». .. Unabhängigkeit des Indivi-
duums von der Einmischung anderer ..., sei es in Gestalt von Regierungen, von
Körperschaften oder von Privatpersonen ...«, definiert werden kann, während
letztere in der Tradition von Rousseau und Marx »... zumindest zum Teil . . . (in)
der kollektiven Kontrolle über das gemeinsame Leben .. .« 5? besteht.
Aufgrund o.e. prinzipieller Abhängigkeit des Individuums von Sprach- und
Wertegemeinschaften erachtet Taylor die, für ihn mit Bentham und Hobbes ver-
knüpfte, Reduktion auf negative Freiheitsrechte (»Strategie der Maginot-Linie«) »
für nicht ausreichend. Neben den »Möglichkeitsbegriff« der Freiheit muß zwin-
gend ein »Verwirklichungsbegriff«* gestellt werden. Sein Begriff der Person
zwingt ihn, den ersten Schritt hin zu einer positiven Freiheitsauffassung zu tun,
bewahrt ihn aber davor, den zweiten Schritt ». . . hin zu einer Auffassung von Frei-
heit, die diese nur ın einer bestimmten Gesellschaftsform für realisierbar ...
hält«° und damit totalitäre Institutionen zu ihrer Durchsetzung akzeptiert, zu
gehen.
Der in den westlichen Gesellschaften vorhandene Begriff eines freien Individu-
ums ist abhängig von den Praktiken und Institutionen, die diese Gesellschaftsform
prägen. »... (W)ir müssen (deshalb) nicht nur diejenigen Praktiken und Institutio-
nen verteidigen, die die Freiheit sichern, sondern auch diejenigen, die das Verständ-
nis der Freiheit aufrechterhalten«.
Offensichtlich wird diese Aufgabe aber zunehmend schwieriger. Schon lange
wird von einer Legitimationskrise der westlichen kapitalistischen Gesellschaften
gesprochen *. Taylor sucht die Ursachen der Krise in den sich in den gegensätzli-
chen Freiheitskonzepten schon andeutenden Ambivalenzen der »modernen Identi-
5
—
Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, London 1969, S. 118 f. Dieser Aufsatz wurde in
einem von Michael Sandel herausgegebenen Sammelband zur Auseinandersetzung zwi-
schen »Communitarians« und »Liberals« wieder aufgelegt. Michael Sandel (H.), Libera-
lism and its Critics, Oxford 1984. Von Isaiah Berlin ist jetzt eine weitere Essaysammlung
erschienen, die die Spannung zwischen utopisch universellen Politikentwürfen und Kon-
zepten eines kulturellen Pluralismus in der europäischen Ideengeschichte virtuos heraus-
arbeitet. Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, Frank-
furt a.M. 1992.
52 Charles Taylor, Negative Freiheit?, aaO. (FN 39), S. 118.
53 Vergl. ebd., S. 127.
54 Vergl. ebd., S. 121.
55 Ebd., S. 144.
56 Vergl. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 315
tät« 57. Die für den modernen Menschen charakteristischen Widersprüchlichkeiten
sind für ihn Resultat der historischen Genese der modernen Identität °*®.
Die Auflösung der antiken kosmischen Ordnung über die einzigartige Bezie-
hung des Menschen zum christlichen Vatergott bewirkt in der beginnenden Neu-
zeit eine Hinwendung zum Subjekt und dessen Autonomie. Taylor entdeckt in der
Autonomie das übergreifende Merkmal moderner Identität, kontrastiert aber zwei
Versionen der Verwirklichung der Autonomie als Natur des Menschen. Während
die im 17. Jahrhundert entstehende erste Version die Verwirklichung der Natur
des Menschen in der rationalen »Entzauberung« der Welt und ihrer Beherrschung
durch die instrumentelle Vernunft sieht, entwickelt sich im 18. Jahrhundert — quasi
als notwendiges »Gegengift«°’ — die mit Rousseau verknüpfte »platonisch-roman-
tische Kritik«*. Hier erfüllt sich die Sehnsucht nach dem autonomen, rational
handelnden Subjekt nicht länger durch die Beherrschung der äußeren Welt, son-
dern verlangt den Ausdruck und die Verwirklichung der jetzt im Menschen bezie-
hungsweise der menschlichen Gemeinschaften (Nationen) vermuteten inneren
Werte. Liefert die erste Version die Rechtfertigung der modernen Konsumgesell-
schaft, so steht die zweite für das moderne Bedürfnis nach Selbstausdruck und
Selbstverwirklichung.
Beide Konzeptionen sind Teil der modernen Identität. Sie finden sich ». . . ein-
gebettet in die Strukturen, Praktiken und Institutionen dieser Gesellschaft, in
unsere Produktionsverhältnisse, ..., in unsere sexuellen Beziehungen und Fami-
lienstrukturen, in unsere politischen Institutionen und Praktiken«*®!. Gleicherma-
ßen wird die moderne Identität durch den Status als Produzent und als Bürger
geformt.
»Von dort her können wir die potentielle Verwundbarkeit dieses Gesellschaftstyps und
dieser Lebensweise erkennen. Die Wege und Formen des an Akkumulation orientierten
Lebens müssen weiterhin als Bestätigung von Freiheit und Erfolgsstreben erscheinen. Sollte
jedoch der Eindruck aufkommen, daß sie zu bloßer Selbstgefälligkeit degenerieren, dann
gerät die Gesellschaft in eine Vertrauenskrise.« *
Die — ursprünglich individuelle Freiheit ermöglichende und sichernde — Produk-
tion materieller Güter gerät in ihrer potentiellen Unbegrenztheit und der damit
verbundenen Fetischisierung in Konflikt mit dem Bedürfnis des modernen Men-
schen, die Zwecke seines Handelns selbst zu bestimmen.
57 Vergl. Charles Taylor, Negative Freiheit?, aaO. (FN 39), S. 236.
58 Ausführlich widmet sich Taylor der Genese der modernen Identität in einer Studie der
philosophischen Schlüsseltexte von Platon bis in die Gegenwart: Ders., Sources of the Self.
The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989. Vergl. Holmer Steinfath, »In den
Tiefen des Selbst« in: Philosophische Rundschau, 38. Jg., Heft 1-2, 1991.
59 Charles Taylor, Negative Freiheit?, aaO. (FN 39), S. 266.
60 Ebd., S. 270.
61 Ebd., S. 272 f.
62 Vergl. ebd., S. 275.
63 Ebd., S. 278.
7fP 42. Te. 3/1993
21*
316 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
Während für Taylor aber die Hoffnung besteht, daß das private Streben nach
Glück und das Gemeinwohl durch die Klammer einer partizipatorischen »Strong
Democracy« “ zusammengehalten werden können, kann Rorty in dem Buch »Kon-
tingenz, Ironie und Solidarität«® nur noch die radikale Trennung zwischen prı-
vatem und öffentlichem Bereich proklamieren.
Rorty will dem Menschen des postmodernen Zeitalters auch die letzten Gewiß-
heiten rauben®. Sprache, das Selbst und auch die Form der Gemeinschaft, in der
wir leben, sind für ihn ein Produkt von Zeit und Zufall. Sprache beschreibt weder
äußere (positivistische, weltabbildende) noch innere (romantische) Wahrheiten. In
der Nachfolge von Nietzsches Kulturgeschichte und Davidsons Sprachphilosophie
ist Sprache so zu sehen, »... wie wir jetzt die Evolution sehen, als neue Formen
des Lebens, die ständig alte Formen abtöten — nicht um höhere Zwecke zu errei-
chen, sondern blind.«* Mit dem Wandel der Sprache unterliegen auch das Selbst
als vermeintlicher Kern des Menschen und die Form seines Zusammenlebens in
Gemeinschaften einer ständigen Redeskription und Reinterpretation.
Mit dem Verschwinden letzter, allgemein verbindlicher Wahrheiten beginnt für
Rorty allerdings nun nicht der — von seinen Kritikern befürchtete — Krieg aller
gegen alle. Ganz im Gegenteil, er hofft, daß die Einsicht, daß »... die Geltung
unserer eigenen Überzeugungen nur relativ ist . . .«, uns dazu bringt, ».... dennoch
unerschrocken für sie einzustehen ...«**. Mit dem Verschwinden einer alles
umfassenden, den privaten und den öffentlichen Bereich integrierenden Vision
kann der Mensch im privaten Bereich völlig der individuellen »Selbsterschaffung«
überlassen werden; während er im öffentlichen Bereich mit Judith Shklars Charak-
terisierung eines Liberalen als »... jemand der glaubt, Grausamkeit sei das
Schlimmste, was wir tun können« , konform gehen soll. Der »neue Mensch« (der
64 Zu Vorstellungen einer starken Demokratie vergl. Benjamin Barber, Strong Democracy.
Participatory Politics for a New Age, Berkeley 1984.
65 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. gebunden 1989, paper-
back 1992 (Orig.: Contigency, Irony and Solidarity, Cambridge 1989). Rorty, der sich mit
Ironie gegen jegliches »labeling« zur Wehr zu setzen scheint, würde sicher auch die Eu-
kettierung als »Communitarıan« zurückweisen. Es bleibt dennoch festzustellen, daß er
bei der Erörterung politischer Themen (Solidarität, Vorrang der Demokratie vor der Phi-
losophie, Verteidigung des Rawls’schen Ansatzes) eindeutig einer - an Walzer erinnern-
den - linksliberal-kommunitären Argumentation folgt. Vergl. auch: Ders., »Postmoder-
nist Bourgeois Liberalism« in: Journal of Philosophy, Oktober 1983, S. 583 ff., und ders.,
Solidarität oder Objektivität, Stuttgart 1988.
66 Den eigentlichen Generalangriff auf die an die Bewußiseinsphilosophie gebundene
abendländische Erkenntnistheorie hat er bereits in dem Werk »Der Spiegel der Natur«
geführt. Ders., Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M. gebun-
den 1981, paperback 1987 (Orig.: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979).
Zu einer biographischen Einführung in den Zusammenhang seines Werkes vergl. Walter
Reese-Schäfer, Richard Rorty, Frankfurt/New York 1991, ebenso: Detlef Horster,
Richard Rorty zur Einführung, Hamburg 1991.
67 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, aaO. (FN 65), S. 46.
68 Joseph Schumpeter zitierend, ebd., S. 87.
69 Ebd., S. 237.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 317
»Übermensch«) Rortys ist die »liberale Ironikerin«”°. Privat von der Kontingenz
aller Werte überzeugt, alles ironisierend, tritt er im öffentlichen Bereich ernsthaft
für die Sicherung unserer liberalen Institutionen ein”.
Die Frage nach einer Begründung des Engagements verwirft Rorty als dem -
für ihn inzwischen unzulänglichen — »Vokabular des Aufklärungsrationalismus«
zugehörig. »Denn die Idee einer »philosophischen Grundlage: verschwindet mit
dem Vokabular des Aufklärungsrationalismus.« 7? Einzig die universelle Schmerz-
empfindlichkeit des Menschen, die Grausamkeiten verbietet, und die in unserem
liberalen Vokabular geteilte Auffassung, daß liberale Institutionen am besten den
privaten Freiraum sichern, bleiben als Reste von Begründung.
Ob Rorty in seiner artistischen Virtuosität den Bogen nicht überspannt, ob der
Mensch zu einer derartig schizophrenen Existenzweise überhaupt fähig ist, wie
eine politische Bildung aussehen könnte, die, alles in Frage stellend, doch zu Enga-
gement aufruft”, und ob diese »Schizophrenen« den Liberalismus mit demokrati-
schem Leben erfüllen können, muß an dieser Stelle offen bleiben. Rorty, der wie
alle »Communitarians« aus seinem erkenntnistheoretischen Skeptizismus einen
Vorrang der Politik (oder Rhetorik) vor der Epistemologie folgern muß, gerät
m. E. mit der Forderung, »... daß ein einziger Mensch beides zugleich sein kann,
Liberaler und Ironiker«”*, in das Fahrwasser eines noch radikaleren Individualis-
mus, als der von ihm selbst kritisierte.
IV. Gerechtigkeit ohne universelles Prinzip? oder »Gute Zäune garantieren
gerechte Gesellschaften«”
Ist ın widersprüchlichen, postmodernen Gesellschaften Gerechtigkeit möglich?
Welches Konzept kann das »Patchwork der Minderheiten« (Lyotard) integrieren?
Rawls stellt zu Beginn der siebziger Jahre in seiner »Theorie der Gerechtigkeit«
einen alles überragenden Versuch der Neubegründung der Vertragstheorie in der
Tradition von Locke, Rousseau und Kant unter Berücksichtigung neuerer spiel-
theoretischer Erkenntnisse vor. Diesen Versuch unterzieht zehn Jahre später der
Taylor-Schüler Michael Sandel einer radikalen Kritik. »Liberalism and the Limits
of Justice«’* wendet sich in einer detaillierten philosophischen Untersuchung
70 Ebd., S. 138.
71 Beide Bereiche sieht Rorty durch unterschiedliche Philosophietraditionen vertreten. Für
den privaten Bereich der Selbsterschaffung nennt er u.a. Nietzsche, Heidegger und
Derrida, für den öffentlichen Dewey oder Habermas. Wobei er betont, daß erstere,
»... als politische Philosophen im besten Fall unnütz und im schlimmsten Fall gefährlich
sind ...« Ebd., S. 121.
72 Ebd., S. 84.
73 Vergl. ebd., S. 150.
74 Ebd., S. 320.
75 Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit,
Frankfurt a. M. 1992, S. 449.
76 Michael Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982.
ZfP 40. Jg. 3/1993
318 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
gegen das fir die »original position« unverzichtbare, im »veil of ignorance« seinen
Ausdruck findende, individualistische Menschenbild und bestreitet einen Vorrang
des »Rechten« vor dem »Guten«.
In seiner fundamentalen Kritik am Rawls’schen Individualismus verkennt San-
del allerdings die in der »Theorie der Gerechtigkeit« auch enthaltenen aristoteli-
schen Traditionen. Denn über die Methode des »reflective equilibrium« und des-
sen Einfluß auf die Ausgestaltung der Bedingungen der »original position«
erreicht Rawls durchaus eine Rückbindung seiner deontologischen Ethik an die
gelebten Traditionen der westlichen pluralistisch-demokratischen Gesellschaften”.
Während sich Sandel weitgehend auf eine Kritik der Rawls’schen Gerechtig-
keitstheorie beschränkt, tritt MacIntyre in »Whose Justice? Which Rationality ?« ®
mit dem Anspruch auf, eine wahre Theorie der Gerechtigkeit und der ihr zugrun-
deliegenden praktischen Vernunft aus dem Fundus der abendländischen Traditio-
nen zu selektieren. MacIntyre wiederholt hier die Argumentation seines Buches
»Der Verlust der Tugend«: Einen verbindlichen Standard praktischer Rationalität
kann es nur innerhalb der gelebten Traditionen einer Gemeinschaft geben. Der
Versuch des Liberalismus, traditionsunabhängige Standards zu rechtfertigen, ist
notwendig zum Scheitern verurteilt. Denn jeder argumentative Rechtfertigungs-
versuch ist immer schon Teil einer Tradition und nur als solcher verstehbar.
Den überwiegenden Teil des Buches muß MacIntyre deshalb erneut für die
nacherzählende Darstellung der unterschiedlichen Denktraditionen aufwenden.
Vier für unsere Tradition prägende Entwicklungslinien mit eigenen Standards
praktischer Rationalität und einer bestimmten Theorie der Gerechtigkeit glaubt er
zu erkennen: (1) von Homer über Platon und Aristoteles zu Thomas von Aquin,
(2) von der alttestamentarischen Überlieferung über Augustinus ebenfalls zu Tho-
mas von Aquin, (3) die in der vorhumeschen Schottischen Aufklärung wieder auf-
genommenen augustinischen und aristotelischen Ansätze und schließlich (4) den
durch die Kritik Humes begründeten Liberalismus. Auch in Fragen der Gerechtig-
keit gelangt er zu dem Schluß, daß die auf Aristoteles zurückgehende und in Tho-
mas von Aquin kulminierende Tradition die einzig konsistenten Standards prakti-
scher Rationalität begründen kann. Auf welche Weise aber erweist sich der Vorzug
einer Tradition gegenüber einer anderen? MacIntyre geht davon aus, daß sich
Denktraditionen in »epistemologischen Krisen« bewähren müssen und an einem —
den Peirceschen Annahmen nicht unähnlichen -Wahrheitskonzept überprüfen las-
sen. In Krisen muß es der jeweiligen Tradition gelingen, ungelöste Widersprüche
aufzuheben beziehungsweise rivalisierende Theorieansprüche zu integrieren. An
diesem Punkt verfangt sich MacIntyre allerdings in ein durch seine eigenen Prä-
77 Vergl. Sibyl A. Schwarzenbach, »Rawls, Hegel and Communitarianism« in: Political
Theory, Vol. 19, No. 4, Nov. 1991, S. 539 ff. Rawls’ eigene Auseinandersetzung mit der
Kritik der achtziger Jahre ist in einer jüngst erschienenen Aufsatzsammlung nachzulesen:
John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M.
1992.
78 Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality’, London 1988.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 319
missen verursachtes »Ubersetzungsproblem«: Eine Rechtfertigung kann immer nur
vor dem Hintergrund der je eigenen, gelebten und im Prinzip unhintergehbaren
Traditionen erfolgen; für einen wirklichen Vergleich und eine mögliche Integra-
tion konkurrierender Theorietraditionen muß aber auch deren Verständnis vor-
ausgesetzt werden. Selbst wenn man MaclIntyres Lösung einer allen »dargestellten
Traditionen gemeinsame(n) Residualtheorie der Rationalität von Traditionen«
folgt, bleibt die Frage, wie die aristotelisch-thomistische Tradition unter den
Bedingungen der Moderne wiederbelebt werden soll und welche Konsequenzen
daraus erwachsen, — wiederum — weitgehend unbeantwortet.
Dagegen hat Michael Walzer® bereits 1983 eine diskussionswürdige Alternative
zur Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie vorgelegt. Auch Walzer distanziert sich von
dem aus bestimmten individualistischen Pramissen gefolgerten Universalismus der
Rawls’schen Gerechtigkeitsprinzipien. Er wendet sich gegen die Vorstellung, es
könnte ein einziges, von Philosophen erkanntes, universell gültiges, gerechtes Ver-
teilungssystem geben. Was gerecht ist und als solches von Menschen erkannt und
empfunden wird, kann nicht unabhängig von der jeweiligen Form des Zusammen-
lebens gesehen werden. Unterschiedliche Lebensformen bedingen unterschiedliche
Konzeptionen der Gerechtigkeit. Einen neutralen Standpunkt für einen »unpar-
teiischen Beobachter« zur Beurteilung unterschiedlicher Gerechtigkeitsvorstellun-
gen gibt es für Walzer nicht. Der Beobachter bleibt immer — zumindest zum Teil -
ein »Gefangener« der eigenen Traditionen und Wertvorstellungen.
Walzer geht aber über die Behauptung, daß unterschiedliche soziale, ökonomi-
sche und historische Situationen unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien hervor-
bringen, noch hinaus:
»] want to argue for more than this: that the principles of justice are themselves pluralistic
in form; that different social goods ought to be distributed for different reasons, in accord-
ance with different procedures, by different agents; and that all these differences derive from
different understandings of the social goods themselves - the inevitable product of historical
and cultural particularism.« 3!
Gerechtigkeitsprinzipien dienen der Verteilung sozialer Güter. Für Walzer ist
keine bestimmte Anzahl von Grundgütern a priori gegeben; denn was ein soziales
Gut ıst, erscheint als Resultat eines sozialen Prozesses innerhalb der Gemein-
schaft. Soziale Güter haben gemeinschaftlich geteilte Bedeutungen (»shared
understandings«). Die Bedeutung, die ein soziales Gut für die Gemeinschaft und
ihre Mitglieder hat, gibt an, wie es zu verteilen ist:
»Distributiv criteria and arrangements are intrinsic not to the good-in-itself but to the
social good. If we understand what it is, what it means to those to whom it is good, we
79 Rudolf Teuwsen, »Buchbesprechung: Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Ratio-
nality?« in: Philosophisches Jahrbuch, 99. Jg., 1. Halbband, 1992, S. 185.
80 Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983,
dt. Ausg. aaO. (FN 75).
81 Ebd., S. 6.
ZfP 40. Jg. 3/1993
320 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
understand how, by whom, and for what reasons it ought to be distributed. All distributions
are just or unjust relative to the social meanings of the good at stake.« 2
Wenn in einer Gesellschaft unterschiedliche soziale Güter zur Verteilung kom-
men und sie aufgrund unterschiedlicher Bedeutungen nach unterschiedlichen Ver-
teilungskriterien verlangen, dann folgt daraus, daß die Verteilungen »autonom«
erfolgen müssen. Jedes soziale Gut bildet eine eigene »distributive sphere«, inner-
halb derer nur ganz bestimmte Kriterien angemessen sind.
Ungerechtigkeit entsteht dann nicht dadurch, daß ein einziger oder eine Gruppe
von Menschen oder eine Klasse in einer solchen Sphäre einen wesentlichen Anteil
am zu verteilenden Gut hat oder hier sogar über ein Monopol verfügt, sondern
dadurch, daß es aufgrund dieses Monopols gelingt, auch die Verteilung in anderen
- vielleicht in allen anderen — Sphären zu dominieren. Es kommt für Walzer dar-
auf an, mit einer für ihn im eigentlichen Sinne liberalen »Kunst der Trennung« ein
System der »komplexen Gleichheit« (»complex equality«) zu schaffen, für das gilt,
»... daß die jeweilige »Eigenlogik« gesellschaftlich relevanter Verteilungssphären (Erzie-
hung, Markt, politisches System, Verwaltung, Arbeitsteilung, Arbeits- und Freizeit usw.)
ernstgenommen wird, diese also nicht über einen Kamm geschoren werden dürfen, wie sie
umgekehrt fordert, zu verhindern, daß ein Element gesellschaftlicher Verteilung alle anderen
Sphären beherrscht (. . .).«®
Ein System »einfacher Gleichheit« (»simple equality«) - jeder hat von jedem
gleich viel — ist für Walzer nur um den Preis einer übermächtigen Diktatur, die
dann unvermeidlich zur Tyrannei ausarten würde, zu haben, da selbst bei
ursprünglicher Gleichverteilung aufgrund der unterschiedlichen Charaktere der
Menschen, aufgrund unterschiedlicher Begabungen oder anderer Zufälligkeiten
sofort wieder Ungleichheiten entstehen würden, die dann von einer alles kontrol-
lierenden Macht korrigiert werden müßten.
Nachdem Walzer auf diese Weise den theoretischen Rahmen einer pluralisti-
schen Gerechtigkeitstheorie durch seinen Entwurf einer »Theorie der Güter« und
einer Erörterung der drei wichtigsten Distributionskriterien (»freier Austausch«,
»Verdienst« und »Bedürfnis«) abgesteckt hat, entfaltet er in den folgenden Kapi-
teln unter Berücksichtigung einer immensen Fülle historischer Beispiele die Bedin-
gungen der einzelnen Verteilungssphären (Mitgliedschaft, Sicherheit und Wohl-
fahrt, Geld und Waren, Ämter, harte Arbeit, Freizeit, Erziehung und Bildung,
Verwandtschaft und Liebe, göttliche Gnade, Anerkennung, politische Macht), die
für ihn eine liberale Industriegesellschaft konstituieren.
Das wichtigste zu verteilende Gut einer Gemeinschaft ist die »Mitgliedschaft«
in dieser Gemeinschaft selbst. Sie erst ermöglicht den vollen, gleichberechtigten
Zugang zu allen anderen Verteilungssphären. Nur ein Mitglied hat Anspruch auf
die zu verteilenden sozialen Güter. Die Negierung des Prinzips »Mitgliedschaft«
durch die Abschaffung aller Grenzen, wie sie von auf marktwirtschaftliche
82 Ebd., S. 8 f. |
83 Otto Kallscheuer, Die Kraft der inneren Opposition, aaO. (FN 3), S. 131.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 321
Modelle zurückgreifenden Utilitaristen gefordert wird, würde nicht zu einem
freien, optimalen Austausch zwischen Individuen führen, sondern sofort Kämpfe
um neue Vergemeinschaftungen auslösen.
»To tear down the walls of the state is not, as Sidgwick worriedly suggested, to create a
world without walls, but rather to create a thousand petty fortresses.« ®
Über die hermeneutische Auslegung der in seiner Gesellschaft üblichen Vorstel-
lungen von Nachbarschaften, Vereinen und Familien gelangt Walzer zu der Auf-
fassung, daß über die Art und Weise der Verteilung des Gutes »Mitgliedschaft«
nur diejenigen entscheiden können, die bereits Mitglied sind. Er verteidigt hier das
»Selbstbestimmungsrecht« politischer Gemeinschaften. Nur in zur Abgrenzung
fähigen Gemeinschaften findet sich der — für die Bereitschaft, Verpflichtungen ein-
zugehen — nötige Zusammenhalt. Es bleiben drängende Fragen: Darf sich eine
Gemeinschaft vollkommen abschotten? Wieviele Einwanderer muß ein übermäßig
reiches Land aufnehmen? Darf man die Einwanderer nach bestimmten Kriterien
auswählen?
Walzer versucht einen Balanceakt zwischen den in einer Gemeinschaft geteilten
Bedeutungen von »Mitgliedschaft«, welche für ihn in dem Recht einer »comm-
unity«, sich gegen andere abzugrenzen (»internal principle«), kumulieren, und den
Erfordernissen »gegenseitiger Hilfeleistung« (»mutual aid«), wie Walzer eine auch
Nicht-Mitgliedern gegenüber bestehende, moralische Forderung bezeichnet
(»external principle«). Dieser Balanceakt muß aber in jeder konkreten Gemein-
schaft je aufs neue im Rahmen eines öffentlichen Streits der Meinungen unter-
nommen werden — der Ausgang ist nicht vorherzusagen. Die Politische Philoso-
phie kann hier vor einem gegebenen Traditionszusammenhang nur Klärungs- und
Interpretationshilfe leisten; universelle Regeln oder Verfahren lassen sich mit ihrer
Hilfe nicht begründen. Auch Walzer bekennt sich zu einem »Vorrang der Demo-
kratie vor der Philosophie«®.
Gerade die Erörterung der »Mitgliedschaft« verdeutlicht das tiefe Dilemma der
Walzerschen — aber auch jeder anderen liberal-kommunitidren — Politischen Philo-
sophie. Einerseits werden Rechte und Notwendigkeit von Gemeinschaften begrün-
det, andererseits müssen, um nicht in die Abgründe eines radikalen, chauvinisti-
schen Partikularismus zu stürzen, zumindest minimale universalistische Sicherun-
gen eingebaut werden — die dann zwangsläufig den Rechten der Gemeinschaft
zuwiderlaufen und innerhalb einer kommunitären Philosophie nicht begründbar
sind. Joshua Cohen spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem »simple
communitarian dilemma« *.
84 Michael Walzer, Spheres of Justice, aaO. (FN 80), S. 39.
85 Richard Rorty, »Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie« in: Ders., Solidarität
oder Objektivität, aaO. (FN 65), S. 82 ff.
86 Vergl. Hubertus Buchstein / Rainer Schmalz-Bruns, »Gerechtigkeit als Demokratie -
Zur politischen Philosophie Michael Walzers« in: PVS, 33. Jg., Heft 3, 1992, S. 378 ff.
ZfP 40. Jg. 3/1993
322 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
Im Walzerschen Werk lassen sich drei solcher »Sicherungen« oder »Begrenzun-
gen« ausmachen:
~ Am Prinzip der o.e. »gegenseitigen Hilfe« zeigt sich, daß Walzer durchaus
einige, allen Menschen gemeinsame, moralische Grundforderungen annimmt,
auch wenn sich diese unter der Prämisse einer Rückbindung aller Werte an par-
tikulare Gemeinschaften und »Sprachspiele« nur empirisch beobachten, nicht
aber philosophisch rechtfertigen lassen”.
— Walzer begreift die »shared understandings« nicht als starr und unveränderlich.
Auch die hermeneutischen Verfahren des Philosophen sind nicht in der Lage,
einen ewig gültigen Kern herauszuschälen. Werte entstehen und wandeln sıch ın
einem kommunikativen Prozeß unter den Beteiligten; sie sind offen für Inter-
pretationen. Damit aber enthält die Walzersche Philosophie implizit eine Präfe-
renz für demokratische, diskursive Strukturen und Verfahren.
— An Stelle eines »covering law«-Universalismus, der alle Lebensformen unter eine
einzige Regel zwingen will und muß, favorisiert Walzer einen »reiterativen«
Universalismus, der jeder politischen Gemeinschaft ihren eigenen, selbstbe-
stimmten Weg der Befreiung zugesteht*.
Bildet die »Mitgliedschaft« und die darin mitgedachte Möglichkeit von »shared
understandings« und von Gemeinsinn das Fundament, auf dem sich die anderen
»Sphären der Gerechtigkeit« erst konstituieren können, so fällt der am Ende des
Buches analysierten politischen Sphäre die Sonderrolle des Wächteramtes zu. Ihr
kommt die — für die Aufrechterhaltung einer komplexen Gleichheit entschei-
dende — Aufgabe zu, für die Einhaltung der Grenzen zu sorgen und sich gleichzei-
tig selbst zu beschränken, um nicht neue Ungerechtigkeit dadurch zu erzeugen,
daß sie ihrerseits andere Verteilungssphären (den Markt, Religionsgemeinschaf-
ten, die Familie) dominiert”.
Walzer plädiert für einen liberalen Verfassungsstaat des »limited government«
und der »blocked exchanges« ”. Haben sich in einer Gesellschaft erst einmal unter-
87 In einem früheren Buch Gibt es einen gerechten Krieg?, Stuttgart 1983 (Orig.: Just and
Unjust Wars, New York 1977), das für Walzer auch eine persönliche Auseinandersetzung
mit dem Vietnamkrieg und seinem Engagement ın der Protestbewegung darstellt, ver-
traut er noch mehr auf die Idee der Menschenrechte.
88 Vgl. Michael Walzer, »Zwei Arten des Universalismus« in: Babylon. Beiträge zur jüdischen
Gegenwart, Heft 7, 1990, S. 7 ff. Paradigmatisch erscheint für Walzer die sich immer wie-
derholende Geschichte der Befreiung am Beispiel des Auszugs der Israeliten aus der
ägyptischen Unterjochung. In dieser Erzählung erkennt Walzer auch die »Urform« unse-
rer heutigen Vorstellungen von Unterdrückung, Befreiung, Revolution und Vertrag
: (»Bund«). Vergl. ders., Exodus und Revolution, Berlin 1988. Die enge Verknüpfung der
Walzerschen Politischen Philosophie mit einer religiösen, jüdisch-christlichen (hier insb.
der protestantischen) Tradition deutet sich bereits in seinem ersten, auf seiner Disserta-
tion beruhenden Buch an: Ders., The Revolution of the Saints. A Study in the Origins of
Radical Politics, Harvard University Press 1965.
89 Vergl. ders., Spheres of Justice, aaO. (FN 80), S. 281 ff.
90 Ebd., S. 284.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 323
schiedliche Verteilungssphären herauskristallisiert”', so gibt es für Walzer keine -
gerechte! — Alternative zu einer demokratischen, alle Bürger mit gleichen politi-
schen Rechten ausstattenden, Regierungsform. Da die Verteilungskriterien ande-
rer Sphären gleichberechtigt nebeneinanderstehen und die Dominanz der einen
über die andere (göttliche Gnade in einer Theokratie oder Besitz in einer Oligar-
chie) Ungerechtigkeit und Tyrannei bedeuten würde, kann nur noch die gemein-
same Beratung und Zustimmung der Bürger die politische Machtausübung legiti-
mieren?.
»All das bedeutet, daß wir die Suche nach einem einzigen Satz von Prinzipien distributiver
Gerechtigkeit aufgeben müssen. Im Gegenteil, eine moderne Gesellschaft kann aus verschie-
denen, aufeinander irreduziblen Perspektiven betrachtet werden und folglich im Lichte unab-
hängiger und aufeinander irreduzibler Prinzipien distributiver Gerechtigkeit beurteilt wer-
den.«%3
V. Der Kritiker in der Höhle
Die Orientierung an einer Gemeinschaft zementiert den Status quo; Gesellschafts-
kritik ohne objektive Erkenntnis, ohne allgemeingültiges Prinzip oder universelles
Verfahren ist nicht möglich. In diesem Vorwurf gegen den Gedanken an eine kom-
munitäre Kritikalternative finden sich - ansonsten völlig kontrare— Begründungsver-
suche wieder. Hier treffen sich jene, die die Wahrheit der Natur des Menschen noch
zu erkennen glauben, mit jenen, die den letzten Rückzugspunkt für die Möglich-
keit von Kritik im abstrakten Verfahren des herrschaftsfreien Diskurses finden.
Michael Walzer versteht sich selbst als Kritiker seiner Gesellschaft. In zwei
jüngst erschienenen Büchern versucht er die Möglichkeit einer Kritik »von innen«
zu begründen”. Er glaubt nicht daran, daß der Gesellschaftskritiker, wie Platons
Philosoph, erst in die Sonne geschaut haben muß, um über das Leben ın der Höhle
zu urteilen, sondern hofft, seine Maßstäbe der Kritik aus der Alltagswelt der
91 Als eine der wenigen, völlig undifferenzierten, ganz einem einzigen hierarchischen Prin-
zip untergeordneten Gesellschaften läßt Walzer das Indische Kastensystem gelten. Vergl.
ebd., S. 313 f.
92 Vergl. ebd., S. 303 ff.
93 Charles Taylor, »Wesen und Reichweite distributiver Gerechtigkeit« in: Ders., Negative
Freiheit?, aaO. (FN 39), S. 179. Bei der Erörterung des Spannungsfeldes zwischen
»Gemeinschaft und Gerechtigkeit« ist der von Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst
herausgegebene Sammelband »Gemeinschaft und Gerechtigkeit« von Interesse. Die Auf-
sätze dieses Bandes gehen auf Vorträge eines im Mai 1992 in Frankfurt unter gleichlau-
tendem Motto durchgeführten Kongresses, auf dem auch Ch. Taylor anwesend war,
zurück.
94 Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990
(Orig.: Interpretation and Social Criticism, Cambridge 1987), und ders., Zweifel und Einmi-
schung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1991 (Orig.: The Company of
Critics. Social Criticism and Political Commitment in the Twentieth Century, New York
1988).
ZfP 40. Jg. 3/1993
324 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
Höhle selbst, »... den immanenten Regeln, Maximen, Konventionen und Idea-
len ...«%, entnehmen zu können.
In »Zweifel und Einmischung« führt Walzer am Beispiel ausgewählter Gesell-
schaftskritiker des 20. Jahrhunderts in die politische Praxis der Kritik ein. Einge-
rahmt von einer Einleitung zur »Praxis der Gesellschaftskritik« und abschließen-
den Überlegungen zur »Kritik heute« entfaltet er, mit der für sein gesamtes Werk
typischen enormen Detailkenntnis, in elf Kapiteln die Biographien von Kritikern
als Modell - oder Gegenmodell — seiner Auffassung von Gesellschaftskritik. Der
Reigen wird angeführt von Julien Benda, der im »Verrat der Intellektuellen« selbst
eine Standortbestimmung — wenn auch mit gänzlich anderem Ergebnis — der Rolle
des Intellektuellen (»Clerc«) vornimmt; es folgen in annähernd zeitlicher Ordnung
Randolph Bourne, Martin Buber, Antonio Gramsci, Ignazio Silone, George Orwell,
Albert Camus; Simone de Beauvoir, Herbert Marcuse, Michel Foucault und, als
einzig noch lebender, der südafrikanische Kritiker Breyten Breytenbach. Die auf
den Fokus Gesellschaftskritik gebündelten biographischen Skizzen machen »Zwei-
fel und Einmischung« zu einer ungewöhnlichen politischen Lektüre: trotz der
Fülle an Informationen liest sich dieses Buch geradezu spannend.
Die dem Walzerschen Kritikansatz zugrundeliegenden philosophischen Überle-
gungen wurden aber bereits in der nur knapp 100 Seiten umfassenden Schrift »Kri-
tik und Gemeinsinn« entfaltet. Dort unterscheidet Walzer »drei Wege der Gesell-
schaftskritik«: den »Pfad der Entdeckung«, den »Pfad der Erfindung« und den
»Pfad der Interpretation« ®.
Im »Pfad der Entdeckung« erkennt Walzer das ursprüngliche Modell göttlicher
Offenbarung. Ein neues Moralgesetz wird kraft göttlicher Autorität vom Men-
schen empfangen. Der Religionsstifter, ein Mensch mit besonderem Zugang zu
Gott, einer der wie Moses den Berg bestiegen hat, kritisiert seine Gesellschaft von
außerhalb. Mit dem Verblassen Gottes und der neuzeitlichen Hinwendung zum
Subjekt konnten die Philosophen allerdings nicht länger auf göttliche Offenbarun-
gen warten, sondern mußten versuchen, im Menschen selbst ein natürliches Moral-
gesetz, eine objektive moralische Wahrheit zu entdecken. Doch auch dieser Ansatz
geriet in scheinbar unlösbare Widersprüche, spätestens seit das »Humesche Prin-
zip« zu einer strikten Unterscheidung dessen, was ist, und dessen, was sein soll,
nötigt.
Das veranlaßt die Philosophen, sich auf den »Pfad der Erfindung« zu begeben.
Nun soll es ausreichen, ein Konstruktionsverfahren anzugeben, um in gemeinsa-
mer Beratung im Naturzustand hinter einem Schleier des Nichtwissens (Rawls)
oder in der Spannung zwischen realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft
(Apel/Habermas) neue Grundsätze des Zusammenlebens zu erfinden.
»Die Moral, die wir entdecken, verpflichtet uns kraft der Autorität von Gottes Schöpfung
oder ihrer objektiven Wahrheit. Die Moral, die wir erfinden, verpflichtet uns kraft des Ver-
95 Ders., Zweifel und Einmischung, aaO. (FN 94), S. 7.
96 Vergl. ders., Kritik und Gemeinsinn, aaO. (FN 94), S. 11.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 325
fahrens: weıl ein jeder sie erfinden würde und nur sie erfinden könnte, wenn er nur das
rechte Konstruktionsverfahren angewandt und sich den rechten Abstand von seinem unmit-
telbaren Kirchturm-Selbst erarbeitet hat.« ”
Walzer verwirft beide Verfahren, beziehungsweise erkennt in ihnen »verkleidete
Interpretationen« °’, weil die entdeckten oder erfundenen Prinzipien immer schon
große Ähnlichkeit mit der uns bereits bekannten Moral aufweisen. Auf dem »Pfad
der Interpretation« greift der kommunitäre Kritiker auf in der Gemeinschaft vor-
handene Wertvorstellungen und Normen zurück und interpretiert sie nur neu.
»Gesellschaftskritik ist weniger ein praktischer Abkömmling wissenschaftlichen Wissens
als vielmehr der gebildete Vetter der gemeinen Beschwerde. Wir werden gewissermaßen auf
natürliche Weise zum Sozialkritiker, indem wir auf der bestehenden Moral(auffassung) auf-
bauen und Geschichten von einer Gesellschaft erzählen, die gerechter ist als unsere, aber nie-
mals eine völlig andere Gesellschaft.«
Der Kritiker tritt der von ihm beurteilten Gesellschaft nicht als neutraler Beob-
achter gegenüber, der quası einen »Blick von Nirgendwo« (Thomas Nagel) auf sie
wirft, sondern fühlt sich den Menschen in ihr und den gemeinsam geteilten Wer-
ten verbunden. Die Möglichkeit dieser Art von Kritik beruht auf der Prämisse, daß
jegliche gesellschaftliche Rechtfertigungsbemühung bereits ihre eigene Kritik ent-
hält.
»Denken wir an die Rolle der Gleichheit im bürgerlichen Denken und dann im späteren
kritischen Denken. Wenn man sie in marxistischer Begrifflichkeit als das Credo der siegrei-
chen Mittelklassen auffaßt, dann hat die Gleichheit eine sehr enge Bedeutung .. .: Sie garan-
tier(t) - wie Anatole France schrieb - allen Männern und Frauen das gleiche Recht, unter den
Brücken von Paris zu schlafen. Aber das Wort »Gleichheit« hat eine umfassendere Bedeu-
tung. ... ... Der Kritiker stützt sich auf diese weiteren Bedeutungen .. ., die in der tagtäg-
lichen Erfahrung weit eher verhöhnt als widergespiegelt werden. Er verurteilt die kapitalisti-
sche Praxis, indem er sich auf einen Schlüsselbegriff beruft, mit dem ursprünglich der Kapi-
talismus verteidigt wurde. Den Herrschenden zeigt er die idealisierten Gemälde, die ihre
Künstler gemalt haben, und dann weist er auf die gelebte Wirklichkeit von Macht und Unter-
drückung hin. Oder, besser gesagt, er interpretiert die Bilder und die Wirklichkeit, denn
keins von beiden erschließt sich unmittelbar. Gleichheit ist der Kampfruf der Bourgeoisie;
(neu)interpretierte Gleichheit ist — in Gramscis Geschichte - der Kampfruf des Proleta-
riats.« 100
Doch damit ist der Zweifler keineswegs zufriedengestellt. Er wird fragen: Wel-
che Kritik, welche Interpretation ist die richtige? Wie kann man zwischen unter-
schiedlichen Interpretationen entscheiden? Denn - so sein Kritiker Brian Barry !°ı
— hätten nicht auch Maurras und Moussolini Walzers Definition des Kritikers
97 Ebd., S. 30.
98 Ebd., S. 30.
99 Ebd., S. 78.
100 Ebd., S.53 f. Die sprachphilosophischen Voraussetzungen dieser Möglichkeiten von
Verstehen und Interpretation deutet Walzer allerdings nur sehr oberflächlich an. Hier
kann zur Begründung das Verständnis von Sprache in ıhrer »expressiven« Funktion (Ch.
Taylor) und ihrem metaphorischen Charakter (Richard Rorty) herangezogen werden.
101 Vergl. Brian Barry, »Social Criticism and Philosophy« in: Philosophy and Public Affairs,
Vol. 19, No. 4, 1990, S. 363.
ZfP 40. Jg. 3/1993
326 Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
zugestimmt? Walzer gibt auf diese Fragen eine Nicht-Antwort: Er weist die Bemü-
hungen, moralische Streitfragen endgültig zu beantworten, als einen Versuch
zurück, die moralische Diskussion ein für allemal zu beenden. Für ihn hat diese
Diskussion kein Ende. Sie ist auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zu
entscheiden. Sie ist vielmehr immer aufs neue im öffentlichen Raum zu führen -
der Ausgang ist nicht sicher! Er bleibt dem Streit der Meinungen einer hoffent-
lich zivilen Gesellschaft!” überlassen.
Heikel ın Walzers »Gesellschaftskritik von innen« bleibt die Frage nach der
»kritischen Distanz« des Kritikers. Die Ablehnung der Möglichkeit, sich auf einen
universellen »moral point of view« zurückzuziehen, bringt es mit sich, daß Walzer
auch hier keine klaren Grenzen ziehen kann. Wie eng müssen Kritiker und wie eng
dürfen sie an ihre »Community« gebunden sein, um noch Kritik üben zu können?
»Ein wenig abseits, aber keine Außenseiter: kritische Distanz ist eine Sache von Zentime-
tern.«1% »Der Antagonismus, nicht die Entfremdung bietet dem kritischen Vorhaben die
klarste Orientierung. ... Enttäuschung ist eines der häufigsten Motive der Kritik.« !%
In Ermangelung von Prinzipien braucht Walzer Vorbilder. Nur über die biogra-
phischen Erzählungen zu seinen Idealkritikern — in »Zweifel und Einmischung«:
Camus, Orwell und Silone, in »Kritik und Gemeinsinn«: der Prophet Amos — kann
er Orientierung geben. Seine biographischen Skizzen zu den Kritikern sind immer
auch autobiographische Versuche seiner Selbstvergewisserung als Kritiker.
VI. Schlußbemerkung
Zweifellos stellen die Kommunitarier die richtigen Fragen ~ ob sie auch schon die
passenden Antworten haben, bleibt fraglich.
In postmodernen Gesellschaften mit deren Hang zu radikalem Individualismus
und Gruppenegoismus muß von neuem überlegt werden, wie man Individuum und
Gemeinschaft zusammendenken kann. Was hält diese Gemeinschaften — außer
wirtschaftlichem Wachstum — noch zusammen? Ist die »multikulturelle Gesell-
schaft« möglich und erbringt die »zivile Gesellschaft« die nötigen Integrationslei-
stungen?
Die besprochenen Analysen und Lösungsansätze der Kommunitarier bieten hier
wertvolle Anregungen. Entstanden vor dem Hintergrund einer über 200jährigen
ungebrochenen Tradition des Liberalismus und Republikanismus erscheint den
102 Ebd., S. 60.
103 Vergl. Michael Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, aaO. (FN 2).
Diese Sammlung von Schriften aus den Jahren 1974-1992 weist ihn erneut als kommuni-
tar gefärbten Liberalen aus — wobei Walzers »Liberalismus« in der deutschen politischen
Landschaft eher als Sozialdemokratismus bzw. demokratischer Sozialismus einzuord-
nen ist. Die Erörterung der Möglichkeit einer auf Freiheit und Gleichheit verpflichteten
Gesellschaft unter Erhaltung und Respektierung kultureller, ethnischer Pluralität bildet
einen Schwerpunkt dieser Arbeiten.
104 Ders., Krıtik und Gemeinsinn, aaO. (FN 94), S. 74.
105 Ders., Zweifel und Einmischung, aaO. (FN 94), S. 38 f.
Rieger - Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? 327
amerikanischen Theoretikern der Rückgriff auf die »Community« offensichtlich
relativ unproblematisch. Vor einer naiven Übertragung auf bundesrepublikanische
Verhältnisse ist allerdings zu warnen. Schon die Übersetzung des Begriffs
»Community« in »Gemeinschaft« ist problematisch, da in Nordamerika mit
»Community« völlig andersartige Traditionen und sozialstrukturelle Verhältnisse
erfaßt werden. Kommt hinzu, daß in Deutschland der Begriff der Gemeinschaft
diskreditiert ist und negative Assoziationen weckt. Eine Philosophie, die die
Sicherheit universalistischer Wahrheiten bezweifelt, erscheint als suspekt — wenn
nicht als gefährlich. Dies darf allerdings nicht zu einem Diskussionsverbot führen.
Zu groß ist die Gefahr, daß der Begriff der »Gemeinschaft« von der »Neuen Rech-
ten« erfolgreich besetzt wird. Eher muß der Streit von neuem beginnen, wie man
die Identität von Gemeinschaften als Nährboden der Demokratie stützt, einen
Rückfall in den Partikularismus aber verhindert.
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BUCHBESPRECHUNGEN
Eric Voeceun: Die Neue Wissenschaft der
Politik. Eine Einführung. In Zusammenarbeit
mit dem Eric- Voegelin-Archiv an der Ludwig-
Maximilians-Universität München. Hg. von
Peter J. Opitz. 4. unveränderte Auflage mit ei-
nem Nachwort des Herausgebers und einer Bi-
bliographie. Freiburg/Miinchen 1991. Verlag
Karl Alber.
Es besteht eine erstaunliche Diskrepanz zwi-
schen der großen Wirkung und der schlech-
ten Verfügbarkeit der Bücher und Schriften
Eric Voegelins. Inzwischen als einer der
maßgeblichen politischen Philosophen des
Jahrhunderts in Deutschland, Italien und
den Vereinigten Staaten anerkannt, sind
viele seiner bedeutenden Werke in Deutsch-
land nicht erhältlich. Das gilt von den
Schriften der dreißiger Jahre; das gilt von
Voegelins Hauptwerk »Order and History«,
von dem es bis heute keine deutsche Über-
setzung gibt; und das galt in den letzten Jah-
ren auch von der »Neuen Wissenschaft der
Politik«, deren letzte deutsche Ausgabe aus
dem Jahre 1977 seit langem vergriffen war.
Um so erfreulicher ist die Nachricht, daß
die »Neue Wissenschaft der Politik« in einer
neuen Ausgabe wieder erhältlich ist. Ange-
sichts einer Politikwissenschaft, die sich Ein-
führungen leistet, in denen von einer Trias
von Ansätzen die Rede ist, deren Darstel-
lung unter das Niveau jeder Philosophie
fällt, wird man es um so mehr begrüßen, daß
eines jener Werke wieder zur Verfügung
steht, durch das die Politische Wissenschaft
nach dem Kriege auf dem Niveau des klassi-
schen philosophischen Denkens über Politik
erneuert worden war.
Mit dem Titel seines Werkes hatte Voege-
lin angespielt auf Vicos »Nuova Scienza«,
und wie diese das Recht der Geschichtsphi-
losophie gegen den Begriff neuzeitlicher
Wissenschaft neu begründen sollte, so ging
es Voegelin darum, der Politischen Wissen-
schaft gegen die Restriktionen des Positivis-
mus den Horizont ihrer Erfahrung wieder
zu öffnen. Beginnend bei einer Kritik des
Positivismus und der Weberschen Lehre von
der Werturteilsfreiheit folgte das Werk der
Geschichte des westlichen politischen Den-
ZfP 40. Jg. 3/1993
kens von Plato bis zu den totalitären Mas-
senbewegungen des 20. Jahrhunderts. Und
es war vor allem Plato und seine Philosophie
politischer Ordnung, in der Voegelin das
große Paradigma nicht restringierter politi-
scher Erfahrung fand.
Bei ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1952
stieß die »Neue Wissenschaft der Politik«
auf große Resonanz und auf viel Unver-
ständnis zugleich. Das »Nachwort« des Her-
ausgebers erinnert daran. Voegelin hatte die
platonische und christliche Erfahrung von
Transzendenz und Unverfügbarkeit zum
Maßstab einer scharfen Kritik der Moderne
genommen. Er hatte vom »Gnostizismus«
der Moderne gesprochen, und ein eigenes
Kapitel trug die Uberschrift »Das Ende der
Modernität«.
In den fünfziger und sechziger Jahren hat
man dies gern als bloßen Antimodernismus
mißverstanden. Heute wird man solche Leh-
ren mit neuen Augen lesen. Nach der Re-
naissance der politischen Theologie muß
eine politisch-theologische Kritik der Mo-
derne in neuem Licht erscheinen. Im Blick
zurück auf die Diskussionen der politischen
Theologie erweist sich die »Neue Wissen-
schaft der Politik« als eines jener Werke, das
wie die Untersuchungen von Blumenberg
oder Carl Schmitt eine politisch-theologi-
sche Theorie der Moderne gegeben hat; und
Blumenbergs Verteidigung der »Legitimität
der Neuzeit«, der Überwindung der Gnosis
durch die Neuzeit, muß man wohl erst noch
als eine Antwort auch auf Voegelins Theorie
der Moderne zu lesen verstehen.
Ob Gnostizismus oder nicht, eine kriti-
sche Theorie der Moderne muß in Zeiten
der Postmoderne-Diskussion anders klin-
gen, als dies in den Jahren des Fortschritts-
optimismus der Fall gewesen ist. Und man
darf hoffen, daß die geistige Großwetterlage
heute besser als früher geeignet ist, dem
Werk jene Leser zuzuführen, die es verdient.
Peter J. Opitz, der Herausgeber dieser
Neuauflage, hat an der Universität Mün-
chen ein Eric-Voegelin-Archiv gegründet.
Weitere Veröffentlichungen sind angekün-
digt: die Publikation von Vorträgen Voege-
lins sowie ein Band »Die Neue Wissenschaft
334
der Politik in der Diskussion«. Das ist er-
freulich. Aber es ist nicht genug. Das inter-
essierte Publikum muß hoffen, daß diesen
Schritten weitere folgen werden. Noch im-
mer gibt es keine deutsche Übersetzung des
Voegelinschen Hauptwerkes »Order and
History«. Noch immer gibt es keine Nach-
drucke der Werke der dreißiger Jahre. Es
wäre an der Zeit, daß sich ein dcutiche: Ver-
lag dieser Aufgabe stellt.
Basel Henning Ottmann
Ulrich Druwe-Mixusin: Moralische Plurali-
tat. Grundlegung einer Analytischen Ethik der
Politik. Würzburg 1991. Acta Politica Bd. 1.
Königshausen & Neumann. 216 S.
Platons Sokrates äußert des öfteren sein Er-
staunen darüber, daß alles - vom Adler über
ein Schwert bis zum Küchengeschirr — seine
arete haben soll, beim Menschen eine solche
Bestheit aber offenbar nicht aufzufinden ist;
aus seinen Überlegungen ist eine der wirk-
mächtigsten Traditionen des Abendlandes
hervorgegangen: die Lehre von den Tugen-
den. Das moderne Gegenstück ist die seit
Max Weber als weitgehend ausgemacht gel-
tende These, Normen könnten wissenschaft-
lich nicht begründet werden; sie gilt als so
selbstverständlich, daß sich kaum noch ein
Sokrates findet, der verblüfft ist.
In der Analytischen Ethik sind es freilich
weniger die etwas vagen Überlegungen We-
bers, die diese kaum jemand noch verblüf-
fende Lehre erklären, sondern Traditionen
des Logischen Empirismus. Die Folge ist ei-
nerseits eine »moralische Krise der Gegen-
wart« (MacIntyre), andererseits der Aus-
schluß normativer Probleme aus dem wis-
senschaftlichen Diskurs. Es war deshalb
höchste Zeit, daß ein Philosoph die kriti-
schen Überlegungen W. V. Quines über das
Wissenschaftskonzept des Logischen Empi-
rismus auf das Gebiet der Ethik überträgt.
Quines Angriff auf die Grundannahme
des Logischen Empirismus gründet auf einer
Infragestellung der Unterscheidung zwi-
schen »empirisch« und »analytisch«. Wie er
gezeigt hat, ist sie so unscharf, daß sie bei
näherem Zusehen schlichtweg unbrauchbar
ist. Für die Ethik besagt dies, daß der Logi-
sche Empirismus nicht, wie er meint, seine
Lehre von einer grundsätzlichen Unwissen-
schaftlichkeit der Ethik begründen kann.
Kritik
Es ist das Verdienst von Druwes Buch,
dieses Problem mit aller erforderlichen Aus-
drücklichkeit aufgegriffen zu haben und
darüber hinaus eine Alternative zu skizzie-
ren, die es ermöglicht, wenigstens in be-
stimmten Grenzen Wertungen rational zu
begründen, und zwar nicht nur in der Ethik,
sondern auch in der Politikwissenschaft.
Druwe nennt diese Alternative »Holistische
Metaethik«; diese konzentriert sich auf eine
»empirische Sprache«, die letztlich die Spra-
che ist, wie wir sie kennen. In dieser Sprache
kommen auch Sätze vor, die nach den
Sprachregelungen des Logischen Empiris-
mus »normativ« sind. Für Sätze dieser Art
gilt eine Kohärenztheorie der Wahrheit: Sie
können als begründet angesehen werden,
wenn sie »gebraucht« werden (damit auch
offenbar Bedeutung haben) und keine logi-
schen Fehler aufweisen. Auf diese Weise ent-
steht ein sprachlicher »Moralraum«, der
letztlich dem Grundsatz folgt, daß bei
Handlungen sowohl eigene Interessen als
auch jene anderer in angemessener Weise
gleichgewichtig gewahrt werden.
Damit ist zwar nicht die Frage beantwor-
tet, welches Moralsystem das beste ist, kann
aber einerseits gezeigt werden, daß (für die
Politikwissenschaft) alle kollektiven Hand-
lungsdimensionen nach moralischen Krite-
rien bewertet werden können (und müssen)
und ein politisches System danach gewertet
werden kann, ob es sich dem Moralraum
fügt oder entzieht. Eine wichtige Konse-
quenz ist die These, daß nur demokratische
Systeme moralische Legitimität aufweisen,
weil nur sie grundsätzlich konkurrierende
Moralsysteme zulassen.
Wenn ich ıhn richtig verstehe, ist Druwes
Grundgedanke, daß es zwar eine Vielfalt
von Moralsystemen geben mag, von denen
jedes in seiner Weise begründet werden
kann, sich aber gerade aus dieser Vielfalt
Kriterien für politische Wertungen ergeben.
Dabei wird deutlich, daß die vom Logischen
Empirismus geprägte Metaethik zweierlei
verwechselt: die Schwierigkeit, zwischen
»guten« und »schlechten« Moralsystemen zu
unterscheiden, und die Begründung ethi-
scher Normen. Aus der ersteren ergibt sich
nicht, daß die letztere unmöglich ist.
Dies mag unbefriedigend klingen. Aber es
ist schon ein großer Schritt, zeigen zu kön-
nen, daß moralische Sätze nicht weniger gut
begründet werden und damit wahrheitsfähig
sein können wie logische; dabei berücksich-
Buchbesprechungen
tigt Druwe sorgfältig Quines These, alle
Theorien seien im Vergleich zur Realität un-
terbestimmt.
Alles in allem eine nicht nur hochinteres-
sante, sondern durch die Sorgfalt ihres Den-
kens auch bestechende Untersuchung; daß
ihre Ergebnisse unbefriedigend erscheinen
(können), dürfte sich für weitere Untersu-
chungen als Herausforderung erweisen.
Eichstätt Nikolaus Lobkowicz
François EwaLp: L'État providence. Paris
1986. Grasset. 608 Seiten.
Jean Detumeau: Rassurer et protéger. Le sen-
timent de sécurité dans l’Occident d’autrefois.
Paris 1989. Fayard. 667 Seiten.
Lucien Febvre hat im Jahr 1956 im Anschluß
an die Arbeiten von Jean Halpérin die For-
derung aufgestellt, man müsse eine Ge-
schichte des Bedürfnisses nach Sicherheit
schreiben. Heute, mehr als dreißig Jahre da-
nach, gibt es zweierlei: eine großangelegte
Geschichte des sentiment de securite von Jean
Delumeau, dem Mentalitätenhistoriker am
Collége de France, und eine Deutung der
modernen Gesellschaft der letzten zwei
Jahrhunderte unter der Perspektive der Ver-
sicherungen durch Francois Ewald, den Schü-
ler von Foucault. Auch wenn diese beiden
Werke unterschiedlichen Genres angehören
mögen — dieses dem rechtsphilosophischen
und sozialwissenschaftlichen, mit histori-
schen Exkursen, jenes dem der Historie reli-
giöser Einstellungen -, so bilden sie doch
unter dem Aspekt der Relevanz einer Ge-
schichte der Unsicherheiten eine komple-
mentäre Einheit und können mit Gewinn
zusammen gelesen werden. Denn, wie Lu-
cien Febvre sagt, »l’>homme ne se découpe
pas en tranches, (...) Phistoire ne peut, ne
doit étre scindée en deux: ici les affaires, la
les croyances«. Und in der Tat entstehen ja
die ersten Versicherungen — Seeschiffahrts-
versicherungen — im 16. Jahrhundert, einer
Krisenzeit sozialen Umbruchs, in dem zu-
gleich auch die jeweils spezifischen prote-
stantischen und gegenreformatorischen
Strategien zur Unsicherheitsbewdlugung
Konjunktur haben. Für Delumeau sind dies
kollektive Strategien, die ın Prozessionsriten
und Heiligenkulten einen Halt gegen die
Wechselfälle des Lebens bieten, und die ei-
ZfP 40. Jg. 3/1993
335
nem langsamen Prozeß der Explizierung
ausgesetzt sind (»... du vecu au conceptu-
alisé, du besoin ressenti au besoin nommé«,
S. 570); Ewald bezeichnet die Techniken der
Risikobewältigung als moralisch-politische
Technologien.
Unter diesem Blickwinkel eröffnet sich
die Möglichkeit einer historischen Analyse
und Vergleichbarkeit. Delumeau stellt die
Frage: »Pouvons-nous aujourd’hui raison-
ner correctement sur notre propre besoin de
sécurité sans connaitre les réactions de dé-
fense de nos prédécesseurs face aux situa-
tions périlleuses et anxiogénes?« (S. 29).
Nimmt man diese Reflexion ernst, dann ist
eine historische Anthropologie und Gesell-
schaftsgeschichte notwendig, um der heuti-
gen Analyse der Risikogesellschaft Tiefen-
scharfe zu geben. Diesen strikten Zusam-
menhang kann man bestreiten. Aber zeigt
nicht auch Ewalds Fundierung seiner rechts-
philosophischen Erwägungen gegenwärtiger
Solidarität in einer historischen Rekonstruk-
tion des Versicherungswesens, daß dieser
Gedanke nicht so fern liegt? Ewald weist mit
Foucault die Einordnung seiner Studie ın
traditionelle akademische Genres zurück
(S. 27 ff.) und betont die Notwendigkeit ei-
ner Archäologie von Erfahrungen und Prak-
tiken. Aber gerade wenn die Logik der Prak-
tiken Aufschluß über die Situation unserer
Gesellschaft gibt, ist der historische Erfah-
rungsschatz vergangener Praktiken essen-
tiell.
Es ist nur notwendig, in der Schilderung
der Praktiken konkret zu sein. Delumeau
beschreibt die historische Topographie der
Figurationen aller denkbaren Beruhigungsri-
ten und -bilder, ihrer sozialen Verteilung,
ihrer Anlässe (etwa der Epidemien) und lo-
kalen Zentren. Die Konjunktur des Bildes
von der Jungfrau mit dem beschützenden
Mantel (S. 261 ff.), oder die Rolle der Jesui-
ten in der Ausbreitung des Kultes der
Schutzengel (S. 326 ff.), das System des Ab-
laßhandels (S. 352 ff.), all diese Differenzie-
rungen sind es, die dieses Buch reich ma-
chen. Das Skapulier und der Rosenkranz:
welche »Versicherungs«-Systeme einer noch
nicht säkularen Welt sind in ihnen erfunden
worden!
Die Beispiele Delumeaus reichen bis weit
ins 17. und 18.Jahrhundert hinein. Der
Übergang zum Protestantismus für viele Ge-
sellschaften im 16. Jahrhundert ist für ihn zu
verstehen als plötzlicher Verlust eines spiri-
336
tuellen Sicherheitssystems (S. 399 ff.). An-
ders als Keith Thomas in Religion and the
decline of magic fragt er nicht nach den
Grenzziehungen zwischen Religion und
Magie oder zwischen Elitenkultur und
Volkskultur, sondern nach denen zwischen
den traditionellen Typen von Sicherheitssy-
stemen und jenen neuen, die der Protestan-
tismus aufbringt. Dieser setzt auf abstrakte
Strategien wie die Rechtfertigung durch den
Glauben und Prädestination, erleichtert die
Beichte, setzt Rationalisierungen in Gang
(S. 449 ff.). Es ist die Frageperspektive Delu-
meaus, die die vergangenen religiösen Dis-
positive kommensurabel macht mit den
Strukturen moderner Phänomene.
Das Zeitalter der Aufklärung bringt eine
Sakularisierung auch des Sicherheitsden-
kens. Man ist um so mehr um den Körper
besorgt, je weiter die Angst vor einer Hölle
sich entfernt, man bekämpft das Feuer und
sorgt für polizeiliche Ordnung und Hygiene
(S. 523 ff.). Delumeau knüpft hier an Fou-
caults Analyse der Disziplinar- und Aus-
schließungstechniken des 18. Jahrhunderts
an, wie er sie in Surveiller e punirund La Vo-
lonté de savoir beschrieben hat. Hier trifft er
sich mit Ewald. Denn auch Ewald bezieht
sich auf Foucaults Sicht der »Aufklärung«
und der »Moderne«, wenn er den Aufstieg
der Versicherungen im Zusammenhang ei-
nes Prozesses sieht, der im Ausgang des
klassischen Zeitalters zunehmend Fragen
der Populationen, der öffentlichen Hygiene
und Gesundheit, der Lebensverlängerung in
den Vordergrund trägt. Bio-Macht ıst das
Schlagwort Foucaults für diesen Prozeß,
und Ewald sagt: »Cet ouvrage s’inscrirait vo-
lontiers dans le programme d’une descrip-
tion de la bio-politique« (S. 27).
Ihn interessiert die Rolle des Rechts ın ei-
ner Gesellschaft, die durch Versicherungen
geprägt ist. Das Recht im Etat providence
— der Begriff schillert zwischen den deut-
schen Aquivalenten Wohlfahrtsstaat, Versi-
cherungsstaat, Vorsorgestaat — hat faktisch
anhand des Denkens in Risiken und Versi-
cherungen eine Entwicklung zum Sozial-
recht durchgemacht. Als historisches Gerüst
werden drei Stadien präsentiert. Das — fran-
zösisch a - Arbeits-Unfall-Gesetz vom
9. Aprıl 1898 sowie das über die Kranken-
versicherung und die Arbeiter- und Bauern-
rentenversicherung sind für ihn der paradig-
matische Beginn einer neuen Versicherungs-
rationalitat, in der allerdings noch spezifische
Kritik
Risiken oder Gewerbe betroffen sind. Ein
zweites Stadium zeigen die Sozialversiche-
rungsgesetze von 1928-1930, in denen eine
Sozialversicherung für Arbeitnehmer ent-
steht, ein drittes schließlich die Nachkriegs-
verordnungen zur sozialen Sicherheit, die
für alle Bürger gelten.
Was aber ist es für ein Gesellschaftsver-
trag, der diesem Sozialversicherungswesen
zugrunde liegt und der als die Form des mo-
dernen Gesellschaftsvertrages angesehen
werden muß? Dieser Gesellschaftsvertrag
kann nicht mehr in der alten Terminologie
von Freiheit und Verantwortung gefaßt wer-
den. Was zu fordern ist, ist soziale Gerech-
tigkeit auf der Basis einer neuen juristischen
Epistemologie. Denn die alte, das /iberale
Diagramm, ist längst von der Praxis des stati-
stischen Denkens der Versicherungen über-
holt worden. Das war möglich, weil die
Technologien des Risikos mehr einer Logik
der Praktiken als einer Logik der Ideen ge-
folgt sind (S. 385). Insofern ist die oft be-
schworene Krise des Wohlfahrtsstaates we-
niger eine Krise des Staates als der Politik
der Solidarität. Das ist zu erläutern. Ewald
wünscht sich einen kritischen Positivismus
(S. 40 ff.), der mit den Fakten rechnet, ohne
naturrechtliche Begründungen, aber den-
noch nicht einfach affirmativ ist. Er fragt:
»Une société peut-elle vivre dans un rapport
purement politique a elle-méme, sans un ac-
cord explicite sur le juste et l'injuste dans les
rapports d’obligation? Telle serait la que-
stion proprement juridique que pose la
crise« (S. 386). Solidarität ist zwar, insbeson-
dere seit dem 18. Jahrhundert, ein mit sozia-
ler und ideeller Bedeutung versehener Be-
griff, doch zunächst einmal ist sie eine Kate-
gorie der Versicherungsökonomie. Und so
hat sie sich herausgelöst aus traditionellen
Solidargemeinschaften; heute ist Versiche-
rung vor allem die Form, die Institutionen
annehmen müssen, um dem Gesellschafts-
vertrag zu entsprechen. Ewald nimmt diese
rechtsphilosophische Konstruktion auf und
spricht von einem neuen Gesellschaftsver-
trag. »La crise actuelle est une crise du con-
trat social, non pas de sa gestion sociologi-
que comme peut le faire coire l’opposition
trop simple de la société civile et de l’État,
mais de sa definition proprement juridique«
(S. 386 f.).
Man hat ja gelegentlich von der Gegen-
wart der großtechnischen, der ökologischen
und atomaren Gefahren als einem neuen
Buchbesprechungen
Mittelalter gesprochen. Ulrich Beck, der sich
mehr auf die neuen Qualitäten des Risikos
konzentriert, hält dafür die Unterscheidung
zwischen Risiken und Gefahren bereit: Risi-
ken lassen sich kalkulieren, Gefahren nicht.
Sind wir insofern wieder in einer Epoche der
Gefahren angelangt? Wenn das Erdbeben
von Lissabon 1755 das Ende des philosophi-
schen Optimismus eingeleitet hat und der
Begriff des Risikos sowie die Technologie
der Versicherung ein Korrelat des nunmehr
diesseitigen Bösen geworden ist, dann ste-
hen wir nun vor der Erfahrung, daß sich das
Böse erneut entzieht — auch wenn es diessei-
tig bleibt.
Delumeau stellt die heutige Situation so
dar: »Mais la question se pose maintenant
d’un équilibre 4 trouver entre risque et as-
surance, liberté et sécurité, imagination et
confort« (S. 570). Das mag in seiner Allge-
meinheit schon wieder unbefriedigend sein.
Religiöse Bewältigungsstrategien sind heute
sicher nicht mehr am Platz. Aber daß der ge-
sellschaftliche Umgang mit Unsicherheit ei-
ner Kultur bedarf, die Formen findet, sich
die unsichtbaren Gefahren symbolisch zu ver-
mitteln und handelnd auf die durch Technik
provozierten Veränderungen zu reagieren,
scheint einsehbar. Zur Versicherungs-Ge-
sellschaft gibt es, so Ewald, keine Alterna-
tive. Es kommt darauf an, innerhalb ıhrer ın
demokratischen Prozessen um Definitionen
von Gefahren und Grenzwerten, um Beweis-
lasten zu streiten, wie es ja auch Ulrich Beck
beschrieben hat. Die Kontexte und Termi-
nologien sind es vor allem, die Beck und
Ewald unterscheiden: Spricht der erstere von
einer anstehenden reflexiven Fortführung
der Moderne, so der letztere von der »in-
scription du conflit dans le droit« (S. 513),
von einem kritischen Positivismus Foucault-
scher Prägung. Doch die Tore für eine Ver-
ständigung stehen weit offen.
München Martin Mulsow
Donate Kıuxen-Prra: Nation und Ethos. Die
Moral des Patriotismus. Freiburg/München
1991. Verlag Karl Alber. 258 S. l
»Nation« erscheint in dieser Bonner Disser-
tation des Jahres 1989 als ein Begriff philo-
sophischer Ethik. Im Gegensatz zum Indi-
vidualismus, der nur Individuen und ihre
subjektive Moral in Ansatz bringt, in Gegen-
ZfP 40. Jg. 3/1993
337
satz auch zu einem Universalismus, der sich
per se nur auf abstrakte Vernunft - oder
Diskursprinzipien — beziehen will, ist die
Untersuchung auf der Suche nach dem, was
universale Ansprüche des Rechts und der
Moral mit der konkreten Sittlichkeit der Le-
benswelt vermitteln kann. Zwischen subjek-
tiver Moralität und objektiver Sittlichkeit,
genau hier hat nach Meinung der Verf. die
Nation auch heute ihren Ort.
Diese These klingt neoaristotelisch und
neohegelianisch, und die Verf. beginnt ihre
Darstellung mit einer Erinnerung an das
Ethos der Polis, an den Weg von der Polis
zur Nation, vorläufig endend bei Hegel und
seiner Philosophie von Volksgeist und sittli-
chem Staat. Zugleich macht sich die Verf. je-
doch die häufig geäußerte Meinung zu ei-
gen, daß in Hegels Sittlichkeitslehre die sub-
jektive Moralität »nicht genügend berück-
sichtigt« sei (S. 73). Das »Ethos«, das die
Verf. im Anschluß an Wolfgang Kluxen als
Leitbegriff verwendet, müsse mehr als bei
Hegel für die »Unbedingtheit« des morali-
schen Anspruchs geöffnet werden. An die
Stelle der Hegelschen Sittlichkeitslehre solle
eine »Ethik des Ethos« treten, die sich nicht
auf faktische Sittlichkeit berufe, sondern
selbst als »vernünfug« (S.98) ausweisen
lasse.
Die Probe auf diese These wird zweifach
gemacht. Einmal wird ein allgemeiner Be-
griff der Nation entwickelt. Zum anderen
wird dieser — »topisch« — bewährt, indem er
in Beziehung gesetzt wird zu Patriotismus
und Nationalismus, zu Begriffen wie »politi-
sche Kultur«, »Zivilreligion«, »Konsens«.
Letztere können, so die Verf., ein Ersatz für
den Begriff der Nation nicht sein.
Nationen werden gewöhnlich bestimmt
als Gemeinschaften der Abstammung, der
Sprache, der Kultur, des Selbstverständnis-
ses oder auch des Willens. Entscheidend für
die Begriffsbestimmung ıst nach Meinung
der Verf. die Geschichte. In der Geschichte
einer Nation werde nicht ein heteronomer
Anspruch bloß faktischer Sittlichkeit tra-
diert. Vielmehr zeige sich in ihr ein Ethos
des gemeinschaftlichen guten Lebens, das
mehr sei als Kontingenz oder bloße Faktızi-
tät. Aus der Zwickmühle, entweder nur kon-
tingente Herkunftsbedingungen oder aber
subjektive Moralität ansetzen zu müssen,
findet die Verf. einen Ausweg, indem sie das
Ethos einer Nation als An-»spruch« und als
Bedingung der Möglichkeit subjektiver Mo-
338
ralität versteht. Umgekehrt steht auch das
Ethos unter der Bedingung der Moralität.
So mache beispielsweise das bloße Hineinge-
borenwerden in eine Nation deren sittlichen
Anspruch noch nicht aus. Dieser ergebe sich
erst, wenn die Nation und die sie bestim-
mende Geschichte frei übernommen und an-
genommen worden sei.
Nationen sind demnach - so ließe sich die
These wohl vereinfachen — Schicksal mit
Sinn. In ihnen lebt, vor allem sprachlich und
kulturell vermittelt, eın Ethos, das, wenn es
sich vereint mit Moralität, nicht als Hetero-
nomie oder bloße Kontingenz abgetan wer-
den kann. In der Tat ist es schwer zu bestrei-
ten, daß ein Begriff wie »Patriotismus« ein
moralisch-ethischer Doppelbegriff ist. Er
wird in dieser Untersuchung erklärt als
»Treue zur Herkunft« sowie als »Solidari-
tät« (M. Weber), und beide Bestimmungen
sind sowohl im Regelfall als auch im Ernst-
fall, der das Opfer des eigenen Lebens for-
dern kann, sowohl subjektiv-moralisch als
auch aus der Perspektive des geschichtlich
tradierten Ethos zu verstehen. Patriotismus
ist nicht Nationalismus. »Patriot ist nur, wer
Vaterlander ... anerkennt« (M. Hättich,
Hervorhebung H. O.). Vaterländer gibt es
immer viele. Und man muß - ganz im Sinne
dieser Untersuchung - den per se pluralisti-
schen Patriotismus unterscheiden von der
modernen Ersatzreligion des Nationalismus,
die exclusiv und tendenziell totalitär und
ganz und gar nicht patriotisch ist.
Man könnte darüber streiten, ob es der
Verf. gelungen ist, darzulegen, inwiefern
sich die von ıhr vorgeschlagene »Ethik des
Ethos« unterscheidet von dem, was heute
der Neoaristotelismus und der Neohegelia-
nismus lehrt. Auch bei Hegel sollen sich Sitt-
lichkeit und Moralität versöhnen, und auch
bei Hegel soll sich der Anspruch des univer-
salen Rechts des Menschen vereinen mit
dem konkreten Ethos der Völker und Natio-
nen.
Gleichwohl, man wird dieser Untersu-
chung eine weite Verbreitung wünschen dür-
fen. Sie hat den Begriff der »Nation« - noch
vor dem Fall der Mauer - philosophisch auf-
gegriffen, zu einer Zeit, als die deutsche Phi-
losophie beim Thema Nation noch von
Sprachlosigkeit geschlagen war. Der Begriff
der Nation wird hier auf eine unserer Zeit
angemessene Weise begründet, patriotisch,
aber nicht nationalistisch, offen für die uni-
versalistischen Ansprüche von Recht und
Knitik
Moral, jedoch ohne universalistischen Über-
schwang. Der Begriff der »Nation« ist in
Deutschland aus verständlichen Gründen
vergessen und verdrängt worden. Um so nö-
tiger ist gerade in Deutschland die Besin-
nung darauf, was ein philosophisch reflek-
tierter Begriff der Nation heute bedeuten
kann.
Basel Henning Ottmann
Bernard Wııms (H.): Handbuch zur Deut-
schen Nation. Tübingen 1986. 1987. 1988.
God.
Bd. 1: Geistiger Bestand und politische Lage.
460 S. DM 49,80
Bd. 2: Nationale Verantwortung und liberale
Gesellschaft. 488 S. DM 58,00.
Bd. 3: Moderne Wissenschaft und Zukunftsper-
spektive. 416 S. DM 49,80.
(Bei Abnahme aller Bande betragt der Preis
DM 133,80.)
Als der dritte Band des »Handbuchs zur
Deutschen Nation« 1988 erschien, da konn-
ten weder Verlag noch Herausgeber oder
Mitarbeiter ahnen, welche Aktualität das
Nachdenken über die »Deutsche Frage« ın
Jahresfrist gewinnen würde. Damals plante
man deshalb auch, einen vierten Band des
»Handbuches« erscheinen zu lassen, der sich
mit den Beziehungen zwischen den beiden
deutschen Teilstaaten beschäftigen sollte;
die Fortexistenz von Bundesrepublik und
DDR bis auf weiteres galt eben sogar dann
als Selbstverständlichkeit, wenn man an der
Vorstellung von der einen deutschen Nation
festhielt. Jetzt sind solche Projekte Makula-
tur geworden, und ein »Handbuch zur
Deutschen Nation« muf sich daran messen
lassen, ob es auch fiir die Zeit nach der »Re-
volution« des Jahres 1989 und der Wieder-
vereinigung Wegweisendes enthält.
Der Herausgeber, der unlängst auf tragi-
sche Weise aus dem Leben geschiedene Ber-
nard Willms, hatte alle Anstrengungen un-
ternommen, um dafür Sorge zu tragen, daß
die Beiträge des »Handbuches« über den
Tag hinaus Bedeutung haben, daß hier
Grundlegendes zur deutschen Lage heraus-
gearbeitet wurde. Das mußte eine schwierige
Aufgabe sein, da es sich bei diesem »Hand-
buch« ja nicht um ein offiziöses Unterneh-
men handelt und es auch nicht für Fach-
leute, sondern eben für die »Nation« — ınso-
Buchbesprechungen
fern sie das gebildete Publikum verkörpert -
gedacht war. Deshalb ging es Willms vor al-
lem darum, die Kohärenz der einzelnen
Teile zu gewährleisten, was ihm gelungen
ist, ohne daß er aber verhindern konnte, daß
zwischen den Beiträgen ein zum Teil erheb-
liches Niveaugefälle offensichtlich wurde.
Angesichts der wissenschaftlichen Qualifika-
tion von Bernard Willms wird man dieses
Defizit kaum auf seine Person zurückführen
können. Willms, der einen Lehrstuhl für Po-
litologie an der Universität Bochum inne-
hatte, dürfte einer der besten deutschen
Kenner des Werkes von Thomas Hobbes
sein; er hatte sich darüber hinaus einen Na-
men gemacht mit Analysen zur Entwicklung
internationaler Beziehungen. Seit 1982 galt
Willms allerdings auch als das »enfant terri-
ble« seines Faches, nachdem er mit einem
Buch »Die Deutsche Nation. Theorie — Lage
— Zukunft« den Versuch machte, die Not-
wendigkeit nationaler Politik neu zu be-
gründen, und dabei die Tradition des deut-
schen Idealismus aufnahm. Schon damals
klang an, daß Willms es für notwendig
erachtete, eine »Nationalpädagogik« im
Sinne Fichtes zu entwickeln, die alle Berei-
che der Gesellschaft erfassen sollte. Man
geht sicherlich nicht fehl in der Auffassung,
daß das »Handbuch« der Versuch war und
ist, diesen Plan - zumindest was die theore-
tische Grundlegung betrifft — in die Tat um-
zusetzen. Daß Willms dafür Verbündete nur
im bürgerlichen, im weitesten Sinne »kon-
servativen«, Lager finden konnte, lag in der
Natur der Sache begründet; »Linksnatio-
nale« gab es in der alten Bundesrepublik nur
in Spurenelementen.
Der erste Band des »Handbuches« steht
unter der Überschrift »Geistiger Bestand
und politische Lage«. Hier definierte Willms
einleitend die Nation als Ergebnis der »Ent-
wicklung eines raumbezogenen Wir-Be-
wußtseins«. Insofern müssen die Geschichte,
die geographische Situation und die Identi-
tät der Deutschen den Rahmen des folgen-
den markieren. Dabei kommt die deutsche
Geschichte allerdings insofern etwas zu
kurz, als nur der Beitrag des Salzburger So-
ziologen Mohammed Rassem die »Beson-
derheiten der deutschen Geschichte« auf
eine ebenso geistreiche wie notwendig un-
vollständige Art und Weise behandelt. Der
Aufsatz von Gert Wolandt über die Bedeu-
tung der deutschen Philosophie gehört ei-
gentlich nicht in diesen Zusammenhang.
ZfP 40. Jg. 3/1993
339
Dasselbe gilt auch für denjenigen von Alain
de Benoist über das Verhältnis von Deut-
schen und Franzosen; die Darstellung des
»Chefdenkers« der französischen »Neuen
Rechten« ist zwar sehr anregend, aber es
bleibt unerfindlich, warum man dann nicht
auch andere Nachbarn zu Worte kommen
ließ. Was den Beitrag von Werner Georg
Haverbeck über die »deutsche Bewegung«
des 19. Jahrhunderts und ihre Folgewirkun-
gen angeht, so wird auch hier nicht der Ver-
such einer thematischen Rechtfertigung ge-
macht. Es sollte wohl darum gehen, das spe-
zifisch Deutsche im geistigen Leben zur
Sprache zu bringen, aber die Überlegungen
Haverbecks können dem komplexen Sach-
verhalt kaum gerecht werden.
Wesentlich fundierter wirken die Ab-
schnitte, die sich mit Fragen der »Geopoli-
tik« im weiteren Sinne beschäftigen, so die
Analysen von Dieter Blumenwitz (»Die Fra-
gen der deutschen Grenzen«) und von Hein-
rich Jordis von Lohausen (»Die Deutschen
in Mitteleuropa«). Vielleicht kann man auch
die Überlegungen von Andreas Mölzer über
die Zugehörigkeit Österreichs zum Raum
deutscher Geschichte hier miteinbeziehen.
Man muß den Verfassern nicht in allem zu-
stimmen, aber die Darstellungen sind doch
in Abstufung als informativ und anregend
zu betrachten. Dasselbe gilt von den Aufsät-
zen, die sich mit dem »Nationalismus von
links« (Michael Vogt), mit Problemen der
Zeitgeschichtsforschung (Alfred Schickel)
und mit dem Konzept der amerikanischen
»Re-education« (Caspar von Schrenck-Not-
zing) beschaftigen. Demgegeniber bleibt
unerfindlich, was die Beiträge über die deut-
schen Reparationsleistungen (Helmut
Rumpf) und die Besatzungspolitik der USA
(Erich Schwinge) in diesem Zusammenhang
zu suchen haben.
Bereits ein kurzer Blick auf das Inhalts-
verzeichnis des zweiten Bandes, »Nationale
Verantwortung und liberale Gesellschaft«,
zeigt, daß hier gegenüber dem ersten eine
erhebliche Steigerung bezüglich der Qualität
der Mitarbeiterschaft stattgefunden hat.
Willms vereinigt als Herausgeber so renom-
mierte Pädagogen wie Wolfgang Brezinka
(»Verantwortliche Erziehung«), Christa Me-
ves (»Kindesrecht und Elternpflicht«) und
Klaus Hornung (»Identität und Nation«),
läßt den ehemaligen »General des Erzie-
hungs- und Bildungswesens im Heer«,
Heinz Karst, ebenso zu Wort kommen wie
340
den Historiker Michael Freund (»Elite,
Gleichheit, Demokratie«), den Soziologen
Robert Hepp (»Die Endlösung der Deut-
schen Frage«), den österreichischen Völker-
rechtler Felix Ermacora (»Bedrohtes Volks-
tum«) und die profilierten konservativen
Kulturkritiker Gerd-Klaus Kaltenbrunner
(»Zur Krise der politischen Tugenden«) und
Armin Mohler (»Im Dickicht der Vergan-
genheitsbewältigung«). Allen Beiträgen ist
gemeinsam, daß sie Themen, die in der vor-
herrschenden »veröffentlichten Meinung«
keine Rolle spielen oder als tabu gelten, auf-
greifen und in einer Weise zur Darstellung
bringen, die auf Klärung in der Auseinan-
dersetzung aus ist. Allerdings gibt es auch
hier einige Fragezeichen: So bleibt unge-
klärt, warum lediglich ein Artikel von evan-
gelischer Seite — von Klaus Motschmann -
zum Verhältnis von Kirche und Nation ver-
öffentlicht wurde, äußerst unmotiviert wirkt
der Beitrag über die Landsmannschaften
und Vertriebenenverbände von Emil Schlee,
während die Darstellung von Haverbeck
über das Verhältnis von »Okologie und Na-
tion« zwar zahlreiche interessante Informa-
tionen und bedenkenswerte Überlegungen
enthält, aber doch weit davon entfernt
bleibt, den Gesamtzusammenhang zu durch-
dringen. Ein Ärgernis bildet, auch das sei
nicht verschwiegen, die Arbeit des Kunsthi-
storikers Richard W. Eichler, für den künst-
lerisches Schaffen wohl in dem Augenblick
aufhört, in dem nicht mehr streng figurativ
gearbeitet wird.
Offensichtlich war es der Plan Willms’,
mit seinem »Handbuch« von den offenkun-
digen gesellschaftlichen Phänomenen auf
deren Ursachen und dann auf die zugrunde-
liegenden Fundamente zurückzugehen. So
jedenfalls wäre erklärbar, warum der dritte
Band den Untertitel »Moderne Wissenschaft
und Zukunftsperspekuve« trägt und Bei-
träge vereinigt, die sich zum großen Teil auf
hohem Niveau mit Biologie und Psychologie
beschäftigen. Zum erstgenannten Bereich
gehören die Aufsätze von Tiemo Grimm
über »Humangenetik und Gesellschaft«, von
Otto Koenig über die Grundlagen der Ver-
haltensforschung, von Hans Mohr über
»Evolution und Ethik« und von Gerhard
Vollmer über »Evolutionäre Erkenntnis-
theorie«, zum zweiten die Auslassungen von
Hans Jürgen Eysenck über »Bewußtsein und
Verhalten«. Es entzieht sich dem Urteilsver-
mögen des Nicht-Naturwissenschaftlers, ob
Kritik
das hier Gebotene in allem dem neuesten
Stand entspricht, aber es bleibt doch sehr an-
erkennenswert, welche Bemühungen unter-
nommen wurden, dem weiteren Kreis der
Laien durch ausgewiesene Fachleute einen
Stoff zu vermitteln, der ihm selten unmittel-
bar zugänglich ist und doch einen eminenten
Einfluß auf die Zukunft des einzelnen wie
der Nation haben muß. Angesichts der Tat-
sache, daß alle Überlegungen zu den natiirli-
chen Grundlagen menschlichen Verhaltens
lange Zeit unter dem »Biologismus«-Ver-
dacht standen, andererseits diese Grundla-
gen durch die Gentechnologie die Aufmerk-
samkeit der Gesellschaft ın ganz neuer
Weise fordern, ist die Klärung der entspre-
chenden Sachverhalte im Hinblick auf öko-
logische Zusammenhänge und den Entwurf
eines realistischen Menschenbildes von gro-
Ber Wichtigkeit.
Etwas weniger kompliziert als in den na-
turwissenschaftlichen Beiträgen verhält es
sich in bezug auf die gleichfalls in dem Band
dargestellten Überlegungen von Elisabeth
Noelle-Neumann zu Sinn und Unsinn der
Demoskopie und von Kurt Hübner über die
Beziehung »Nation und Mythos«, die mit
der Souveränität dargestellt sind, die man
von diesen Autoren erwarten darf. Die über-
zeugende Anlage dieses Bandes des »Hand-
buches« läßt nur wenig zu wünschen übrig,
auf das wenige sei aber immerhin summa-
risch hingewiesen: Wie eine Verlegenheitsiö-
sung wirkt beispielsweise der Abschlußbei-
trag, in dem sich Willms selbst mit dem
Mangel an Geschichtsbewußtsein in der
Bundesrepublik auseinandersetzt; etwas, das
thematisch eher in Band 2 gehört hätte.
Ahnliches gilt für die Arbeit von Alf Torsten
Werner und Horst Rudolf Übelacker, die
sich mit der »Identitätsgarantie im demokra-
tischen Staat« befassen, und schließlich
bleibt unerfindlich, warum ausgerechnet der
»dialektische Unitarısmus« Sigrid Hunkes
geeignet sein soll, die geistigen Krisen der
Gegenwart zu meistern, selbst wenn man
glaubt, daß das Heil in der — sowieso gerade
in Mode gekommenen — »Ganzheit« liegt.
Das »Handbuch zur Deutschen Nation«
ist in erster Linie als ein Versuch zu begrü-
ßen, zahlreiche Problemkreise, die mit der
»Deutschen Frage« zusammenhängen, er-
faßt zu haben. Hier werden einer breiteren
Öffentlichkeit knappe Darstellungen zu ein-
zelnen Sachthemen geboten, wie sie sich
sonst kaum vereinigt finden. Die Sichtweise
Buchbesprechungen
ist häufig unorthodox und hält sich nicht an
irgendwelche Diskussionsverbote, unter die
seit der Mitte der achtziger Jahre sogar das
»Nationale« zu fallen drohte. Es kann aller-
dings nicht übergangen werden, daß man in
der einen oder anderen Hinsicht einen etwas
zwiespältigen Eindruck zurückbehält. Wenn
man von solchen kritischen Punkten spricht,
dann kann man sich kaum darauf berufen,
daß das eine oder andere — etwa die Frage
der Wiedervereinigung — nun erledigt ist.
Wenn es um Klarsichtigkeit geht bezüglich
der Gesetzmafigkeiten des politischen Le-
bens, haben sich die meisten Autoren kaum
etwas vorzuwerfen. Es handelt sich eher um
Schwachpunkte, die an vielen Sammelwer-
ken festzustellen sind. Sie mindern den Wert
des Unternehmens nicht im grundsätzlichen,
aber im einzelnen.
Wolfenbüttel Karlheinz Weißmann
Dirk KAsLer u. a.: Der politische Skandal. Zur
symbolischen und dramaturgischen Qualität
von Politik. Opladen 1991. Westdeutscher
Verlag. 328 S.
Skandale sind Ärgernisse. Sie sind Steine des
Anstoßes. Und was den einen Anlaß zur
Entrüstung ist, ist den anderen Grund zur
Häme. Politische Skandale gehören zur Po-
litik - vom Hermenfrevel des Alkibiades bis
zu den Affairen moderner Demokratien. Daß
Skandale jedoch heute an Bedeutung gewin-
nen, erklärt sich durch die sich mehr und mehr
personalisierende Politik auf der einen, ihre
Darstellung in Massenmedien auf der ande-
ren Seite. Politik wird so, ob gewollt oder
nicht, theatralisch. Sie ist immer auch politi-
sches Theater. Und für dieses sind Skandale
ein Mittel, durch das Politik inszeniert und
dramatisch präsentiert werden kann.
Es spricht für das vorliegende Buch, daß
seine Autoren Skandale nicht mit erhobe-
nem Zeigefinger darstellen. Sie schreiben in
einem eher spöttischen Ton, und Skandale
werden betrachtet als das, was sie sind: Er-
eignisse, die aus der Routine alltäglicher
Politik herausragen, Ereignisse von hohem
Aufmerksamkeits- und Unterhaltungswert.
Sie erst einmal so zu betrachten, ist nicht
mangelnder Ernst. Es ist vielmehr Ausdruck
einer ıronischen Distanz, die dem Verstehen
der Ereignisse durchaus förderlich sein
kann. Vor das Verurteilen haben die Auto-
ZfP 40. Jg. 3/1993
341
ren das Verstehen-Wollen gesetzt. Und der
Leser kann dankbar dafür sein.
Das Buch bietet anhand von acht Fallbei-
spielen neuerer Skandale — von der Spiegel-
affäre bis zum Faßbinder-Theater-Skandal —
ein Stück zugleich amüsanter und lehrrei-
cher Wissenschaft. Die vorgeführten Skan-
dale sind in die Form von Theatervorstellun-
gen gebracht worden. Sie haben schmissige
Titel erhalten, wie erwa »No sex please, we
are British« (für den Profumo-Skandal). Die
Skandale werden präsentiert als Theater-
stücke, als Boulevardkomödie, Schmieren-
komödie, Burleske u.s.f. Die Handlung
wird nacherzählt in Szenen, und in ihnen
tritt das politische Personal in passenden
»Rollen« auf: als Opfer oder Schurke, als
Mitspieler oder Presse-Chor.
Von besonderem Interesse ist die von
Dirk Kasler verfaßte Einführung »Der
Skandal als politisches Theater«, und insbe-
sondere lehrreich ist die kleine Begriffsge-
schichte des Wortes »Skandal«, die den Bei-
spielen vorangestellt ist. »Skandalistes« hie-
ßen demnach die Trapez- und Zauberkinst-
ler, die Artisten und Beinsteller des griechi-
schen Kleintheaters, und »Skandalon« hieß
in der Bibel der Anstoß zu religiösem Ver-
derben, das »Argernis«, wie Luther übersetzt
hat. Wie so viele Begriffe moderner Politik
ist auch der Begriff »Skandal« ein Resultat
der Säkularisierung der Theologie. Durch
Säkularisierung ist aus dem ehemals religi-
ösen »Argernis« der Anlaß säkularisiert poli-
tischer Erregung geworden. Säkularisierung
erklärt die Intensität des Begriffs, und man
möchte sich, wie bei anderen säkularısierten
Begriffen moderner Politik, so auch bei die-
sem, wünschen, daß ihm die Segnungen ei-
ner besseren Trennung von Politik und Relı-
gion zuteil werden würden. Wenn das ei-
gentliche Ärgernis das religiöse bliebe,
könnte Politik von den Zumutungen
peace pba gene Erregungen mehr als bis-
er entlastet sein. Aber vielleicht ist dies nur
ein frommer Wunsch in einer Zeit, in der
Politik zu Vermarktung und Schaupolitik,
zu Inszenierung und Dramatisierung drängt.
In solchen Zeiten gehören Skandale zum
Spielplan des politischen Theaters; sie wer-
den Teil des Repertoires, Wunsch-Stück des
investigativen Journalismus, der jeweiligen
Opposition und des nach Unterhaltung ver-
langenden Publikums zugleich.
Basel Henning Ottmann
342
Thomas Hosses: Dialog zwischen einem Phi-
losophen und einem Juristen über das englische
Recht. Hrsg. und komm. von Bemard Willms.
Weinheim 1992. Acta Humaniora. 201 S.
42,- DM.
Bernard Willms, der sich um die Hobbes-
Forschung in Deutschland große Verdienste
erworben hat, war bemüht, das Interesse der
Forschung auch für jene Texte zu wecken,
die bisher im Schatten des »Leviathan« ge-
standen hatten. So schrieb er über den wenig
beachteten »Behemoth«, und so hat er die
erste deutsche Übersetzung des »Dialogue«
herausgegeben. Sie erscheint nach dem über-
raschenden Freitod von Willms posthum.
Der »Dialogue« ist ein fingiertes
Gespräch zwischen Hobbes, dem »Philoso-
phen«, und Sir Edward Coke, dem »Juri-
sten«. Als Hobbes den »Dialogue« schrieb,
war Coke, der große Repräsentant des com-
mon law, schon seit 30 Jahren tot. Wenn
Hobbes ihn, dreißig Jahre nach seinem
Tode, in ein Gespräch verwickelt, dann hat
dies seinen Grund nicht nur darin, daß Coke
der berühmteste Jurist seiner Zeit gewesen
ist. Es hat seinen Grund auch darın, daß Co-
kes politische Rolle und seine Auffassung
von Recht und Gesetz Hobbes’ politischer
Philosophie widerstritten, der Jurist ein
Gegenspieler des Philosophen gewesen
war.
Coke war der Führer des Parlaments ge-
wesen in jenen Jahren, als England auf den
Bürgerkrieg zusteuerte, und der »Dialogue«
läßt keinen Zweifel daran, daß Hobbes den
großen Juristen als einen jener Politiker be-
trachtet hat, denen die Schuld am Bürger-
krieg zu geben war. Zur Kritik der politi-
schen Rolle trat die unterschiedliche Auffas-
sung von Recht und Gesetz hinzu. Coke ver-
trat das common law, das auf Präzedentien
und tradierte Verfahren gestützte Recht.
Hobbes wollte nicht nur der Begründer ei-
ner systematischen wissenschaftlichen Poli-
tik sein. Er wollte auch dem Naturrecht
durch Wissenschaft und Methode eine neue
Grundlage verschaffen. Der »Dialogue« war
so ein Streitgespräch, ın dem sich fundamen-
tal verschiedene Auffassungen von Politik
und Wissenschaft kreuzten, ein Gespräch
um Bürgerkrieg und Wissenschaft, Recht
und Politik.
Nun ist es in der Hobbes-Forschung üb-
lich, die politischen Rollen so zu verteilen,
daß Hobbes als der Repräsentant absoluti-
Kritik
stischer Souveränităt auf die eine, Coke als
Anwalt des Parlaments und Mitverfasser der
»petition of rights« auf die andere Seite ge-
rät, Coke - sit venia verbo — auf der richti-
gen »liberalen« Seite steht. In seiner »Ein-
leitung« zum »Dialogue« hat Willms ver-
sucht, diese Rollenverteilung zu relativie-
ren. Man soll demnach in Hobbes eher den
Begründer »moderner« souveräner Staat-
lichkeit sehen, in Coke dagegen einen An-
walt parteilicher Interessen, der das Recht
für die aufstrebenden bürgerlichen Schich-
ten instrumentalisiert, wenn er nicht sogar
die Privilegien des Juristen-Standes vertei-
digt, die mit dem nur für Fachleute durch-
sichtigen common law unmittelbar verbun-
den sind.
Man wird den Willmsschen Vorschlag zur
Interpretation zu beachten haben, auch
wenn er wohl den politischen Rollen der
Kontrahenten nicht ganz gerecht zu werden
vermag. Jedenfalls liegt nun erstmals in
deutscher Sprache der Text des »Dialogue«
vor, kenntnisreich kommentiert und gestützt
auf die kritische Edition, die John Cropsey
1971 auf englisch veröffentlicht hat. Man
wird nun entweder die Ausgabe von Cropsey
oder die von Willms zu benutzen haben.
Wie der Kommentar so ist auch die Über-
setzung mit großer Sorgfalt erarbeitet wor-
den. Nur in einer Hinsicht ist sie von einer
Eigentümlichkeit der Willmsschen Hobbes-
Deutung geprägt. Willms, der Hobbes als
Begründer einer »reinen« Politik zu deuten
versuchte, stand den theologisch-politischen
Hobbes-Deutungen reserviert gegenüber.
Dies macht sich in der Übersetzung z. B. da-
durch bemerkbar, daß Willms die »Verfeh-
lung« des Königs, der sein Volk nicht
schützt oder den Frieden nicht wahrt, mit
»Unrecht« übersetzt (S. 55). Im Englischen
steht da aber »sin«, »Sünde«. Dieser Begriff
hat in der Hobbesschen Souveränitätslehre
seinen klaren Sinn, insofern der Souverän
keine andere Instanz als Gott über sich hat.
Die »Verfehlung« des Monarchen ist dem-
entsprechend »Sünde« und nicht »Unrecht«.
»Unrecht« kann der Souverän nach Hobbes
gar nicht begehen. Im »Dialogue« finden
sich nicht gerade wenig theologisch-politi-
sche Aussagen zu Recht, Gesetz, Souveräni-
tät, und das kann in einem Gespräch über
den Bürgerkrieg, der ein konfessioneller
Bürgerkrieg war, auch gar nicht anders sein.
Basel Henning Ottmann
Buchbesprechungen
Sabine von OpreLN: Die Linke im Kernener-
giekonflikt. Deutschland und Frankreich im
Vergleich. Frankfurt 1989. Campus Verlag.
376 Seiten. 78 DM.
Sabine von Oppeln versteht ihre kenntnisrei-
che Dissertation als einen Beitrag zu dem
1981 von der Robert-Bosch-Stiftung initiier-
ten Forschungsvorhaben eines intensiven
deutsch-franzésischen Ländervergleichs.
Der Konflikt um die zivile Kernenergienut-
zung gilt ihr als geeignetes Testfeld für die
»transnationale Fragestellung«, wie hochin-
dustrialisierte Gesellschaften den »Heraus-
forderungen der Modernisierung« begeg-
nen: verharren sie auf den Pfaden der »tra-
ditionellen Modernisierung«, des »Superin-
dustrialismus«, oder orientieren sie sich am
Konzept der »dkologischen Modernisie-
rung«, dem »Nachindustrialismus« (Janicke)
(S. 19)? Die Autorin will den durch die Mo-
dernisierungsprozesse ausgelösten Werte-
wandel in beiden Landern analysieren, wo-
bei sie sich auf die Reaktionen der beiden
Parteien konzentriert, die ihrer Auffassung
nach am überzeugendsten grundsätzliche
Reformansprüche erheben: auf die französi-
sche Partı socialiste (PS) und die deutschen
Sozialdemokraten.
Von Oppeln wählt einen empirisch-analy-
tischen Ansatz. Dessen wichtigste Grund-
lage sind insgesamt 61 »Tiefeninterviews«
mit Vertretern der Anti-AKW-Bewegung
und der Parteien in Hessen und in der Re-
gion Midi-Pyrénées; denn aus vergleichsme-
thodischen Uberlegungen wurden die beiden
Nuklearprojekte Golfech und Biblis C als
empirische Untersuchungsgegenstände ge-
wählt. Die mangelnde Repräsentativität der
auf die Interviews gestützten Studienergeb-
nisse ist der Verfasserin bewußt.
Im 1. Teil der Studie wird der Protestver-
lauf an beiden Standorten genau nachge-
zeichnet, der in Golfech erfolglos, in Biblis
erfolgreich endete. Angesichts des frühzeiti-
geren und heftigeren Protestes in Frankreich
ist dieses Ergebnis überraschend. Die Auto-
rın erklärt es mit der These, daß nicht der
Widerstand der Bevölkerung gegen ein Nu-
klearprojekt für die Durchsetzungsfähigkeit
einer Anti-AKW-Bewegung ausschlagge-
bend sei; entscheidend sei vielmehr, ob die
Protestbewegung als »neue soziale Bewe-
gung« in Erscheinung trete (S. 59). In Anleh-
nung an Raschkes Theorieansatz wird der
Frage nachgegangen, ob der soziale Wandel
ZEP 40. Jg. 3/1993
343
in beiden Ländern das herkömmliche Poli-
tikverständnis, das »Herrschafts- und Ver-
teilungs-Paradigma«, bereits in das neue
»Lebensweise-Paradigma« (Raschke) zu
überführen vermochte, das sich an »Krite-
rien humaner Bedürfnisse und/oder einer
ökologisch orientierten Lebensweise« aus-
richtet (S. 69).
Von Oppeln arbeitet klar heraus, daß die
»Schwäche der Anti-AKW-Bewegung in
Frankreich ... ein Indiz dafür (ist), daß der
soziale Wandel ... noch nicht so weit fort-
geschritten ist wie in der Bundesrepublik«
(S. 109). Unter Verweis auf die erwas klı-
scheehaft abgehandelten sozio-kulturellen
und leider nur sehr knapp angesprochenen
politisch-institutionellen Rahmenbedingun-
gen französischer Politik wird die These
vertreten, daß auch bei annähernd gleichem
Stand des industriellen Modernisierungspro-
zesses sich der Wertewandel ın beiden Län-
dern mit durchaus verschiedener Intensität
vollziehen kann. Diese Diskrepanz führt die
Autorin primär auf die verschiedenen Reak-
tionen der beiden Parteien PS und SPD auf
die von den Protestbewegungen aufgeworfe-
nen Problemlagen zurück; die Lernfähigkeit
der jeweiligen Partei angesichts neuer gesell-
schaftlicher Herausforderungen steht zur
Diskussion.
Entsprechend ist der umfangreiche 2. Teil
der Arbeit der Analyse der sozialistischen
Positionsbestimmung zur Kernenergie im
allgemeinen und zum Standort Golfech im
besonderen gewidmet. Dabei wird die große
Diskrepanz angeprangert, die sich zwischen
den Parteibeschlüssen vor und nach der Re-
gierungsübernahme Mitterrands 1981 auf-
tut: In der Opposition lehnten die Sozialı-
sten das äußerst ehrgeizige zivile Nuklear-
programm der bürgerlichen Regierungen ab
und erwarben sich damit die Sympathien
und Wählerstimmen aller kernenergiekriti-
schen Gruppierungen; doch nach 1981 führ-
ten sie das kritisierte Programm nur unwe-
sentlich reduziert weiter durch. Von Oppeln
betont hier die gegensätzlichen Positionen
von Parteiführung einerseits und lokalen
PS-Mandatsträgern sowie Parteibasis ande-
rerseits; sie führt die Niederlage der »Basis«
auf den »begrenzten Handlungsspielraum«
(S. 177) der französischen Gebietskörper-
schaften und allgemein auf die — nicht recht
transparent werdende — Durchsetzungskraft
des Zentralismus und der administrativen
Technokratie zurück. Die Analyse ergibt,
344
daß die sozialistische Atompolitik sehr stark
von den generellen Bedingungen des franzö-
sischen politischen Systems geprägt war.
Vom 3. Teil der Arbeit, der sich mit der
Protestbewegung im hessischen Biblis be-
faßt, sei nur erwähnt, daß die Autorin den
Kernenergiekritikern in der SPD aufgrund
der »gänzlich andere(n) Rolle der Parteien
im politischen System der Bundesrepublik«
(S. 245) einen im Vergleich zur PS wesent-
lich größeren Handlungsspielraum zuer-
kennt, der ın Verbindung mit der privatwirt-
schaftlichen Verfaßtheit der Energiewirt-
schaft und den »spezifischen politisch-insti-
tutionellen Gegebenheiten des föderativen
und rechtsstaatlichen Systems der Bundesre-
publik« (S. 273) schließlich die Aufgabe des
Standorts Biblis C erwirken konnte.
Im abschließenden Kapitel »SPD und PS
im Angesicht epochaler Herausforderun-
gen« wendet sich die Autorin ihrem zentra-
len Anliegen zu: Können die beiden Parteien
den als notwendig erachteten Strukturwan-
del von »Parteien der Macht« zu dynami-
schen Mitgestaltern des gesellschaftlichen
Wandels bewältigen? Als Maßstab hierfür
gilt das Vordringen des — von der Autorin
kritisch nicht hinterfragten — Lebensweise-
Paradigmas in das jeweilige parteiinterne
Politikverständnis. Die Interviewauswertung
ergibt in etwa folgendes Bild: Obwohl die
Führungseliten beider Parteien im Verhält-
nis zu den von den neuen sozialen Bewegun-
gen thematisierten Herausforderungen ein
autoritäres und machtorientiertes Verhalten
an den Tag legen, gelingt in der SPD auf-
grund größerer Eigenständigkeit in den sub-
nationalen Gliederungen eine Öffnung für
die Anliegen der Protestbewegungen. Der
SPD wird Lernfähigkeit attestiert; »zumin-
dest auf programmatischer Ebene deutet
sich ... die Hinwendung zu einem um die
kulturelle Dimension erweiterten Politikbe-
griff ... an« (S. 287). Demgegenüber bleibt
der Bezugspunkt der französischen Soziali-
sten der Produktionsbereich (S. 297); die
Partei blockiert die Entfaltung neuer gesell-
schaftlicher Strömungen und bezahlt die
verweigerte Öffnung und ihre mangelnde
Lernfähigkeit mit dem »Verlust der »kultu-
rellen Hegemonie: der Linken« (S. 206).
In ıhrer Konklusion spricht die Autorin
jedoch von der »unterschiedlichen Lernfä-
higkeit beider politischer Systeme ım Ange-
sicht der sozioökonomischen und soziokul-
turellen Wandlungsprozesse« (S. 305). Sie
Knitik
überträgt hiermit ihre für die beiden Par-
teien erarbeitete Analyse auf die jeweiligen
politischen Systeme. In der Tat waren es vor
allem die unterschiedlichen Systembedin-
gungen, die den Ausgang des Konflikts um
die Kernenergie so verschieden gestaltet ha-
ben. Darum ist die weitgehende Konzentra-
tion auf die parteiinternen Entscheidungs-
prozesse, so interessant sie für sich genom-
men ist, für einen Ländervergleich nicht er-
giebig genug; es hätte einer intensiveren
Analyse der politisch-institutionellen Rah-
menbedingungen deutscher und französi-
scher (Atom-)Politik bedurft.
München Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
Armin Monter: Die konservative Revolution
in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch.
Dritte, um einen Ergänzungsband erweiterte
Auflage. Darmstadt 1989. Wissenschaftliche
Buchgesellschaft. 554 S. 131 S.
Armin Mohlers Handbuch gehört zu jenen
Werken, die man nicht vorstellen muß. Was
zunächst als Basler Dissertation des Jahres
1949 vorlag und 1972 in zweiter Auflage er-
schienen ist, hat seinen Weg in der For-
schung gemacht. Dieses Buch hat den Be-
griff »Konservative Revolution« in der Wis-
senschaft etabliert; die Forschung bedient
sich des Begriffs in Deutschland, Frankreich
und in den Vereinigten Staaten. Und wer
über einen der zu dieser Strömung zählen-
den Dichter, Publizisten oder Denker
forscht, greift auf die mehrere hundert Sei-
ten umfassende, mit größter Sorgfalt erar-
beitete Bibliographie dieses Werkes zurück.
Wenn dieses Buch heute in dritter Auflage
erscheint, kann es nicht darum gehen, das
Werk noch einmal vorzustellen. Vielmehr
läßt sich fragen, was sich in der dritten Auf-
lage geändert hat, und es läßt sich fragen,
welchen Eindruck ein Werk mit nun 40 Jah-
ren eigener Geschichte heute macht.
Der dritten Auflage ist ein Ergänzungs-
band beigegeben worden. Er enthält Corri-
genda und eine Bibliographie von Schriften,
die seit etwa 1972 über Autoren der »Kon-
servativen Revolution« erschienen sınd. Es
handelt sich angesichts der Fluten an Se-
kundärliteratur notgedrungen um eine Aus-
wahlbibliographie. Manche Titel werden
kommentiert — lakonisch, pointiert und im-
mer aufschlußreich.
Buchbesprechungen
Blickt man zurück auf die Anordnung der
ersten beiden Auflagen, so dokumentiert
sich im Ergänzungsband eine Verlagerung
der Gewichte. Es werden nun eigens »aus-
landische Paten« der »Konservativen Revo-
lution« gewürdigt, die in den früheren Auf-
lagen keine eigene Personalbibliographie be-
saßen, Autoren wie Pareto, Mosca, Michels,
Veblen, Barrés. Bei den »deutschen Paten«
sind nun eigens berücksichtigt Richard Wag-
ner und Gerhart Hauptmann. Als einer der
»Erzväter« der »Konservativen Revolution«
gilt nun neben Nietzsche auch Sorel, und als
»Trias« hervorgehoben werden Martin Hei-
degger, Carl Schmitt und Ernst Jünger; Hei-
degger war in den früheren Auflagen nicht
berücksichtigt worden; warum dies so war,
ist rätselhaft.
Neben solche Umakzentuierungen ist im
Ergänzungsband eine im Vergleich zu den
früheren Auflagen etwas eigenwillige Aus-
wahl der Sekundärliteratur getreten. Zwar
ist es verständlich, daß der Autor eine modi-
sche Idiotie wie die Computer-Bearbeitung
des »soldatischen Nationalismus« von und
um Ernst Jünger nicht aufführen will. Aber
darf man Bohrers Buch »Asthetik des
Schreckens« bei der Literatur über Ernst
Jünger weglassen, weil »es in erster Linie
den Zugang zur geistigen Situation von
1978, nicht zu derjenigen der beginnenden
20er Jahre (öffnet)«? (S. 19/20). Warum
wird bei Heidegger die von Fehlern strot-
zende Darstellung von Farias genannt, nicht
die wirklich Neues bringenden Aufsätze von
Ort oder die Neuauflage des Werkes von A.
Schwan? Warum wird bei Carl Schmitt zwar
verwiesen auf eine so occasionelle Schrift
wie die von Maschke, nicht aber auf die Ar-
tikel und Werke von E. Kennedy, H. Meier,
M. Kaufmann, N. Sombart, Hansen/Lietz-
mann? Am Ende des Ergänzungsbandes
steht eine ausführliche Rezension des Bu-
ches »Ni droite ni gauche« des israelischen
Historikers Zeev Sternhell. Es soll, so Moh-
ler, das seit 1972 »anregendste, aufregendste
und wichtigste Buch« zur »konservativen
Revolution« sein (S. 103). Ist es das wirk-
lich? Thesen wıe die, daß der Faschismus
sich im Frankreich des ausgehenden
19. Jahrhunderts vorbereitet und daß er so-
ziologisch schwer zu verorten ist, hat man
doch schon bei Nolte gehört. Und daß der
Faschismus als ein Phänomen der Moderni-
sierung gedeutet werden kann, war schon
ZfP 40. Jg. 3/1993
23
345
die These der Modernisierungstheorie, wie
sie etwa B. Moore entwickelt hat.
»Ni droite ni gauche« — vielleicht war es
diese, auf die Paradoxie der »konservativen
Revolution« anspielende Charakterisierung,
die Armin Mohler am Werk des israelischen
Historikers angezogen hat. Er selbst hatte ın
seiner Dissertation von »Paradoxie«
(S.126 ff.) gesprochen, und wie anders
sollte man auch von einer Politik sprechen,
die die Fronten von »rechts« und »links«
verwirrte und Schlagworte wie »preußischer
Sozialismus«, »konservativer Sozialismus«,
»konservativer Anarchismus«, »Nationalbol-
schewismus« etc. hervorgebracht hat?
In dieser Frontenverwirrung und Parado-
xalität lag freilich auch immer die Schwierig-
keit, die »konservative Revolution« politisch
zu verorten und in ihren Zielen überhaupt
zu fassen. Stefan Breuer hat vor kurzem be-
hauptet, der Begriff habe gar keinen klaren
Sinn. »Konservative Revolution«, so Breuer,
sei nur »ein Mythos, eine Fiktion« (PVS
31/4 [1990], S. 585 ff.). Außer dem Gegner,
dem Liberalismus, hätten die unter diesem
Begriff versammelten Autoren nichts ge-
mein. Ein gemeinsamer Kernbestand sozia-
ler, wirtschaftlicher und politischer Doktri-
nen existiere nicht.
In Mohlers Werk - das ist wohl wahr - er-
gab sich ein allzu geschlossenes Bild der
»konservativen Revolution«. Es entstand bei
Mohler aus mindestens drei Gründen. Moh-
ler hatte, das ıst das erste, die Wirkung
Nietzsches auf die Autoren dieser Bewegung
überzeichnet (sie findet sich gewiß bei E.
Jünger, überhaupt nicht bei Carl Schmitt
oder E. J. Jung, um nur Beispiele zu nen-
nen). Er hatte zweitens das Neuheidnische
der Bewegung in den Vordergrund gestellt
(auch dies paßt nicht allen dieser Autoren,
sicher nicht dem Katholiken Carl Schmitt
oder E. J. Jung oder Stapel). Und drittens
war der Blick - obwohl Mohler einer der be-
sten lebenden Kenner der französischen
Geistesgeschichte und Politik der letzten
beiden Jahrhunderte ist — fast nur auf
Deutschland gerichtet, nicht auf Frankreich
oder Italien.
Gleichwohl ist in Stefan Breuers Angriff
auf den Begriff der »Konservativen Revolu-
tion« eher eine Anregung zur weiteren Dis-
kussion zu sehen als eine erfolgreiche Ver-
abschiedung des Begriffs. Was die Autoren
dieser geistigen Strömung vertraten, war
meist ein deutlicher Bruch mit dem Denken
346
des älteren Konservatismus. Es war etwas
Neues, etwas Eigenes. Und daß die Gemein-
samkeit oft über die Gegnerbestimmung
nicht hinausgeht, ist vielleicht bei allen poli-
tischen Großideologien der Fall. Der »Libe-
ralismus« schließt libertäre und soziale Strö-
mungen genauso ein wie nationale und
internationalistische. Gleichwohl verzichtet
man nicht auf den Begriff.
Man wird diskutieren müssen, was die Pa-
radigmata sind, anhand deren der Begriff
»Konservative Revolution« gebildet wird.
Ausgangspunkt dafür bleibt Mohlers Hand-
buch, vielleicht noch einmal für 40 Jahre
oder mehr.
Basel Henning Ottmann
Heinz Hönne: Die Zeit der Illusionen. Hitler
und die Anfänge des 3. Reiches 1933-1936.
Diisseldorf7/Wien/New York 1990. Econ Ver-
lag. 447 S. 48,- DM.
Nach seinen verdienstvollen Büchern über
die SS, Hitlers Machtergreifung und den
»Röhm-Putsch« nimmt der Spiegel-Redak-
teur Heinz Höhne jetzt die Gesamtge-
schichte des Dritten Reiches ins Visier: Der
erste Band des als Trilogie angekündigten
Werkes behandelt die Jahre 1933 bis 1936.
Antifaschistischer Bekenntniseifer und eine
penetrante Volkspadagogik sind dem Autor
zuwider: Eine allzu einseitig auf die verbre-
cherischen Aspekte der NS-Herrschaft aus-
gerichtete Geschichtsschreibung könne die
entscheidende Frage nach der Attraktivität
und Massenwirksamkeit des Nationalsozia-
lismus nicht beantworten. »Zu lange galten
fast ausschließlich die Maximen einer politi-
schen Volkspädagogik, der es weniger um
die detailgenaue und umfassende Darstel-
lung der Hitler-Ara als um die Gewinnung
geschichtsträchtiger Lehrsätze für künftiges
demokratisches Verhalten ging. Dazu be-
durfte sie eines möglichst nuancenlosen
Horrorbildes nazistischer Gewalt und Men-
schenverachtung, gleichsam als abschrek-
kende Warnung für angehende Demokra-
ten« (S. 8 f.).
Uber den aufklärerischen Wert solcher
Schwarz-Weiß-Bilder kann man in der Tat
streiten. Manches spricht dafür, daß sie oft
das Gegenteil dessen bewirken, was wohl-
meinende Pädagogen sich erhoffen. Höhnes
Buch unterscheidet sich denn auch von an-
Krıtik
deren Werken über die Hitler-Zeit schon
durch die unaufdringliche Sprache. Die In-
flation der Anführungszeichen, mit denen
überängstliche Historiker immer wieder ihre
Distanz zum Ausdruck bringen, hat er auf
ein vernünftiges Maß zurückgeführt. Er
muß nicht auf jeder Buchseite seine »Ab-
scheu« vor dem »verbrecherischen Unrechts-
regime« beteuern, um sich des Verdachtes
zu erwehren, es ginge ihm um eine Apologie
des Nationalsozialismus.
Obwohl Höhne mit Tadel für Zunft-Hi-
storiker nicht spart, so profitiert er doch in
hohem Maße von den Erkenntnissen der
Geschichtswissenschaft, die das Bild der
NS-Zeit in den letzten Jahren nachhalug
verandert haben. Vor allem betont er die
oftmals verkannte Modernität der National-
sozialisten (vgl. z.B. S. 10, 38, 43, 47, 61,
122, 128). Die neue Gesellschaft, die Hitler
versprach, war »egalıtär und klassenüber-
Ereitene, wenn auch ohne politische Frei-
eit, modern und nur noch leistungsbezo-
gen« (S. 271). Die soziale Revolution des
Nationalsozialismus wollte gesellschaftliche
Unterschiede einebnen, traditionelle Bin-
dungen an Klasse, Milieu und Religion auf-
weichen und an ihre Stelle »eine völlig mi-
lieulose, auf Chancengleichheit gegründete
Gesellschaft« setzen (S. 265).
Wie schon in seinen anderen Büchern
wendet sich der Autor dezidiert gegen das
Bild einer total »gleichgeschalteten« Gesell-
schaft. Die »Gleichschaltung« war in den
Anfangsjahren des Regimes, so eine der zen-
tralen Thesen dieser Studie, ohnehin eher
ideologische Fiktion als Wirklichkeit. Es gab
wichtige Bereiche der Gesellschaft, in denen
die NSDAP ihren Willen mitnichten allein
durchsetzen konnte. Auch das Bild vom na-
tionalsozialistischen »Totalitarismus« hält
Höhne nicht für überzeugend.
Kaum eine zentrale Kategorie der Totali-
tarısmus- Theorie passe so recht in das NS-
Herrschaftssystem der Friedenszeit: »Eine
Kaderpartei unbedingt zuverlässiger Anhän-
ger, die im Staat eine »monopolartige Vor-
herrschaft« ausübt und mit dem Staatsappa-
rat verschmilzt, war die NSDAP so wenig
wie die Gestapo eine alles beherrschende
Geheimpolizei, die neben der Gesellschaft
auch den Staat und sogar die Partei kontrol-
lierte. Zu einer Gleichschaltung der Armee
durch die Partei war es ebenfalls nicht ge-
kommen, die NS-Ideologie durchdrang
auch mitnichten »sämtliche Denk- und Le-
Buchbesprechungen
bensbereiche« der Nation« (S. 252). Der Au-
tor hat recht, wenn er gegen das Bild der to-
tal gleichgeschalteten NS-Gesellschaft pole-
misiert. Doch schüttet er manchmal das
Kind mit dem Bade aus - gar so grob argu-
mentieren heute Anhänger der Totalitaris-
mus-Theorie nicht mehr.
Höhne will vor allem die These von der
entscheidenden Bedeutung Adolf Hitlers re-
lativieren. Mit Zustimmung liest man seine
Schilderung des sogenannten Röhm-Pur-
sches, ın dem Hitler »mehr ein Getriebener
denn ein Treibender« war (S. 10). Vielleicht
glaubte er einen Moment lang selbst daran,
die SA habe ihn verraten und plane einen
Putsch (S. 214). Die Antı-Röhm-Verschwö-
rer — Göring, Himmler und Blomberg -
taten jedenfalls alles, um angebliche
»Beweise« für einen bevorstehenden Putsch
der SA beizubringen. Auch die Ermordung
Röhms war von Hitler anfangs nicht ge-
wollt. Hitler beabsichtigte zunächst, Röhm
»wegen seiner Verdienste« zu begnadigen.
»Das mochten Göring und Himmler jedoch
nicht akzeptieren, ein 30. Juni ohne Röhms
physische Vernichtung hätte für sie seinen
Sinn verloren. Hartnäckig bedrängten sie
Hitler, bis der nachgab« (S. 217).
Selbst die Aufrüstung ging in den An-
fangsjahren nicht primär auf Hitlers Initia-
tive zurück: Aus Angst vor einer Interven-
tion der Nachbarn plädierte er für Zurück-
haltung, während die Militärs drängten
(S. 147, 152). Die Furcht vor einem Präven-
tivkrieg war so absurd nicht; denn entspre-
chende Planungen und Überlegungen gab
es, vor allem ın Polen.
Die Judenpolitik ist für Höhne - hier
knüpft er an die Thesen von Martin Broszat
und Hans Mommsen an - auch nicht Ergeb-
nis einer systematischen Umsetzung von
»Hitlers Weltanschauung«. Der »Führer«
habe bis 1938 eher auf den Druck antisemi-
tischer Kräfte der Parteibasis reagiert, statt
selbst eine zielstrebige Strategie zu verfolgen
(S. 256).
Problematisch bleibt indes, daß Höhne
die Rolle Hitlers auch für solche Bereiche
relativiert, wo dies nicht angebracht ıst: In
der Außenpolitik etwa bestimmte Hitler die
Maximen. Und das von ihm entwickelte
»Programm« war keineswegs so bedeutungs-
los, wie es in Höhnes Darstellung erscheint
(S. 148). Sicher handelte Hitler nicht nach
einem genauen »Fahrplan«, aber dies be-
haupten die von Höhne gescholtenen /nten-
7fP 40. Jg. 3/1993
23*
347
tionalisten auch nicht. So hat Klaus Hilde-
brand ausdrücklich betont: »Dieser Termi-
nus (Programm) möchte nun keineswegs na-
helegen, Hitler einen politischen Fahrplan
zu unterstellen oder eine ins Detail gehende
Planung anzunehmen ... Der heuristisch
benutzte »Programm«-Begriff will vielmehr
die für Hitlers (außen-)politische Gedan-
kenbildung bei aller Wendigkeit . . . stets do-
minanten Konstanten seines dogmatisch-
festliegenden »Grund-Plans: freilegen«. Die
Idee von der Eroberung neuen Lebensraums
im Osten — und dem hierzu erforderlichen
Bündnis mit England und Italien — blieb in
der Tat in den zwanziger, in den dreifiger
und auch in den vierziger Jahren unverrück-
bare Leitlinie der Hitlerschen Politik.
Eine der Stärken des Buches ist es, daß
Höhne deutlicher als andere Autoren die
Schwachen der Weimarer Republik heraus-
arbeitet. Man wird ihm da allerdings man-
che apodiktische Formulierung verzeihen
milssen. »Die Parteien waren reine Klassen-
und Interessenverbände, ihren Führern ging
es meist nur um die Sache der eigenen Klien-
tel« (S. 23). Da könne es nicht verwundern,
so Höhne, daß die erdrückende Mehrheit
der Deutschen dieser Parteien herzlich über-
drüssig war.
Das Unvermögen des Weimarer Estab-
lishments, die Staats- und Wirtschaftskrise
in den Griff zu bekommen, sei die eigentli-
che Ursache für die Massenerfolge des Na-
tionalsozialismus gewesen. »Millionen Deut-
sche wählten die antirepublikanische Alter-
native, womit sie freilich im Prinzip kaum
anders handelten als die Wähler späterer
Generationen« (S. 46). Verständlich auch,
daß die Zustimmung zum Regime in den
Jahren eines unverkennbaren wirtschaftli-
chen Aufstiegs, schwindender Arbeitslosen-
ziffern, mancher sozialpolitischer Fort-
schritte und außenpolitischer Erfolge zuse-
hends wuchs. Die Erfolge wurden von der
Mehrheit der Deutschen höher bewertet als
die verbrecherischen Seiten des Regimes, der
Terror gegen »rassisch Minderwertige« und
Andersdenkende. Für die meisten Menschen
zählte vor allem, daß die jahrelange Erstar-
rung wich und immer mehr bekamen, was
sie so bitter entbehrt hatten: »Arbeit, ein
Stück Selbstvertrauen, Lebenslust« (S. 134).
Solche Sätze mögen provozierend wirken.
Es hieße indes, den Autor gründlich mißzu-
verstehen, wollte man ihm die Absicht einer
»Apologiex des NS-Systems unterstellen.
348
Nicht um Rechtfertigung, sondern um Er-
klärung, um Verstehbar-machen geht es
Höhne. Selbst die Tatsache, daß weite Teile
der Bevölkerung die Mordaktion am
30. Juni 1934 begrüßten, erscheint bei
Höhne (der in diesem Fall an die For-
schungsergebnisse von Ian Kershaw an-
knüpft) durchaus nachvollziehbar: Die
Schreckensherrschaft der SA war noch in al-
ler Erinnerung. »Kaum erstaunlich, daß das
Gros der Gesellschaft, uninformiert und
Opfer einer reglementierenden Presse, im
30. Juni nichts anderes sah als die Befreiung
von braunen Terroristen« (S. 219).
Erst recht verständlich die Freude der
Deutschen über die Revision des Versailler
Vertrages, der in einem jüngst erschienenen
Buch des Münchner Historikers Hermann
Graml allerdings geradezu als Verwirkli-
chung des »Selbstbestimmungsrechtes« ver-
klärt wird. Höhne: »Es dient schwerlich hi-
storischer Aufhellung, wenn heute westdeut-
sche Historiker, ihrer Nation offenbar völlig
entfremdet, nur noch vom >vermeintlichen
Unrecht von Versailles: sprechen und die re-
visionistische Kritik als ein Bündel nationali-
stischer »Klagen und Deklamationen« abtun.
Man brauchte nicht deutscher Nationalist
zu sein, um das Versailler System für drin-
gend revisionsbedürftig zu halten« (S. 300).
Es waren nicht immer die schlechtesten
Motive, die eine Mehrheit der Deutschen
dem Diktator zujubeln ließen. So wollte
man zwar die Revision von Versailles, aber
man wollte sie zweifelsohne mit friedlichen
Mitteln. Hitler vermochte Millionen Deut-
sche davon zu überzeugen, die Verluste des
Ersten Weltkrieges auch ohne militante
Konfrontation oder gar einen Krieg mit den
fremden Mächten zurückholen zu können.
»So entstand eine Komplizenschaft zwi-
schen Hitler und der Volksmehrheit, die al-
lerdings immer unter dem Vorbehalt der
Friedfertigkeit stand« (S. 313).
Neben den nationalen Motiven waren es
vor allem soziale Antriebskräfte, die die -
nach 1945 lange verdrängte — Attraktivität
des Regimes ausmachten, auch für die Ar-
beiterschaft, selbst für ehemalige Sozialde-
mokraten. Die egalitären und revolutionären
Parolen der Nationalsozialisten waren kei-
neswegs bloße Propaganda. Mit dem Um-
bau der Gesellschaft war es ihnen durchaus
ernst. Und am Ende ihrer Pläne sollte nıcht
etwa eine mittelalterliche Agrargesellschaft
stehen, wie Historiker lange Zeit glaubten,
Kritik
sondern eine hochmoderne Industriegesell-
schaft, freilich ohne die Freiheit der Demo-
kratie und des politischen Pluralismus.
Berlin Rainer Zitelmann
Ernst Heinen: Katholizismus und Gesellschaft.
Das katholische Vereinswesen zwischen Revo-
lution und Reaktion (1848/49 bis 1853/54)
(Historisches Seminar. Neue Folge. Bd. 4). Id-
stein 1993. Schulz-Kirchner- Verlag. 169 S.
Der bereits durch zahlreiche Veröffentli-
chungen zur Geschichte des katholischen
Vereinswesens ausgewiesene Autor legt in
dieser bemerkenswerten Schrift einen neuen
Beitrag vor, der insbesondere geeignet ist,
die akademische Lehre über die Vor- und
Frühgeschichte des politischen Vereinswe-
sens zu fördern, zugleich aber auch der for-
schenden Annäherung an diesen Gegenstand
von Nutzen sein kann. In seiner umfangrei-
chen Einführung bietet der Autor eine Dar-
stellung der Zusammenhänge wie einen Auf-
rif der Problematik, die noch der weiteren
Erforschung bedarf. Im Anschluß daran
werden 24 Quellentexte geboten, die zu ei-
nem guten Teil der zeitgenössischen Presse,
zu einem geringeren auch der archivalischen
Überlieferung entnommen sind und darum
den weitaus meisten Lesern an dieser Stelle
zum ersten Mal begegnen dürften. Dem fol-
gen ein sehr knapp gehaltener »Forschungs-
bericht« und eine Liste der einschlägigen Li-
teratur.
Über seine primär hochschuldidaktische
Zielsetzung hinaus ist dieses Buch auch als
ein weiterer Schritt zur Erhellung der Ge-
schichte des politischen Assoziationswesens
in der Reaktionszeit zu sehen, durch den
uns die Motivationen und Handlungsbedin-
gungen der Akteure aus der katholischen
Bewegung zugänglicher werden. Kritisch
anzumerken ist nach Meinung des Rez. le-
diglich, daß die internationale Verknüpfung
des politischen Katholizismus stärker hätte
hervorgehoben werden können. Der Name
O’Connell erscheint zweimal (davon einmal
als O’Donnell); Lamennais und Montalem-
bert nie.
Eichstätt Heinz Hürten
Buchbesprechungen
Paul Kennepy: Aufstieg und Fall der großen
Mächte. Ökonomischer Wandel und militäri-
scher Konflikt von 1500 bis 2000. Frankfurt
a. M. 1989. Fischer Verlag. 974 S.
Was auch immer die US-Administration
dazu bewogen hat, auf die Besetzung Ku-
waits durch den Irak nicht nur sehr frühzei-
tig mit einer ihrer massivsten Militäropera-
tionen seit dem Vietnamkrieg zu reagieren,
um den Aggressor zu vertreiben, sondern
auch politisch innerhalb der Vereinten Na-
tionen die Initiative an sich zu reißen: ein
Motiv dürfte sicherlich gewesen sein, durch
diese Demonstration politischer Führungs-
kraft und technischer Überlegenheit den
Glauben an die eigene Starke wiederzufin-
den. Eine solche Interpretation gewinnt in-
sofern an Glaubwiirdigkeit, als sich die Not-
wendigkeit einer solchen Demonstration aus
einer Mitte der achtziger Jahre innerhalb der
USA entfachten Debatte über den schwin-
denden Einfluß Amerikas in der Weltpolitik
ergab, deren Höhepunkt mit der Veröffent-
lichung des Buches von Paul Kennedy er-
reicht wurde. Kennedys Buch gab der in
Amerika weitverbreiten Stimmung ein theo-
retisches Gerüst, deren wesentliche Merk-
male zwei ehemalige US-Außenminister,
Henry Kissinger und Cyrus Vance, 1988 in
einem gemeinsamen Beitrag in Foreign Af-
fairs wie folgt zusammenfaßten: »Bis zum
Ende dieses Jahrhunderts werden sich einige
der Pfeiler, auf denen nach dem Zweiten
Weltkrieg die globale Ordnung errichtet
worden ist, beträchtlich verändert haben.
Was die Vereinigten Staaten berrifft, so
kann von ihrem atomaren Monopol schon
längst keine Rede mehr sein. Unser Anteil
an der Weltwirtschaft wird dann nicht ein-
mal mehr halb so groß sein wie vor vierzig
Jahren ... Trotz unserer großen militärı-
schen Stärke verringern sich unsere Mög-
lichkeiten, die Welt nach unseren Überzeu-
gungen zu gestalten. Wir können es uns fi-
nanziell nicht mehr leisten, aus eigener Kraft
international so viel zu bewirken wie in der
Phase unmittelbar nach dem Krieg.«
Die Gründe für den »Niedergang« ‘sieht
Kennedy darin, daß Amerika seit dem Ende
des Zweiten Weltkrieges an einer »imperia-
len Überdehnung« leidet. Im Bemühen, auf
der ganzen Welt militärisch präsent zu sein,
habe sich das Land wirtschaftlich übernom-
men und kranke infolgedessen an hoher
Verschuldung, Zerrüttung der Infrastruktur
ZfP 40. Jg. 3/1993
349
und immer geringer werdender Mittel für
Bildung und Forschung. Dies wiederum
lasse das Wirtschaftswachstum hinter dasje-
nige anderer Länder fallen, so daß es immer
schwerer falle, die Rolle der allgegenwärti-
gen Militärmacht weiterzuspielen. Ange-
sichts dieser militärischen und wirtschaftli-
chen Probleme sei Amerika, so die zentrale
These Kennedys, »eine Weltmacht auf dem
Abstieg«.
Obgleich das Buch insbesondere wegen
des 8. Kapitels (S. 648-787), in dem Ken-
nedy die Umrisse einer Weltordnung des
21. Jahrhunderts skizziert, die sich, so die
These, auf eine multipolare Welt mit fünf
Machtzentren zuzubewegen scheint — neben
den Vereinigten Staaten als »Nummer eins
im relativen Abstieg«, die Sowjetunion, Ja-
pan, China und die EG -, lange Zeit die
Bestsellerlisten in den USA anführte, enthält
es mehr als »spekulative Spielereien«. Denn
Kennedy versucht die Folgen »imperialer
Überdehnungen« durch fünf Jahrhunderte
zu untersuchen. Seine Kernthese wird dabei
durch die historische Beobachtung bestätigt,
daß ein Staat, der sich strategisch überdehnt
oder kostspielige Kriege führt, Gefahr läuft,
daß die potentiellen Vorteile dieser äußeren
Expansion von den Kosten der ganzen
Unternehmung überschattet werden - ein
Dilemma, das akut wird, wenn die betrof-
fene Nation in eine Phase relativen wirt-
schaftlichen Abstiegs eintritt (S. 12). Durch
die historische Untersuchung belegt er fer-
ner eine weitere »Gesetzmäßigkeit« der Dia-
lektik von Macht und Verfall, nämlich den
Umstand, daß der Wohlstand in der Regel
notwendig ist, um militärische Macht abzu-
stützen, und militärische Macht ist in der
Regel notwendig, um Wohlstand zu erwer-
ben und zu schützen. Insbesondere die hi-
storische Betrachtung der letzten fünfhun-
dert Jahre dient ihm dazu, nachzuweisen: er-
stens, daß es »eine Dynamik der Verände-
rung gibt, die hauptsächlich von wirtschaftli-
chen und technologischen Entwicklungen
angetrieben wird, die sich dann auf die So-
zialstruktur, das politische System, die mili-
tarische Macht und die Position der einzel-
nen Staaten und Reiche auswirken« (S. 649);
zweitens, daß »das ungleichmäßige Wirt-
schaftswachstum langfristige Auswirkungen
auf relative militärische Macht und strategi-
sche Position der Mitglieder des Staatensy-
stems gehabt hat« (S. 650). Jenseits seines
aktuellen und US-spezifischen Teils verdient
350
das Buch in dreierlei Hinsicht besondere Be-
achtung: Zum einen gelingt es ihm, plausibel
zu machen, daß sich diese »Gesetzmäßig-
keit« im Laufe der vergangenen fünf Jahr-
hunderte nicht verändert hat. Zweitens lie-
fert er, indem er seine historische Untersu-
chung der Feststellung solcher Fragen wid-
met, ein umfassendes Werk mit vielen De-
tails über die Geschichte der internationalen
Beziehungen. Drittens liefert er vor der Be-
handlung seiner zentralen Fragestellung -
beginnend mit einer Abhandlung über den
»Griff der Habsburger nach der Macht,
1519-1659« — eine originelle Interpretation
über die Gründe des Aufstiegs der west-
lichen Welt im Vergleich sowohl zu Ming-
China und der Moslemischen Welt, die wohl
in dieser Phase zivilisatorisch erheblich wei-
ter als Europa waren, als auch zu Japan und
Rußland. Seine These lautet: Der Aufstieg
Europas war möglich, weil alle diese »Rei-
che« unter einer zentralisierten Autorität lit-
ten, die nicht nur auf Uniformität religiöser
und gesellschaftlicher Praxis bestand, son-
dern auch des kommerziellen Sektors der
Waffenentwicklung. In Europa hingegen
fehlen sowohl eine solche derartige höchste
Autorität wie auch Hemmnisse und Hinder-
nisse für Neuerungen.
Wenngleich die Lektüre des 795 Seiten
umfassenden Textes des Buches — die 195
Seiten Anmerkungen und 56 Seiten Biblio-
graphische Angaben sind wohl ohnehin für
»Experten« gedacht!! — sicherlich viel Ge-
duld erfordert, erleichtern die überaus gute
Aufbereitung und übersichtliche Darstel-
lungsweise ebenso wie die klare Sprache ein
solches Unterfangen. Grund genug, dem
Buch auch in Deutschland eine weite Ver-
breitung zu wünschen. Zumal nicht nur die
Begleitumstände des Golfkrieges — etwa die
»Finanzierung« der Operation »Wüsten-
sturm« durch Japan, Deutschland und die
betroffenen Staaten Kuwait und Saudi-Ara-
bien — wahrlich kein Indiz für eine intakte
Supermachtrolle der USA sind, sondern
auch der Zerfall der anderen Supermacht die
von Kennedy historisch aufgezeigte uner-
bittliche Dialektik vom Abstieg der Hege-
monialmächte bestätigt: daß zwar der Auf-
stieg hegemonialer Mächte auf deren dko-
nomischer Leistungsfähigkeit aufbaue und
ihr militärisches Potential von dieser Grund-
lage abhänge, doch da sie dazu tendieren,
ihre Aktivitäten zu überdehnen, vernachlässi-
Kritik
gen sie zugleich die Grundlagen ihrer Macht
und leiten damit ihren Niedergang ein.
München Mir A. Ferdowsi
Hans-Georg EHRHART: Die europäische Her-
ausforderung. Frankreich und die Sicherheit
Europas an der Jahrhundertwende. Baden-Ba-
den 1990. Nomos Verlagsgesellschaft. 198 S.
Rezensenten erleichtert es ungemein die Ar-
beit, wenn Autoren wissenschaftliche For-
schung als bloßen »Reflex« (S. 9) der politi-
schen Entwicklung betrachten. Lassen wir
dieses Theorem durchgehen, dann ist diese
ım November 1989 abgeschlossene Arbeit
von der weiteren politischen Entwicklung
überholt und obsolet gemacht worden. Inso-
fern verdiente sie historisches Interesse: Es
geht um nichts geringeres als Frankreichs
Stellenwert »an der Jahrhundertwende«.
Dieser Stellenwert ist jedoch durch die
deutsch-deutschen Ereignisse verändert
worden: Deplazierung Frankreichs vom geo-
politischen und geostrategischen Zentrum
zur Peripherie bei gleichzeitiger Umsetzung
ökonomischer Potenz der Bundesrepublik in
politische des neuen Deutschlands.
Doch ganz so schlimm steht es nicht. Ei-
nige Umakzentuierungen würden genügen,
um die Angelegenheit wieder ins Lot zu
bringen. Dem Autor geht es um die Frage,
wie die französische Sicherheitspoliuk sich
in den achtziger Jahren entwickelt hat und
welche Perspektiven sich für die europäische
Sicherheit ergeben (S. 13). Fünf Bereiche hat
er dazu unter die Lupe genommen: die fran-
zösische Militär- und Verteidigungspolitik,
die Rüstungskontrolle, die »deutsche
Frage«, die Europapolitik (hier mehr verun-
klarend denn klärend unter »Europäisierung
Europas« geführt) und schließlich die Per-
spektiven. Bereits von der Anlage her ist die
Arbeit eher deskriptiv denn analytisch kon-
zipiert, ein Eindruck, der sich im Fortgang
der Lektüre bestätig. Damit soll die eigen-
ständige Leistung, die französische Gemen-
gelage dem deutschen Leser nahezubringen,
nicht geschmälert werden. Minutiös und de-
tailliert werden die Fakten aus den einzelnen
Bereichen dargelegt, beispielsweise die Waf-
fenexporte oder die Position bei der Rü-
stungskontrolle, wo Frankreich außen vor
bleibt. Frankreich gehört zu den fünf standi-
gen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates
Buchbesprechungen
und ist die drittgrößte Atommacht der Welt.
Insgesamt eine gediegene, kenntnisreiche, in
sachlichem Stiel verfaßte Arbeit, die sich
vornehmlich an Spezialisten wendet; denn
eine Einordnung in den Gesamtbereich der
Aufenpolitik erfolgt nicht.
Berlin W. Kowalsky
Michael Walzer: Zweifel und Einmischung.
Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert. Frank-
furt 1991. S. Fischer. 352 S.
Der Verf. dieses anregenden Buches, der in
Princeton Sozialwissenschaften lehrt, ist
dem deutschen Leser nicht unbekannt: 1982
erschien die Übersetzung seines Buches Just
and Unjust Wars, 1988 die des Buches Ex-
odus and Revolution. Sein vermutlich bedeu-
tendstes Werk Sphere of Justice (1983) ist in-
zwischen übersetzt worden; in ıhm ver-
suchte Walzer u.a. zu zeigen, daß morali-
sche Grundsätze nichts Abstraktes, sondern
in die Alltagswelt eingebettet sind, und des-
halb Gesellschaftskritik möglich ist, die
nicht im Namen einer Ideologie, sondern in
jenem der verborgenen Grundsätze einer
Gesellschaft geführt wird.
Im vorliegenden Band stellt Walzer elf
Gesellschaftskritiker vor, deren Namen all-
gemein bekannt sind, die jedoch häufiger zi-
tiert werden, als man darüber nachdenkt,
was sie bewegt hat: Julien Benda und seine
berühmte Trahison des clercs; den Amerika-
ZfP 40. Jg. 3/1993
351
ner Randolph Bourne, der leidenschaftlich
den Eintritt der Vereinigten Staaten in den
Ersten Weltkrieg anprangerte; Martin Bu-
ber, der unter dem treffenden Titel »Suche
nach Sion« analysiert wird; Antonio
Gramsci und seine im Gefängnis geschrie-
bene Kritik der Phantasielosigkeit des Mar-
xismus; Ignazio Silones Verteidigung des
»Natürlichen«; George Orwell (und hier ins-
besondere dessen Englandkritik); Albert Ca-
mus’ Algerienengagement; Simone de Beau-
voir und ihre Kritik der »angepaßten Frau«;
Herbert Marcuses Kritik des westlichen Ka-
pitalismus; Michel Foucault, und Breyten
Breytenbach mit dessen Kritik der südafri-
kanischen Apartheid. Das Wohltuende an
diesen Analysen ist ihre weitgehende Ideolo-
gielosigkeit und ihre Gescheitheit: Walzer
sucht einfach zu verstehen, was die erwähn-
ten Männer und Frauen bewegt hat, »Män-
ner und Frauen, die ıhre Existenz durch die
Revolte formen lassen, ohne sich den Orga-
nisatoren und den neuen Amtsträgern aus-
zuliefern« (S. 307). »Die meisten Gesell-
schaftskritiker, die erwas taugen, leben ohne
Handbuch, und was sie tun, was mit ıhnen
geschieht, ıst komplizierter und interessan-
ter, als das Stereotyp vermuten läßt«
(S. 308); das Stereotyp, das der Verf. meint,
ist dasjenige der Linken, weshalb sein Buch,
obwohl von links aus geschrieben, gegen die
sich als orthodox ansehende Linke mit ihrer
blinden Verpflichtung auf eine Ideologie ge-
richtet ist.
Eichstätt Nikolaus Lobkowicz
Autoren dieses Heftes
Dr. Henning Ottmann, Professor fir politische Philosophie an der Universitat
Basel
Dr. Heinz-Jürgen Axt, Privatdozent, externer wissenschaftlicher Mitarbeiter bei
der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen
Dr. Zsolt K. Lengyel, externer wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ungarn-Institut
der Universität München
Dr. Stefan Fröhlich, wissenschaftlicher Assistent am Institut für politische Wissen-
schaften der Universität Bonn
Günter Rieger, Doktorand im Fach Politische Wissenschaft an der Universität
Augsburg
Nachruf auf Rudolf Wildenmann
Mit Rudolf Wildenmann, der am 14. Juli 1993 im Alter von 72 Jahren verstorben
ist, hat die deutsche politische Wissenschaft einen international anerkannten Ver-
treter verloren, der in die klassischen Schulen dieses Faches nicht einzuordnen ist.
Der langjahrige Ordinarius aus Mannheim ist einer breiten Offentlichkeit als
Wahlforscher bekannt geworden. In der Tat war er in Deutschland Wegbereiter
für die verschiedenen Ansätze der empirischen Sozialforschung, aber er war bei
weitem kein Fliegenbeinzähler, wie die studentische Opposition Ende der sechzi-
ger Jahre die Versuche der empirischen Untermauerung der politischen Wissen-
schaft zur Rettung ihrer Ideologie zu diffamieren suchte. Im Gegensatz zu den
damaligen Ideologen war seine Verachtung für die Fachvertreter, die mit immer
größerer statistischer Finesse dem Datenmaterial zu Leibe rücken, ohne dadurch
Politik zu verstehen, nur durch die milde Abgeklärtheit eines Wissenschaftlers
getrennt, für den solche Daten nicht Selbstzweck, sondern Instrument für das Ver-
stehen von Politik sind.
Verstehen von Politik, das war sein Erkenntnisziel im Sinne des Neopositivis-
mus: daß es die Funktion sozialwissenschaftlicher Theorien ist, politisch-soziale
Ereignisse zu beschreiben, zu erklären und vorauszusagen. In diesem Sinne war er
Theoretiker. Dazu konzentrierte er sich auf die Theorien der Wirkungsweise von
politischen Institutionen auf die Prozesse der Willens- und Machtbildung sowie
der Machtausübung und -kontrolle. In diesem Sinne war er Institutionalist, ohne
verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeiten abzuhaken. In der Kombination
dieses institutionellen Ansatzes mit der empirischen Erhebung der sozialen Wirk-
lichkeit lag sein wissenschaftliches Bemühen, und dies im Bereich der Innen- wie
in der Außenpolitik. Auch hier sprengte er die Schulgrenzen zwischen Innen- und
Außenpolitik. Außenpolitik war für ihn das Ergebnis innenpolitischer Willensbil-
dungsprozesse unter Einbeziehung zusätzlicher Variablen, die man vereinfachend
unter dem Begriff strategische Lage zusammenfassen kann.
Rudolf Wildenmann wußte auch, daß die politisch-soziale Wirklichkeit umfas-
sender ist als das, was auch durch die ausdifferenziertesten Methoden der empiri-
schen Sozialforschung erhoben werden kann. Er praktizierte als gelernter Journa-
list, was die Methodiker teilnehmende Beobachtung nennen, wissend, daß diese
nur ergebnisträchtig ist, wenn man vertrauliche Informationen erhält, aus ihnen
reflektierende Schlüsse zieht, die Informationen selbst aber nicht auf dem Markt
ausbreitet. So wirkte er wie kaum ein zweiter an der Nahtstelle zwischen Wissen-
schaft und Politik. Er war weder korrumpierter Mitpolitiker noch politikferner
Analytiker. So mußte mancher Mächtige sich unbequeme Wahrheiten von ihm
anhören, aber jeder konnte sie aufnehmen, weil er wußte, daß Rudolf Wilden-
mann sich nicht damit brüsten würde, der Ideengeber gewesen zu sein.
Seine drei großen Bücher, die Dissertation über das Verhältnis zwischen Regie-
rung und Mehrheitsfraktion, die Habilitation über das Verhältnis von Macht und
ZfP 40. Jg. 3/1993
354 Nachruf
Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik und sein Spätwerk mit dem
etwas journalistischen Titel »Volksparteien - ratlose Riesen?« vermitteln für denje-
nigen, der auch zwischen den Zeilen, die zu formulieren für Rudolf Wildenmann
Kunst war, lesen kann, diese analytische Verarbeitung politischer Wirklichkeit.
Professor Dr. Werner Kaltefleiter,
Institut für Politische Wissenschaft
der Christian-Albrechts-Universität, Kiel
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ZEITSCHRIFT
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ae Ss Soe RN POLITIK
ae von Wihelm Cornides l
ds EUROPA-ARCHIV ist die: EUROPA-ARCHI
Zeitschrift ter Deiitschen. Set 1846
Gesellschaft fiir A Politik:
. M ee und. Mit den. jetzt vorhegenen 47 Jährgängen. stelit das EUROPA-
‚unähhängigen: Einrichtung in Bonn. ARCHIV ein einzigarhges. Sammel- und Nachschlagewerk dar.
ae erscheint zweimal im Monat. Det Laser und ae
‚die: entstheidenden Dokumente zur internationalen Polftik in
Jade Folge pritat Beiträge zu deutscher Über
aktuotien Problemen der. Zeitschrift angehende Analysen: aktueller Probleme, die von
<Gdomatonaten. Politik, eine einem weltweiten Autorenkreis verfaßt, sind. ‚Die einzelnen:
f Kann darauf vertrauen; in diesen ee fe a SR
setzung zu finden: Darüber hinaus enthält die 1°.
ANA Dokumentation sowie Jahrgänge werden durch detailierte Register erschlssen, Der A ae:
-pë Zeittatel Ht. den wichtigsten Infofmatioriswert des EUROPA -ARCHIV ist dahar von:
_ Ereignissen des Weltgeschehens. bleibandem Wert: Die Zeitschrift ist far jeden; der-sich beni Se 2
= Dazu kommi sme monatliche. ater. aus persönlichem: Interesse mit Problemen der.
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Inhaltsverzeichnis
Seite
Aufsätze
Prof. Dr. Henning Ottmann, Basel: Hegel und Carl Schmitt .............. 233
PD Dr. Heinz-Jürgen Axt, Berlin: Kooperation unter Konkurrenten.
Das Regime als Theorie der außenpolitischen Zusammenarbeit der
E@-Stasten sam ee ers boas 241
Dr. Zsolt K. Lengyel, München: Warten auf das Wunder. Dilemmata des
Systemwandels in Ungarn 1990-1992 .......... cc cece cece cee nenn 260
Dr. Stefan Fröhlich, Bonn: Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional.
Amerikanische Vorstellungen auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen
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Kritik
Literaturbericht
Günter Rieger, Augsburg: Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie?
Zur Diskussion um den Kommunitarismus..............-----02ee eee 304
Buchbesprechurigen..22-0.04 33.200 beet rear 333
Autoren dieses Heftes ...........00 0. ccc cece cent tenet nennen nen 352
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H $4. Dezember 1993 - Gegriindet 1907 A 8540 F
UHR ——— 220000000000
ZEITSCHRIFT
FÜR POLITIK
Organ der Hochschule für Politik München
Aus dem Inhalt:
Karlfriedrich Herb: Naturgeschichte und Recht
Jerzy Maćków: Entspannungspolitik der Bundesrepublik
Deutschland in Polen
Christoph Gusy: Die Reformdiskussion der Weimarer
Reichsverfassung
Michael Thöndl: Das Politikbild von Oswald Spengler
Lothar Fritze: Entmystifizierung der Idee der Nation
“UNIV. OF MICH.
JAN 26 1994
CURRENT SERIALS
R ZfP Jahrgang 40 Heft 4 Dezember 1993 S. 355-468 ISSN 0044-3360
CARL HEYMANNS VERLAG - KÖLN - BERLIN - BONN > MÜNCHEN
Zeitschrift fiir Politik
Organ der Hochschule für Politik München
(Zitierweise: ZfP)
Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt
Herausgegeben von: Dieter Blumenwitz, Rupert Hofmann, Franz Knöpfle,
Nikolaus Lobkowicz, Hans Maier, Henning Ottmann, Mohammed Rassem,
Theo Stammen
Redaktion: Karl-Heinz Nusser
Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher, Karl W. Deutschf,
Friedrich Karl Fromme, Utta Gruber, Peter Haberle, Wilhelm Hennis,
Ferdinand Aloys Hermens, Friedrich August Frhr. von der Heydte, Christian
Graf von Krockow, Hermann Liibbe, Niklas Luhmann, Theodor Maunz,
Dieter Oberndörfer, Hans Heinrich Rupp, Fritz Scharpf
Redaktion
Prof. Dr. Karl-Heinz Nusser, Ludwigstraße 8, 80539
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ZEITSCHRIFT FUR POLITIK
JAHRGANG 40 (NEUE FOLGE) . HEFT 4 . 1993
Karlfriedrich Herb
Naturgeschichte und Recht
Rousseaus Weg vom Discours sur l'inégalité zum Contrat social*
Ein Ton der Resignation schwingt mit, als Rousseau! im Frühjahr 1762 sein staats-
philosophisches Hauptwerk veröffentlicht. Denn was er — auf gerade einmal
zweiundsiebzig Druckseiten — als seine Prinzipien des Staatsrechts vorlegt, ist bei
weitem nicht die Ausführung jenes ehrgeizigen Unternehmens der Institutions poli-
tiques, das ihn seit Beginn der vierziger Jahre beschäftigt und von dem er sich seine
Reputation als politischer Philosoph versprach ?. Ein solches Unternehmen, gesteht
Rousseau, sei über seine Kräfte gegangen’. Infolgedessen könne die »kleine
Abhandlung (petit traité)«, der er nach einigem Zögern den Titel Du contrat social
gibt‘, allenfalls als »Auszug (extrait)« aus jenem größeren Werk bezeichnet wer-
* Ich danke der Fritz-Thyssen-Stiftung für die großzügige Förderung meines Forschungs-
aufenthalts an der Maison des sciences de Phomme und am Centre de recherche en épisté-
mologie appliquée (Paris) 1991/92.
Rousseaus Schriften werden, wo nicht anders vermerkt, nach der folgenden Ausgabe
zitiert: Jean-Jacques Rousseau, Oeuvres completes. Ed. B. Gagnebin / M. Raymond, Paris
1959 ff. Die deutschsprachigen Zitate des Diskurs über die Ungleichheit entstammen der
kritischen Ausgabe von Heinrich Meier, Paderborn/München/Wien/Zürich 1984.
2 In den Confessions schreibt Rousseau ım Frühjahr 1756 rückblickend: »J’&tois assez magni-
fique en projets ... Des divers ouvrages que j’avois sur le chantier, celui que je méditois
depuis plus longtems, dont je m’occupois avec le plus de gout, auquel je voulois travailler
toute ma vie, et qui devoit selon moi mettre le sceau à ma réputation étoit mes Institutions
politiques. Il y avoit treize à quatorze ans que j'en avois conceu la prémiére idee,
lorsqu’étant à Venise j’avois eu quelqu’occasion de remarquer les défauts de ce Gouverne-
ment si vanté« (Confessions, Bd. I, S. 404).
»Je dois vous dire«, schreibt Rousseau am 18. Januar 1762 an Moultou, »que je fais impri-
mer en Hollande un petit ouvrage qui a pour titre Du contract social ou Principes du droit
politique, lequel est extrait d'un plus grand ouvrage, intitulé /nstitutions politiques, entrepris
il y a dix ans, et abandonné en quitant la plume, entrepris qui, d’allieurs, étoit certainement
au-dessus de mes forces« (Correspondance Générale, Bd. VII, S. 63 f.).
4 Zwischenzeitlich sollte das Werk De la Société Civile heißen. Auch beim Untertitel experi-
mentierte Rousseau zunächst (Essai sur la constitution de l’état/sur la formation du corps
politique / sur la formation de l'état / sur la forme de la République), bis er sich schließlich für
Principes du droit politique entschied (vgl. Bd. III, S. 1410).
kote
LON)
7fP 40. Jg. 4/1993
24
356 Herb . Naturgeschichte und Recht
den’. Dieses selber ist am Ende bloßes Projekt geblieben. Was nur ein Teil des
Ganzen sein sollte, war am Ende schon das Ganze.
Rousseaus schmales Hauptwerk zur Rechts- und Staatsphilosophie scheint nun
nicht nur im Hinblick auf die ursprünglich geplanten /nstitutions politiques ein
Fragment geblieben zu sein. Auch an sich selbst betrachtet weist es, was seine Kon-
zeption angeht, durchaus etwas Fragmentarisches auf. Denn obwohl der Contrat
social schon mit seinem Titel ein programmatisches Bekenntnis zur Tradition des
staatsphilosophischen Kontraktualismus ablegt, fehlt ihm gerade der für diese Tra-
dition buchstäblich »grundlegende« Theorieteil, die Lehre vom Naturzustand. Auf
den »status naturalis«, der doch im Selbstverständnis der neuzeitlichen Tradition
die Propädeutik zur Lehre von Recht und Staat abgeben und den eigentlichen
Referenzpunkt der gesamten »architectonica politica«® bilden soll, kommt Rous-
seau im Contrat social allenfalls einmal am Rande zu sprechen. Gegenstand einer
eigenständigen Erörterung wird die Theorie vom Naturzustand dort jedoch
nicht”.
Dieser bemerkenswerte Umstand, daß Rousseau seine Theorie vom Contrat
social im Lichte des vertragstheoretischen Begründungsprogramms gewissermaßen
ohne konzeptionelles Fundament vorträgt, ist von den Interpreten aber bislang
eher beiläufig registriert worden — oder mit Blick auf die eigentümliche Entste-
hungsgeschichte der Rousseauschen Staats- und Rechtsphilosophie erklärt wor-
den. Das Fundament des Contrat social habe Rousseau danach bereits in einer frü-
heren Schrift gelegt: in dem Mitte der fünfziger Jahre erschienenen Discours sur
l’origine et les fondements de l’inegalite parmi les hommes, der eine ausführliche
Theorie vom natürlichen Zustand liefert. Nach diesem Erklärungsmuster treten
beide Werke in einen unmittelbaren Zusammenhang, in dem der Discours die
Funktion einer Propädeutik oder Grundlegung der Rousseauschen Staatsrechts-
prinzipien erhält®. Diesen Zusammenhang hat Rousseau nach Meinung solcher
Interpreten möglicherweise angedeutet, rede er selbst doch schließlich davon, ım
5 »Ce petit trait& est extrait d’un ouvrage plus &tendu, entrepris autrefois sans avoir con-
sulté mes forces, et abandonné depuis long-tems. Des divers morceaux qu’on pouvoit
tirer de ce qui étoit fait, celui-ci est le plus considérable, et m'a paru le moins indigne
d’etre offert au public. Le reste n’est déja plus« (CS, Avertissement, Bd. III, S. 349, vgl.
hierzu Confessions, Bd. I, S. 516).
6 »isthac doctrina«, heißt es bei Pufendorf ganz im Sinne der opinio communis in bezug
auf die Naturzustandstheorie, »suo sibi jure principem in politica architectonica vindicar
locum« (De statu naturali, Dissertationes Academicae Selectiores, Lund 1673, S. 584).
7 Ch. E. Vaughan bemerkt dazu lakonisch: »In the definite text (des CS, K.H.), the state of
nature, which forms the necessary preliminary to the Contract, is dismissed in a few phra-
ses which leave us no wiser than we were before« (Ch. E. Vaughan (H.), The Political
Writings of J.-J. Rousseau, Cambridge 1915, Bd. I, S. 441).
8 Exemplarisch und wirkungsmächtig das Verdict von Robert Derathé: »Le Discours sur
l'inégalité sert d'introduction au Contrat social et ne doit pas en ètre separe« (Jean Jacques
Rousseau et la sctence politique des son temps, Paris 2. Aufl. 1979, S. 131), mit dem dieser
die Kommentierung der politischen Schriften Rousseaus in der Pleiade-Ausgabe mafigeb-
lich bestimmt hat.
Herb . Naturgeschichte und Recht 357
Discours — einem »Werk von größerer Wichtigkeit« — seine »Prinzipien« bereits
»vollständig« entwickelt und schon hier alle theoretischen Wagnisse des Contrat
social vorweggenommen zu haben’.
So verlockend es sein mag, Rousseau mit diesem Bekenntnis als Zeugen in eige-
ner Sache aufzurufen, und so überzeugend der Rückgang vom Contrat social auf
den Discours zunächst erscheinen mag, so birgt dieser Interpretationsansatz doch
ein grundsätzliches Problem. Rousseau verfolgt nämlich in beiden Werken offen-
sichtlich ganz unterschiedliche systematische Perspektiven. Die Thematisierung
des Ursprungs der »société civile« ist in beiden Werken jeweils unterschiedlichen,
ja konkurrierenden Interessen verpflichtet; ein Umstand, auf den Rousseau,
ansonsten eher geizig mit Auskünften über seine methodischen und systemati-
schen Motive’, selbst aufmerksam gemacht hat. So setzt er die Problemstellung
des Contrat social deutlich gegen die der früheren Schrift ab: Die naturwüchsige
Genesis der bürgerlichen Gesellschaft, die der Discours nachzeichnet, spielt für den
Autor der Principes du droit politique keine Rolle mehr: Nicht die Entstehung, son-
dern die rechtliche Legitimität des »status civilis« wird hier zum Problem. Darin
liegt ein methodischer Neuansatz, den Rousseau selbst als einen Übergang zur
»quaestio Juris« verstanden hat. Um so fragwürdiger muß es erscheinen, die Inter-
pretation des Rousseauschen Staatsrechts mit der Hypothek der Fundierung in sei-
ner Geschichtsphilosophie zu belasten. Von Rousseau selbst fehlt jedenfalls jeder
ausdrückliche Hinweis, der eine solche Fundierung des Contrat social forderte —
oder erlaubte.
9 »Jeus bientôt occasion de les (mes principes, K.H.) developper tout à fait dans un ouv-
rage de plus grande impertance«, heißt es in den Confessions (Bd. I, S. 388) mit Bezug auf
den zweiten Discours. Und später: »Tout ce qu’il y a de hardı dans le Contrat social étoit
auparavant dans le Discours sur l’inegalite« (Bd. I, S. 407). Auf diese Aussagen beruft sich
auch Leo Strauss, wenn er den Discours mit einem Superlativ als »Rousseaus philoso-
phischstes Werk« herausstellt und - ähnlich wie Derathé, aber aus anderen Motiven - zur
»Grundlage« des Contrat social erklärt (Naturrecht und Geschichte, Frankfurt 1977,
S.275 f.). Der Discours »erzählt die Geschichte des Menschen, um jene staatliche Ord-
nung zu entdecken, die mit dem Naturrecht übereinstimmt« (ebd.). Die Auffassung
erweist — wie die folgenden Ausführungen zeigen werden — sowohl hinsichtlich der
Bedeutung der Naturgeschichte für das Staatsrecht wie auch bezüglich des Zusammen-
hangs von natürlichem und politischem Recht als fragwürdig.
10 Vgl. die Gegenüberstellung von Faktums- und Geltungsproblematik im Discours (Bd. III,
S. 122, 178, 182, 191), im Genfer Manuskript CSMS (Bd. III, S. 297, 305) und im CS
(Bd. III, S. 353, 354). Im Emile liefert Rousseau, bei Gelegenheit des Resümees der
Staatsrechtsprinzipien, eine wichtige methodologische Bemerkung, mit der er den Con-
trat social als Ganzes auf das Niveau einer normativen Theorie hebt: »Avant d’observer, il
faut se faire des régles pour ses observations: il faut se faire une échelle pour y rapporter
les mesures qu’on prend. Nos principes de droit politique sont cette échelle. Nos mesures
sont les loix politiques de chaque pays« (Bd. IV, S. 837). Vermittels dieser Metabasis sind
die deskriptiven Bestimmungen der Republik in normativ-praktische, urteils- und hand-
lungsleitende Ideen zu übersetzen. Die Theorie des Contrat social wird damit — ab extra —
zu einer Theorie der »respublica noumenon« (Kant, Streit der Fakultäten, AA Bd. VII,
S.91) erklärt.
ZfP 40. Jg. 4/1993
248
358 Herb . Naturgeschichte und Recht
Wenn ich im folgenden versuche, einiges Licht in die komplexen Begriindungs-
zusammenhänge des Rousseauschen Staatsrechts zu bringen, so möchte ich damit
gerade Zweifel an dem entwicklungsgeschichtlichen Interpretationsmuster nähren
und demgegenüber für eine prinzipientheoretische Lektüre des Contrat social aus
sich selbst heraus plädieren, nämlich allein aus den dort vorgetragenen Grundsat-
zen. Daß ich mich zunächst dennoch dem Discours zuwende, hat vor allem folgen-
den Grund: Schon für diese frühe Schrift läßt sich zeigen, daß die Naturzustands-
theorie kein Fundament abgibt für die Prinzipien des politischen Rechts, die Rous-
seau dort bereits im Ansatz entwickelt. Die Lektüre des Discours macht darüber
hinaus deutlich, daß schon hier Rousseaus entwicklungsgeschichtlichen und
rechtsphilosophischen Interessen miteinander konkurrieren.
In einem zweiten Schritt werde ich mich einem Rousseauschen Text widmen,
der für die Frage des Zusammenhangs zwischen Naturzustand und Vertrag von
unmittelbarem Interesse ist: die Erstfassung des Contrat social, das sog. Genfer
Manuskript (CSMS). Anders als in der publizierten Fassung wird das Problem des
Naturzustands dort noch ausführlich behandelt. Mein Interesse gilt der systemati-
schen Intention, die Rousseau hier verfolgt, und den Konsequenzen, die sich aus
der Überarbeitung für die Konzeption der »endgültigen« Staatsphilosophie im
Contrat social ergeben.
Zum Schluß möchte ich zeigen, daß Rousseau dem Naturzustandsmodell im
Contrat social nur noch eine äußerst bescheidene Funktion beimißt und damit eine
methodische Restriktion vornimmt, die für seine Theorie legitimer Herrschaft
inhaltlich und konzeptionell von weitreichender Konsequenz ist.
Zwar möchte ich mich im folgenden auf die Systematik der Rousseauschen
Rechts- und Staatsphilosophie konzentrieren; dennoch vertrete ich in meiner
Argumentation zugleich — und zwangsläufig — eine entschiedene Position zu deren
Entstehungsgeschichte. Diese Geschichte verläuft — und dies möchte ich gewisser-
maßen am Rande zeigen — aufs Ganze gesehen kontinuierlich. Man findet in ihr
keinen fundamentalen Umbruch, der eine grundsätzliche Revision des ursprüngli-
chen Ansatzes verlangt und zu einer ganz anderen Theorie geführt hatte. Es gibt
— allerdings — Brüche in Rousseaus Theorie. Sie lassen sich indes nicht werkge-
schichtlich datieren, sondern sind Ausdruck heterogener systematischer Interessen,
die Rousseau durchgängig, in seinen frühen wie in seinen späten Schriften, ver-
folgt. Die Konkurrenz dieser Interessen ist es, die den Rousseauschen Principes
11 Daß es in Rousseaus Denken zwischen 1755 und 1762 einen grundsätzlichen Umbruch
gibt, in dessen Verlauf sich Rousseau mit der gesamten neuzeitlichen Staatsphilosophie
konfrontiere, versucht Reinhard Brandt in seinem Buch Rousseaus Philosophie der Gesell-
schaft (Stuttgart-Bad Cannstatt 1973) zu zeigen, welches das Anliegen Vaughans auf-
nımmt und weiterführt. Zur Kritik dieses Ansatzes siehe M. Forschner, »Zur Entwick-
lungsgeschichte von Rousseaus Rechts- und Staatsphilosophie« in: Zeitschrift für philoso-
phische Forschung 31, (1977), S. 217-233.
12 Dies zeigt sich insbesondere in Rousseaus Rezeptionsbezügen zu Hobbes und Locke.
Nachfolge und Distanzierung sind hier nicht zeitlich fixierbaren Phasen in Rousseaus
intellektueller Entwicklung zuzuordnen, sondern resultieren aus unterschiedlichen Frage-
Herb . Naturgeschichte und Recht 359
du droit politique ihre einzigartige — und oft problematische — Gestalt verliehen hat
und letztlich auch sein paradoxes Verhaltnis zur neuzeitlichen Vertragstheorie
prägt. Der Discours sur l’inégalité gibt hierfür ein eindrucksvolles Beispiel.
Rousseau hat mit seinem Discours bekanntlich auf eine Frage der Akademie von
Dijon geantwortet. »Welches ist die Quelle der Ungleichheit unter den Menschen
und, ist sie durch das natürliche Gesetz autorisiert?« lautete die zweigliedrige Aka-
demie-Frage, der Rousseau sogleich eine prinzipiellere, eine geschichtsphilosophi-
sche Wendung gibt. Hatte die Akademie eine Antwort suggeriert, die die gesell-
schaftliche Ungleichheit mit Rekurs auf das natürliche Gesetz kritisiert oder legiti-
miert, so stellt Rousseau den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft als solcher und
die Konzeption des Naturgesetzes als kritische Norm selbst zur Disposition. Der
Naturgesetzbegriff der »Modernen« (Bd. III, S. 124) bedarf, bevor er zum Maß-
stab der Kritik wird, zuerst selbst einer kritischen Untersuchung. Rousseau liefert
sie im Zusammenhang einer kritischen Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen
Vertragstheorie.
Folgt man der programmatischen Ankündigung im Vorwort des Discours, so
macht sich Rousseau die systematische Grundabsicht dieser Tradition durchaus zu
eigen, im Modell des Naturzustandes Aufklärung über die normativen Grundla-
gen des bürgerlichen Zustands zu suchen. Wie seine Vorgänger fühlt auch er die
» Notwendigkeit, ... bis zum Naturzustand zurückzugehen« (Bd. III, S. 132), um
darin die »Grundlagen der Gesellschaft« offenzulegen. So einig er sich in dieser
Aufgabenstellung mit seinen Vorgängern weiß, so vermißt er doch in deren Beiträ-
gen die philosophische Radikalität und methodische Konsequenz, die für eine
erfolgreiche Auflösung dieser Aufgabe notwendig wären. Die fiktive Suspendie-
rung des bürgerlichen Zustands sei bei ihnen bereits mit der Abstraktion von
Recht und Staat zum Stillstand gekommen, die durch diese Institutionen
bestimmte — und deformierte — Natur des Menschen werde aber nicht eigens the-
matisiert. Deshalb seien sie nicht zu einem authentischen Begriff des »homme
naturel« und seiner ursprünglichen Lebensbedingungen im Naturzustand gekom-
men. »Die Philosophen, welche die Grundlagen der Gesellschaft untersucht
haben, haben alle die Notwendigkeit gefühlt, bis zum Naturzustand zurückzuge-
hen, aber keiner von ihnen ist bei ihm angelangt ... alle haben (schließlich) unab-
lassig von Habsucht, von Unterdrückung, von Begehren und von Stolz gesprochen
und damit auf den Naturzustand Vorstellungen übertragen, die sie der Gesell-
stellungen, unter denen die Theorie seiner Vorgänger rezipiert wird. Daß sich Rousseau
gleichermaßen affırmativ und polemisch auf seine Vorgänger bezieht, liegt nicht daran,
daß sich etwa eine frühe Locke-Nachfolge in Feindschaft verwandelt habe (Vaughan)
oder die Hobbessche Theorie vom Gegenstand der Kritik zur Quelle der theoretischen
Inspiration geworden wäre (Derathé); vielmehr sind diese unterschiedlichen Bezüge Aus-
druck eines paradoxen Rezeptionsmusters, wie es für Rousseaus Verhältnis zur Vertrags-
theorie im ganzen bestimmend ıst. Aus einer einmaligen theoretischen Kehrtwende jeden-
falls lassen sich die komplexen Rezeptionsbezüge nicht hinreichend erklären.
ZfP 40. Jg. 4/1993
360 Herb . Naturgeschichte und Recht
schaft entnommen hatten. Sie sprachen vom wilden Menschen und sie beschrieben
den bürgerlichen Menschen« (Bd. III, S. 132).
Indem Rousseau die Frage nach dem veritablen Naturzustand auf diese Weise
unmittelbar zu einer entschieden anthropologischen macht", verändert er die
Erklärungsfunktion des Begriffs: Er verwandelt, gleichsam unter der Hand, das
rechtstheoretische Modell der Tradition in ein geschichtsphilosophisches: Ging es
jener darum, im Modell des »status hominum extra societatem cıvilem« '* die Insti-
tution des bürgerlichen Zustands zu legitimieren und der Staatsgewalt naturrecht-
liche Bedingungen legitimer Herrschaft zu setzen, so bildet das Modell im Discours
den Rahmen für eine umfassende genetische Rekonstruktion des wahren »homme
naturel« und — als Geschichte des Verlustes dieser Ursprünglichkeit — für eine
Rekonstruktion einer mißratenen Zivilisationsgeschichte der Menschheit.
Diese Verschiebung der Fragestellung ist eine heimliche — heimlich, weil Rous-
seau seinen Naturzustandsrekurs anfangs in den Dienst der Entdeckung der nor-
mativen Grundlagen des Staates stellt. Vor diesem Hintergrund muß man die Kon-
troverse verstehen, in die sich Rousseau mit seinen neuzeitlichen Vorgängern
begibt. Wir brauchen uns an dieser Stelle nicht auf die methodischen Prinzipien
und die Inhalte des Rousseauschen Rekonstruktionsvorhabens einzulassen — etwa
die Orientierung an Methoden der empirischen Wissenschaften (vgl. Bd. III,
S. 133, 198), die Inanspruchnahme ethnologischer Forschung (vgl. Bd. III, S. 140),
die Berufung auf subjektive Introspektion (Bd. III, S. 126) —, um zu sehen, daß
sein Modell den Absichten der Tradition gewissermaßen diametral entgegenge-
setzt ist: Was Hobbes, Locke und Pufendorf fraglos zur Naturausstattung des
Menschen und zu seinem Wesen als Rechtssubjekt im Naturzustand rechnen:
praktische Freiheit, Rationalität, Bezogenheit auf Naturgesetz und Naturrecht,
das alles gilt Rousseau bereits als Deformationsmoment des »homme naturel«.
Dieser erweist sich vielmehr als striktes Gegenbild zum »animal rationale et
sociale« der Tradition. Vernunftlosigkeit, Sprachlosigkeit und der Mangel gesell-
schaftlicher Verbindungen sind demgegenüber für Rousseau die ursprünglichen,
wahren Bedingungen der »nature de l’homme«, deren er in der Gestalt des
»homme naturel« habhaft wird. Es sind dies zugleich die Bedingungen, welche die
friedvolle Existenz der Gattung im »Naturzustand« und das geglückte Leben des
einzelnen jenseits von Reflexion und Sozialität garantieren. Von der Naturaus-
13 »Cette même étude de Phomme originel, de ses vrais besoins, et des principes fondamen-
taux de ses devoirs, est encore le seul bon moyen qu’on puisse employer pour lever ces
foules de difficultés qui se présentent sur l’origine de l'inégalité morale, sur les vrais fon-
demens du Corps politique, sur les droits réciproques de ses membres, set sur mille autres
questions semblables, aussi importantes que mal éclaircies« (Bd. III, S. 126).
14 So lautet der Titel des ersten Kapitels von Hobbes’ De Cive. - Hobbes hat im übrigen mit
Bedacht den Plural — »status bominum« — gewählt. Es geht ihm um die Problematik des
Naturzustands in rechtlich-sozialer Perspektive.
15 Darin kommt vor allem eine Distanzierung gegenüber Pufendorfs Apologie des Kultur-
zustands zum Ausdruck, die den Naturzustand als eine negative »fictio contrarii« zur
Herb . Naturgeschichte und Recht 361
stattung dieses »homme naturel« her bestimmt sich das »Bild des wahren Naturzu-
stands«, ein Bild, das Rousseau als kritischer Referenzpunkt fiir seine Auseinan-
dersetzung mit der genuin rechtstheoretischen Naturzustandskonstruktion der
Tradition dient.
Für wie originell man Rousseaus Argumente in dieser Kontroverse, für wie radi-
kal seinen anthropologischen Ansatz, und schließlich für wie gelungen man über-
haupt seine geschichtsphilosophische Revision des neuzeitlichen Naturzustands-
modells halten mag: den Begründungsabsichten seiner Vorgänger wird er mit sei-
ner Kritik gewiß nicht gerecht. Ja, mehr noch, gemessen an deren Absichten
möchte man Rousseaus Alternativkonzeption schon beinahe als Produkt eines,
Mißverständnisses, als Produktivwerden eines entwicklungsgeschichtlichen Res-
sentiments verstehen '*.
Als Kontrastbild zum bürgerlichen Zustand erfüllt der Naturzustand im Dis-
cours zwar die Funktion einer kritischen Norm, dies aber nicht etwa in rechtlich-
normativer, sondern vielmehr in kulturkritischer Absicht, eine Absicht, die in der
durchgangigen Desavouierung des »homme civilisé« im Zeichen der gegliickten
Exixtenz des »homme naturel« ihren augenfälligsten Ausdruck findet (vgl. Bd. III,
S. 293 f.). In dieser Kontrastierung bleiben »die wahren Grundlagen des Politi-
schen Körpers, die gegenseitigen Rechte seiner Glieder« (Bd. III, S. 126), die
Rousseau anfangs mit seinem Naturzustandsrekurs entdecken wollte, allerdings
im Dunkeln. Eine rechtliche Norm für die Staatskonstitution liefert der Begriff
des veritablen Naturzustands nicht: Weder gibt er — positiv — ein naturrechtliches
Modell für die »société civile« ab (wie etwa bei Locke), noch führt er - negativ -
als Defizitmodell einer friedlosen Naturrechtsgemeinschaft zur Begründung der
Notwendigkeit der Staatsgewalt (wie etwa bei Hobbes). Während Hobbes das
»exeundum esse e statu naturali« als kategorische Forderung der recta ratio
erweist, beschreibt Rousseau den Ausgang aus dem Ursprungszustand als kontin-
genten naturwüchsigen Prozeß, in dem die Schaffung des politischen Gemeinwe-
sens lediglich als weiteres Datum im allgemeinen Niedergang erscheint.
Daß Rousseau mit der geschichtsphilosophischen Wendung seines Naturzu-
standsmodells die ursprüngliche (natur-)rechtliche Fragestellung des Discours auf-
gibt, ıst das eine, daß er dort, wo er sich dann doch dem »Ursprung der Gesell-
schaft und der Gesetze« (Bd. III, S. 178) unter rechtsphilosophischen Gesichts-
punkten zuwendet, auf jeden Rekurs auf sein Naturzustandsmodell verzichtet, ist
das andere, was man gewöhnlich hinter der aufwendigen Rhetorik des Discours zu
übersehen geneigt ist.
Zivilisation im bürgerlichen Zustand bestimmt (vgl. Pufendorf, De jure naturae et gentium,
Frankfurt am Main 1672 (Buch II, Kap. 2).
16 In Rousseaus Einwänden gegenüber Hobbes wird letzten Endes nur derjenige »powerful
arguments« (so etwa M. F. Plattner, Rousseau’s State of Nature, DeKalb 1979, S. 67) ent-
decken können, der sıch ganz der genetisch-anthropologischen Perspektive des Discours
verschreibt und dabei die juridisch-handlungstheoretische Begründungsabsicht der Hob-
besschen Naturzustandstheorie außer acht läßt.
ZfP 40. Jg. 4/1993
362 Herb . Naturgeschichte und Recht
Das rechtsphilosophische Intermezzo, wie man die prinzipientheoretischen
Überlegungen zur Errichtung des bürgerlichen Zustands vielleicht nennen könnte,
ist jedenfalls von der genetischen Rekonstruktion des »status naturae purae« argu-
mentativ gänzlich unabhängig, mehr noch, es steht zu dessen Prämissen in unmit-
telbarem Widerspruch. Bei der Kritik traditioneller Modelle der Herrschaftslegiti-
mation setzt Rousseau den kritisch reformierten Naturzustandsbegriff außer Kraft
und argumentiert nunmehr ausschließlich im Rückgriff auf die Idee des Rechts.
Rousseau rekurriert dabei insbesondere auf einen geschichtsinvarianten Natur-
rechtsbegriff Lockescher Prägung (vgl. Bd. III, S. 184), von dem er sich zuvor mit
seiner entwicklungsgeschichtlichen Kritik der »Modernen« distanziert und den er
durch die vorrationalen Prinzipien des »amour de soi« und der »pitie« (vgl. Bd. III,
S.125 f.) zu ersetzen versucht hatte.
Es hat allerdings den Anschein, als habe Rousseau darin so wenig ein Problem
erkannt wie in dem stillschweigenden Perspektivenwechsel von naturgeschichtli-
cher Rekonstruktion zu einer rechtstheoretischen Kritik der Vertragstheorie: Der
Perspektivenwechsel, den er beiläufig mit der unverdächtigen Formel kommen-
tiert, »die Tatsachen anhand des Rechts zu untersuchen« (Bd. III, S. 182), also
gewissermaßen schon im Discours die Perspektive des späteren Contrat social ein-
zunehmen, dieser Perspektivenwechsel bleibt theoretisch unbewältigt.
Wie weit Rousseau sich in diesen Passagen im zweiten Teil des Discours freilich
bereits von dem »Studium des ursprünglichen Menschen« entfernt, welches ıhm
anfangs Einsicht in die »wahren Grundlagen des politischen Körpers« verschaffen
sollte (vgl. Bd. III, S. 126), wird deutlich, wenn man sich seine Kritik alternativer
Staatsgründungskonzepte anschaut. Rousseau markiert hier, dem Kontext einer
kritischen Abgrenzung entsprechend per negationem, bereits wichtige Fixpunkte,
die die Gestalt seines späteren Staatsrechts im Umriß bestimmen. Der Contrat
social läßt sich in dieser Hinsicht als eine Präzisierung und Entfaltung der Positio-
nen des Discours verstehen, die nun freilich — wenn auch nicht vollständig, so
zumindest dem Anspruch nach (vgl. Bd. III, S. 351 f.) -— aus dem thematischen
Kontext der Gattungsgeschichte befreit sind.
Will man diese kritischen Ansätze zur künftigen Staatsrechtstheorie kurz cha-
rakterisieren, so bieten sich folgende Formeln an: 1. Ohne Freiheit als Geltungsbe-
dingung des Vertrages keine rechtliche Legitimität des bürgerlichen Zustands. 2.
Ohne annähernde ökonomische Gleichheit unter den Vertragschließenden keine
Realisation des Vertragszwecks. 3. Ohne absolute Rechtsposition des Souveräns
kein gesicherter Bestand der staatlichen Rechtsordnung.
Zu 1. Wie im Contrat social erklärt Rousseau schon im Discours die Freiheit des
einzelnen — und nicht die Selbsterhaltung — zur obersten Geltungsbedingung des
bürgerlichen Zustands. Er distanziert sich damit von all jenen Versionen eines —
ideellen — Staatsgründungsaktes, in welchen die Freiheit des einzelnen nicht, oder
doch nicht entschieden genug zum Prinzip des Vertrages und der daraus hervorge-
henden Herrschaftsordnung gemacht wird. Individuelle Freiheit erscheint als
Herb . Naturgeschichte und Recht 363
»Gabe der Natur«, die die einzelnen in ihrer »qualité d’hommes« (Bd. III, S. 184)
erhalten und die nicht zur beliebigen Disposition in vertraglichen Vereinbarungen
steht. Rousseau wendet sich damit gegen die »absolutistischen« Vertragsmodelle
von Grotius, Hobbes und Pufendorf, wobei ihm Barbeyrac und Locke als
Gewährsmänner seiner Kritik dienen, eben jener »weise Locke« (Bd. III, S. 170),
der bei der Formulierung des Naturrechtsbegriffs ebenso Pate steht wie bei der
Bestimmung des Vertragszwecks: Gesetzlicher Schutz von »Gitern, Freiheit und
Leben« (vgl. Bd. III, S. 181) sind für Rousseau, wie schon für Locke”, naturrecht-
lich verbürgte individuelle Ansprüche, durch die Zweck und Existenzbedingung
der »société civile« normierend definiert sind.
Zu 2. Gilt Rousseaus erste Forderung einer Neudefinition des Vertragsbegriffs,
so entspringt die zweite Forderung — nach annähernder ökonomischer Gleichheit
- einer Reflexion auf die politische Funktion des Vertragsabschlusses. Eine Forde-
rung im übrigen, die Rousseau in gleicher Weise auch im Enzyklopädie-Artikel
Economie politique (vgl. Bd. III, S. 258, 271) und im Contrat social (vgl. Bd. III,
S. 368, 391 f.) erhebt. Ausgangspunkt ist dabei jeweils die Überlegung, daß die
Erfüllung des Vertragszwecks, nämlich die Gewährleistung der rechtlichen Frei-
heit aller Bürger, notwendig scheitern muß, wenn die vorvertraglichen Eigentums-
verhältnisse bereits durch extreme Ungleichheit unter den Bürgern gekennzeichnet
ist. In einer solchen Situation gerät die vertragliche Rechtsordnung, trotz ihres
Prinzips der Rechtsgleichheit, zu einer Institution des Interessenrechts. Diese
Gefahr läßt Rousseau in der »hypothetischen Geschichte der Regierungen«
(Bd. III, S. 127) des Discours dadurch manifest werden, daß er den Vertragsschluß
in einer Phase großer sozialer Ungleichheit verortet und die Verrechtlichung als
Sanktion dieser Ungleichheit begreift. Aus der List einer parteiischen Vernunft
entsprungen, dient der Vertrag — ungeachtet der Freiwilligkeit seines Zustande-
kommens und seines juridischen Inhalts — allein den Reichen. Die Stiftung des
bürgerlichen Zustands entdeckt sich damit von vornherein als Betrug (Bd. III,
S. 177).
Was die Therapie aus diesem Befund angeht, so hat der Staat die Aufgabe,
jenen Gefährdungen, die sich aus der Dynamisierung der wirtschaftlichen
Ungleichheit ergeben, — im Interesse der Rechtsidee — durch Schaffung möglichst
homogener Eigentumsverhältnisse zu begegnen. Dies soll, wie Rousseau in der
Economie politique näher ausführt, auf dem Weg gesetzlicher Beschränkungen des
Eigentumserwerbs geschehen; eine Enteignung der Besitzenden sieht er nicht vor.
Die Institution des Eigentums als eines »droit sacré« (Bd. III, S. 263) bleibt unan-
getastet. »Solange nicht alle etwas besitzen und niemand zuviel besitzt« (Bd. III,
S. 368), so das Resümee im Contrat social, muß sich die Vertragsidee öffentlicher
Gerechtigkeit schlechterdings als Illusion erweisen.
Zu 3. Während Rousseau mit einer solchen Forderung in der Vertragstradition
weitgehend allein steht, so bewegt er sich ın Fragen staatlicher Souveränität wie
17 Second Treatise $ 123.
ZfP 40. Jg. 4/1993
364 Herb . Naturgeschichte und Recht
selbstverständlich in den Spuren von Hobbes. So energisch er auch zunächst gegen
dessen Naturzustandslehre, jenes »sinnlose System eines natürlichen Krieges eines
jeden gegen alle« (Bd. III, S. 611), zu Felde zog, so polemisch er auch sonst — hier
wie im Contrat social — sein Verhältnis zu Hobbes, dem »fauteur du despotisme«
(Bd. III, S. 353), definiert: Wo es darum geht, dem staatlichen Souverän eine abso-
lute Rechtsposition zu verschaffen, ist Rousseau ganz den Perspektiven seines gro-
ßen Gegners verpflichtet. Dieses Erbe zeigt sich in besonderer Weise bei der The-
matisierung der opinio communis vom Regierungsvertrag. Wenn auch Rousseaus
eigene Position nur mühsam aus dem Amalgam von Darstellung, provisorischer
Übernahme und kritischer Abweisung des Regierungsvertrags herauszulesen ist”,
so wird doch aus dem Kontext deutlich, daß er sich schon hier gegen die Idee
einer zweistufigen Staatskonstitution ausspricht, wie sie etwa Pufendorf mit seiner
Unterscheidung von »pactum unionis« und »pactum subjectionis« formuliert
hatte”. Eine solche Vertragskonstruktion muß in Rousseaus Augen notwendig
scheitern, weil mit ihr die Frage der Absolutheit staatlicher Souveränität keine
abschließende und eindeutige Antwort findet. Indem Rousseau gegenüber der tra-
ditionellen Konzeption auf dem Hobbesschen »Quis judicabit?« beharrt, entlarvt
er das Verhältnis zwischen den Vertragspartnern »Volk« und »Regierung« als per-
manentes und unaufhebbares Konfliktverhältnis, das zu »unvermeidlichen Mif-
bräuchen« (Bd. III, S. 185) führe und die staatliche Ordnung damit schon von
ihrer Vertragsstiftung her gefährde. Unter rein rechtsimmanenten Gesichtspunk-
ten gilt ihm die Konstruktion des Regierungsvertrages daher gescheitert, sie läuft,
wie es dann im Contrat social bündig heißen wird, der Idee des bürgerlichen
Zustands »in jeder Weise zuwider« 2°. Ohne absolute Souveränität, so lautet die
Rousseausche Konsequenz, ist eben auf Dauer kein Staat zu machen.
Daß die staatliche Souveränität hingegen notwendig und snvermittelt in den
Händen des Volkes liegen muß (jene Forderung also, mit der Rousseau sich ent-
schieden gegen Hobbes wendet), sagt Rousseau in diesem Zusammenhang nicht
ausdrücklich. Der Begriff der »volonte générale« taucht im Discours nicht auf. 21.
Die Sache allerdings, für die der Begriff steht — nämlich die unrepräsentierbare
Gesetzgebungsautonomie des Volkes, kombiniert mit der Vorstellung einer nicht-
vertraglichen Delegation der Regierungsgewalt als bloßer Exekutive - ist dem Dis-
18 Einige Interpreten sehen Rousseau hier noch als Anhänger der Lehre vom Regierungsver-
trag und unterstellen folglich einen Wandel der Vertragskonzeption vom Discours zum
Contrat social. Vgl. etwa Lester G. Crocker, »The relations of Rousseau’s Discours and
the Contrat social« in: Romanic Review, vol. 51, 1960, S. 33 ff.
19 De jure naturae et gentium, aaO., Bd. VII, S. 2, §§ 9-12.
20 »On voit encore«, heißt es im Contrat social zum Regierungsvertrag, »que les parties con-
tractantes seroient entre elles sous la seule loi de nature et sans aucun garant de leurs
engagemens réciproques, ce qui répugne de toutes manieres à létat civil« (Bd. III,
S. 432 f.). Rousseau folgt auch hier ganz offensichtlich der Hobbesschen Argumentation,
siehe etwa Leviathan XVIII, 4. Abs.
21 Dies verwundert vor allem deshalb, weil Rousseau den Begriff in der ebenfalls 1755
erschienenen Economie politique bereits durchgangig verwendet (vgl. Bd. III, S. 245 ff).
Herb . Naturgeschichte und Recht 365
cours jedoch nicht fremd. Fast versteckt in der schwer dechiffrierbaren Destruk-
tion des Regierungsvertrages, läßt sich das Programm des Contrat social bereits in
nuce erkennen: »Da das Volk, was die gesellschaftlichen Beziehungen betrifft, alle
seine [Einzel-]Willen zu einem einzigen vereinigt hat (réuni toutes ses volontés en
une seule), werden alle Artikel, über die dieser Wille sich erklärt, zu ebenso vielen
Grundgesetzen (Loix fondamentales), die alle Mitglieder des Staates ohne Aus-
nahme verpflichten, und eines dieser Gesetze regelt die Wahl und die Gewalt der
Magistrate, die damit beauftragt sind, über die Ausführung der anderen zu
wachen« (Bd. III, S. 184 f.).
Zuvor hatte Rousseau in der Widmung an die Republik Genf, die dem Discours
vorausgeht, die Idee eines Staates anklingen lassen, in dem »niemand ... von sich
sagen könnte, er stehe über dem Gesetz, und ... niemand von außen ein Gesetz
auferlegen könnte, das anzuerkennen der Staat genötigt wäre« (Bd. III, S. 112), in
dem also »das Recht der Gesetzgebung allen Bürgern gemeinsam wäre« (Bd. III,
S. 113 f.).
Die Idee dieser Republik voll zu entfalten, sollte allerdings jenem Werk vorbe-
halten bleiben, in dem sich Rousseau a limine von der Hypothek eines Rückgangs
auf das »Bild des wahren Naturzustands« freigemacht hatte: dem Contrat social.
Halten wird, bevor wir uns nun Rousseaus »endgültiger« Staatsrechtstheorie
zuwenden, noch einmal fest: Entgegen der programmatischen Ankündigung des
Discours liefert das entwicklungsgeschichtlich reformierte Modell des veritablen
Naturzustands kein Grundlegungsmodell für die frühen staatsrechtlichen Positio-
nen. Diese entspringen vielmehr einer kritisch-assimilierenden Auseinanderset-
zung mit der Tradition der Vertragstheorie, bei der sich bereits einige zentrale
Momente der späteren Rechtsidee herauskristallisieren. In Fragen staatlicher Sou-
veränität zeigt sich eine deutliche Beeinflussung durch Hobbes, die auch im Con-
trat social wirksam bleiben wird — und ungeachtet der durchgängigen entwick-
lungsgeschichtlich motivierten Kritik der Naturzustandstheorie besteht. Dasselbe
Rezeptionsmuster gilt für Locke: Wenn dessen Begriffe vom Naturzustand und
vom Naturrecht zunächst auch in gleicher Weise dem entwicklungsgeschichtlichen
Ressentiment zum Opfer fallen, so schließt sich Rousseau in den staatsrechtlichen
Partien des Discours doch den Lockeschen Vorgaben an. Was Rousseau hier in
eigenem Namen übernimmt, behauptet sich auch im Contrat social. Eine entschei-
dende Zäsur in den Rezeptionsbezügen wird sich nicht feststellen lassen.
Die Zäsur, die Rousseaus Verhältnis zur Tradition im ganzen bestimmt, ver-
läuft nicht zwischen Discours und Contrat social, sondern vielmehr — wie sich im
vorangehenden gezeigt hat - durch den Discours selbst: sozusagen zwischen der
genetisch motivierten Revision des Naturrechts- und Naturzustandsbegriffs einer-
seits und der juridisch argumentierenden Staatsrechtstheorie andererseits. Schon
im Discours selbst hat sich Rousseau mit seiner Kritik des modernen Vertragsbe-
griffs stillschweigend von den Prämissen der Naturzustandskritik emanzipiert,
schon hier hat der Naturbegriff sein normatives Potential für eine Theorie des
ZfP 40. Jg. 4/1993
366 Herb . Naturgeschichte und Recht
Politischen eingebüßt. Rousseaus Principes du droit politique — so kann man nach
der Lektüre des Discours sagen — stehen auf eigenen Füßen: Einer Grundlegung in
der Naturzustandstheorie des Discours bedürfen sıe nicht.
Auf dem Weg zum Contrat social hat sich Rousseau nun doch noch einmal mit
dem Naturzustand beschäftigt. Im sog. Genfer Manuskript, einer zwischen 1756
und 1758 entstandenen Erstfassung des Contrat social, nimmt er im Kapitel »De la
société générale du genre humain« — vergleichsweise ausführlich — zur Thematik
des Naturzustands Stellung. Die Thematisierung dieser »allgemeinen Gesellschaft
der menschlichen Gattung«, also der vorstaatlichen Rechtsgemeinschaft der
Menschheit, dient hierbei einem rechtstheoretischen Zweck: Bevor Rousseau mit
seiner Theorie der rechtlichen Bedingungen legitimer Herrschaft einsetzt (vgl.
Bd. III, S. 281), will er hier zunächst die Gründe für deren spezifische Notwendig-
keit aufzeigen. »Beginnen wir zu untersuchen, woraus die Notwendigkeit der poli-
tischen Institutionen (la nécessité des institutions politiques) entspringt« (Bd. III,
S. 281). Rousseau übernimmt mit dieser Aufgabenstellung nicht nur eine zentrale
Begründungsabsicht der Hobbesschen Naturzustandstheorie, er läßt sich auch bei
der Ausführung von dessen Argumentationsmustern leiten. Es versteht sich von
selbst, daß der vorstaatliche Zustand nun nicht mehr in Gestalt einer prästabilier-
ten Harmonie, sondern — ganz im Gegenteil — als Situation des Mangels und des
Konflikts erscheinen muß; er entdeckt sich nun — ganz im Hobbesschen Sinne -
als ein allgemeiner Kriegszustand, der allein mit der Stiftung politischer Institutio-
nen überwunden werden kann.
Rousseau wendet sich mit Hobbes gegen Diderot??, wenn er gegen die Vorstel-
lung polemisiert, schon mit einer bloß naturrechtlichen Verpflichtung allein — wie
sie Diderot aus der Idee eines Gattungswillens der Menschheit ableitet — sei gesell-
schaftlicher Friede unter Menschen herstellbar: Die »Identität der Natur« ist für
Rousseau kein Prinzip rechtlicher Einheit. Solle diese Einheit Bestand haben, so
könne sie nicht aus einem »vorgeblichen, von der Natur diktierten Gesellschafts-
vertrag« (Bd. III, S. 284) entspringen, sondern bedürfe vielmehr der Stiftung in
einem rechtlich wirksamen Gesellschaftsvertrag. Die kosmopolitische Idee einer
unter ihrem vernünftigen Gattungswillen vereinigten Menschheit ist für Rousseau
ım wahrsten Sinne des Wortes zu schön, um wahr zu sein, sie gilt ihm als bloßes
Hirngespinst (»une véritable chimére«, Bd. III, S. 284). Allgemeine Gerechtigkeit
22 Diderots Theorie der volonté générale findet sich im Enzyklopädie-Artikel Droit naturel
(1755). Während Rousseau in der Economie politique positiv auf Diderot rekurriert (vgl.
Bd. III, S. 245 ff.), ist der Bezug hier polemischer Natur; die Fragestellung ist eine andere
geworden. Es geht nicht mehr um die volonté générale als Rechtsnorm, deren Gültigkeit
auch im Genfer Manuskript fraglos ist (»Je vois bien là . . . la régle (de la volonté générale,
K.H.) que je puis consulter; mais je ne vois pas ... la raison qui doit m’assujetir a cette
régle« (Bd. III, S. 286), sondern um die Problematik der Rechtssicherheit unter vorstaatli-
chen Bedingungen, eine Problematik, die hier u. a. an Hand der Diderotschen Konzep-
tion entfaltet wird. — Auch hier liegen dem zweifachen Rezeptionsbezug unterschiedliche
systematische Intentionen zugrunde. Anders R. Brandt, aaO., S. 57 ff.
Herb . Naturgeschichte und Recht 367
und Rechtssicherheit, so lautet die Einsicht, zu der Rousseau seinen »homme
éclairé et indépendante« (Bd. III, S. 284) mit Hilfe Hobbesscher Argumente gelan-
gen läßt, bedürfen zu ihrer Realisierung der Zwangsgewalt des partikularen politi-
schen Verbandes - sie sind außerhalb des status civilis, selbst beim besten Willen
aller Beteiligten, nicht zu garantieren ».
So entschieden Rousseau mit diesen Reflexionen die rechtliche Problematik des
Naturzustands in den Vordergrund rückt und von einer entwicklungsgeschichtli-
chen Perspektive Abstand nimmt: Ganz hat er sich von Intentionen des Discours
nicht emanzipieren können. Diderots Konzeption einer friedlichen Rechtsgemein-
schaft unter den Gesetzen der volonté générale verfällt nicht nur deshalb dem Ver-
dikt der Kritik, weil jener den prinzipiellen Mangel bloß naturrechtlicher Rechts-
verhältnisse übersehen habe. Die Vorstellung eines kosmopolitischen Gemeinwil-
lens kranke auch und vor allem daran, daß dabei ein Maß an Abstraktionsfähigkeit
und Regelverständnis vorausgesetzt wıerde, das dem gattungsgeschichtlichen
Archetypus noch fehle. Die abstrakten Regeln der volonté générale fänden im
Menschen des Naturzustands keinen geeigneten Adressaten.
Diese entwicklungsgeschichtliche Variante der Kritik, mit der Rousseau die
Intentionen des Discours im Kontext seines Staatsrechts wiederaufleben läßt, ist
der Überarbeitung der Erstfassung zum Opfer gefallen. Eine solch starke Rück-
bindung an den Discours ist in der veröffentlichten Fassung des Contrat social nicht
mehr anzutreffen. Rousseau hat damit zwar auch den fundamentalen rechtstheo-
retischen Reflexionen den Eingang in den endgültigen Text verwehrt: Am Ergeb-
nis dieser Reflexionen hält er jedoch strikt fest?*. Die Einsicht, daß Gerechtigkeit
unter Menschen nicht unter den natürlichen Bedingungen ihrer Existenz zu reali-
sieren ist, sondern allererst im bürgerlichen Zustand, unter der Herrschaft des
positiven Gesetzes, dies bildet auch im Contrat social die unerschütterliche — wenn
auch nicht mehr eigens begründete — Voraussetzung des Staatsrechts. Von der
Vorstellung einer herrschaftsfreien Friedens- und Naturrechtsgemeinschaft, der
noch Locke das Wort redete, hat sich Rousseau im Contrat social meilenweit ent-
fernt. Auch darin gibt sich der berüchtigte Jäger des Leviathan als ein getreuer
Schüler zu erkennen, der seinen Lehrer am Ende noch an Radikalitat übertreffen
sollte.
In der Erstfassung des Contrat social selbst hat das negative Resultat der Natur-
zustandsreflexionen: »der Naturzustand muß verlassen werden«, für die anschlie-
ßende Problemstellung unmittelbare Konsequenzen. Wenn nämlich dieser
Zustand keine positive Norm für den bürgerlichen Zustand abgibt, sondern nur
23 Rousseau legt seinem Raisonneur damit (Bd. III, S. 284 ff.) Hobbessche Argumente in
den Mund: De Cive, I, 4, III, 27; Leviathan, XV, 36. Abs.
24 Im Contrat social stellt Rousseau die notwendige Positivität von Recht und Gesetz noch-
mals deutlich heraus. »A considérer humainement les choses, faute de sanction naturelle
les loix de la justice sont vaines parmi les hommes ... il faut donc des conventions et des
loix pour unir les droits aux devoirs et ramener la justice à son objet« (Bd. III, S. 378).
25 Second Treatise § 19.
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368 Herb . Naturgeschichte und Recht
noch dazu dient, dessen Notwendigkeit zu illustrieren, dann kann die geforderte
Staatskonstitution in jenem natiirlichen Zustand keine Norm mehr finden. Die
Einrichtung des bürgerlichen Zustands dient vielmehr dem Zweck, die Defekte
einer bloß natürlichen Existenz des Menschen zu kompensieren. Mit anderen
Worten: Die Kunst des Politischen hat in den Bedingungen der Natur kein Vor-
bild mehr. Mehr noch: Sie ist nur im Bruch mit ihr möglich. Die »art perfectionne«
der Staatsgründung hat deshalb nicht nur die Fehler einer durch die »art com-
mencé« gelenkte Vergesellschaftung zu revidieren, Rousseaus vollkommene Kunst
des Politischen versteht sich zugleich als Korrektur der Natur und als Korrektur
des Prozesses ihrer künstlichen Verfremdung *. Im »Bild des wahrhaften Naturzu-
stands« findet sie kein Maß.
Man kann es deshalb nur konsequent nennen, wenn Rousseau in der endgilti-
gen Fassung des Contrat social ganz auf die Zeichnung des »tableau du veritable
état de nature« (Bd. III, S. 160) verzichtet. Unter positivem Vorzeichen ist dort
jedenfalls vom Naturzustand nicht mehr die Rede. Ebensowenig ist von der
umfangreichen Bemühung der Tradition zu spüren, die Vertragstheorie in einem
normativ aufgeladenen Naturzustand zu verankern. Im Gegenteil: Die offensicht-
liche Beiläufigkeit, mit der Rousseau vor seiner vertragstheoretischen Problemstel-
lung auf den Naturzustand zu sprechen kommt, macht deutlich, wie irrelevant die
Gestalt des wahren Naturzustands — das große Thema des Discours - nun für ihn
geworden ist”, ja, mehr noch: Diese Beiläufigkeit ist gleichsam Ausdruck dessen,
was dann in der Ausführung der Theorie immer deutlicher wird: der weitgehende
Funktionsverlust des Naturzustandsmodells in Rousseaus Prinzipientheorie des
Rechts. Im Contrat social wird das Grundlegungsmodell der Tradition nur noch
mit einer — man möchte fast sagen: eiligen und überdies kompliziert formulierten —
Hypothese gestreift: »Ich vermute«, schreibt Rousseau, »daß die Menschen sich zu
der Stufe emporgeschwungen haben, wo die Hindernisse, die ihrer Erhaltung im
Naturzustand schädlich sind, durch ihren Widerstand die Oberhand über die
Kräfte gewinnen, die jeder einzelne aufbieten muß, um sich in diesem Zustand zu
behaupten. Dann kann dieser Zustand nicht länger fortbestehen, und das mensch-
26 »Efforgons nous de tirer du mal même le reméde qui doit le guérir. Par des nouvelles
associations, corrigeons, s’ıl se peut, le défaut de l'association générale ... Montrons ...
dans lart perfectionné la réparation des maux que lart commencé fit à la nature«
(Bd. III, S. 288).
27 Die Distanzierung von der Thematik des Discowrs stimmt im übrigen völlig überein mit
der - fast ironischen — Bemerkung, mit der Rousseau im Contrat social der Erwartung
entgegentritt, Aufschluß über den geschichtlichen Prozeß der Verrechtlichung zu geben.
Mit Bezug auf den berühmten Auftakt des Contrat social, »’HOMME est ne libre, et
par-tout il est dans les fers«, also — nicht allegorisch - auf den Übergang von natürlicher
Freiheit zu legitimem staatlichem Zwang heißt es dort: »Comment ce changement s'est-il
fait? Je l'ignore. Qu’est-ce qui peut le rendre légitime? Je crois pouvoir résoudre cette que-
stion« (Bd. III, S. 351, Hervorh. von mir). — Die »changemens successifs« (Bd. III, S. 123)
waren aber gerade vorzüglicher Gegenstand der Sozialisationsgeschichte des Discours.
Herb . Naturgeschichte und Recht 369
liche Geschlecht müßte zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht
änderte« (Bd. III, S. 360). Daß es bei diesem Zustand nicht bleiben kann, diese
Voraussetzung allein genügt Rousseau hier, um zum eigentlichen »probleme fon-
damental«, der Vergesellschaftung durch das Recht, zu gelangen. Bei der Lösung
des Grundproblems spielt dann der Naturzustandsbegriff, zumindest als eine posi-
tive Norm, keinerlei Rolle mehr. Die Funktion, die ihm bleibt, ist lediglich eine
negative: Der Naturzustand bildet allein den Kontrast zur vertraglichen Rechts-
ordnung, er legitimiert dessen Stiftung und Fortbestand sozusagen »ex negativo« ®.
Dies zeigt sich exemplarisch darin, wie Rousseau — konsequenter und radikaler
noch als Hobbes — einen unbedingten Rechtsverzicht der Vertragskontrahenten
fordert und begründet. Rousseau begreift die »aliénation totale« (Bd. III, S. 360)
als conditio sine qua non bei der Errichtung des bürgerlichen Zustands; ein Resi-
duum naturzuständlicher Rechte kann es im Staat nicht geben. Wo Hobbes und
Locke für einen Rechtsvorbehalt bei Vertragsschluß plädieren, um den Bürgern
einen naturrechtlichen Anspruch außerhalb staatlicher Rechtsdistribution zu
sichern, dort steht für Rousseau mit der Idee der obersten und konkurrenzlosen
Rechtsgewalt des Staates bereits auch die Existenz des bürgerlichen Zustands
selbst auf dem Spiel. Ein solcher naturrechtlicher Vorbehalt gefährde den Staat
schon vom Prinzip her und setze ihn der Gefahr eines permanenten Rückfalls ın
den Naturzustand aus”; ein Naturzustand freilich, der nun ganz selbstverständ-
lich im Sinne Hobbes’ als rechtlicher Notstand verstanden wird und jegliche Idylle
eines friedlichen Anfangs der Gattung verloren hat.
Und diese Bedeutung eines staatsrechtlichen Grenzbegriffs ist es, die Rousseau
dem Naturzustandsbegriff auch im weiteren Verlauf seiner Argumentation ein-
räumt. So wenig der Begriff darin einerseits zu einer positiven Bestimmung der
Rechtskompetenzen der Staatsgewalt beiträgt, so markiert er doch andererseits als
eine Art negativer Fluchtpunkt die unerläßlichen Bedingungen, unter denen die
28 Siehe die Kontrastierung von natürlichem und birgerlichem Zustand in CS, Bd. I, S. 8,
»De l’etat civil«. Die Dynamik des Übergangs zeigt deutlich die Konkurrenz von Discours
und Contrat social. Während der Zivilisationskritiker Rousseau den Ausgang aus dem
Naturzustand als »funeste hazard« (Bd. III, S. 171) erscheinen läßt, der den Auftakt zu
einer fulminanten Verfallsgeschichte bildet, preist der Rechtsphilosoph Rousseau die
Staatsgründung als »instant heureux« (Bd. III, S. 364), als Geburtsstunde der rechtlichen
und moralischen Subjektivität des Menschen. »On pourroit . . . ajouter à l’acquis de l’état
civil la liberté morale, qui seule rend homme vraiment maitre de lui« (Bd. III, S. 365). -
Daß Rousseau mit dieser Wendung allerdings den neuzeitlichen Begründungsansatz seı-
ner Vertragstheorie mit dem axiologischen Vorrang des Individuums vor dem Staat
gefährdet, indem er die Rechtsfähigkeit der Vertragskontrahenten zu einer Folge des
Vertrages macht, sei hier nur angedeutet. Siehe dazu ausführlicher: Karlfriedrich Herb,
Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen, Würzburg
1989, bes. S. 151 ff.
29 »Car s’il restoit quelques droits aux particuliers, comme il n’y auroit aucun supérieur
commun qui put prononcer entre eux et le public, chacun étant en quelque point son pro-
pre juge pretendroit bientôt l’etre en tous, l'état de nature subsisteroit et l'association
deviendroit nécessairement tirannique ou vaine« (Bd. III, S. 361).
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370 Herb . Naturgeschichte und Recht
Staatsgewalt ihre friedens- und freiheitssichernde Funktion nach innen und außen
zu erfüllen vermag. Einen größeren Kontrast aber zwischen diesem Naturzu-
standsbegriff und dem entwicklungsgeschichtlichen des Discours läßt sich, was ihre
Inhalte und systematischen Funktionen angeht, kaum denken. Man muß fast
annehmen, daß hier zwei ganz unterschiedliche Ideen — unglücklicherweise — den-
selben Namen bekommen haben. Rousseau selbst scheint das erste Opfer dieser
ambivalenten Verwendung des Begriffs zu sein.
Wenn die Idee einer politischen Ordnung für Rousseau nur noch als Bruch mit
der natürlichen Ordnung zu begreifen ist, so ist sein Programm damit nur zur
negativen Seite hin charakterisiert. Positiv beinhaltet der Verzicht auf die traditio-
nelle naturzuständliche Fundierung der Vertragstheorie, daß Rousseau in radika-
ler Weise Ernst macht mit der legitimationstheoretischen Idee des neuzeitlichen
Kontraktualismus, die Stiftung des politischen Rechts als Selbstkonstitution auto-
nomer Individuen, und damit im Grunde als völlige Neuschöpfung gegenüber der
Ordnung der Natur zu begreifen. In diesem Sinne ist das Verhältnis von Natur
und Staat nur noch als Verhältnis ihrer Diskontinuität, ihres Widerspruchs zu
bestimmen °.
Indem Rousseau seine Prinzipien des Staatsrechts ganz ohne Rekurs auf den
Naturzustand als Legitimationsbasis der »société civile« vorträgt, sagt er sich in
letzter Konsequenz los von dem architektonischen Grundmuster der politischen
Moderne: Die Dichotomie von Naturzustands- und Vertragstheorie hat bei ihm
die Rolle eines konstitutiven Gliederungsprinzips der »architektonica politica« ein-
gebüßt. Eines Fundaments außerhalb des Contrat social bedürfen Rousseaus »Prin-
cipes du droit politique« also nicht.
Vielleicht verhindert das eingangs erwähnte Interpretationsmuster, welches dem
Contrat social im Discours ein solches Fundament unterlegt, nicht nur die Einsicht
in die tatsächlichen Begründungsverhältnisse der Rousseauschen Rechts- und
Staatsphilosophie, sondern verdeckt zugleich die Tatsache, daß sich Rousseau mit
seinem Verzicht als der - vielleicht — entschiedenste Vertreter einer vertragstheore-
tischen Legitimation staatlicher Herrschaft entdeckt, lädt er doch seiner Idee des
Gesellschaftsvertrages — und des daraus entspringenden Willens: der Idee der
volonte générale — die gesamte Begründungslast auf. In Rousseaus neuer Wissen-
30 Mit der Figur des »législateur« akzentuiert Rousseau in aller Schärfe den Bruch zwischen
natürlicher und bürgerlicher Existenz. »Celui qui ose entreprendre d’instituer un peuple
doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature humaine; ... d’alterer la con-
stitution de homme pour la renforcer . . . Il faut, en un mot, qu’il ôte a Phomme ses for-
ces propres pour lui en donner qui lui soient étrangeres . . . Plus ces forces naturelles sont
mortes et anéanties, plus les acquises sont grandes et durables, plus ainsi l'institution est
solide et parfaite« (Bd. III, S. 381 f.). In gleicher Weise auch der Emile, der — aus den
bekannten Gründen — zugunsten der natürlichen Existenz optiert. »Celui qui dans l’ordre
civil veut conserver la primauté des sentimens de la nature, ne sait ce qu’il veut. Toujours
en contradiction avec lui-méme, toujours flotant entre ses penchans et ses devoirs il ne
sera jamais ni homme ni citoyen; il ne sera bon ni pour lui ni pour les autres« (Bd. IV,
S. 249).
Herb . Naturgeschichte und Recht 371
schaft vom Staat sind die Prinzipien politischer Gerechtigkeit allein noch - und
ausschließlich - vom Prinzip der Autonomie des Rechtssubjekts her zu begründen.
Nicht zufällig hat dieses neue Programm bei Rousseau und seinem großen Schü-
ler, Immanuel Kant, denselben Namen erhalten — »die Selbstherrschaft des Geset-
zes« >};
»Mettre la loi au-dessus de Phomme est un problème en politique, que je com-
pare a celui de la quadrature du cercle en géometrie. Résolvez bien ce problème, et
le gouvernement fondé sur cette solution sera bon et sans abus.« 2
Zusammenfassung
Rousseau hat seine politische Philosophie im Contrat social ohne fundierenden
Rückgriff auf das Modell des Naturzustandes entwickelt und sich damit still-
schweigend vom Begründungsprogramm der neuzeitlichen Vertragstheorie distan-
ziert. Von diesem bemerkenswerten Befund ausgehend, untersucht der Verfasser
Systematik und Entstehungsgeschichte von Rousseaus politischer Philosophie vor
dem Hintergrund der kritischen Revision des Naturzustandsbegriffs im Discours
sur l'inégalité. Angesichts der Heterogenität des geschichtsphilosophischen Unter-
nehmens plädiert der Verfasser für eine eigenständige — prinzipientheoretische -
Lektüre des Contrat social.
Summary
Rousseau developed his political philosophy in the Social Contract without retriev-
ing, for the purpose of its foundation, the model of the state of nature. In this way
he tacıtly distinguished his endeavor from the quest for foundations in modern
social contract theory. Taking this noteworthy result as a starting point, the author
investigates systematic and developmental aspects of Rousseau’s political philoso-
phy against the background of the critical revision of the concept of the state of
nature in the Discourse on Inequality. In view of the heterogeneity of Rousseau’s
thought from the standpoint of both the philosophy of history and the philosophy
of law, the author argues in favor of an independent reading of the Social Contract
from the perspective of a theory of principles.
31 »Dies ist die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist und
an keiner besonderen Person hängt; der letzte Zweck alles öffentlichen Rechts, der
Zustand, in welchem allein jedem das Seine peremtorisch zugetheilt werden kann; indes-
sen daß, so lange jene Staatsformen dem Buchstaben nach eben so viel verschiedene mit
der obersten Gewalt bekleidete moralische Personen vorstellen sollen, nur ein provisori-
sches inneres Recht und kein absolut-rechtlicher Zustand der bürgerlichen Gesellschaft
zugestanden werden kann« (Kant, Metaphysik der Sitten, $ 52; AA, Bd. VI, S. 340).
32 Considerations sur le gouvernement de Pologne, Bd. III, S. 955; vgl. Lettres de la Montagne,
Bd. III, S. 811.
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25
Jerzy Mackow
Die Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
gegeniiber der Entwicklung in Polen in den siebziger
und achtziger Jahren*
Ziele und Gefahren der bundesdeutschen Entspannungspolitik:
die Notwendigkeit einer kritischen Analyse
Die Wende in der bundesdeutschen Ostpolitik der sechziger und siebziger Jahre
hatte eine Anpassung der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland an die
dauerhaften Gegebenheiten der Nachkriegswelt zum Ziel. Die neue Ostpolitik, die
auf dem Prinzip der »Entspannung« zwischen »Ost« und »West« beruhte, sollte —
aus bundesdeutscher Sicht - sowohl der Erhaltung des Friedens in Europa als auch
der Überwindung der europäischen und deutschen Teilung dienlich sein. An dieser
Zielsetzung der Ostpolitik hat der Regierungswechsel des Jahres 1982 ın Bonn
nichts geändert. Die offiziellen westdeutschen Stellen priesen diese Politik stets als
realistisch, illusionslos, pragmatisch, langfristig angelegt und somit berechenbar'.
Zunächst bildeten bilaterale Verträge, Abkommen und Vereinbarungen mit der
UdSSR, der Volksrepublik Polen, der Tschechoslowakischen Sozialistischen
Republik, der Sozialistischen Republik Rumänien, der Volksrepublik Bulgarien,
der Ungarischen Volksrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik die
völkerrechtlichen Grundlagen der bundesdeutschen »Entspannungspolitik«. Seit
Mitte der siebziger Jahre kamen noch die Vereinbarungen des KSZE-Prozesses
hinzu.
Die Politik der Normalisierung der Beziehungen und des Ausgleichs mit den
kommunistischen Staaten schien vielen »West«-Politikern und -Intellektuellen
zumindest mehr außenpolitische Sicherheit für den »Westen« zu versprechen.
Diese Politik barg aber auch gravierende Probleme in sich. Die Staaten des
Sowjetsozialismus zeichneten sich ja nicht durch die Achtung jener Werte aus, die
die demokratischen Rechtstaaten des »Westens« stets als »unteilbar« und »unan-
tastbar« propagierten. Der Franzose Alfred Grosser stellte deshalb ın seinem
Deutschland-Buch völlig zu Recht fest, daß den Preis einer »westlichen« Entspan-
* Dieser Aufsatz ist im April 1993 fertiggestellt worden.
1 Vgl. etwa Dokumentation zur Ostpolitik der Bundesregierung. Verträge und Vereinbarungen,
herausgegeben von Presse und Informationsamt der Bundesregierung 1986, S. 7.
Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 373
nung mit den kommunistischen Staaten die kommunistisch beherrschten Völker
zu bezahlen hätten.
Ein psychologisch vielleicht erklärbarer Mechanismus ließ die »westlichen«
(keineswegs nur die westdeutschen) Partner der kommunistischen Regime aus
ihrem Bewußtsein erfolgreich verdrängen, daß beispielsweise der Wende der deut-
schen Ostpolitik im Jahre 1970 die Erstickung des Prager Frühlings vorausgegan-
gen war und daß, nur wenige Tage nach der Unterzeichnung des Warschauer Ver-
trags, der kommunistische Gewaltapparat an der polnischen Küste unter Einsatz
von über 60 000 Soldaten und 1700 Panzern der Polnischen Volksarmee ein Mas-
saker unter der Bevölkerung mit zumindest 45 toten Demonstranten und Tausen-
den Verletzten durchgeführt hatte. Diese verdrängten Tatsachen (deren Liste aus
den siebziger und achtziger Jahren man freilich endlos fortsetzen könnte) spre-
chen allein allerdings nicht gegen die in der Bundesrepublik Deutschland oft
deklarierten Prinzipien und Ziele der Entspannungspolitik. Das Wissen um diese
Tatsachen läßt jedoch die Art und Weise der Durchführung dieser Politik kritisch
beleuchten. Nicht weniger wichtig erscheint es in diesem Zusammenhang, die Ent-
spannungspolitik ihres unvernünftigen Nimbus der Politik »zum Wohle der Men-
schen« zu entkleiden; denn es kann keine gute Politik »für die Menschen«
schlechthin geben. Jede Politik hat auch ihre Verlierer.
Für den westlichen Staat des geteilten Deutschland brachte die Entspannungs-
politik ganz spezielle Probleme mit sich. Daß mit der in Westdeutschland so oft
selbstgefällig gepriesenen »Entspannung« des Verhältnisses zur DDR auch für die
bundesdeutsche politische Klasse unangenehme Wahrheiten verbunden waren,
darüber wird nach dem Zusammenbruch der DDR in Deutschland relativ viel dis-
kutiert. Was früher in den »zwischendeutschen Beziehungen« so oft als »das beste
für das Wohl der Menschen« unkritisch ausgegeben und reflektiert wurde, wird
heute gelassener unter die Lupe genommen. Kaum jemand bezweifelt beispiels-
weise die Berechtigung der Bundesrepublik Deutschland, sich im Rahmen des
sogenannten Freikaufs von politischen Gefangenen an dem von der DDR geführ-
ten Menschenhandel eines in diesem Jahrhundert einmaligen Ausmaßes beteiligt
zu haben. Wenn aber heute jemand mit dem Hinweis auf die Beschaffenheit der
sowjetsozialistischen Regime, die stets darauf aus waren, sich als humanitäre aus-
zugeben, die Frage stellt, ob die Dimensionen dieses Freikaufs wirklich auch im
Westen Deutschlands geheimgehalten werden mußten, wird er ın Deutschland
nicht mehr so leicht als »Kalter Krieger«, »antikommunistischer Amokläufer« oder
einfach »politisch Naiver« abgestempelt. Ähnlich ergeht es heutzutage denjenigen
in Deutschland, die die Frage stellen, wie denn die bundesdeutschen Regierungen
kontrollierten, was die SED-Spitze mit dem auf dem Wege des Menschenhandels
»erwirtschafteten« Geld des ahnungslosen bundesdeutschen Steuerzahlers tat.
Legitim erscheinen zudem die Fragen an die bundesdeutsche Politik, welche
Bedingungen bezüglich der Einhaltung der Menschenrechte im kommunistischen
2 Alfred Grosser, Das Deutschland im Westen, München/Wien 1985, S. 281.
ZfP 40. Jg. 4/1993
25*
374 Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
deutschen Staat die demokratischen Politiker Deutschlands ihren SED-Partnern
stellten, als sie die DDR mit bundesdeutschen Krediten vor der Zahlungsunfähig-
keit retteten. Dies alles sind Fragen, die die oft deklarierten Ziele der Entspan-
nungspolitik noch nicht berühren. Wie bereits erwähnt, geht es hier vorrangig
darum, wie die bundesdeutsche Politik diese Ziele zu verwirklichen trachtete.
Dieses Problem nur hinsichtlich der Beziehungen der Bundesrepublik zur DDR
zu stellen, hieße anzunehmen, an diesem Beispiel hätte das Problem der Beziehun-
gen der Bundesrepublik Deutschland mit allen Ländern des »Ostblocks« vorbild-
haft gelöst werden können. Dem war aber nicht so. Einerseits stellte der DDR-
Sozialismus im »Ostblock« vorwiegend wegen der Besonderheiten der deutschen
Teilung eine spezifische Qualität dar. Die DDR hatte seit dem Jahre 1953 und
nach dem Mauerbau eine weitgehend pazifizierte und perfekt bespitzelte Bevölke-
rung ohne jedwede Schicht, die imstande sein konnte, vernünftig und beharrlich
nach gesellschaftlicher Autonomie und Freiheit (d.h. nach der »Aufweichung«
und später Abschaffung des Sowjetsozialismus) zu streben. Selbst wenn die DDR
Leute vom Schlage Havels, Kurons, Michniks, Sacharows, Watesas hervorgebracht
hatte, wurden sie längst an die Bundesrepublik verkauft. Andererseits hatten doch
für die Bundesrepublik die Beziehungen zur DDR wegen der offenen deutschen
Frage ein besonderes Gewicht. Wie die vermeintlichen Erfolge der »Entspan-
nungspolitik« der Bundesrepublik gegenüber der DDR auch ausgesehen haben
und beurteilt sein mögen, für die Staaten des »Ostblocks« — vielleicht außer Korea
~ konnten sie als eine spezifisch-nationale deutsche Lösung keine Vorbild-Wir-
kung haben.
Dies entbindet jedoch die alte Bundesrepublik Deutschland nicht von der Ver-
antwortung für die Folgen ihrer Entspannungspolitik gegenüber den Staaten des
»Ostblocks«. Diese Verantwortung entspringt — erstens — der Tatsache, daß der
westdeutsche Staat der wichtigste Handelspartner der jeweiligen kommunistisch
beherrschten Länder war. Zum zweiten ging die Bedeutung seines Verhältnisses
zur DDR weit über die Ebene der deutsch-deutschen Beziehungen hinaus: Galt
doch die DDR im sowjetsozialistischen Lager aus guten Gründen als stur und
dogmatisch. Eine mögliche bundesdeutsche Unterstützung des DDR-Regimes
(etwa wirtschaftlicher Art) mußte folglich die Schwächung sowohl der sogenann-
ten Reformkommunisten als auch der antikommunistischen Kräfte in anderen mit-
telosteuropäischen Staaten zur Folge haben.
Die Bedeutung des Warschauer Vertrags vom Dezember 1970
Polen war jenes Land des sowjetsozialistischen Lagers, in dem es seit 1956 den
nichtkommunistischen Kräften dank mehrerer gesellschaftlicher Rebellionen
immer wieder gelang, einen Einfluß auf die staatliche Politik auszuüben, ohne daß
die Sowjetunion zu einem militärischen Eingreifen provoziert wurde. Auf diese
Weise ist Polen — sowohl territorial wie bevölkerungsmäßig, militärisch und wirt-
schaftlich das zweite Land im sowjetischen Machtbereich — zur »freiheitlichsten
Maćków - Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 375
Baracke des sowjetischen Lagers« geworden. Aus den hier genannten und aus
historischen Grtinden war die Volksrepublik Polen in den siebziger und achtziger
Jahren - nach der DDR und der Sowjetunion — der wichtigste kommunistische
Partner der Bundesrepublik Deutschland.
Der Normalisierungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Volksrepublik Polen vom Dezember 1970 bedeutete u.a. die Anerkennung der
Oder-Neiße-Linie als der Westgrenze der Volksrepublik Polen von seiten der
Bundesrepublik. Für die kommunistischen Machthaber Polens bedeutete diese
Tatsache die Chance, ihren eigenen Spielraum gegenüber der Sowjetunion zu
erweitern. Innenpolitisch hat wiederum dieser Vertrag zur Schwächung des kom-
munistischen Regimes in Polen beigetragen. Denn die Tatsache der westdeutschen
Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze stellte zuvor eines der plausibelsten
Legitimationsargumente des kommunistischen Systems in Polen dar. Da Polen das
zweitgrößte und zugleich das unsicherste Glied des Warschauer Paktes war, hatte
das kommunistische Weltsystem demgemäß durch den Warschauer Vertrag eine
zwar nicht leicht meßbare, doch ohne jeden Zweifel nachweisbare Schwächung
erlitten.
Die polnischen Kommunisten bemühten sich zwar nach 1970 weiterhin eifrig
um die Aufrechterhaltung des »deutschen Schreckgespenstes«. Seit dem War-
schauer Vertrag konnten sie sich jedoch dabei weniger als zuvor auf die offiziellen
bundesdeutschen Positionen berufen, die die Revision der polnischen Westgrenze
forderten. Die Vertriebenen-Verbände und einzelne bundesdeutsche Politiker
nutzten freilich die Tatsache, daß der Warschauer Vertrag keine endgültige Aner-
kennung der Oder-Neiße-Grenze bedeutete (was ein Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichtes von 1976 bekräftigte). Sie sorgten damit auch nach 1970 dafür, daß
die Propagandisten der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei die polnische Bevöl-
kerung mit dem Hinweis auf »die bundesdeutschen Revanchisten« erschrecken
und die sozialistische Sowjetunion als den einzigen Garanten der polnischen West-
grenze darstellen konnten. Nicht von ungefähr schrieb deshalb noch im Jahre 1978
ein polnischer »Dissident«, daß angesichts der polnischen »Entschlossenheit, uns
aus der Abhängigkeit von der UdSSR zu befreien, die Frage, ob die Bundesrepu-
blik sich überzeugend für die bedingungslose Anerkennung der territorialen Inte-
grität Polens aussprechen wird, einen riesigen Einfluß ausüben muß«°.
Die Änderung der Grundlagen der deutschen Ostpolitik Anfang der siebziger
Jahre mußte folglich aus polnischer Sicht zweifellos als ein Schritt in die richtige
Richtung bewertet werden. Die neue westdeutsche Politik gegenüber der Volksre-
publik Polen ließ sich allerdings nicht nur auf die Respektierung der Grenzen in
Osteuropa reduzieren, was während der Ereignisse des Polnischen Sommers 1980
und später besonders deutlich zum Ausdruck gekommen ist.
=
Zdzislaw Najder, »Polen und Deutschland« in: Kultura. Sondernummer deutsch-polnischen
Beziehungen gewidmet, Paris, Herbst 1984 (S. 68-79), S.72. Vgl. den Bericht über das
»Schlesientreffen« in Hannover im Juni 1985 in der polnischen Exil-Zeitschrift Kultura,
Nr. 9/1985, S. 82-86.
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376 Maćków - Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
Die Ereignisse des Polnischen Sommers: Juni-August 1980
Im Sommer 1980 brach in Polen eine in der kommunistisch beherrschten Welt nie-
mals dagewesene Streikwelle aus: Im kommunistischen Staat streikten über 1 Mio.
Arbeiter. Auf solche Weise rechneten sie u. a. mit der sogenannten Ära Gierek ab.
Edward Gierek war nach dem Massaker an der Ostseeküste vom Dezember 1970
als Erster Sekretär des Zentralkomitees an die Spitze der Polnischen Vereinigten
Arbeiterpartei gekommen. Er versprach eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik -
eine Art »Konsumsozialismus«, der mit Finanzhilfe des »Westens« aufzubauen
war. Da der im »Westen« als »liberal« geltende Gierek Strukturreformen des
sowjetsozialistischen Systems weder beabsichtigte noch angesichts der sowjet-
schen Mißbilligung überhaupt hätte durchführen können, wurde aus den großen,
von »westlichen« Anhängern der »Entspannungspolitik« mitfinanzierten Plänen
eine trübe Enttäuschung.
Mit seinem gescheiterten Versuch, den steigenden gesellschaftlichen Konsum
langfristig mit der zentralen Planwirtschaft zu vereinbaren, stand Gierek damals in
Mittelosteuropa keineswegs allein. Sowohl in der CSSR als auch in der DDR
wurde ähnlich verfahren. Speziell in der DDR, wo man sich dabei wie in Polen
»westlicher« Kredite bediente, wirkten sich die Folgen dieser Politik auf den
Zustand der Volkswirtschaft bereits Anfang der achtziger Jahre verheerend aus“.
Bis vor kurzem war es in Westdeutschland trotzdem an der Tagesordnung, die
Wirtschaftsprobleme der Volksrepublik Polen der frühen achtziger Jahre als eine
spezifisch polnische Erfahrung zu betrachten, die womöglich etwas mit der »polni-
schen Wirtschaft« zu tun hatte. So eine Sichtweise schmeichelte zwar der nationa-
len Gesinnung der sie Vertretenden, doch trug sie zugleich dazu bei, daß die Pro-
bleme des kommunistischen Lagers, die sich in Polen dank der gesellschaftlichen
Proteste zeigten, nicht zur Kenntnis genommen wurden.
So blieben die insoweit kompetenten Urteile Wolfgang Seifferts, der die »Wirt-
schaftskrise Polens« als die »Spitze des (osteuropäischen) Eisberges« und »eine
Folge des von der UdSSR importierten Planwirtschaftssystems und der Bindung
an die uneffektive Ökonomie des östlichen Nachbarn«* betrachtete, weitgehend
ungehört. Seiffert betonte zudem im Jahre 1983 indirekt die europäische Bedeu-
tung der Entwicklung in Polen, indem er darauf hinwies, daß die Volksrepublik
Polen mit ihren (damals) 36 Millionen Bewohnern »unbeschadet ihrer gegenwärti-
gen Krise den zweiten Platz im Comecon einnimmt«*.
Ende August 1980 erreichte die polnische Streikwelle ihren Höhepunkt. Die
Streikenden zwangen die Führung der kommunistischen Partei und die Regierung
zur Zulassung freier Gewerkschaften in Polen: Am 31. August 1980 wurde in
Anwesenheit von Journalisten aus der gesamten Welt ein entsprechendes Abkom-
4 Siehe etwa zur Problematik der Auslands-Verschuldung der DDR Peter Przybylski, Tat-
ort Politbüro, Bd. 2. Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski, Berlin 1992, S. 49 ff.
5 Wolfgang Seiffert, Kann der Ostblock überleben? Bergisch-Gladbach 1983, S. 102.
6 Ebd., S. 168.
Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 377
men in der Danziger Lenin-Werft unterzeichnet. So entstand die erste freie
Gewerkschaft in einem kommunistischen Staat — die »Solidarnos¢« mit dem Vor-
sitzenden des Danziger Streikkomitees Lech Walesa an der Spitze. Sie entwickelte
sich unter den Bedingungen eines totalitär aufgebauten Staates zu einer riesigen
Gewerkschaftsbewegung. Ihr gehörten im Jahre 1981 weit über 9 Millionen Men-
schen an, was ca. 80 % der staatlich Beschäftigten in Polen ausmachte. Es bildeten
sich zudem eine ungefähr 3 Millionen starke Gewerkschaft privater Landwirte und
eine Vielzahl von staats- und parteiunabhängigen Verbänden und Organisationen.
Die Proteste des Polnischen Sommers offenbarten zum ersten Mal die Struktur-
krise der sowjetsozialistisch-totalitaren Systeme’. Es war bezeichnend, daß diese
Strukturkrise am Beispiel eines Landes sichtbar wurde, das im Gegensatz zu seinen
vor dem Zweiten Weltkrieg hoch entwickelten westlichen und siidlichen Nachbarn
in der kommunistischen Ara eine Modernisierung durchgemacht hatte.
»Das sowjetische Reich kann, wie jedes andere in der Geschichte, nur von der
Peripherie her aufgeweicht werden«* — kommentierte damals Leszek Kołakowski.
Der im »Westen« verbreiteten Unfahigkeit, die Dynamik dieses Prozesses zu
sehen, hielt er entgegen: »Gewiß ist richtig, daß freie Gewerkschaften mit den
Prinzipien des Kommunismus absolut unvereinbar sind, doch in Polen gab es
schon lange vor dem Sommer 1980 viele Dinge, die sich mit diesen Prinzipien
nicht zu vertragen schienen und doch fortbestanden (Kołakowski meinte etwa die
privaten Landwirte oder eine weitgehend autonome katholische Kirche — J. M.).«?
Schließlich brachte Kołakowski zum Ausdruck, was die überwiegende Mehrheit
der Polen vom »Westen« erwartete: »Niemand erwartet, daß der Westen ım Falle
einer sowjetischen Invasion Polen militärisch zu Hilfe kommen wird, Illusionen
dieser Art gibt es in Polen nicht. Doch sobald einmal bewiesen worden ist, daß sich
totalitäre Institutionen progressiv von innen her aufweichen lassen, kann der
Westen durchaus eine Strategie entwickeln, die geeignet ist, die allmähliche innere
Abnutzung des Sowjetsystems zu fördern. Er kann die Vielfalt und Verschiedenar-
tigkeit der sowjetischen Satellitenstaaten stärken und die Bewegungen moralisch
7 Ebd., S. 168. Siehe dazu Jerzy Macköw, Die Krise des Totalitarismus in Polen. Die Totalita-
rismus-Theorie als Analyse-Konzept des sowyetsozialistischen Staates. Eine Analyse der
System- und Strukturkrise der Volksrepublik Polen in den siebziger und achtziger Jahren,
Münster/Hamburg 1992.
8 Leszek Kolakowski, »Die polnische Lektion« in: Frank Grube/Gerhard Richter (H.), Der
Freiheitskampf der Polen, Hamburg 1981, (S. 239-249) S. 246.
9 Ebd. Der Kommentator der FAZ schrieb zwei Tage vor der Unterzeichnung des Abkom-
mens zwischen den Streikenden und der Regierung, das den Weg zur Zulassung der
freien Gewerkschaften in Polen ebnete, ganz in dem von Kotakowski kritisierten Sinn:
»(Es) ergibt sich die Unlösbarkeit des Konfliktes in Polen, der wahrscheinlich nicht der
letzte dieser Art im Ostblock gewesen sein wird. Es ist zu befürchten, daß die Machtha-
ber sich nur noch zu dem von Lenin als Alternative genannten Rezept flüchten können:
nämlich zu Druckmitteln und Zwangsmaßnahmen. Kommunismus und freie Gewerk-
schaften schließen einander aus« (FAZ vom 29. August 1980).
ZfP 40. Jg. 4/1993
378 Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
unterstiitzen, die den gewaltlosen Versuch unternehmen, den repressiven Charak-
ter des Systems zu schwächen.« '°
Die Formulierungen Kolakowskis schienen geradezu an Westdeutschland
gerichtet zu sein. Sie widersprachen doch in keinem Punkt den hier oft deklarier-
ten Zielsetzungen der Entspannungspolitik. Da die Bundesrepublik Deutschland
bereits in den siebziger Jahren zum wichtigsten Partner der Volksrepublik Polen
im »Westen« geworden war, und zwar nicht nur auf ökonomischem Gebiet, waren
die Haltung und Einstellung der offiziellen bundesdeutschen Stellen wie auch
anderer Vertreter der bundesdeutschen politischen Klasse zu den Ereignissen des
Polnischen Sommers von spezieller Bedeutung.
Die wichtigste polnische Exilzeitschrift KULTURA, die in Paris herausgegeben
wird, veröffentlichte im Oktober 1980 einen Brief von Gräfin Marion Dönhoff -
es handelte sich dabei um eine Antwort auf einen Appell des Chefredakteurs der
KULTURA vom August 1980, Jerzy Giedroyé, die freien Gewerkschaften und die
»demokratische Opposition« in Polen zu unterstützen. Die Mitherausgeberin des
Hamburger Wochenblattes DIE ZEIT verweigerte ihre Unterstützung mit einer
wahrlich staatsmännischen Begründung: Man solle die Sowjetunion nicht verär-
gern, besonders nicht von der Bundesrepublik aus. Gräfin Dönhoff glaubte offen-
bar, mit ihrer Zeitschrift die Weltpolitik zu gestalten. Sie begrüßte daher aus-
drücklich die Tatsache, daß der »ganze Westen« (ausgenommen selbstverständlich
»die Amerikaner«) sich gegenüber der Entwicklung in Polen sehr enthaltsam ver-
halten würde. Giedroyé veröffentlichte ihren Brief !', und zwar mit dem ironischen
Kommentar, daß Gräfin Dönhoff mit ihren Meinungen nicht allein dastünde.
Gräfin Dönhoff mußte bekannt gewesen sein, daß Bundeskanzler Schmidt noch
im August 1980 seinem Freund Edward Gierek mit neuen Krediten hatte unter die
Arme greifen wollen. Der für den 19. August geplante Besuch Giereks beim Bun-
deskanzler in Hamburg war damals zwar auf Wunsch des polnischen Parteichefs
»verschoben« worden und auch später nie zustande gekommen. Dennoch hatte die
Bundesregierung Schmidt die Bürgschaft für einen beträchtlichen Teil des in den
deutschen Banken damals schon umstrittenen Kredits (1,2 Milliarden DM, davon
800 Millionen DM ungebundene Kredite) für die Warschauer Regierung erteilt ”?.
Dies war keineswegs eine enthaltsame Hilfe für die polnische Parteiführung gewe-
sen, besonders wenn man das Ausmaß der gegen ihre Politik gerichteten Proteste
des Polnischen Sommers berücksichtigt. Die Regierung Schmidt und die Partei-
spitze unter Gierek hatten freilich bereits jahrelang Erfahrungen mit der leichtfer-
tigen Vergabe bzw. der leichtsinnigen Inanspruchnahme von deutschen Krediten
gemacht. Wahrscheinlich trug zu dieser, wider besseres Wissen fortgesetzten,
finanzpolitischen Zusammenarbeit beider Politiker der Umstand bei, daß sich zwi-
schen den beiden seit 1975 — bei der Verwirklichung der Entspannungspolitik — ein
10 Ebd., S. 249.
11 Kultura, Nr. 10/1980, S. 124 f.
12 Vgl. Klaus Broichhausen, »Kohle aus Polen. Die deutschen Finanzhilfen« in: FAZ vom
19. August 1980.
Mackow - Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 379
freundschaftliches Verhältnis entwickelt hatte. Helmut Schmidt war nämlich (wie
übrigens der französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing auch) von der Per-
sönlichkeit Giereks geradezu begeistert: »Er war ein Typus des zuverlässigen,
selbst- und machtbewuften, instinktreichen und charismatischen Arbeiterfüh-
rers.« In einem unerwartet selbstkritischen Kommentar zu seiner finanziellen
Unterstützung für das Regime des polnischen Kommunisten gab Schmidt im Jahre
1990 zu, daß er die in seiner Regierungszeit im Sog der zentralen Planwirtschaft
versickernden Milliarden-Kredite immer noch als eine Hilfe für »die Polen« (viel-
leicht für »das Wohl der Menschen« überhaupt?) verstehe: »Auch in Zukunft
würde ich den Polen bis an die Grenze meiner ökonomischen Vernunft helfen
wollen.« '
Die gegen die Politik Giereks streikenden Arbeiter konnten freilich im Sommer
1980 selbst mit einer moralischen Unterstützung Schmidts nicht rechnen. Die Wei-
chen wurden gestellt: Die Bundesrepublik unterstützte finanziell die kommunisti-
sche Führung in Polen, während sie gegenüber der riesigen polnischen Freiheitsbe-
wegung volle Zurückhaltung übte. Schmidt sagte hierzu Anfang Oktober 1980:
»Daß sich ... die Bundesregierung nicht lautstark in die Vorgänge in Polen ein-
mischt, das entspricht unserer friedenspolitischen Klugheit.« »
Außer dieser weltmännischen Klugheit spielte sicherlich auch die Befürchtung
eine Rolle, daß durch den Polnischen Sommer die innerdeutschen Beziehungen
gestört werden könnten. Schmidt sah sich damals gezwungen, seinen für August
1980 geplanten DDR-Besuch abzusagen. Er war von der offensichtlich übertriebe-
nen Sorge geplagt, sein Besuch in der Werftstadt Rostock könnte ähnliche Reak-
tionen auslösen, »wie sie zuvor in der Werftstadt Danzig an der Tagesordnung
waren«'*, Somit offenbarte sich für die westdeutsche Entspannungspolitik ein
schwieriges Dilemma: Das nach einem Rückgang der Repressivität des kommuni-
stischen Systems friedlich und besonnen sich wandelnde zweitgrößte Land des
Warschauer Paktes störte die immer familiärer werdenden Kontakte der deutschen
Demokraten mit den deutschen Kommunisten. Die DDR-Führung war wiederum
vor der Entwicklung in Polen erschrocken und immer williger, in Polen militärisch
zu intervenieren.
Wie alle anderen kommunistischen Führungscliquen in Osteuropa beabsichtigte
die Mannschaft Honeckers nicht, die Repressivität ihres Staates zu mildern, es sei
denn, es gelänge, in der DDR-Bevölkerung alle Autonomisierungstendenzen aus-
zutrocknen. Damit war die bundesdeutsche Politik offensichtlich längst einver-
standen gewesen. Sie hat sich zudem über die ablehnende Haltung der Sowjet-
union gegenüber den Ereignissen in Polen ernsthafte Sorgen gemacht. Die SPD-
FDP-Regierung und ein Großteil der bundesdeutschen politischen Klasse haben
13 Helmut Schmidt, Die Deutschen und ihre Nachbarn. Menschen und Mächte, II, Berlin 1990,
S. 481.
14 Ebd.
15 FAZ vom 2. September 1980.
16 Schmidt, aaO., S. 63.
ZfP 40. Jg. 4/1993
380 Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
daher von vornherein die polnische Freiheitsbewegung nicht als eine Chance fir
Osteuropa und die »Ost«-»West«-Beziehungen, sondern als Bedrohung einer selt-
sam statisch begriffenen Entspannungspolitik betrachtet.
Die größten Sorgen des damaligen Bundeskanzlers entsprangen gerade dem
Sachverhalt, daß ın Polen nicht in erster Linie um wirtschaftliche und soziale
Dinge gestreikt wurde: »Giereks Regierung (Schmidt meint anscheinend Giereks
Führungsmannschaft — Gierek war nie Premierminister — J. M.) wurde durch
anhaltende, sozial und wirtschaftlich nur allzu verständliche Streiks geschwächt,
und die DDR-Führung befürchtete offenbar, die polnische Streikbewegung, die
immer mehr politischen Charakter annahm, könnte auf die DDR übergreifen. Ich
selbst empfand wachsende Besorgnis.«!” Das gleiche, ausschließlich auf die »mate-
riellen Forderungen der (polnischen) Arbeiter« beschränkte Verständnis hat am
24. August 1980 das SED-Politbüromitglied Harry Tisch geäußert. Er vertrat — als
Vertreter eines Staates, der drei Jahre später mit dem Strauß-Kredit vor dem Bank-
rott gerettet werden sollte — außerdem noch die Meinung der SED-Führung, daß
die PVAP »offensichtlich nicht in der Lage (ist), ordentlich zu wirtschaften« !*.
Jeder, der eine vage Ahnung von der Wirklichkeit des »real-existierenden Sozialis-
mus« hat, muß hier jedoch bei Harry Tisch und Helmut Schmidt nachfragen:
Konnte in einem kommunistischen Staat ein Streik überhaupt apolitisch sein? Und
weiter: Stellten nicht gerade die freien Gewerkschaften, die die polnischen Arbei-
ter erstreikt haben, den wichtigsten Sieg des Polnischen Sommers dar?
Helmut Schmidt schien sich allerdings solche Zustände in Polen zu wünschen,
welche er in der DDR Harry Tischs kennengelernt hatte: von Westdeutschland
aus finanzierter Lebensstandard (mit Engpässen), ergänzt um die Friedhofsstille
und eine steigende Anerkennung von seiten der Bundesrepublik. Dieser Wunsch
würde vieles davon erklären, wie sich er, seine Regierung und seine Partei anfangs
der achtziger Jahre gegenüber Polen verhielten.
Die erste Zeit der legalen »Solidarnosc« 1980-1981
Folgt man den Erinnerungen Schmigss, fällt auf, daß er außer Walesa (mit dem er
in besagter Zeit und wahrscheinlich überhaupt nicht gesprochen hatte) keinen
Namen eines Politikers der »Solidarnosc« erwähnt. Dafür aber erinnert er sich an
viele polnische Kommunisten, denen er begegnete. Vielleicht wegen seines fehlen-
den Interesses für die Polen aus der Bewegung »Solidarnost« konnte er von den
polnischen Ereignissen der achtziger Jahre nur das begreifen, was ıhm die Angehö-
rigen der PVAP-Spitze erzählten. Er hätte sich deshalb »durchaus einfühlen (kön-
nen) in die verzweifelte Lage der Führung in Warschau« °. Sie habe wegen ihrer
Fehler abtreten sollen, doch die »Opposition«, für die der Bundeskanzler große
Sympathien empfunden habe, sei der Situation nicht gewachsen gewesen. Ohne
17 Ebd., S. 60 f.
18 FAZ vom 25. August 1980.
19 Schmidt, aaO., S. 504.
Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 381
nur einen Namen zu erwähnen, ın einer sonderbaren Mischung aus Arroganz und
Inkompetenz, läßt sich der ehemalige bundesdeutsche Regierungschef auf Urteile
über diese »Opposition« ein: »Aber die Opposition begriff nicht, daß eine Beseiti-
gung dieser (Warschauer) Führung bei illusionären (sic!) eigenen Zielen das Ein-
greifen der Sowjetunion auslösen würde.«2° Welche Ziele hat sich die »Solidar-
nosé« wirklich gestellt, mit welchen Methoden trachtete sie diese Ziele zu realisie-
ren, welche Strömungen gab es in der »Solidarnosé«, war die PVAP unter Stanis-
law Kania und später Wojciech Jaruzelski ein loyaler Verhandlungspartner der
»SolidarnoSé« in den 16 Monaten (!) ihrer legalen Aktivitäten, worin bestand die
berühmte »Selbstbeschränkung« der Bewegung »Solidarnosé«, welche Politik ver-
trat der Vorsitzende der Gewerkschaftsbewegung Walesa — all diese Fragen exi-
stierten für den Bundeskanzler offenbar nicht. Dafür unterstellte er den Führern
der »Solidarnosc«, daß sie sich der Lage Polens weniger als er bewußt waren. Das
»Illusionäre« der Ziele dieser »Opposition« bestand in seinen Augen offensichtlich
darin, daß sie überhaupt existierte und sich an der Überwindung der Krise der
Volksrepublik Polen zu beteiligen versuchte.
Als der Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher im März 1981 Warschau
besuchte, mied er auf peinlichste Art und Weise jeglichen Kontakt mit Menschen,
die mit der »Solidarno$&« verbunden waren. Der damalige Presseattaché der bun-
desdeutschen Botschaft ın Warschau, der Sozialdemokrat Klaus Reiff, kommen-
tierte: »Nur zur Erinnerung: Damals war die >Solidarnosé nicht irgendein im
Untergrund tätiger Oppositionellenverein, sondern eine gerichtlich zugelassene,
legale Organisation.« 2!
Befremdet fühlten sich so manche Vertreter autonomer polnischer Vereinigun-
gen, wenn sie damals das demokratische Deutschland besuchten. Der Generalse-
kretär des Polnischen Journalistenverbandes (SDP), Dariusz Fikus, erinnert sich
an seine Reise in die Bundesrepublik Mitte 1981: »Die politischen Gespräche, die
wir führten, zeugten von riesigen Befürchtungen der Sozialdemokraten darüber,
was in Polen passiert. Für sie bedeutete dies das Ende der (»friedlichen«) Koexi-
stenz, das Gespenst des kalten Krieges und eine schreckliche Angst vor der
UdSSR. Sie verbargen es nicht, unter anderem der Regierungssprecher Linden-
dorf, daß sie die polnischen Probleme durch eine eigenwillige Brille sahen.« 22
In ihren schlimmsten Träumen haben sich die polnischen Politiker allerdings
nicht vorstellen können, daß die »Angst um die Entspannung« die prominenten
Politiker des bundesdeutschen Regierungslagers dazu bewegen könnte, das Risiko
einer sowjetischen Militärintervention in Polen zu erhöhen. Aus den Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der DDR (Bericht des IM-»Sekretärs« — also Man-
fred Stolpes) geht folgendes über Aussagen des Ministerpräsidenten von Nord-
rhein-Westfalen Johannes Rau am 16. Februar 1981 im Gespräch mit dem Berliner
20 Ebd.
21 Klaus Reiff, Polen. Als deutscher Diplomat an der Weichsel, Bonn 1990, S. 55.
22 Dariusz Fikus, Foksal '80, Warszawa 1989, S. 113.
ZfP 40. Jg. 4/1993
382 Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
Bischof Albrecht Schönherr hervor: »Das Interesse von Rau sei identisch mit der
Führung der SPD und es ginge darum, im Interesse der Entspannungspolitik in
Europa die Situation in der VR Polen zu stabilisieren. Der neue Ministerpräsident
Jaruzelski (General Jaruzelski war am 11. Februar Ministerpräsident der Volksre-
publik Polen geworden - J. M.) sei die letzte Instanz vor einem Chaos oder Bür-
gerkrieg. Sollte Jaruzelski die Situation in der VR Polen nicht in den Griff bekom-
men, dann bliebe der SU (der Sowjetunion) keine andere Wahl, dann müßte sıe
eingreifen. Nach der Auffassung von Rau sei die SU jedoch an einem Eingreifen
nicht interessiert.«?> Rau soll auch seine Unzufriedenheit wegen der Tatsache zum
Ausdruck gebracht haben, daß Lech Walesa die Bundesrepublik, und hier gleich-
falls Düsseldorf, zu besuchen beabsichtigte. Ob sich Rau dessen überhaupt
bewußt war, daß die von ihm geäußerten Meinungen die Führungsspitze der SED
erreichen würden und weiter an die KPdSU geleitet werden könnten, ist zwar
wahrscheinlich, wenn auch nicht nachweisbar.
Anders verhält es sich aber mit ähnlichen Aussagen des Bundeskanzlers
Schmidt, die er am 16. Juli 1981 in Bonn gegenüber Bischof Schönherr und Man-
fred Stolpe gemacht hat. Vor dem Potsdamer »Stolpe-Ausschuß« erklärte der Alt-
bundeskanzler Anfang Dezember 1992, daß er Manfred Stolpe als einen »Kanal«
zur DDR-Führung betrachtet habe und sich dabei auf dessen Sorgfalt habe verlas-
sen können. Im besagten Gespräch am 16. Juli 1980 zeigte der Bundeskanzler -
laut dem Stasi-Papier — Verständnis für eine mögliche Militärintervention der
Sowjetunion in Polen, »denn sie muß als Führungsmacht ihren Laden reinhalten«
... Es sei... (so Schmidt dazu vor dem »Stolpe-Ausschuß«) »sehr wahrscheinlich,
daß ich mich über die Möglichkeit einer militärischen Intervention ausgesprochen
habe«.« 2
Die diplomatischen Bemühungen Schmidts gingen offensichtlich dahin, die zwi-
schen-deutsche Dimension seiner auf dem Prinzip der »Entspannung« beruhenden
Ostpolitik auch nach einer möglichen Militärintervention in Polen zu retten.
Wahrscheinlich setzte er ın diesem Zusammenhang darauf, daß die Sowjetunion
wegen der historischen Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses bei einer
Pazifizierung Polens auf die Heranziehung der Nationalen Volksarmee verzichten
würde. Denn bereits Anfang 1981 hat der Bundeskanzler dem Generalsekretär
Honecker geraten, im Fall einer Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten in Polen
sollte Honecker darauf bestehen, daß DDR-Soldaten daran nicht beteiligt wür-
den®,
Solche Erwartungen Schmidts zeugten, gelinde gesagt, von Ahnungslosigkeit.
Die für den »Notfall« entwickelten sowjetischen Interventionspläne in Polen
sahen selbstverständlich eine Beteiligung der Nationalen Volksarmee vor: Zusam-
23 Ralf Georg Reuth, /M-»Sekretär«. Die »Gauck-Recherche« und die Dokumente zum »Fall
Stolpe«, Frankfurt a. Main/Berlin 1992, S. 191.
24 Ebd.
25 Ders., »Helmut Schmidt erklärt die Welt« in: FAZ vom 3. Dezember 1992.
26 Schmidt, aaO., S. 63.
Maćków - Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 383
men mit den tschechoslowakischen Truppen sollten eine Division und ein Armee-
Stab des DDR-Heeres ihre Aufgaben im Westen Polens erfüllen. Die Verant-
wortlichen der Sowjetunion rechneten, wie auch ihre Verbündeten, im Falle einer
Intervention mit einem Krieg” und beabsichtigten keineswegs, ihn als einen »russi-
schen Uberfall« auf Polen erscheinen zu lassen.
Ausgerechnet die Perspektive eines Krieges in Polen schreckte die Sowjetunion,
einen mit dem Krieg in Afghanistan belasteten Staat, vor einer voreiligen Militär-
intervention in Polen ab. Nur einmal — Anfang Dezember 1980 - standen die War-
schauer-Pakt-Staaten kurz davor, in Polen militärisch einzugreifen. Die Vereinig-
ten Staaten von Amerika kündigten für diesen Fall Sanktionen gegen die Sowjet-
union an. Der polnische Parteichef Stanistaw Kania brachte damals - laut seiner
Erinnerungen - dem sowjetischen Parteichef Breschnew gegenüber seine Uberzeu-
gung zum Ausdruck, daß es in Polen zu einem bewaffneten Kampf gegen die
Interventionskräfte kommen werde: »Man muß ... mit einer heftigen Reaktion
der Gesellschaft rechnen, sogar mit einem nationalen Aufstand. Jugendliche wer-
den mit Benzinflaschen gegen die Panzer kämpfen, Blut wird fließen.« Kania
fügte hinzu: »Die außenpolitischen Konsequenzen der Militärintervention ...
werden katastrophal sein. Der Entspannungsprozeß wird gestoppt, ... was der
Westen ausnutzen wird.« Dem Gespräch Breschnew-Kania ging am gleichen Tag
ein von der SED-Spitze beantragtes Treffen der Führer der Warschauer-Pakt-
Staaten voran, das ihren möglichen Reaktionen auf die Entwicklung ın Polen
gewidmet war. Kania verschweigt, daß er während dieses Treffens die gesammel-
ten Parteichefs der »Bruderstaaten« mit dem Versprechen beruhigte, die Führer
der PVAP würden notfalls mit der Verhängung des Kriegszustandes der polni-
schen »Konterrevolution« ein Ende setzen *.
Kurz nach dem zitierten Gespräch Breschnew-Kania brachen die Sowjets am
5. Dezember 1980 die Vorbereitungen zur Invasion auf Polen ab. Erich Honecker
hat es kurz davor während des Treffens der Führer der Warschauer-Pakt-Staaten
noch geschafft, die Bereitschaft der DDR zu bekräftigen, im Kampf gegen die
»Konterrevolution« in Polen zu helfen . Als der einzige Teilnehmer zeigte er sich
stärker an einer Militärintervention als an einer »innerpolnischen« Lösung interes-
27 Ryszard J. Kukliński, »Wojna z narodem widziana od $rodka« in: Kultura Nr. 4/1987,
(S. 3-57) S. 22.
28 Sıehe etwa ein Interview mit dem tschechischen General Stanistaw Prochazka, der im
Dezember 1980 mit seinen Truppen an der Grenze zu Polen auf einen Einmarsch-Befehl
wartete — »Ju2 siedzielismy w czołgach. Z generałem majorem Stanistawem Prochazka
rozmawia Leszek Mazan« in: Polityka Nr. 37 vom 15. September 1990, S. 13.
29 Stanisław Kania w rozmowie z Andrzejem Urbańczykiem, Zatrzymać konfrontację, War-
szawa 1991, S. 90.
30 Ebd., S. 91.
31 Manfred Wilke/Michael Kubino, »Die Lage in Polen ist schlimmer als 1968 in der ČSSR.
Die Forderung des SED-Politbüros nach einer Intervention in Polen im Herbst 1980« in:
Deutschland Archiv vom März 1993 (S. 335-338), S. 337.
32 Stanisław Kania ..., aaO., S. 63.
ZfP 40. Jg. 4/1993
384 Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
siert”. Die ehemaligen Entscheidungstrager des SED-Staates schweigen sich heute
in seltsamem Einvernehmen zur Frage einer möglichen Beteiligung der DDR-
Truppen am Einmarsch in Polen aus.
Der DDR muteten die Polen in den Jahren 1980-1981 durchaus militärische
Gelüste zu. Die DDR-Führung, und dementsprechend die ganze DDR-Presse,
stand aus machtpolitischen Gründen verständlicherweise der polnischen Gewerk-
schaftsbewegung ablehnend (Sorge um die Systemstabilität) gegenüber. Daß aber
die demokratische Regierung der Bundesrepublik Deutschland dazu fähig war,
das infolge des Zweiten Weltkriegs in den kommunistischen Herrschaftsbereich
gefallene Polen wieder als einen Störfaktor der deutsch-sowjetischen Beziehungen
zu behandeln, hätte damals in Polen kaum jemand geglaubt.
Wenn auch unterschiedlich motiviert, fanden doch beide deutschen Regierun-
gen zu einem erstaunlichen Einvernehmen. Eine symbolische Aussagekraft hat ın
diesem Zusammenhang die Tatsache, daß Honecker den polnischen Kommunisten
im November 1980 80 Millionen DM von jenen »Devisen« schenkte, die die
damals schon gigantisch »devisenverschuldete« DDR nicht zuletzt vermittels ihrer
krummen Geschäfte mit der Bundesrepublik »erwirtschaften« konnte *. Geldspen-
den an die PVAP kamen offenbar auch direkt aus Bonn: Johannes Rau erwähnt in
dem zitierten Gespräch mit Bischof Schönherr »erhebliche Betrage«, die die Bun-
desrepublik Deutschland versteckt der Regierung der VR Polen gutgeschrieben
hätte».
Die Ausrufung des Kriegszustandes durch General Jaruzelski
am 13. Dezember 1981
Die polnischen Kommunisten nutzten die Einstellung der Bundesregierung. Sie
bewirkten bei den SED-Kommunisten, daß der bereits zweimal abgesagte Besuch
Helmut Schmidts in der DDR (zum ersten Mal wegen der sowjetischen Invasion
in Afghanistan, später wegen der Proteste des Polnischen Sommers) ausgerechnet
am 12. und 13. Dezember 1981 doch noch stattfinden konnte’. Am frühen Mor-
gen des 13. Dezember von der Nachricht über die Erklärung des Kriegszustandes
in Polen überrascht, wollte Schmidt seinen DDR-Besuch nicht abbrechen, weil
dies als das Aufgeben der Entspannungspolitik hätte verstanden werden können:
»Auf eine Frage (der Journalisten) ... nach den Konsequenzen für meine
Gespräche mit Honecker antwortete ich, es werde für unser gegenwärtiges
Gespräch keine Konsequenzen haben; denn solcher Art Nachrichten aus Polen
33 Wilke/Kubino, aaO.
34 Peter Przybylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 146. Kania schreibt
in diesem Zusammenhang sogar von 200 Mio. DM. Siehe Stanistaw Kania ..., aaO.,
S. 83.
35 Ralf Georg Reuth, IM-»Sekretär«, aaO., S. 191.
36 Gabriel Mérétik, Noc generala, Warszawa 1989, S. 140 ff.
Mackow . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 385
habe man seit über einem Jahr erwarten müssen. »Herr Honecker ist genauso
bestürzt gewesen wie ich, daß dies nun notwendig war:.« >”
General Jaruzelski hat sich als der Retter der bundesdeutschen Entspannungs-
politik erwiesen; denn er pazifizierte Polen zwecks der Rettung der ineffizienten
Herrschafts- und Wirtschaftsstrukturen des Sowjetsozialismus selbst. In seinen
Momoiren gibt Jaruzelski zu: »Ich kann nur so viel sagen, daß ich Gründe hatte,
um anzunehmen, daß verantwortliche Kreise des Westens — dies betrifft vor allem
die europäischen Staaten — zwar ohne Enthusiasmus, doch mit Verständnis unsere
inneren Lösungen hinnehmen werden. Dies bestätigen die späteren Äußerungen
von Mitterand und Schmidt sowie der Verlauf des Gespräches des Kanzlers der
BRD mit Erich Honecker am 13. Dezember in der DDR.« *
Während des Kriegszustandes wurden in Polen nach offiziellen Angaben 10 131
Personen »interniert«. Allein im Dezember 1981 waren es ca. 5000, darunter 36
willkürlich ausgewählte ehemals prominente Parteimitglieder (zusammen mit dem
am 5. September 1980 entmachteten Edward Gierek), denen man die Verantwor-
tung für die »Krise« anlastete. In der bestreikten schlesischen Zeche »Wujek« wur-
den 7 Bergleute von Sicherheitskräften erschossen. Alle autonomen Organisatio-
nen wurden verboten, aufgelöst bzw. wieder unter die Kuratel des Staates gestellt.
In den achtziger Jahren sind ca. 100 mit der »Solidarność« verbundene Menschen
unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen.
Hätte die Sowjetunion in Polen Blut vergossen, hätte es die Bundesregierung
schwieriger gehabt, die Bedeutung dieser Tatsache herunterzuspielen und die
»Entspannung« zu retten, zumal die Vereinigten Staaten unter Präsident Ronald
Reagan schon auf die »interne Lösung« des Generals Jaruzelski mit Wirtschafts-
sanktionen gegen die Volksrepublik Polen reagiert hatten. Bonn schloß sich diesen
Sanktionen nicht an und verhinderte somit eine einheitliche Politik der NATO-
Staaten gegenüber dem Kriegszustand in Polen. Der Bundeskanzler bezeichnete
General Jaruzelski als einen »polnischen Patrioten«. Als ob die spekulative Frage
der Gesinnung des Generals das alles wettmachen würde, was er mit der Erstik-
kung der Reformchancen seinem Land angetan hatte.
Der heutige Chefredakteur der Warschauer Zeitung »Zycie Warszawy«, Kazi-
mierz Wöycicki, empfing als »Internierter« im Dezember 1981 in einer Gefängnis-
zelle durch einen nicht ausschaltbaren Propagandasender folgende Informationen:
»Deutsche Kommentare sprachen angeblich über den Patrioten Jaruzelski, über
seine schwere Entscheidung und über den Kompromiß, den er anstrebe ... In
Deutschland bedauerte man die Polen (später drückte sich dieses Bedauern in gro-
Ber Paketaktion aus), aber in politischen Kreisen war man der Meinung, die Ver-
nunft befinde sich auf seiten Jaruzelskis; es werde keine sowjetische Intervention
geben, die deutsche Ostpolitik sei also gerettet. Wir saßen in der Zelle, ... einfa-
che Arbeiter aus Piaseczno und Ursus, Bauern aus der Umgebung von Warschau,
37 Schmidt, aaO., S. 74.
38 Wojciech Jaruzelski, Stan wojenny. Dlaczego ..., Warszawa 1992, S. 359.
ZfP 40. Jg. 4/1993
386 Mackow . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
unter uns auch ein paar Universitatsprofessoren und Journalisten, und wir spra-
chen darüber, auf wessen Rücken diese deutsche Ostpolitik gerettet werden
solle.« 3
Leopold Unger, ein glänzender in Westeuropa lebender polnischer Publizist,
veröffentlichte in der Pariser KULTURA im Januar 1982 einen Aufsatz u. d. T.
»Deutschland, Deutschland ...«*, der unter polnischen Intellektuellen sehr
bekannt wurde. Darin betonte er einerseits die Größe der humanitären Hilfe der
bundesdeutschen Bevölkerung für Polen. Andererseits warf er der Bonner Politik
vor, daß sie bewußt falsche Mythen über den Kriegszustand in die Welt gesetzt
hätte: die Polen würden sich gegenseitig töten, Jaruzelski sei ein Shakespeare-
Held, die Polen würden mit ihrem Freiheitsdrang immer übertreiben, die Wirt-
schaftssanktionen gegen die kommunistischen Staaten würden nichts bringen,
Jaruzelski sei der polnische Kadar oder Tito, in Jalta sei die Teilung Europas
beschlossen worden - die Revision von Jalta würde deshalb den Weltkrieg bedeu-
ten.
Unger zeigte sich außerdem empört über die Arroganz der bundesdeutschen
Presse gegenüber der polnischen Tragödie (er nannte als Beispiele die Kommen-
tare von Rudolf Augstein und Theo Sommer) und nahm zur damaligen Äußerung
Willy Brandts Stellung, viele würden sich über Polen aufregen, während sie nichts
getan hätten, als die Berliner Mauer gebaut wurde: »Brandt vergißt nur, daß die
Polen keine Schuld am Entstehen der Mauer haben, während die Deutschen in
den Jahren 1939-1945 eine gewisse Rolle dabei gespielt haben, daß Polen zu die-
sem Zustand gelangte, in dem es sich heute befindet.«“' Abschließend zitierte der
polnische Publizist die sowjetische Regierungszeitung »Iswjestja«: »»Trotz des
kolossalen Drucks Washingtons .... blieb Westdeutschland seiner Politik treu, sich
in Polen nicht einzumischen«. Wir gratulieren« — ironisierte Unger. »Für die Frage
der Nicht-Einmischung ın die inneren Angelegenheiten Polens ist keiner mehr
zuständig als Rußland und Deutschland.« *2
Die Zeit der illegalen »Solidarnosé«
Die massive polnische Kritik der westdeutschen Reaktion auf den Kriegszustand
in Polen bewirkte bei der sozial-liberalen Koalition in Bonn nichts. Den deutschen
Bundeskanzler schien am Kriegszustand, so ist seinen Erinnerungen zu entneh-
men, besonders das Schicksal eines »internierten« Kommunisten zu empören: das
des ehemaligen Parteichefs Edward Gierek. Im Jahre 1986 besuchte Altbundes-
kanzler Schmidt mit Billigung Jaruzelskis seinen damals von der Jaruzelski-Füh-
39 Kazimierz Woycicki, »Haß auf die Deutschen?« in: Kursbuch vom September 1985,
(S. 131-135), S. 134 f.
40 Leopold Unger, »Deutschland, Deutschland ...« in: Kultura Nr. 1/1982, S. 89-102.
41 Ebd., S. 101.
42 Ebd., S. 102.
Mackow . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 387
rung weitgehend von der Außenwelt abgeschirmten Freund in dessen Haus in Kat-
towitz.
Die »westliche Unterstützung fiir Walesa (war — so Helmut Schmidt -)
begrenzt, weil man nicht schuld sein wollte an — denkbaren — biirgerkriegsahnli-
chen Zusténden«*. Von Polen aus sind jedoch keine Vorwürfe gegen »den
Westen« erhoben worden, er lasse die »Solidarność« im Stich. Die Polen haben
nur einzelne »westliche« Politiker kritisiert, die der »Solidarnos¢«-Bewegung
keine überzeugende moralische Unterstützung geleistet hätten. Der amerikanische
Präsident Reagan war damals wohl der beliebteste Politiker in Polen; denn er
hatte die Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen mit der Regierung
der Volksrepublik Polen und die Rücknahme der amerikanischen Wirtschaftssank-
tionen von der Freilassung politischer Gefangener und der Wiederzulassung der
Gewerkschaft »SolidarnoS¢« abhängig gemacht.
Viel leichter war es für die Leute um Jaruzelski, die deutschen Sozialdemokra-
ten für ihre Politik zu gewinnen. Der in den meinungsbildenden Kreisen West-
deutschlands als »liberal« geltende Vize-Premierminister und spätere Premiermini-
ster der Volksrepublik Polen, Mieczystaw F. Rakowski, bestätigt dies nicht ohne
einen leichten ironischen Unterton: »Freundschaftliche Beziehungen, die ich zu
führenden deutschen Sozialdemokraten hatte, besonders mit Wehner, Brandt,
Schmidt, Egon Bahr und Wischnewsky, hatten ıhre Wirkung auf die Einstellung,
die die Führer der SPD 1981 und in den nächsten Jahren gegenüber den Ereignis-
sen in Polen bezogen. Seinerzeit sagte mir Egon Bahr, daß... »wenn unser Freund
Rakowski, zu dem wir Vertrauen haben, uns sagt, daß es (in Polen) keinen ande-
ren Ausweg (als den Kriegszustand) gegeben hatte, dann haben wir keine Gründe,
ihm nicht zu glauben«.« “
Jaruzelski bedankte sich 1986 bei Helmut Schmidt für die »realistische Einstel-
lung« der deutschen Sozialdemokraten in den Jahren 1981-1982. An dieser Ein-
stellung änderte die Tatsache nichts, daß in Polen eine in der europäischen
Geschichte einmalig breite und vielfältige Untergrundbewegung existierte. Millio-
nen von Büchern wurden illegal herausgegeben, hunderte Zeitschriften und Zei-
tungen wurden regelmäßig im Untergrund publiziert, Dutzende politische Grup-
pierungen und die verbotene Gewerkschaft »Solidarnos&« waren im Untergrund
aktiv. Dank dieser und anderer Formen des gesellschaftlichen Widerstandes
bewahrte die Volksrepublik Polen ihren Ruf als die »freiheitlichste Baracke im
sowjetischen Lager«.
Dem General Jaruzelski mußte besonders gefallen haben, daß der damalige
SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner als erster hochrangiger »westlicher«
Politiker Polen bereits am 19. Januar 1982 »privat« besuchte. Klaus Reiff berichtet
über dessen Gespräch mit Jaruzelski: »Das Gespräch mit General Jaruzelski ...
dauerte drei Stunden. ... Zum Abschied umarmte der sonst so spröde Herbert
43 Schmidt, aaO., S. 505.
44 Mieczysław F. Rakowski, Jak to sig stalo, Warszawa 1991, S. 60.
ZfP 40. Jg. 4/1993
26
388 Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
Wehner den General ... Mag sein, daß dabei Herbert Wehners tiefe Empfindun-
gen für Polen ihren sichtbaren Ausdruck fanden.« *
Das »Private« des Wehner-Besuchs in Polen im Januar 1982 hatte seine symbo-
lisch-komischen Nuancen. Der Fraktionsvorsitzende war in einem gewöhnlichen
Zug (Expreß Berlin-Leningrad) gekommen. Seine Hinreise hatte er in einem
sowjetischen Schlafwagen verbracht. So wurde er mit sowjetsozialistischer Reise-
wirklichkeit (wieder) konfrontiert: Schmutz, verriegelte Fenster und Türen, feh-
lendes Wasser. Die ganze Wut darüber entlud er gegenüber seinen polnischen
Gastgebern, und zwar auf dem Warschauer Bahnsteig. Die Rückreise erfolgte
dann in einem Salonwagen der Polnischen Staatsbahn, der auf Anordnung der
Gastgeber »selbstverständlich sauber gewaschen, an den Expreß Leningrad—Berlin
angehangen wurde«*“. Es gibt keine Angaben darüber, ob Herbert Wehner
glaubte, jeder »private« Besucher könne im »sozialistischen Polen« so eine Heim-
reise antreten.
Willy Brandt und Hans Jochen Vogel waren bei ihren später erfolgten Polen-
Besuchen stengstens darum bemüht, irgendwelche Kontakte zur »Solidari-
täts«-Führung entweder ganz zu meiden oder sie möglichst herunterzuspielen.
Willy Brandt lehnte im Dezember 1985 ebenso wie Hans Jochen Vogel im Novem-
ber 1984 jedes auch noch so »private« Treffen mit Wałęsa ab. Der Vorsitzende der
»Solidarnos¢« — der polnische Friedensnobelpreisträger — reagierte wiederum
staatsmännisch-gelassen auf die Haltung des deutschen Friedensnobelpreisträgers.
Er ließ sich auf einen höflichen Briefwechsel mit Brandt ein”.
Bevor der damalige SPD-Vorsitzende nach Polen kam, hatte der bekannte Bür-
gerrechtler Adam Michnik aus einer Gefängniszelle folgende Worte an den deut-
schen Sozialdemokraten gerichtet, die vielleicht dazu beigetragen hatten, daß
Brandt während seines Besuchs mit dem ım Jahre 1982 »internierten« künftigen
Premierminister der Republik Polen, Tadeusz Mazowiecki, zusammentraf: »Soll-
ten Sie mein Land besuchen, so beschränken Sie sich nicht auf die zweifelhafte
Ehre, die Hände unserer Generäle und Parteisekretäre zu schütteln. Ich empfehle
ihnen ... Lech Walesa ... zu besuchen ... Besuchen Sie uns in unseren luxuri-
ösen, wegen ihrer Rechtsstaatlichkeit berühmten Gefängnissen. Wir werden Ihnen
einige interessante Geschichten erzählen — darüber, wie heute in Polen politische
Gefangene behandelt werden, deren Existenz unsere Generäle (Ihre Gesprächs-
partner) leugnen ... Und dann vergessen Sie nicht, Blumen am symbolischen Grab
der Bergleute ... niederzulegen, die im Dezember 1981 ermordet wurden. Besu-
chen Sie Polen, Herr Brandt. Herzlich willkommen!« *#
Im Oktober 1987 war Hans Jochen Vogel wieder einmal an der Reihe. Im Mor-
gengrauen bemühte er sich, mit dem Privatauto eines Angestellten der bundesdeut-
45 Reiff, aaO., S. 306.
46 Ebd., S. 305.
47 Jerzy Holzer/Krzysztof Leski, »Solidarnosc« w podziemiu, Lodz 1990, S. 128.
48 Adam Michnik, »Zwischen Rußland und Deutschland« in: Kultura. Sondernummer ...,
aaO., (S. 33-49), S. 48 f.
Mackow . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 389
schen Botschaft in Warschau zur Symbolstätte des »Solidarnosé«-Widerstandes —
zum Grabmal des im Herbst 1984 von der Staatssicherheit ermordeten Priesters
Jerzy Popiełuszko - zu gelangen”. Es galt für die SPD immer noch das Prinzip:
vor allem die polnischen Kommunisten nicht zu verärgern.
Zwar war in den achtziger Jahren die SPD die demokratische Partei, die mit der
PVAP am engsten verbunden war, doch ging die zweifelhafte Fixierung westdeut-
scher Politiker auf die Jaruzelski-Führung nicht nur von den sozialdemokratischen
Kreisen aus. Trotzdem hat die politische Wende des Jahres 1982 in der Bundesre-
publik Deutschland eine merkbare Änderung der Regierungspolitik gegenüber
Polen bewirkt. Bezeichnend dafür war die Ursache für das Nichtzustandekommen
des Besuchs des Außenministers Hans Dietrich Genscher in Warschau im Jahre
1984. Die Führungsspitze der PVAP ließ diesen Besuch nicht zu wegen des Wun-
sches der deutschen Seite, in die Warschauer Botschaft der Bundesrepublik die
Politiker der »Solidarnose« — Lech Walesa, Bronistaw Geremek und Janusz
Onyszkiewicz — einzuladen °°.
Die deutsche Polen-Politik näherte sich somit den Standards anderer, weniger
auf »die Entspannung« fixierter »westlicher« Staaten, und zwar ganz im Sinn der
bereits zitierten polnischen Forderung, daß der »Westen« »die Vielfalt und Ver-
schiedenartigkeit der sowjetischen Satellitenstaaten und die Bewegungen mora-
lisch unterstützen (sollte), die den gewaltlosen Versuch unternehmen, den repressi-
ven Charakter des Systems zu schwächen«°!. Die meisten »West«-Politiker, die
Polen in den achtziger Jahren privat besuchten, machten es schon früher zur
Bedingung ihrer Reise, den seit 1983 wieder in der Danziger Lenin-Werft arbei-
tenden Elektriker Lech Walesa bzw. andere Prominente der »SolidarnoSsé« treffen
zu dürfen. Die international weitgehend isolierten polnischen Kommunisten gaben
diesem Wunsch dann gewöhnlich nach. Nach der Freilassung der meisten politi-
schen Gefangenen Polens im Jahre 1986 normalisierten sich die Beziehungen der
Mannschaft Jaruzelski mit demokratischen Staaten. Seitdem durften die das Land
Walesas immer öfter offiziell besuchenden »West«-Politiker sich sogar mit den
Prominenten der »Solidarnosé« treffen°2. Mit dieser konsequenten Haltung hat
der »Westen« wesentlich zu der später erfolgten Legalisierung der Opposition
durch die Staatspartei PVAP beigetragen.
Der in den vorangegangenen Jahren angerichtete Schaden für die deutsch-pol-
nischen Beziehungen konnte durch die spätere Entwicklung nicht ganz wiedergut-
gemacht werden: Der Vertrauensverlust saß bei den nicht-kommunistischen Polen
sehr tief. Auch nach der Wende in Bonn demonstrierten immer noch bundesdeut-
sche Politiker ihre Mißachtung des antikommunistischen Widerstandes in Polen.
Sie zeigten damit eine Haltung, die übrigens keineswegs nur den Politikern der
früheren sozialdemokratisch-liberalen Regierungskoalition eigen war.
49 »Hölzernes Ritual« in: Der Spiegel Nr. 41 vom 5. Oktober 1987, S. 232 f.
50 Rakowski, aaO., S. 62.
51 Vgl. FN 10.
52 Holzer/Leski, aaO., S. 127.
ZtP 40. Jg. 4/1993
Y;
26"
390 Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
In der zweiten Juli-Hälfte des Jahres 1983 begab sich auch Franz Josef Strauß
»privat« auf die Spuren Wehners. In einem Interview mit dem für die Auslandspro-
paganda zuständigen Sender »Radio Polonia« behauptete der damalige bayerische
Ministerpräsident, die Lage in Polen seı besser als in manchen Berichten darge-
stellt; die Führung des Landes bemühe sich sehr, Belastungen abzubauen, und
habe es dabei nicht leicht. »F. J. Strauß werde ich nicht kommentieren« — schrieb
aus dem Gefängnis der heutige Chefredakteur der größten polnischen Tageszei-
tung »Gazeta Wyborcza«, Adam Michnik -, »da mir der Sinn seiner Äußerungen
nicht klar ist. Ähnlich unklar waren für mich früher seine Äußerungen zur polni-
schen Westgrenze. Vielleicht gestattet es der Werte-Katechismus des Herrn
Strauß, Polizeispitzeln Interviews zu geben (denn nur so muß man den Status
eines Warschauer Journalisten, mit dem er gesprochen hatte, einschätzen), das
gleiche gilt für seine verächtliche Einstellung gegenüber dem Schicksal von Einge-
kerkerten. Nicht ich habe das zu beurteilen.«°’ Strauß, der damals versuchte, sich
in der Ostpolitik zu etablieren (der DDR-Kredit), traf in seiner Eigenschaft als
»Privatperson« einige kommunistische Politiker (etwa den Außenminister Stefan
Olszowski und den Vize-Premierminister Mieczysław F. Rakowski) sowie den Pri-
mas der katholischen Kirche Glemp, jedoch keinen Vertreter der »Solidarnosé« *.
In seinen Memoiren ging er auf den Verlauf dieser Reise mit keinem Wort ein °®.
Anstatt eines Schlußwortes
Zdzistaw Najder, ein prominenter polnischer »Dissident«, der während des
Kriegszustandes von der Jaruzelski-Justiz in Abwesenheit zum Tode verurteilt
worden war, wies schon im Jahre 1978 auf die Verknüpfung der großen Ziele der
deutschen und der polnischen Politik hin: »Eine der Folgen der Wiedererlangung
der Unabhängigkeit Polens wird die Öffnung neuer Möglichkeiten für die Wie-
dervereinigung Deutschlands sein.«* Im gleichen Aufsatz setzte er sich mit Nach-
druck für die Wiedervereinigung Deutschlands im Rahmen der Europäischen
Gemeinschaft ein: Sie würde »uns Polen das Tor zur Welt öffnen ... — dieses
Bewußtsein hat Eingang gefunden in das Denken sehr vieler politisch aktiver
Polen« .
Zehn Jahre später brachen in seinem Land wieder Streiks aus. Sie führten dies-
mal zum ersten Runden Tisch des kommunistischen Machtbereiches, zu Parla-
mentswahlen und zur schrittweisen Machtübernahme durch das Lager der »Solı-
darność« im Sommer des Jahres 1989. Dies besiegelte den Tod der »Breschnew-
Doktrin«. Jemand, der die politische Karte Europas und den Verlauf des
Umbruchs in der DDR ein bifchen kennt, muf sich die Frage stellen, wie die
53 Michnik, aaO., S. 48.
54 Siehe »Strauß w Polsce« in: Kultura Nr. 9/1983, S. 139-142.
55 Franz Josef Strauß, Erinnerungen, Berlin 1989.
56 Najder, aaO., S. 70.
57 Ebd., S. 69.
Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 391
Sowjetunion auf die Unruhen ın der DDR und später auf die deutschen Wieder-
vereinigungswünsche reagiert hätte, wenn sie sich zuvor mit einer »Solidar-
no$é«-Regierung nicht hätte abfinden müssen.
Haben Polen wie Najder wirklich keinen Grund, davon überzeugt zu sein, daß
sie die Lage in Europa richtig analysıert und dementsprechend in der polnischen
Widerstandsbewegung richtig gehandelt haben? Kann an dieser Überzeugung die
Tatsache etwas ändern, daß die bundesdeutschen Anhänger der »Entspannung um
jeden Preis« immer noch nicht den geringsten Zweifel an der Richtigkeit der von
ihnen betriebenen »Realpolitik« hegen?
Zusammenfassung
Es gab eine gravierende Diskrepanz zwischen den deklarierten Prinzipien der bun-
desdeutschen Entspannungspolitik und dem tatsächlichen Zustand der Beziehun-
gen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen in
den siebziger und achtziger Jahren. Die Bundesregierung Helmut Schmidt und
andere Akteure der bundesdeutschen politischen Klasse unterstützten die Stabilität
des kommunistischen Systems in Polen. Die Ablehnung des friedlichen System-
wandels in Polen nahm zuweilen drastische Formen an - bis hin zur Befürwortung
einer Militärintervention der Sowjetunion in Polen im Jahre 1981 durch den Bun-
deskanzler. Die Bundesregierung Schmidt sowie die Anhänger ihrer Ostpolitik
verkannten sichtbare Signale der Strukturkrise des Sowjetsozialismus. Sie glaub-
ten, durch die Unterstützung der Stabilität in Osteuropa kämen sie der Lösung der
deutschen Frage näher. Die namhaften Vertreter des antikommunistischen Wider-
standes in Polen erkannten hingegen bereits in den siebziger Jahren, daß die
Strukturkrise des sowjetsozialistischen Totalitarismus die Chance sowohl für die
staatliche Souveranitat Polens als auch fiir die Einheit Deutschlands sowie fir die
Überwindung der Jalta-Ordnung darstellt.
Summary
There was a considerable discrepancy between the declared principles of German
detente politics and the true condition of the relationship between the Federal
Republic of Germany and the People’s Republic of Poland in the 1970ies and
1980ies. Helmut Schmidt’s government and other actors of the German political
class supported the stability of the communist system in Poland. At times their
refusal to support peaceful systemic change in Poland took drastic forms, culmi-
nating in chancellor Schmidt’s advocation of the Soviet military intervention in
Poland 1981. Schmidt’s government and the proponents of his “Ostpolitik”
ignored visible signs of the structural crisis of the Soviet socialism. They believed
that by supporting stability in Eastern Europe they would move closer toward a
solution of the “German question”. However, as early as the 1970ies most notable
ZfP 40. Jg. 4/1993
392 Maćków . Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
members of the anticommunist resistance movement in Poland had already real-
ized that the structural crisis of Soviet totalitarianism opened up opportunities for
Poland to win back its sovereignty, for German to be reunited and offered a
chance to overcome the Yalta-postwar international order.
Christoph Gusy
Selbstmord oder Tod?
Die Verfassungsreformdiskussion der Jahre 1930-1932
Die Diskussion um die Reform der Weimarer Reichsverfassung war fast so alt wie
die WRV selbst. Schon daher lag es nahe, der Verfassungskrise des Jahres 1930 mit
dem Ruf nach Verfassungsänderungen zu begegnen. Die angestrebten Ziele und
Mittel dieses staatsrechtlichen Wandels hingen dabei von dem politischen Standort
der einzelnen Autoren ab.
I. Verfassungsreform in der Weimarer Republik
Bis zum Jahre 1930 lassen sich in der Diskussion um die WRV zwei divergierende
Grundanliegen unterscheiden: das Ziel der Vollendung der unvollendeten Reichs-
verfassung (dazu 1.) und zeitlich parallel, aber inhaltlich entgegengesetzt, die poli-
tische und ansatzweise auch staatsrechtliche Fundamentalkritik (dazu 2.).
1. Die unvollendete WRV
a) Die Weimarer Nationalversammlung hatte bei ihrem Werk der Verfassungge-
bung eine Vielzahl äußerst heterogener Ziele und Belange zu bündeln!. Waren
schon die drei Koalitionsparteien ihrer Tradition, ihrer Mitgliedschaft wie ihrer
Programmatik nach äußerst heterogen, so galt dies erst recht für andere Faktoren,
auf welche gleichfalls Rücksicht genommen werden mußte oder jedenfalls genom-
men wurde: die fortamtierenden Beamten aus der Monarchie, die Reichswehr, die
Siegermachte des Weltkrieges, die Unternehmer und die Gewerkschaften.
Zugleich sah sie sich zu dem Versuch genötigt, den inneren Unruhen und den
Bestrebungen sowohl nach »Fortsetzung der Novemberrevolution« als auch nach
ihrer Rückgängigmachung? möglichst politischen Wind aus den Segeln zu neh-
men. Nicht zuletzt war aber auch der Versuch zu wagen, den Blick über die aktu-
ellen Bedürfnisse einer Überwindung der Nachkriegsmisere hinaus in Richtung
auf eine ausgreifende Programmatik für erhoffte bessere Zeiten im Sinne der Ziele
1 Zum folgenden C. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. Aufl. (Nach-
druck) Düsseldorf 1984, S. 3 ff., 19 ff.; U. Kluge, Die deutsche Revolution 1918/19, Frank-
furt 1985, S. 54 ff., 138 ff., 159 ff.
2 Dazu H. Hürten ın: Bracher/Funke/Jacobsen (H.), Die Weimarer Republik 1918-1933,
Bonn 1987, S. 81 ff.
ZfP 40. Jg. 4/1993
394 Gusy - Selbstmord oder Tod?
der Revolution zu richten. Die Summe dieser Vorhaben wurde nicht eben erleich-
tert durch den Umstand, daf das Ereignis der Revolution die alten und neuen eta-
blierten Kräfte überrascht, überrollt und weitgehend ohne politisches Konzept für
die Bewältigung der Aufgaben der Zukunft außerhalb des staatsrechtlichen Rah-
mens der Monarchie vorgefunden hatte. Von daher war das Ergebnis der Verfas-
sungsberatungen nicht überraschend: Die WRV wies in hohem Maße kompromiß-
hafte Züge auf.
Die Stärken dieses Kompromisses waren unverkennbar: Wenn in der vom Verfas-
sunggeber vorgefundenen politischen Situation überhaupt so etwas wie Einheits-
stiftung oder Integration ermöglicht werden sollte, so konnte dies nicht in der
konsequenten Umsetzung der Programmatik einzelner Gruppierungen geschehen.
Sie konnte vielmehr nur in einer möglichst umfassenden Berücksichtigung des vor-
handenen Spektrums äußerst heterogener Kräfte gelingen, auf deren potentielle
Unterstützung die Republik schon bald angewiesen sein würde. Ebenso unver-
kennbar waren aber auch die Nachteile jenes Kompromisses: Wer von seinen Zielen
ein wenig verwirklichen wollte, konnte dies nur um den Preis einer Aufgabe oder
Hintanstellung anderer Belange. Damit waren aber nicht nur Erfolg und poten-
tielle Zufriedenheit, sondern gleichzeitig Mißerfolg und mögliche Unzufrieden-
heit mit dem Verfassungswerk gleichmäßig verteilt. Je intensiver eine Gruppierung
auf ihre eigenen Interessen und Belange fixiert war, desto weniger kompromißfä-
hig war sie. Und desto eher konnte sie dazu neigen, vom Ergebnis der Verfassung-
gebung enttäuscht zu sein. Menetekel solcher latenter Unzufriedenheit war schon
die geringe Beteiligung an der Schlußabstimmung der Nationalversammlung über
die WRV am 31. Juli 19194.
Von daher vermochte es nicht zu überraschen, daß praktisch mit dem Inkraft-
treten der neuen Verfassung am 11. August 1919 die Kritik an ihr begann. Diese
Kritik speiste sich insbesondere aus 2 Quellen: (1) Zunächst aus den unerfüllt
gebliebenen politischen Zielen der Kritiker: Sie maßen das letztlich Erreichte an
den eigenen anfänglichen Idealen und kamen so zu mehr oder weniger umfängli-
chen Verlustlisten. Diese Richtung der Verfassungskritik stellte sich praktisch als
Fortsetzung der Verfassungsdiskussion aus vorrepublikanischer Zeit, also aus
Monarchie und Weltkriegszeit, dar. (2) Sodann aber auch aus dem Verlauf der
Verfassungsberatungen selbst: Hier artikulierten sich diejenigen, welche sich in
der Nationalversammlung nach eigener Ansicht nicht ausreichend hatten durchset-
zen können. Dieser Zweig der Kritik stellte sich praktisch als Fortsetzung der Ver-
fassungsberatungen von Weimar dar: Die in der Nationalversammlung nach eigener
Ansicht »unterlegenen« Krafte versuchten die Verfassungsdiskussion als Verfassungsre-
3 Näher dazu R. Grawert ın: DSt 1989, S. 481.
4 Dazu Verhandlungen der RT, Bd. 329, S. 2197. Von den 420 seinerzeit besetzten Manda-
ten nahmen an der Schlußabstimmung nur 338 Abgeordnete teil, von denen 262 für die
neue Verfassung stimmten (75 dagegen, 1 Enthaltung). Von den 82 Abwesenden stamm-
ten aus der Fraktion der SPD 43 (mehr als ein Viertel der Fraktion!), aus der DDP 14
und dem Zentrum 8.
Gusy . Selbstmord oder Tod? 395
Jformdiskussion fortzuführen und ihre bei der Verfassunggebung unerfillt gebliebenen
Anliegen nun im Wege der Verfassungsrevision durchzusetzen. Gemeinsam war bei-
den Richtungen: Ihnen ging es nicht um eine prinzipielle Ablehnung der neuen
Verfassung, sondern um deren Vervollständigung, Verbesserung oder Ergänzung.
b) Die Inhalte solcher Reformvorschläge waren zunächst noch von den politi-
schen Problemen der Vorkriegszeit bestimmt gewesen. Hierbei ging es zunächst
um föderalistische Fragen, insbesondere die Frage nach Zentralisierung bzw.
Dezentralisierung von Kompetenzen‘. Das Stichwort von der »Verreichlichung«
(Erich Koch-Weser) staatlicher Aufgabe machte Karriere*, eine Forderung, wel-
cher zumindest einzelne Länder mit Dezentralisierungsbestrebungen begegneten.
Fast gleichzeitig setzte die alte Diskussion um eine Neugliederung des Reichsgebietes
(Art. 18 WRV) wieder ein’. Ihr ging es weniger um die Beseitigung kleiner, prak-
tisch nicht funktionsfähiger Lander — solche Tendenzen waren mit dem Zusam-
menschluß der thüringischen Staaten (1920) und der Eingliederung Waldecks nach
Preußen (1929) noch am ehesten erfolgreich gewesen - als vielmehr um die Besei-
tigung des Dualismus zwischen Preußen und Reich und die Aufhebung des preußi-
schen Ubergewichts unter den Ländern durch Aufteilung oder Dezentralisierung
oder Verreichlichung dieses Landes. Die Diskussion um dieses — damals als zentral
empfundene — Problem® dauerte bis zum »Preußenschlag« an.
In der Mitte der Republik traten dann eher Wahlrechtsfragen in das Zentrum der
Diskussion’. Sie stellten sich in zweierlei Richtungen. Bei der Wahl des Reichstags
durch das Volk wurde über ein eventuelles Abgehen vom reinen Verhältniswahl-
recht und Möglichkeiten einer politischen Stabilisierung durch Einführung von
Elementen der Mehrheitswahl diskutiert. Im Zentrum der Erwägungen stand
aber schon damals die Wahl der Regierung durch das Parlament. Sie war in Art. 54
Satz 1 WRV nur rudimentär angesprochen; insbesondere blieb dort völlig offen,
5 Überblick bei G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur 1, 2. Aufl. Stuttgart 1987,
S. 215 ff. So etwa J. Henle in: Reich und Länder 1931, S. 103. Die Länder hatten eine
eigene Verfassungsreformkommission eingesetzt; Bericht über deren Ergebnisse bei A.
Brecht in: Reich und Länder 1930, S. 67. ,
6 RMI Koch(-Weser), Verh. des RT, Bd. 330, S. 3169. Zu den Plänen Kochs s. näher G.
Papke, Der liberale Politiker Erich Koch-Weser in der Weimarer Republik, Baden-Baden
1989, S. 50 ff.
7 Überblick bei W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. München 1964,
S. 374 ff., 386 ff. Zur Geschichte der — letztlich gescheiterten — Reformbestrebungen L.
Biewer, Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik, Berlin 1979, mit einem
Schwerpunkt in Südwestdeutschland.
Die Ausführungen Apelts, aaO. (FN 7), zur Verfassungskritik und Verfassungsreform
stehen ganz unter dem Eindruck dieser Frage. Dies hing aber auch mit Apelts damaliger
politischer Position als zeitweiser sächsischer Innenminister (1928-1930) zusammen.
9 Ausgelöst wohl durch H. Müller in: Die Gesellschaft (3) 1926, S. 299 f. Eingehend hierzu
H. Pohl / G. Leibholz in: VVDStRL 7, 1932, 132/160. Zum Ganzen G. Schulz, Zwischen
Demokratie und Diktatur, aaO. (FN. 5), S. 236 f.
10 Hierzu eingehend E. Schanbacher, Parlamentarische Wahlen und Wahlsystem in der Wei-
marer Republik, Düsseldorf 1981, S. 113 ff.
00
ZfP 40. Jg. 4/1993
396 Gusy - Selbstmord oder Tod?
auf welche Weise der Reichstag sein »Vertrauen« gegenüber der Reichsregierung
artikulieren mußte”. Während die Praxis hier sogar Stillschweigen für ausrei-
chend hielt'2, waren der Abwahl einer Regierung durch ausdrücklichen Entzug des
Vertrauens (Art. 54 Satz 2 WRV) keine Grenzen gezogen. Seit hier das Menetekel
des destruktiven Mißtrauensvotums — erstmals wohl bei der Abstimmung über die
2. Regierung Luther am 28. Januar 1926 — auftrat, kam die Erörterung von Gren-
zen der Abwahlbefugnis und ihrer Begrenzung auf ein konstruktives Mißtrauensvo-
tum auf".
11
Eingehender Bericht bei E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte VI, Stuttgart 1981,
S. 330 ff. Die beiden wahrend der Nationalversammlung amtierenden Reichskanzler
suchten noch unmittelbar nach ihrer Ernennung um ein ausdrückliches Vertrauensvotum
nach (S. 13). Sitzung vom 21. Februar 1919, bei E. Heilfron, Die deutsche Nationalver-
sammlung, Berlin 1919/1920, Bd. 2, S. 664; 40. Sitzung vom 22. Juni 1919 ebd., Bd. 4,
S. 2772. Ein solches Vorgehen wurde unter der Geltung des Art. 54 WRV zur Ausnahme.
Ein Vertrauensvotum erlangten vom Reichstag seitdem nur noch 3 Kabinette — Strese-
mann I vom 14. August 1923, Verh. des RT, Bd. 361, S. 11843, 11858 f., 11871 ff.; Strese-
mann II vom 8. Oktober 1923, ebd., Bd. 361, S. 11997, 12029; Marx IV vom 5. Februar
1927, ebd. Bd. 391, S. 8889; Bd. 413, Nr. 2958; eines nur mit relativer Mehrheit — Luther
II vom 28. Januar 1926, ebd., Bd. 388, S. 5232 ff.
Ihnen gegenüber drückte das Parlament seine Haltung in unterschiedlicher Weise aus.
Partiell wurde eine Art »Tolerierung« ausgesprochen, indem der Reichstag die Regie-
rungserklärung »zur Kenntnis nahm« und zugleich damit seine Erwartungen an das neue
Kabinett zum Ausdruck brachte. Seit dem Kabinett Fehrenbach vom 2. Juni 1920, Verh.
des RT Bd. 344, 179 ff.; Bd. 363, Nr. 80; Wirth I vom 10. Mai 1921, ebd., Bd. 349,
S. 3651 ff.; Bd. 367, Nr. 2002; Wirth II vom 26. Oktober 1921, ebd., Bd. 351, S. 4779 ff.;
Bd. 369, Nr. 2879; Cuno vom 25. November 1922, ebd., Bd. 357, S. 9174 f.; Bd. 375,
Nr. 5271; Marx II vom 6. Juni 1924, ebd., Bd. 381, S. 212, 220 ff.; Bd. 382, Nr. 170; Marx
III vom 19. Mai 1926, ebd., Bd. 390, S. 7337, 7339. In Einzelfällen wurde diese Form
auch bei Mehrheitsregierungen gewählt; s. Luther I vom 22. Januar 1925, ebd., Bd. 384,
S. 231 ff., Bd. 398, Nr. 287; Müller II vom 5. Juni 1928, ebd., Bd. 423, S. 117 ff.; Bd. 430,
Nr. 159. Vereinzelt wurde das von der Verfassung geforderte »Vertrauen« auch durch
die Ablehnung von Mißtrauensvoten — Brüning I vom 3. April 1930, ebd., Bd. 427,
S. 4773 ff.; Brüning II vom 16. Oktober 1931, ebd., Bd. 446, S. 2209, 2231 ff. - oder
durch die Annahme von Gesetzesanträgen der neuen Regierung ausgesprochen: Marx I
vom 8. Dezember 1923, ebd., Bd. 361, S. 12375, 12382 ff. Bei den beiden Regierungsbil-
dungen des Jahres 1932 wurde auf eine parlamentarische Mitwirkung völlig verzichtet.
Verh. des RT, Bd. 388, S. 5232 ff.: 160 Ja-, 150 Nein-Stimmen, 130 Enthaltungen der
SPD.
Politisch H. Müller, aaO. (FN 9); juristisch insbes. H. Herrfahrdt, Die Kabinettsbildung
nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis, Berlin 1927,
S. 53 ff., insbes. S. 58; ders. in: Z/P (18) 1929, 733 ff. Danach sollte diese Begrenzung
schon gem. Art. 54 WRV geltendes Recht sein. Dagegen G. Anschütz, Die Verfassung des
Deutschen Reichs, 14. Aufl. Berlin 1933, S. 322 f. m. w. N. Zur Diskussion um Herrfahrdts
Lehren insbes. K. Rothenbticher in: Z6R (7) 1928, 329; F. Glum in: AöR (15) 1928, 442;
R. Thoma in: G. Anschütz / R. Thoma, HBDStR I, Tübingen 1930, S. 507 ff., insbes.
S. 509; R. Wertheimer, Der Einfluß des Reichsprasidenten auf die Gestaltung der Reichsregie-
rung, Diss. 1929, S. 116 ff., 124 ff.; E. Wolgast, Die Kampfregierung, Königsberg/Pr.
1929, S.77 ff.; R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928, S. 146 Anm. 2.
Gusy - Selbstmord oder Tod? 397
Der Stabilisierung der Funktionsfähigkeit des Reiches und der Reichsregierung
diente letztlich auch die Diskussion um eine Neuordnung des Notverordnungsrechts
der Exekutive. Ein solches Verordnungsrecht stand allein dem Reichspräsidenten
(Art. 48 Abs. 2 WRV), der dieses in Übereinstimmung mit der Reichsregierung
auszuüben hatte, und den Landesregierungen (Art.48 Abs.4 WRV) zu. Die
Bestrebungen einer gesetzlichen Begrenzung dieses Rechts gem. Art. 48 Abs. 5
WRV waren trotz zahlreicher Anläufe mangels politischen Konsenses über den
möglichen Inhalt solcher Grenzen stets gescheitert'*. Ebenso scheiterte aber auch
die Reichsregierung mit ihrem Plan *%, in Anlehnung an Art. 55 PrVerf. ein eigenes
Notverordnungsrecht zu erlangen, »wenn die Beseitigung eines ungewöhnlichen
Notstandes es dringend erfordert und der Reichstag nicht versammelt ist«. Ziel
dieses Vorhabens war nicht nur gewesen, daß die Reichsregierung hinsichtlich
ihrer Kompetenzen mit den Landesregierungen gleichziehen wollte; sondern auch,
daß sie sich von ihrer Initiative versprach, wirtschaftliche Notstände — wie diejeni-
gen der Nachkriegszeit - in Zukunft besser bewältigen zu können”.
c) Da das gemeinsame Ziel der genannten Anliegen in der Verbesserung und
Stärkung der WRV lag, waren sie am allerwenigsten auf deren Aufhebung oder
Überwindung gerichtet. Maßgebliche Handlungsform solcher Verfassungsreform
sollte denn auch nicht die Aufhebung oder auch nur »Totalrevision« der geltenden
Verfassung sein. In der Praxis gelangten sie regelmäßig noch nicht einmal zu
förmlichen Änderungen des Textes der WRV. Im Gegenteil: Trotz ihrer bewegten
Geschichte war die Reichsverfassung in der Substanz in hohem Maße änderungs-
fest 8.
Als maßgebliche Handlungsformen solcher Verfassungsreform erwiesen sich
vielmehr apokryphe Rechtsetzungsformen, die sich neben oder im Rahmen des
geltenden Rechts entwickelt hatten. Hierzu zählten insbesondere Verfassungsdurch-
brechungen”, also die Setzung materiell verfassungsändernden Rechts ohne férmli-
che Modifikation des Verfassungstextes. In den Jahren 1920-1932 ergingen mit
verfassungsändernder Mehrheit insgesamt 22 Gesetze, welche von der WRV
inhaltlich ausdrücklich abwichen, und weitere 22 Gesetze, welche »zur Vermei-
15 Für eine solche Regelung insbesondere die Mehrheit der Vereinigung der Deutschen
Staatsrechtslehrer in: VVDStRL 1, 139; zurückhaltender 33. DJT, S. 119. Dagegen R.
Thoma in: DJZ 1924, 654, 657 ff.; H. Preuß in: Z/P (13) 1923/24, 97, 104 f.
16 Verh. des RT, Bd. 399, Nr. 696.
17 Zum Schicksal dieses Vorhabens näher M. Frehse, Ermächtigungsgesetzgebung im Deut-
schen Reich 1914-1933, Diss. 1985, S. 135 ff.
18 In den Jahren 1920-1932 wurde die WRV insgesamt achtmal förmlich abgeändert; E. R.
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte VI, Stuttgart 1981, S. 422 f. Dagegen nahm die
Zahl der Vorschläge für Verfassungsänderungen derart zu, daß die Zeitschrift Reich und
Länder im Jahre 1928 hierüber eine eigene »Chronik« führte; s. ebd., S. 2, 65, 129, 193,
257, 329. Im Jahre 1929 schlief diese Chronik wieder ein.
19 Dazu K. Löwenstein, Erscheinungsformen der Verfassungsänderung, Tübingen 1930,
S. 104 ff.; G. Leibholz in: AöR (61) 1932, 1; H. Arnold, Begriff und Verfahren der Verfas-
sungsänderung nach der WRV, Diss. 1932, insbes. S. 46 ff.; H. Ehmke, Grenzen der Verfas-
sungsänderung, Berlin 1953, S. 19 ff.
ZfP 40. Jg. 4/1993
398 Gusy - Selbstmord oder Tod?
dung von Zweifeln« hinsichtlich ihrer Ubereinstimmung mit der WRV in der Form
der Verfassungsänderung ergingen”°. Inhaltliche Schwerpunkte dieser Durchbre-
chungen waren die 5 »Ermächtigungsgesetze« der Jahre 1919-1923; ferner ein-
zelne, durch konkrete Ereignisse motivierte Maßnahmen, welche ein Verfahren
der normalen Verfassungsänderung entweder aus Gründen der Dringlichkeit nicht
zuließen oder wegen ihrer Einzigartigkeit eine allgemeine Verfassungsänderung
nicht rechtfertigten. Hierzu zählten vornehmlich Grundrechtseingriffe insbeson-
dere zur Bekämpfung politischer Gegner der Republik in den aktuellen politischen
Krisen oder zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit der öffentlichen Hand in den
wirtschaftlichen Krisensituationen.
Von mehr als nur einzelfallbezogener Bedeutung war die zweite Handlungs-
form der Verfassungsreform, die Ermächtigungsgesetze!!. Sie ermächtigten die
Reichsregierung zum Erlaß gesetzesvertretender Verordnungen und durchbrachen
damit die Gewaltenteilung der WRV. Der Erlaß solcher Ermächtigungen war
regelmäßig motiviert durch das (1) Vorhandensein breiter Regierungsmehrheiten
im Reichstag bei gleichzeitig (2) gering entwickelter Konsens- bzw. Kompromißfä-
higkeit innerhalb dieser Mehrheit in Zeiten (3) dringender Anforderungen an die
staatliche Rechtsetzung angesichts aktueller politischer bzw. wirtschaftlicher Kri-
sensituationen.
In einem weiteren Sinne zu den Handlungsformen dieser Art von Verfassungs-
reform zählte schließlich die Notverordnung gem. Art. 48 Abs.2 WRV. Infolge
einer zunehmend erweiternden Auslegung des »Diktaturartikels« entwickelte sie
sich insbesondere in der Spätzeit der Republik zu einem eigenständigen, parla-
mentsergänzenden, -vertretenden und schließlich -verdrängenden Verordnungs-
recht der Exekutive 2.
Gemeinsam war allen genannten Zielen und Handlungsformen, daß sie sich mehr
oder weniger innerhalb des von der WRV gezogenen Rahmens bewegten. Es ging um
Verfassungsreform intra, nicht hingegen contra constitutionem.
2. Verfassungsreform als Verfassungsüberwindung
In der Mitte der Republik gewann eine andere Richtung der Verfassungskritik
wissenschaftliche und publizistische Reputation. Ihr ging es nicht um die Verbesse-
rung und Vollendung der, sondern um die Frontstellung gegen die WRV. Diese Kri-
tik kam von beiden politischen Extremen.
Auf der Linken bildete sich eine rasche Dogmatisierung kommunistischer Posi-
tionen heraus, die ihr geistiges und politisches Umfeld im Spartakus und der KPD
fanden ?. Sie fand ihre prinzipielle Orientierung in der Politik der Sowjetunion,
20 Überblick bei F. Poetzsch-Heffter in: JöR (13) 1925, 227 ff.; (17) 1929, 139 ff.; (21)
1933/34, 201 ff.
21 Dazu eingehend Frehse, aaO. (FN 17), pass.
22 Näher hier C. Gusy, Weimar - Die wehrlose Republik?, Tübingen 1991, S. 50 ff.
23 Hierzu näher O. K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Offenbach 1948,
Gusy - Selbstmord oder Tod? 399
ihre spezifisch deutschen Elemente hingegen in der Ideologie von der Fortsetzung
der Novemberrevolution: Diese war nach kommunistischer Doktrin nicht vollen-
det, sondern abgebrochen worden, wofiir der (M)SPD die Hauptverantwortung
zugeschrieben wurde. Aus dieser Frontstellung gegen die vermeintlich »abgebro-
chene Revolution« und die daraus hervorgegangene rechtliche Ordnung, die
WRV, bezog die KPD Stoßrichtung und Triebfeder ihres Handelns. Sie brachten
die Politik der Partei in vollständige Abhängigkeit von der KPdSU, in prinzipiel-
len Gegensatz zur Republik, ihrer Verfassung und den sie tragenden Parteien und
zu einer teils putschistischen, teils eher taktischen Politik des Verfassungsumstur-
zes.
Auf der Rechten bildete sich in den zwanziger Jahren eine prinzipiell neuartige
geistige Grundhaltung heraus. Ihre äußerst heterogenen politischen Ursprünge
resultierten regelmäßig aus einer Konfrontation der großen Ideale der Vergangen-
heit mit der krisenhaften Realität der Gegenwart. Dabei war die Vergangenheit
nicht einfach das monarchische Reich in seiner Vorkriegswirklichkeit. Vielmehr
erschien dieses geistig überhöht und von seinen - seinerzeit viel beklagten - Män-
geln ın der Rückschau eigenartig befreit. Das Ideal solcher Autoren war somit eine
dialektische Transzendierung des Reiches durch die Reichsidee; eine Potenzie-
rung geistiger und wirtschaftlicher wie politischer Größe; kurz: »Bismarck« plus
»Nietzsche«. Schon dieses Ideal macht deutlich, daß hier nicht einfach die Sehn-
sucht nach der Vergangenheit das Alte mit dem Neuen konfrontierte; hier stand
die — politisch gewollte — Idee der Vergangenheit gegen die Realität, also eher
»Geist« gegen »Materie«. Aus dieser Konfrontation folgte zweierlei. Zunächst die
Erkenntnis von der Überlegenheit der Idee über die Wirklichkeit. Diese Einsicht
erschien geradezu selbstverständlich: Wo auch immer die zeitgenössische Wirk-
lichkeit an der ideell überhöhten »Vergangenheit« gemessen wurde, ging dies ein-
deutig zugunsten der letzteren aus: Das Vorkriegsreich erschien als nach innen
einig, wirtschaftlich stark und weltpolitisch mächtig; die Nachkriegsrepublik als
innerlich zerrissen, wirtschaftlich zerrüttet und außenpolitisch fast als Kolonie der
Siegermächte. Frühere und längst tote »Dichter und Denker« wurden der zeitge-
nössischen »Unkultur« in kritischer Absicht gegenübergestellt. Aus solchen Ver-
gleichen resultierte ein eindimensional antithetisches Denken. Als neue Grundka-
tegorien wandten sich »Dynamik« gegen »Erstarrung«, »neu« gegen »alt«, »Bewe-
gung« gegen »Stillstand«, »heroisch« gegen »bürgerlich« (wenn nicht »spießig«),
»organisch« gegen »künstlich«, »Leben« gegen bloßen »Fortschritt«, »Einheit«
gegen »Zersplitterung«, »Entscheidung« gegen »Diskussion«, »Autorität» gegen
»Anarchie«, »Führung« gegen »Kompromiß«. Solche Antithesen begründeten eine
S. 100 ff.; H. Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, Bd. 1, 2, Frankfurt am
Main 1969.
24 Dazu die Überblicke bei K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer
Republik, 2. Aufl. München 1983 (kritisch); A. Mohler, Die konservative Revolution ın
Deutschland 1918-1932, 3. Aufl. Darmstadt 1989 (apologetisch); K. Tanner, Die fromme
Verstaatlichung des Gewissens, Göttingen 1989, insbes. S. 60 ff. (berichtend).
ZfP 40. Jg. 4/1993
400 Gusy - Selbstmord oder Tod?
geradezu polemische Wendung gegen die Gegenwart. Wohlgemerkt: Diese Wen-
dung war keine bloße Überhöhung der Vergangenheit über die Gegenwart. Die
»konservative Revolution« war nicht bloß konservativ. Sie war eine geistige Bewe-
gung, der es primär um die Erkenntnis, Überhöhung und Überwindung der aktuel-
len Misere durch den Geist ging. Darın lag die zweite Dimension der neuen Rich-
tung: Sie war ein Programm nicht nur zu politischem Denken, sondern auch zu politi-
schem Handeln.
Ihre Bedeutung für die Diskussion um die WRV blieb einstweilen eine kriti-
sche. Bei der »geistigen« Analyse der politischen Gegenwart fanden sich eigent-
lich nur Nachteile: außenpolitische Ohnmacht, wirtschaftliche Zerrüttung, innen-
politische Zerrissenheit, Parteien»gezänk« und Instabilität der Regierung. Die
Nachteiligkeit solcher Eigenschaften zeigte sich den Zeitgenossen insbesondere
vor der Folie einer Konfrontation mit ihren geistigen Widerparts: »Weltpolitik«,
»nationaler Sozialismus«, »Gemeinschaft«, »Autorität« und »Führung«. In der
Summe zeigte sich so ein beklagenswerter realer Staat gegenüber einem idealen
»wahren Staat« 2°. Eben dieser »wahre Staat« war denn auch der geistige Gegenpol
zum »Scheinstaat« von Weimar. Letzterer erschien so vorwiegend als eine Ausprä-
gung der »Krise des modernen Staatsgedankens in Europa«?’. Daraus resultierte
für das neue Denken zugleich eine politische Haltung: Alle genannten Mängel
wurden den Nachkriegsverhältnissen angelastet; eben jenen Verhältnissen, denen
auch die Republik entstammte. Aus diesem zunächst nur zeitlichen Zusammen-
hang wurde ein naheliegender Schluß gezogen: Die Ursachen all jener Mängel wur-
den wesentlich in der Republik selbst gesehen. Und wenn die WRV die rechtliche
Grundlage dieser Republik war, so war sie zugleich selbst Quelle und Ausdruck
der Misere.
Die Kritik an den Verhältnissen war so zugleich Kritik an deren Ursachen und
damit notwendig Republik- bzw. Verfassungskritik. War die WRV Teil der
Misere, so konnte letztere nicht durch Verfassungsänderung oder -reform besei-
tigt werden. Wer auf »Überwindung« der Krise aus war, mußte danach geradezu
zwangsläufig auf Überwindung der WRV aus sein. Die WRV konnte - in welcher
Form auch immer - nicht die Verfassung des »wahren Staates« sein. Diese Dicho-
tomisierung setzte sich dahin fort, daß der WRV der Charakter als Verfassung
partiell überhaupt abgesprochen wurde: In der Entgegensetzung von »wahrem
Staat« und »Scheinstaat« war die Unterscheidung von »Verfassung« und »Verfas-
sungsgesetz« 28 schon mitgedacht. Hier ging es demnach nicht mehr um Verfassungs-
reform intra, sondern im Gegenteil um solche contra constitutionem.
25 Überblick bei Sontheimer, aaO. (FN 24), S. 192 ff.
26 O. Spann, Der wahre Staat, Leipzig 1921.
27 A. Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925.
28 So eine Grundkategorie bei C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 11 f.; in der Ter-
minologie anders R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1927. Zu Verbin-
dungslinien zwischen der neuen »Geisteswissenschaft« und der Weimarer Staatsrechts-
wissenschaft M. Stolleis in: S. Harbordt, Wissenschaft und Nationalsozialismus, Berlin
1983, S. 15 ff., 21 ff.
Gusy - Selbstmord oder Tod? 401
In den zwanziger Jahren erschöpfte sich die wissenschaftliche und politische
Diskussion weitgehend in den beiden genannten Gehalten: der wissenschaftlichen
Fundamentalkritik an der WRV und dem politischen Programm ihrer Überwin-
dung. Diese allein negierende Haltung erlangte in der Verfassungsdiskussion
kaum positive Gehalte. Ein maßgeblicher Grund hierfür lag darin, daß die Vertre-
ter der neuen politischen Richtungen nicht anzugeben vermochten, was denn nun
an die Stelle des geltenden Rechts treten sollte. Die Ideen vom »Ständestaat«”,
vom »autoritären« wie vom »totalen«” oder gar bloß vom »Neuen Staate” blieben
inhaltlich zu unpräzise, als daß konkrete Alternativen aus ihnen ableitbar gewesen
wären. Gerade dies machte aber eine wesentliche Quelle der Attraktivität der
neuen Lehren aus: Sie blieben abstrakt und daher nahezu unkritisierbar. Konkret
und damit kritisierbar waren dagegen die politische Wirklichkeit, die Republik
und die WRV.
3. Das Schlisseljahr 1929/30
Das Krisenjahr 1929/30 nahm in der Diskussion um die Verfassungsreform eine
Schlüsselstellung ein. Sie resultierte im wesentlichen aus 2 politischen Ereignissen.
Die Weltwirtschaftskrise und die sich in ihrer Folge verschärfenden innenpoliti-
schen Auseinandersetzungen stellten existentielle Bewährungsproben für die
Republik dar. Deren Schwere ergab sich insbesondere daraus, daß dem Staat von
Weimar nach den Inflationsjahren bis 1923 die Fähigkeit zur Bewältigung ökono-
mischer Erschütterungen kaum noch zugetraut wurde”. Gleichzeitig war aber
auch die politische Handlungsfähigkeit der Republik schwer erschüttert: Mit dem
Rücktritt der Regierung der großen Koalition unter Reichskanzler H. Müller büßte
das Parlament die Fähigkeit zur Regierungsbildung ein; die demokratischen Par-
teien verloren ihre Mehrheitsfahigkeit».
Folge beider Ereignisse war: Für die Bewältigung der neuen Herausforderungen
schieden wesentliche, bislang zum Krisenmanagement nicht ohne Erfolg einge-
setzte Instrumente fortan aus. Eine Abweichung von den Bestimmungen der WRV
war der Legislative jetzt nicht mehr möglich. Insbesondere die früher häufiger ver-
wendeten Verfassungsdurchbrechungen und Ermächtigungsgesetze konnten jetzt
nicht mehr auf parlamentarische Mehrheiten hoffen. Dies bedeutete aber auch:
29 Grundlegend O. Spann, aaO. (FN 26), S. 72 ff., 187 ff. W. Andreae, Staatssozialismus und
Ständestaat, Jena 1931; W. Heinrich, Das Ständewesen mit besonderer Berücksichtigung der
Selbstverwaltung der Wirtschaft, Jena 1932; J. v. d. Velden, Die berufsständische Ordnung,
1932.
30 H. O. Ziegler, Autoritärer oder totaler Staat?, Tübingen 1931.
31 W. Schotte, Der neue Staat, Berlin 1932.
32 Zum Zusammenhang von Wirtschaftskrise und Aufstieg des Nationalsozialismus K. D.
Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. Aufl., Nachdr., Düsseldorf 1984,
S. 187 ff., 199 ff.; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur 2, Stuttgart 1987,
S. 19 ff.; D. Peukert, Die Weimarer Republik, Frankfurt 1987, S. 243 ff.
33 Dazu Peukert, aaO. (FN 32), S. 252 ff.: »Verschleiß der Alternativen«.
ZfP 40. Jg. 4/1993
402 Gusy - Selbstmord oder Tod?
Zentrale Handlungsformen der kleinen »Verfassungsreform intra constitutionem«™
standen jetzt nicht mehr zur Verfügung. Die WRV bildete fortan, solange die äußere
Form der Republik noch bestand, für den Reichstag die unübersteigbare Grenze
seiner Wirksamkeit. Dies soll nicht bedeuten, daß angemessene Lösungen ım Rah-
men der geltenden Verfassung unmöglich gewesen wären. Wohl aber bedeutete es,
daß bislang effektive Handlungsformen der Republik politisch unerreichbar wur-
den. In der Wirklichkeit verlagerte sich seitdem das Schwergewicht der Gestaltung
von der Legislative zur Exekutive. An die Stelle des Gesetzes trat fortan die Not-
verordnung als zentrale Handlungsform der Krisenbewältigung *.
Parallel dazu verschoben sich die Akzente der politischen Diskussion. Das Kri-
senbewußtsein nahm dramatisch zu’. Dessen äußerer Ausdruck war eine Flut von
Publikationen zum Thema »Verfassungsreform«, wobei Vorbilder und Beispiele
insbesondere im Ausland gesucht wurden”. Aber auch unter den beiden geschil-
derten Richtungen verschoben sich die Gewichte. Zwar hörte die Diskussion um
Verbesserungen der WRV nicht einfach auf; im Gegenteil: Sie wurde bis zum
Jahre 1932 mit immer neuen Publikationen fortgesetzt”. Doch hatte bislang jene
Auffassung jedenfalls den größeren politischen Einfluß besessen, so änderte sich
dies etwa ab dem Jahre 1930 allmählich. Fortan gewann die Tendenz weg von der
WRV rasch an Gewicht.
34 Dazu oben I 1.
35 Dies zeigt schon ein rein quantitativer Überblick. Deutlich sind auf Reichsebene 3 Pha-
sen abschichtbar: /. Phase: Von Oktober 1919 bis Januar 1925 ergingen 136 Notverord-
nungen, unter denen ab 1924 die Aufhebung alter Notverordnungen in den Vordergrund
trat. 2. Phase: Von April 1925 bis Juli 1930 ergingen 9 Notverordnungen, die sich allein
mit der Aufhebung älterer Maßnahmen befaßten. 3. Phase: Von Juli 1930 bis Ende 1932
ergingen: 1930 5, 1931 44, 1932 60 Diktaturverordnungen. Siehe F. Poetzsch-Heffter in:
JOR (13) 1925, 1, 141 ff.; ders. in: JöR (17) 1929, 1, 99; ders. / C. H. Ule/K. Der-
nedde / J. Brennert in: JöR (21) 1933/34, 1, 127. Andere Autoren kommen zu geringfügig
abweichenden Ergebnissen; s. etwa dies. in: JOR (21) 1933/34, 127 (Anm. 2).
36 Dies zeigten deutlich die Ausführungen zum zehnjährigen Bestehen der WRV; s. C.
Schmitt (1929), abgedr. in ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 3. Aufl. Berlin 1985,
S. 34 ff.; andererseits O. Kirchheimer (1930), abgedr. in ders., Von der Weimarer Republik
zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt 1976, S. 91 ff.
Zum Ganzen auch R. Vierhaus in: W. Conze / H. Raupach, Die Staats- und Wirtschafts-
krise des Deutschen Reichs 1929/33, Stuttgart 1967, S. 155 ff.
37 Siehe etwa M. Siotto-Pintor in: JöR (15) 1927, 269; (17) 1929, 201 (Italien); S. von Cze-
key, ebd. (16) 1928, 168; (19) 1931, 199 (Estland); Z. Giacometti, ebd. (1) 1928, 327
(Schweiz); F. Adler, ebd. (1) 1929, 239 (Tschechoslowakei); M. Bourguin, ebd. (18) 1930,
186 (Belgien); R. Boila, ebd. (18) 1930, 324 (Rumänien); C. Chang, ebd. (19) 1931, 316
(China); T. Ohgushi, ebd. (19) 1931, 356 (Japan); F. Castberg, ebd. (20) 1932, 360 (Nor-
wegen); H. Kohn, ebd., 430 (Ägypten, Syrien).
38 Zuletzt wohl W. Apelt, Festgabe R. Schmidt, Tübingen 1932, S. 1; W. Jellinek in: Reich und
Länder 1932, S. 267; 1933, S. 1.
Gusy . Selbstmord oder Tod? 403
II. Das Dilemma der Republikaner
Den erklärten Anhängern der Weimarer Republik waren Krise und einsetzender
Zerfall des Staates nicht verborgen geblieben. »Wer wollte es verkennen, daß die
Verfassung von Weimar sich zur Stunde in einer schweren Krise befindet?« ”. Ver-
breitet war die Auffassung von der »Krise des modernen demokratischen Staa-
tes« ©, Aber nicht nur er sei in Gefahr: »Unsere Staatenwelt macht eine schwere
politische Krise durch, die für den Gesamtbestand der europäischen Kultur
gefährlich werden kann.«*! An Krisenbewuftsein mangelte es auch den prononcier-
ten Befürwortern der demokratischen Republik nicht.
Danach war das Reich »eine große Demokratie«, aber zugleich »eine arme
Demokratie«, eine »bedrückte Demokratie« und eine »bedrohte Demokratie« *.
Das Szenario erhielt seine Eigenarten allerdings durch die Diagnose der Krisenur-
sachen. Sie wurden in der ökonomischen, sozialen und politischen Lage Deutsch-
lands und der Welt, dem Erbe des Krieges und der Monarchie gesehen. Die
Misere sei von der WRV und der demokratischen Republik nicht verursacht, son-
dern vorgefunden worden. Die Ursache der Krise sei also außerhalb der WRV zu
suchen. Verfassung und Republik konnten demnach für die Entstehung der Krise
auch nicht verantwortlich gemacht werden. Daraus resultierte eine erste Aussage
im Hinblick auf die Verfassungsreformdiskussion: Wenn die WRV nicht die Kri-
senursache bildete, bestand kein zwingender Grund, zur Beseitigung jener Ursachen die
Verfassung zu reformieren®.
Hiermit war aber nur die Seite der Krisenursachen angesprochen. Davon durch-
aus zu unterscheiden war die tendenziell abnehmende Fahigkeit der Republik, der
neuen Lage angemessen zu begegnen. Die Parteienzersplitterung im Reichstag, die
negativen Mehrheiten und die Instabilität der Regierung ließen sich von der WRV
und dem in ihr enthaltenen Staatsorganisationsrecht nicht so einfach trennen.
Denn immerhin waren es das Wahlsystem und die verfassungsmäßig schwach aus-
gestaltete Stellung der Reichsregierung, welche zu der Paralyse des politischen
Systems beitrugen. Aber auch hier hielten die prononciert republikanischen Juri-
sten an ihren Prinzipien fest. Dies galt jedenfalls für das Wahlrecht zum Reichs-
tag: Daß die Bürger derart zersplittert wählten und die Wahlen negative Mehrheiten
hervorbrachten, war für sie primär eine Folge der desolaten Rahmenbedingungen und
39 E. Fraenkel in: Justiz (8) 1932/33, S. 133, 138.
40 H. Heller (1930) in: ders., Gesammelte Schriften 3, Leyden 1971, S. 613.
41 H. Heller (1932) in: aaO., S. 437.
42 R. Thoma in: G. Anschütz / R. Thoma, HBDStR I, 1930, S. 186, 187 f.; Krisendiagnosen
etwa auch bei G. Decker in: Die Gesellschaft, 1930 II, S. 193; M. Cohn in: Sozialistische
Monatshefte 1932 II, S. 744 ff.; C. Mierendorff, ebd., S. 738 ff.; s.a. H. Simons, ebd.,
S. 911 ff.; 1933, 90 ff.; O. Kirchheimer in: Die Gesellschaft, 1932, S. 415 ff.
43 So O. Kirchheimer (1932), aaO. (FN 36), S. 96 ff.; zurückhaltend 1931 schon H. Heller,
aaO. (FN 40), S. 411 ff.; Fraenkel, aaO. (FN 39), der sich aber immerhin bereit erklärt,
»an der Vorbereitung einer die Grundlagen der Verfassung respektierenden Verfassungs-
reform (!) mitzuwirken«.
ZfP 40. Jg. 4/1993
27
404 Gusy - Selbstmord oder Tod?
nicht der Verfassung“. Die Ursachen der Parlamentskrise lagen demnach nicht im
Wahlrecht; vielmehr waren die Wahlergebnisse eher Ausdruck der außerrechtli-
chen Krise. Von dieser Position her wurden denkbare Wahlrechtsänderungen, wel-
che auf eine Stabilisierung der Staatsorgane zielten — etwa ein Übergang vom Ver-
hältnis- zum Mehrheitswahlrecht oder die Einführung eines Mindestquorums mit
Sperrklausel -, kritisch diskutiert. »Das Verhältniswahlrecht hat seine Schattensei-
ten und ist zur Zeit in Deutschland in überspitzter und reformbedürftiger Weise
durchgeführt. Seine Abschaffung aber würde die Demokratie zerstéren.« “ Wohl-
gemerkt: Dies bezog sich schon auf die Abschaffung des Verhältniswahlrechts und
einen denkbaren Übergang zum Mehrheitswahlrecht; nicht erst auf ein Abgehen
vom Wahlrecht überhaupt. Wem die genannten Reformbestrebungen nicht gleich
als Zerstörung der Demokratie erschienen, der sah sie jedenfalls als Einschränkun-
gen dieses Prinzips. Nach der Diagnose der hier beschriebenen Richtung lag für
solche Einschränkungen aber eigentlich keine Rechtfertigung vor: Die Ursachen
der Krise lagen ja nicht im Wahlrecht; vielmehr waren die Wahlergebnisse eher
Ausdruck der außerrechtlichen Lagen; und wie sollte das Volk seine berechtigte
Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung politisch
anders zum Ausdruck bringen als durch den Stimmzettel?
Verfassungsreformbestrebungen konnten sich auf der genannten Grundlage
folglich allein auf das Ziel beschränken, eine Stabilisierung der Reichsregierung
gegenüber den negativen Mehrheiten des Reichstages herbeizuführen. Solche Aus-
wege erschienen um so attraktiver, als sich das Bild verfestigte von dem Gegenein-
ander zwischen einem Reichspräsidenten, der die Regierungen immer mühsamer
zusammenbrachte, und einem Reichstag, der diese Regierungen dann stürzte. Eine
solche Arbeitsteilung wirkte gerade in Zeiten, in welchen an die Leistungsfähigkeit
des Staates immer größere Anforderungen gestellt wurden, besonders unattraktiv.
Im Zentrum der Reformüberlegungen dieser Richtung stand der Ruf nach dem
konstruktiven Mißtrauensvotum“ oder nach einer Einschränkung der Rechte des
Reichstages aus Art. 48 Abs. 3 WRV, die Aufhebung von Notverordnungen des
Reichspräsidenten zu verlangen. Doch stießen selbst diese Überlegungen nicht
auf Konsens“. Zur Behebung der drängendsten kurzfristigen Mängel war man
allenfalls bereit, der ausufernden Notverordnungspraxis durch eine weite Ausle-
gung des Art. 48 Abs. 2 WRV keine Hindernisse in den Weg zu legen *.
44 So etwa H. Sinzheimer in: Justiz (6) 1930/31, S. 56 ff.; Kirchheimer, aaO. (FN 36),
S. 100; vertieft etwa bei H. Heller, aaO. (FN 40), S. 421 ff.
45 R. Thoma, aaO. (FN 42), S. 195.
46 E. Fraenkel in: Die Gesellschaft 1932 II, S. 486, 493 f. In ähnliche Richtung H. Simons in:
Neue Blätter für den Sozialismus 1932 II, S. 586: Er zielte auf eine Beschränkung des
Abwahlrechts des Reichstages gegenüber der Reichsregierung. Es sollte nur noch einmal
jährlich wähend der Etatberatungen zulässig sein.
47 E. Schiffer, Sturm über Deutschland, Berlin 1932, S. 259 ff.
48 Ablehnend Kirchheimer, aaO. (FN 36), S. 112.
49 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. Berlin 1933, S. 277 ff.; R.
Thoma in: ZöR (11) 1930, S. 12, 16 ff.
Gusy - Selbstmord oder Tod? 405
Uber solche kurzfristigen Konzessionen hinaus sahen sich die betont republika-
nischen Juristen mittelfristig in einem schweren Dilemma. Zur Lösung der aktuellen
Krisen hatten sie eigentlich nichts beizutragen. Daher gerieten sie in eine eigenartige
Rolle: Während immer vernehmlicher der Ruf nach Erneuerung, Übergang und
Reform erscholl, hielten sie am Überkommenen fest. Ihr Programm war gerichtet
auf Beibehaltung der WRV bei gleichzeitiger Forderung nach einer Verstärkung der
politischen Aktivitäten für die Republik. Letzterem wurde hohe Priorität zugemes-
sen: »Die Sozialdemokratie .... wird ihren Anhängern gegenüber keinen Zweifel
darüber aufkommen lassen dürfen, daß die Zeit der Kompromisse vorüber ist und
die Zeit der staatserhaltenden Selbsterhaltung begonnen hat.«*° So häuften sich
Forderungen nach politischer Parteinahme für die Republik bzw. die republikani-
schen Parteien, einem Zweckbündnis der Republikaner mit den Kommunisten und
überhaupt nach politischem Engagement gegen die Gegner der WRV*'. Mittel
hierzu sollten insbesondere verstärkte politische Aufklärung und Pädagogik sein.
Und wenn diese Mittel doch nicht ausreichen sollten? »Hier geht es nicht primär
um Probleme, die primär eine neue Verfassungsordnung zu lösen vermöchte. ...
In dem Augenblick aber, in dem einzelne Gruppen nicht mehr geneigt sind, sich
dem Volkswillen zu unterwerfen, und damit die Voraussetzungen der Demokratie
zerstören, wäre eine Reform der Demokratie ein unzulängliches Aushilfsmittel.
Dann eben muß der Durchbruch neuer sozialer Formen erst wieder die Vorausset-
zungen für die Demokratie überhaupt neu schaffen.« °2
Dieses Vertrauen in die »neuen sozialen Formen« führte die prononciert repu-
blikanische Staatsrechtswissenschaft in eine Selbstparalysierung ihrer geistigen und
politischen Kräfte. Sie mündete letztlich in Passivität und Resignation, welche der
Misere der Gegenwart keine positive Perspektive entgegenzusetzen hatte. Solange
die Krise andauerte, schien der Republik nichts anderes übrigzubleiben, als sie
durchzustehen. Nicht nur aus der Perspektive ihrer Gegner erschienen die Repu-
blikaner nahezu als Sachwalter des status quo und damit der Krise. Ihre Haltung
wies durchaus Ähnlichkeiten auf mit dem Weg des kleineren Übels, der die SPD
im Reichstag seit 1930 in die politische Agonie geführt hatte°’. Das Warten auf
bessere Zeiten führte allerdings — entgegen den Erwartungen der Republikaner -
nicht zu einer Erhaltung oder gar Stärkung der demokratischen Republik. Im
Gegenteil: Die »neuen sozialen Formen« brachten keine neuen »Voraussetzungen
für die Demokratie«, sondern vielmehr den Tod der Republik durch die National-
sozialisten und deren Koalitionspartner.
50 O. Kirchheimer (1930), aaO. (FN 36), S. 95.
51 Dies war immer wieder der Tenor der Abhandlungen H. Hellers, aaO. (FN 40): etwa
S. 421 ff., 435 ff., 611 ff., 625 ff., 645 ff. Ebenso E. Fraenkel in: Justiz (7) 1931/32,
S. 275 ff., 417 ff.; (8) 1932/33, S. 53 ff.; ders. (1932) in: Zur Soziologie der Klassenjustiz,
Darmstadt 1968, S. 57 ff., 73 ff., 89 ff.; G. Decker in: Die Gesellschaft 1932, S. 377 ff.
52 Kirchheimer, aaO. (FN 36), S. 112.
53 Dazu E. Matthias in: E. Matthias / R. Morsey, Das Ende der Parteien 1933, Stuttgart
1960, S. 103 ff., 112.
ZfP 40. Jg. 4/1993
27*
406 Gusy - Selbstmord oder Tod?
III. Überwindung der Krise durch Überwindung der WRV
Die hier darzustellenden Richtungen sind untereinander überaus heterogen.
Soweit sie nicht — wie die KPD - prinzipiell alte Ziele lediglich mit mehr oder
weniger neuer Taktik verfolgten, knüpften sie regelmäßig an die bereits ange-
führte Fundamentalkritik an der WRV * an. Sie gingen also zumindest auch davon
aus, daß die WRV eine der Krisenursachen war. Die Wendung gegen die Verfas-
sung ging nahezu notwendig einher mit politischer Kritik an der Novemberrevolu-
tion, welche die WRV erst ermöglicht hatte. Solche Kritik bezog sich dann aber
auch auf die Staatsform der demokratischen Republik, welche von der Verfassung
erst konstituiert worden war. Dabei kann und soll hier nicht die gesamte Weimarer
Diskussion um Staat und Staatsform nachgezeichnet werden *. Der Überblick soll
sich vielmehr auf diejenigen Fragestellungen und Autoren beschränken, welche ın
der Verfassungs(reform-)diskussion zu Wort kamen. Das heißt aber nicht, daß die
Verfassungsdiskussion etwa von der philosophischen der allgemein-politischen
Auseinandersetzung ihrer Zeit isoliert gedacht werden könnte. Im Gegenteil: Die
Staatsrechtswissenschaft nahm ausweislich ihrer Selbstzeugnisse die zeitgenössi-
schen Ideenkreise bewußt in ihre Gedankenwelt auf. Ausdrückliche Bezugnahmen
finden sich auf alle führenden Ideenkreise der Zeit, die für eine politische Neuori-
entierung eintraten. Einzelne Nachweise beziehen sich insbesondere auf A. Moel-
ler van den Bruck, W. Stapel und O. Spann.
1. Ziele der Verfassungsreform
Die verfassungspolitische und -rechtliche Diskussion zeichnete sich nicht nur
durch ein hohes Maß an Facetten und Differenzierungen, sondern zugleich durch
ein eher geringes Maß an inhaltlicher Klarheit aus”. Man wußte eher, was man
ablehnte, als was man wollte. Die Ziele der Verfassungsreform lassen sıch daher am
ehesten aus den zentralen Gegenständen der Kritik, welche die neuen Richtungen
einten, herleiten.
a) Die hier maßgebliche Kritik an der WRV konnte nicht an den eigentlichen
Krisenursachen ansetzen. Die außenpolitische und die wirtschaftliche Lage waren
durch die Verfassung nicht geschaffen, sondern höchstens anerkannt bzw. nicht
beseitigt worden. An letzterem setzte denn auch die Kritik ein: nämlich der gering
entwickelten Fähigkeit des Staates, die Entwicklung zu steuern. Sie kreiste insbe-
sondere um zwei Stichworte.
54 Zur KPD in dieser Phase O. K. Flechtheim, aaO. (FN 23), S. 150 ff.; H. Weber, Haupt-
feind Sozialdemokratie, Frankfurt 1981.
55 Siehe oben 12.
56 Dazu Nachw. schon oben I 2.
57 Daß ein Autor einen konkreten Verfassungsentwurf vorlegte, wie H. Herrfahrdt, Der
Aufbau des neuen Staates, Berlin 1932, S. 37 ff., dies tat, blieb die seltene Ausnahme. Und
auch Herrfahrdts Entwurf war sehr knapp und ließ die meisten Fragen offen.
Gusy - Selbstmord oder Tod? 407
Im Zentrum der Kritik stand der Reichstag. Seine Handlungs-, Steuerungs- und
Integrationsfähigkeit wurde als besonders gering eingeschätzt. Dafür wurden zwei
Faktoren verantwortlich gemacht: Der »Partetenstaat«** und die politische »Zer-
splitterung«°’. Die Weimarer Kritik am »Parteienstaat« ging von der Beobachtung
aus, daß »der Staat« zentrale Eigenschaften eingebüßt hatte, die ihm vor der
Novemberrevolution noch unbestritten zugekommen waren. »Es ist stark bergab
gegangen mit der Staatlichkeit unseres deutschen Staates.«* Als Eigenschaften,
welche ihm verloren gegangen waren, wurden insbesondere angesehen: seine »Ein-
heit« und seine »überparteiliche Neutralitat«. Die Einheit, repräsentiert vom
Monarchen und dem auf ihn - und nicht auf politische Regierungen oder Grup-
pierungen - verpflichteten Beamten und Soldaten, sei einer inneren Zerrissenheit
gewichen, welche nicht mehr bloß die Handlungsfähigkeit des Staates, sondern
gar den Staat selbst gefährde. Als Ursache hierfür wurden insbesondere die Stel-
lung des Reichstages als Staatsorgan, seine herausragende Rolle bei der Ausübung
der Staatsgewalt und die parteipolitische Dominanz im Reichstag genannt. Sie
sorgten dafür, daß der Reichstag mit seiner langwierigen Kompromißsuche, den
Schwierigkeiten der Koalitionsbildung und -erhaltung sowie zuletzt seinen negati-
ven Mehrheiten nicht mehr bloß sich selbst blockiere. Vielmehr blockiere er auch
notwendige Funktionen der Exekutive, etwa durch das Aufhebungsverlangen
gegenüber Notverordnungen nach Art. 48 Abs. 3 WRV. Hier wurde erneut das
fatale Bild gezeichnet vom Reichspräsidenten, welcher den Notstand bekämpfte,
und dem Reichstag, der ihm dabei in den Arm fiel*. Als Ursachen dieser Entwick-
lung wurden die Herausbildung und Verfestigung der Parteien sowie die Frak-
tionsdisziplin genannt“. Kurz: Nicht bloß das Parlament, der Staat insgesamt sei
eine Beute der Parteien geworden, die nicht mehr das öffentliche Wohl, sondern
nur noch die eigenen Interessen im Auge hätten. Staat und Beamte seien nicht
mehr »Diener der Allgemeinheit«, sondern der Parteioligarchien. Daraus resultiere
berechtigte Kritik all derer, die nicht an Parteiinteressen partizipierten. Und das
sei immerhin die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. In Gegensatz zum
negativ besetzten Parteibegriff, welcher mit Sonderinteressen identifiziert wurde,
58 Überblick über die Parteienstaatsdiskussion allgemein bei Sontheimer, aaO. (FN 24),
S. 155 ff. Grundlegend für die Weimarer Parteienstaatslehre in der Rechtswissenschaft
waren wohl die Ausführungen H. Triepels, Die Staatsverfassung und die politischen Par-
teien, Berlin 1928. In der Spätzeit wurde die staatstheoretische Kritik am Parteienstaat
zum besonderen Anliegen von O. Koellreutter, Die politischen Parteien im modernen
Staate, Jena 1926; ders., Reichstagswahlen und Staatsrechtslehre, Tübingen 1930; ders., Fest-
gabe für R. Schmidt, Tübingen 1932, S. 107 ff. Siehe auch O. Bühler, Stand der Verwal-
tungs- und Verfassungsreform, 2. Aufl. 1931.
59 Überblick über die nicht-juristische Kritik bei Sontheimer, aaO. (FN 24), S. 147 ff.
60 H. Gerber, Freiheit und Bindung der Staatsgewalt, Berlin 1932, S. 3.
61 Zu einem ähnlichen Bild bei der Regierungsbildung nach Art. 54 WRV s. schon oben II.
62 Daraus resultierte dann die Diagnose, der Reichstag sei kein »echtes« Parlament mehr,
sondern nur noch dessen Zerrbild. C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des deutschen
Parlamentarismus, 2. Aufl. Berlin 1926. Antikritik bei R. Thoma, aaO. (FN 42), S. 190 f.;
G. Radbruch, ebd., S. 285 ff.
ZfP 40. Jg. 4/1993
408 Gusy - Selbstmord oder Tod?
rückte fortan derjenige der »Bewegung«, welcher das Interesse der Nation als
Gesamtheit verfolge”.
Allgemeiner wurde in den späten zwanziger Jahren auch der Mangel an »Autor:-
tat«** bzw. »Führung« gerügt*. Die Klagen nahmen ihren Ausgangspunkt in der
Kritik am demokratischen Mehrheitsprinzip und einem in ihm angeblich zum Aus-
druck gelangenden quantitativen Denken. In der Terminologie der Kritiker
herrschten im demokratischen Staat »die Meisten über die Besten«. Ursächlich für
zahlreiche Mißstände sei insbesondere ein Mangel an Persönlichkeit in der Politik.
Aber gerade dieser persönliche Faktor sei erst in der Lage, »charismatische Legiti-
mität« (M. Weber) oder »persönliche Integration« (R. Smend) herzustellen. Im
parteipolitisch dominierten Parlament sei der Parteifunktionär an die Stelle der
»unabhängigen Persönlichkeit« getreten. Der Funktionär sei aber lediglich ın der
Lage, Sonderinteressen zu bündeln und zu vertreten. Ihm fehle der Anreiz, aber
auch die Fähigkeit, das Ganze und die Allgemeinheit in den Blick zu bekommen.
Hier schloß sich der Gedankenkreis der Kritik: Der Parteienstaat bringe das ihm
angemessene Personal in Führungspositionen und verhindere folglich auch
dadurch, daß der Staat Staat bleibe. Der Dichotomisierung von »Staat« und »Par-
teienstaat« entsprach so diejenige von »Persönlichkeit« und »Funktionär«®. Aus
der Kritik resultierte der Ruf nach der Persönlichkeit ın der Politik; eine Persön-
lichkeit, die sich aber nur ohne oder gar gegen die Parteien durchsetzen könne.
Diese Persönlichkeit wurde auch schon vor 1933 vereinzelt als »Führer« bezeich-
net.
b) Weniger konkret als dasjenige, wogegen man sich wandte, blieb, wofür man
sich einsetzte. Hier entstand für die einzelnen Autoren die undankbare Aufgabe,
die eigenen Leitbilder und Leerformeln vom »autoritären Staat«, von der »Füh-
rung«, vom »Neuen Staat« oder gar vom »Dritten Reich« (Moeller van den Bruck)
mit konkretisierbaren Inhalten zu füllen. Die Versuche hierzu blieben mehr
Andeutung als Entwurf. Vielfach begnügte man sich damit, den Klagen über die
tatsächliche Misere einige als positiv empfundene Grundsätze gegenüberzustellen,
deren nähere Inhalte und Realisierungsméglichkeiten offen blieben. Gerade in die-
ser Abgehobenheit lag eine wesentliche Stärke der hier erörterten Richtungen. Das
ungeachtet aller Nuancen den meisten Autoren gemeinsame neue Leitbild läßt sich
am ehesten in drei Grundelementen angeben”.
6
w»
Insbes. bei G. Holthausen (= E. Forsthoff) in: Der Ring (4) 1931, S. 5; H. Liermann in:
Blätter für deutsche Philosophie (5) 1931/32, S. 235.
64 Siehe ale etwa die Stellungnahme von A. Weber, Das Ende der Demokratie?, Stuttgart
1931, S. 7 ff.
65 R. Höhn, Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front, Jena 1929, S. 108 ff. Überblick bei
Sontheimer, aaO. (FN 24), S. 214 ff.
66 Antikritik bei H. Heller (1930), aaO. (FN 40), S. 611 ff.
67 Dazu näher Sontheimer, aaO. (FN 24), S. 201 ff.; D. Grimm, Recht und Staat der bürgerli-
chen Gesellschaft, Frankfurt 1987, S. 373, 391 ff.
Gusy - Selbstmord oder Tod? 409
Primäres Anliegen war die Herstellung bzw. Erhöhung staatlicher Handlungsfähig-
keit durch das Phänomen der »Autorität« bzw. »Führung«®. Dies setzte nicht nur
einen wirksamen, handlungsmächtigen Staat voraus. Es verlangte zusätzlich, daß
dieser Staat nicht durch innere Parteiungen paralysiert werde. Dies bedingte einen
überparteilichen, neutralen Staat, der den Parteiwillen nicht als Grundelement sei-
ner eigenen Entscheidungsbildung anerkennen durfte. Er mußte also über dem
Volk und seinen Vertretern stehen und ihnen mit seinen Entscheidungen gegen-
übertreten. Da Volksabstimmungen, Parlament und Parteien als Transmissionsrie-
men seiner Willensbildung ausschieden, stellte sich die Frage nach den Trägern
seines Willens neu. Hier rückten der Reichspräsident und die »neutralen« Beamten
in den Vordergrund ®.
Sekundäres Ziel war die Herstellung eines neuen Verhältnisses zwischen Staat
und Volk. Wie sollten die Bürger in dem neutralen, überparteilichen Staat dazu
gebracht werden, dessen Entscheidungen anzuerkennen und zu befolgen? Zur
Hervorbringung derartiger Akzeptanz erschien das Bild von den prinzipiell
getrennten, in einem Verhältnis wechselseitiger Exklusion stehenden Sphären von
»Staat« und »Gesellschaft« wenig geeignet. Das damit suggerierte Bild eines prin-
zipiell negativen Verhältnisses sollte in Zukunft überwunden werden durch ein
neues, positives Bild von Staat, Volk und Bürger. Dessen maßgebliche Stichworte
waren die »Nation«, die »Gemeinschaft«”° bzw. das konservative Bild vom Staat als
»Organismus«. Solche Umschreibungen sollten die Interessenunterschiede zwi-
schen Allgemeinheit und Individuum nicht einfach leugnen, sondern auf einer
höheren Abstraktionsebene zum Ausgleich bringen. Sie beschrieben dasjenige, was
nach den Vorstellungen des jeweiligen Autors der Staat, das Volk und der einzelne
gemeinsam hatten oder zumindest haben sollten.
Drittes, komplementäres Ziel mußte die Herstellung einer Ordnung des neuen
Staates sein. Deren Aufgabe konnte nur darin liegen, den »lebendigen« Konsens
von Gemeinschafts- und Individualbelangen stets neu zum Ausdruck zu bringen
und hervorzubringen. Eine solche Leistung sollte ermöglicht werden, indem die
neue Ordnung nicht »bloß« auf dem Papier stehe, sondern im Leben und im Geist
der Menschen und des Volkes verankert sei. Dies wiederum implizierte die Dicho-
tomisierung von Verfassung und Verfassungsgesetz’”'. Am konkreten Beispiel stellten
sich die Unterschiede etwa so dar: Während etwa die WRV das Verhältnis zwi-
schen Staat und einzelnem durchaus spannungsvoll sah und den Menschen des-
halb Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe zuerkannte, war
dafür in der als Gemeinschaft von Staat und Bürger gedachten Nation kein
68 Zum folgenden anhand der Stichworte »auctoritas« und »potestas« C. Schmitt, Verfas-
sungslehre, Berlin 1928, S. 75 ff.; ausgearbeitet bei H. Gerber, aaO. (FN 60), S. 13 ff.
69 Hierzu insbes. A. Köttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demo-
kratie, Berlin 1929, S. 57 ff.
70 Dazu etwa O. Koellreutter, Reichstagswahlen und Staatslehre, Tubingen 1930, S. 16 ff.
71 Siehe dazu schon oben I 2.
ZfP 40. Jg. 4/1993
410 Gusy . Selbstmord oder Tod?
Platz”. In der lebendigen Verfassung wichen die Menschenrechte als Abwehr-
rechte einem »organischen Einordnungsverhältnis« ’. Im neuen, »gesunden demo-
kratischen Staatssystem« sollten die Grundrechte keinen »negativen, abwehren-
den«, sondern nur noch »positiven, aufbauenden Charakter« tragen”.
c) Wesentlich bescheidener als solche anspruchsvolle Programmatik blieben
allerdings die konkreten Verfassungsentwürfe für den Staat der Zukunft. Interes-
santerweise fand sich vor 1933 in keiner maßgeblichen staatsrechtlichen Publika-
tion zur Verfassungsreform die Forderung, die nunmehr stärkste Partei — die
NSDAP - mit der Regierungsbildung zu beauftragen und damit den Parteienstaat
erneut mit Leben zu erfüllen. Im Gegenteil: Die verbreitete Aversion gegen den
Parteienstaat war jedenfalls vordergründig nicht allein gegen die Weimarer Koali-
tionsparteien gerichtet”. Die Effektivierung des Staates ohne die NSDAP konnte
demnach aber auch nur bedeuten: Effektivierung des Staates ohne das Parlament’*. Die
Beschneidung seiner Kompetenzen stand daher ım Vordergrund aller Erwägun-
gen. Aber was sollte an seine Stelle treten? Hier unterschieden sich mehrere Rich-
tungen.
Eher retrospektiv argumentierte die ständestaatliche Richtung” . Sie forderte die
Schaffung einer neuen »ersten Kammer« als Vertretungskörperschaft »des Vol-
kes«. Wesentlich dabei war, daß diese Körperschaft nicht unter Mitwirkung der
Parteien, sondern anderer Verbände gebildet werden sollte. Hierfür wurden Wirt-
schafts-, Berufs-, Wehrverbände und gemeinnützige Vereine als besonders geeig-
net angesehen. Sie sollten die wirtschaftlichen und sozialen Interessen des Volkes
auch im staatlichen Leben abbilden. So konnten zwei Ziele miteinander verknüpft
werden: die Zurückdrängung des Parteieinflusses und die Herstellung von Autori-
tät durch die Gewinnung von Persönlichkeiten, welche als Verbandsführer im
öffentlichen Leben erfahren waren. Weniger konkret als die Zusammensetzung
der neuen Kammer blieben deren Kompetenzen. Die neue Körperschaft sollte den
72 R. Höhn, Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front, Jena 1929, S. 44: »Menschen-
rechte, die vom Einzelnen her gedacht sind, gibt es hier nicht.«
73 G. A. Walz, Vom Wesen des öffentlichen Rechts, Berlin 1928, S. 54.
74 E. R. Huber in: AöR 1933, 7 f., mit dem Zusatz: »Der status negativus wird dann durch
den status activus relativiert und in seinen entscheidenden Beziehungen verdrängt.«
75 H. Herrfahrdt, aaO. (FN 57), S. 42: »Eine parlamentarische Rechtsregierung würde von
den Gegnern nicht als Ausdruck des nationalen Ganzen (»nationale Konzentration«),
sondern als Parteiregierung wie jede andere empfunden werden.«
76 Eine Ausnahme stellte insoweit die Publikation von H. Pfister, Die Rettung des parlamen-
tarischen Systems, München 1932, dar. Er schlug ein indirektes Mehrheitswahlrecht vor,
das aus den negativen Mehrheiten herausführen würde. Die Gefahr, daß dann die Natio-
nalsozialisten die absolute Mehrheit erringen könnten, war ihm bewußt (S. 40). Er nahm
sie aber wegen der Chancen nicht-nationalsozialistischer Mehrheiten in Kauf.
77 H. Herrfahrdt, aaO. (FN 57), S. 38, 45 f.; schon früher ders., Die Einigung der Berufs-
stande als Grundlage des neuen Staates, 1919; ders., Das Problem der berufsstandischen Ver-
tretung, Stuttgart/Berlin 1921; ders. in: Reich und Länder 1930, S. 9; ähnlich H. Gerber,
aaO. (FN 60), $.26f. Zum »Oberhausproblem« auch E. Tartarin-Tarnheyden in: Z/P
(15) 1926, 97.
Gusy . Selbstmord oder Tod? 411
bisherigen Reichstag nicht ablösen — und damit auch nicht pauschal in dessen
Rechte eintreten -, sondern ergänzen. Allerdings sollte unter den dann vorhande-
nen beiden Kammern der ständischen der Primat zukommen; der Reichstag sollte
selten und bei Bedarf einberufen werden. Zentrales Recht der neuen Kammer
sollte die Mitwirkung bei der Regierungsbildung — und vor allem beim Miß-
trauensvotum - sein: Die Reichsregierung sollte jedenfalls nur bei einem überein-
stimmenden Votum beider Häuser abgelöst werden müssen. Daraus wurde ein
erheblicher stabilisierender Effekt erwartet. Daneben wurde auch eine Mitwirkung
der ständischen Vertretung bei der Gesetzgebung und bei der Ausübung der Not-
standsrechte diskutiert. Das zuletzt genannte Anliegen zeigt Vorbehalte gegen
einen reinen Exekutivstaat, wie er unter den Vorzeichen des Art. 48 Abs. 2 WRV
immer deutlicher hervortrat. Der retrospektive Charakter verdeutlicht sich
dadurch, daß das ständestaatliche Zwei-Kammer-Modell der Verfassung des Konstitu-
tionalismus ähnelte: Die durch eine erste Kammer domestizierte Volksvertretung,
das Konsensmodell unter ihnen und die überparteiliche Regierung erinnerten stark
an frühkonstitutionelle Verfassungen. Die zentrale Modifikation bestand ım
wesentlichen darin, daß die neuen »Stände« nicht mehr durch Adel und Bürger-
tum, sondern durch die wirtschaftliche und soziale Gliederung des Volkes konsti-
tuiert werden sollten.
Eine andere, oft mehr analytisch als personell zu trennende Richtung suchte die
Neuorientierung nicht bei der ersten, sondern bei der zweiten Gewalt. Der Ruf
nach dem Exekutivstaat”* vollzog die faktische Entwicklung der Republik nach
und blieb insoweit nahezu systemimmanent. Zugleich ging er aber auch über sie
hinaus, indem die Auflösungs- bzw. Krisenerscheinungen der Republik positiv
umgewertet wurden. Das Ziel bestand in einer Stärkung der Exekutivspitze auf
allen Ebenen des Staates bei gleichzeitiger Zurückdrängung, wenn nicht Beseiti-
gung der Volksvertretungen. Vordergründiges Anliegen war die Wiederherstel-
lung staatlicher Einheit und Handlungsfähigkeit gegen »Zersplitterung« und
»Agonie«. Darin erschöpften sich die Anliegen dieser Richtung aber nur ganz aus-
nahmsweise’”’. Als weitergehendes Ziel wurde insbesondere die Wiederherstellung
der Neutralität und Überparteilichkeit des Staates gegenüber dem herrschenden
Parteienstaat genannt. Noch darüber hinaus ging das Anliegen, durch die Auslese
starker Exekutivpersönlichkeiten »Autorität« und »Führung« im Staat wiederzuge-
winnen. Bisweilen fand sich sogar der Versuch, den Exekutivstaat als die »wahre
Demokratie« gegenüber der Weimarer »Scheindemokratie« zu rechtfertigen ®.
Ausgangspunkt hierfür war die Ineinssetzung von »Demokratie« und »identitärer
Demokratie«; also der Identität von Herrschern und Beherrschten. Wenn das
78 A. Weber, aaO. (FN 64), S. 16 f.; C. Schmitt, Legalität und Legitimitat, Berlin 1932,
S. 70 ff.; wohl auch R. Höhn, aaO. (FN 72), S. 108 ff. Exekutivstaatliche Elemente ent-
halten auch die Vorschläge von Herrfahrdt, aaO. (FN 57), S. 37.
79 Etwa bei A. Weber, aaO.
80 Insbesondere bei Höhn, aaO. (FN 72), S. 108 ff., unter Rückgriff auf C. Schmitt, Verfas-
sungslehre, Berlin 1928, S. 223 ff.
ZfP 40. Jg. 4/1993
412 Gusy - Selbstmord oder Tod?
Volk selbst und unmittelbar der Souverän ist, so erschien den Vertretern dieser
Auffassung seine Vermittlung durch das Parlament nicht nur überflüssig, sondern
geradezu antidemokratisch. Erschien auf diese Weise als notwendiges Organ der
Demokratie das abstimmende Volk, so sollte seine primäre Handlungsform die
Volksabstimmung bzw. die »Akklamation« sein. Diese wiederum setzte ein Ver-
halten voraus, das überhaupt abstimmungsfähig war: die »Tat«. Urheber dieser
»Tat« konnte nicht ein diskutierendes Gremium sein. Vielmehr verlangte sie die
»Persönlichkeit« mit »Autorität«, kurz: »Führung«. Da in der parlamentarisch
organisierten Legislative weder »Taten« noch »Persönlichkeiten« noch »Autorität«
gesehen wurden, richtete sich der Blick geradezu zwangsläufig auf die Exekutive.
Wurde so der Exekutivstaat zur »wahren Demokratie« erklärt, so erschien die
Transformation der Republik insbesondere seit dem Jahre 1930 nicht mehr bloß
als Auflösung, sondern auch als Durch- und Übergangsstadium zu einer als besser
empfundenen Zeit. Damit geriet aber das zentrale Folgeproblem erst in den Blick:
die Frage nach der Führerauswahl. Person und Eigenschaften des Führers konnten
nicht theoretisch bestimmt werden. Führer sollte derjenige sein, der die Akklama-
tion der Massen mobilisieren konnte und dem sie folglich zufielen *. Wer das sein
konnte, war allerdings umstritten. Eher traditionell gestimmte Autoren sahen in
der Vision des Exekutivstaates den Appell an den Reichspräsidenten: Der schon
gegenwärtige Inhaber der Notkompetenz sollte derjenige der Vollkompetenz wer-
den*. Aber bereits im Jahre 1930 war absehbar, daß der greise Reichspräsident
Hindenburg zwar über genügend Ansehen, nicht aber mehr über genügend Tat-
kraft verfügen würde, um den hochgesteckten Erwartungen in den exekutiven
Führer gerecht zu werden. Insoweit erwies sich das Wahlergebnis des Jahres 1932
als Menetekel. Damit stellte sich die Zentralfrage jedes persönlichen Regimes,
nämlich diejenige nach dem Nachfolger. Hier erwies sich als verhängnisvoll, daß
die Republik es nicht vermocht hatte, charismatische Führungspersönlichkeiten
hervorzubringen. Wie verzweifelt die Lage aus der Sicht der Republikaner war,
verdeutlicht der Vorschlag H. Brünings: Er setzte sich für die Wiedererrichtung
der Monarchie ein®. Wer beides nicht wollte - und dies war insbesondere die Auf-
fassung der jüngeren Autoren -, mußte andernorts nach geeigneten Persönlichkei-
ten Ausschau halten, durch welche »ein starker Staat mit einem starken Führer neu
gesichert« werde“. Und fehlten den amtierenden Persönlichkeiten dazu die not-
wendigen Eigenschaften, so mußten dies eben andere Politiker sein. Möglicher-
weise erschien auch insoweit der Ausgang der Reichspräsidentenwahl des Jahres
81 J. Binder, Führerauslese in der Demokratie, Berlin 1929, S.51: »Der Führer macht sich
selbst, indem er die Geschichte seines Volkes begreift, indem er sich als Führer weiß und
will.«
82 In diese Richtung wohl C. Schmitt, aaO. (FN 68); ders., Der Hüter der Verfassung, Berlin
1931, S. 132 ff.
83 H. Brüning, Memoiren 1918-1934, Stuttgart 1970, S. 146, 194, 418 f., 453 ff., 462, 512 f.,
520, 579, 582.
84 Höhn, aaO. (FN 72), S. 130.
Gusy . Selbstmord oder Tod? 413
1932 als Menetekel. Aber so deutlich äußerte man sich jedenfalls im Jahre 1929 in
Verfassungsfragen noch nicht®.
2. Wege der Verfassungsreform
Das Ziel einer Verfassungsreform bedingt die Frage nach ihren Realisierungsmög-
lichkeiten. Wenn der Reichstag wegen der negativen Mehrheiten schon nahezu
kein Gesetz mehr zustande brachte, so stellte sich das Problem, wie dann eine Ver-
fassungsreform auf den Weg gebracht werden konnte. Wegen der Mehrheitsver-
hältnisse schied der Weg des Art. 76 WRV von vornherein aus. Interessanterweise
finden sich in der staatsrechtlichen Diskussion kaum Aussagen über mögliche
Alternativen. Sie wurden eher im politischen Raum erörtert. Dabei traten - sieht
man von der einfachen Übertragung der Regierungsgewalt durch den Reichspräsi-
denten gem. Art. 53 WRV an Hitler, wie sie am 30. Januar 1933 Wirklichkeit
wurde, einmal ab® — zwei denkbare Alternativen zutage.
Der erste Weg hielt sich jedenfalls äußerlich noch an den Rahmen der WRV.
Insbesondere in Kreisen der Reichswehr wurde seit dem Jahre 1932 eine an
Art. 25, 48 WRV orientierte Alternative diskutiert”. Ihr Anknüpfungspunkt war
das Recht des Reichspräsidenten, den Reichstag gem. Art. 25 Abs. 1 WRV aufzulö-
sen. Darin hätte zunächst aber nur eine weitere Verschiebung der Krise gelegen,
da in einem solchen Falle gem. Art. 25 Abs. 2 WRV spätestens am 60. Tage nach
der Auflösung Neuwahlen stattzufinden hatten. Hier nun setzte der neue Plan ein.
Sein Inhalt bestand darin, durch Notverordnung gem. Art. 48 Abs.2 WRV den
Neuwahltermin auf bestimmte oder unbestimmte Zeit zu verschieben. In der Zwi-
schenzeit hätten Reichspräsident und -regierung ohne parlamentarische Kontrolle
die als notwendig erachteten Maßnahmen ergreifen können. Zwar konnte auf dem
Wege von Notstandsmaßnahmen die WRV nicht formell abgeändert werden.
Doch hätte sich etwa die Möglichkeit denken lassen, zwischenzeitlich in Abspra-
chen mit den Führern der politischen Parteien einzutreten und etwa die Neuwahl
von Vorleistungen - auch verfassungsändernder Art — abhängig zu machen. Der
offensichtliche Nachteil dieses Plans lag in seiner Unvereinbarkeit mit der WRV.
Art. 48 Abs. 3 WRV setzte auch für den Diktaturfall die Möglichkeit parlamentari-
scher Kontrolle durch einen vorhandenen oder doch demnächst wieder vorhande-
nen Reichstag voraus. So weit auch immer die Befugnisse zur Verfassungsdurch-
brechung durch Notverordnungen gezogen wurden: Die Existenz des Parlaments
85 Anders aber schon im Jahre 1932. Nach A. Faust in: S. Harbordt, Wissenschaft und Natio-
nalsozialismus, Berlin 1983, S. 115, 120 f., rief ©. Koellreutter mit 86 anderen Hochschul-
lehrern im Völkischen Beobachter vor der Reichspräsidentenwahl zur Wahl Hitlers — und
nicht Hindenburgs - auf.
86 Diesen Plan verfolgte - jedenfalls nach T. Eschenburg, Die Republik von Weimar, 2. Aufl.
München 1985, S. 305 - im Jahre 1932 Franz von Papen in seiner berühmten Rede vor
dem Berliner Herrenclub.
87 Über unterschiedliche Vorbereitungsstufen dieses Plans berichten E. R. Huber in: H.
Quaritsch (H.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, S. 33 ff.; H. Worm in: DSt. 1988,
S. 75 ff.; T. Eschenburg, aaO., S. 166 ff.
ZfP 40. Jg. 4/1993
414 Gusy - Selbstmord oder Tod?
und seine Möglichkeit, sich zu versammeln, wurde jedenfalls in der Mitte der
zwanziger Jahre nahezu einhellig als unaufgebbares Essentiale der WRV auch
gegenüber der Diktaturgewalt angesehen ®. Ob dieser Konsens im Jahre 1932 noch
bestand, läßt sich heute nicht mehr eindeutig ausmachen. Carl Schmitt, der an den
Plänen der Reichswehr beratend beteiligt war, hat seine Grundposition jedenfalls
modifiziert®, ohne sich zu den Konsequenzen seiner neuen Lehre für das Verhält-
nis zwischen Reichspräsident und Reichstag im Diktaturfall eindeutig zu äußern.
Hier zeigte der Plan trotz seiner äußerlichen Nähe zur WRV verfassungsspren-
gende Wirkung.
Noch darüber hinaus ging die Lehre vom ungeschriebenen Staatsnotrecht”. Ihr
lag die Annahme zugrunde, daß Art. 48 Abs. 2 WRV nur Abhilfe gegen Störungen
der Verfassung »von außen« biete; nicht hingegen gegen ihre Erosion von innen.
Der Fall einer derartigen »Verfassungslähmung« sei im geltenden Recht nirgends
geregelt. Sei demnach positives Notstandsrecht nicht anwendbar, entstehe hier
Raum für ungeschriebenes, überpositives Staatsnotrecht. Träger dieses Notrechts
sei jedes Staatsorgan, das von der Erosion durch »Lähmung« noch nicht betroffen
sei. Darin lag der Appell sowohl an den Reichspräsidenten als auch an das Volk.
Der Vorteil jener Lehre war, daß das überpositive Staatsnotrecht durch positives
Recht nicht begründet war und daher auch nicht begrenzt werden konnte. Damit
konnte es weder auf die Grenze des Art. 25 Abs. 2 WRV noch auf diejenige des
Art. 48 Abs. 3 WRV stoßen. Ihr Nachteil lag jedoch darin, daß mit der Inanspruch-
nahme eines überpositiven Rechts der Boden der WRV verlassen worden wäre.
Aus der Sicht der geltenden, positiven Verfassung wäre ein solches Handeln
Rechtsbruch, wenn nicht Staatsstreich, gewesen ?.
IV. Zusammenfassung
Die Weimarer Republik befand sich im Jahre 1929/30 im Zustand ihrer allmählı-
chen Transformation. Der Glaube an die Fähigkeit der Republik, die an sie gestell-
ten Herausforderungen zu meistern, war vielerorts geschwunden. Das innenpolit-
sche Klima veränderte sich derart, daß bei prononcierten Anhängern der Republik
Resignation und Endzeitstimmung einsetzten. »Der ganze Spuk der letzten
Wochen ist der Vorbote des Faschismus« (J. Wirth 1929) %.
Die sich verstärkende Verfassungsdiskussion konnte an Vorläufer seit 1919
anknüpfen. Die alten Themen waren nicht erledigt, traten aber in den Hinter-
grund. Sie wurden durch neue Fragestellungen überlagert: Wie konnte die Agonie
88 C. Schmitt in: VVDStRL 1, S. 95; E. Jacobi, ebd., S. 118; R. Thoma in: Archiv f. Sozial-
wiss. 1925, S. 212.
89 C. Schmitt, aaO. (FN 68), S. 303 ff.; ders., Die geistesgeschichtliche Lage, aaO. (FN 62),
S. 30 ff.; sehr weitgehend auch F. Glum in: DJZ 1930, 1413, 1417 ff.
90 J. Heckel in: AöR (61) 1932, 257, 310 ff.
91 Wie ausweglos die Situation den Zeitgenossen schien, zeigt am ehesten die anerkennende
Würdigung der Vorschläge Heckels durch E. Fränkel in: Justiz (8) 1932/33, S. 139.
92 Zitiert nach G. Decker in: Die Gesellschaft 1930, S. 193.
Gusy - Selbstmord oder Tod? 415
des Staates überwunden werden? Wer die Ursache der Lähmung der Staatsorgane
außerhalb der WRV sah, konnte zur Krisenbewältigung eigentlich nichts beitragen
außer Durchhalteparolen und dem nur schwach begründbaren Glauben an eine
bessere Zukunft. Damit gerieten die Vertreter dieser Richtung — und dies waren
die meisten Anhänger der Koalitionsparteien — in die Defensive: In den Angriffen
ihrer Gegner erschienen sie geradezu als Sachwalter der Krise. Mit ihrer passiven
Haltung des Abwartens waren sie jedenfalls nicht in der Lage, der Agonie der
Republik zu begegnen. Der Untergang der WRV durch den Sturz von außen, eben
die »nationale Revolution«, hatte dann etwas nahezu zwangsläufiges an sich. Die
Charakterisierung dieses Prozesses als »Selbstpreisgabe einer Demokratie« ” greift
aber zu kurz. Die Republikaner haben »Weimar« nicht einfach »preisgegeben«,
sondern auf ihre Weise und mit ihren Mitteln zu verteidigen gesucht. Daß diese
Mittel zu schwach bzw. die Gegner zu stark waren, lag zu allerletzt an den Repu-
blikanern selbst.
Wer die Krisenursachen auch in der WRV sah, konnte in der Verfassungsdis-
kussion ein Heilmittel sehen. In der Reformdiskussion der späten Republik fanden
zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze zusammen: Die Fundamentalkritik an
der Republik, wie sie Mitte der zwanziger Jahre laut geworden war; und auf sie
gestützte Vorschläge zur Beseitigung der Krisenursachen. Das eigentlich Neue lag
in der Verbindung beider Elemente: Die Fundamentalkritik hatte ıhr politisches
Stichwort gefunden. Ausschlaggebend hierfür war nicht zuletzt ein Generations-
wechsel bei den Beteiligten”. Die jüngeren Staatsrechtswissenschaftler suchten
und fanden ihre geistige Orientierung nicht mehr in den Fragestellungen der Mon-
archie und Vorkriegszeit, sondern nahmen aktiv die Themen und Thesen der
zwanziger Jahre auf und setzten sie in ihre Disziplin um. Der Wechsel der Stich-
worte war auch in der Staatsrechtswissenschaft deutlich: Während etwa bis zum
Jahre 1925 die Fragen nach »Demokratie« und »Republik« dominierten, traten
später andere Fragen an ihre Stelle: zunächst diejenigen von »Staat« und »Rechts-
staat«; noch später diejenigen vom »autoritären« und vom »totalen« Staat. Auffäl-
lig an den Reformvorschlägen sind zwei Grundzüge: Keiner von ihnen sah eine
Rückkehr zum Zustand von vor 1929 vor; es ging also nicht um eine Restitution der
»alten« Republik, sondern um deren - wie auch immer geartete — Überwindung.
Die Beteiligten lassen sich, wie die Nachweise zeigten, auch nicht einfach in
»Demokraten« und »Antidemokraten« einteilen. Insbesondere findet sich auch bis
zum Jahre 1932 keine ausdrückliche Parteinahme für die Nationalsozialisten und
ihre Vorstellungen”. Die Suche ging vielmehr in Richtung auf einen — mehr oder
weniger nebulösen — »Dritten Weg«. Das Ziel bestand aber in der Aufgabe wesent-
93 So K. D. Erdmann / H. Schulze, Weimar - Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf
1980.
94 Zur Bedeutung der Generationenfolge für die politische Einstellung s. D. Peukert, Die
Weimarer Republik, Frankfurt 1987, S. 25 ff.
95 Dies ist der zentrale Befund der Untersuchung von D. Grimm, Recht und Staat der bürger-
lichen Gesellschaft, Frankfurt 1987, S. 373, 384 ff.
ZfP 40. Jg. 4/1993
416 Gusy - Selbstmord oder Tod?
licher Grundelemente der WRV durch Verfassungsreform. Es läßt sich kennzeich-
nen als Erosion der WRV von innen.
Der Realisierungszeitpunkt der neuen Ideen schien nahe, als führende Vertreter
im Jahre 1932 in den Kreisen um F. v. Papen und K. Schleicher Einfluß auf die
politische Gestaltung zu erlangen schienen *. Doch die Kräfte, mit denen sie sich
verbündet hatten, waren zu schwach und wurden mit dem Ende der Republik
selbst hinweggefegt. Damit ist auch die Wirkung der Reformideen umrissen. Sie
war allein destruktiver Art; die Kritik trug zur Delegitimierung der demokrati-
schen Republik bei. Hingegen kam ihnen praktisch kein konstruktiver Gehalt zu.
Hierfür waren sie nicht nur zu abstrakt und daher zu wenig operationalisierbar.
Die Nationalsozialisten nahmen ihre Ideen auch nicht auf und ließen sich durch
sie erst recht nicht binden.
Zusammenfassung
Die Diskussion um die Reform der Weimarer Reichsverfassung begann praktisch
mit ihrem Inkrafttreten im Jahre 1919. Bis zum Jahre 1928 erörterten die meisten
der daran beteiligten Autoren Wege und Methoden zur Verfassungsverbesserung.
Parallel dazu setzte aber auch eine prinzipielle Kritik ein. Sie erlangte seit der öko-
nomischen und politischen Krise des Jahres 1929 nicht nur wissenschaftliche, son-
dern auch politische Relevanz. Die neuen Ziele einer Reform von Staat und Ver-
fassung waren nicht mehr bloß auf Verbesserung, sondern auf Überwindung der
WRV gerichtet. Der dabei angestrebte »neue Staat« war alles andere als eine Rück-
kehr zur demokratischen Normalität der zwanziger Jahre. Spätestens im Jahre
1932 sah sich die Verfassungsdiskussion zwischen den Polen der Selbstaufgabe
durch Abschaffung der demokratischen Republik, also des eigenen »Selbstmor-
des«, und der passiv-resignativen Erwartung des Todesstoßes von außen, also
ihres eigenes Todes.
Summary
The Weimar Constitution had been under discussion since 1919. Until 1928 most
of the authors discussed ways and methods to improve the constitution. But dur-
96 Zu den Ideen vom »neuen Staat« im Umkreis von F. v. Papen s. K. D. Bracher, Die Aufl-
ösung der Weimarer Republik, 5. Aufl. Nachdr., Düsseldorf 1984, S. 471 ff.; J. Fest, Das
Gesicht des Dritten Reiches, München 1963, S.209 ff. Zu den Vorstellungen im Kreis
Schleichers s. E. R. Huber in: H. Quaritsch (H.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988,
S. 33 ff.; H. Worm in: DSt. 1988, 75 ff.; T. Eschenburg, aaO., S. 166 ff. Zu den Bem-
ühungen des TAT-Kreises, Einfluß auf die Position Schleichers zu gewinnen, K. Sonthei-
mer in: V/JHZG 1959, 229 ff.
Gusy . Selbstmord oder Tod? 417
ing the same period fundamental critics arised. They gained importance during the
crisis of the republic since 1929. The new aims to reform the state and its form
were no more improvements, but its surmounting with the direction to a “new
state”. Between improvement and surmounting there was no way back to the repu-
blican normality of the twenties. In 1932 for the democratic republic seemed to be
only the alternative of suicide or death.
ZfP 40. Jg. 4/1993
Michael Thöndl
Das Politikbild von Oswald Spengler (1880-1936)
mit einer Ortsbestimmung seines politischen Urteils über
Hitler und Mussolini*
1. Die Grundzüge von Spenglers Politikbild
Spengler versteht unter Politik ein Phänomen, das sich in zwei verschiedenen Aus-
prägungen zeigt. Die erste, die sog. Urpolitik, ist seiner Auffassung nach vom Vor-
handensein einer Hochkultur unabhängig. Urpolitik bedeutet ihm soviel wie
Lebenskampf: »Der Krieg ist die Urpolitik alles Lebendigen, und zwar bis zu dem
Grade, daß Kampf und Leben in der Tiefe eins sind und mit dem Kämpfenwollen
auch das Sein erlischt.«! Sobald sich aus »Massen von Einzelwesen ... Scharen«
abheben, »die sich .. . als Ganzes fühlen« 2, wird der Lebenskampf auch von gesell-
schaftlichen Einheiten geführt. Wenn Spengler meint, daß es etwa in der Vorkul-
tur »noch keine >Politik««? gibt, dann bezieht sich diese Aussage nicht auf Urpoli-
tik, sondern auf die sozusagen höhere Form von Politik.
Spengler spricht von der hohen bzw. großen Politik, die Bestandteil aller Kul-
turkreise ist. Hohe Politik unterscheidet sich jedoch nur durch die Wahl der Mittel
von Urpolitik, wie aus der folgenden Textstelle über hohe Staatspolitik hervor-
geht: »Und wenn alle hohe Politik der Ersatz des Schwertes durch geistigere Waf-
fen sein will und der Ehrgeiz des Staatsmannes auf der Höhe aller Kulturen dahin
geht, den Krieg fast nicht mehr nötig zu haben, so bleibt doch die Urverwandt-
schaft zwischen Diplomatie und Kriegskunst bestehen: der Charakter des Kamp-
fes, dieselbe Taktik, dieselbe Kriegslist, die Notwendigkeit materieller Kräfte im
Hintergrund, um den Operationen Gewicht zu geben.«‘
x
Zum Eindruck, den Mussolini seinerseits von Spengler gewonnen hat, vgl. M. Thöndl,
»Die Rezeption des Werks von Oswald Spengler (1880 — 1936) in Italien bis zum Ende
des Zweiten Weltkriegs«, zur Zeit im Druck für die Quellen und Forschungen aus italieni-
schen Archiven und Bibliotheken 73 (1993).
O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte,
Bd. II: Welthistorische Perspektiven, München !-!? 1922, S. 550 (im weiteren: UdA II).
UdA II, S. 407.
O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte,
Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit, Wien/Leipzig ? 1919, III. Tafel »gleichzeitiger« politischer
Epochen nach S. 73 (im weiteren: UdA I, Tafel II).
4 UdA II, S. 550.
pah
wm
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 419
Erstens läßt dieses Zitat deutlich werden, daß nicht Krieg, sondern Diplomatie
als nicht mit physischer Gewalt ausgetragene Auseinandersetzung um Lebenschan-
cen die Praxis der hohen Staatspolitik ist. Diplomatie erscheint bei Spengler als
Inbegriff von Konfliktaustragung. Wie man sich die Anwendung der geistigen
Waffen des Staatsmannes vorzustellen hat, kommt bei Ferdinand Lion zum Aus-
druck; dieser Schriftsteller wird hier zitiert, weil er die folgende Auffassung erwa
zu jener Zeit vertrat, in der sich auch Spengler zu hoher Politik äußerte, so daß
man einen ähnlichen Sprachgebrauch als wahrscheinlich annehmen kann: »Die
Diplomatie gebraucht alle Machtarten nur als Möglichkeiten. Ihr genügt von
ihnen schon das Wissen. Weiß ein Staat, daß er auf eine bestimmte Heeres- oder
Seemacht zählen kann und der andere Staat eine andere bestimmte Macht besitzt,
so wird verglichen, gerechnet. Ist diese gerade in dem gegebenen Augenblick stär-
ker, so ist es unnötig, die eigene in Bewegung zu setzen. Und umgekehrt, wenn die
gegnerische Diplomatie die Erkenntnis von der Überlegenheit des ersteren Staats
hat, so genügt ihm (dem gegnerischen Staat, M. T.) diese, um zurückzuweichen.
Beide dringen nicht bis zur Wirklichkeit der gegenseitigen Gewaltanwendung, sie
stellen sich nur die Lage vor und ziehen im voraus daraus die Konsequenz. So fin-
den in der Diplomatie Schlachten, Kriege statt, jedoch ohne daß es zu einem sicht-
bar körperlichen Geschehen kommt. Alles bleibt hypothetisch. In ihrem leicht
beweglichen Element lösen sich die Phasen des Gewaltsamen rascher ab als ın der
gröberen Wirklichkeit: in einem Jahr diplomatischer Politik finden mehr Siege,
Niederlagen statt als in einer gleichen Zeitspanne von Krieg; der Wechsel auf dem
imaginären diplomatischen Schlachtfelde ist reicher als auf dem anderen. Quanti-
tativ wird also nicht weniger, sondern mehr Gewalt in der Diplomatie angewandt
als im Militärischen.«° Daß sich nach Spenglers Auffassung die große Politik des
Abendlands besonders in der Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts ausgeprägt hat,
geht aus der folgenden Textstelle hervor: »Diese Kabinettspolitik ist selbst eine
hohe Kunst geworden, ein artistischer Genuß für den, der seine Finger darin hatte,
wundervoll ın ihrer Feinheit und Eleganz, höflich, raffiniert, unheimlich in die
Ferne wirkend, wo jetzt schon Rußland, die nordamerikanischen Kolonien, selbst
die indischen Staaten angesetzt werden, um an ganz andern Punkten der Erde
durch das bloße Gewicht einer überraschenden Kombination Entscheidungen her-
beizuführen.«®
Zweitens zeigt Spenglers Äußerung über hohe Staatspolitik, daß Außenpolitik
für ihn von besonderer Wichtigkeit ist. Spengler hat aber auch den Kampf im
Innern eines Gemeinwesens vor Augen, denn er denkt an »alle erfolgreiche Diplo-
matie, Taktik, Strategie, sei es die von Staaten, Ständen oder Parteien ...«. Die
Innenpolitik sei aber gegenüber dem Primat der Außenpolitik von untergeordneter
Bedeutung: »Das ist nicht nur für Völker, Staaten und Stände, sondern für leben-
dige Einheiten jeder Art bis zu den einfachsten Tierschwärmen und bis zum ein-
5 F. Lion, Große Politik, Scuttgart/Berlin/Leipzig 1926, S. 77.
6 UdA II, S. 487; die folgenden Zitate ebd., S. 407/408, S. 559 und S. 526.
ZfP 40. Jg. 4/1993
28
420 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
zelnen Körper hinab das natürliche Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, von
denen die erste ausschließlich für die zweite da ist, nicht umgekehrt.« Das natürlı-
che Verhältnis von Innen- und Außenpolitik ist demnach dann gegeben, wenn
sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um den Staat für die Außenpolitik
in Bereitschaft zu bringen.
Wenn Spengler meint, hohe Politik sei der Ersatz des Schwertes durch geisti-
gere Mittel und habe den Krieg fast nicht mehr nötig, so bedeutet dies, daß sich’
Politik auf der Höhe aller Kulturen sowohl nichtmilitärisch (Diplomatie als
Gegenstand der hohen Politik) als auch militärisch ausprägen kann. Auch Krieg
hat in diesem Stadium einen Charakter, der sich von dem des Lebenskampfes im
Bereich der Urpolitik unterscheidet, denn er wird auf der Höhe aller Kulturen
zum Gegenstand einer Kriegskunst. So habe es etwa im Abendland des 18. Jahr-
hunderts feste Regeln des »kunstvollen Manövrierens mit kleinen Truppenkör-
pern« gegeben.
Was sich im Laufe der Geschichte verändert, ist nicht die durch Krieg, Macht-
aufbau und Machtgebrauch zum Zwecke des Überlebens inhaltlich bestimmte
Politik, sondern es sind ihre Funktion und die Phänomene, in denen sich Politik
ausprägt. Urpolitik äußert sich ausschließlich als Lebenskampf. Aufgabe der Poli-
tik ist hier nicht die Verwirklichung von Ideen, Zielen oder Plänen, denn »»die
Menschheit: hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig die Gattung der
Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat«’. Anders wird es nun bei den
Gruppen, die durch eine Hochkultur verbunden sind.
Das erste der beiden großen Stadien, die Spengler beim Ablauf jeder Hochkul-
tur unterscheidet, ist die Epoche der Kultur. Daß jede Kultur ihren eigenen Stil
hat, führt Spengler auf das sog. Ursymbol zurück, das ist die Idee, die für die
Lebensäußerungen der jeweiligen Kultur bestimmend ist: ». . . das Ursymbol ... ist
im Formgefühl jedes Menschen und jeder Zeit wirksam und dikuert ihnen den Stil
sämtlicher Lebensäußerungen. Es liegt in der Staatsform, in den religiösen Dog-
men und Kulten, den Formen der Malerei, Musik und Plastik, dem Vers, den
Grundbegriffen der Physik und Ethik ...«. Die Anwendung der Konzeption der
Ursymbole auf den politischen Bereich führt zu dem Resultat, daß Politik so viel
wie Kampf um die Durchsetzung ideengeprägten Lebens bedeutet: »Ideen, wenn
sie zur Entscheidung drängen, verkleiden sich in politische Einheiten, in Staaten,
in Völker, in Parteien. Sie wollen mit Waffen, nicht mit Worten ausgefochten wer-
den.«® Dieses Zitat zeigt auch, daß Spengler vom Primat des gewaltsamen Kamp-
fes ausgeht. Daß man nicht Ideen, sondern nur Konflikte ausfechten kann, ist ihm
an dieser Stelle nicht aufgefallen.
Durch die These, daß sich das menschliche Lebensverständnis in der Kultur-
phase unter dem Gesetz eines übersubjektiven Sinnzusammenhangs auslegt,
scheint sich Spengler als objektiver Idealist auszuweisen. Andererseits begreift er
7 UdA I, S. 28; das folgende Zitat ebd., S. 250.
8 O. Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1920, S. 52 (im weiteren: PuS).
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 421
Politik im naturalistischen Sinn als Lebenskampf. Es ist daher problematisch,
Spenglers Denken einem jener Weltanschauungstypen eindeutig zuzurechnen, die
Wilhelm Dilthey im Jahr 1911 durch seine Unterscheidung zwischen Naturalis-
mus, Idealismus der Freiheit und objektivem Idealismus aufgestellt hat’. Im selben
Jahr hat Spengler mit den ersten Arbeiten zum »Untergang des Abendlandes«
begonnen '°.
In den Bereich des Naturalismus fällt auch Spenglers Deutung der Kulturideen
als Innenseiten von Kulturkörpern, die als Organismusmodelle aufgefaßt werden".
Zu den Spengler geläufigen Bildern aus dem organischen Bereich gehört die Vor-
stellung vom Greisentum einer Kultur. Damit meint Spengler den Übergang vom
ersten in das zweite große Stadium beim Ablauf einer Hochkultur, die Ablösung
der Kultur durch die Zivilisation: »Der Übergang von der Kultur zur Zivilisation
vollzieht sich in der Antike im 4., im Abendlande im 19. Jahrhundert.« In der
Antike hätten die Römer durch »ihre nur auf das Praktische gerichtete Einbil-
dungskraft« die Zivilisation verkörpert: »Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst,
animalisch bis zum Brutalen, rücksichtslos auf materielle Erfolge haltend, stehen
sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts.« Spengler stellt also der
ideengeprägten Kultur die interessengeprägte Zivilisation gegenüber.
Die Auswirkung der Vorstellung von der Erschöpfung und dem Tod der
Kulturidee auf Spenglers Politikbild wird im Lichte von Christian Meiers Darle-
gung der antiken griechischen Geschichte deutlich, in der eine nomistische Periode
durch eine kratistische abgelöst wird; »-nomia antwortet (immer) auf die Frage
nach dem (vorgegebenen) Recht, während die beiden anderen (gemeint sind die
Begriffe -archia und -kratia, M. T.) von der nach der Herrschaft von Menschen
ausgehen« !’. Die vorgegebene Bindung, die Idee (nomos), wird durch Aufklärung
zersetzt. Der nomistischen Periode entspricht bei Spengler die Geschichte der Kul-
tur, der kratistischen der Übergang von der Kultur zur Zivilisation. In den Bereich
des Politischen übersetzt, hat die Erschöpfung der Kulturidee die Emanzipation
der Politik von vorgegebenen Bindungen wie Religion, Naturrecht und ähnlichen
Vorstellungen zur Folge. Politik orientiert sich nicht mehr an einer leitenden Idee,
sondern an der Konstatierung von Relationen in einer interessensgeprägten Welt.
In der Kulturphase bedeutet Politik so viel wie Machtgewinnung und Macht-
ausübung um der jeweiligen Kulturidee willen. Politik hat trotz aller Machtorien-
tiertheit eine dienende Funktion, und zwar im übersubjektiven Sinn. In der frühen
Zivilisationsphase dient Politik partiellen und subjektbezogenen Interessen bzw.
9 W. Dilthey, »Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen
Systemen« in: W. Diltheys gesammelte Schriften, Bd. 8, Leipzig/Berlin 1931, S. 75 ff.
10 Vgl. UdA I, S. VII.
11 Zu Spenglers Gebrauch von Metaphern aus dem organischen Bereich vgl. A. Demandt,
Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken,
München 1978, S. 98 ff.
12 UdA I, S. 45; die folgenden Zitate ebd., S. 45 und S. 44/45.
13 Christian Meier, Entstehung des Begriffs »Demokratie«. Viar Prolegomena zu einer histori-
schen Theorie, Frankfurt a. M. 41981, S. 47.
ZfP 40. Jg. 4/1993
L2
28
422 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
Zwecken. Im Stadium der fortgeschrittenen Zivilisation würden sich die besonde-
ren politischen Interessen immer größerer Bevölkerungsteile auflösen, und
dadurch wird Politik wieder auf Urpolitik zurückgeschraubt: »Schon zur Zeit
Cäsars beteiligte sich die anständige Bevölkerung kaum noch an den Wahlen. Es
hat dem großen Tiberius das Leben verbittert, daß die fähigsten Männer seiner
Zeit sıch von aller Politik zurückhielten, und Nero konnte auch durch Drohungen
die Ritter nicht mehr zwingen, zur Ausübung ihrer Rechte nach Rom zu kommen.
Das ist das Ende der großen Politik, die einst ein Ersatz des Krieges durch geisti-
gere Mittel gewesen war und nun dem Kriege in seiner ursprünglichsten Gestalt
wieder Platz macht.«'* Vom festgelegten Ablauf jeder Hochkultur bestimmt, ist
Politik unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion kein Spezifikum einer bestimmten
Kultur bzw. Zivilisation.
Die spezifischen Ordnungsgebilde, in denen sich Spengler zufolge die Politik
aller Hochkulturen ausprägt'‘, nehmen durch die Ursymbole in jeder Kulturphase
eine andere Gestalt an. Daß dem Tod einer Kulturidee das unverwechselbare
Äußere der entsprechenden Zivilisation folgt, erklärt Spengler durch ein naturali-
stisches Bild: »So kann sie (die Zivilisation, M. T.), ein abgestorbener Baumriese
im Urwald, noch Jahrhunderte hindurch die morschen Äste emporstrecken.«
Unter den Einheiten, die im Ablauf einer Hochkultur um Macht kämpfen, ver-
steht Spengler primär Staaten. Sein Politikbild ist auf das engste mit dem Staat ver-
knüpft: »Weltgeschichte ist Staatengeschichte. Staatengeschichte ist die Geschichte
von Kriegen. ... Wirtschaftskampfe werden zu Kämpfen zwischen Staaten oder
innerhalb von Staaten. Religionen konstituieren sich als Staaten, wie Judentum
und Islam, Hugenotten und Mormonen, wenn es sich um ıhr Dasein oder ihren
Sieg handelt.« !* Es zeigt sich, daß Staaten nach Spenglers Auffassung Kampfkol-
lektive sind; unter seinen Staatsbegriff fallen daher z. B. auch Religionen, die als
institutionalisierte Personalverbände über kein Staatsgebiet verfügen.
Spengler schließt jedoch nicht aus, daß es auch pazifistische Religionen geben
kann. In seiner Perspektive bedeutet die Propagierung des Pazifismus innerhalb
einer politischen Einheit so viel wie »seelische Selbstentwaffnung«'” und sinnlose
Kampfverweigerung. Eine pazifistische Weltanschauung erscheint ıhm als lebens-
fremde Fiktion, denn »der Kampf ist die Urtatsache des Lebens, ist das Leben
selbst, und es gelingt auch dem jammerlichsten Pazifisten nicht, die Lust daran in
seiner Seele ganz auszurotten. Zum mindesten theoretisch möchte er alle Gegner
des Pazifismus bekämpfen und vernichten« '*.
14 UdA II, S. 542.
15 Vgl. UdA I, Tafel III; das folgende Zitat ebd., S. 156.
16 PuS, S. 52.
17 O. Spengler, Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung,
Neudruck mit einem Vorwort von Heinz Friedrich, München 71980, S. 208 (im weiteren:
JdE).
18 JdE, S. 38; das folgende Zitat ebd., S. 49.
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 423
Spengler zufolge hat der Staat nur eine einzige Aufgabe, namlich die Lebenssi-
cherung gegenüber äußeren Herausforderungen, sei es durch erfolgreiche Kriegs-
führung oder — mittels verfügungsbereiter Macht - durch Einschüchterung ande-
rer Staaten, wobei letzteres unter seinen Begriff von großer Politik fällt: »Ein Staat
ist das >In Form sein einer durch ihn gebildeten und dargestellten völkischen Ein-
heit für wirkliche und mögliche Kriege. Ist diese Form sehr stark, so besitzt sie als
solche schon den Wert eines siegreichen Krieges, der ohne Waffen, nur durch das
Gewicht der verfügungsbereiten Macht gewonnen wird. Ist sie schwach, so kommt
sie einer beständigen Niederlage in den Beziehungen zu anderen Mächten gleich.
Staaten sind rein politische Einheiten, Einheiten der nach außen wirkenden
Macht.« Das »In Form sein« in der Politik vergleicht Spengler mit der Form von
Sportlern, »in Form« sei ein »Sportausdruck« !? und bedeute so viel wie fit sein, Fit-
ness: »In Form sind Ringer, Fechter und Ballspieler, denen das Gewagteste leicht
und selbstverständlich von der Hand geht. ... In Form ist eine Armee, wie sie
Napoleon bei Austerlitz und Moltke bei Sedan hatten. So gut wie alles, was ın der
Weltgeschichte geleistet worden ist, ... rührt von lebendigen Einheiten her, die
sich in Form befanden.« 2°
Nach Spenglers Auffassung wird die Staatsform während der Kulturphase im
Ablauf jeder Hochkultur entwickelt?!. »Höhe der Form« sei im Stadium der Kul-
tur die »angeborene Überlegenheit der leitenden Geschlechter ...«22. Mit dem
Übergang von der Kultur zur Zivilisation trete »die Masse« als »das Formlose« »
in Erscheinung, und es komme zu Revolutionen*; Spengler versteht also hier
unter Form etwas Aristokratisches.
Spenglers Entgegensetzung von Form und Masse hat ihre Parallele in einer
These von Max Scheler, die besagt, daß es verschiedene Wissensformen gibt, die in
einer Hierarchie stehen und eine unterschiedliche soziologische Zugehörigkeit
aufweisen. Die Metaphysik wird von Scheler als hohe Wissensform der Ober-
schicht zugeordnet. Die Unterschicht habe die Hierarchie der Wissensformen
nicht mehr akzeptiert, sie bekämpft und zugunsten des positiven und technologi-
schen Wissens umgekehrt: »Die großen Phasen dieses stets und überall durch die
unteren Klassen geführten Kampfes und ihrer Formierung in den politischen und
sozialen »Demokratien< bedeutet wissenssoziologisch in bezug auf die Wissensar-
ten stets dreierlei: 1. Rückgang des freien, von Hause aus aristokratischen meta-
physischen Geistes bis zur Entwurzelung der Metaphysik als sozialer Wissens-
und Lehr-Institution, respektive Neugestaltung der Metaphysik in der Form
19 UdA II, S. 407. Auf die Zivilisation wendet Spengler den Begriff der Form auch im Sinn
von museal oder sonstwie erhaltenem Kulturgut an, das nicht mehr lebensmächtig ist; vgl.
UdA II, S. 127 ff.
20 UdA II, S. 407/408.
21 Vgl. UdA I, Tafel III.
22 JdE, S. 97.
23 UdA II, S. 411.
24 Vgl. UdA I, Tafel III.
ZfP 40. Jg. 4/1993
424 Thondl . Das Politikbild von Oswald Spengler
geschlossener Systeme individueller »einsamer: Denker. 2. Steigende Dogmatisie-
rung, juridische Verkirchlichung und Veranstaltung der Religionen nach dem
Grundsatz: »C’est la mediocrite, qui fonde l’authorité<, und andererseits Rettung
höhergearteter Minoritäten aus diesem Erstarrungsprozeß in die Form bewußter
Aristokratenreligion, das heißt in die Form der >Sekte<. 3. Steigender Fortschritt
des positiv-wissenschaftlichen und technischen Geistes ...«2. In den Bereich der
Politik übersetzt, schließt diese Perspektive aus, daß hohe Form auf Mehrheiten
und somit auf rein Zählbares (Stimmen) zurückgeführt werden kann, sei es durch
demokratische Wahlen oder durch Massenagitation und Demagogie.
Spengler zufolge kommen wenigstens einige Staaten nach einem »Zeitalter des
Übergangs, der Formlosigkeit ...«** in jeder Zivilisation wieder in Form. Ein
Zusammenhang zwischen der Staatsform und der Repräsentation der Kulturidee
ıst nur während der Prägekraft des Ursymbols gegeben. Damit bezieht Spengler
einen anderen Standpunkt als Carl Schmitt, der am Beispiel des römischen Katho-
lizismus seine These darlegte, daß Form die Kraft zur Repräsentation erfordere:
»Darin, daß sie (die römisch-katholische Kirche, M. T.) die Fähigkeit zur juristi-
schen Form hat, liegt eines ihrer soziologischen Geheimnisse. Aber sie hat die
Kraft zu dieser wie zu jeder Form nur, weil sie die Kraft zur Repräsentation hat.
Sie repräsentiert die civitas humana, sie stellt in jedem Augenblick den geschichtli-
chen Zusammenhang mit der Menschwerdung und dem Kreuzesopfer Christi dar,
sie repräsentiert Christus selbst, persönlich, den in geschichtlicher Wirklichkeit
Mensch gewordenen Gott. Im Repräsentativen liegt ihre Überlegenheit über ein
Zeitalter ökonomischen Denkens.«”” In ihrem grundlegenden Politikverständnis
stimmen Spengler und Carl Schmitt hingegen überein. Beide setzen Kampf, Krieg
und damit Feindbilder voraus. Carl Schmitts Definition, daß »die Unterscheidung
von Freund und Feind« das Kriterium des Politischen sei 2°, deckt sich mit der dar-
gelegten Auffassung von Spengler.
Der geborene Staatsmann, den Spengler vor Augen hat, betreibt Politik ohne
konstruierende Vernunft: »Wie man Politik macht? — Der geborene Staatsmann ist
vor allem Kenner, Kenner der Menschen, Lagen, Dinge. Er hat den »Blick«, der
ohne Zögern, unbestechlich den Kreis des Möglichen umfaßt. Der Pferdekenner
prüft mit einem Blick die Haltung des Tieres und weiß, welche Aussichten es im
Rennen besitzt. Der Spieler wirft einen Blick auf den Gegner und kennt den näch-
sten Zug. Das Richtige tun, ohne es zu »wissen«, die sichere Hand, die den Zügel
unmerklich kürzer faßt oder fallen läßt — es ist das Gegenteil von der Begabung
25 M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, S. 193.
26 JdE, S. 71.
27 Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, München 1925 (Der katholi-
sche Gedanke. Veröffentlichungen des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker
zur Pflege der katholischen Weltanschauung, Bd. 13), S. 26.
28 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei
Corollarien, Berlin 1963, S. 26.
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 425
des theoretischen Menschen.«2? Große Politik bedeute, »... fern von allen
Systemen und Theorien, ... die Welt wie ein guter Reiter durch den Schenkel-
druck zu regieren« °°.
Was Spengler hier allem Anschein nach unter Politik-Machen versteht, läßt sich
mit Hilfe einer Abhandlung von Michael Oakeshott über den Rationalismus in der
Politik verdeutlichen, in der der Autor zwischen technischem und praktischem
Wissen bzw. »Kennerschaft« >! unterscheidet: »Technisches Wissen ist . . . geeignet,
in Regeln, Prinzipien, Anweisungen, Maximen und in umfassender Weise in Lehr-
sätzen formuliert zu werden. Es ist möglich, technisches Wissen in einem Buch zu
fixieren. Deswegen überrascht es uns nicht, daß ein Künstler, der über seine Kunst
schreibt, nur über die Technik seiner Kunst berichtet. Der Grund dafür ıst nicht,
daß er nichts von dem weiß, was man das ästhetische Element nennen kann, oder
daß er dieses für unwichtig hält; die Ursache dafür ist vielmehr, daß er es bereits
(falls er ein Maler ist) in seinen Bildern gesagt hat und dafür keine andere Aus-
drucksweise kennt.« Praktisches Wissen könne »weder gelehrt noch gelernt, son-
dern nur mitgeteilt und erworben werden. Nur in der Tätigkeit existiert es und
kann allein durch eine Lehrzeit bei einem Meister erworben werden - nıcht, weil
der Meister es lehren kann (er kann es nicht), sondern weil man es nur durch den
ständigen Kontakt mit jemandem sich aneignen kann, der es ununterbrochen prak-
tiziert«. Oakeshott erläutert sein Verständnis von technischem und praktischem
Wissen mit einer Erzählung aus dem Buch Chuang-Tzu, die hier wiedergegeben
werden soll, weil daraus besonders deutlich hervorgeht, worin der Unterschied der
beiden Wissensarten besteht: »Fürst Huan Ch’i saß an der Stirnseite des Saales
und las ein Buch. Am anderen Saalende fertigte der Stellmacher ein Wagenrad. Er
legte Hammer und Meißel beiseite, rief zum Fürsten herüber und fragte ihn, wel-
ches Buch er gerade lese. »Ein Buch mit den Worten weiser Männer«, antwortete
der Fürst. »Leben jene Weisen noch begehrte der Stellmacher zu wissen. >O nein«,
gab der Fürst zurück, >sie sind tot«. »In diesem Falle<, sagte der Radmacher, >kann
das Buch nichts anderes als den Bodensatz und Abfall längst dahingegangener
Männer enthalten. »Wie kannst du, ein Stellmacher, es wagen, das Buch, das ich
gerade lese, zu tadeln! Kannst du deine Bemerkung erklären, will ich darüber hin-
wegsehen; kannst du es nicht, wirst du sterben.« >Als ein Stellmacher:, erwiderte er,
»sehe ich die Sache so. Wenn ich ein Rad baue und mein Schlag ist zu langsam, so
dringt der Meißel zwar tief, aber ungleichmäßig ın das Holz ein; erfolgt er zu
schnell, dann dringt er zwar gleichmäßig, aber nicht tief ein. Die richtige Schlag-
folge kann allein vom Herzen her in die Hand kommen. Das ist etwas, was man
nicht ın Worte fassen kann; das erfordert eine Kunst, die ıch meinem Sohne nicht
erklären kann. Deshalb kann ich ihm auch meine Arbeit hier nicht übergeben und
so bin ich mit 70 Jahren noch hier und baue Räder. Meiner Meinung nach muß es
29 UdA II, S. 552.
30 JdE, S. 38.
31 M. Oakeshott, Rationalismus in der Politik (zuerst London 1962), Neuwied/Berlin 1966,
S. 19; die folgenden Zitate ebd., S. 18/19.
ZfP 40. Jg. 4/1993
426 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
sich mit den Männern vergangener Zeiten ebenso verhalten. Alles was wert war,
überliefert zu werden, starb mit ihnen: den Rest legten sie in ihren Büchern nieder.
Darum sage ich, daß jenes Buch der Bodensatz und Abfall verstorbener Männer
sei.<« In diesem Sinne ist Spenglers Bemerkung zu verstehen, daß sich große Poli-
tik von allen Systemen und Theorien fernhalten solle. Das bedeutet eine Absage an
den Rationalismus in der Politik und damit an alle Versuche, eine politische Ord-
nung rational zu konstruieren.
Damit steht Spengler im Gegensatz zu einer Politikauffassung, die bereits in der
Französischen Revolution von 1789 »eine entscheidende Rolle gespielt hat, und
zwar die Vorstellung, daß sich eine politische Ordnung machen, d. h. bewußt und
rational gestalten läßt: Eine politische Ordnung kann man sich sozusagen ausden-
ken und dann frei adoptieren und der Gesellschaft, für die sie gedacht ist,
oktroyieren. Diese Vorstellung einer rationalistischen Konstruktion und einer dar-
auffolgenden gewollten Oktroyierung einer solchen Ordnung wurde von Burke in
seiner Schrift über die Französische Revolution bekämpft. Er erklärte und begrün-
dete, daß eine Verfassungsordnung nicht etwas Gemachtes, sondern etwas Gewor-
denes, etwas Gewachsenes sei. Die Verfassung sei Ausdruck aller Traditionen und
Gebräuche einer bestimmten Gesellschaft und ihr daher organisch zugeordnet. Er
geht schließlich so weit, jede Änderung in Frage zu stellen«”. Für Spengler war
Burke ein »echter Staatsmann«, der »praktisch und politisch« und »nicht rationalı-
stisch« gedacht hat”.
2. Einige Aspekte von Spenglers politischer Gegenwartsdeutung
Zur politischen Deutung seiner Gegenwart gebraucht Spengler die Ausdrücke
links und rechts. Sie dienen ihm als Bezeichnung für bestimmte Eigenschaften von
Phänomenen, die im Ablauf jeder Hochkultur mit dem Übergang vom Stadium
der Kultur ins Stadium der Zivilisation dominieren. Analog zum Abendland habe
es etwa in der antiken Gracchenzeit ebenfalls Phänomene mit linken und rechten
Zuordnungsmomenten gegeben’.
Als rechts und links etikettiert Spengler den »Gegensatz zwischen gesellschaftli-
cher Rangordnung und städtischer Masse, zwischen Tradition und Bolschewis-
mus, zwischen dem überlegenen Dasein weniger und der niederen, massenhaften
Handarbeit oder wie man es nennen will ...«, d.h. zur Rechten zählt Spengler
gesellschaftliche Rangordnung, Tradition, das überlegene Dasein weniger. Als
links gelten ihm hingegen die städtische Masse und der Bolschewismus.
Spenglers Bolschewismusbegriff hängt mit seiner Ablehnung der konstruieren-
den Vernunft in der Politik zusammen. In diesem Sinne hält er das Naturrecht und
den Staatsbegriff des Thomas von Aquin für die Vorläufer der bolschewistischen
Ideologie: »Wieviel vom Naturrecht und Staatsbegriff des Thomas von Aquino
32 C. J. Friedrich, Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, Heidelberg 1959, S. 14.
33 JdE, S. 30.
34 Vgl. JdE, S. 176 und S. 172; die folgenden Zitate ebd., S. 174 und S. 131.
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 427
steckt noch in Adam Smith und also — mit umgekehrtem Vorzeichen — im kommu-
nistischen Manifest! Die christliche Theologie ist die Großmutter des Bolschewis-
mus. Alles abstrakte Grübeln über Wirtschaftsbegriffe fern von aller wirtschaftli-
chen Erfahrung führt, wenn es mutig und ehrlich zu Ende geführt wird, irgendwie
zu Vernunftschlüssen gegen Staat und Eigentum ...«. Diese eigenartige Auffas-
sung wird von Spengler nicht näher erläutert. Smith hatte er andernorts als einen
Vertreter der Unterordnung des Staats unter die Gesellschaft erwähnt: »Die Wirt-
schaft will einen Staat, der schwach ist und ihr dient; die Politik fordert die Ein-
ordnung des wirtschaftlichen Lebens in den Machtbereich des Staates: Adam
Smith und Friedrich List, Kapitalismus und Sozialismus.«” Möglicherweise zieht
Spengler unausgesprochen die Parallele zu Thomas von Aquins These von der
Bindung aller Staatsgewalt an die Erfordernisse des Gemeinwohls der Gesell-
schaft, so daß die Ähnlichkeit von Smith und Thomas von Aquin für Spengler in
der Ablehnung einer spezifischen, an Machtmaximierung orientierten Staatsräson
liegen könnte.
Als links gilt für Spengler generell, wer sich auf einen Entwurf zur Gesell-
schaftsveränderung stützt: »Links ist, was ein Programm hat, denn das ist der
intellektuelle, rationalistisch-romantische Glaube, die Wirklichkeit durch Abstrak-
tionen bezwingen zu können.«’” Zur Linken zählt er den Liberalismus und ganz
allgemein jedermann, der Parteipolitik betreibt, der seine Politik auf Mehrheiten
gründet, der populistische Politik macht: »Links« ist, was Partei ist, was an Par-
teien glaubt, denn das ist eine liberale Form des Kampfes gegen die höhere Gesell-
schaft, des Klassenkampfes seit 1770, der Sehnsucht nach Mehrheiten, nach dem
Mitlaufen »aller<, Quantität statt Qualität, die Herde statt des Herrn.« Zur Linken
gehört, wer agitiert: »Links ist die larmende Agitation auf dem Straßenpflaster und
in Volksversammlungen, die Kunst, die städtische Masse durch starke Worte und
mittelmäßige Gründe umzuwerfen.« Als links gilt für Spengler insbesondere die
Infragestellung des Privateigentums: »Links« ist zuletzt und vor allem der Mangel
an Achtung vor dem Eigentum .. .«. Zur Rechten zählt hingegen für Spengler das
Dasein von Eliten, Individualismus und Disziplin im Gegensatz zur städtischen
Masse und die Achtung vor dem Eigentum. Es wird deutlich, daß für Spengler
auch jene Parteien linke Elemente enthalten, die rechte Werte vertreten, und zwar
bereits dadurch, daß sıe als Parteien auftreten.
Im Gegensatz zwischen links und rechts habe gegenwärtig die Linke ein Über-
gewicht, doch bahne sich die Umkehrung dieses Verhältnisses an: »In diesem
ungeheuren Zweikampf großer Tendenzen ... erfolgt heute noch die Offensive
von unten, von der städtischen Masse her, die Defensive von oben, noch schwäch-
lich und ohne das gute Gewissen ihrer Notwendigkeit. Das Ende wird erst sichtbar
werden, wenn das Verhältnis sich umkehrt, und das steht nahe bevor.« Der »Tat-
sache der bestehenden Übermacht der Linken« steht nach Spenglers Auffassung
»der erwachende Wille zu einer Rechtsbewegung« gegenüber.
35 UdA II, S. 427.
36 Dieses und die folgenden Zitate JdE, S. 172-176.
ZfP 40. Jg. 4/1993
428 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
Der Kampf zwischen rechts und links sei unvermeidlich, die Mitte wird daher
von Spengler als sinnlose Kampfverweigerung bewertet: »Vergebens bemüht sich
die Feigheit ganzer Schichten, für eine versöhnliche »Mitte< gegen »rechts-< und
links<radikale Tendenzen einzutreten. Die Zeit selbst ist radikal. Sie duldet keine
Kompromisse.« »Der Wille zur Mitte ist der greisenhafte Wunsch nach Ruhe um
jeden Preis, nach Verschweizerung der Nationen, nach geschichtlicher Abdan-
kung, mit der man sich einbildet, den Schlagen der Geschichte entronnen zu sein.«
Die Mitte werde verschwinden, und dadurch tritt der Gegensatz zwischen links
und rechts immer stärker hervor. Nach Spenglers Auffassung wird dieser Kampf
erst zu Ende sein, wenn die abendländische Zivilisation nach dem Sieg der Rechts-
bewegung in das Stadium des Cäsarismus eingetreten ist.
Spengler spricht vom Cäsarismus als »der endgültigen politischen Verfassung
später Zivilisationen« ”. Die Phänomene des Cäsarısmus seien »in der Antike etwa
von Augustus an sichtbar, in China mit Schi Hoang Ti«. Sie sind demnach kein
Spezifikum der abendländischen Zivilisation, sondern es handelt sich um Epiphä-
nomene des vorletzten Stadiums im Ablauf jeder Hochkultur. Zuletzt erfolgt mit
der Auflösung des Cäsarısmus der Zerfall der Zivilisation *.
Cäsarısmus bedeutet bei Spengler gesellschaftliche Rangordnung, die Herr-
schaft von Eliten, überlegenes Dasein weniger, Privatbesitz der Welt, Pflicht und
Disziplin in der Sorge um die Welt, Individualismus der Cäsaren: »Mögen die
Machthaber der Zukunft, da die große politische Form der Kultur unwiderruflich
zerfallen ist, die Welt als Privatbesitz beherrschen, so enthält diese formlose und
grenzenlose Macht doch eine Aufgabe, die der unermüdlichen Sorge um diese
Welt, die das Gegenteil aller Interessen im Zeitalter der Geldherrschaft ist und die
ein hohes Ehrgefühl und Pflichtbewuftsein fordert.« Detlef Felken sieht in die-
sem Zitat die Vorstellung von einer Diktatur mit hohen sittlichen Erwartungen an
den Cäsar“, aber die Textstelle läßt eine genauere Auswertung zu: Welt als Privat-
besitz bedeutet freie Verfügbarkeit der Welt und ist ein Sinnbild für die Unbe-
grenztheit der Machtanwendung im Cäsarısmus. Zunächst muß um diesen Besitz
gekämpft werden, und damit stehen den abendländischen Staaten auf dem Weg
zur Weltherrschaft furchtbare Kriege bevor. Um aus diesen Kämpfen als Sieger
hervor- und in den Zustand des cäsaristischen Imperiums überzugehen, muß ein
Staat in Form sein, und das kann er nur durch einen rechtzeitigen Sieg der Rechts-
bewegung, denn der Linken ist, wie bereits dargelegt wurde, die Masse und damit
das Formlose zugeordnet. Nachdem die Welt in Privatbesitz übergegangen ist,
wird Herrschaft nicht mehr im Rahmen eingrenzender Formen vollzogen, weil alle
äußeren Feinde niedergerungen sind. Daß aber bei der Bewältigung einer Aufgabe
nicht irgendeine Art von Form vorhanden sein muß, scheint doch eher abwegig.
37 UdA II, S. 382; ebd. das folgende Zitat.
38 Vgl. UdA I, Tafel II.
39 UdA II, S. 583.
40 D. Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur,
München 1988, S. 130 f.
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 429
Die Vorstellung vom Übergang der abendländischen Zivilisation zum Cäsaris-
mus bestimmt Spenglers politische Gegenwartsdeutung. Der Faschismus ist nach
Spenglers Auffassung ein Übergangsphänomen, weil sich in ihm bereits die Ten-
denz zur Rechtswende abzeichnet, obwohl sein Erscheinungsbild linke Elemente
in sich trägt: »Auch im Faschismus besteht die gracchische Tatsache zweier Fron-
ten — die linke der unteren städtischen Masse und die rechte der gegliederten
Nation vom Bauern bis zu den führenden Schichten der Gesellschaft .. .«*.
Spengler stellt hier das linke Merkmal städtische Masse dem rechten Merkmal
gesellschaftliche Rangordnung gegenüber. Weil der Faschismus in einem Zeitalter
entsteht, in dem die linken Kräfte ein Übergewicht haben, übernimmt er wenig-
stens zum Teil deren politische Methoden: Der Faschismus formiert sich als Mas-
senpartei und betreibt Massenagitation und populistische Politik: »Er hat sich von
der städtischen Masse her entwickelt, als Massenpartei mit lärmender Agitation
und Massenreden. Tendenzen des Arbeitersozialismus sind ihm nicht fremd. Aber
solange eine Diktatur »sozialen« Ehrgeiz hat, um des >Arbeiters< willen da zu sein
behauptet, auf den Gassen wirbt und populär ist, so lange ist sie Zwischenform.«
Selbst die Eliminierung aller Parteien außer der eigenen sei keine Überwindung
der linken Elemente im Faschismus, denn es sei »ein Irrtum, an die Möglichkeit
einer einzigen Partei zu glauben. Parteien sind liberal-demokratische Formen der
Opposition. Sie setzen eine Gegenpartei voraus. Eine Partei ist im Staate so
unmöglich, wie ein Staat in einer staatenlosen Welt. Die politische Grenze - des
Landes oder der Gesinnung - trennt immer zwei Mächte voneinander«. Spengler
führt weitere linke Elemente des Faschismus an: Der Faschismus stütze sich auf
ein Programm und glaube wie jede ideologische Bewegung »an das Endgültige
ihrer Leistungen. Sie lehnt den Gedanken ab, daß nach ihr: die Geschichte weiter-
gehe.« So bestehe auch für den Faschismus »die große Gefahr der Mitte dieses
Jahrhunderts, daß man fortsetzt, was man bekämpfen möchte.« Die faschistische
(einschließlich der nationalsozialistischen) Bewegung stehe vor der Alternative,
sich für links oder für rechts zu entscheiden: »Das gilt vom Faschismus und von
jeder der zahlreichen nach seinem Muster entstandenen oder noch, etwa in Ame-
rika, entstehenden Bewegungen. Hier ist jede einzelne vor eine unvermeidliche
Wahl gestellt. Man muß wissen, ob man >rechts< oder »links« steht, mit Entschie-
denheit, sonst entscheidet der Gang der Geschichte darüber, der stärker ist als alle
Theorie und ideologische Träumerei. Eine Versöhnung ist heute so unmöglich wie
im Zeitalter der Gracchen.«
Unter dem Eindruck der Herausbildung totalitärer Herrschaft im Dritten Reich
hat Spengler die Diktatur einer Partei als Entartung des Mehrparteiensystems
beschrieben. Den Beleg hat Felken in einem der rund dreihundert Fragmente
gefunden, die Spengler für seinen geplanten zweiten Band von »Jahre der Ent-
scheidung« zu Papier gebracht hat: »»Partei<, heißt es im vielleicht aufschlußreich-
sten Fragment der Sammlung, >ist d(em) Wesen nach Korruption. Es geht, so lange
41 Dieses und die folgenden Zitate JdE, S. 174-177.
ZfP 40. Jg. 4/1993
430 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
mehrere Parteien einander auf d(ie) Finger sehen. Eine Partei ohne Kontrolle, ist
Korruption, Demoralisation u(nd) weiter nichts. Sie unterdrückt jede Spur von
Kritik u(nd) Wahrheit in Presse, Buch, Oeffentlichkeit, bis in d(ie) Familienge-
spräche hinein, und sie hat es nötig, denn die Existenz dieser Ausbeuter-Aschan-
tihorden beruht auf d(em) Schweigen d(er) Opfer«.«* Nicht nur mit der Partei,
wie Felken vermerkt, sondern auch mit der Ideologie hat Spengler typische Merk-
male der totalitären Diktatur * kritisiert. So muß man sich darüber wundern, daß
Clemens Vollnhals ohne Begründung die These in den Raum stellt, Spengler habe
»die Errichtung einer totalitären Diktatur« gefordert“. Spengler hatte eine
Rechtsdiktatur vor Augen, die sich auf keinerlei linke Elemente stützt. Wie Herr-
schaft unter dieser Voraussetzung überhaupt funktionieren soll, werde ich am
Schluß des vierten Teils meiner Abhandlung untersuchen.
3. Der Rassebegriff von Spengler und seine politische Bedeutung
Für Spengler fällt eine bestimmte Vorstellung von Rasse, in der er die objektive
Wirklichkeit unverzerrt zu erkennen glaubt, nicht unter den Ideologiebegriff:
»Was seit der Eiszeit die Erde bewohnt, sind Menschen, nicht »Völker«. Ihr Schick-
sal wird zunächst dadurch bestimmt, daß die leibliche Folge von Eltern und Kin-
dern, der Zusammenhang des Blutes, natürliche Gruppen bildet, welche den deutli-
chen Hang verraten, in einer Landschaft Wurzel zu fassen. Auch Nomadenstämme
halten ihre Bewegungen in einer landschaftlichen Grenze. Damit ist eine Dauer
der kosmisch-pflanzenhaften Lebensseite, des Daseins, gegeben. Dies nenne ich
Rasse.«* Andernorts hatte Spengler den Ausdruck Pflanze im Sinne von Seßhaf-
tigkeit und Immobilität gebraucht: »Pflanzen heißt etwas nicht nehmen, sondern
erzeugen. Aber damit wird man selbst zur Pflanze, nämlich Bauer. Man wurzelt ın
dem Boden, den man bestellt.« »Das Bauernhaus ist das große Symbol der Seßhaf-
tigkeit. Es ist selbst Pflanze; es senkt seine Wurzeln tief in den »eigenen« Boden.«
Unter pflanzenhafter Lebensseite ist demnach die Gebundenheit natürlicher Grup-
pen an eine Landschaft zu verstehen. Spengler meint, unter diesem Aspekt könne
man auch den Nomaden als seßhaft bezeichnen. Der Terminus Rasse dient ihm
zur Kennzeichnung umgrenzter Gemeinschaften, und zwar unabhängig vom
Ablauf einer Hochkultur. Die natürlichen Gruppen bilden unter der Einwirkung
rassebildender Elemente eigene Grundformen aus, d. h. Rasse bedeutet bei Speng-
ler so viel wie Typenprägung.
42 Felken, Oswald Spengler, aaO. (FN 40), S. 229; vgl. POLITICA I, 75, DiG 2 (G 1-87) in:
Spengler-Archiv, vom C. H. Beck Verlag der Bayerischen Staatsbibliothek, München,
übergeben.
43 Vgl. die Beiträge zur Totalitarismus-Diskussion, darunter C. J. Friedrich, Totalitäre Dik-
tatur (Unter Mitarbeit von Z. K. Brzezinski), Stuttgart 1957, Merkmalskatalog auf S. 19.
44 C. Volinhals, »Oswald Spengler und der Nationalsozialismus. Das Dilemma eines kon-
servativen Revolutionärs« in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte Tel Aviv 13
(1984), S. 280.
45 UdA II, S. 132/133; die folgenden Zitate ebd., S. 104/105 und S. 140.
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 431
Fur das bedeutendste rassebildende bzw. typenpragende Element halt Spengler
allem Anschein nach die Landschaft, den Boden, denn dazu äußert er sich mit
besonderer Ausführlichkeit: »Eine Rasse hat Wurzeln. Rasse und Landschaft
gehören zusammen. Wo eine Pflanze wurzelt, da stirbt sie auch.« Spengler bringt
Beispiele zur Erläuterung dieses Zusammenhangs, u. a. meint er: »Nicht Engländer
und Deutsche sind nach Amerika ausgewandert, sondern diese Menschen sind als
Engländer und Deutsche gewandert; als Yankees sind ihre Urenkel jetzt dort, und
es ist seit langem kein Geheimnis mehr, daß der Indianerboden seine Macht an
ihnen erwiesen hat: Sie werden von Generation zu Generation der ausgerotteten
Bevölkerung ähnlicher.« Die Typenprägung durch den Indianerboden wirke sich
etwa dahingehend aus, »daß Weiße aller Stämme, Indianer und Neger dieselbe
durchschnittliche Körpergröße und Wachstumszeit erhalten ...« und »daß schon
die in Amerika geborenen Kinder langköpfiger sizilischer und kurzköpfiger deut-
scher Juden dieselbe Kopfform haben«. Goten, Langobarden und Vandalen seien
»schon zur Zeit der Renaissance in die wurzelhaften Rassemerkmale des provença-
lischen, kastilischen und toskanischen Bodens vollständig hineingewachsen«.
Dadurch habe sich ihr Typus verändert.
Mit der Auffassung, daß die Landschaft bzw. der Boden die Menschen prägt,
befindet sich Spengler nicht im Widerspruch zu Hitler, wohl aber durch den Stel-
lenwert, den er diesem Faktor beimißt. Das zeigt die folgende Textstelle aus Hit-
lers »Mein Kampf«: »Wie sehr auch zum Beispiel der Boden die Menschen zu
beeinflussen vermag, so wird doch das Ergebnis des Einflusses immer verschieden
sein, je nach den in Betracht kommenden Rassen . . . Immer ist die innere Veranla-
gung der Völker bestimmend für die Art der Auswirkung äußerer Einflüsse.« “
Als zweites rassebildendes Merkmal stellt Spengler neben die »Macht des
Bodens« * die »Energie des Blutes, das durch Jahrhunderte immer wieder diesel-
ben leiblichen Züge prägt . . .«. Die Ähnlichkeit mit Hitlers Auffassung ist hier nur
eine äußerliche; das folgende Zitat zeigt, daß es Spengler nicht darum geht, ob
Menschen physiologisch voneinander abstammen: »Man glaube doch nicht, daß je
ein Volk durch die bloße Einheit der leiblichen Abstammung zusammengehalten
wurde und diese Form auch nur durch zehn Generationen hätte wahren können.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß diese physiologische Herkunft
nur für die Wissenschaft und niemals für das Volksbewußtsein vorhanden ist und
daß kein Volk sich je für dieses Ideal des »reinen Blutes: begeistert hat. Rasse
haben ist nichts Stoffliches, sondern etwas Kosmisches und Gerichtetes, gefühlter
Einklang eines Schicksals, gleicher Schritt und Gang im historischen Sein.« Rasse
werde v. a. am lebendigen Körper, an seinen Bewegungen und Ausdrucksweisen,
sichtbar“. In Parallele zu diesen Ausführungen Spenglers steht die These von E.
Voegelin, daß die Menschenrassen der Geschichte durch nichtbiologische Präge-
46 A. Hitler, Mein Kampf, München !'@''8 1934, S. 316.
47 UdA II, S. 149; die folgenden Zitate ebd., S. 149 und S. 197/198.
48 Vgl. UdA II, S. 147.
ZfP 40. Jg. 4/1993
432 Thondl . Das Politikbild von Oswald Spengler
kräfte entstehen: »Daß Menschen physiologisch voneinander abstammen, macht
noch keine menschliche Geschichte, erst wenn sich ein menschlich-geistiger urbild-
licher Gehalt in den verwandten Leibern darstellt, entsteht sıe.« *
Mit dem Ausdruck der »Energie des Blutes« könnte Spengler meinen, daß die
Erfahrung von Schicksalen den Menschen »ins Blut« gegangen ist und sie zu einer
einheitlichen Rasse als einer Art Schicksalsgemeinschaft geformt hat. In bezug auf
das Beispiel von der Auswanderung nach Amerika würde dies bedeuten, daß die
Erfahrung und das Schicksal der Auswanderung in Verbindung mit dem Indianer-
boden eine neue Rasse — den Amerikaner — gebildet haben. Die Entstehung neuer
Rassen erscheint somit als naturwüchsiges Resultat großer geschichtlicher Ereig-
nisse. In ähnlicher Weise betrachtet Voegelin die Rassen als das naturhafte Sub-
strat der von einer geistigen Norm geprägten großen Geschichte: »Nur wo eine
geistige Norm die Menschen in Zucht hält und zur Einheit schließt, wird große
Geschichte; Platon hat das Gesetz des wechselseitigen Sichforderns von edlem
Leib und edlem Geist für alle Zeiten aufgerichtet.«
Das dritte rassebildende Element, das Spengler annimmt, schließt an das vor-
hergehende an: »Jene rätselhafte kosmische Kraft des gleichen Taktes eng verbun-
dener Gemeinschaften.«*° Das folgende Beispiel zeigt, daß Spengler mit diesem
Ausdruck abermals die rassebildende Wirkung von Erfahrung und gemeinsamem
Schicksal umschreiben will: »Daß greise Eheleute nach einem langen innigen
Zusammenleben sich überraschend ähnlich geworden sind, hat jeder schon gese-
hen, obwohl die messende Wissenschaft ihm vielleicht das Gegenteil »beweisen«
würde.«
Zur kosmischen Kraft des gleichen Taktes eng verbundener Gemeinschaften
kann es nur kommen, wenn Geschichte gemeinsam erlebt und gedeutet wird.
Daher werden die von Spengler identifizierten Rassen durch die Geschichte, spe-
ziell durch den Ablauf der Hochkulturen hervorgebracht. Während für Hitler die
Rasse das ursprüngliche, kulturschaffende Element ist, kommt Spengler zu der
Auffassung, daß Rasse kulturelle und historische Bestimmungsgründe hat. Gegen
die biologische Vorstellung von Rassereinheit hat sich Spengler daher mit aller
Deutlichkeit gewandt: »Rassereinheit ist ein groteskes Wort angesichts der Tatsa-
che, daß seit Jahrtausenden alle Stämme und Arten sich gemischt haben, und daß
gerade kriegerische, also gesunde, zukunftsreiche Geschlechter von jeher gern
einen Fremden sich eingegliedert haben, wenn er »von Rasse: war, gleichviel zu
welcher Rasse er gehörte. Wer zuviel von Rasse spricht, der hat keine mehr. Es
kommt nicht auf die reine, sondern auf die starke Rasse an, die ein Volk in sich
hat.« 51
Da Geschichte immer auch persönliche Geschichte bzw. Biographie ist, wird der
Rassebegriff von Spengler schließlich individualisiert: »Zuletzt hat jeder einzelne
49 E. Voegelin, Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus, Berlin 1933, S. 21;
ebd. das folgende Zitat.
50 Dieses und das folgende Zitat UdA II, S. 149.
51 JdE, S. 203.
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 433
Mensch und jeder Augenblick seines Daseins seine eigene Rasse.«*? Die Persön-
lichkeit von starker Rasse, die Spengler vor Augen hat, zeichnet sich gerade unter
dem Eindruck großer Katastrophen durch eine besondere Dienst- und Pflichtge-
sinnung aus: »Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ohne Ret-
tung, ist Pflicht. Ausharren wie jener römische Soldat, dessen Gebeine man vor
einem Tor in Pompeji gefunden hat, der starb, weil man beim Ausbruch des Vesuv
vergessen hatte, ihn abzulösen. Das ist Größe, das heißt Rasse haben.«* Rasse ist
demnach Prägung, Charakter, Eigenart. Dies erinnert etwa an die Rassenidee beı
Karl Gustav Carus, den Voegelin noch als einen Vertreter der klassischen Rassen-
lehre anführt: »Die Gliederung der Rassen ist nicht eine leibliche, der dann eine
Typisierung der Seelen angehängt würde, wie in der neueren Rassentheorie, viel-
mehr versucht Carus aus der Eigengesetzlichkeit von Geist und Charakter die
Möglichkeiten der Typengliederung abzuleiten.«°* Spengler scheint an die klassi-
sche Rassenlehre anknüpfen zu wollen, die »menschliche Gestalt . . . als Verleibli-
chung eines Geistes« zu begreifen sucht.
Das Judentum nimmt in der von Spengler entwickelten Perspektive einen ganz
bestimmten Platz ein: Es gehöre zur arabisch-magischen Kultur und sei keines-
wegs »etwas Einzigartiges in der Religionsgeschichte .. .«°. Im Laufe des ersten
Jahrtausends unserer Zeitrechnung schließe die arabisch-magische Seele die Ent-
wicklung ihrer Kultur ab’®. Damit sei um die Wende des ersten Jahrtausends auch
das Judentum in das Stadium der Zivilisation übergegangen. Mit der Jahrtausend-
wende gerate der westliche Teil der arabisch-magischen Hochkultur und damit
v.a. ein Teil des Judentums ın den Bereich der erwachenden abendländischen
Seele. Dieses Aufeinandertreffen einer toten oder fast toten Kulturseele mit einer
eben entstandenen Kulturseele habe folgenden Zustand hervorgerufen: »Die einen
waren fast schon Fellachen, die anderen fast noch Urvolk. Der Jude begriff die
gotische Innerlichkeit, die Burg, den Dom, der Christ die überlegene, fast zynische
Intelligenz und das fertig ausgebildete »Gelddenken« nicht. Man haßte und verach-
tete sich, noch kaum aus dem Bewußtsein eines Rasseunterschiedes, sondern aus
Mangel an >»Gleichzeitigkeit«.«°” Die großen Geldgeschäfte seien eine Zivilisations-
erscheinung. Das Judentum beherrsche sie in der Gegenwart nur deshalb so gut,
weil es sich bei den Juden eben um Menschen einer längst erloschenen Kultur
handle. In der Frühzeit der arabisch-magischen Kultur, von der Zeitenwende bis
52 UdA II, S. 155.
53 ©. Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, Mün-
chen 1931, S. 89. Zur Erfassung einer solchen Dienst- und Pflichtgesinnung verwendet
Spengler auch den Begriff des »Preußentums«, auf den ich im vierten Teil der vorliegen-
den Abhandlung eingehen werde.
54 Voegelin, Die Rassenidee, aaO. (FN 49), S. 155; das folgende Zitat ebd., S. 21.
55 UdA II, S. 389.
56 Vgl. UdA I, Tafel I und Tafel II.
57 Dieses und die folgenden Zitate UdA II, S. 389 f. und S. 399. Unter dem »Typus des Fel-
lachen« versteht Spengler einen Menschentypus, der nicht mehr kulturfähig ist; vgl. UdA
II, S. 125.
ZfP 40. Jg. 4/1993
434 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
zum Ende des fünften Jahrhunderts, seien die großen Geldgeschäfte nicht von
Juden geführt worden, sondern von Menschen, deren Kulturseelen schon damals
erloschen waren: »Es ist bekannt, daß die Juden damals Bauern, Handwerker,
Kleinstädter waren. Die großen Geldgeschäfte führten Ägypter, Griechen, Römer,
also »alte« Menschen.« Mit dem Ablauf der abendländischen Hochkultur verrin-
gere sich jedoch die Bedeutung des Mangels an Gleichzeitigkeit, der das Verhält-
nis des Juden zum abendländischen Menschen bis heute bestimmt habe: »... der
Vorsprung, den das uralte geschäftliche Denken dieser magischen Nation besaß,
wird geringer; dem Amerikaner gegenüber ist er kaum noch vorhanden .. .«. Das
westeuropäisch-amerikanische Judentum befinde sich seit dem Niedergang der
abendländischen Kultur im »Getriebe einer jungen Zivilisation ...«. Im Verlauf
der abendländischen Zivilisation gehe das Judentum, unter dem Aspekt der
Ungleichzeitigkeit betrachtet, der völligen Auflösung entgegen °*.
In der Gegenwart, meint Spengler, gehe vom Judentum eine Gefahr aus, denn es
könne in einer Weise auf die Politik einwirken, die für Deutschland in den bevor-
stehenden furchtbaren Kämpfen auf dem Weg zum Cäsarismus bedrohlich sei.
Der Mangel an Gleichzeitigkeit bestehe zwar nicht nur zwischen Abendland und
Judentum, sondern zwischen der abendlandischen und der gesamten arabisch-
magischen Hochkultur, aber der Islam habe Boden unter sich, während das Juden-
tum in den Kernbereich der abendländischen Hochkultur geraten sei, wo es nach
Spenglers Auffassung nicht hingehört. Spengler verwendet in diesem Zusammen-
hang den Ausdruck des »Wirtsvolkes«°’, das Juden beherberge. Zum Mangel an
Gleichzeitigkeit tritt Spengler zufolge als eigentliche Gefahr der seelische Unter-
schied zwischen arabisch-magischem Judentum und abendländisch-faustischem
Menschen: »... der Angehörige des jüdischen consensus verfolgt die Geschichte
der Gegenwart, die nichts ist als die der über alle Erdteile und Meere verbreiteten
faustischen Zivilisation, mit dem Grundgefühl des magischen Menschen, selbst
wenn er von dem abendländischen Charakter seines Denkens fest überzeugt ist.«
Weil Politik kein kulturspezifisches Phänomen ist, tritt auch im Ablauf der ara-
bisch-magischen Hochkultur ein Stadium der Rechtswende, des Übergangs zum
Cäsarısmus ein. Daß der magische Mensch die Probleme der abendländischen
Hochkultur dennoch nicht begreifen könne, führt Spengler auf die Eigenschaft
der arabisch-magischen Hochkultur zurück, politische Tendenzen immer als reli-
giöse Tendenzen auszudrücken, selbst wenn es in der Politik nur mehr um Interes-
sen geht. Deswegen hätten der Islam und das byzantinische Christentum den
Kampf zur Errichtung des cäsaristischen Imperiums in der arabisch-magischen
Hochkultur als Glaubenskrieg geführt. »Die Grenze zwischen Heimat und
Fremde« habe der magische Mensch als Grenze »zwischen je zwei Glaubensge-
meinschaften« aufgefaft*. Daher könne er nicht begreifen, daß der abendländi-
58 Vgl. UdA II, S. 399.
59 UdA II, z. B. S. 395; das folgende Zitat ebd., S. 394/395.
60 UdA II, S. 80; die folgenden Zitate ebd., S. 392-395.
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 435
sche Mensch diese Grenze zwischen säkularisierten politischen Mächten zieht.
Statt für den abendländischen Staat zu kämpfen, könne den Juden das »Wort
international ... begeistern ...». In der von Spengler entwickelten Perspektive
erscheint das Judentum als Ferment der Dekomposition, weil es mit seinem Inter-
nationalismus die Widerstandskraft des abendländischen Staates lähmt und seine
Form aufzulösen trachtet. Der Grund dafür liege in den seelischen Unterschieden
zwischen den Menschen verschiedener Hochkulturen, es gebe aber kaum körperli-
che Unterschiede, die eine eindeutige Unterscheidung zwischen Juden und Nicht-
juden zulassen würden: »Die »arıschen< Perser und Armenier sind für uns von den
Juden gar nicht zu unterscheiden und schon in Südeuropa und auf dem Balkan ist
ein körperlicher Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Einwohnern
kaum vorhanden. Die jüdische Nation ist wie jede andre der arabischen Kultur das
Ergebnis einer ungeheuren Mission und bis in die Zeit der Kreuzzüge hinein
durch massenhafte Zu- und Austritte beständig verändert worden.« Es gäbe daher
keinen Unterschied biologischer Art, sondern zwei gegensätzliche Rasseideale,
dasjenige des abendländischen Menschen und jenes des sephardischen Juden;
diese Rasseideale hätten zwei verschiedene Menschentypen geprägt: »Es ist . . . der
Gegensatz zwischen dem Rasseideal der gotischen Frühzeit, das züchtend gewirkt
hat, und dem Typus des sephardischen Juden, der sich erst in den Ghettos des
Abendlandes, und zwar ebenfalls durch seelische Zucht unter sehr harten äußeren
Bedingungen ausgebildet hat . . .« Die Askenasim geraten hingegen nicht mit dem
Rasseideal der gotischen Frühzeit in Konflikt, weil sie sich nicht im Kernbereich
der abendländischen Hochkultur befinden. Auch sie weisen nach Spenglers Auf-
fassung keine körperlichen Unterschiede zu ihren nichtjüdischen Nachbarn auf:
»Ein Teil der Ostjuden stimmt körperlich mit den christlichen Bewohnern des
Kaukasus, ein andrer mit den südrussischen Tartaren ... überein.« In Judentum
und Abendland verköpere sich »der verschiedene Takt zweier Daseinsströme .. .«.
Deshalb sei der »abgrundtiefe metaphysische Haß« des abendländischen Men-
schen auf das (sephardische) Judentum verständlich.
Vollnhals zufolge »vertrat Spengler jedoch keinen Antisemitismus«*. Zur
Untersuchung dessen ist es zweckmäßig, Spenglers Argumentationsgang noch ein-
mal zusammenfassend wiederzugeben: Es gibt zwar keine biologischen Unter-
schiede zwischen Juden und abendländischen Menschen, aber die Juden befinden
sich in einer anderen seelischen Verfassung als die Menschen der abendländischen
Hochkultur. Dieser Unterschied wird durch den unvermeidlichen Untergang des
Abendlandes bedeutungslos werden, doch gegenwärtig stellt das Judentum eine
Gefahr dar, weil es durch seinen Internationalismus die Regeneration der abend-
ländischen Staatsformen auf dem Weg zum Cäsarısmus beeinträchtigt. Sollte die
jüdische Zersetzungspolitik in Deutschland erfolgreich sein, dann würde Deutsch-
61 Vollnhals, Oswald Spengler, aaO. (FN 44), S. 278. In Parallele dazu steht bei Felken,
Oswald Spengler, aaO. (FN 40), S. 230, in Spenglers Geschichtsphilosphie sei »die Her-
abwürdigung des Judentums« nicht vorgesehen.
ZfP 40. Jg. 4/1993
29
436 Théndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
land in den kommenden Kampfen um die Weltherrschaft geschlagen werden, und
das ist unbedingt zu verhindern.
Die Konsequenz dieser Perspektive liegt nicht in der Judenvernichtung, denn
Spengler ist kein Verfechter einer gewaltsamen Zerstörung der Reste der arabisch-
magischen Zivilisation von außen. Aber er möchte eine abendländische Politik, die
sich ohne jüdischen Einfluß vollzieht. In der Logik von Spenglers Ansatz liegt
etwa das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935, demzufolge die Juden nicht
als Reichsbürger, das heißt als »Träger der vollen politischen Rechte nach Mag-
gabe der Gesetze«*?, anerkannt waren.
4. Hitler und Mussolini in Spenglers Politikbild
Durch eine bestimmte Vorstellung von legitimem Antisemitismus, durch seinen
Begriff des Staatsmannes und insgesamt durch die Gegenüberstellung von linken
und rechten Elementen in der politischen Gegenwart hat sich Spengler einen Kri-
terienkatalog erarbeitet, mit dem er sein Urteil über das politische Wirken von
Hitler und Mussolini fällt. Am 20. Juli 1933 schließt Spengler die Arbeiten zu
»Jahre der Entscheidung« ab®, und in diesem Buch bringt er seinen gesamten
Merkmalskatalog zur Anwendung. Dabei benutzt er Hitler und Mussolini, um
seine politische Philosophie zu beweisen.
Im prototypischen Fall des italienischen Faschismus, meint Spengler in »Jahre
der Entscheidung«, werde der Gegensatz zwischen linken und rechten Kräften
»durch die napoleonische Energie eines Einzelnen unterdrückt. Aufgehoben ist
der Gegensatz nicht und kann es nicht sein, und er wird in schweren Diadochen-
kämpfen in dem Augenblick wieder zutage treten, wo diese eiserne Hand das
Steuer verläßt». Es komme darauf an, ob sich dieser einzelne zum Demagogen
bzw. allgemein zum Träger linker Merkmale oder zum Cäsar entwickelt: »Was die
Zukunft vorwegnimmt, ist nicht das Dasein des Faschismus als Partei, sondern ein-
zig und allein die Gestalt ihres Schöpfers.« Spengler geht also der Frage nach, ob
sich in Hitler und Mussolini die Cäsaren der Zukunft ankündigen.
Spengler vertritt die Auffassung, daß die Merkmale eines linken Politikers von
Mussolini bereits weitgehend abgelegt wurden; so habe dieser den demagogischen
Appell an die Arbeiterschaft aufgegeben: »Mussolini ist nicht Parteiführer, obwohl
er Arbeiterführer war, sondern der Herr seines Landes.« Mussolini kontrolliere
seine Mitkämpfer: »Die schwersten Siege und die notwendigsten, die ein Herr-
62 Textvorlage bei Gerd Rühle, Das Dritte Reich. Dokumentarische Darstellung des Aufbaues
der Nation. Das dritte Jahr 1935, Berlin o. J., S. 255. Im Blickwinkel Spenglers hätte das
Reichsbürgergesetz nicht das Kriterium des »deutschen oder artverwandten Blutes« ent-
halten dürfen, sondern die Unterscheidung zwischen den in der abendländischen Zivilisa-
tion verbundenen Gruppen und den außerhalb stehenden Gruppen aufnehmen müssen.
In letzteren sieht Spengler die Träger einer heraufziehenden »farbigen Weltrevolution«
gegen die abendländische Zivilisation; vgl. JdE, S. 191 ff.
63 Vgl. Felken, Oswald Spengler, aaO. (FN 40), S. 193.
64 Dieses und die folgenden Zitate JdE, S. 176-178.
Théndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 437
scher erficht, sind nicht die über Feinde, sondern über die eigene Anhängerschaft,
die Prätorianer, die »Ras<, wie sie in Italien hießen. Damit beweist sich der gebo-
rene Herr. Wer das nicht weiß und kann und wagt, schwimmt wie ein Flaschen-
kork auf der Welle, oben und doch ohne Macht. ... Jede revolutionäre Bewegung
kommt mit einer Avantgarde von Prätorianern zum Sieg, die dann nicht mehr
brauchbar und nur noch gefährlich sind.« Mussolini herrsche bereits ohne Partei:
»Er regiert wirklich allein. Er sieht alles — die seltenste Fähigkeit bei einem absolu-
ten Herrscher. Selbst Napoleon wurde von seiner Umgebung isoliert.« Mussolinis
politisches Handeln sei nicht aus einem Programm oder einer Ideologie, sondern
aus den besonderen Qualitäten seines Charakters ableitbar: »Mussolıni ist ein Her-
renmensch wie die Kondottieri der Renaissance, der die südliche Schlauheit der
Rasse in sich hat und deshalb das Theater seiner Bewegung vollkommen richtig
für den Charakter Italiens - die Heimat der Oper - berechnet, ohne je selbst
davon berauscht zu sein, wovon Napoleon nicht ganz frei war und woran zum
Beispiel Rienzi zugrunde ging.«
Insbesondere bringe Mussolini die Fähigkeiten für eine erfolgreiche Außenpoli-
tik mit: »... Mussolini ist vor allem Staatsmann, eiskalt und skeptisch, Realist,
Diplomat.« Während des Abessinienkriegs teilte Spengler die verbreitete Auffas-
sung, daß Großbritannien die Eroberung des ostafrikanischen Staats durch Italien
nicht akzeptieren werde®. Daher begann er, an Mussolinis Qualitäten als Staats-
mann zu zweifeln: »Mir scheint, daß Mussolini die ruhige staatsmännische Überle-
genheit seiner ersten Jahre verloren hat, sonst wäre er nicht ın ein so übles und für
Italien unter allen Umständen verhängnisvolles Abenteuer hineingeraten. England
ist heute fest entschlossen, keine Großmacht an der Straße nach Indien zu dulden
und wird deshalb nach den Parlamentswahlen in irgendeiner Form den italieni-
schen Aspirationen ein Ende bereiten.«* Spengler hat also sein kritisches Urteils-
vermögen gegenüber Mussolini nicht ganz verloren, obgleich er sich, wie Felken
zutreffend bemerkt, »nicht wenig vom prunkvollen Ornat des Duce blenden (lief),
wenn er ihn als Herold des neuen Cäsarismus feierte« *.
Hitler wird von Spengler in »Jahre der Entscheidung« nicht namentlich
erwähnt. Dennoch erhält der Leser den Eindruck, daß Hitler, auf den viele Bemer-
kungen Spenglers gemünzt scheinen, im Unterschied zu Mussolini ein Demagoge
sei. So kann etwa Spenglers folgende Äußerung als ein direkt an Hitler gerichteter
Appell verstanden werden, sich von der Demagogie zu lösen: »Wer aus der Masse
stammt, muß um so besser wissen, daß Masse, Mehrheiten, Parteien keine Gefolg-
schaft sind. Sie wollen nur Vorteile. Sie lassen den Vorangehenden im Stich,
sobald er Opfer verlangt. Wer von der Masse aus denkt und fühlt, wird ın der
Geschichte nie etwas anderes hinterlassen als den Ruf eines Demagogen. Hier
65 Vgl. J. Petersen, Hitler-Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom 1933-1936,
Tübingen 1973, S. 442 f.
66 Spengler an G. von Janson am 27. Oktober 1935 in: O. Spengler, Briefe 1913-1936, Mün-
chen 1963, S. 750.
67 Felken, Oswald Spengler, aaO. (FN 40), S. 213.
ZEP 40. Jg. 4/1993
29°
438 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
scheiden sich die Wege nach links und rechts.« ** Welche Konsequenz hätte Hitler
ziehen sollen? Er hätte sich von Goebbels abwenden können, in dem Spengler
möglicherweise den Hauptverantwortlichen für das demagogische Element im
Nationalsozialismus sah. So berichtet Koktanek unter Berufung auf Spenglers
Schwester Hildegard Kornhardt, daß man sich im Hause Spengler über Goebbels
und dessen Propaganda besonders abschätzig geäußert habe: »»Le diable boiteux«
hieß es über ihn im Spengler-Kreis . .. und in boshafter Abwandlung des bekann-
ten Sprichworts: »Die Lüge hat ein kurzes Bein.« °.
Hitler hätte sich von der Masse fernhalten und an das »Preußentum« appellie-
ren sollen. Dies wird deutlich, wenn Spengler dem »Programmsozialismus jeder
Art«?°, worunter offensichtlich auch der Nationalsozialismus fällt, die wie folgt
umschriebene »preußische Idee« entgegensetzt: »Jede Art von Masse und Mehr-
heit, alles was >links< ist, ist ihr verdächtig. Vor allem richtet sie sich gegen die
Schwächung des Staates ...«. Die »preufische« Grundhaltung sei durch eine
besondere Dienst- und Pflichtgesinnung gekennzeichnet: »Preußisch ist endlich
ein Charakter, der sich selbst diszipliniert, wie ihn Friedrich der Große besaß und
in dem Wort vom ersten Diener seines Staates umschrieben hat.« Allerdings sei
nicht jeder Preuße ein »Preufe«?!. Während die linke Tendenz in der Zivilisation
überall zur Herausbildung von Menschenmassen führe, leiste das »Preußentum«
dagegen Widerstand. Der Demagoge werde sich auf das linke Element stützen,
der künftige Cäsar hingegen auf das rechte.
Die Rechtswende, die sich mit Hilfe des »Preußentums« vollzieht und die erst
im Cdsarismus abgeschlossen sein wird, bedeutet nicht, daß die Masse ins »Preu-
ßentum« verwandelt wird. In der von Spengler entwickelten Zivilisationsperspek-
tive handelt es sich beim »Preußentum« um die politische Grundhaltung einer
immer kleiner werdenden Minderheit, weil die Masse und damit das Formlose
immer größer wird’2. Spengler geht aber davon aus, daß sich mit dem »Preußen-
tum« die Rechtsbewegung durchsetzen wird, und so scheint im Cäsarısmus der
Cäsar sozusagen als letzter »Preuße« über »amorphe Menschenmassen« ’ zu herr-
schen. Von Mussolinis cäsarıstischen Fähigkeiten überzeugt, zählt Spengler auch
diesen zu den »Preußen«: »Wenn Mussolini sich auf das preußische Vorbild
beruft, so hatte er recht: er ıst Friedrich dem Großen näher verwandt, selbst dessen
Vater, als Napoleon, um von geringeren Beispielen zu schweigen.« ”4
Die Unterscheidung zwischen dem Appell an das »Preußentum«, der Hitler von
Spengler nahegelegt wird, und dem demagogischen Massenappell erfolgt durch
das Konzept der »preußischen« Disziplin. Nicht auf einen (durch Demagogie,
68 JdE, S. 189.
69 A. M. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 454.
70 Dieses und die folgenden Zitate JdE, S. 180-183.
71 JdE, S. 182; vgl. auch PuS, S. 29.
72 Vgl. UdA, Tafel II.
73 UdA, Tafel III.
74 Dieses und die folgenden Zitate JdE, S. 178-179.
Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler 439
Propaganda) in den »Kopf gehämmerten Sozialismus« komme es an, sondern auf
die »sittlichen Imperative«, die im Grunde nur ein einziger Imperativ sind, nämlich
Disziplin als sittliche Forderung an jeden »Preußen«. »Diszipliniertes Wollen« sei
die Basıs, von der »aus das deutsche Volk für die Aufgaben seiner schweren
Zukunft langsam und beharrlich erzogen wird, und es ist notwendig, wenn wir
nicht in den kommenden Kämpfen zugrunde gehen sollen.« Die Disziplinierung
soll bei den »Preußen« nicht durch Gewalt von oben ausgehen, sondern von unten
aufgrund der Einsicht vollzogen werden, daß es im gegenwärtigen Zeitalter der
Vernichtungskriege eben besonders darauf ankomme, in Form zu sein. Daher
appelliert Spengler etwa in seiner Würzburger Rede vom 26. Februar 1924 an die
deutsche Jugend, sich durch Selbsterziehung zu disziplinieren: »Das, diese Selbst-
erziehung für künftige Aufgaben ist es, worin ich die politische Pflicht der heran-
wachsenden Jugend sehe.«”° Der Vortrag endet mit dem Hinweis auf den Primat
der Außenpolitik.
Um sich der linken Elemente zu entledigen, hätte Hitler die Rassenpropaganda
aufgeben und seinen Rassenbegriff in dem bereits dargelegten Sinn korrigieren
müssen. Danach hätte er dann antisemitische Politik in den von Spengler akzep-
tierten Dimensionen machen können. Dabei wurde Hitler von Spengler allem
Anschein nach eine Frist eingeräumt. Nach dem analytischen Urteil von Felken,
dem ich hier folge, nahm Spengler etwa am »12stündigen Abwehrboykott« gegen
jüdische Geschäftsleute keinen Anstoß, den die (linke) SA am 1. Aprıl 1933 über-
wacht hat: »... der »Judenboykott: vom 1. April ... löste in ihm keine Empörung
aus. Daß bei der nationalen Revolution Späne flogen, wirkte auf Spengler eher
erfrischend als besorgniserregend.«’* Als Spengler, wie bereits zu Beginn dieses
vierten Teils der vorliegenden Abhandlung erwähnt, am 20. Juli 1933 die Arbeiten
zu »Jahre der Entscheidung« abgeschlossen hatte, war die Frist abgelaufen.
Als Herr seines Landes habe Mussolini innenpolitisch die »Ras« entmachtet. Im
Jahre 1933 hatte sich Hitler seiner »Prätorianer« noch nicht entledigt, und so
schien ihm Spengler in »Jahre der Entscheidung« raten zu wollen, bisher Versäum-
tes nachzuholen: »Der wirkliche Herr zeigt sich in der Art, wie er sie verabschie-
det, rücksichtslos, undankbar, nur auf sein Ziel blickend, für das er die richtigen
Männer erst zu finden hat und zu finden weıß.«’ Als Hitler am 30. Juni 1934 »alte
Kämpfer« liquidieren läßt, ist Spengler jedoch bestürzt. Unter den Opfern befand
sich mit dem Münchner Musikkritiker Willi Schmid ein guter Bekannter Speng-
lers, den ein Hinrichtungskommando irrtümlich mit dem SA-Gruppenführer Wil-
helm Schmidt verwechselt und niedergestreckt hatte. Unter den getöteten »Präto-
rianern« befand sich Gregor Strasser, mit dem Spengler eine langjährige Verbin-
dung unterhalten hatte. Spenglers Ablehnung der Ereignisse des 30. Juni 1934 läßt
sich also durch persönliche Motive erklären, aber darüber hinaus könnten auch
politische Überlegungen maßgeblich gewesen sein.
75 O. Spengler, Politische Pflichten der deutschen Jugend, München 1924, S. 29.
76 Felken, Oswald Spengler, aaO. (FN 40), S. 191.
77 JdE, S. 178.
ZfP 40. Jg. 4/1993
440 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
Möglicherweise hat Spengler sogar den Eindruck gewonnen, daß Gregor Stras-
ser im Unterschied zu Hitler der Rechtsbewegung zuzuordnen sei. Schon im Jahre
1925 hatte sich Gregor Strasser gegenüber Spengler kritisch über die »vdlkische
Bewegung« geäußert, weil diese zur Bewältigung politischer Probleme »die primi-
tive Lösung eines Antisemitismus und eines meist ebenso lauten wie ehrlichen
Nationalismus für ausreichend» ’* halte. Er sprach sich gegen »eine Überschätzung
der Agitationswirkung des geschriebenen und gesprochenen Wortes«’’ aus und
meinte, in Spenglers Werken »Wege zu finden ..., deren Beschreiten Notwendig-
keit ist für die von uns allen so heiß ersehnte politische Erstarkung und wirtschaft-
liche Gesundung Deutschlands.«® Spengler könnte schließlich der Auffassung
gewesen sein, daß sich mit Hitler am 30. Juni 1934 nicht ein künftiger Cäsar seiner
Anhänger entledigte, sondern ein linker »Masseführer«®! seine Macht festigen
wollte.
Spenglers »Jahre der Entscheidung« haben auch Hitlers Eignung zum Staats-
mann in Frage gestellt. So warf Spengler den Nationalsozialisten pauschal vor, sie
würden außenpolitische Entscheidungen ohne Rücksicht auf die empirische Wirk-
lichkeit aus ideologischen Prämissen, Programmen bzw. Abstraktionen ableiten
wollen: »Und die Nationalsozialisten glauben ohne und gegen die Welt fertig zu
werden und ihre Luftschlösser bauen zu können, ohne eine mindestens schwei-
gende, aber sehr fühlbare Gegenwirkung von außen her.« Spengler glaubte, daß
Hitler Ratschläge von ihm nötig habe, damit Deutschland in den künftigen Krie-
gen um das cäsaristische Imperium nicht zerstört werde. Deshalb sagte er Else
Knittel ®2, die ihm in Bayreuth während der Wagner-Festspiele für den 25. Juli 1933
ein Treffen mit Hitler vermittelte: »Sein Einfluß könne manches verhindern, was
sich unheilvoll auswirken könne, und er könne den Führer um mehrere schwere
Klippen herumschiffen, wenn er ab und zu mit ihm die politischen Verhältnisse
durchsprechen könne.«® Allem Anschein nach haben Hitler und Spengler durch
den persönlichen Kontakt aber keinen positiven Eindruck voneinander gewon-
nen®. Dann hoffte Spengler, daß »Jahre der Entscheidung« Hitler zu denken
geben würde, denn er sandte ihm ein Exemplar mit den Worten: »Sehr verehrter
Herr Reichskanzler! Ich erlaube mir, Ihnen heute ein Exemplar meines neuen
Buches zugehen zu lassen, das ich freundlich anzunehmen bitte. Ich würde es
begrüßen, wenn ich gelegentlich Ihr Urteil über diese Fragen mündlich entgegen-
nehmen könnte.«® Trotz seiner fortwährenden Zweifel an der staatsmännischen
78 G. Strasser an Spengler am 8. Juli 1925 in: O. Spengler, Briefe, aaO. (FN 66), S. 399.
79 Ebd., S. 400.
80 G. Strasser an Spengler am 2. Juni 1925 in: O. Spengler, Briefe, aaO. (FN 66), S. 391/392.
81 Vgl. JdE, S. 181; das folgende Zitat ebd., S. 24.
82 Sie.war die Frau des Verlegers Albert Knittel und eine Freundin Winifred Wagners.
83 Brieflicher Bericht von E. Knittel am 4. Juli 1951 in: Spengler-Archiv, vom C. H. Beck
Verlag der Bayerischen Staatsbibliothek, München, übergeben; vgl. auch Koktanek, aaO.
(FN 69), S. 439 f.
84 Vgl. Felken, Oswald Spengler, aaO. (FN 40), S. 193 f.
85 Spengler an A. Hitler am 18. August 1933 in: O. Spengler, Briefe, aaO. (FN 66), S. 699.
Thondl . Das Politikbild von Oswald Spengler 441
Überlegenheit Hitlers hat Spengler die Außenpolitik des Dritten Reichs nicht
generell verurteilt. So teilte er etwa Goebbels mit, daß er den Austritt Deutsch-
lands aus dem Völkerbund »diplomatisch für durchaus richtig halte« ©.
Die Vermutung von Vollnhals, Spengler habe Hitlers »Friedensrhetorik« beim
Wort genommen und deshalb den Nationalsozialisten miftraut®’, kann durch die
vorliegende Untersuchung nicht gestützt werden. In der von Spengler entwickelten
Perspektive war Deutschland speziell durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg
und durch die Weimarer Verfassung außer Form geraten. Die Diplomatie hatte
nun die Aufgabe, Zeit für Kriegsvorbereitungen zu gewinnen, und dabei konnte
ihr eine »Friedensrhetorik« Hitlers durchaus von Nutzen sein.
Im Unterschied zu Hitler herrsche Mussolini als künftiger Cäsar nicht mit Ideo-
logie und Propaganda, nicht mit Hilfe einer Partei, sondern nur durch Gewalt und
Willenskraft. Spenglers These lautet, daß zur Ausübung von Herrschaft im Cäsa-
rismus nur Gewalt und Willenskraft vonnöten seien, so daß auf staatsbürgerliche
Bildung, Propaganda, Massenagitation, Ideologie und ähnliches verzichtet werden
könnte. Ist es überhaupt möglich, das cäsarıstische Imperium, im speziellen Fall
der abendländischen Hochkultur die ganze Welt, nur durch Gewalt und Willens-
kraft zu beherrschen? Oder anders ausgedrückt: Unter welchen Bedingungen ist
politische Herrschaft, die nur auf Gewalt gestützt ist und nicht um Legitimität
wirbt, in einem maximalen Raum effektiv? Spenglers Antwort wäre, daß das
System der Machtmittel, daß Armee, Polizei, institutionelle Gewalt genügten, um
die Befehle des Cäsars durchzuführen. Allem Anschein nach wurde Spengler
durch die Darstellung von Machtmitteln derart fasziniert, daß er geglaubt hat,
man könne Herrschaft ausschließlich auf ein System negativer Sanktionen grün-
den. Um diese kurzschlüssige These zu beweisen, hat Spengler versucht, Hitler
und Mussolini zu benutzen.
Zusammenfassung
Spengler bestimmt Politik inhaltlich ausschließlich als Kampf ums Dasein. Staaten
seien Kampfkollektive, die zum Krieg in Form oder nicht in Form seien, analog
zur Form von Sportlern in einem Wettkampf. Staaten hätten nur eine einzige Auf-
gabe, nämlich die Lebenssicherung gegenüber äußeren Herausforderungen, sei es
durch Krieg oder durch Diplomatie. Spengler betrachtet die Diplomatie als Inbe-
griff von Konfliktaustragung, sie erscheint ihm als nicht mit physischer Zwangsge-
walt ausgetragene Auseinandersetzung um Lebenschancen. Er geht aber vom Pri-
mat des gewaltsamen Kampfes aus.
Insbesondere seit der Französischen Revolution von 1789 seien Menschenmas-
sen und Mehrheiten der dominierende Faktor abendländischer Politik. Die Masse
sei das Formlose, sie habe die Form der abendländischen Staaten angegriffen.
86 Spengler an J. Goebbels am 3. November 1933 in: O. Spengler, Briefe, aaO. (FN 66),
S. 710.
87 Vollnhals, Oswald Spengler, aaO. (FN 44), S. 278; vgl. auch S. 288.
ZfP 40. Jg. 4/1993
442 Thöndl . Das Politikbild von Oswald Spengler
Diese befanden sich nun in einem Stadium des Ubergangs, der Formlosigkeit, nach
dem wenigstens einige Staaten zu neuer Form finden würden. Diese Form ist
nötig, weil den abendländischen Staaten in der von Spengler entwickelten Zivilisa-
tionsperspektive große Kriege um die Weltherrschaft bevorstehen, aus denen letzt-
lich nur ein Staat als Sieger hervorgehen kann.
Bei der politischen Deutung seiner Gegenwart vertritt Spengler die Auffassung,
daß sich der Gegensatz zwischen Masse und Form in Phänomenen mit linken und
rechten Zuordnungsmomenten auspräge. Links seien die Menschenmassen, die
politischen Parteien und jedermann, der Massenagitation oder populistische Poli-
tik betreibe, der seine Politik auf konstruierende Vernunft, eine Ideologie oder ein
Programm stütze, der die Eigentumsverhältnisse in Frage stelle. Rechts sei dage-
gen die Abwesenheit von linken Elementen, das Dasein von Eliten. Für Spengler
enthalten auch jene Parteien linke Elemente, die rechte Werte vertreten, und zwar
bereits dadurch, daß sie als Parteien auftreten. Im unvermeidlichen Gegensatz zwi-
schen links und rechts habe gegenwärtig die Linke ein Übergewicht, doch bahne
sich die Umkehrung dieses Verhältnisses an.
Der Faschismus ist nach Spenglers Auffassung ein Übergangsphänomen, weil
sich in ihm bereits die Rechtswende abzeichnet, obwohl sein Erscheinungsbild
linke Elemente in sich trägt: Der Faschismus formiere sich als Massenpartei und
betreibe Massenagitation und populistische Politik. Er stütze sich auf ein Pro-
gramm und sei eine ideologische Bewegung. Die faschistische (einschließlich der
nationalsozialistischen) Bewegung stehe vor der Wahl, sich für links oder für
rechts zu entscheiden.
Spengler vertritt die Auffassung, daß die Merkmale eines linken Politikers von
Mussolini bereits weitgehend abgelegt wurden: Der Duce habe den demagogi-
schen Appell an die Arbeiterschaft aufgegeben und herrsche bereits ohne Partei.
Sein politisches Handeln sei nicht aus einem Programm oder einer Ideologie, son-
dern aus den besonderen Qualitäten seines Charakters ableitbar. In der Regel habe
sich Mussolini auch als überlegener Staatsmann und Diplomat erwiesen.
Dagegen sei Hitler ein Exponent der Linksbewegung, der sich nicht von der
Demagogie und der Masse zu lösen vermocht habe. Spengler kritisiert zwar Hit-
lers Rassenideologie, hält aber selbst eine bestimmte Form von Antisemitismus in
Deutschland für notwendig. Überdies hat Spengler nicht die Überzeugung gewon-
nen, daß Hitler ein fähiger Staatsmann und Diplomat sei. In Mussolini, und nicht
in Hitler, kündige sich der Herrscher der Zukunft an, den Spengler in Analogie
zur römischen Geschichte als Cäsar bezeichnet.
Summary
In Spengler’s concept of politics the contrast between left and right is of major
importance. Left are the masses of people and all political parties. Left also is every-
Thondl . Das Politikbild von Oswald Spengler 443
body who bases his politics on a constructive rationalism, on an ideology, on a pol-
itical programme, or on the challenge of the ownership of private property. Right
means the absence of leftish elements and the absolutely favour of elites. In this
unavoidable conflict between left and right the greater weight for the present lasts
on the left, but a reversal of this proportion must be perceived. Spengler thought
that Mussolini and not Hitler is the exponent of the future oriented right move-
ment, because only the Duce lacked the characteristics of a typical left politician.
ZfP 40. Jg. 4/1993
BESPRECHUNGSAUFSATZ
Lothar Fritze
Entmystifizierung der Idee der Nation
Manfred Hättich: Deutschland — Eine zu späte Nation. Mainz/Miinchen 1990.
v. Hase & Koehler Verlag. 171 S.
Das Buch, aus Anlaß der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zwischen
Oktober 1989 und Oktober 1990 geschrieben, will den »verbalen Nebel« wegzie-
hen, »den Politiker und Kommentatoren in den Massenmedien über die Lage wer-
fen« (S. 9). Es ist aber auch geschrieben aus der Besorgnis heraus, daß die im Pro-
zeß der Vereinigung aktivierten Gefühle sich zu nationalistischen Einstellungen
verfestigen könnten.
Die Überlegungen des Tutzinger Politikwissenschaftlers kreisen demgemäß um
die Begriffe der Nation und des Nationalismus. Die Idee der Nation bzw. des
Nationalstaats zu entmystifizieren und gleichzeitig den »pseudoreligiösen« Cha-
rakter des Nationalismus zu entlarven, kann wohl als Hauptziel und Hauptergeb-
nis der Schrift betrachtet werden. Das Vorgehen ist überaus kritisch, es wahrt ein
»distanziert kritisches Verhältnis zur praktischen Politik« und wird auf diese
Weise der gesellschaftlichen Funktion gerecht, die der Autor der Politikwissen-
schaft zuschreibt, nämlich »das kritische, also unterscheidende Bedenken in die
Diskussion einzubringen« (S. 13).
Die deutsche Wiedervereinigung ist mit einer Unmenge pathetischer Phrasen
bekleidet worden, die vornehmlich die Auffassung zu vermitteln suchten, es
handle sich bei der Wiederherstellung der nationalen Einheit um ein nicht-
begründungspflichtiges Muß, wodurch gleichsam ein widernatürlicher Zustand
des Getrennt-Lebens von Deutschen in verschiedenen Staaten beendet wird. Man-
fred Hättich wehrt sich gegen derartige Redeweisen, die nicht der rationalen Kom-
munikation angehören, sondern lediglich einer »gefühlsgefütterten Gesinnung«
Ausdruck verleihen, und fragt: »Leide ich an einer mir nicht bewußten Krankheit,
wenn ich mich wegen der deutschen Teilung nie im Inneren meiner Seele versehrt
fühlte?« (S. 10). Der Autor plädiert für Nüchternheit und Redlichkeit; er wendet
sich gegen unehrliches Sprechen und »moralische Kosmetik« (S. 16). Die ganze
Schrift ist eine Analyse dieser Art, eine Schrift, in der ihr Verfasser gerade dieje-
nige Fähigkeit exzellent demonstriert, deren Training für ihn zur politischen Bil-
dungsarbeit gehört: den »methodischen Perspektivenwechsel« (S. 76). Es ist ein
Buch, dem man anmerkt, daß hier einer spricht, der mit seinem Thema kein für ihn
neues Terrain berritt.
Fritze . Entmystifizierung der Idee der Nation 445
Hättich argumentiert vom Standpunkt einer personalistischen Anthropologie.
Diese ist, grob gesagt, zum einen dadurch gekennzeichnet, daf sie den Vorrang
des Individuums behauptet, d. h. daß sich soziale und politische Ordnungen letzt-
lich nur aus den gemeinschaftlichen Interessen der Individuen rechtfertigen kön-
nen, zum anderen dadurch, daß sie »die spezifische Natur des Menschen wesent-
lich in seiner Geistigkeit begründet sieht« (S. 87). Damit ist ein Raster aufge-
spannt, das sowohl der Bewertung von Auffassungen, Handlungen und Institutio-
nen als auch der /nterpretation von menschlichen Bestrebungen dient.
Was ist (oder war) eigentlich der Sinn des deutschen Wiedervereinigungs-Stre-
bens? Kann »der Ruf nach Wiedervereinigung als primäres und autonomes natio-
nales Einheitsverlangen« (S. 14) interpretiert werden? Hättich antwortet mit Nein;
die Lage war nicht so, »daß zwei gut funktionierende und von der Mehrheit ihrer
Bevölkerung prinzipiell akzeptierte Staaten sich nur um der nationalen Einheit wil-
len zusammenschließen« (S. 14 f.) wollten. Die Impulse zur Wiedervereinigung
entsprangen vielmehr dem Willen der Menschen in der DDR, ihre Lage zu verbes-
sern. Nicht die Realisierung irgendeines Wertes an sich, den man der nationalen
Einheit zuzuschreiben geneigt ist, sprach für die Wiedervereinigung, sondern die
Hoffnung, den Anschluß an die ökonomischen und politischen Standards des ent-
wickelten Westens so am ehesten erreichen zu können (vgl. S. 53). Hättich ver-
weist jeden kollektiven Glauben »an einen nicht näher erklärungsbedürftigen Sinn
der Zusammengehörigkeit« in den Bereich des politischen Mythos (S. 34). Das
Zusammenleben von Menschen in Gemeinschaften hat — vor allem dann, wenn
diese Gemeinschaft bewußt hergestellt wird -— Zweckmäßigkeitserwägungen zu
folgen (vgl. S. 63). Die vielen einleuchtende Brandtsche These, es wachse nunmehr
zusammen, was zusammen gehört, entstammt — so Hättich — »dem Sinne nach
einer dem Organismusdenken verhafteten nationalen Erbauungsliteratur« (S. 54).
Bei der Herstellung der staatlichen Einheit geht es um die Lösung »beschreibbarer
Probleme für konkrete Menschen« (S. 54).
Genauso wenig wie die nationale Einheit ein Wert an sich ist, kann auch eine
moralische Pflicht begründet werden, sie anzustreben. Für den »Anschluß« an
einen Nachbarstaat konnte jedoch — außer dem Wollen der Menschen - die Ein-
schätzung sprechen, daß die DDR als selbständiger Staat nicht mehr lebensfähig
war (vgl. S. 54). Abstrahiert man von dieser Lageeinschätzung, so gibt es keinen
zwingenden Grund, die nationale Einheit zu wollen. Dies kann schon eine Überle-
gung plausibel machen, die Hättich zum Nationenbegriff anstellt: »Setzt man
Nation mit dem Staatsvolk des modernen Staates gleich, dann liefert man begriff-
lich das Schicksal der Nation dem des Staates aus. Dem steht die Auffassung
gegenüber, daß die Nation als Einheit auch ohne staatliche Einheit bestehen bleibt.
Im letzteren Falle müßte man Nation definieren oder umschreiben können, ohne
den Staatsbegriff zu Hilfe zu nehmen. Eben dies gelingt nicht.« Und er fährt fort:
»Die Behauptung, die deutsche Nation bestehe nach wie vor, auch wenn der deut-
sche Staat geteilt sej, mag politisch zweckmäßig sein; sie wird aber nicht schon
dadurch widerspruchsfrei wahr. Was bildet die Einheit der staatlich getrennten
ZfP 40. Jg. 4/1993
446 Fritze . Entmystifizierung der Idee der Nation
deutschen Nation? Alles, was hier außer dem Willen zur staatlichen Einheit ange-
führt werden kann, trifft auf die Österreicher ebenso zu wie zum Beispiel auf die
Thüringer und Sachsen« (S. 83). Worum es in der deutschen Wiedervereinigung
geht, ist also genaugenommen nicht, daß irgendeine Einheit der deutschen Nauon
hergestellt wird. Es geht um nicht mehr und nicht weniger, daß ein Wille zur staat-
lichen Wiedervereinigung der Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und
in der DDR besteht, und dieser Wille kann sich allerdings auf die gewaltsame Tei-
lung eines seit 1871 bestehenden Staates berufen (vgl. ebd.). Hat man sich erst ein-
mal klar gemacht, daß es bei der staatlichen Wiedervereinigung nicht um die Ver-
wirklichung irgendeines Wertes an sich und erst recht nicht um die Erfüllung einer
moralischen Pflicht geht, sondern daß rational betrachtet nur Nützlichkeits- bzw.
Zweckmäßigkeitserwägungen von Bedeutung sind, so wirft dies möglicherweise
ein anderes Licht auf diejenigen, die die staatliche Einheit nicht wollten. Hättich
räumt ein, daß ein »kollektives Selbstbewußtsein nicht unbedingt von der inneren
Struktur des Staates abhängig« ist (S. 53), und gelangt zu der Schlußfolgerung:
»Ein DDR-Bewohner konnte auch als Gegner des Systems an einem Staatsbe-
wußtsein der DDR partizipieren. Und obwohl dieser Staat von den Kommunisten
errichtet wurde, kann ein staatliches Eigenbewußtsein das System überdauern.
Deshalb ist nicht jeder DDR-Bürger, der nicht vorbehaltlos für die staatliche Ein-
heit Deutschlands eintritt, ein Anhänger der früheren SED, für die eine Bejahung
der Zweistaatlichkeit schon aus dem Streben nach Machterhaltung folgte« (S. 53).
Aber gab es Gründe, gegen die Wiedervereinigung zu sein? Manfred Hättich
glaubt, daß die »gelegentlich aus dem Ausland zu hörende Furcht vor einem wirt-
schaftlich zu potenten Deutschland« »nicht sehr ernst zu nehmen« ist (S. 63 f.). Sie
bezeuge selbst ein nationalistisches Denken. Er verweist darauf, daß auf dem euro-
päischen Binnenmarkt Wirtschaftsunternehmen miteinander konkurrieren und
nicht Nationen. Die »ökonomische Dynamik im Wirtschaftsgroßraum Europa«
werde »über die nationalstaatlichen Eifersüchteleien hinweg gehen« (S. 64). Inwie-
fern die deutsche Vereinigung die Sicherheitsinteressen anderer Staaten sowie die
Stabilität in Europa berührt, hängt nicht nur von Deutschland ab, sondern auch
davon, ob der Kontinent nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation »in die
alten nationalstaatlichen Rivalitäten auseinanderfallen« oder — wie es Hättich not-
wendig erscheint — sich »in Richtung auf die Vereinten Staaten von Europa« bewe-
gen wird (S.67). Und außerdem: »Die deutsche Teilung war auch keine Maß-
nahme der Siegermächte, um den Deutschen den Nationalstaat auszutreiben«
(S. 64). Für den Autor lagen die Gründe für sie »in der Etablierung des kommuni-
stischen Herrschaftssystems im östlichen Teil Europas« (S. 64). Nachdem dieses
System nunmehr im Zerfallen begriffen ist, so meint er, gibt es für die deutsche
Teilung keinen plausiblen Grund mehr. Seine Folgerung daraus, begründungs-
pflichtig seien »nicht diejenigen, welche die Wiedervereinigung wollen, sondern
jene, die an der Zweistaatlichkeit festhalten« (S. 64), erscheint mir allerdings
problematisch. Als begründungspflichtig gilt gewöhnlich der Wille zur Verände-
rung. Eine Begründungspflicht kann daher nicht formuliert werden ohne Bezug-
Fritze . Entmystifizierung der Idee der Nation 447
nahme auf eine Ausgangsbasis oder einen Zustand der Normalität. Man müßte
also schon den Einheitsstaat als einen solchen ausgezeichneten Zustand betrach-
ten. Das scheint mir aber der Auffassung des Verfassers zu widersprechen, bei der
Herstellung der staatlichen Einheit seien Gründe, und zwar solche der Zweckmä-
Rigkeit ausschlaggebend. Diese Kritik scheint Hättich zu bestätigen, wenn er an
anderer Stelle schreibt: »Die kommunistische Herrschaft in Osteuropa war die
Hauptursache für die Teilung Deutschlands. Geschichte verläuft aber nicht so,
daß die frühere Lage sich wiederherstellt, wenn Ursachen einer Entwicklung weg-
fallen. Die Tatsache, daß ein Zustand einmal bestanden hat, ist für sich allein auch
kein zureichender Vernunftgrund für seine Wiederherstellung« (S. 123).
Hättichs Nachdenken kreist immer wieder um das Phänomen des Nationalis-
- mus. Unter »Nationalismus« kann man »die tendenzielle Verabsolutierung der
Nation« verstehen (S. 82). Der Autor faßt den Nationalismus auch als »eine Subli-
mierung des tierischen Revierverhaltens« auf (S. 161). Zwar sei, wie er betont,
auch das Recht auf Gemeinschaftsbildung ein Menschenrecht, es sei aber »ein
Unterschied, ob die Einigkeit als Selbstwert fungiert, oder ob sie durch mitteilbare
Gruppenzwecke begründbar ist« (S. 75). Im Nationalismus wird »die Nation zum
alles überlagernden Wert« (S. 85); es herrscht »das gemeinsame Gefühl, Einheit
und Einigkeit seien an sich gut und brauchten nicht auf nähere Zwecke hin befragt
werden« (S. 75 f.). Ich glaube, man kann dem Autor zustimmen, wenn er sagt, daß
gerade dieses Gefühl gegen einen rationalen Disput immunisiert und »eine beliebig
manipulierbare Verfügungs- und Verführungsmasse« erzeugt (S. 76).
Aber warum, so fragt es sich, »identifizieren sich Menschen mit Großgruppen,
die sie nie als ganze erleben können, und deren Mitgliedschaft für sie zum über-
wiegenden Teil anonym bleibt?« (S. 40). Hättich meint, daß dieses Bestreben sich
auf das in der sozialen Natur des Menschen gründende Gemeinschaftsbedürfnis
nicht plausibel zurückführen läßt; denn abstrakte soziale Einheiten, wie die
Nation, können dieses gerade nicht befriedigen (vgl. S.40). Nach Einheit und
Einigkeit kann man aus Zweckmäßigkeitsgründen streben. Darüber hinaus aber,
so vermutet Hättich, liegt ein wesentlicher Faktor für das Gemeinschaftsbe-
wuftsein in der »Unterscheidung von der übrigen sozialen Umwelt« (S. 41). Die
Nation dient der individuellen Identitätsfindung. Sie wird zu einem Symbol, unter
dem sich Massen solidarisieren können. Sie kann aber auch dazu dienen, »Ich-
schwäche« durch »Wirstärke« zu kompensieren (vgl. S. 129).
Von besonderem Interesse sind Hättichs Überlegungen zu den ambivalenten
Wirkungen des Nationalstaats bzw. der nationalen Idee. Einerseits führt die Grup-
penbildung Menschen zu gemeinsamer Zielverwirklichung zusammen. Anderer-
seits sind große Gruppen, in denen sich die einzelnen weder kennen noch direkt
zueinander in Beziehung treten, auf symbolische Erfassung der Einheit geradezu
angewiesen. Es besteht die Gefahr, daß im Bewußtsein der Gemeinschaft ihre Inte-
grationsideen einen Wert an sich erlangen und dazu dienen, die Mitglieder der
Gruppe in die Pflicht zu nehmen (vgl. S. 87). Einerseits bewirkt das Nationalbe-
wußtsein Identitätsfindung beim einzelnen und damit Aufhebung seiner Isolation,
ZfP 40. Jg. 4/1993
448 Fritze . Entmystifizierung der Idee der Nation
andererseits wirken Staat und Nation vereinheitlichend, homogenisierend und
können damit Individualität zerstören und Freiheit beschneiden (vgl. S. 81, 93,
128, 141). Einerseits führt der Nationalstaat zu einer Befriedung seines Territo-
riums, andererseits grenzt er andere aus und bildet somit den Nährboden von Haß
und Feindschaft dem Fremden gegenüber sowie von internationalen bewaffneten
Konflikten (vgl. S. 81, 111, 128).
Der ideologische Charakter des Nationalismus kommt nach Hättich »vor allem
in der Maxime zum Ausdruck, daß alles, was für die Nation gut ist, auch für den
Menschen gut sei« (S. 122). Dem setzt er entgegen: »Das Wohlergehen der Men-
schen entwickelt sich keineswegs parallel mit dem Grad der Selbstbehauptung der
Nation. Das betrifft nicht nur das materielle, sondern gerade auch das geistige
Leben« (S. 111). Von daher ergibt sich die Frage, welche Opfer an menschlichem
Leben die Nation eigentlich wert ist. In diesem Zusammenhang gelangt Hättich zu
der folgerichtigen — aber leider nicht allgemein akzeptierten — Auffassung: »Inso-
fern die Selbstbehauptung der Nation zum Grund für Kriegsführung wird, hat sie
sich überlebt« (S. 111). Generell fordert er auf, »die Frage gründlicher zu diskutie-
ren, inwieweit man die Nation als Legitimitätsgrundlage dafür ansehen will, daß
der sie repräsentierende Staat über Menschenleben verfügen darf« (S. 141).
Hättich diagnostiziert ein Zuendegehen der nationalstaatlichen Epoche (S. 18).
Die europäische Geschichte im 20. Jahrhundert zeige, daß die nationalstaatliche
Struktur sich als Gliederungsprinzip totgelaufen habe (S. 23). Aus dieser Einsicht
folgt nicht, daß die Entwicklung des Nationalstaates schlicht als Irrweg zu verste-
hen sei. Vielmehr war die Bildung von Nationalstaaten »Bedingung und Folge von
Modernisierungsprozessen«. Gegenwärtige Modernisierungsprozesse »zwingen
zur konsequenten Relativierung des Nationalstaates« (S. 24).
Der Zweifel richtet sich darauf, ob der Nationalstaat heute noch die »optimale
Betriebsgröße« (S. 119) für die Erfüllung seiner gesellschaftlichen Funktionen dar-
stellt. Und zwar gilt dies in beiden Richtungen. Der Nationalstaat als Regelungs-
einheit kann sowohl zu klein als auch zu groß sein. Unter den modernen Bedin-
gungen transnationaler Kooperations- und Kommunikationsprozesse in den
Bereichen der Wirtschaft, des Verkehrs, der Wissenschaften und Künste etc. kön-
nen staatliche Grenzen »Störfaktoren« darstellen. Zugleich gibt es spezielle Rege-
lungsbedürfnisse in den Provinzen (vgl. S. 120). Auf der einen Seite existiert also
»eine Tendenz zu großräumigeren Entscheidungseinheiten«, auf der anderen Seite
»gibt es immer mehr subnationale Autonomiebestrebungen« (S. 119).
Der Nationalstaat ist, worauf der Autor hinweist, nur »eine Variante der
geschichtlichen Verwirklichung von Staatlichkeit« (S.79). In unserer eigenen
Befangenheit, die durch die geschichtliche Situation bedingt ist, »laufen wir immer
wieder Gefahr, zu glauben, für unabdingbar gehaltene Funktionen könnten nur
von den uns konkret gegebenen Gemeinschaftsformen und Institutionen erfüllt
werden« (S. 79). Ob der Nationalstaat auf Dauer Bestand haben kann, ıst für Hät-
tich eine offene Frage. Daraus folgt nicht, daß man jetzt schon in der Lage sein
müßte zu sagen, »was an seine Stelle treten kann und soll« (S. 79 f.). Andererseits
Fritze . Entmystifizierung der Idee der Nation 449
hat die Zugehörigkeit zu einer Nation und deren Geschichte reale Bindekraft,
durch die Einstellungen und Verhalten des einzelnen geprägt werden. Ein kollekti-
ver Abschied von der Nation durch eine Art gemeinsamer Entscheidung ist schon
deshalb kaum möglich (vgl. S. 159).
Was die Abwendung vom Nationalismus anlangt, so ist diese, wie der Autor
meint, nicht von einer »Massenbekehrung« zu erwarten. Statt dessen könne man
hoffen, »daß er allmählich versickert, weil er altmodisch geworden ist und zum
Wohlergehen der Menschen nicht mehr viel beiträgt« (S. 160). Dabei verweist er
auf die Zweischneidigkeit jeder Aufklärung. Indem sie Glaubensinhalte zerstört,
verunsichert sie den Gläubigen (vgl. S. 70). Wird der Zusammenhalt einer Gemein-
schaft auch durch den Glauben an bestimmte Ideen, denen man unerklärterweise
einen höheren Sinn zuschreibt, gewährleistet, so kann deren Destruktion auch
inhumane Wirkungen haben. Hättich spricht in diesem Zusammenhang von »Ver-
nunftgründen von Dogmatisierungen« (S. 69), die von einer rationalen Politik auf
ihre Legitimität hin zu prüfen seien. Die politische Führung hat die sozialpsycho-
logische Zumutbarkeit einer solchen Destruktion zu bedenken — was allerdings,
und auch darauf weist Hättich hin, mit dem Wahrheitsanspruch der Wissenschaft
prinzipiell nicht vereinbar ist.
Der Autor beschreibt für Europa eine Tendenz der Abgabe nationaler Souverä-
nitätsrechte an übernationale Institutionen. Erleichtert wird dies durch die Aner-
kennung universaler Menschenrechte sowie der Prinzipien der freiheitlichen
Demokratie. Dadurch wird eine Angliederung der nationalen Rechtsordnungen
möglich (S. 119). Die Orientierung an nationalen Werten auf Kosten von Men-
schenrechten kann überwunden werden (vgl. S. 73). Die Wahrung der freiheitlich-
demokratischen Prinzipien gewinnt Vorrang vor der nationalen Einheit (vgl.
$S.73). Der Nationalpatriotismus kann abgelöst werden von einem (Hättich
gebraucht den Ausdruck Dolf Sternbergers) »Verfassungspatriotismus« (S. 72),
also der Identifikation des Bürgers mit der politischen Ordnung seines Staates. —
Wenn allerdings der Staat eine Organisationsstruktur zur Wahrung gemeinsamer
Lebensinteressen von Menschen ist, so ist es meines Erachtens problematisch, der
freiheitlichen Demokratie eine »Wahrheitssubstanz« (und nicht nur eine »Nütz-
lichkeitsinstrumentalität«) zuzuschreiben (S. 89). Eine solche Auffassung wäre nur
dann begründet, wenn es einen »Beweis« dafür gäbe, daß der freiheitlich-demo-
kratische Verfassungsstaat unter allen denkbaren Umständen diejenige Staatsform
ist, die die berechtigten Interessen der Menschen am besten sichert.
Nachdem mit der staatlichen Vereinigung die sogenannte offene deutsche Frage
als beantwortet gelten sollte — so Hättich (S. 164) —, geht der Blick nunmehr ver-
stärkt nach Europa. Hättich verweist darauf, daß allein schon der europäische Bin-
nenmarkt »eine europäische Staatlichkeit in der Form supranationaler Organe«
nach sich zieht (S. 153). In Anbetracht der Weltlage könne »für die Europäer nicht
die Vielfalt rivalisierender Nationalstaaten, sondern nur ein möglichst enger
Zusammenschluß von Nutzen, vielleicht sogar die Voraussetzung des Überlebens
sein« (S. 154). Hättich schließt nicht aus, daß Europa als Ganzes von anderen
ZfP 40. Jg. 4/1993
450 Fritze . Entmystifizierung der Idee der Nation
Kontinenten bedroht werden könnte. Um in eine solche Lage nicht unvorbereitet
zu geraten, hält er eine gemeinsame Verteidigungspolitik ganz Europas für ange-
zeigt. Auch dies sind Gründe, den Nationalstaat tradierten Musters für überholt
zu halten. Manfred Hättich meint, die deutsche Einheit käme zu spät, sollte ihr
Resultat gerade dieser veraltete Nationalstaat sein (S. 162), der »im Widerspruch
zu aller Realität an der Fiktion der Souveränität festhält, sich gegen die anderen
abschließt und kulturelle Homogenität für sich in Anspruch nimmt« und »von sei-
nen Bürgern eine gegenüber allen anderen sozialen Beziehungen vorrangige Loya-
lität verlangt« (S. 164).
Dieses Buch sollten diejenigen lesen, die immer noch der Fiktion erliegen, die
Nation und speziell deren staatliche Einheit sei ein unbedingter Wert — etwas, das
hochzuhalten und zu erstreben nachgerade eine moralische Pflicht und ein Indiz
für menschliche Anständigkeit sei. Wem jedoch diese gefühlsbetonte Beziehung
zur Idee der Nation einigermaßen abgeht und wer vielleicht in der neuen nationa-
len Lage beginnt, an seiner Unfähigkeit zu diesem Gefühl irre zu werden, dem
dürfte die Lektüre schlicht zu einem geistigen Labsal werden. Denjenigen schließ-
lich, denen es schwerfällt, sich von ihrer DDR-Identität zu lösen, könnte sıe hel-
fen, sich das irrationale Moment dieser Beziehung zu vergegenwärtigen.
BUCHBESPRECHUNGEN
Kurt SONTHEIMER: Deutschlands Politische
Kultur (= Serie Piper Band 1289). München
1990. Piper Verlag. 191 S. DM 16,80.
Kurt Sontheimer beschäftigt sich im vorlie-
genden Band mit zwei Aspekten, die zur
Zeit en vogue sind. Zum einen gilt sein
Interesse Deutschland, der Bundesrepublik
und der DDR, dem vergangenen, dem
gegenwärtigen sowie dem zukünftigen
Deutschland. Als verbindendes thematisches
Element dient ihm der Begriff der Politi-
schen Kultur, der heute in aller Munde ist.
Im ersten Kapitel wendet sich Sontheimer
zunächst der Frage zu, was Politische Kultur
überhaupt sei. Der Terminus entstammt der
amerikanischen Sozialwissenschaft, die da-
mit ausschließlich ein empirisches Phäno-
men kennzeichnen wollte. »Was die Bürger
von ihrem Staat und seinen politischen Insti-
tutionen wissen, was sie darüber denken und
empfinden und wie sie damit zurechtkom-
men und umgehen« (S. 9), solche Fragestel-
lungen wurden unter Political Culture sub-
sumiert. Doch in der Folgezeit erfuhr jenes
Konzept eine normative Erweiterung. Unter
Politischer Kultur verstand man fortan ei-
nen Wertzustand, ein Ideal. »Die Respektie-
rung der Regeln und Konventionen der poli-
tischen Auseinandersetzung sowie das Be-
kenntnis zu den Werten der demokratischen
Staats- und Lebensform sind die beiden Sei-
ten einer normativ verstandenen politischen
Kultur in der Demokratie« (S. 11).
Wie sieht es nun mit der politischen Kul-
tur der Bundesrepublik aus? Sontheimer
kommt durchaus zu einem positiven Ergeb-
nis, wenn er auch aus seinem Befremden
gegenüber manchen Anwandlungen der
westdeutschen Demokratie kein Hehl
macht. Die etatistische Tradition sei heute
ebensowenig überwunden wie das Unpoliti-
sche in Deutschland. Auch den deutschen
Idealismus, die grassierende Konfliktscheu
und die Tradition des Formalismus treffe
man noch an. Gleichwohl spielten diese ne-
gativen politischen Traditionen heute keine
überragende Rolle mehr. Ein gewisses Maß
an Vertrauen in die politische Kultur
ZfP 40. Jg. 4/1993
30
Deutschlands sieht der Autor also als ge-
rechtfertigt an. Andererseits, so Sontheimer,
wurde die bundesrepublikanische Demokra-
tie noch nicht vor ernsthafte Probleme ge-
stellt, so daß das herrschende politische Be-
wußtsein keineswegs eine Gewähr für die
Aufrechterhaltung der demokratischen Ver-
fassungsordnung biete.
»Kommentare zur Politischen Kultur« der
Bundesrepublik finden sich unter der Über-
schrift »Fehlt den Deutschen was?«. Die
Antwort, die Sontheimer parat hat, kann
vom Rezensenten zwei- und dreifach unter-
strichen werden: »Es scheint mir gerade für
unsere Verhältnisse in der Bundesrepublik
wichtig, sich bewußt zu machen, daß uns un-
geachtet der vielen kleinen Dinge, die hier
oder dort zu fehlen scheinen, in Wahrheit
nichts Wesentliches fehlt, zumindest nichts
Wesentliches von dem, was eine staatliche
Ordnung heutzutage ihren Bürgern geben
und bereitstellen kann« (S. 149). Woran es
uns tatsächlich ermangele, sei ein »Sinn für
Proportionen. Wir behandeln viele politi-
sche Fragen, als handelte es sich um Pro-
bleme, bei denen wir über Leben und Tod
entscheiden. Wir neigen in der öffentlichen
Auseinandersetzung zur Maßlosigkeit, zu
ertreibung und Dramatisierung. (...)
Uns gebricht es an der Tugend der Gelas-
senheit« (S. 150).
Der Fall Pfeiffer-Barschel gilt ihm nicht
als Anzeichen für eine Krise der politischen
Kultur, sondern eher dafür, daß die politi-
sche Kultur der Bundesrepublik nicht so in-
takt sei, wie es möglicherweise wünschens-
wert wäre. Zu ergänzen ist dabei allerdings,
daß gerade die restlose Aufdeckung dieser
Affäre, mit allen politischen Konsequenzen,
auch im Sinne einer funktionierenden politi-
schen Kultur interpretiert werden kann.
Denn wer nicht von einem allzu idealisti-
schen Menschenbild ausgeht, wird zugeben
müssen, daß ähnliche Skandale sich immer
wieder ereignen werden. Natürlich gilt es,
dafür Sorge zu tragen, daß sie möglichst sel-
ten passieren; doch gänzlich auszuschließen
sind sie nie. Die politische Kultur ın einem
Gemeinwesen steht und fällt also nicht un-
452
bedingt mit der bloßen Existenz von
»schwarzen Schafen«, die wird es stets ge-
ben, sondern hängt davon ab, wie mit den je-
weiligen Machenschaften umgegangen wird.
Der Politischen Kultur der DDR wendet
sich Sontheimer im dritten Kapitel zu, das in
Zusammenarbeit mit seinem Mitarbeiter
Wolfgang Bergem entstand. Konnte man
dem Münchner Politikwissenschaftler noch
jüngst vorhalten, sein 1972 mit Wilhelm
Bleek verfaßtes DDR-Buch, das 1979 ın der
fünften Auflage erschien, habe den Staatssi-
cherheitsdienst der DDR kein einziges Mal
erwähnt, so kann dies für die vorliegende
Studie nicht mehr gesagt werden. Sonthei-
mer, der sich wenige Monate nach dem Fall
der Mauer ohnehin bereits selbstkritisch äu-
Berte, läßt es nun an der notwendigen Deut-
lichkeit nicht missen, wenn er von »eine(r)
totalitar alles und jedes überwachende(n)
Staatssicherheitorganisation« (S. 85) spricht.
An anderer Stelle heißt es: »Der zweite deut-
sche Staat gab sich zwar als Demokratie aus,
war aber von Anfang an nichts anderes als
eine von der führenden Partei, der SED,
und ihrer Oligarchie gelenkte totalitäre
Herrschaft auf der Basis der marxistisch-le-
ninistischen Ideologie« (S. 60). Demnach
greift der Autor zur Charakterisierung der
DDR heute auch auf den Totalitarismusbe-
griff zurück, während er in besagter Studie
noch - in Anlehnung an den DDR-Forscher
Peter Christian Ludz — vom »konsultativen
Autoritarismus« sprach.
Für die DDR differenziert Sontheimer
zwischen einer offiziellen und einer real exi-
stierenden politischen Kultur. Im ersten Fall
spricht er von einer »Zielkultur« (S. 60), weil
sie niemals habe voll realisiert werden kön-
nen. Die real existierende politische Kultur
hingegen sei durch politisches Desinteresse,
politische Abstinenz und den Entzug der Ei-
genverantwortung des einzelnen gekenn-
zeichnet gewesen. Die Zweigleisigkeit von
tatsächlicher und offizieller politischer Kul-
tur führte nach Sontheimer bei vielen DDR-
Bürgern zu einem Rif im politisch-sozialen
Bewußtsein: Hohen Mitgliederzahlen der
Massenorganisationen stand eine private Di-
stanzierung vom
gegenüber.
Die wenigsten Beiträge des vorliegenden
Bandes sind neu. Sontheimer greift auf be-
reits Publiziertes zurück. Dagegen wird
mancher gewiß Einwände zu erheben haben.
Doch spricht gleichsam einiges dafür, ver-
sozialistischen System '
Kritik
streute Aufsätze zusammenzutragen, um sie,
in einen größeren Rahmen gestellt, zusam-
menhängend betrachten zu können. Der
Nachteil davon ist freilich, daß es zu Wie-
derholungen kommen kann - und da ist der
vorliegende Band keine Ausnahme: Wie oft
die beiden Betrachtungsweisen politischer
Kultur (die empirische und die normative)
erklärt werden, mag man gar nicht zählen.
Und wer sich wundert, weshalb einmal der
Begriff »Image« ausführlich vorgestellt
wird, der doch jedem bekannt sein dürfte,
kann dieses Rätsel mit einem Blick auf das
Herkunftsjahr des Beitrags auflösen: Die
Darstellung stammt von 1966 und wurde
1968 publiziert! Doch ansonsten ist der
Band zu loben: Wer nach den aufsehenerre-
genden Ereignissen von 1989 und 1990 inne-
halten möchte und — mit etwas Abstand -
sich die Frage nach Deutschlands politischer
Kultur stellt, der findet in Sontheimers Stu-
die eine lesenswerte Bestandsaufnahme.
Wittlich Ralf Altenhof
Rainer Zrreimann: Adenauers Gegner.
Streiter für die Einheit. Erlangen 1991. Verlag
Dr. Dietmar Straube. 229 S.
Es verdient Respekt, zu einer Zeit, da die
außenpolitische Konzeption Konrad Ade-
nauers weithin als glänzend bestäugt gilt,
mit Jakob Kaiser, Kurt Schumacher, Gustav
W. Heinemann, Thomas Dehler und Paul
Sethe an vier Politiker und einen Publizisten
zu erinnern, um Zweifel an der politischen
Weisheit des ersten Kanzlers der Bundesre-
publik wachzuhalten.
Eben dies geschieht im vorliegenden
Buch, das nach einer die wesentlichen Be-
funde bereits zusammenfassenden Einlei-
tung in fünf aufeinanderfolgende Kapitel
gegliedert ist, an deren Ende sich jeweils ei-
nige Hinweise zu Quellen und Literatur
über die vorgestellten Persönlichkeiten fin-
den. Den Text kennzeichnen die vielen Zi-
tate, wobei es der Entschuldigung des Au-
tors, er wähle dieses Vorgehen, auch wenn
es der Lesbarkeit nicht immer zuträglich sein
möge, gar nicht bedürfte; denn gerade diese
ausführlichen Textwiedergaben machen das
Buch zu einer interessanten, kurzweiligen
Lektüre.
Dabei ist es dem Autor gelungen, aus ei-
ner doch schon fleißig begangenen For-
Buchbesprechungen
schungslandschaft auch einige bislang nicht
oder nur wenig beachtete Fundstücke
zusammenzutragen. So wird gezeigt, daß
sich Gustav Heinemann schon einige Wo-
chen vor der Lancierung der ersten Stalin-
Note ausdrücklich zur bewaffneten Neutra-
lität eines wiedervereinigten Deutschland
bekannte, womit der Autor die Dissertation
von Josef Müller zu korrigieren vermag.
Was nicht überzeugt, sind gewisse Einsei-
tigkeiten der getroffenen Auswahl. Bei Kurt
Schumacher wird zum Vorwurf, er sei Na-
tionalist gewesen, immerhin noch erläutert,
daß möglicherweise die Inhalte sowie »die
häufig aggressive Form seines Auftretens
und seine Vorliebe für apodiktische Formu-
lierungen unangenehme Erinnerungen
wachriefen« (S.79). Entgegen dem sonsti-
gen Vorgehen wird aber kein Zitat ange-
hrt, um das zu dokumentieren, sondern
präsentiert werden Aussagen Schumachers,
in denen er in gemessener Form den eigenen
Patriotismus als Patriotismus des Weltbür-
gertums bezeichnet oder sich zu Souveräni-
tätsverzichten unter Beachtung der Gleich-
berechtigung für Deutschland bekennt.
Wenn der Autor dann folgert, daß diese
Forderung nach Gleichberechtigung »ihn
freilich in eine scharfe Frontstellung gegen
den Nationalismus der Siegermächte, vor al-
lem Frankreichs und Rußlands« (S. 80) ge-
bracht habe, so ist das nicht geradezu falsch,
aber unvollständig: Besonders »deutlich«
pflegte Schumacher zu werden, wenn es um
die Polen übereigneten deutschen Ostge-
biete ging. In einer differenzierten histori-
schen Darstellung der Deutschlandpolitik
Schumachers darf das nicht fehlen. (Es fällt
überhaupt auf, daß jenes während der fünf-
ziger Jahre — vor allem in der ersten Hälfte -
allenthalben in der Diskussion um die Wie-
dervereinigung virulente Problem der Ge-
biete jenseits von Oder und Neiße unterbe-
lichtet bleibt.)
In dem Thomas Dehler gewidmeten Kapi-
tel wird uber die nicht selten peinlichen rhe-
torischen nationalistischen Eskapaden, mit
denen er schon als erster Bundesjustizmini-
ster auffiel, schweigend hinweggegangen. Es
handelte sich dabei durchaus nicht nur um
Fälle, in denen man von einem selbstbewuß-
ten Auftreten gegenüber den westlichen Sie-
germächten sprechen könnte. Wenn ein ver-
antwortlicher deutscher Politiker, und der
war Thomas Dehler auch nach seinem Aus-
scheiden aus der Bundesregierung in seinen
ZfP 40. Jg. 4/1993
30*
453
Funktionen als Partei- und Fraktionschef,
einen Aufschrei in der Presse Luxemburgs
pfovozierte, weil man sich im Großfürsten-
tum in seinen nationalen Gefühlen verletzt
empfand, so verdeutlicht das immerhin, wie
man außerhalb Deutschlands — und eben
nicht nur bei den Besatzungsmächten — be-
stimmte Töne registrierte. Auch wäre gerade
unter der Themenstellung des Buches füg-
lich eine Erörterung darüber zu erwarten,
daß Adenauer einige Male solcherlei Ent-
gleisungen seines Justizministers ausbügelte,
begleitet von dessen Erklärungen, man habe
ihn falsch verstanden.
Umgekehrt gibt der Autor ausführlich
wieder, daß sich Dehler in der Bundestags-
debatte über das Saarstatut im Februar 1955
gegen den Vorwurf Adenauers verwahrte,
ein Redner der FDP-Fraktion habe durch
seine nationalistischen Auslassungen
Deutschland geschadet. Die vom Kanzler
kritisierte Rede wird indessen wiederum
nicht zitiert, sondern lediglich als eine
»kampferische« (S. 137) umschrieben. Es
wäre wünschenswert gewesen, hier durch die
Wiedergabe des einen oder anderen relevan-
ten Satzes konkret vorzuführen, was da so
»kämpferisch« geklungen hatte. Wie anders
soll denn dem Leser eine Beurteilung jenes
Streits zwischen Dehler und Adenauer mög-
lich sein?
In der Einleitung wird besonders hervor-
gehoben, daß alle fünf Gegner Adenauers
mit diesem doch darin übereingestimmt hät-
ten, »daß nur eine Einheit ın Freiheit erstre-
benswert sei«, weshalb das »vielleicht«
»wichtigste Ergebnis« der Studie laute: »Die
Alternative Freiheit vor Einheit oder Einbeit
vor Freiheit ist eben keine zutreffende Cha-
rakterisierung des Gegensatzes zwischen
Adenauer und seinen Kritikern« (S. 16).
Nun ist das allerdings keineswegs überra-
schend, weil ernsthaft für die behandelten
Persönlichkeiten nicht zu bezweifeln. Indes
geht der Autor damit an der entscheidenden
Kontroverse vorbei: Inwiefern mochten die
Konzeptionen der Gegner Adenauers -
durchaus unbeabsichtigt — in eine Einheit
ohne Freiheit führen?
Umstritten war, wie die Einheit in Freiheit
zu erreichen sei. Und hierzu herrschte auch
unter den fünf Gegnern Adenauers Uneinig-
keit. Jakob Kaiser und Kurt Schumacher be-
standen auf dem Vorrang freier Wahlen, da-
mit die Freiheit eines wiedervereinigten
Deutschland gesichert werde. Heinemann,
454
Sethe und schließlich auch Dehler glaubten
darauf verzichten zu können. Das ist aus der
Darstellung des Autors selbst zu rekon-
struieren, findet aber ın seiner Zusammen-
fassung keine gebührende Würdigung.
Diese Unterlassung hat Folgen für die Be-
handlung einer anderen Frage. Der Autor
hebt hervor, daß sich alle fünf Persönlich-
keiten als entschiedene Gegner des Natio-
nalsozialismus »immer wieder zu den Wer-
ten eines »gesunden Nationalempfindens««
bekannt hätten (S. 21). Tatsächlich wird ın
den Darstellungen der jeweiligen Konzep-
tionen besonders die Forderung nach
Gleichberechtigung eines wiedervereinigten
Deutschland betont. Diese mußte jedoch
von der zeitlichen Situierung freier Wahlen
affiziert werden: Wenn man einräumte, vor-
her müsse die Sowjetunion Sicherheitsgaran-
tien erhalten, verzichtete man auf die Forde-
rung nach Gleichberechtigung; denn anders
als im Falle Österreich hätte nicht die frei
gewählte gesamtdeutsche Regierung über ih-
ren außenpolitischen Status entschieden,
sondern der wäre ihr vorgegeben worden.
Es mag das zu rechtfertigen sein; prinzipiell
ist der Widerspruch nicht auszuräumen;
empfindliche Abstriche an der teilweise em-
phatisch geforderten Gleichberechtigung
hätten zugestanden werden müssen.
So wenig er das bei der Analyse der Vor-
stellungen von Adenauers Gegnern notiert,
so scharf sieht der Autor das Problem, wenn
er den von Adenauer 1958 dem sowjetischen
Botschafter gemachten Vorschlag einer
»Österreich-Lösung« für die DDR ablehnt:
»Eine Verwirklichung von Adenauers Vor-
schlag hätte bedeutet, den Menschen in der
DDR zwar gewisse Freiheiten zu gewähren,
ihnen das grundlegende demokratische
Recht auf Selbstbestimmung aber nach wie
vor zu verweigern« (S. 17-18).
Er hält dem Kanzler entgegen, die russi-
schen Politiker seien sich immer darüber im
klaren gewesen, daß Freiheit nicht von der
Einheit zu trennen sei. Nun bleibe dahinge-
stellt, ob das Adenauer nicht auch wußte.
(Andere Kritiker des Kanzlers mögen fol-
gern, es sei der Vorschlag gemacht worden,
weil Adenauer davon habe ausgehen kön-
nen, die Sowjets müßten ihn ablehnen, und
deshalb sei das alles wieder nur ein Beispiel
für seine steten Bemühungen, die Einheit zu
hintertreiben.) Zuzustimmen ist dem Autor
jedenfalls uneingeschränkt, wenn er in die-
sem Zusammenhang schreibt, daß sich die
Kritik
innere Freiheit nicht von der äußeren ab-
trennen lasse. Aber genau das blieb auch
und gerade in den Vorschlägen einiger der
Gegner Adenauers in bezug auf den Modus
der Festlegung des internationalen Status
Gesamtdeutschlands unbedacht.
Es kennzeichnete die politische Lage
Deutschlands in den fünfziger Jahren, daß
die Werte Freiheit, Einheit und Gleichberech-
tigung (Souveränität) nicht gleichrangig zu
verwirklichen waren. Entscheidungen, alle-
mal schmerzliche, mußten getroffen werden.
Verhängnisvoll wäre es gewesen, mit schie-
rem Willen, wie ihn der Autor bei allen fünf
Gegnern Adenauers hervorhebt, die Einheit
in Freiheit für ein souveränes Deutschland
anzustreben. Berücksichtigt man die deut-
sche Politik in den Jahren vor 1989, muß so-
gar bezweifelt werden, daß Zitelmann recht
hat, wenn er schreibt, gewiß, der Wille alleın
hätte nichts vermocht, »wenn der Wille je-
doch fehlte, dann war alles Hoffen auf die
Wiedervereinigung vergeblich« (S. 20).
Noch unmittelbar vor der Wiedervereini-
gung haben viele nicht einmal mehr gehofft.
München Karl-Heinz Schmidt
Uwe Tnarsen: Der Runde Tisch. Oder: Wo
blieb das Volk? Der Weg der DDR in die De-
mokratie. Opladen 1990. Westdeutscher Ver-
lag. 215 S.
Ein ausgewiesener Politikwissenschaftler
konnte die Arbeit des Zentralen Runden Ti-
sches in Berlin von Anfang bis Ende unmit-
telbar mitverfolgen und wichtige Akteure
selbst befragen. Das Ergebnis ist ein Buch,
das im Gegensatz zu den allzu vielen über-
eilten — und gerade deshalb immer wieder
von den Ereignissen überholten — Produk-
tionen über die »Wende«, den »Umbruch«,
die »Revolution« im zweiten deutschen Staat
Bestand haben wird.
Neben ihrem empirischen Gehalt und
dem Bemühen um eine politologische Ein-
ordnung des Runden Tisches besticht die
Arbeit vor allem durch die differenzierte Be-
urteilung der handelnden Personen und
Gruppen. Schließlich läßt Thaysen dem
nicht selten gescholtenen Volk Gerechtigkeit
widerfahren, indem er am Ende seines Tex-
tes zeigt, wie sehr die Politiker aller Rich-
tungen vor der Wahl im März 1990 die Ge-
Buchbesprechungen
triebenen — oder Getragenen - der demon-
strierenden Birger waren.
Besonders bemüht ist der Autor um eine
Einteilung der Entwicklung vom Herbst
1989 bis zum Frühjahr 1990 in klar unter-
schiedene Phasen. Darauf beruht auch seine
Gliederung: Zunächst habe es einen »alten
Machtkampf« gegeben, in dem die SED und
teilweise die Block sarteien den »neuen Kräf-
ten«, den Bürgerrechtsgruppen, gegenüber-
gestanden hätten. Mit der erfolgreichen Ab-
wehr der Gegenoffensive der »alten Kräfte«,
die sich in Demonstrationen gegen Neona-
zismus und die daraus abgeleitete Legitima-
tion für die Einrichtung eines »Verfassungs-
schutzes« in den ersten Tagen des Januar
zeigte, sei ein Vakuum entstanden, das erst
durch die Entscheidung der »neuen Kräfte«,
an einer erweiterten Regierung Modrow
teilzunehmen, gefüllt worden sei. Dem sei
dann ein »neuer Machtkampf« um den Ge-
winn der Volkskammerwahl gefolgt.
Erst in deren unmittelbarem Vorfeld, im
Januar und Februar 1990, notiert Thaysen
den von den Bürgerrechtsgruppen, gemein-
sam mit der SED/PDS, beklagten massen-
haften Umschlag der Parole »Wir sınd das
Volk« zu »Wir sind ein Volk«. Die Ge-
schichte jener denkwürdigen Demonstratio-
nen wird erst noch geschrieben werden müs-
sen, doch es dürfte nıcht zu bezweifeln sein,
daß letztere Parole vereinzelt bereits im Ok-
tober 1989 erscholl und daß sie in den Wo-
chen nach der Öffnung der Mauer, ausge-
hend von Dresden und Leipzig, immer grö-
ßere Verbreitung fand. Der Autor notiert
dagegen erst für den 4. Dezember 1989, daß
»aus den Demonstrationszügen« ın verschie-
denen Städten »der Ruf nach schneller Ver-
einigung der beiden deutschen Staaten« er-
tönt sei (S. 182). Sowohl der »Zehn-Punkte-
Plan« als auch — mit entgegengesetzter Ab-
sicht — der Aufruf »Für unser Land« stellten
indessen Reaktionen auf das bereits massen-
haft vorgetragene Begehren nach der deut-
schen Einheit dar.
So sehr Thaysen zuzustimmen ist, wenn
er die Problematik der gegen den wachsen-
den Ruf der Bevölkerung die Eigenstaatlich-
keit einer erneuerten DDR propagierenden
Bürgerrechtsgruppen schildert, die sie in be-
denkliche Nähe zur SED/PDS trieb, ist ihm
doch entgegenzuhalten, daß das nicht erst
ım Februar/März 1990 sichtbar war, son-
dern sich bereits im November 1989 ab-
zeichnete.
ZfP 40. Jg. 4/1993
455
Es macht wiederum den Gedanken-
reichtum des Buches aus, daß es selbst einen
möglichen Grund für diese verzögerte
Wahrnehmung angibt: »Der Runde Tisch
war Berlin-zentriert: Die meisten seiner Mit-
glieder arbeiteten und wohnten in der
»Hauptstadt der DDR.. Je länger der Runde
Tisch andauerte, desto eindeutiger führten
im Konferenzsaal der Berliner Residenz
Schloß Niederschönhausen und vor den
dort hingehaltenen Mikrophonen Berliner
das Wort« (S. 197). Es wird spannend sein
zu verfolgen, ob diese Beobachtung über
den Runden Tisch hinaus auch eine Per-
spektive für den Bundestag andeutet.
München Karl-Heinz Schmidt
Robert Herriace (H.): Die Bundesrepublik
Deutschland. Eine historische Bilanz. München
1990. Beck (Beck’sche Reihe, Nr. 424). 387 S.
Umrahmt von einem Einleitungs- und einem
Schlußkapitel des Herausgebers, enthält der
Band Aufsätze verschiedener Autoren zur
Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Sozial-
struktur der Bundesrepublik. Es folgen Ab-
handlungen über den Parteienstaat, neue so-
ziale Bewegungen, wissenssoziologische
Aspekte der Technologiepolitik, und
schließlich werden auch die Themen Fami-
lie, Bildung, Religion und Modernisierung
bedacht. Neben den Anmerkungen ist jedem
Aufsatz eine Literaturliste beigegeben. Die
in drei Spalten - mit den Problemfeldern
Politik, Wirtschaft, Kultur — aufgeteilte und
von 1945 bis 1990 reichende synoptische
Zeittafel rundet das Werk ab.
Gemessen am vorgegebenen beschränkten
Umfang, bieten viele Aufsätze brauchbare
empirische Informationen und übersichtli-
che, abgewogene Einführungen in den Stand
der Forschung.
Nach Angabe des Herausgebers begann
die Arbeit an dem Sammelband im Sommer
1989 und wurde 1990, unter völlig veränder-
ten politischen Umständen, fertiggestellt.
Das spiegelt sich in den meisten Aufsätzen
wider. Die historischen Teile sind fast aus-
schließlich (alt)bundesdeutscher Perspektive
verhaftet, obwohl sich auch vor 1989 sehr
wohl begründen ließ, daß die Geschichte der
Bundesrepublik schwerlich unter Außeracht-
lassung des gesamtdeutschen Aspekts zu
schreiben ist. Wie fruchtbar es sein kann, ihn
456
zu berticksichtigen, zeigt der Beitrag von Alf
Mintzel über den »Parteienstaat der Bundes-
republik«. In diesem Band ist er damit eine
Ausnahme.
Ansonsten finden sich allenfalls eher zu-
fällig Hinweise. So geht E. Pankoke in sei-
nem Aufsatz »Arbeit und Kultur« verglei-
chend auf den »Bitterfelder Weg« ein
(S. 105). Der wurde freilich nicht erst, wie
der Autor meint, nach dem Bau der Mauer
beschritten, sondern unter der Losung
»Greif zur Feder, Kumpel« bereits im April
1959 auf der Bitterfelder Autorenkonferenz
als Teil jenes verstärkten ideologischen
Drucks proklamiert, der die Abwanderer-
zahlen anschwellen ließ und schließlich den
Bau der Mauer bewirkte.
In den Ausblicken werden verschiedent-
lich - wenn auch keineswegs durchgängig —
die Probleme der Wiedervereinigung ange-
schnitten; insbesondere geschieht das im
Schlußkapitel des Herausgebers. Angekün-
digt ist ein zweiter Band, der eine Analyse
der ersten drei Jahre des deutschen Eini-
gungsvorgangs enthalten soll.
München Karl-Heinz Schmidt
Werner WEıDENnFELD / Karl-Rudolf KORTE:
Die Deutschen. Profil einer Nation. Stuttgart
1991. Klett-Cotta-Verlag. 275 S., DM 68,-.
Die Wiedervereinigung Deutschlands, das
Ende der alten Bundesrepublik und der
DDR, bedeuten eine Zäsur, die zu einer
Zwischenbilanz und einem Ausblick Anlaß
gibt. Die Mainzer Politikwissenschaftler
Werner Weidenfeld und Karl-Rudolf Korte
sind bereits durch zahlreiche kenntnisreiche
Veröffentlichungen zur deutschen Frage
und zur politischen Kultur der Bundesrepu-
blik hervorgetreten. Der Reiz der jetzt vor-
gelegten Studie liegt darin, daß Ergebnisse
von Meinungsumfragen verknüpft werden
mit inhaltlichen Analysen.
Die Autoren stützen sich sowohl auf pu-
blizierte Umfragen führender Meinungsfor-
schungsinstitute als auch auf Ergebnisse von
Befragungen, die die von ihnen geleitete
Mainzer Forschungsgruppe Deutschland in
Zusammenarbeit mit /nfratest, Sinus und
Zuma erhoben hat. Immer wieder versuchen
die Autoren, Vergleiche zwischen den Ein-
stellungen der Westdeutschen und jenen der
Kritik
Bürger in der Ex-DDR anzustellen. Zu
Recht weisen sie jedoch darauf hin, »daß die
Ergebnisse von Umfragen auf dem Gebiet
der ehemaligen DDR unmittelbar nach Off-
nung der Grenzen nur mit größter Zurück-
haltung interpretierbar sind, gleichgültig ob
sie im Auftrag von westdeutschen oder ost-
deutschen Meinungsforschungsinstituten
durchgeführt wurden« (S. 191). Manchmal
wäre es wohl sinnvoll gewesen, bestimmte
Umfrageergebnisse gar nicht zu zitieren,
weil ihre empirische Grundlage mehr als
fragwürdig ist. Stimmt es beispielsweise
wirklich, daß noch ım November 1989 83
Prozent aller DDR-Bürger »weiterhin in der
DDR leben« wollten (S. 188)?
Im ersten Teil der Studie werden Grund-
dispositionen der Deutschen zu den Themen
Ehe und Familie, Arbeitswelt und Freizeit,
Technikakzeptanz und Umweltschutz sowie
zu Kirche, Religion und Gesellschaft thema-
tisiert. In all diesen Bereichen ist ein nach-
haltiger Wertewandel festzustellen. So wird
beispielsweise die Arbeit von immer mehr
Menschen als »notwendiges Ubel« betrach-
tet. Vor allem in der Arbeiterschaft ist eine
zunehmende Distanzierung von der Er-
werbsarbeit festzustellen, wahrend bei den
Berufsgruppen mit höherem sozialen Status
eine vergleichsweise positivere Idenufikation
mit der Arbeit vorliegt. Entgegen verbreite-
ten Ansichten ist die Leistungsbereitschaft
der Bürger in den neuen Bundesländern je-
doch weitaus höher als in Westdeutschland
— stimmt also doch das Bild von den »roten
Preußen«? Dieses und andere Ergebnisse re-
lativieren die stereotype These von den
»rückständigen Ostdeutschen«. Die ver-
meintliche »Rückständigkeit« könnte viel-
leicht dem neuen Deutschland in mancher
Hinsicht gut tun.
Wie nicht anders zu erwarten, ist die all-
gemeine Lebenszufriedenheit der Menschen
in den neuen Bundesländern deutlich
geringer als die der Westdeutschen. Aber
auch hier ist wieder darauf hinzuweisen, daß
es sich um Momentaufnahmen handelt und
wir im Hinblick auf die Bürger der Ex-DDR
eher von Meinungen als von längerfristigen
Einstellungen sprechen können. So muß
auch offen bleiben, wie etwa folgendes Er-
gebnis zu deuten ist: Mehr Achtung vor
staatlicher Autorität wünschen 40 Prozent
der Ostdeutschen und 22 Prozent der West-
deutschen. Die Autoren kommentieren:
»Der Sicherheitsbedarf fördert ein traditio-
Buchbesprechungen
nelles, eher autoritär angelegtes Profil der
Ostdeutschen zu Tage« (S. 73). Möglicher-
weise ıst dies so, aber vielleicht reflektiert
der Wunsch nach mehr öffentlicher Sicher-
heit auch einfach die gravierenden aktuellen
Probleme in den neuen Bundesländern, vor
allem den rapiden Anstieg von Banküberfäl-
len, Gewalttaten und anderen kriminellen
Delikten, denen die Polizei oft hilflos
gegenübersteht. Dies macht verständlich,
warum 65,3 Prozent der Ostdeutschen
(gegenüber 23,4 Prozent der Westdeut-
schen) mit der öffentlichen Sicherheit »eher
unzufrieden« sind. In keinem anderen Be-
reich (außer beim Umweltschutz) ist die Dif-
ferenz in der »Zufriedenheits-Skala« zwi-
schen Ost und West so ausgeprägt (vgl. Ta-
belle 21, S. 72)!
Manchmal ist auch die vorliegende Studie
nicht ganz frei von der derzeit verbreiteten
Tendenz, politische Haltungen der Bürger
in den neuen Bundesländern fast ausschließ-
lich unter dem Gesichtspunkt von »Defizi-
ten« zu beschreiben. »Idealismus, Etatismus,
unpolitische Innerlichkeit, Konfliktscheu,
Formalismus und Sicherheitsbedürfnis« nen-
nen die Autoren als zentrale Merkmale von
Einstellungen der Menschen ın den neuen
Bundesländern (S. 116 ff.). Sicher ist es rich-
tig, wenn beispielsweise ein »einseitiges Plu-
ralismusverständnis« diagnostiziert wird,
das »auch aus der Tradition des Antifaschis-
mus« resultiere (S. 118). Zu Recht wird die
Diskussion um Parteizulassungen im Um-
feld der Wahlen des Jahres 1990 (damals
wurden linksextreme Parteien zugelassen,
die Republikaner hingegen nicht) als Indiz
für »mangelndes Pluralismus-Verständnis«
benannt (S. 119). Dennoch sollte man nicht
übersehen, daß manche Haltungen und Ein-
stellungen von Bürgern der Ex-DDR auch
als willkommenes Korrektiv für das neue
Deutschland gewertet werden könnten.
Letztlich ist dies natürlich eine Bewertungs-
frage, die wissenschaftlich nicht beantwortet
werden kann. Doch fällt auf, daß fast alle
von den Autoren benannten Haltungen der
Menschen in den neuen Bundesländern mit
negativen Konnotationen verbunden sind.
_ Im zweiten Teil der Studie wird unter der
Überschrift »Bürger und Staat« nach der all-
gemeinen Zufriedenheit mit dem politischen
System der Bundesrepublik gefragt. Die Au-
toren kommen zu einem betont optimisti-
schen Befund, werden hierin auch durch die
Umfragedaten bestätigt. 1990 waren 85 Pro-
ZfP 40. Jg. 4/1993
457
zent der Bundesdeutschen mit der Demo-
kratie zufrieden, von den Anhängern der
CDU/CSU und der FDP waren es sogar 96
bzw. 92 Prozent. Interessant ist jedoch die
Entwicklung über die Zeit. Während sich die
schon hohe Zufriedenheit bei den Anhän-
gern der Regierungsparteien zwischen 1984
und 1990 naturgemäß nur noch geringfügig
steigern konnte, ist eine ganz erhebliche
Steigerung bei den Wählern der SPD und
vor allem der Grünen festzustellen. 1984 wa-
ren nur 38 Prozent der Grünen-Wähler und
65 Prozent der SPD-Wähler mit der Demo-
kratie zufrieden, bis 1990 hatte sich deren
Anteil stetig und rapide erhöht, so daß
schließlich 62 Prozent der Grünen-Anhän-
ger und 83 Prozent der SPD-Anhänger Zu-
friedenheit mit der Demokratie bekundeten
(vgl. Tabelle 24, S. 91).
Vielleicht hängt dies mit der in den achtzi-
ger Jahren von der Linken errungenen kultu-
rellen Hegemonie zusammen: Anhänger lin-
ker Parteien können sich zunehmend mit
der Demokratie ıdentifizieren, weil die
Linke den politischen Diskurs — zumindest
bis 1989/90 — klar dominierte. Daß auch
führende CDU-Politiker wie Heiner Geißler
und Rita Süßmuth - ebenso wie der Bundes-
prasident — häufig Positionen vertreten, die
den ungeteilten Beifall von Anhängern der
SPD und der Grünen finden, trug mögli-
cherweise dazu bei, daß sich die Zufrieden-
heit dieser Wahler mit dem Zustand der
bundesrepublikanischen Politik »trotz« der
christlich-liberalen Regierung so erstaunlich
erhöhte. Die Wahlerfolge rechter und
rechtsextremer Parteien deuten jedoch dar-
auf hin, daß der Preis dafür eine abneh-
mende Integrationsfähigkeit der CDU/CSU
ist. Nur durch die Wiedervereinigung wurde
dieses Problem vorübergehend überspielt.
Auch andere Indizien sprechen dagegen,
allzu einseitig nur die Stabilität des politi-
schen Systems der Bundesrepublik zu beto-
nen. Zu denken geben sollte, daß das Ver-
trauen der Bürger in die politischen Parteien
und die Einrichtungen des öffentlichen Le-
bens dramatisch gesunken ist. Wenn von
Bundestagsabgeordneten die Rede ist, den-
ken 40 Prozent der Bürger spontan an »Diä-
ten, Großverdiener, Schmarotzer und
Selbstbediener«. Nicht nur der Bundestag,
sondern auch die Gerichte, die Kirchen, die
Polizei und die Bundesregierung verlieren
kontinuierlich an Glaubwürdigkeit. Die Au-
toren, die die entsprechenden Umfrageer-
458
gebnisse referieren, bleiben gleichwohl be-
tont optimistisch: »Dies alles kann man auch
positiv bewerten. Der Vertrauensschwund
und die abnehmende Bindungsbereitschaft
sind nämlich auch als ein Ergebnis von
wachsendem Unabhängigkeitsbewußtsein
und politischer Sensibilität zu deuten. Ein
starker Drang zur Eigenständigkeit kommt
da zum Vorschein. (S. 141). Die Grundloya-
lität bleibe davon meist unberührt. Sicher
haben die Autoren recht, wenn sie die politi-
sche Stabilität der Bundesrepublik betonen.
Gleichwohl kann der Rezensent den unein-
geschränkten Optimismus der Verfasser
nicht immer teilen.
Weidenfeld und Korte bleiben ihrer opti-
mistischen Grundsicht auch bei der Analyse
des nationalen Bewußtseins der Deutschen
treu. Zu Recht betonen sie, daß das Gerede
über einen angeblichen »Nationalrausch«
und von einem Anschwellen des »Nationalis-
mus« in Deutschland an der Wirklichkeit
vorbeigeht (S. 139). Erste Ergebnisse von
Umfragen über das Geschichtsbewußtsein
der Deutschen deuten aber darauf hin, »daß
mit der Einheit Deutschlands die Chance
zum Neuanfang generationsübergreifend er-
scheint«. So gibt es bei vielen Jugendlichen
die Einstellung: »Die nationale Schmach
fällt endlich weg, wenn die Teilung aufgeho-
ben ist.« Die Autoren sehen auch darin kei-
nen Ausdruck nationalistischer Gefühlsauf-
wallungen, sondern interpretieren dies eher
als »Artikulation einer neuen Unbefangen-
heit im Umgang mit der Vergangenheit«
(S. 151 f.).
Vor allem meinen die Mainzer Politikwis-
senschaftler, daß nationale Einstellungen re-
lativiert werden durch das eindeutige Be-
kenntnis zu Europa. Umfrageergebnisse
deuteten darauf hin, »daß die Deutschen
insgesamt europafreundlich orientiert sind«
(S. 215). Die Mehrheit der Befragten stehe
den Bemühungen um die europäische Eini-
gung ungebrochen positiv gegenüber. Ande-
rerseits: die Autoren referieren Ergebnisse
einer Umfrage aus dem Jahr 1989, in der ge-
fragt wurde, mit welcher Einheit man sich
gefühlsmäßig am stärksten verbunden fühle.
Wie nicht anders zu erwarten, nannten die
meisten Befragten (36,9 %) ihre Stadt bzw.
ihren Wohnort. Darauf folgten an zweiter
Stelle (27,8 %) die Bundesrepublik Deutsch-
land und auf Platz drei (26,1 %) das jewei-
lige Bundesland. Aber nur 9,8 Prozent der
Befragten fühlten sich vor allem mit Europa
Kritik
verbunden (Tabelle 47, S. 205). Und die
Frage: »Haben Sie schon erlebt, daß Sie sich
als Europäer fühlten«, wurde nur von 15
Prozent der Westdeutschen und von 6 Pro-
zent der Ostdeutschen bejaht (Tabelle 51,
S. 217).
Was die Autoren in ihrer verdienstvollen
Studie zusammengetragen haben, ist hochin-
teressant. Das Buch richtet sich keineswegs
nur an Fachleute, sondern bietet auch einem
breiteren Publikum solide und verständlich
präsentierte Daten und Informationen zum
Befinden der Deutschen. Wem die Darstel-
lung manchmal zu optimistisch erscheint,
dem sei die kritische Studie von Elisabeth
Noelle-Neumann aus dem Jahre 1987 (Die
verletzte Nation) zur ergänzenden Lektüre
empfohlen. i
Berlin Rainer Zitelmann
Peter PrzysyLsKi: Tatort Politbüro. Die Akte
Honecker. Berlin 1991. Rowohlt Berlin Ver-
lag. 427 S.
Kaum auf dem Markt, wurde die Verlags-
auslieferung des hier anzuzeigenden Buches
per gerichtlicher Anordnung zeitweilig ge-
stoppt. Das Institut für die Geschichte der Ar-
beiterbewegung, über das die PDS auch ein-
einhalb Jahre nach der Wiedervereinigung
das archivalische Erbe der SED verwaltete,
hatte sie erwirkt, da in dem Buch ohne Er-
laubnis des Instituts eine Reihe von Doku-
menten aus dem Bestand des SED-Archivs
in vollem Wortlaut wiedergegeben sind.
Nicht zuletzt wohl wegen des darob in der
Presse aufkeimenden Verdachts, die alten
Kader wollten ihre Vergangenheit vertu-
schen, lenkte das Institut binnen kurzem ein
und zog seine Klage zurück.
Freilich ist der Autor selbst den Bewoh-
nern der DDR kein Unbekannter — war er
doch als langjähriger Pressesprecher des
Generalstaatsanwalts regelmäßig auf dem
Fernsehschirm präsent gewesen. Interessant
ist, daß sich der Autor verpflichtet fühlt zu
erläutern, warum gerade er ein Buch über
Erich Honecker veröffentlicht, was »vor al-
lem Leser aus den neuen Bundesländern ...
mit Recht fragen« könnten (S. 8). Schon die
Kenntnis erster Fragmente der Akte Honek-
ker, die ihm während des im Dezember 1989
eingeleiteten Ermittlungsverfahrens zur
Kenntnis gekommen sei, habe in ihm die Be-
Buchbesprechungen
459
fürchtung aufkommen lassen, »daß sich Ho-
necker wohl als der Grundirrtum meines Le-
bens erweisen sollte. Die Einblicke, die ich
seitdem in die Machtstrukturen und -techni-
ken des Regimes unter Honecker nehmen
konnte, haben mir auch mein eigenes Versa-
gen bewußter werden lassen« (S. 8).
Nach diesem Eingeständnis, ungenügen-
den Einblick gehabt zu haben, wırd zwei
Absätze weiter jedoch die Aussage nachge-
schoben, »daß besonders Insider des DDR-
Staates, die mehr wußten als der Normal-
bürger, die Pflicht haben, die Praktiken des
vergangenen Machtapparats zu beleuchten,
wenn die ganze Wahrheit in den Blick der
Geschichte rücken soll. Das wirkliche Täter-
Opfer-Verhältnis wird immer erst deutlich,
wenn beide Seiten zu Wort gekommen sind«
(S. 8).
Zu dieser offenbaren Schwierigkeit, mit
der eigenen Verstrickung zu Rande zu kom-
men, gesellt sich ein allenthalben gebräuchli-
ches, entlastendes Deutungsmuster der
DDR-Geschichte: Es werden hoffnungs-
volle, zumindest minder belastete Anfänge
behauptet, die dann leider verloren gegan-
gen seien. Unterschiedlich ist nur, welche
Daten jeweils genannt werden. Für den
Sprecher des Generalstaatsanwalts ist es die
Zusammenlegung der Posten von Partei-
und Staatschef in den Händen Honeckers
ım Jahre 1976. »Darüber, was Gesetz und
was nicht Gesetz zu werden hatte, wurde in
der Ara Honecker zuerst im Politbüro der
SED entschieden und daran war dann nicht
mehr zu rütteln. Die Abgeordneten wußten
oder ahnten das, jeder stimmte so wie der
Nebenmann und die Fraktion ab, und die
stimmten allemal dafür« (S. 173). Die ein-
zige Ausnahme, das abweichende Votum ei-
niger CDU-Abgeordneter bei der Abtrei-
bungsfreigabe 1972, bestätige nur die Regel.
Dem fügt er die Aussage des Politbüromit-
glieds Erich Mückenberger an, der in seiner
Vernehmung vom 13. Februar 1990 erklärte,
unter Walter Ulbricht sei die Tätigkeit der
Volkskammer parlamentarisch normal gewe-
sen. Für den Autor ist das eine nostalgische
Übertreibung, »doch ohne rationellen (sic)
Kern war seine Einlassung nicht« (S. 173).
Tatsichlich hat indes von Anfang der
DDR-Geschichte an das Politbüro darüber
entschieden, was Gesetz zu werden hatte;
wer daran noch zweifeln möchte, sei auf die
vorliegenden Protokolle verwiesen. Die Ab-
geordneten, die um die wahren Machtver-
ZfP 40. Jg. 4/1993
31
hältnisse nicht wußten, sondern sie nur
erahnten, möchte man zur Wortmeldung
auffordern. In der Ausnahmeabsummung
von 1972 könnte man geradezu einen Beleg
für die größere Liberalität unter Honecker
sehen, ließe man sich auf die Argumenta-
tionsweise des Autors ein; müßig wäre das
allemal.
Das Buch zeichnet die mehr als die Hälfte
seines Umfangs ausmachende Dokumenta-
tion aus. Entsprechend der Gliederung des
Textteils finden sich hier vor allem Unterla-
gen zu Erich Honeckers Haftzeit während
des Nationalsozialismus, zwischen 1945 und
1950 angefertigte Teile seiner Kaderakte
nebst einigen Dokumenten, die seinen Auf-
stieg während der fünfziger Jahre beleuch-
ten. Besonders interessant sind die 6 Schrift-
stücke, die einen Einblick in die Rolle der
sowjetischen Führung beim Sturz Walter
Ulbrichts gewähren. Es folgt eine Fülle von
Quellen zur ökonomischen Lage der DDR
in den siebziger und achtziger Jahren, wobei
die Aufmerksamkeit nicht zuletzt der unver-
meidlichen KoKo gilt. Dazwischen sınd Pro-
tokolle zweier Vernehmungen und Wieder-
gaben zweier Erklärungen Honeckers aus
dem Jahr 1990 eingeschoben. Schließlich
wird der 1961 von Heinz Hoffmann unter-
schriebene Schießbefehl abgedruckt, gefolgt
von einigen internen Stasi-Anweisungen
über den Umgang mit Oppositionellen.
. Wer freilich eine erste quellengesättigte
politische Biographie Honeckers erwartet,
wird im Textteil enttäuscht. Dafür ist die
Grundlage unzureichend. (Befürchtet wer-
den muß, daß sie nicht sehr viel besser wird,
da - der Autor sagt das nicht — offenbar auf
Honeckers Weisung hin bereits in den sieb-
ziger Jahren wesentliche Archivbestände ver-
nichtet worden sind.) Manche bislang unbe-
kannten Interna werden aufgedeckt, begin-
nend mit Honeckers Verhalten während sei-
ner Haftzeit 1935 bis 1945. Dem eigenen
Anspruch, die Machtstrukturen und -techni-
ken aufzudecken, wird der Autor aber nicht
gerecht. Der Leser erfährt Einzelheiten über
die Lebensgewohnheiten der obersten Par-
teispitze, ihre kleinen — oder weniger kleinen
— menschlichen Schwächen sowie deren Fi-
nanzierung. Daß die KoKo auch im Textteil
des Buches gebührend geschildert wird, ver-
steht sich von selbst.
Neben den erwähnten ideologischen
Blindstellen ist das zweite Manko des Bu-
ches die lediglich journalistische Aufberei-
460 Kritik
tung des Materials. Immerhin bieten die
zusammengetragenen Details einen Fundus,
aus dem die Forschung wird schöpfen kön-
nen. Um das wissenschaftlich verantwortbar
zu tun, wäre es freilich erforderlich, daß die
Archivbestände, aus denen der Ex-Presse-
sprecher zitiert, auch der Historikerschaft
zu ne würden, was bei weitem noch
nicht der Fall ist.
München Karl-Heinz Schmidt
Helmut Mt zer-Ensercs: Der Fall Rudolf
Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni.
Berlin 1991. LinksDruck Verlag. 400 S.,
24,80 DM.
Dieses Buch vermittelt eine eindringliche In-
nenansicht kommunistischer Herrschaft. Es
zeigt, wie es Walter Ulbricht gelang, seine
Machtposition nach den Ereignissen des
17. Juni 1953 zu behaupten und zu festigen.
Bekanntlich handelte es sich nach der offi-
ziellen SED-Sprachregelung beim 17. Juni
um eine »faschistische Provokation«, ange-
leitet von »Agenten des Imperialismus«. Wer
aber waren die Schuldigen in der DDR?
Sündenbock Nr.1 war der Chefredakteur
des Neuen Deutschland, Rudolf Herrnstadt,
der - so der SED-Führer Fred Oelssner -
»im Zentralorgan die Arbeiter zum Wider-
stand gegen die Regierung an(leitete)«
(S. 256). Herrnstadt sei, zusammen mit dem
Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zais-
ser, Anführer einer parteifeindlichen Frak-
tion gewesen, deren Ziel der Sturz Walter
Ulbnichts, letztlich aber die Wiederherstel-
lung des Kapitalismus in der DDR gewesen
sei (S. 269).
Helmut Müller-Enbergs zeigt, daß Herrn-
stadt zwar Kritik an dem autokratischen
Herrschaftsstil Walter Ulbrichts geübt hatte,
ohne aber dessen Ablösung geplant zu ha-
ben. Und mitnichten ging es dem orthodo-
xen Kommunisten um die Abschaffung des
Sozialismus. Das interessanteste Kapitel in
diesem Buch beschreibt ausführlich das Ver-
fahren, in dem Herrnstadt und Zaisser aus
dem Zentralkomitee der SED ausgeschlos-
sen wurden (S. 262-308). Der Verlauf der
entscheidenden 15. ZK-Tagung vom 24. bis
26. Juli 1953 - fünf Wochen nach dem
17. Juni - erinnert in vieler Hinsicht an die
Methoden mittelalterlicher Inquisition.
Zunächst wurden Vorwürfe gegen Zaisser
und Herrnstadt konstruiert, die — wie der
Autor belegt - mit den wirklichen Gescheh-
nissen fast nichts zu tun hatten. Aus einem
von Herrnstadt verfaßten Papier wurde kur-
zerhand die »politische Plattform« einer
»parteifeindlichen Fraktion« — in Wahrheit
jedoch gab es weder eine solche Fraktion
noch eine »Plattform«. Das Inquisitionsver-
fahren entwickelte eine Eigengesetzlichkeit,
die allerdings nicht nur typisch für eine
kommunistische Diktatur, sondern leider al-
len gruppendynamischen Prozessen der Aus-
grenzung von Andersdenkenden eigen ist.
Die Beteiligten versuchten, sich mit absur-
den Vorwürfen gegen Zaisser und Herrn-
stadt gegenseitig zu übertreffen. Es kam zu
einem eifrigen Wettstreit, in dem der als Sie-
ger gelten konnte, der die Ausgestofenen
am unerbittlichsten, unfairsten und unver-
söhnlichsten attackierte.
So meinte der Propagandachef Kurt Ha-
ger, die Zaisser/Herrnstadt-»Plattform«
müsse zurückgewiesen werden, weil sie die
Partei und die Arbeiterklasse »unter den
Einfluß der bürgerlichen Ideologie zu brin-
gen sucht, die eine völlige Wiederherstellung
der kapitalistischen Ordnung in der DDR«
bewirke, »die Angliederung oder Eingliede-
rung in den angeblich demokratischen, in
Wirklichkeit aber erzreaktionären Ade-
nauer-Staat« (S. 272). Otto Winzer erklärte,
»daß sich das vom Genossen Herrnstadt ge-
leitete Zentralorgan selber zum Sprachrohr
des konterrevolutionären Sozialdemokratis-
mus machte«, auf das sich die »faschisti-
schen Provokateure« des 17. Juni stützen
konnten (S. 273). Fred Oelssner sprach seine
Genugtuung darüber aus, daß »unsere Partei
... dieses Geschwür aus ihrem Körper besei-
tigt hat« (S. 292) — das »Geschwür« waren
die ehemals führenden Parteigenossen Zais-
ser und Herrnstadt.
Ebenso abstoßend wie lächerlich wirkt die
Phrasenhaftigkeit der Stereotypen, mit de-
nen in kommunistischen Inquisitionsverfah-
ren gearbeitet wird: »Kapitulantentum«,
»Trotzkismus«, »Menschewismus« usw. — so
lauteten die Vorwürfe, die man, mangels ei-
gener Phantasie, aus den Fraktionskämpfen
in der Kommunistischen Partei der Sowjet-
union entlehnt hatte.
Herrnstadt beschrieb später in seinen Er-
innerungen die Stimmung auf der 15. ZK-
Tagung so: Die Anwesenden seien »mit
wachsender Erregung« den Ausführungen
Buchbesprechungen
gefolgt; »es begann sich das Bild abzuzeich-
nen, daß im Saal zwei verkappte Erzfeinde
der Arbeiterklasse und der Partei sitzen, de-
ren ganze Verworfenheit noch gar nicht ab-
zusehen ist. An mir hingen beständig die
überlegenden, teils auch schon haßerfüllten
Blicke von Dutzenden von Genossen ... An
einigen Stellen versuchte ich mich zu weh-
ren, was infolge des Drucks des empörten
Plenums auf uns von Minute zu Minute
schwieriger wurde« (S. 289).
Zu den Methoden der Inquisition gehörte
auch, daß dunkel Hintergründe und Zusam-
menhänge angedeutet wurden, über die man
nicht genauer sprechen könne, die aber un-
geahnte Abgründe vermuten ließen. So
wurde ein Zusammenhang mit dem Fall des
sowjetischen Geheimdienstchefs Lawrentij
Berija konstruiert, der kurz zuvor abgesetzt
und in einem Geheimprozeß zum Tode ver-
urteilt worden war. Die Furcht, ihnen könne
ähnliches geschehen, aber auch die verinner-
lichten Normen der leninistischen Parteidis-
ziplin brachten Zaisser und Herrnstadt
schließlich dazu, die in kommunistischen In-
quisitionsritualen unentbehrliche »Selbstkri-
tik« zu üben.
Beide erklärten, ihnen sei es zwar zu-
nächst schwergefallen, die Berechtigung der
Vorwürfe einzusehen, aber schließlich müß-
ten sie sie doch »als objektive Wahrheiten
anerkennen« (S. 257). Herrnstadt: »Ich habe
Fehler gemacht, und ich bin entschlossen,
die Fehler, die ich gemacht habe, einzuse-
hen, zu bekennen und zu überwinden. Ich
stehe hier also nicht, um mich zu verteidi-
gen, sondern um zu versuchen, von mir aus
dazu beizutragen, zu erklären, wie es zu den
Fehlern kommen konnte, worin die Fehler
bestanden haben und welche Lehren zu zie-
hen sind.« Allerdings fügte er noch hinzu:
»Aber was nicht war, was objektiv nicht war,
das kann ich nicht eingestehen« (S. 282). In
Wirklichkeit mußte er jedoch zahlreiche nie
begangene Verfehlungen zugeben, um damit
seine Bereitschaft zur Selbstkritik und seine
Einsichtsfähigkeit unter Beweis zu stellen
und zugleich die gefährlichsten Vorwürfe
(so die Zusammenarbeit mit Berija) zurück-
weisen zu können.
Schließlich sah sich Herrnstadt genötigt
zuzugeben, seine Gespräche mit Zaisser
seien »verbrecherische Besserwissergesprä-
che« gewesen: »Jedenfalls will ich damit sa-
gen, so schwer die ganze Sache auch ist:
Daß die Partei dazwischengeschlagen hat,
ZfP 40. Jg. 4/1993
31*
461
das ist zweifellos nicht nur im Interesse der
Partei, sondern auch in meinem eigenen
Interesse gewesen. Ich möchte noch sagen,
daß ich nach der Diskussion ... verstehe,
daß es eine Plattform gewesen ist, die ich
vertreten habe, ... und zwar offenkundig
eine im Wesen sozialdemokratische oder
bürgerliche — das muß ich mir auch noch an-
sehen - parteifeindliche Plattform«
(S. 303 f.).
Nicht nur die Analyse der als »Plattform«
bezeichneten Ausarbeitung Herrnstadts,
sondern auch sein ganzer Werdegang zeigt
die Absurdität dieser Bezichtigungen und
Selbstbezichtigungen. Der Autor verbindet
seine Schilderung des »Falles Herrnstadt«
mit einer ausführlichen Biographie des kom-
munistischen Funktionärs. Herrnstadt, 1903
geboren, arbeitete nach einem abgebroche-
nen Jura-Studium als Lektor, Schriftsteller
und Journalist, war schließlich beim angese-
henen Berliner Tageblatt. Trotz seiner jüdi-
schen Herkunft konnte er dort übrigens bis
zum März 1936 namentlich gezeichnete Ar-
tikel veröffentlichen. Im November 1929
trat Herrnstadt der KPD bei; in den dreißi-
ger Jahren arbeitete er für den sowjetischen
Geheimdienst, floh 1939 ın die Sowjetunion,
war dort 1940 bis 1942 im Generalstab der
Roten Armee tätig. Dogmatisch und uner-
bittlich vertrat er den sowjetischen Stand-
punkt, auch gegen abweichende Einschät-
zungen deutscher . Kommunisten: »Seine
Vergangenheit als bürgerlicher Intellektuel-
ler versuchte er, nun von der kommunisti-
schen Mission überzeugt, durch ein nachhal-
tiges Verfechten des kommunistischen Mo-
ralkodex zu kompensieren, was ihn in man-
chen Auseinandersetzungen zum Hardliner
werden ließ« (S. 47).
Herrnstadt spielte eine nicht unbedeu-
tende Rolle in der sowjetischen Deutchland-
politik, so war er beispielsweise Mitverfasser
vom Manifest des Nationalkomitees Freies
Deutschland und ab 1943 auch Chefredak-
teur der Zeitung Freies Deutschland, des Or-
gans des Nationalkomitees. 1945 kehrte er
zusammen mit anderen kommunistischen
„Emigranten aus Rußland zurück und wurde
‚in der Sowjetischen Besatzungszone aktiv.
Besonders scharf setzte er sich im folgenden
für die kompromißlose Durchsetzung des
stalinistischen Kurses ein und bekämpfte
alle, die in ihrer Einstellung zur Sowjetunion
noch irgendwelche »Schwankungen« oder
Uaklerheiene zeigten. »Ohne richtige Ein-
462
schätzung der Rolle der Sowjetunion, ohne
rückhaltloses Bekenntnis zur Sowjetunion«
gebe es »keinen Weg zum Sozialismus«. Es
gebe auch »kein antisowjetisches Argument,
das nicht entlarvt werden kann. Jedes von ih-
nen ist und muß sein, wenn nicht eine reine
Erfindung, so eine bewußte Verballhornung
der Wirklichkeit«. Daher könne die Antwort
auf die Frage: »Sie verteidigen also alles hin-
sichtlich der Sowjetunion ?« nur lauten: »Al-
les, alles, alles« (S. 86).
Entschieden wandte er sich auch gegen
Anton Ackermanns These eines besonderen
deutschen Weges zum Sozialismus. Dank
der Verdienste von Marx, Engels, Lenin und
Stalin seien die Grundlinien beim Übergang
zum Sozialismus in allen Ländern gleich und
die Folge daraus sei: »Es gibt also nur einen
Weg zum Sozialismus und kann nur einen
geben: den marxistisch-leninistischen«
(S. 89). Allerdings kritisierte Herrnstadt ab
Anfang 1952 zunehmend auch negative Er-
scheinungen in der DDR - und tat dies
manchmal in einer recht offenen Sprache. So
fragte er im Januar 1952 im Neuen Deutsch-
land: »Entspricht die Wirklichkeit in der
DDR dem demokratischen Charakter unse-
rer Gesetze? Entspricht das Leben in unserer
Partei dem Demokratismus unseres Sta-
tuts?«, und antwortete ungewöhnlich scharf:
»Sie herrscht noch nicht bei uns. Nicht in
der Partei, nicht im Staat. Zahllos sind die
Fälle, in denen die Initiative der Massen er-
stickt oder blockiert wird. Zahlreich sind die
Fälle, ın denen anmaßende Partei- oder
Staatsfunktionäre mit dem Mittel des Kom-
mandierens oder Einschüchterns >ihre< Linie
durchsetzen, welche weder die Linie unserer
Partei noch die des Staates ist.« Herrnstadt
appellierte an »die Massen«, solche Miß-
stände unzweideutig beim Namen zu nen-
nen und anzuprangern: »Wir rufen zugleich
den Massen innerhalb und außerhalb unse-
rer Partei zu: Heraus mit der Sprache! Zeigt
uns unsere Schwächen, und wir werden un-
sere ganze Kraft daransetzen, sie zu behe-
ben. Fürchtet keine Nackenschlage von der
Seite oder von hinten« (S. 125 f.).
Bei solchen Initiativen ging es Herrnstadt
allerdings niemals darum, das kommunisti-
sche System und seine Ideologie in Frage zu
stellen. Die angebliche »parteifeindliche
Plattform«, die schließlich zum Sturz
Herrnstadts führte, stellte »den nahezu ver-
zweifelten Versuch dar, eine autoritäre
Herrschaftskonzeption demokratischer zu
Kritik
gestalten, der Führung Legitimität und Ak-
zeptanz zu verschaffen, damit eben die
Arbeiterklasse zu ihrer historischen Mission
kommen könne« (S. 239).
Helmut Müller-Enbergs hat eine Biogra-
phie vorgelegt, wie sie sein soll: Er bringt je-
nes Maf an Einfühlungsvermögen und Sym-
pathie auf, ohne das historisches Verstehen
unmöglich ist, bewahrt aber zugleich die Di-
stanz, welche unabdingbare Voraussetzung
einer um Objektivität bemühten Geschichts-
schreibung ist. An einigen wenigen Stellen
werden die politischen Uberzeugungen des
Autors deutlich, der Pressesprecher der
Fraktion Bündnis 90 im Landtag Branden-
burgs ist. Natürlich kann man darüber
streiten, wenn er schreibt, die kommunisti-
sche Bewegung sei »durch Josef Stalin dog-
matisch-repressiv verkümmert« (S. 347). Ist
der dogmatisch-repressive Charakter nicht
für den Kommunismus überhaupt charakte-
ristisch? Der Autor meint, viele Kommuni-
sten hätten schließlich die »Diskreditierung
einer der faszinierendsten Ideen (befördert),
die bisher menschlicher Verstand hervorge-
bracht hatte« (S. 271).
Einwände, die gegen solche Formulierun-
gen geltend gemacht werden könnten, blei-
ben jedoch marginal gegenüber dem Ver-
dienst des Autors. Sein Buch ist insofern
vorbildlich, als er eine kritische Beschrei-
bung kommunistischer Herrschaftspraxis
gibt, jenseits der (hierzulande in den siebzi-
ger/achtziger Jahren verbreiteten) Beschöni-
gung. der kommunistischen Diktatur, aber
auch jenseits der (in den fünfziger Jahren
üblichen und jetzt leider wieder zunehmend
in Mode kommenden) volkspädagogischen
Anklagehaltung und Schwarzweifmalerei.
Berlin Rainer Zitelmann
Wolfgang Matthias SCHwIEDRZIK: Träume der
ersten Stunde. Die Gesellschaft Imshausen. Ber-
lin 1991. Siedler Verlag. 270 S. 39,80 DM.
Schon in den Jahren der NS-Diktatur wur-
den in Widerstandskreisen Konzepte und
Ideen für einen Neuanfang nach dem Ende
des Hitler-Staates diskutiert. Nach der Ka-
pitulation wurden diese Diskussionen in In-
tellektuellen-Kreisen fortgesetzt. Die »Ge-
sellschaft Imshausen«, über die man bislang
kaum etwas wußte, stellte ein Bindeglied
zwischen dem Anti-Hitler-Widerstand und
Buchbesprechungen
der intellektuellen Szene der unmittelbaren
Nachkriegszeit dar.
Im August 1947 versammelten sich auf
Schloß Imshausen (in Nordhessen) etwa 15
bis 20 namhafte Persönlichkeiten, Publizi-
sten, Professoren und Politiker. Initiator des
Kreises war Werner von Trott, der ältere
Bruder des wegen Beteiligung an der Ver-
schwörung vom 20. Juli 1944 Tagen chteten
Adam von Trott zu Stolz. Die Zusammen-
setzung des Teilnehmerkreises war betont
pluralistisch. Vertreten waren demokratische
Sozialisten, Wortführer des politischen Ka-
tholizismus, aber auch Nationalrevolutio-
näre und Kommunisten. Unter den Teilneh-
mern befanden sich prominente Persönlich-
keiten wie Carl Spiecker von der neugegrün-
deten Zentrumspartei, Walter Dirks und Eu-
gen Kogon als Herausgeber der Frankfurter
Hefte, der kommunistische Historiker Walter
Markov und Carl Friedrich von Weizsäcker.
Was die Mehrheit der Teilnehmer ver-
band, war eine dezidiert antibürgerliche und
antikapitalistische Haltung. Wie auch die
meisten Männer des deutschen Widerstan-
des gegen Hitler, lehnten sie eine Rückkehr
zu der politischen Ordnung der Weimarer
Republik, ja, überhaupt eine »Restauration
der bürgerlichen Demokratie« mehrheitlich
ab (S. 55, 64, 98). Intellektuellen wie Dirks
und Kogon schwebte ein dritter Weg zwi-
schen Kapitalismus und Kommunismus vor.
Deutschland sollte eine Brücke zwischen Ost
und West sein, keinem der beiden feindli-
chen Lager zugehören. Man mißtraute der
demokratischen Massengesellschaft, die
schließlich den Nationalsozialismus hervor-
gebracht habe. Im Mittelpunkt der Überle-
gungen stand die Idee einer »demokrati-
schen Elite«.
Diese Diskussion bestimmte auch das
zweite Treffen der Gesellschaft Imshausen,
zu dem sich Anfang Dezember 1947 erwa
zwei Dutzend Teilnehmer versammelten.
Ein kritischer Diskussionsbeitrag von Wal-
ter Strauß, einem führenden Politiker der
hessischen CDU, charakterisierte die auf der
Tagung vorherrschende Stimmung. Strauß
stellte den Grundkonsens der Gesellschaft in
Frage, indem er monierte, daß im gesamten
Verlauf des Treffens ständig die Notwen-
digkeit einer »sozialistischen Lösung« als
selbstverständlich vorausgesetzt würde
(S. 94). Die Intervention von Strauß stieß
auf entschiedenen Widerspruch. So betonte
Walter Dirks die Notwendigkeit einer Plan-
ZfP 40. Jg. 4/1993
463
wirtschaft, die allein die ökonomischen Pro-
bleme Deutschlands zu lösen vermöge.
Werner von Trott sprach sich für ein
Bündnis aller antibürgerlichen Schichten
aus, d. h. der Arbeiterklasse und des Adels.
Nach seiner Auffassung konnte das vom Ka-
pitalismus hervorgebrachte Proletariat einer
Verbürgerlichung nur entgehen, wenn es
sich mit den besten Elementen »vorkapitali-
stischer, nicht-bürgerlicher Formationen«
verbündete und diese als »Hilfstruppe« und
als »Einübungsstätten für den revolutionä-
ren Einsatz« ansähe (S. 102). Trott schwebte
die Bildung einer ordensähnlichen Gemein-
schaft vor, die sich einerseits an Vorbilder
aus dem Mittelalter, andererseits an das lenı-
nistische Elite-Konzept anlehnen sollte
(S. 58 ff.). So verrieten viele Theorien, die
von den in Imshausen versammelten Intel-
lektuellen hitzig diskutiert wurden, wenig
Realitätssinn.
Die dritte und letzte Tagung der Gesell-
schaft fand im Mai 1948 statt. Diesmal wa-
ren 40 bis 50 Teilnehmer gekommen. Um
keinen hatte man sich so intensiv bemüht
wie um den ehemaligen Nationalbolschewi-
sten Ernst Niekisch, der sich indes jetzt als
unversöhnlicher Parteigänger der SED er-
wies (S. 113 f., 166 f.). Gekommen waren
zur dritten Tagung Persönlichkeiten wie Al-
fred Andersch, Mitherausgeber der Zeit-
schrift Der Ruf, und Theo Pirker, Redakteur
der Zeitschrift Anfang und Ende. Unter den
Teilnehmern waren auch Erich Kuby, Peter
von Zahn, Helene Wessel, Georg August
Zinn, Carl Friedrich von Weizsäcker - und
natürlich wieder Eugen Kogon und Walter
Dirks, die zum »engeren Kreis« der Gesell-
schaft gehörten.
Hans Werner Richter, Mitherausgeber
des »Ruf«, rief die Deutschen noch einmal
beschwörend dazu auf, sich als Brücke zwi-
schen Ost und West zu begreifen. Die Ge-
fahr einer nur noch schwer zu überwinden-
den Teilung Deutschlands war seit dem letz-
ten Treffen gewachsen. Richter beklagte, die
Elbe werde auf der einen Seite als Limes
gegen den vordrängenden Osten, auf der an-
deren Seite als Wall gegen den vordrängen-
den Westen betrachtet (S. 150).
Auf der dritten Tagung brachen jedoch
auch unter den Teilnehmern die Gegensätze
zwischen den Vertretern »westlichen« und
»östlichen« Denkens auf. Werner von Trott,
der gehofft hatte, die politischen Gegensätze
in Form von Gesprächen austragen und
464
fruchtbar machen zu können, sah mit Ent-
setzen, daß sich die »Repräsentanten der
östlichen und westlichen Zonen in zuneh-
mendem Maße in der Sprache ihrer Besat-
zungsmächte bekämpften und in der eigenen
immer weniger zu verständigen vermochten«
(S. 172). Walter Dirks blieb schließlich nur
noch die Aufgabe, das Scheitern der Tagung
zu konstatieren. Die »Vertreter des Ostens«
reisten mit der Genugtuung ab, für »klare
ideologische Fronten« gesorgt zu haben; die
»Vertreter des Westens« hielten sich zugute,
eine Schlacht für die Freiheit des einzelnen
geschlagen zu haben. Die politische Ent-
wicklung in Deutschland ging über die intel-
lektuellen »Träume der ersten Stunde« hin-
weg.
Berlin Rainer Zitelmann
Klaus Hornung / Wladimir MscHwenier-
ADSE (H.): Zur gegenseitigen Kenntnisnahme.
Bausteine für den deutsch-sowjetischen Dialog.
Erlangen/Bonn/Wien 1990. Straube Verlag.
Das vorliegende Werk ist ein Sammelband
mit 22 Beiträgen von 17 deutschen und so-
wjetischen Autoren aus Wissenschaft, Poli-
tik und Publizistik. Sein Themenkreis ist so
umfangreich wie heterogen und erstreckt
sich von Fragen nach den »Grundlagen des
politischen Dialogs«, Wechselwirkungen
von »Politik und Religion«, »Politik und
Moral« über die Stellungnahme zum »neuen
politischen Denken« aus historischer und
gegenwärtiger Perspektive bis hin zu dem
Problem des sog. »gemeinsamen europäi-
schen Hauses« sowie den »Möglichkeiten
der gemeinsamen Lösung globaler Pro-
bleme«.
Angesichts einer solchen Fülle von The-
men und der Heterogenität von Beiträgen
und Beitragenden ist es müßig, den Inhalt
und den Wert des Werkes auf einen gemein-
samen Nenner bringen zu können, ge-
schweige zu wollen.
Nun gibt uns der Titel immerhin einige
Anhaltspunkte, die Frage nach der politi-
schen Relevanz des Werkes zu stellen.
Der bescheidene Haupttitel »Zur gegen-
seitigen Kenntnisnahme« wird mit einem an-
spruchsvollen Untertitel »Bausteine für den
deutsch-sowjetischen Dialog« versehen. Es
drängt sich sofort die Frage auf: Ist das
Werk dieser anspruchsvollen Aufgabe ge-
recht geworden? Von welchen »Bausteinen«
Kritik
ist hier die Rede? Kann es selbst den An-
spruch erheben, Bausteine für einen Dialog
zu sein, wenn mit gleichem Atemzug versi-
chert wird, die Autoren hätten ihre Beiträge
»ohne Kenntnis des korrespondierenden
deutschen bzw. sowjetischen Beitrages« ge-
schrieben und diese Tatsache steigere angeb-
lich »den Wert der Aussagen«? Seit wann
wird — so fragt man sich — die geschriebene
Sprache zur gesprochenen erhoben? Dialog
ohne Gespräch? Oder sind hier die »Bau-
steine« für einen künftigen Dialog vorgese-
hen?
In mehreren Beiträgen ist viel von Dialog
die Rede. So schreibt etwa Manfred Riedel:
»Der Dialog unter Menschen und Völkern
ist die einzig mögliche Alternative zur Ge-
walt« (S. 40).
Jeder Dialog bewegt sich »in der Span-
nung von Denken und Handeln«. Von die-
sem Gegensatz von Denken und Handeln
leitet Riedel den von »Theorie« und »Pra-
xis« ab. »Im Anfang war die Theorie, erklärt
das Denken, demzufolge alles erst gedacht
und dann getan wird. Im Anfang war die
Praxis, erklärt das Handeln, und alles Fol-
gende ist ebenfalls Praxis«. Daraus wird der
Schluß gezogen: »Der Dialog klärt, wie sich
Denken und Handeln zueinander verhalten,
an welchem Punkt der Gedanke das Tun
befruchten, die gedankenlose Tat vermeiden
kann« (S. 41). Diese »metaphysischen« An-
nahmen mögen vielleicht in der philosophia
theoretike von Belang sein; für das politi-
sche Handeln sind sie wenig hilfreich. Das
(politische) Handeln kennt ja »die gedan-
kenlose Tat« ebensowenig wie ein »taten-
loses« Denken. Das Handeln ist ein Wis-
sensbereich schlechthin, und das Denken
geht demzufolge weder ganz ın der theoria
auf, noch steht es im Gegensatz zum Han-
deln, sondern ist eher ein Bestandteil dessel-
ben.
Der politische Dialog bewegt sich viel-
mehr in der Spannung von gemeinsamen
und gegensätzlichen Interessen der gegen-
oder miteinander politisch Handelnden. Die
einzig mögliche Alternative zum gewalttäu-
gen Handeln ist daher das friedfertige Mit-
oder Gegeneinander. Das ist auch das zen-
trale Thema der vorliegenden Schrift und
— wenn man so will — ein gemeinsamer »Bau-
stein« für den deutsch-sowjetischen Dialog.
Die beiden Seiten — die sowjetische wie die
deutsche -— äußern ihren ausdrücklichen
Wunsch nach einer friedlichen Koexistenz
Buchbesprechungen
der beiden Völker. »Es gibt nichts Wichtige-
res auf der Welt als den Frieden; der Frieden
ist der höchste politische Wert der Mensch-
heit« (S. 178), meint der Wortführer der so-
wjetischen Seite, W. Mschwenieradse (Mit-
glied der Akademie der Wissenschaften der
UdSSR). Wer möchte dem heutzutage allein
angesichts der atomaren Bedrohung der
Menschheit noch widersprechen?
Ein weiterer »Baustein« ist ein von beiden
Seiten geäußerter Wunsch nach Versöhnung
zwischen beiden Völkern. Vor allem die so-
wjetische Seite hebt ihre Bereitschaft zur
Versöhnung hervor. Dieses Versöhnungsan-
gebot zeigt, daß die gegenwärtige sowjeti-
sche Führung auf Kooperation setzt und be-
reit ist, die Konfrontation der Nachkriegs-
zeit zu Grabe zu tragen. Das ist selbstver-
ständlich nur zu begrüßen.
Herrscht also ein — fast möchte man sa-
gen - einhelliger Konsens über den gemein-
samen Weg der friedlichen Koexistenz und
der Versöhnung zwischen beiden Völkern,
so zeigt das Werk mit aller Deutlichkeit
auch die Kehrseite der Medaille »Zur gegen-
seitigen Kenntnisnahme«: das schroffe Be-
harren der Sowjetideologie auf ihren ideolo-
gischen Postulaten, die nach wie vor durch
den Geist des Marxismus-Leninismus ge-
prägt sind und weder zur Disposition stehen
noch in Frage gestellt werden dürfen. Wie
kann - so fragt man sich — von den »geisti-
gen Voraussetzungen für den Bau des >ge-
meinsamen europäischen Hauses«« die Rede
sein, wenn die sowjetische Seite (A. Frenkin)
gleichzeitig und mit Nachdruck unter-
streicht: »Die Situation seı durch die Bereit-
schaft zu einer fundamentalen Reform des
Systems gekennzeichnet, die seine ideologi-
schen Grundsätze nicht in Frage stelle«
(S. 279 f.)? »Im jetzigen Stadium handelt es
sich«, fügt Mschwenieradse hinzu, »nicht
um das Begräbnis des Sozialismus, sondern
um seine radikale Erneuerung ... die Ent-
stellung der Theorie und ihre dogmatische
Behandlung ... ließen nicht zu, daß die so-
zialistische Idee in der ursprünglich geplan-
ten Form verwirklicht wurde. Dies bedeutet,
daß nicht die sozialistische Idee scheiterte,
sondern jene Methoden, die man für ihre
Verwirklichung vorschlug« (S. 36). Und ein
anderer sowjetischer Autor (Georgij Schach-
nasarow) meint: »Die Perestroika gibt uns
Gelegenheit, die Werte des wissenschaftli-
chen Sozialismus in vollem Umfang wieder-
erstehen zu lassen« (S. 62).
ZfP 40. Jg. 4/1993
465
In Anbetracht solcher Äußerungen er-
scheint das Zugeständnis des Sowjetideolo-
gen Mschwenieradse (S. 36), daß »in der
UdSSR ... kein echter, humaner Sozialis-
mus zustande (kam)«, als eine Banalıtät.
Was sich heute als »kein echter, humaner So-
zialismus« erweist, kann morgen von der So-
wjetideologie — wie bereits zu alten, schönen
BreZnev-Zeiten — wieder zum »echten Sozia-
lismus« erklärt werden.
Ist ein solches »gemeinsames europäisches
Haus«, in dem die Grundsätze der Sowjet-
ideologie neben der westlichen Lebensweise
existieren, keine coincidentia oppositorum?
Diese wäre dann nicht ein Produkt der
menschlichen Schöpfung, sondern — wenn
man Nikolaus Cusanus Glauben schenkt -
ein göttliches Wesen.
Nun meint Schachnasarow: »Die beiden
Systeme haben weit mehr gemeinsame als
unterschiedliche Merkmale« und es besteht
»die Möglichkeit einer Konvergenz der bei-
den Systeme«. Diese Möglichkeit liegt an-
geblich in dem sog. »Prozeß der Sozialisie-
rung«. Denn »ohne die Sowjetunion, ohne
die umfassende Proklamierung der sozialen
Rechte der Persönlichkeit ... wären die
westlichen Länder eindeutig nicht das, was
sie sind« (S. 61). Man fragt sich nur, ob ein
stundenlanges Weilen in der Schlange, um
etwa 1 kg Fleisch zu kaufen, ebenso zu den
»sozialen Rechten« gehört, die zu konver-
gieren wünschenswert wäre.
Die weitgehenden Konzessionen der
gegenwärtigen Sowjetführung in der Außen-
politik dürfen uns jedoch nicht darüber hin-
wegtäuschen, daß die innenpolitischen Ent-
wicklungen des Sowjetsystems ihre eigene,
von der Außenpolitik unabhängige Dynamik
haben. Bleibt der Marxismus-Leninismus die
offizielle Ideologie des Sowjetstaates, behält
er seine vorherrschende Rolle in der sowjeti-
schen Gesellschaft, so wird er (und nur er)
die Innenpolitik des Landes maßgeblich ge-
stalten. Ein »gemeinsames, europäisches
Haus«, das nur »von außen« seine gemeinsa-
men Konturen hat, »von innen« aber nichts
substantiell Gemeinsames beinhaltet, kann
sich nur als ein wahrer Januskopf erweisen.
Die ım vorliegenden Sammelband verkün-
dete Bereitschaft zur Versöhnung und fried-
lichen Koexistenz der beiden Völker ist be-
grüßenswert. Sollte sie sich jedoch als eine
bloße, keine Seite verpflichtende Verkündi-
gung erweisen oder ausschließlich auf au-
enpolitische Zusammenarbeit nach dem
466
Motto: »keine Einmischung in die inneren
Angelegenheiten« beschränkt werden, so
würde sie immer dann gefährdet sein, wenn
die Außenpolitik in Konflikt mit innenpdliti-
schen Entwicklungen des Sowjetsystems ge-
rät. Von »Bausteinen« zu reden wäre dann
noch verfrüht.
Köln Michael Silnizki
Jean-Francois LyroTAarp: Der Enthusiasmus:
Kants Kritik der Geschichte. Aus dem Franzö-
sischen von Christine Pries. Dt. Erstausg.
Wien 1988. Passagen (Edition Passagen, 17).
Titel der Originalausgabe: L’enthousiasme. La
critique kantienne de l'histoire. Paris 1986.
Edition Galilee.
Lyotard charakterisiert das Vorgehen des
Vermögens der Urteilskraft nicht mehr, wie
Kant, als eine Prüfung der jeweiligen Er-
kenntnisansprüche von Begriffen verschie-
dener Vermögen, sondern - im Zuge des
»linguistic turn« — als eine Entscheidung
über die Legitimität und Kommensurabilität
von Sätzen, im Sinne einer Suche nach
Gegenständen, die ein »Das-ist-der-Fall-Ur-
teil« für den jeweiligen Satz ermöglichen
und somit seinen Anspruch als legitim erwei-
sen. Lyotard sieht im »Enthusiasmus« eine
Analogie in der Methode zwischen den kriti-
schen und den politischen bzw. geschichts-
philosophischen Schriften Kants. Denn
beide Theorieteile werden von Kant nicht
doktrinär entwickelt, sondern gründen auf
dem kritischen Verfahren der Urteilskraft,
die sich bei ihrer Entscheidung über die Gül-
tigkeitsansprüche von Erkenntnissen, d.i.
Sätzen, nicht auf eine vorgegebene Regel
stützt, sondern ihre Aufgabe im »Hinblick
auf die wesentlichen Zwecke der Vernunft«
vollzieht. Die Notwendigkeit dieses Verfah-
rens in der politischen und geschichtsphilo-
sophischen Erkenntnis liegt in der Hetero-
genität der Sätze begründet, die dieses Ge-
biet beschreiben, da weder der Anfang noch
das Ende der politischen Geschichte der
Menschheit in der Anschauung gegeben
sind. So stellt sich in der Frage des Fort-
schreitens der Menschheit zum Besseren
dem kritischen Richter die Aufgabe, ein an-
deres Genre als das kognitive zu finden, da
der Referent, der diesen Satz als gültig oder
ungültig erweisen könnte, noch in der Zu-
kunft liegt. Sofern der Gedanke der fort-
Kritik
schreitenden Freiheitsgeschichte einer Idee
der Vernunft Ausdruck verleiht, und sich
deshalb nicht auf einen Gegenstand in der
Anschauung beziehen kann, ist der Nach-
weis seiner Legitimität und Vereinbarkeit
mit dem Gebiet der Naturerkenntnis nur
über eine symbolische Darstellung in der
Funktion eines Übergangs zwischen den bei-
den Diskursgenres möglich. Im Falle des po-
litischen Satzes von der Entwicklung der
Menschheit zum Besseren hin, benennt Kant
das Geschichtszeichen als solchen symboli-
schen Ubergang. Dieses besteht in einer Be-
gebenheit, die als Indiz für eine bereits voll-
zogene Ausbildung der Idee der Freiheit ste-
hen kann. Der Enthusiasmus als solches
energetisches Zeichen, als ästhetisches Ge-
fühl des Erhabenen, kann es so dem Richter
ermöglichen, den Satz »Es gibt einen Fort-
schritt« als gültig zu beurteilen.
In einer präzisen Analyse der geschichts-
philosophischen Schriften Kants verdeut-
licht Lyotard seine These von der bestehen-
den Analogie zwischen dem kritischen Ver-
fahren und dem Versuch, die Frage nach po-
litischer und geschichtlicher Entwicklung in
einem philosophischen System zu behan-
deln. Seine textnahe Untersuchung entwik-
kelt dabei überzeugend, daß Kants politi-
schen Texten keineswegs nur eine marginale
Stellung im kritischen Unternehmen zu-
kommt, sondern daß sie vielmehr dessen
konkrete Anwendung bedeuten und die
scheinbare Zusammenhanglosigkeit dieser
Texte in der Heterogenität ihrer Gegen-
stände eine Ursache findet. So sieht Lyotard
Kants Anliegen darin, mit Hilfe der Kritik
eine wissenschaftliche Form der politischen
Philosophie zu konzipieren. In einer diffe-
renzierten Darlegung der jeweiligen Schrif-
ten wird im »Enthusiasmus« geprüft, inwie-
weit die jeweiligen Texte bzw. ihre Form,
über geschichtsphilosophische und politi-
sche Fragen zu sprechen, selbst als legitime
Darstellungen ihres Gegenstandes beurteilt
werden können.
Für die Zeit der Postmoderne charakteri-
siert Lyotard die Begebenheit, entsprechend
dem gewaltigen Ereignis der Französischen
Revolution zur Zeit Kants, als das Gefühl
der Gespaltenheit zwischen den Ideen der
Vernunft und ihrer Realisierung. Diese
gegenwärtige Zerrissenheit und Inkommen-
surabilität liegt in der Heterogenität und
Unvereinbarkeit verschiedener Satzfamilien
begründet und treibt die Forderung nach der
Buchbesprechungen
Erforschung mehrerer, selbst heterogener
Zwecke und Ideen hervor. Dieses Gefühl ist
zwar nicht mit dem des Enthusiasmus
gleichzusetzen, kann aber dennoch als ein
erhabenes erkannt werden. Doch durch den
Wandel, der sich in der Forderung des erha-
benen Gefühls vollzogen hat, so Lyotards
Argumentation, kann heute auch dem Kanti-
schen Bemühen um Vermittlung und Kom-
mensurabilität zwischen heteronomen Ge-
bieten nicht mehr nachgegeben werden.
Denn die Anziehungskraft, die dabei für die
Herstellung von Übergängen vorausgesetzt
werden muß, hat sich in der Zeit der Post-
moderne längst als die Macht und das Kal-
kül des Kapitals herausgestellt, das hinter
dem Subjekt der Aufklärung und dem Ge-
danken einer einheitlichen Vernunft zum
Vorschein kam. In Anbetracht der heutigen
Begebenheit schreibt Lyotard dem neuen
Gerichtshof die Aufgabe zu, »Streitfälle zu
entdecken, zu achten« und die »Inkommen-
surabilität der den heterogenen Satzfamilien
eigenen transzendentalen Forderungen fest-
zustellen ...«, nicht aber — motiviert durch
die Angst vor Inkommensurabilität - un-
überwindliche Abgründe zu mifachten.
Lyotards »Der Enthusiasmus« bemiht
sich in seltener Weise durch einen ausführli-
chen und äußerst präzisen Umgang mit den
Primärtexten um eine Würdigung der Kanti-
schen Schriften zur Geschichtsphilosophie
und Politik. Dabei fundiert Lyotard den
Ausgang seiner Überlegungen in den jeweili-
gen Schriften, arbeitet deren Inhalte und Ab-
sichten klar heraus, wenn auch seine weitere
Textinterpretation über den Kantischen An-
467
satz hinausgeht. Zu knapp erscheinen dage-
gen die im letzten Teil angesprochenen
erlegungen zum Erhabenen der Gegen-
wart und die darin enthaltene Kantkritik.
Hier bleibt Lyotard in Genauigkeit und
Deutlichkeit weit hinter seiner vorangegan-
genen Kantanalyse zurück. Durch die kurze,
eher thetische Vorgehensweise wirken seine
Kritikpunkte an dem Subjekt- und Ver-
nunftbegriff der Aufklärung sowie den Kan-
tischen Bemühungen um Vermittlung he-
teronomer Gebiete ohne Zuhilfenahme sei-
ner früheren Schrift »Der Widerstreit« aus
sich heraus unverständlich. Eine Klärung
verlangt auch die in diesem Zusammenhang
geführte Argumentation, daß jede Verwirk-
lichung nur eines Zweckes immer den Preis
des Terrors hätte. Diese Bedenken treffen
meines Erachtens nicht die Idee der Freiheit
im Kantischen Verständnis, da Freiheit bei
Kant niemals inhaltlich verstanden werden
darf, sondern immer nur als eine Idee der
Vernunft, d.i. als ein Noumenon, Realität
besitzt und so jede konkrete Inhaltsbestim-
mung Freiheit unmöglich machen, ja sogar
vernichten würde. Die Forderung nach ihrer
Verwirklichung hat keinesfalls den Tod des
Urteilsvermögens oder gar Terror zur Folge,
sondern ist geradezu die Bedingung der
Möglichkeit einer Koexistenz mehrerer he-
terogener Zwecke. Das Auftreten so grund-
sätzlicher Fragen in diesem letzten Abschnitt
des »Enthusiasmus« verwundert und ist ver-
mutlich in der unausgeführten Form dieses
Teils begründet.
München Andrea Esser
Autoren dieses Heftes
Dr. Karlfriedrich Herb, Stipendiat in Paris
Dr. Jerzy Maćków, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft
der Universität der Bundeswehr, Hamburg
Dr. Christoph Gusy, Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Mainz
Dr. Michael Thöndl, Gast des Deutschen Historischen Instituts, Rom
Dr. Lothar Fritze, wissenschaftlicher Mitarbeiter am H.-Arendt-Institut für Totali-
tarısmusforschung, Dresden
ZfP 40. Jg. 4/1993
Ausschreibung
des Preises der Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnisstiftung
Zum Andenken an Dr. Wolf Erich Kellner (Marburg), den im Jahre 1964 verstorbenen, damaligen
stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Deutschen Jungdemokraten, ist von seinem Vater eine
Stiftung ins Leben gerufen worden. Sie wird treuhänderisch von der Friedrich-Naumann-Stiftung,
Königswinter, verwaltet.
Hiermit wird für das Jahr 1994, zum neunundzwanzigsten Male, der Preis der Wolf-Erich-Kellner-
Gedächtnisstiftung ausgeschrieben. Er wird alljährlich für Arbeiten aus den verschiedensten Fachrich-
tungen (Geistes-, Sozial-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) verlichen, die im Sinne Wolf Erich
Kellners in wissenschaftlich wertvoller Weise
Grundlagen, Geschichte und Politik des Liberalismus
im deutschen, europäischen und außereuropäischen Raum
behandeln. Die Beiträge können theoretische, historische und zeitgeschichtliche Fragestellungen zum
Gegenstand haben oder Gestalt und Entwicklung des gegenwärtigen Liberalismus in Politik, Wirt-
schaft oder Kultur behandeln. Die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Friedrich-Naumann-
Stiftung unterstützt den Preis mit einer jährlichen Spende. Die Höhe des Preises beträgt DM 3.000,—.
Er wird unter Ausschluß des Rechtsweges durch das Kuratorium verliehen, dem Dr. Sibylle Busch
(Hamburg), Dr. Friedrich Henning (Bonn), Karla Kellner (Pforzheim), Privatdozent Dr. Rainer Koch
(Frankfurt), Roland Kohn, MdB (Bonn), Prof. Dr. Dieter Langewiesche (Tübingen), Peter Menke-Glük-
kert (Bonn), Joachim Schmidt (Braunfelds), Thomas Siekermann (Hannover), Prof. Dr. Hans Vorländer
(Dresden), Dr. Barthold C. Witte (Bonn) und Karl Zissel (Wetter) angehören. Die Verleihung findet im
November 1994 statt.
Schriftliche Arbeiten von mindestens 100 Seiten Umfang in deutscher, englischer oder französischer
Sprache, die bis zum Zeitpunkt der Verleihung nicht veröffentlicht sind, müssen bis zum 31. März 1994
in dreifacher Ausfertigung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung, Archiv des Deutschen Liberalismus,
Theodor-Heuss-Straße 26, 51645 Gummersbach (Tel. 02261 / 3002-401) eingereicht werden.
Das Kuratorium der
Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnisstiftung
Dr. Barthold C. Witte
Vorsitzender
ahnen Staatskommunikation
. 4 Dokumentation der Frühjahrs- Arbeitstage des Deutschen
Staatskommunikation Kommunikationsverbandes BDW e.V. und der Hoch-
schule für Verwaltungswissenschaften Spever vom
22./23. April 1993
Herausgegeben von Dr. iur. Hermann Hill,
Universitätsprofessor an der Hochschule für Verwaltungs-
wissenschaften Speyer, Minister a. D.
Doku etaren der Irahjıhes Veber vage
des Dents ben Keeani sten coc baado BEA =S
undok r Pha hetat ir veraci sistas teats Mates 1993. 152 Seiten. Kartoniert DM 48,-/OS 340,-/SFr 45,-
run ISBN 3-452-22757-X
nl
Wie sag ich's meinem Bürger/meiner Bürgerin
daß die Furopaische Union notwendig ist?
daf die Deutsche Linheit Geld koster?
daß die Müllverbrennungsanlage gebaut werden muß?
daß Jugendsekten gefährlich sind?
daß Lebensmittel verdorben sind?
Carl Hesieanns Veray
daß ich seine/ihre kritische Sympathie und sein/ihr
Ingagement brauche?
Diese und ahnliche Fragen werden mit dem neuen Begriff »Staatskommunikation« umschrieben. Sie
ist in Anlehnung an die integrierte Unternehmenskommunikation mehr als bloße Öffentlichkeitsar-
beit, Information oder Aufklärung. Sie ist auch mehr als bloßes Marketing staatlicher Fntscheidun-
gen. Sie ist schließlich etwas anderes als bloße Politikverkündung und mehr als Politikvermittlung.
Sie ist vielmehr kommunikative Politikentwicklung durch ständigen Dialog auf allen Ebenen.
Im Rahmen der Frühjahrs-Arbeitstage des Deutschen Kommunikationsverbandes BDW e. V., die in
Zusammenarbeit mit der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer am 22./23. Aprıl 1993
unter der Leitung von Professor Dr. Hermann Hill in Speyer stattfanden, versuchten »Kommunika-
tionsarbeiter« aus dem privaten wie dem öffentlichen Bereich Pramissen erfolgreicher Kommunika-
tion zwischen Staat, Bürgern, Wirtschaft und Gesellschaft sowie Möglichkeiten ihrer Umsetzung
aufzuzeigen.
Im Ergebnis wurden praktische Handlungsanleitungen für Staatskommunikauon erarbeitet: Wie
macht man das - Staatskommunikation? Wie organisiert man den Dialog mit dem Bürger,
so daß er Demokratie und Staat selbst
aktiv miterleben, daß er Mitwirkungsmög-
lichkeiten erkennen und Einfluß ausüben
a Er az =
kann, daß er Vertrauen in den Staat Daten, Fakten, Namen
gewinnt oder wieder gewinnt, dafs ihm zu den Institutionen des öffentlichen Lebens fin-
aber auch bewußt wird, daß er Teil dieses det man in dem großen Nachschlagewerk Die
Staates ist, mit Rechten und Pflichten als Bundesrepublik Deutschland. Staatshandbuch. In
Staatsbürger. 18 Banden (Bund, Verbande, Landesausgaben)
werden Zuständigkeiten, Anschriften, Telefon-,
Telefax- und Telexverbindungen sowie An-
f , , sprechpartner genannt. Für weitere Informatio-
Der vorliegende Band dokumentiert die nen: Carl Heymanns Verlag. 50926 Köln. FAX
Tagung mit allen Referaten, Diskussions- 02 21/4 60 1069, -% 22 21/4 62 1097.
beitragen und Podiumsgesprachen.
H Cand ins
Verlag
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Germania restituta
Wissenschaftliches Symposion anläßlich des 60. Geburtstags von Klaus Stern
am 11.Januar 1992 am 7. und 8. Februar 1992 in der Universität zu Köln
Herausgegeben vom Kreis seiner Schüler Prof. Dr. Joachim Burmeister,
Prof. Dr. Michael Nierhaus, Prof. Dr. Fritz Ossenbühl, Prof. Dr.
Günter Püttner, Prof. Dr. Michael Sachs, Prof. Dr. Peter J. Tettinger
1993. XI, 191 Seiten. Leinen DM 65,-/ÖS 460,-/SFr 61,-
ISBN 3-452-22606-9
Germania restituta — das große politische und staatsrechtliche
Ereignis der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren —
war Thema eines Symposions, das Schüler und Freunde für
Klaus Stern zum 60. Geburtstag veranstaltet haben. Die Anspra-
chen, Vorträge und Diskussionsbeiträge dieser Zusammenkunft
werden mit dem vorliegenden Band veröffentlicht.
Aus dem Inhalt:
Vorträge zu dem Thema »Strukturprobleme des gesamtdeutschen Bun-
desstaates« von Karl Heinrich Friaufund Michael Nierhaus
Vorträge zu dem Thema »Grundrechtsverwirklichung im vereinten
Deutschland« von Günter Püttner und Michael Sachs
Vorträge zu dem Thema »Deutschland in Europa« von Antonio Truyol y
Serra und Joachim Burmeister
Vortrag zu dem Thema »Das Bundesverfassungsgericht im Prozeß der
deutschen Einigung« von Roman Herzog
Neben dem von Klaus Stern herausgegebenen mehrbändigen
Werk »Deutsche Wiedervereinigung« bietet damit auch dieses
Buch eine Fülle von Gedanken zur staatsrechtlichen Diskussion
des deutschen Einigungsprozesses.
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; Einführung von Kravsstof Michalski | Hrsg. Von Keyzstot Michalski
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-Ating von Geusau. Ralf. DahrendbH, El “HORS. 204 Seiten. kartoniert
“Renata Eworkin. Roger Eichegar ay ko IM, Bee (08 zu, m sy Pn
| Gertrude Himmelfarb, Leszek küla- f. Rani | i
“kowski; Berhard Lewis, „Robert OR Über die ke
| Shaeonunn, Charles Taylor NEN ‚Eng, Von KEY zstot Michalski
1 B42: Seiten, Leinen nitt sete DE Hihi 208 Seiten; karioniert ;
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Band in
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Von Dr. Penny Middeke Seay En RE
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Bioethik und Menschenrechte/
Bioéthique et Droits de ’ Homme
Herausgegeben von Dr. Francoise Furkel und Professor Dr. Heike Jung
1993. X, 159 S. Kt. DM 80,-/ÖS 750,-/SFr 75,-. ISBN 3-452-22586-0
(Annales Universitatis Saraviensis, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung, AVS Bd. 127)
Erster Teil/Premiére Partie: Menschen-
rechtliche Grundfragen / Problèmes fon-
damentaux relatifs aux Droits de
Homme
La Convention européenne des droits de
Phomme et la bioéthique
Die Bio-Ethik im Lichte der Europäischen
Menschenrechtskonvention
par/von Jean-Paul Jacqué
De l’anonymat du donneur en matiére
d’insémination artificielle. Les politiques
suivies et leurs implications juridiques en
France, en République fédérale d’Alle-
magne et en Suéde
Zur Anonymität von Spendern bei der
künstlichen Befruchtung. Rechtspolitische
Positionen und ihre juristischen Auswir-
kungen in Frankreich, Deutschland und
Schweden
par/von Francoise Furkel
Le statut juridique du foetus en tant que
donneur d’organe
Thesen zum Rechtsstatus des Foetus als
Organspender
par/von Regine Kellnar
Zweiter Teil/Deuxiéme Partie: Die
Genomanalyse / L’Analyse du genome
Le séquencage du génome humain: liberté
de la recherche et démarche démocratique
Die Kartierung des menschlichen
Les implications des développements de la
technologie génétique sur la médecine et
la société
Folgen gentechnologischer Entwicklun-
gen für Medizin und Gesellschaft
parlvon Klaus D. Zang
Les problémes fondamentaux engendrés
par l’analyse du génome en droit civil
Grundprobleme der Genomanalyse im
Zivilrecht
par/von Johann Paul Bauer
Dritter Teil/Troisieme Partie: Die Ethik-
kommissionen / Les comites d’ethique
Les comites d’ethique dans le cadre du
droit frangais
Der Standort der Ethikkommissionen im
französischen Recht
par/von Dominique Thouvenin
Les comités d’éthique au regard du droit
public
Zur Stellung von Ethik-Kommissionen
unter Offentlich-rechtlichen Aspekten
par/von Klaus Grupp
Le röle des comites d’éthique dans les
decisions en matiére d’éthique médicale
Zur Rolle von Ethikkommissionen beı
Genoms: Freiheit der Wissenschaft und Medizin-ethischen Entscheidungsprozes-
demokratische Kontrolle sen
par/von Marie-Angele Hermitte par/von Heike Jung
Carl 189 9 93
Heymanns
erlag
Erste Erfahrungen mit dem neuen Recht bereits eingearbeitet
Auernhammer
Bundesdatenschutzgesetz
Kommentar
Von Rechtsanwalt
Dr. iur. Herbert Auernhammer,
Bundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht a. D.
3., neubearbeitete und erweiterte Auflage
1993. LXVI, 608 Seiten. Leinen. DM 98,- / ÖS 700,- / SFr 92,-
ISBN 3-452-20091-4
(ai ae ee ee ee
Die Neuauflage
des bekannten und in der Praxis bewährten
Kommentars erläutert das neue Bundesdaten-
schutzgesetz vom 20. Dezember 1990. In die
Kommentierung einbezogen sind die auf-
schlußreiche Amtliche Begründung zum Regie-
rungsentwurf, die vielfältigen Materialien aus
dem parlamentarischen Gesetzgebungsverfah-
ren sowie Literatur und Rechtsprechung auf
aktuellem Stand.
Bereits berücksichtigt
werden konnten erste Erfahrungen mit dem
novellierten Gesetz. Das Werk gibt damit auch
Auskunft zu den — im öffentlichen wie im pri-
vaten Bereich — schon aufgetretenen mannig-
faltigen Auslegungsproblemen und Streitfra-
gen.
Ein besonderes Augenmerk
bei der Bearbeitung galt der Entstehung der
Vorschriften des neuen BDSG aus denen des
BDSG 1977 und somit den Unterschieden zwi-
schen altem und neuem Recht im Detail.
Carl
A 20
Als praxisnahe Hilfe
fur den Umgang mit den Bestimmungen des
Bundesdatenschutzgesetzes findet der Kom-
mentar seine Benutzer insbesondere in allen
Zweigen der Wirtschaft, der Verwaltung, der
Sozialversicherung, des Gesundheitswesens,
der Rechtspflege, der Medien sowie in den
Institutionen von Wissenschaft und Forschung.
Der Autor
ist ein hervorragender Kenner der Materie. Er
hat das BDSG 1977 maßgebend vorbereitet
und im Prozeß seiner Entstehung und Umset-
zung mitgeprägt. Zahlreiche Veröffentlichun-
gen belegen das.
In den Besprechungen
ist die Vorauflage als »uneingeschränkt emp-
fehlenswert«, als »handliche und verläßliche
Hilfe« und als »mühelos lesbar« bezeichnet
worden.
169 $ 93
Einbanddecken
Ich bestelle bei Ihnen: 225399093900
Einbanddecken fiir Zeitschrift fiir Politik (lieferbar ab Februar 1994)
Jahrgang 1993 Jahrgang 19____
DM 18,00 zuzüglich Zustellgebühr
Ort, Datum Unterschrift
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Genaue Anschrift KD-Nr.
(möglichst Druckbuchstaben oder Stempel)
Carl Heymanns Verlag KG - Luxemburger Straße 449 - 50939 Köln
Inhaltsverzeichnis
Aufsätze
Dr. Karlfriedrich Herb, Paris: Naturgeschichte und Recht. Rousseaus Weg
vom Discours sur l’inégalité zum Contrat social .......... 2222222000.
Dr. Jerzy Maćków, Hamburg: Die Entspannungspolitik der Bundesrepublik
Deutschland gegenüber der Entwicklung in Polen in den siebziger und
achtziger Jahren... 5.2 e rannte
Prof. Dr. Christoph Gusy, Mainz: Selbstmord oder Tod? Die Verfassungs-
reformdiskussion der Jahre 1930-1932. ....... 0. ccc cece eee e eee eee
Dr. Michael Thöndl, Rom: Das Politikbild von Oswald Spengler
(1880-1936) mit einer Ortsbestimmung seines politischen Urteils uber
Hitler und Mussolini 223.2. 22202 2er
Kritik
Besprechungsaufsatz
Dr. Lothar Fritze, Dresden: Entmystifizierung der Idee der Nation; zu:
Manfred Hättich: Deutschland — Eine zu späte Nation. Mainz/München
1990, v. Hase & Koehler Verlag .......... 0... cece eee cee teen ees
Buchbesprechungen ss ccccccan tad ede icodkceade teh annarrar neer
Autoren dieses Heftes ........... 0... ccc ccc cece cece een neeneenenees
Ausschreibunp: essen des at hh sie doe ke ete aaa
Seite
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468
Deutsche Wiedervereinigung
Die Rechtseinheit
Arbeitskreis Strafrecht
Herausgegeben von Professor Dr. Ernst-Joachim Lampe
Band I:
Vorschläge zur
prozessualen Behandlung
der Kleinkriminalitat
1993. IX, 161 Seiten. Leinen DM 54,-1ÖS 390,-/SFr 51,-
ISBN 3-452-22612-3
A. Aufsätze
Dieter Dölling: Die Behandlung der Kleinkrimi-
nalität in der Bundesrepublik Deutschland (alte
Bundesländer)
Anna-Maria Amold: Rechtsdogmatische Lösun-
gen für den Umgang mit der Kleinkriminalität -
Reflexionen zum Strafrecht der ehemaligen
DDR
Ernst-Joachim Lampe: Ein neues Konzept für die
Kleinkriminalitat: Das Verfehlungsverfahren
zwischen Bußgeld- und Strafverfahren
B. Entwurf
Entwurf eines Änderungsgesetzes zur Strafpro-
zeßordnung, zum Bundeszentralregistergesetz
und zum Gesetz über die Schiedsstellen in den
Gemeinden
C. Begründung des Entwurfs
D. Anhang
1. Gesetz über die Schiedsstellen in den
Gemeinden vom 13. September 1990
2. Schematische Darstellung des Verfehlungs-
verfahrens nach den 55 445-448 a StPO-Entw.
H
Band II:
‚Die Verfolgung von Regie-
rungskriminalität der DDR
nach der Wiedervereinigung
1993. XV, 238 Seiten. Leinen DM 78,-/OS 550,-/SFr 73,-
ISBN 3-452-22596-8
Emst-Joachim Lampe, Aufarbeitung der DDR-Vergan-
genheit durch das Strafrecht? / Ermst-Joachım Lampe,
Rechtswidriges Gesetz? Strafbarer Gesetzgeber? /
Klaus Lüderssen, Was läßt der Rechtsstaat vom
Unrecht übrig? / Klaus Weber, Praktische Probleme
der Verfolgbarkeit staatlichen Unrechts der ehemali-
gen DDR/ Hans-Ludwig Schreiber, Strafrechtliche
Verantwortlichkeit für den Schußwaffengebrauch an
der Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR /
Friedrich Wolff, Die strafrechtliche Beurteilung der
Schüsse an der innerdeutschen Grenze als Teilkom-
plex der juristischen Aufarbeitung der »Regierungs-
kriminalität« in der DDR / Jörg Arnold, Strafgesetzge-
bung und -rechtsprechung als Mittel der Politik in
der ehemaligen DDR/ Jutta Limbach, Strafrechtliche
Verantwortlichkeit für die Ausübung politischer
Strafjustiz in der ehemaligen DDR / Friedrich-Chri-
stian Schroeder, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für
die Ausübung politischer Strafjustiz in der ehemali-
gen DDR / Otto Triffterer, Was kann das Volkerstraf-
recht zur Bewältigung der Regierungskriminalität ın
der DDR beitragen? / Ulfid Neumann, Strafrechtliche
Verantwortlichkeit für die DDR-Spionage gegen die
Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung / Bernd
Schunemann, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für
die DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik nach
der Wiedervereinigung / Wilfried Bottke, Die Verfol-
gung von Regierungskriminalität der DDR nach dem
Beitritt der neuen Länder.
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-Friedrich August ‚Frhr. von ‚der Hoyer x hristian Gar; von Krockow ` |
Hermann Lubbe . Niklas Lubmann “Theodor Maunzt- ee ae
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“CARL HEYMANNS VERLAG RG KÖLN: BERLIN ©
Redaktion
Prof. Dr. Karl-Heinz Nusser, Ludwigstraße 8, 80539
München. Alle Beiträge sind an die Redaktion zu adres-
sieren. Dasselbe gilt für Rezensionsexemplare.
Beiträge werden nur zur Alleinveröffentlichung ange-
nommen. Die Annahme zur Veröffentlichung muß
schriftlich erfolgen. Mit der Annahme erwirbt der Verlag
vom Verfasser alle Rechte zur Veröffentlichung, auch
das Recht der weiteren Vervielfältigung zu gewerblichen
Zwecken im Wege fotomechanischer oder anderer Ver-
fahren. Für Manuskripte und Bücher, die unaufgefordert
eingesandt werden, wird keine Haftung übernommen.
Verlag
Carl Heymanns Verlag KG, Luxemburger Straße 449,
50939 Köln, Telefon 0221 - 46010-0, Telefax
02 21-460 1069, Telex 8 881 888, Landeszentralbank
37 008 173, Postgiroamt Köln 820 20-501.
Nachdruck und Vervielfältigung
Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Bei-
träge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
1993 ISBN 3-452-22539-9
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt
insbesondere für Vervielfaltigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verar-
beitung in elektronischen Systemen.
Bezugsbedingungen
Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr. Jahrespreis
98,00 DM, für Studenten und Referendare (unter Ein-
sendung eines Studiennachweises) jährlich 74,60 DM
zuzüglich Versandkosten. Einzelheft 26,00 DM zuzüg-
lich Versandkosten. Aufkündigung des Bezugs bis 15. 11.
zum Jahresablauf.
Anzeigen
Heymanns Anzeigen-Verwaltung, Luxemburger Str. 449,
50939 Köln, Telefon 0221 - 4601056/63, Telex
8 881 888. Die Anzeigen werden nach der Preisliste vom
1.1.1991 berechnet. Landeszentralbank 37 008 173,
Postgiroamt Köln 228 03-501.
Druckerei
Gallus Druckerei KG Berlin
Inhalt
Aufsätze
Axt, Heinz-Jürgen: Kooperation unter Konkurrenten - Das Regime als Theorie der
außenpolitischen Zusammenarbeit der EG-Staaten...... 1... cc ccc cece eee e eens
Dahm, Helmut: Zum Lebenswerk von Gustav A. Wetter - Ist das Zeitalter der Ideo-
logien zu Enders een eee aa cea ane eee ta Oe tes eee
Fröhlich, Stefan: Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional - Amerikanische Vor-
stellungen auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Ordnung .........-.......-.
German, Christiano: Zur politischen Rolle protestantischer Sekten in Lateinamerika .
Gusy, Christoph: Selbstmord oder Tod? Die Verfassungsreformdiskussion der Jahre
193021932, nee ee ae ee a ER shea e eeu
Herb, Karlfriedrich: Naturgeschichte und Recht - Rousseaus Weg vom Diskours sur
L’inegalite zum Contrat social... .... ccc cece cece enn e seen e en nnnn
Hofmann, Rupert: »Memmingen« - ein Medienprodukt. Das Abtreibungsverbot zwi-
schen Recht und Agitation ........::2222eeeseeeneeneneeeeneernnneerenen nen
Homann, Harald / Albrecht, Clemens: Die Wiederentdeckung Osteuropas. Herders
Perspektiven und die Gegenwart ...........2:2ee2eoeeeeneneeeeene een nenn
Hübinger, Gangolf: Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum .....
Kley, Roland: F. A. Hayeks »wissenschaftliche« Verteidigung des Liberalismus: eine
| i) eee ee er
Lengyel, Zsolt K.: Warten auf das Wunder. Dilemmata des Systemwandels in Ungam .
LII0O=-T II nenne aaa
Lübbe, Hermann: Oswald Spenglers »Preußentum und Sozialismus« und Ernst Jün-
gers »Arbeiter«. Auch ein Sozialismus-Rückblick ....... 2.2 c cnn n en nnees
Maćków, Jerzy: Die Entspannungspolitik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber
der Entwicklung in Polen in den siebziger und achtziger Jahren. ....................
Ottmann, Henning: Hegel und Carl Schmitt ......... 0. cc cece ence c nee eaee
Sachs, Michael: Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren gegen Erich
Honecker... hse coh ie Ve eas rege eh oor Wena ee io Mea Bian dara
Thöndl, Michael: Das Politikbild von Oswald Spengler (1880-1936) mit einer Orts-
bestimmung seines politischen Urteils über Hitler und Mussolini ..................
Berichte und Diskussionen
Kaiser, André: Pradominanz und Wettbewerb. Zur britischen Unterhauswahl 1992 ..
Kritik
Besprechungsaufsätze
Fritze, Lothar: Entmystifizierung der Idee der Nation ......... ununun,
Literaturberichte
Lißke, Michael: Gab es eine »Reagan-Revolution»? Reagans Präsidentschaft und
das politische System der USA im Urteil amerikanischer und britischer Politikwissen-
bah eT ana ee cae ane a tba hoe A sd N D E oe ee
Rieger, Günter: Wieviel Gemeinsinn braucht die Demokratie? Zur Diskussion um
den Kommunitarismus ..... a...n anannnaannnnnnnnarenenooanrerrernnn n
Seite
241
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210
304
VI
Buchbesprechungen
Backes, Uwe / Jesse, Eckhard / Zitelmann, Rainer (H.): Die Schatten der Vergan-
Heii Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus (Klemens von Klempe-
POR) EEE ances A ee es E Cae A TENET
Delumeau, Jean: Rassurer et protéger. Le sentiment de sécurité dans l’Occident d'autre-
fois (Martin: Mulsow) .... o...on en eu 0 een:
Demandt, Alexander (H.): Deutschlands Grenzen in der Geschichte (Ernst R. Sand-
VOSS) sangen wk eee ete ee uo wba heeds
Derian, James der / Shapiro, Michael J. (H.): Jnternational/Intertextual Relations.
Postmodern Readings of World Politics (Wolfgang H. Leidhold).................
Druwe-Mikusin, Ulrich: Moralische Pluralität. Grundlegung einer Analytischen
Ethik der Politik (Nikolaus Lobkowicz) ........... 00 cc cee cee ce ceeeeeeneeene
Ehrhart, Hans-Georg: Die europdische Herausforderung. Frankreich und die Sicher-
heit Europas an der Jahrhundertwende (W. Kowalsky) ............0ccccecceeee:
Ewald, Francois: L'État providence (Martin Mulsow) ..............0200000e08:
Gornig, Gilbert-Hanno: Der Hitler-Stalin-Pakt: eine völkerrechtliche Studie (Dieter
Blumen Witz) arenei ee ern
Heinen, Ernst: Katholizismus und Gesellschaft. Das katholische Vereinswesen zwi-
schen Revolution und Reaktion (1848/49 bis 1853/54) (Heinz Hürten) ............
Hettlage, Robert (H.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine historische Bilanz
(Karl-Heinz Schmidt) 4... ae eek nthe
Hobbes, Thomas: Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das
englische Recht (Henning Ottmann) ........... 2.0 csc e cece cere ence eee e nen
Höhne, Heinz: Die Zeit der Illusionen. Hitler und die Anfänge des 3. Reiches
1933-1936 (Rainer Zitelmann) .......... 22222 cece cece cece cece sac eeeeenes
Hornung, Klaus / Mschwenieradse, Wladimir (H.): Zur gegenseitigen Kenntnis-
nahme. Bausteine für den deutsch-sowjetischen Dialog (Michael Silnizki) ..........
Käsler, Dirk u.a.: Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen
Qualität von Politik (Henning Ottmann) ............ 000 cc cece eee eee eeeeeees
Kennedy, Paul: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und
militärischer Konflikt von 1500 bis 2000 (Mir A. Ferdowsi)..........0.cc0eceees
Kielmansegg, Peter Graf: Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der natio-
nalsozialistischen Vergangenheit (Rainer Zitelmann) ..............02+00 00 eee
Kluxen-Pyta, Donate: Nation und Ethos. Die Moral des Patriotismus (Henning Ott-
MANN) see ee Nee ee Greases
Koch, Claus: Meinungsführer. Die Intelligenzblätter der Deutschen (Ralf Altenhof) . .
Kowalsky, Wolfgang: Frankreichs Unternehmer in der Wende (1965-1982). Bilanz
und Perspektiven (Gunter Ammon) ............00cceeccceecccceeeeeeeceeees
Lyotard, Jean-Francois: Der Enthusiasmus: Kants Kritik der Geschichte (Andrea
Esser) ee ee ee a wa ae ee EN ERBE
Mewes, Horst: Einführung in das politische System der USA (Christian Tuschhoff)
Mohler, Armin: Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Hand-
buch (Henning Ottmann). ......uu. 30 ag sen
Müller, Josef: Die Gesamtdeutsche Volkspartei. Entstehung und Politik unter dem Pri-
mat nationaler Wiedervereinigung 1950-1957 (Rainer Zitelmann) ..............-
Müller, Klaus-Jürgen: Armee und Drittes Reich 1933-1939. Darstellung und Doku-
mentation (Rainer Zitelmann) ........... 00 cece e ese eee eee eect eet nenne
Muller-Enbergs, Helmut: Der Fall Rudolf Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem
17. Juni (Rainer Zitelmann) sees een ested
114
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116
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227
344
116
460
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Band I. Arbeitswelt und Bür-
gerstaat (Christoph Nonn) ............ 0. cee eee e eee cece teen eee eeee ren
Oppeln, Sabine von: Die Linke im Kernenergiekon/flikt. Deutschland und Frankreich
im Vergleich (Gisela Müller-Brandeck-Bocquet) ..........--.e-2222eeeenenenn
Pflüger, Friedbert: Richard von Weizsäcker. Ein Portrait aus der Nähe (Ernst R.
SAndVvoss). 42.2.0 rer
Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker (Karl-Heinz Schmidt) .....
Rein, Gerhard: Die protestantische Revolution 1987-1990. Ein deutsches Lesebuch
(Eckhard Jesse) uns seneese ne ee ee Eee
Robbins, Keith (H.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life
in the Twentieth Century (Reinhard Meier-Walser)........... 2222202 eeeeeen.
Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit (Rainer Zitelmann) ..............
Schwiedrzik, Wolfgang Matthias: Träume der ersten Stunde. Die Gesellschaft Ims-
hausen (Rainer Zitelmann) ..........-222e2cseenseeseneenneeneeeennnn nen
Sontheimer, Kurt: Deutschlands Politische Kultur (Ralf Altenhof) ...............
Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in
die Demokratie (Karl-Heinz Schmidt) ..............:ccceecceeeeeeeecencens
Voegelin, Eric: Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung (Henning Ott-
Mann) ensure einer
Walzer, Michael: Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert
(Nikolaus: Lobkowicz) u... 2.2. ee ie 14s Sesees
Weidenfeld, Werner / Korte, Karl-Rudolf: Die Deutschen. Profil einer Nation (Rai-
rier Zitelmann) een paeeew des eS ach Cheat vi we he RAE
Wein, Martin: Die Weizsäckers. Geschichte einer deutschen Familie (Ernst R. Sand-
VOSS o a a a FO ES Ee hee ae tae
Weizsäcker, Carl Friedrich von: Bewußtseinswandel (Ernst R. Sandvoss) .........
Wenturis, Nikolaus: Griechenland und die EG. Die soziopolitischen Rahmenbedin-
gungen griechischer Europapolitiken (Klaus Hornung) ............... rc. seen
Willms, Bernard (H.): Handbuch zur Deutschen Nation. Bd. 1: Geistiger Bestand und
politische Lage. Bd. 2: Nationale Verantwortung und liberale Gesellschaft. Bd. 3:
Moderne Wissenschaft und Zukunftsperspektive (Karlheinz Weißmann) ...........
Zitelmann, Rainer: Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit (Karl-Heinz Schmidt)
Zollitsch, Wolfgang: Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialis-
mus. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Jahre 1928 bis 1936 (Rainer Zitelmann) ...
Mitteilungen
Deutscher Bundestag vergibt Wissenschaftspreis und Medienpreis für Arbeiten zum
Parlamenlanimus.....2. 2 DERE ee DUS een
Nachruf
Kaltefleiter, Werner: Nachruf auf Rudolf Wildenmann ........... 0.00 cece eee
VII
106
343
222
458
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119
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221
228
338
452
108
232
353
VIII
Sachregister
Seite
Abtreibungsurteil von Memmingen
— dessen Behandlung in Teilen der Medien ................... cece eeuees 1
Aufbau des Ostens
— dessen ökonomische Seite durch die EG-Staaten..............00000 eee: 285-303
Britische Unterhauswahl 1992.......... 0... cece cece ec eee e ene een nennes 98-105
Contrat social von Rousseau ....... 0... cece ce cee eee eet e ee eee nenn 355-371
Dezision bei Carl Schmitt ......... 2.222 cc ccc cc cece ccc cece cece ence eeenes 235, 240
Entscheidungsmonopol
— außenpolitisches der EG-Staaten ........... 0. cece ccc ete eee ee ee eeeee 241-259
Entspannungspolitik
- der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem kommunistischen Polen .. 372-391
Europäische politische Zusammenarbeit .............0 0. ccc eee c cece eee eeaes 241-259
Existenualismus
— als politischer bei O. Spengler und Ernst Jünger ...........22.22 2222000. 151-156
Faschismus
-in der Auffassung O. Spenglers .............0 cc cece cece cence eeeeee 418-443
Freund und Feind
= bei Carl Schmitt u. ee rain ee Feb 238 f.
Französische Revolution im Denken Spenglers...............-..00e eee eeeeee 442
Gemeinsame Aufen- und Sicherheitspolitik der
SEG- SGEN sera en ee eee see adeeb eth Sanna 241-259
Gerechtigkeit nach F. A. Hayek ........... 00. cece cece eee e nee e eee e ee ennaes 37 f.
Gesellschaftsvertrag bei Rousseau ............. 0. ccc cece eee e cece eee e eens 355-371
Hegel und Carl Schmitt oeieo urn 223-240
J. G. Herders Wirkung in Westeuropa ............-. 0-02 eee cece eee ee nn 86-91
Erich Honecker
— das Strafverfahren gegen ihn ............ 0... cece cece c eee e cece eeee 121-137
Ideologien
— Frage nach dem Ende totalitarer Ideologien...................-ee eee 164-183
Individualismus
- im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts .................--00 eee 60-78
Industrialisierun
- und Soziale Frage in Deutschland... mean. en eek eas 67 f.
Jünger, Ernst
- und dessen Idee eines preußischen Sozialismus .................00 ee 0. 138-157
Kommunitarismus
= Literatur dažu nenn see Ov ea eee OMe awed es 304-332
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
- (KSZE) deren Aufgabe in Ost- und Mitteleuropa .....................- 285-303
Kultur
- deren Begriff bei Herder ............ 0. ccc cece eee e ne eeneeees 92-94
Kulturprotestantismus u... a 70 f.
Liberalismus
- im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts ............. 2.222202... 60-78
— bei Hegel und bei Carl Schmitt ............- 222220 enns nennen n nenn 236 f.
S DELF A: Hayek an. an ee nee re 30-59
Markt Sete
- dessen Theorie bei F. A. Hayek ........ uu 2... cee ccc eee ee eens 45-58
Nation
- und staatliche Einheit bei M. Hattich ............ 0... cece cece eee eee 444-450
Naturzustand
bei): ) ROUSSEAU nn. al ne pe sere esas 355-371
Politische Ordnung
~ deren Begründung bei Rousseau ........... 0... ccc eee cece tte 355-371
- deren Begründung bei Oswald Spengler ................22e2erseerenenı 418—441
Politische Philosophie
- des Liberalismus a ns eh 31
Politische Theologie
— bei Hegel und Carl Schmitt ............ 0. cece cence eect cece eeeees 237 f.
Postsozialismus
ain Ungarn nissen 260-284
Protestantische Sekten
- ihr Wirken in Lateinamerika ............. 0. cece eee eee cee tenes 184-209
Regime u een oeb etwas read 241-259
Schmitt, Carl
- dessen Haltung bei der Reformdiskussion der Weimarer Reichsverfassung 407, 413 f.
- dessen Übereinstimmung mit Oswald Spengler ..................000005 424
- und sein Verhältnis zu Hegel ..... 2... 0-2 e cere cece cnenes 233, 240
Sicherheitskonzeptionen
der USA für Europa csc. cr ardor eee aan 285-303
Sozialismus
— dessen zwangsläufiges Scheitern nach F. A. Hayek ..................... 42-44
Sozialistische Idee
~ deren Überlebensfähigkeit ...........-.2..22- cece eee eee e ete nenn 164-183
Oswald are
— und dessen Idee eines preußischen Sozialismus ................. 0.000005 138-157
- dessen politische Theorie... 4.32... nr ha dese dense 418-443
Status-quo
— als Resultat des Regime-Ansatzes .......... 0. cee cee cece e ete e eens 241-259
Strukturkrise des Sowjetsozialismus
— deren Verkennung durch die Regierung des Bundeskanzlers H. Schmidt... 372-391
Versöhnung
bei G:F W, Hegel... 240
Ungarn
— dessen politische Entwicklung von 1989 bis 1992... ....... 0000 cece eee 260-284
Ungleichheit
— deren Herleitung bei Rousseau .............. 0. ccc eee eee tenes 355-371
US-Präsenz
= 11. Europa 2220,22 285-303
Weimarer Reichsverfassung
— die Möglichkeit ihrer Reform .............--..-2ceeseeeeeeennennenn 393-417
Wetter, Gustav A.
— zu dessen Lebenswerk............. 0c ccc cece ec cee cece cece eeeeeeee 158-164
X
Autorenregister
Seite
Albrecht, Clemens ........ cc cc cece cece cece cece cen nennen onen 79
AXE Heinz Jigen „anwesend 241
Dahm, Helmut 203.2... sa ara neern ernennen 158
Erntze. Löthär:. oa. kcal a BES ee ne ee en 444
Frohlich. Stefan... u Se ee ee Do ee 285
German, Christiano us. een ee Rs 184
Giusy; Christoph „umsehen era RE 393
Herb. Karltriedrich ccs 36 ee eee Beet wesen 355
Hofmann, Rüpen cesce rimia uena ea OEE R EA 1
Homann Harald... 5... 2 ecset a a RRO OS 79
Hübinger. Gangolf sun... sea ae 60
Kaiser, André 5.2 sok Go 6k whe whe a ee 98
Kaltefleiter, Werner au... 00002 ee ha aod ners Nee 353
Kley; Roland... ee seele Een oe 30
Lengyel Zsolt Re... Ae a ae ar 260
Lißke: Michael: 142.222 0 see Bee een 210
Lübbe. Hermannı...:2...,2..n Kr nenne meer Le 138
MACROW, JEY ora een weed ome led een ie 372
Otimann: Henning ..u05.50u0 einer lieh 233
Rieger Günter scx ole gc heave ee re are 304
SACHS; Michaela. a nd ard Seg ee ites, en PM ania cae 121
Thöndl, Michael... 1.u.u.323 sone nee ee Pee Seek ees 418
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