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Die „Leitrchrikt für’ Volkonäftseheit: ah Sozialpolitik“ erscheint jährlich in 12 Heften
im Gesamtumfange von otwa 50 Bogen. — Der jährliche Bezugspreis beträgt für
Österreich K300-—, für die übrigen Nachfolgestaaten der ehemaligen Österreichisch-
ungarischen Monarchie und für Deutschland M50°—, für die anderen Länder M 75° —
Sämtliche für die Schriftleitung bestimmte Zuschriften und Sendungen sind zu ichti
' an: Dr. Franz X. Weiß, Wien, IV., Schwarzeñbergplatz 16.
Inhalt des 1.—3. Heftes.
(Neue Folge, Band I.)
Seite
Can Menger E E E E HER 1
Vorbemerkung zur Neuen Folge ................ re re 3
Abhandlungen.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. Von Landes-Archivdirektor Dr. Theodor
Mayer, Privatdozent an der Universität Wien ............... cece eee 5
_ Wirtschaftliche Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain. Von
Univ.-Prof. Dr. Richard Schiiller, Sektionschef im Bundesministerium fiir
AuBeres, Wien: er. ee: 34
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete der Innenkolonisation im Deutschen Reiche.
Von Dr. Emanuel Hugo Vogel, o. ö. Professor an der Hochschule für
Bodenkultur; Wien „u: u... ach ian 44
Der Staatsbegriff der „‚verstehenden Soziologie“. Von Dr. Hans Kelsen, o. ö. Pro-
fessor an der Universität Wien ........... 0... cc cece eee ec cette tenes 104
Miszelle.
Der nordische nationalökonomische Kongreß in Stockholm, August — September
1920. Von Fritz Hayek (Wien) ............... cece eee eee BETRETEN 120
Berichte und Sammelbesprechungen.
Überblick über das Schrifttum des Geldwesens von 1914 bis 1920. Von Dr. Richard
“Korschagl (Wien) „sinne dere 126
Einzelbespreehungen..............-.--.c.r0.00.. 138
Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen Werke.
Seite | Beiträge zur Statistik der Republik
Annuaire international de statistique Österreich. 5. Heft. (Volkszählung.)
(Winkler)... 2.0... sce e cence ees 162 | (Winkler) ..... 0. ccc cece eee eens 166
Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Binding und Hoche, Die Freigabe
Handbuch für Industrielle und der Vernichtung lebensunwerten
Gewerbetreibende (Setdler-Schmid) 153 | Lebens (Gleispach)............... 181
(Fortsetzung des Inhaltsverzeichnisses auf der 3. Umschlagseite.)
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FÜR
VOLKSWIRTSCHAFT UND SOZIALPOLITIK
HERAUSGEGEBEN VON
ERNST PLENER, RICHARD REISCH, OTHMAR SPANN,
FRIEDRICH WIESER
SCHRIFTLEITUNG FRANZ X. WEISS
NEUE FOLGE, 1. BAND
WIEN UND LEIPZIG
FRANZ DEUTICKE
1921 Ä
e e.
a e
u ee
Inhalt.
Abhandlungen. N
Amonn, Alfred, Das Ziel der Wiihrungspolitik!) ........ 00.02... cece eee ee 40]
Brichta. Rudolf. Die Bedeutung der Warenborsen für den wirtschaftlichen Wieder-
aufbau Österreichs aussen 324
Kelsen, Hans, Der Staatsbegriff der .,verstehenden Soziologie" ............. 104
Maver, Hans, Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wert-
PECHNUNG cad cornea oad} esteem yen bata We areata aus ee ee 41
Mayer, Theodor, Wesen und Entstehung des Kapitalismus ................. 5
Mises, Ludwig, Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen!)...........00085 409
Moeller, Hero, Die sozialukonomische Kategorie des Wertes................ 207
Schüller. Richard. Wirtschaftliche Bestimmungen des Friedensvertrages von
Saint-Germain. ...... TEE A L ATT Core re .. dd
Schumpeter, Joseph, Carl Menger oo... 0.00... ccc cece cece eee ene eee enee 197
Spann, Othmar, Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellschaftslehret) 477 -
Strigl, Richard, Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten ..... 593
Vogel, Emanuel Hugo, Die Gesetzgebung auf dem Gebiete der Innenkolonisation
ini: Deutschen. Reichert 2 Dear . 44
=, — —, Stabilisierung oder vaadine als Ziel der W Ane deh DB
Weiß, Binz X., Produktionsumwege und Kapitalzins') ....... TEE ad 493
Winkler, Wilhelm, Die statistischen Verhältniszahlen .........2..2.... een N
Zaglits, Carla, Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend ......... . 615
Miszellen.
Almquist, Ernst, Volkswirtschaft und Biologie ............. cece eee e eens 144
Hayek, Fritz, Der nordische nationalikonomische Kongreß in Stockholm, August
bis September KON Westone EET ae aie nate Davie Lawes eee eee 120
Berichte und Sammelbesprechungen.
Andreae, Wilhelm, Die Ilee der Norm ..... 0.0... ccc cee cee eee eens T49
Kerschagl, Richard, Überblick über das Schrifttum des Geldwesens von 1914
DIS TON ee ER ET E E eee ee SEN LEER 126
Vogel, Emanuel Hugo, Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten
Literatur ..... er RE EE RE rare rer:
H Das Heft 7—9 (S. 401—592) dieses Bandes, in dem diese Abhandlung erschien. trug folge
Vermerk:
Die Beiträge dieses Hefles wurden von ihren Verfassern
Friedrich Wieser
zu seinen siebzigsten Geburtstag gewidmet.
C. > a a E
tet oo
nden
Inhale.
Einzelbesprechungen....................
Seile
OEL eee ere 138, 365, 756
Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen Werke.
Scito
American Relief Administra-
tion, Mitteilungen (Winkler).... 768
Annuaire international de
statistique (Winkler) ......... 162
Arbeitgeberund Arbeitnehmer.
Handbuch fiir Industrielle und
Gewerbetreibende (Seidler-Schmid) 153
Behrsen und Genzmer, Valuta-
elend und Friedensvertrag (Zaglits) 378
Beitrige zur Statistik der Re-
publik Österreich. 5. Heft.
(Volkszählung.) (Winkler) ...... 166
Bendixen, Geld und Kapital (Ker-
SChagl sea ee 126
— Das Inflationsproblem ( Kerschagl) 126
— Kriegsanleihen und Finanznot
( Kerschagl)
— Währungspolitik und Geldtheorie
im Lichte des Weltkrieges (Ker-
ehay j ana ee es 126
Binding und Hoche, Die Freigabe
der Vernichtung lebensunwerten
Lebens (Gleispach) ............. 181
Bortkiewicz, PBevölkerungswesen
CW RNIN): ass ee aaa 386
Brauer, Die Neuordnung der
deutschen Finanzwirtschaft und
das neue Reichssteuersvstem
FI og) een 160
Budge, Der Kapitalprofit (Zaglits) 365
Bulletin mensueldel’office per-
manent (Wainkler)............. 162
Le Bureau Municipalde Statisti-
que de la Ville dAmsterdam
FIEDLER) une engen 388
Cassel, Memorandum on the world’s
monetary problems (Aerschagl) . 127
Christen, Die absolute Währung des
Geldes ( Kerschagl) ase oo 127
Conrad, Finanzwissenschaft (Vogel) 343
Dalberg, Die Entthronung des
Goldes (Kerschagl) ............. 126
— tieldentwertung (Kerschagl) ... 126
Debes, Socialisering i @sterrike
(PIONUCN) vison ot caw resi nad kasei 159
Dietze v., Stolypinsche a an
und Feldgemeinschaft (Vogel) .
Döring, Die Geldtheorien seit Knapp
NEID) ee 372
Dove, Allgemeine Wirtschaftsgeo-
graphie (Th. Mayer)
Seite
Eheberg,Finanzwissenschaft( Vogel) 343
Einleitende Denkschrift zur Er-
hebung über die Produktion(Inter-
nationales Arbeitsamt) (Při-
bram)
Eulenburg, Das Inflationsproblem
(Kerschagl)
Fisher, Stabilizing the Dollar (Ker-
SOMO) accion ata testinal E 127
Fildes, Finanzwissenschaft (Vogel). 343
Flügge, Dierassenbiologische Bedeu-
tung des sozialen Aufsteigens und
das Problem der immunisierten
Familien (Delannoy) ........... 168
Gatzen, (ieldersatz (Kerschagl) .. 126
— Scheckgeld, organische Reichs-
finanzreform (Kerschagl)
Geldern, Erwerbslosenfürsorge( Ber-
CUNY Narren 3X2
Gesell, Die natiirliche Wirtschafts-
ordnung durch Freiland und Frei-
geld (HKerschagl) ............... 126
Gide und Rist, Geschichte der
volkswirtschaftlichen Lehrmeinun-
gen (Spann): cecdsiseaset sews as 756
Günther, Krisis der Wirtschaft und
der Wirtschaftswissenschaft (Seid-
ler- Schmid) u... 368
Hahn, Von der Kriegs- zur Friedens-
währung (Kerschagl) ..........- 126
Hainisch, Ist der Kapitalzins be-
rechtigt? (Plener)... 138
Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften 1. u. 2, Liefe-
rung (N Panini). 157
Hegel, Der Staat (Spann) ....... 110
— Vorlesungen über die Philosophie
der Weltgeschichte (Spann) .... 391
Herder, Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit (Spann) TiO
Hermberg, Kampf um den Welt-
markt (O. Zaglits) ..........45. 169:
Herzfelder, Die volkswirtschaft-
liche Bilanz und eine neue Theorie
der Wechselkurse (Kerschagl) ... 126
Heyde, Abriß der Sozialpolitik
(Seidler-Schmid) RENTE 151
Heyn, Über tGeldschöpfung und
Inflation (Zaalits) .........-..- 369
— Unser Geldwesen nach dem Kriege
(Kerschagl) nassen 126
ae = - Per
——— ~% lhl
Inhalt.
Scite
Hildebrand, Das Wesen des Geldes
(Kerschaül) „u... 222000 126
Hildebrand, Norm und Entartung
des Menschen (Andreae)........ 49
— Norm und Verfall des Staates
(Andreae) u etete rien 749
Hilferding, Das Finanzkapital
(Berschägl). 2... 126
Hollitscher, Die Sozialisierung des
Geldes (HKerschaql) .....22.2..:... 126
Hüpeden. Zur Arbeitslosenversiche-
rung (Seidler-Sch mid) Re 153
Humboldt, Über die Aufstaben des
Geschichtsschreibers (Spann) ... TTO
Kahn, Unsere Valutasorgen ( Ker-
SHAQ) EENT E T ET 126
Kaulla, Die Grundlagen des Geld-
werts (Zaglits) oo. c ccc eee eee ee 367
Kerschagl, Die Währunestrennung
inden Nationalstaaten (Nerschagl) 126
Klein. Die Revision des Friedens-
vertrages von St. Germain (Seidler) 172
Knapp, Staatliche Theorie des Geldes
2. Aufl. (Kerschagl) 00.06.0668. 126
— Staatliche ‘Theorie des Geldes.
d. Aufl. (Weiß) ....... cc. 372
humpmann. Die Arbeitslosigkeit
und ihre Bekämpfung ( Bartsch ) 382
Lenz, Der Wirtschaftskampf der
Völker und seine internationale
Regelung (Hold-Ferneck) ....... 173
Liesse, La statistique (Winkler)... 765
Moll, Logik des Geldes (Kerschagl) 126
Morgenstern. Arb-citslosenversiche-
rung und deutsche Erwerbslosen-
firsorge (Bartsch) ...2.22.22.... 353
Nickel. Normale Wirtschaftswissen-
schaft (Fürth) .... 0... cece eee 304
Osborne, The upper Silesian question
and Germanv’s coal problem
(Seidler-Schmid) . 0.00.00. c eee ee 154
Osorio, Theorie mathématique de
l’echange (Schams) ............ 143
Oswalt, "Vorträge über wirtschaft-
liche Grundbegriffe (Mises).... .142
Einlauf von Büchern und periodischen Veröffentlichungen......
|
Scite
Pedersen. Socialisering 1 Tyskland
PA UT sanken rss
Plenge. Die Stammformen der ver-
gleichenden Wirtschaftstheorie
FMalieh) Sansa
Rosenberg, Valutafragen (Ker-
BONIS EEEE EESE EE et
Waltershausen,
Deutsche Wirtschaftsgeschichte
(En. MAGN) Xi ab ace eee wk os
Schiff, Die amtliche Statistik und
die neuen Erfordernisse der Zeit
(Winkler) 2225222202 a
— Der Arbeiterschutz der Welt
Baa Kasper
Schmidt, Gutsiibergabe und Aus-
gedinge (Vogel) oo... cc cece eee
Statistisches Jahrbuch fiir das
Deutsche Reich (Winkler) . 390
Steiner. Die Währungsgesetzrebung
der Sukzessionsstaaten Oste rreich-
Ungarns (Zaglits) .. 0... cc cee
Studders. Das TaubescheSystem der
Ziehkinderiiberwachung(C.Zaqlits)
Taylor, Der Gildenstaat (Th. Mayer)
Thorsch, Sozialisierung und Gesell-
schaftsverfassung (Voegelin) ....
Tyszka, Grundzüge der Finanz-
wissenschaft (Vogel) 2.......... 343
Vissering, Financial and economie
problems (Kerschagl) ...2.......
Volkszählung vom 31. Jänner1920,
Ergebnisse (Winkler) 222.22...
Wolzendorff, Geist des Staats-
rechts (Seidler) oo... ccc ee eee
Zaglits, Valutasturz — Valuta-
hebung (Werschagl) ............
Zawadski, Les mathematiques ap-
pliquées a VPéconomie politique
(SOUS) Series nass
Zeßner-Spitzenberg. Einführung
in die Landarbeiterfrage (Spann) 385
Zusammenschlußbestrebungen
der Privatbankiers (O. Zaglits)..
Sartorius v.
359
158
163
354
764
159
162
127
166
393
126
163
188, 304, 772
Carl Menger f.
Am 26. Februar 1921 ist Carl Menger gestorben. Einer jener
Meister unserer Wissenschaft ist dahing“gangen, die auf lange Zeit
hinaus Richtung und Methode der Forschung bestimmen.
Vor fünfzig Jahren hat Menger mit seinen „Grundsätzen der
Volkswirtschaftslehre‘‘ der theoretischen Nationalökonomie neue
Bahnen gewiesen. Zwölf Jahre später hat er in den „Untersuchungen
zur Methode der Sozialwissenschaften“ durch die Scheidung zwischen
den theoretischen Wissenschaften, deren Forschungsgebiet das Gene-
relle ist, und den historischen Wissenschaften, die das Konkrete, In-
dividuelle der Erscheinungen zum Gegenstande haben, eine Er-
kenntnis gewonnen, die damals für die Nationalökonomie von heson-
derer Wichtigkeit war, deren Bedeutung aber über das gesamte
Gebiet der Sozialwissenschaften weit hinausreicht. Menger hat
außerdem die ökonomische Theorie durch eine Reihe nicht allzu
zahlreicher aber umso wertvollerer Arbeiten bereichert. Als Lehrer
War er uniibertroffen. Carl Menger war jedem äußeren Erfolg
abhold; nicht der Ruhm, die Wahrheit allein war sein Ziel.
Die Drucklegung des ersten Heftes dieser Zeitschrift war zu
weit vorgeschritten, als daß es möglich gewesen wäre, die Persönlich-
keit und das Lebenswerk Carl Mengers an dieser Stelle gebührend
zu würdigen. Dies wird im nächsten Hefte durch einen Aufsatz von
Joseph Schumpeter geschehen.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Nene Folge, 1. Band. 1
Digitized by Google
Vorbemerkung zur „Neuen Folge“.
ee yan,
Nach mehrjähriger Pause erscheint die „Zeitschrift für Volkswirt-
schaft, Sozialpolitik und Verwaltung” in neuer Gestalt. Wie der geänderte
Namen „Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik,
Neue Folge” besagt, wird sie sich nunmehr auf das Gebiet der Wirt-
schafts- und Gesellschaftslehre beschränken, während die Behandlung
von Fragen des öffentlichen Rechtes, für die jetzt anderweitig Vorsorge
eetroffen ist, ausgeschieden werden soll. Da die Zeitschrift den Verlust
von zweien ihrer Herausgeber, Eugen von Böhm-Bowerk und Eugen
von Philippovich, zu beklagen hat, sind an deren Stelle Richard Reisch
und Othmar Spann in die Reihe der Herausgeber eingetreten. Das
Sekretariat der Schriftleitung hat Dr. Franz X. Weiß übernommen.
Die Herausgeber.
Digitized by Google
Wesen und Entstehung des Kapitalismus.)
Von Theodor Mayer.
Es gibt kaum ein zweites Wort, welches heute in gleicher Weise
bestimmte und unbestimnite, gefühlsmäßige Vorstellungen und Empfin-
dungen des Abscheues und der Bewunderung auslösen würde wie das Wort
„Kapitalismus“. Es bildet die Signatur eines ganzen Zeitalters, das vom
stolzesten Aufstiege der Wirtschaft, von ungeheuren Reichtumansamm-
lungen, aber auch von tiefem Elend und großem Unrecht ausgefüllt war.
Die Politik hat sich des Ausdruckes bemachtigt und ihn zu einem der
zuekräftigsten Schlagwörter unserer Zeit gemacht.:) Nicht minder hat
dieser Begriff auch auf die Wissenschaft eingewirkt, hat ihr neue Gedanken
zugeführt, fruchtbare Probleme aufgeworfen, große Arbeiten angeregt, die
für den Nationalökonomen, für den Soziologen und ebenso für den
Historiker in gleicher Weise von Bedeutung sind. Wer immer sich mit
der Frage nach den letzten treibenden Kräften in der Geschichte des
Wirtschaftslebens beschäftigt, der kann diesen Problemen nicht aus-
weichen, zu sehr sind sie heute in den Mittelpunkt des Kampfes der
Meinungen und Weltanschauungen gerückt.
Freilich hat aber der schillernde Charakter und der gewaltige Gefühls-
inhalt des Begriffes zur Folge gehabt, daß die Diskussionen und Kontro-
*) Die Abhandlung soll eine programmatische Untersuchung sein, welche sich
bestrebt, die Erscheinung und Bedeutung des Kapitalismus im Wirtschaftsleben
zu erklären. Aus diesem (runde war es wohl notwendig, die allgemeinen historischen
Vorgänge zu berücksichtigen, sie in kurzen Worten zu beleuchten, aber nur insoweit
heranzuziehen. als sie die geschichtliche Grundlage für die Erkenntnis des Wesentlichen
hieten. Ich hoffe, bei anderer Gelegenheit die hier nur knapp angedeuteten geschicht-
lichen Zusammenhänge in breiterer Darstellung behandeln zu können.
Vgl. W. Bauer. Das Schlagwort als sozialpsvehologische und geistesgeschicht-
licke Erscheinung. Historische Zeitschrift. Bd. 122.
6 RR mn 2.2. “Theodor Mayer.
versen vielfach aneinander vorbeigegangen sind, viele haben gleicherweise
vom „Kapitalismus“ geschrieben und doch keineswegs über das Gleiche
gehandelt. Häufig empfanden die Schriftsteller das Bedürfnis, vorerst zu
erklären, was sie unter „Kapitalismus“ verstünden. Es liegt daher eine
Reihe von Begriffsbestimmungen vor, von denen keine der anderen gleicht.
R. Passow hat in seiner Studie ,, Kapitalismus‘*:) eine kritische Zusammen-
stellung gegeben, welche eine ins einzelne gehende Zergliederung der bis-
herigen Auffassungen unnötig macht. Passow hat allerdings getrachtet,
die Gegensätze schärfer hervortreten zu lassen, als es der Wirklichkeit ent-
spricht, die einigenden Momente sind doch größer, als man nach der Lektiire
von Passows Buch annehmen könnte. Im folgenden sollen aber mit Hin-
weis auf diese Schrift nur die wichtigsten Meinungen berücksichtigt
werden.
Als Schlagwort ist „Kapitalisnus” bei den sozialistischen Schrift-
stellern entstanden. Von diesen au:zehend, hat es auch in die wissen-
schaftliche Literatur Eingang gefunden. Es soll daher mit Karl Marx
und seiner Schule begonnen werden, nicht weil seine Auffassung die älteste
wäre, sondern weil sie die bedeutendste Auswirkung gefunden hat. Darnach
bedeutete Kapitalismus das Wirtschaftssvstem, in dem die kapitalistische
Produktionsweise herrscht, in dem die Arbeiter vom Besitz der Produk-
tionsmittel getrennt sind, die Kapitalisten den Mehrwert für sich in
Empfang nehmen, also Ausbeutung treiben. Dieses System führt auf
dem Wege der Konzentration, der Krisen und der Verelendung zur
sozialen Revolution und zum Zusammenbruch, dem der sozialistische
Staat mit der Aufhebung des Privateigentumes folgt. Der wesentliche
Gegensatz zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Wirtschaft
liegt demnach im Privateigentum; wie dieses dann genützt wird, ist eine
sekundäre Frage, inwieweit die Verhältnisse den Annahmen von Karl
Marx nahe kommen, hängt übrigens auch von produktionstechnischen
Voraussetzungen ab, die hier nicht näher zu besprechen sind. Wenn daher
andere Schriftsteller von kapitalistischen Zeitaltern, etwa dem 16. Jahr-
hundert, sprechen und diese Epochen in einen Gegensatz zu den übrigen
hringen, so kann das nicht im Sinne des Marxismus geschehen, denn es
wird niemand behaupten wollen, daß es vorher oder nachher ein Privat-
2) G. Fischer, Jena 1918. Dort finden sich die genanen Hinweise auf die Literatur.
so dab von einer Wiederholung an dieser Stelle abgesehen werden kann.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. {
eventum nicht gegeben habe, daß vorher oder nachher den Arbeitern
das Eigentum an den Produktionsmitteln zugekommen und der volle
Arbeitsertrag im Sinne von Karl Marx zugeflossen sei.
Wenn nun auch die marxistische Geschichtsauffassung, die auf eine ein-
heitliche geschichtliche Entwicklung im Sinne Darwins abzielt, im ein-
zelnen nicht übernommen worden ist, weil die Widersprüche zu den tat-
sächlichen Verhältnissen allzu offenkundig waren, so hat doch der marxisti-
sche Entwicklungsgedanke selbst außerordentlich starke Wirkungen ausge-
‘ost. Von dem vorausgesetzten Urkommunismus, der den Anfang der Kon-
struktion bildet, führt eine gerade Linie zu jenem neuen Kommunismus im
sozialen Zukunftstaat, dem der Kapitalismus unmittelbar vorausgeht. Der
Kapitalismus ist förmlich die Ursache dieses Kommunismus, weil er durch
seine innerste Tendenz, die Ausbeutung, den Zusammenbruch, die soziale
Revolution hervorruft. Er stellt also eigentlich ein destruktives Zeitalter
innerhalb der Gesamtentwicklung dar, positive Errungenschaften kommen
ihm kaum zu. Diese Auffassung ist nicht ohne Rückwirkung auf die ganze
Literatur geblieben; sie macht sich bei den Historikern um so empfindlicher
bemerkbar, weil diese sich das für die Wirtschaftsgeschichte im allgemeinen
so überaus notwendige Rüstzeug der theoretischen Nationalökonomie, mit
dem allein die Irrtümer von Karl Marx entscheidend bekämpft werden
können, keineswegs im notwendigen Ausmaße zu eigen gemacht haben.
Nach marxistischer Auffassung müßten wir daher annehmen, daß es
einen Kapitalismus vor dem 19. Jahrhundert nicht gegeben habe, weil ja
sonst der kommunistische Zukunftstaat schon länest hätte kommen müssen.
G. Salvioli:) ist daher auch lebhaft bestrebt, den Nachweis zu liefern,
daß man die Wirtschaft im alten Rom nicht als kapitalistisch bezeichnen
könne. Demgegenüber wurde schon darauf hingewiesen, daB es schon
vor dem 19. Jahrhundert) einen Kapitalismus gegeben hat, daß sich gleiche
3) G. Salvioli: Der Kapitalismus im Altertum. Nach dem Französischen über-
setzt von K. Kautsky jun., Stuttgart, J. H. W. Dietz 1912. Passow a.a. O. 8. 37.
Anm. hat nicht erkannt, daB Salviolis Ansicht marxistisch ist.
') Vgl. L. Brentano: Die Anfänge des modernen Kapitalismus. München 1916,
Vel. F. Gerlich: Geschichte und Theorie des Kapitalismus. München-Leipzig 1913.
sowie die bekannten zusammenfassenden Werke von Ed. Meyer und J. Beluch. Von
Ed. Meyer außerdem: Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums. Weiters:
R. Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken
Welt. 2. Aufl. 1912, M. Weber: Art. Agrargeschichte (Altertum), im Hwb. d. Staatsw.
3. Aufl. Bd. 1, K. Riezler: Die Finanzen u. Monopole im alten Griechenland,
Berlin 1907.
8 i Theodor Mayer.
Wirtschaftssysteme zu sehr verschiedenen Zeiten feststellen lassen. Schon
das alte Babylon kannte eine Periode des Kapitalismus, in Griechenland
führte neuerdings der Ausbau des Wirtschaftslebens im 8. bis 7. Jahr-
hundert zu einer kapitalistischen Epoche, die dann im Zeitalter des Hellenis-
mus von einer weiteren abgelöst wurde, welch letztere allerdings ihren
Sitz im Osten fand. Die großen politischen Umwälzungen und Neubauten,
welche den Eroberungen Alexander des Großen folgten, hatten auch eine
Verschiebung des Mittelpunktcs der damaligen Weltwirtschaft zur Folge
gehabt.
~ Im Rom der Kaiserzeit machte sich der Kapitalismus nicht weniger
geltend, auch dort ist er zur Herrschaft gelangt, um dann einer auf mehr
oder weniger genossenschaftlicher Bildung beruhenden Wirtschaftsform zu
weichen.s) Als sich aber in der spätrömischen Zeit der politische und wirt-
schaftliche Schwerpunkt nach Byzanz verschob, gelangte dort wiederum
die kapitalistische Richtung zum Durchbruche. Das wirtschaftliche Zentrum
blieb. aber nicht in Byzanz, Venedig übernahm im früheren Mittelalter das
Erbe. Dort begann jetzt eine Periode des Aufschwunges, des Aufbaues der
wirtschaftlichen Macht und auch des Kapitalismus, der dann auf ganz
Italien und in der Folge auch auf Deutschland übergriff.
.. Wenn auch im folgenden nur von Deutschland gesprochen werden
soll, und weder der antike noch der italienische Kapitalismus, ebensowenig
wieder in Holland, der in England oder gar in Amerika in den Kreis der
Betrachtung gezogen werden soll, um die Beweisführung nicht allzu schr
belasten und ausgestalten zu müssen, so muß doch auf diese kapitalistischen
Wellen hingewiesen werden, weil sie uns beweisen, daß der Kapitalismus
wiederholt unter ganz bestimmten Voraussetzungen aufgetreten, dann aber
wieder abgeflaut ist und einer Periode der Ruhe, der Sammlung Platz
semacht hat, daß dem Individualismus wieder eine genossenschaftliche
Form gefolgt ist. Wenn daher nirgends nach dem Kapitalismus der Zu-
sammenbruch kam, so ist damit die Unhaltbarkeit der marxistischen Auf-
fassung nachgewiesen. Wir müssen uns aber fragen, welche Bedeutung
der Kapitalismus mithin für das Wirtschaftsleben eigentlich hatte. Unter-
scheidet sich der moderne Kapitalismus in seinem Wesen von dem der
früheren Jahrhunderte und Jahrtausende? Um diese Frage zu beantworten,
ist es notwendig, das Wesen des Kapitalismus überhaupt zu bestimmen.
5) L. M. Hartmann: Der Untergang der Antike. Wien-Leipzig 1910, S. 26.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 9
Auch für diese Frage ist die Anschauung von Karl Marx über das
Wesen des Kapitales von großer Bedeutung geworden. Marx sieht im
Kapital die treibende Kraft, „Kapital ist Mehrwert heckender Wert“.
Die Besitzer des Kapitales sind darnach nur die zwangsweise ausführenden
Organe eines geheimnisvollen, höheren, unpersönlichen Willens. Ebenso
wie die marxistische Auffassung von der Entwicklung sehr wirksam
geworden ist, so ist infolge dieser Auffassung vom Kapital der gefühls-
mäßige Unterton, daß Kapitalismus in irgendeiner Form Ausbeutung sei,
fast überall mehr oder weniger stark zurückgeblieben, was zur Folge hatte,
daß eine ganze Reihe von Gelehrten die Verwendung des Ausdruckes wegen
des politischen Beigeschmackes verpönt haben. Gleichwohl wurde die
Lehre, daß Kapital Mehrwert heckender Wert sei, eine Lehre, die mit der
Ausbeutungstheorie eigentlich zusammenfällt, von L. Brentano noch im
Jahre 1916 ohne weiteres in seiner Abhandlung über die Anfänge des
modernen Kapitalismus verwendet.*) Sie liegt auch allen jenen Theorien
zugrunde, die den Kapitalismus als eine Folgeerscheinung von Vermögens-
akkumulation ansehen. Die Vertreter dieser Theorie glauben daher, das
Problem des Kapitalismus sei gelöst, wenn die Entstehung der großen
Vermögen geklärt sei und werden sich gar nicht bewußt, daB sie damit
den Marxismus predigen.
Diese marxistische Auffassung hat Werner Sombart seinem Werke
„Der moderne Kapitalismus‘) zugrunde gelegt, da er in dem „Ver-
wertungsbestreben des Kapitals primär wirkende Ursachen, letzte treibende
Kräfte der modernen wirtschaftlichen Entwicklung“ sah. Diese Anschauung
bildete für Sombart den Ausgangspunkt, von dem aus er eine einheitliche
Erklärung der modernen Wirtschaft versuchen wollte.*) Sie hat ihn ge-
zwungen, nach einer Ursache für die Entstehung von größeren oder großen
Vermögen zu suchen, bevor es einen Kapitalismus gab. Er glaubte sie in
der Grundrentenakkumulation gefunden zu haben. Diese Theorie
wurde allerdings von der historischen Forschung’) als vollständig unhaltbar
€) S. 13.
?) Leipzig, Duncker u. Humblot 1902.
è) a. a. O., Bd. 2, S. 7.
?) Die wichtigste quellenmäßig gegründete Kritik lieferte J. Strieder: Zur
Genesis des modernen Kapitalismus. Leipzig 1904. nachdem G. v. Below sich schon
vorher dagegen ausgesprochen hatte. Historische Zeitschrift, Bd. 91. Vgl. R. David-
sohn in Forschung zur Geschichte von Florenz. Bd. 4, S. 268 ff.
10 - "Theodor Mayer.
nachgewiesen, Sombart selbst ist von ihr abgegangen, aber den marxisti-
schen Grundgedanken, die Auffassung vom Wesen des Kapitales, hat er
auch in der zweiten Auflage seines großen \Werkes'") beibehalten, wie sie
ja auch auf einen Teil seiner Gegner übergegangen ist. Sombart geht
wieder der Frage nach, wodurch die groBen Kapitalien entstanden seien,
immer in der Voraussetzung, daß damit das Problem des Kapitalismus erklärt
sei. Nahm er früher eine Ursache an, so führt er jetzt deren mehrere auf, ,
die kapitalbildende Kraft der Kriege und des Luxus, besonders aber stellt
er jetzt die Edelmetallproduktion in den Vordergrund. Das persönliche
Moment behandelte er schon im „Bourgeois“ und in „Die Juden und das
Wirtschaftsleben“, obgleich er in diesem Buche auch dem Kapitalbesitz
der Juden eine besondere Wichtigkeit für den Kapitalismus zuschrieb.
Sombart hat wohl auch auf die sogenannte Wirtschaftsgesinnung hin-
gewiesen, er hat die rationelle Wirtschaft des Kapitalismus der traditiona-
listischen anderer Zeiten gegenübergestellt und viele treffende Gedanken
geäußert, aber es fehlt ihm die Konsequenz. Er hat die Begriffs-
bestimmungen so häufig in etwas geänderter Form vorgebracht, daß eine
volle Klärung nicht eingetreten ist. Die eklektische Art der zweiten Auflage
ist der Lösung des Grundproblems besonders hinderlich. Es bleibt aber
sein Verdienst, diesen Teil der marxistischen Theorie zur historisch-wissen-
schaftlichen Diskussion gestellt und damit den Gedankenkreis und das
Wissen dieser Disziplin wesentlich erweitert und bereichert zu haben.
Von einer anderen Seite her hat Max Weber das Problem angefaBt'')
und behandelt; er wollte die Frage lösen, inwieweit der nüchterne, einzig
auf den Erwerb gerichtete Sinn, der „Kapitalistische Geist mit ethischen
und religiösen Vorstellungen im Zusammenhang stünde, und hat gerade in
der kalvinistischen Ethik mit ihrer Prädestinationslehre einen mächtigen
Ansporn für die kapitalistische Betätigung gefunden. M. Weber hat durch
seine Ausführung on sehr viel zum Verständnis für das Wesen des Kapitalis-
mus beigetragen, aber seine Theorie ist von den Historikern mit Recht
scharf bekämpft worden, denn sie kann der geschichtlichen Kritik nicht
standhalten, weil sie sich mit den Tatsachen im Widerspruch befindet.
10) Erschienen 1916/17. Vergl. die Besprechung von W. H. Edwards in Gött.
Gel. Anz. 1918. S. 1—41.
11) Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 20 u. 21. „Die protestantische Ethik und |
der ‚Geist‘ des Kapitalismus”. Vgl. auch E. Troeltsch: Die Bedeutung des Pro-
testantismus für die Entstehung der modernen Welt. Historische Zeitschrift, Bd. 9%.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 11
F. Rachfahl'?) und dann L. Brentano'') haben erwiesen, daß ein
Zusammenhang im Sinne M. Webers nicht besteht. Es kann deshalb hier
von einer eingehenden Widerlegung Abstand genommen werden.
Fritz Gerlich) hat sich in sehr verdienstvoller Weise mit dem Pro-
bleme beschäftigt, wohl keine endgültige Formulierung gebracht, aber als
ein Mann, der die Praxis kennt, zeigt er wichtige Einblicke in das Wesen
der wirtschaftlichen Tätigkeit überhaupt. J. Strieder hat in seiner er-
wähnten Arbeit ebensowenig wie in seinen „Studien zur Geschichte kapita-
listischer Organisationsformen“'*) eine eigentliche, klare Begriffsbestimmung
vorgenommen, er hat aber durch seine ungemein wertvollen Arbeiten eine
sichere historische Grundlage für die weitere Erkenntnis geschaffen und
eine Reihe von teinen Einzelbeobachtungen geliefert. Auch H.Sieveking'*)
hat die Frage behandelt und auch den theoretischen Teil gefördert, so daß
wohl fast alle Bestimmungsstücke heute schon in irgendeiner Weise hervor-
gehoben worden sind. R. Passow führt noch eine Anzahl von Begriffs-
bestimmungen, die mehr oder weniger originell, mehr oder weniger klar
und vollständig sind, vor und kommt dann selbst zu dem Schlusse, dab
Kapitalismus der gesteigerte Erwerbstrieb sei, der sich in den großen
modernen Unternehmungen äußert.'’) Dieses Ergebnis ist etwas dürftig,
denn es müßte jetzt eine Untersuchung darüber anfangen, worin dieser
besondere Erwerbsgeist bestehe. Wenn Passow durch seine Fassung dazu-
kommt, einen Kapitalismus in der Zeit vor der modernen Unternehmung
als unzulässige Vordatierung anzusprechen so hat er damit kein sehr tiefes
“indringen in das Problem kundgetan.
Neuerdings hat sich G. v. Below'*) zu dieser Frage geduBert und
erklärt, „daß Kapitalismus die Verwendung von viel Kapital ist‘.
Maßgebend bleibt, „daß die Mehrzahl der in dem Betriebe beschäftigten
Arbeiter nicht zur Selbständigkeit gelangen kann“. v. Below kommt zu
2) Internationale Wochenschrift. 3. Jahrg. 1909, Heft 39-43. In derselben
Avitschrift ist dann noch eine Entgegnung auf die Erwiderung M. Webers erschienen.
13) Die Anfänge des modernen Kapitalismus. S. 117 ff.
1%) Geschichte und Theorie des Kapitalismus.
15) München-Leipzig 1914.
16) Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsyeschichte, Bd. 7. 1909,
„Die kapitalistische Entwicklung in den italienischen Städten des Mittelalters“.
1) a.2.0. S. 125. |
t») Probleme der Wirtschaftsgeschichte. Tübingen 1920. S. 401.
12 Theodor Mayer.
dieser Begriffsbestimmung durch folgenden Analogieschlu8'"): ,,Wie der
Nationalismus auf der starken Verwertung des nationalen Gedankens, der
Militarismus auf der energischen Anspannung der Wehrpflicht beruht, so
der Kapitalismus auf der reichlichen Verwendung von Kapital.“ Wenn
ınan schon bei dem Beispiel bleiben will, so entspräche dem nationalen
Gedanken der kapitalistische Gedanke oder „Geist“, dem Kapital
aber umgekehrt die Nation. Ich brauche gar nicht weiter zu begründen,
daß sich dann ein ganz anderes Resultat ergeben würde. Das größte Kapital
ist übrigens heute in den staatlichen Betrieben (Eisenbahn, Monopole)
investiert, aber trotz der Größe dieser Unternehmen tragen sie noch lange
nicht an sich, was man berechtigterweise Kennzeichen des Kapitalismus
nennt.?°) v. Belows Auffassung ist eine verständliche Reaktion gegen
allzu vage Ausführungen über Erwerbsgeist usw., sie hält sich daher an
die äußere Form, denn damit ist das Problem so gefaßt, daß es zu seiner
Lösung genügt, festzustellen, wie die großen Betriebe entstanden sind, in
denen viel Kapital verwendet wird. v. Below hat zu wenig in Rechnune
vezogen, daß die Verwendung von wenig oder viel Kapital, ebenso wir
das Selbständigwerden der Arbeiter, von kommerziellen, fabrikations- und
verkehrstechnischen Vorbedingungen abhängt. Er kommt zu einer Auf-
fassung vom Kapital, die im wesentlichen der von W. Sombart, also
Karl Marx nahesteht. Seine weiteren Ausführungen sind wertvolle Er-
gebnisse der historischen Spezialforschung, beziehen sich aber auf ein
anderes Gebiet, nicht auf das zentrale Problem: die treibenden Krälte im
Wirtschaftsleben.
Ehe wir uns die Frage vorlegen, ob es wegen der Unklarheit des
Begriffes überhaupt noch zulässig ist, von „Kapitalismus“ in einer wissen-
schaftlichen Arbeit zu sprechen, möchte ich doch darauf hinweisen, daß
es meines Erachtens gar nicht möglich sein wird, ein so weitverbreitetes
und tief eingelebtes Wort einfach auszumerzen. Mag es auch ein Schlag-
wort sein, es bezeichnet eine Auffassung vom Wirtschaftsleben, die wir
auf ihre Verwendbarkeit für die Geschichtswissenschaft überprüfen müssen.
Freilich wird es dazu notwendig, daß der Begriff des politischen Bei-
geschmackes von Ausbeutung usw. entkleidet und auf den echten wirt-
schaftlichen Kern zurückgeführt wird.
19) a.a. 0. S. 400.
z0) Vgl. a. a. 0. 403.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 13
In der Literatur besteht eine gewisse einheitliche Anschauung über
jene Zeitalter, welche als kapitalistische bezeichnet werden können. Trachten
wir nun die besonderen Merkmale dieser Epochen zu finden, welche sie von
anderen unterscheiden. Sollte sich eine gewisse Gemeinsamkeit ergeben, so
wäre dies für die Feststellung des Begriffsinhaltes des Kapitalismus von
großer Wichtigkeit.
Als Zeitalter des Kapitalismus gilt unbestritten das 19. Jahr-
hundert,?') daneben wird ziemlich allgemein das Ende des 15. Jahrhunderts
und das 16. Jahrhundert als kapitalistisch bezeichnet und schließlich auch
vereinzelt, aber bestritten die Zeit der Karolinger.**)
Wodurch heben sich diese Epochen von den anderen Perioden ab?
Das 19. Jahrhundert ist die Periode des geistigen und wirtschaftlichen
Individualismus, der freien Wirtschaft, der materialistischen Lebensauf-
fassung und des ungezügelten Erwerbsgeistes, des Überganges vom hand-
werksmäßigen zum Großfabriksbetrieb, des rasenden technischen Fort-
schrittes und der Ausbildung eines ungeahnten Bank- und Kreditwesens,
der Bildung von großen einheitlichen Wirtschaftskörpern, der Ausbreitung
des Handels und der Einbeziehung der ganzen Welt in die Wirtschaft des
einzelnen Volkes.
Ähnliche Verhältnisse herrschten im 15. bis 16. Jahrhundert; Humanis-
mus und Reformation hatten eine gewisse Lösung des Individuums von
allzu großer geistiger Bindung gebracht**), dazu kamen Bildung von größeren
einheitlichen Wirtschaftskörpern durch Übergang von der Stadtwirtschaft
zur Territorialwirtschaft, die Ausbildung des Post- und Nachrichten-
wesens, die technischen Erfindungen und Veränderungen im Kriegsdienst
und im Bergbau, der nunmehr in Tirol und Sachsen in lebhaftester
Weise betrieben wurde, Änderungen im Bank- und Kreditwesen im Zu-
sammenhang mit dem großen Geldbedürfnis der Kurie und der staatlichen
Gewalten, die Entdeckung Amerikas und die Erreichung Indiens auf dem
21) Ich bemerke nochmals, daß sich meine Ausführungen, wo nicht ein beson-
derer Hinweis gegeben wird, auf Deutschland beziehen, sonst würden sich besonders
‚bei den zeitlichen Ansätzen Verschiebungen ergeben. Vgl. im allgem.: R. Kötschke:
(irundziige der deutschen Wirtschaftsgeschichte bis zum 17. Jahrh. 2. Aufl. 1921.
#2) Vel. A. Dopsch: Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit. Weimar 1912—13
W. Sombart und R. Passow haben dagegen Stellung genommen, daß A. Dopsch
von Kapitalismus in der Karolingerzeit spricht.
23) Vgl E. Troeltsch: Historische Zeitschrift, Bd.97, und in,, Kultur der Gegen-
wart, I. Teil, Abt. IV, 1. Hälfte: Protestantismus, Christentum und Kirche in der
Neuzeit. —
14 Theodor Mayer.
Seewege, wodurch die ungeheure Aufgabe erwuchs, diese Gebiete in das
alte europäische Wirtschaftsleben einzugliedern, während sich anderseits
ungeheure Möglichkeiten zur Vermögensbildung ergaben und der Erwerbs-
geist ungeheuer aufgestachelt wurd:.
Die Karolingerzeit erkennen wir ebenfalls als eine Periode des starken
wirtschaftlichen Aufschwunges. Die Annahme, daß Handel und Gewerbe
wenig entwickelt und ganz in die Bande des Hofrechtes geschlagen gewesen
sei, hat sich als unhaltbar erwiesen, im Gegenteil, es gab Gelegenheit und
Möglichkeit für die Betätigung eines individualistischen Unternehmergeistes
infolge des Ausbaues einer intensiven Innenkolonisation und der Aus-
dehnung der wirtschaftlichen Organisation nach dem Osten hin.
Wirtschaftliche Freiheit und Individualismus, intensiver
Erwerbsgeist und Erwerbsmöglichkeiten sind die gemein-
samen Merkmale aller Zeitalter, die als kapitalistisch bezeichnet
werden und durch welche sich diese von anderen Perioden deutlich abheben.
Was für ursächliche Zusammenhänge bestanden aber 2wischen diesen
Erscheinungen, wo liegen die Ausgangspunkte für diese Vorgänge?
Nach Sombart wäre die Ansammlung von Vermögen der Anlaß
gewesen, welcher ein kapitalistisches Zeitalter bewirkte, gleichviel aus
welcher Quelle diese Vermögen stammten, Krieg, Edelmetallfunde oder
wie früher Grundrenten usw. Warum ist dann in Spanien und Portugal
im 16. bis 17. Jahrhundert nicht eine Periode des Hochkapitalismus ent-
standen,**) warum gab es im mittelalterlichen Ungarn trotz seiner ver-
hältnismäßig starken Edelmetallproduktion keinen Kapitalismus? Die
objektiven Voraussetzungen der Vermögensakkumulation genügen eben
nicht, es gehören die Menschen dazu, welche von den Vermögen den ent-
sprechenden Gebrauch machen. Wie wäre sonst die größere Intensität des
Kapitalismus in Amerika oder Deutschland gegenüber Frankreich zu
erklären? Gewiß hat der Besitz von Vermögen ganz allgemein den Kapi-
talismus befördert, weil Unternehmungen leichter gegründet und rascher
ausgebaut werden konnten, aber der Ursprung ist darin nicht gelegen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf den von Sombart aufgestellten
Gegensatz zwischen wirtschaftlichem Traditionalismus und Ra-
tionalismus zu sprechen kommen. Mir scheint die Gegenüberstellung
viel zu schroff zu sein; der Unterschied zwischen der Wirtschaftsgesinnung
2a) v. Below: Probleme, S. 487, Anmerkung. Vgl. K. Habler: Die wirtschaft-
liche Blüte Spaniens im 16. Jahrhundert und ihr Verfall. Berlin 1888, —
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 15
in der kapitalistischen und nichtkapitalistischen Zeit ist ein. gradmäßiger,
er ist auch vielfach durch äußere Verhältnisse bedingt. Wer Gelegenheit
hatte, während des Krieges Beobachtungen zu machen, wird bemerkt
haben, daß der Drang nach vorwärts, zum Siege bei vielen auch zur Zeit
des ruhigsten und bewegungslosesten Stellungskrieges vorhanden war. Er
wird aber auch gesehen haben, daß eine glückliche Offensive selbst Leute
m siegreichem Heldentum aufgestachelt hat, bei denen man eine helden-
hafte Betätigung mit Recht nicht vermutet hätte, die vielmehr im all-
gemeinen recht geneigt waren, sich mit der übernommenen, der traditionellen
Stellung zu begnügen. Ähnlich steht es auch hier. Man lese nur bei
R. Ehrenberg**) über die Spekulation bei der Firma Höchstetter in
Augsburg, wo Knechte und Dienstmagde usw., also Menschen, die ihrer
allgemeinen Jebensauffassung nach sicher traditionalistisch veranlagt
waren, (reldeinlagen machten, man denke an die Epoche vor 1873, an die
Zeit seit 1914 und besonders seit 1918, an ähnliche Vorgänge in Amerika
zu verschiedenen Zeiten. Immer findet sich eine große Zahl von Menschen,
die sich über die ihnen eigene Tradition hinwegsetzen, wenn ein leichter
Gewinn lockt; es hat sich dann mit diesen Gewinnmöglichkeiten die ratio
der Leute geändert. Die Wirtschaftsgesinnung wird von der wirtschaft-
lichen Tätigkeit und den wirtschaftlichen Möglichkeiten bestimmt, ihnen
entspricht sie. Fälle, wie sie M. Weber erzählt, daß Landarbeiter die höhere
Bezahlung zum Anlaß nehmen, weniger zu arbeiten, weil sie sich mit einem
bestimmten Einkommen begnügen, sind doch Ausnahmen, die zu allen
Zeiten vorkommen.
Damit gelangen wir zur Frage der Wichtigkeit des Erwerbsgeistes
für die Entstehung des Kapitalismus. Einen intensiven Erwerbsgeist hat
es jederzeit gegeben.**) Klagen über Wucher, Preissteigerungen, Vorkauf
zum Zweck der Preiserhöhung usw. und entsprechende Verbote und Straf-
androhungen können wir aus jedem Jahrhundert feststellen, die Refor-
mation des Kaisers Sigismund klagt laut über die Monopolsucht und
monopolistische Tendenzen hat es auch im 17. Jahrhundert gegeben. Der
Erwerbsgeist allein kann also auch nicht den Kapitalismus hervorgerufen
haben, wenn auch gesteigerter Erwerbsgeist für den Kapitalismus charak-
teristisch ist. Der Erwerbsgeist ist unmittelbar auf die Verteilung, nicht
‘25) Zeitalter der Fugger, Jena 1896, Bd. I, S. 212.
26) Vgl. v. Below: Probleme, S. 408, wo auch weitere Literatur angegeben ist.
Vgl. auch S. 313 ff.
16 Theodor Mayer.
aber in gleichem Grade auf die Hebung der Produktivkraft selbst gerichtet.
diese letztere konnte hinzukommen, bildete aber nicht den Ausgangspunkt.
Blieb sie aus, dann verfiel‘) der Erwerbsgeist in Habsucht. Daher halte
ich auch die Unterscheidung des Wirtschaftsgeistes in der modernen Unter-
nehmung von dem Wirtschaftsgeist früherer Zeit für unberechtigt. Ist denn
die moderne Unternehmung in ihren Wesen ganz anders als ein größerer
Betrieb des 16. oder 18. Jahrhunderts ?
Wie verhält es sich aber mit der wirtschaftlichen Freiheit ? Sie
tritt zusammen mit dem Kapitalismus auf, ja die Verbindung scheint eine
so innige zu sein, daß man sich einen Kapitalismus ohne wirtschaftliche
Freiheit nicht vorstellen kann. Umgekehrt ist es Tatsache, daß immer.
wenn wirtschaftliche Freiheit herrschte, zugleich‘ der Kapitalismus sich
bemerkbar machte.
Wirtschaftliche Freiheit und Individualismus lassen sich nicht
ganz voneinander trennen, auch zeitlich fallen beide Strömungen fast
immer zusammen. Individualisten, Menschen, die sich von ihrer Um-
gebung abhoben, weil sie sich abheben und ihre eigenen Wege gehen
wollten, hat es wohl immer in großer Zahl gegeben.?") Wir kennen nur nicht
die Namen aller jener Männer, denen es nicht gelungen ist, durchzudringen,
die Schiffbruch gelitten haben, weil sie abseits von der Menge und dem
‘Herkommen gewandelt sind. Zweifellos waren es immer Individualisten,
von denen die großen kapitalistischen Epochen ins Leben gerufen worden
sind, es mußten aber doch offenbar gewisse Voraussetzungen gegeben sein,
daß diese Bestrebungen auch zum Siege gelangen konnten. Individualismus
allein kann daher wohl nicht den Kapitalismus hervorgebracht haben.
Ebenso wie der Individualismus war auch die wirtschaftliche Freiheit nicht
auf die kapitalistischen Epochen beschränkt. Auch im Mittelalter gab es
immer eine freie Wirtschaft. Der Handel über das städtische Wirtschafts-
gebiet hinaus war durch Vorschriften nur wenig eingeengt oder ganz
27) F. Rachfahl, Internationale Wochenschrift, 3. Jahrgang, 1909, Sp. 1239,
1249. weist die etwas übertriebenen Ausführungen M. Webers über die Einfachheit
der Lebensführung großer Kaufleute zurück, zum Teil mit Recht, aber es ist cin
großer Unterschied, ob jemand viel erwirbt, um gut zu leben und zu genießen. oder
ob er gut, verhältnismäßig sehr gut lebt, weil er viel verdient, und als Ziel seines Han-
delns die Möglichkeit zu noch größerem Erwerb in der Zukunft hat. °
28) Vgl. darüber E. Troeltsch: Artikel „Aufklärung“ in der Realenzyklopädie
für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 2, 1897.
tet.
ınkt.
halte
nter-
dent
Were
2 Ste
eine
tliche
yiner.
| sich
nicht
| fast
Un-
rehen
nicht
ngen,
dem
isten.
orden
gein,
ismus
aben.
nicht
ab 6
halts
cans
28.
‚ehheit
jst ei
a. „der
s Han’
°
pädit
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 17
frei.?*) Stapelrechte usw. anderer Städte boten natürlich hier ein Hindernis,
das aber ähnlich zu werten ist, wie irgendwelche Handelsbeschränkungen
moderner Kaufleute in fremden Staaten. Die wirtschaftliche Freiheit allein
kann daher doch auch nicht als die Ursache des Kapitalismus bezeichnet
werden.
Wir wissen auch, daß schon im Mittelalter in diesen Zweigen des
Handels große Vermögen erworben worden sind, daß sich also hier der
Erwerbsgeist erfolgreich betätigen konnte. Was aber noch wichtiger ist,
hier konnte sich der Erwerbsgeist in einer ganz besonderen Richtung
betätigen. In dieser nicht von Zunftregeln eingeengten Wirtschaft war es
dem einzelnen möglich, den Markt für seine Ware ohne Rücksicht auf
andere zu vergrößern, nicht bloß Gewinn zu erzielen, sondern ihn zugleich
wieder zur Vergrößerung des Geschäftes, zur Erweiterung der Erwerbs-
grundlage für die Zukunft zu verwenden. In dieser Art der wirtschaftlichen
Betätigung liegt das Grundmerkmal, welches den kapitalistisch
eeführten Betrieb von dem, sagen wir, traditionalistischen, von
dem selbstgenügsamen unterscheidet. Weil aber diese Betätigung
nur in der freien Wirtschaft möglich ist, so ist diese jedenfalls eine Voraus-
setzung für die Entstehung des Kapitalismus. Im 19. Jahrhundert (und
nauch im 16.) sehen wir dieses Streben nach Ausdehnung und Vergrößerung
in Handel und Erzeugung, nach Unterdrückung und Überwindung der
Konkurrenz. Diese Erscheinung erhielt aber ihre Anregung von der Mög-
lichkeit, dieses Ziel zu erreichen, weil die Wirtschaft allgemein frei war,
und im 16. Jahrhundert in bestimmten Grenzen frei war. Dort, wo die
Wirtschaft und alle Vorgänge der Produktion und des Handels geregelt
sind und jedem Wirtschaftssubjekt ein bestimmter Anteil zugemessen ist,
das heißt in der Zunft, da fehlen die Voraussetzungen zur wirksamen
Betätigung des wirtschaftlichen Individualismus, ja sie wird gewaltsam
gehemmt und unterdrückt.
Aus dem Vorhandensein eines gesteigerten Erwerbsgeistes, eines Indi-
vidualismus und einer freien Wirtschaft haben wir gefolgert, daß diese
Momente wesentlich sind für die Entstehung des Kapitalismus. Aber diese
Momente sind auch sonst anzutreffen, sie allein können den Kapitalismus
2) v. Below: Mittelalterliche Stadtwirtschaft und gegenwärtige Kriegswirt-
schaft. Tübingen 1917. Vgl. auch Th. Maver: Der auswärtige Handel des Herzog-
tums Österreichs im Mittelalter. Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs,
herausgegeben von A. Dopsch, Heft 6, S. 104.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band, 9
> gD a 5 ne ea A 2 a ss
18 Theodor Mayer.
nicht hervorrufen. Wenn wir aber von einem kapitalistischen Zeitalter
sprechen, so meinen wir damit, daß diese Voraussetzungen in solchem Aus-
mabe zutreffen, daB sie die entscheidende Richtlinie für die Beurteilung
der Wirtsehaftsbetätigung einer Zeit bilden. Dazu ist aber dann noch eine
weitere Voraussetzung notwendig. Um sie zu ermitteln, müssen wir vorerst
fragen, was das Gesamtergebnis der kapitalistischen Zeitalter
war? Es ist unzweifelhaft, daß die Zeitalter des Kapitalismus solche des
Fortschrittes waren, ihre Leistung bestand im Aufbau einer neuen Wirt-
schaftsorganisation. Das war das Merkmal der Karolingerzeit und der
folyenden Jahrhunderte bis etwa 1200, Ausbau und Intensivierung, Aus-
dehnung nach dem Osten hin und Kolonisation mm politischer, geistiger
und wirtschaftlicher Hinsicht. Das gleiche trifft auch für das 16. Jahr-
hundert zu. Der Ausbau der gesamten Kultur war schon vorher im Gange
gewesen. Die großen Neuerungen, von denen wir sprachen, riefen aber ein
elliges Tempo hervor, die Wirtschaft mußte rasch ausgebaut werden, der
Handel erfuhr eine ungeheure Ausdehnung und Belebung. Noch viel
vewaltiger war die Umstellung im 19. Jahrhundert. Im 16. Jahrhundert
sind wenigstens die Grundlagen der heimischen Produktion im ganzen
unberührt geblieben, weil für deren Neuorganisation die teehnischen
Voraussetzungen fehlten. Im 19. Jahrhundert wurden auch sie revolu-
tioniert. alles Alte stürzte als wirklich oder scheinbar unbrauchbar zusammen
und es erwuchs die ungeheure Aufgabe, einen Neubau aufzuführen. Hiec
liegt das entscheidende Merkmal, der ausschlaggebende Unterschied: dir
Wirtschaft erhielt neue, bisher unerhörte Aufgaben, zu deren Lösung sich
das ganze Wirtschaftsleben anders einstellen mußte.
Wie erwähnt, bezeichnen wir jedes Zeitalter nach den vorwaltenden
Richtlinien, obgleich wir wissen, daB damit niemals eine erschöpfende,
allseits richtige Benennung gegeben ist, daß vielmehr gegentetlige Strö-
mungen Immer vorhanden sind. Diesen Vorbehalt müssen wir besonders
für das 16. Jahrhundert oder gar für die Karolingerzeit machen, wenn wir
sie als Zeitaiter des Kapitalismus bezeichnen. Wir sind über die Wirt-
schaftsgeschichte jener Zeit und über die Tätigkeit einzelner Häuser
durch eine Reihe von ausgezeichneten Arbeiten®®) gut unterrichtet und
29) Jeh nenne als die wichtigsten: R. Ehrenberg, Zeitalter der Fugger. Al.
Schulte: Die Fuggerin Rom. Leipzig 1904 M. Janssen: Studien zur Fuggergeschichte
3. Heft. Jakob Fugger der Reiche. 1910. J. Strieder: Studien zur Geschichte kapi-
talistischer Organisationsformen. München-Leipzig 1914.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 19
wissen, daß nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von zumeist ober-
deutschen Kaufleuten sich im Sinne des Kapitalismus betätigten. Die
(eschiftszweive, welche von diesen Häusern betrieben wurden, waren
solehe, daß es für sie noch keine zunftmäßige Organisation gab, zum
Teil auch nicht geben konnte. Ich verweise in erster Linie auf Jakoh
Fugger. Sein Riesenvermögen hat er im Bank- und Kreditgeschäft,
besonders mit dem Kaiser und der Kurie in Verbindung mit der Aus-
beutung der Tiroler Silberbergwerke erworben. Auch an den ungarischen
Bergwerken war er hervorrasend beteiligt. Niemals hätte sich Jakob
Fugger so rasch emporarbeiten können, wenn ihm nicht der tirolische
Bergsegen zugute gekommen wäre. Aber das Silber allein war nicht das
Entscheidende, das lag in dem genialen Organisationstalent Jakob Fugeers,
der es verstand, eine neue kaufmännische Organisation aufzubauen. Was
die Fugger taten, das haben in ihrer Art viele andere Kaufleute mit mehr
oder weniger Glück versucht. Ganz allgemein äußerte sich die Expansions-
lust und Erwerhsyier der oberdeutschen Handelshäuser in einer lebhaften
Monopolsucht, besonders in ausländischen oder solchen einheimischen
Erzeugnissen, wie Quecksilber, Eibenholz?'), die bisher wohl kaum den
Gegenstand eines stark entwickelten Handels gebildet haben dürften. So
schnell vollzog sieh der Ausbau des wirtschaftlichen Lebens, daß die
Ersparnisse und Vermögen einzelner Kaufleute nicht mehr hinreichten,
sondern durch Gesellschaftsbildungen das Kapital beschafft werden mußte.
Fine Erweiterung der Volkswirtschaft wurde von unternehmenden Kauf-
leuten für sich ausgenützt, die neuen Quellen des Reichtumes und Wohl-
standes wurden in die Taschen einiger weniger geleitet. Wirtschaftliches Neu-
land wurde erschlossen, auf das die Zünfte kein verbrieftes Recht hatten.
Sie wären dazu als Organisation wohl auch gar nieht imstande gewesen,
außerdem aber unterstützte die staatliche Gewalt aus fiskalischen Gründen
diese mitunter phantastischen Pläne lebhaft,?*) da sie sich die reichen Geld-
Weiher für ihr gesteigertes Kreditbedürfnis in guter Stimmung erhalten
mußte oder auch selbst an der Ausbeutung des Monopoles teilnahm. Die
meisten Monopole des 16. Jahrhunderts waren Handelsmonopole, es zeigt.
sich eben, daß der Kapitalismus sich im Handel leichter durchsetzen
31) J. Strieder a.a. O. S. 360 ff.
z) Strieder a. a. O. S. 362. Anmerkung 1, W. Bauer, Ein handelspolitisches
Projekt Ferdinands J. aus dem Jahre 1527. Beiträge zur neneren Geschichte Öster-
reichs. Th. Mayer: Der auswärtige Handel ete., S. 153.
20 Theodor Mayer.
konnte**), als in der Produktion, die an technische Vorbedingungen stärker
rehunden war. Daher konnte es beim Handel auch leicht zu Ubertreibungen
kommen und Maßlosigkeit ist immer ein Zeichen des Kapitalismus. Die
Unternehmungen der großen Kaufleute des 16. Jahrhunderts gleichen in
mancher Hinsicht den Reichen der großen Eroberer. Ihr Bestand hing von
der besonderen Tüchtigkeit und Gewalt der leitenden Personen ab, fehlten
ihnen doch zumeist die Grundlagen der staatlichen Organisationen, die
Durchführung einer entsprechenden staatlichen Verwaltung. Die Verwal-
tung in den unteren Instanzen ist aber von ausschlaggebender Bedeutung,
sie allein hat den unmittelbaren Verkehr mit der Bevölkerung und ihr
obliegt die Umsetzung der großen Pläne in die Tat. Der Großhandel dieser
Kaufleute wurde vielfach angeregt durch die Herbeischaffung von Massen-
produkten aus der neuen Welt, nicht durch den heimischen Bedarf; statt
auf dem Konsum und auf dem Kleinabsatz aufzubauen, wurde die Organi-
sation von oben herab versucht. Eine besondere Gefahr bildete in einer
Zeit, da das internationale Handelsrecht schwach ausgebildet war, die Ver-
bindung mit der Politik, denn dadurch kam ein dem Handel fremdes
Iclement dazu, das ihm zum Unglück ausschlug. Im ganzen aber sehen wir.
daß es das Neuartige, das Unsichere und Spekulative war, was dem 16. Jahr-
hundert die Signatur gibt und was weit über die Leistungsfähigkeit der
Ziinfte hinausragte. Das Schwergewicht der wirtschaftlichen Tätigkeit lag
bei den großen Kaufleuten, weshalb wir auch nur solange von Kapitalismus
sprechen, bis infolge der eben erwähnten Ursachen eine Rückbildung er-
folgte, die durch den 30jährigen Krieg endgültig besiegelt wurde.
Im 17. und 18. Jahrhundert, im Zeitalter des Merkantilismus, waren
die Pläne der deutschen Kaufleute nicht mehr auf die ganze Welt gerichtet,
als Ziel galt damals vielmehr die Errichtung einer heimischen Industrie,
wozu der Staat in weitgehendem Maße seinen Schutz gewahrte.**) Es fanden
sich zahlreiche unternehmende und weitblickende Köpfe, die freilich vielfach
ohne die nötigen Erfahrungen in phantastischer Weise ihre Pläne zu ver-
wirklichen dachten; wie viel leichter war es doch im 16. Jahrhundert für
den Handel gewesen! Für die Industrie fehlten noch die Voraussetzungen,
— ---
33) Vgl. J. Strieder a. a. O. S. 38 und Brentano a. a. O. S. 14.
34) Ich verweise auf die Arbeiten von H. v. Srbik: Der staatliche Exporthandel.
Wien 1907, dann den Aufsatz in den Mitteilungen des Institutes für österreichische
Geschichtsforschung, Bd. 32, über die Spiegelfabrik in Neuhaus und über W. Schröder
in den Wiener Sitzungsberiehten, Bd. 164.
Wesen und Entstehung des Kapitalisinus. =
um über die Anfänge weit hinauszukommen und um das tiherkommene
zünftische Gebäude zum Einsturz zu bringen. Eine unter diesem Gesichts-
punkt verfaßte Geschichte der mißglückten Wirtschaftsunternehmungen
wäre zweifellos für unsere Erkenntnis von außerordentlichem Werte. Auch
monopolistische Tendenzen sind immer vorhanden gewesen, allein sie waren
doeh zu sehr auf den Gewinn allein berechnet, zielten also auf die Ver-
teilung, nicht auf die Hebung der Erzeugung ab. Sie vermochten natürlich
ebensowenig die Wirtschaft gänzlich umzugestalten wie die auf die Hebung
der Wirtschaft abzielenden Privilegien.
Erst das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert der Naturwissenschaften
und der Technik, gestaltete die Produktionsbedingungen von Grund auf
um, zahllose Umwege der Produktion kamen in Anwendung. Kaum ein
Artikel des täglichen Gebrauches oder des Luxus wird heute in der gleichen
Weise hergestellt wie vor etwa 100 Jahren. Die alte Organisation mußte
in die Brüche gehen, denn die Zünfte waren nirgends imstande gewesen,
den Fortschritt heraufzuführen, die große Aufgabe der Neuorganisation
mußte von einzelnen geleistet werden, diese aber konnten sich
nur dann betätigen, wenn sie Freiheit hatten. Eine Wirtschaftsform war
notwendig, welche dem Tiichtigen, dem Kühnen, aber auch dem Rück-
sichtslosen freie Bahn ließ. Nicht eine Zunft von Schiffskapitänen hat
Amerika entdeckt, sondern Christoph Columbus im Widerspruche zu allen
Bedächtigen.
Die französische Revolution und in ihrem Gefolge der Liberalismus
hatten in den Menschen den unbedineten Glauben an die Notwendigkeit
der überlieferten Formen des sesellschaftlichen Lebens zerstört. Ohne
diese Vorgänge wäre wohl auch die Entwicklung des 19. Jahrhunderts
kaum möglich geworden. Ein jahrhundertelanges Studium der Natur
hatte die Menschen allmählich befähigt, ihre Kräfte in den Dienst der
Herstellung von Sachgütern zu stellen. Die daraus sich ergebenden neuen
Erzeugungsmöglichkeiten und Verteilungsarten sind denen zugute ge-
kommen, welche die neue Lage zuerst erfaBten, sie haben dem Individualis-
mus, der schon seit langer Zeit da war, zum Siege verholfen, sie haben den
Erwerbsgeist, die Goldphantasie angeregt, zeitweise eine Massenpsychose
der Habgier erzeugt. Die Neuorganisation der Wirtschaft hat den Kapita-
lismus zu neuem, ungleich kraftigerem Leben erweckt. Wohl haben die
Arbeiter nicht immer den vollen Arbeitsertrag erhalten, aber Kapitalismus
und Ausbeutung sind nicht gleich bedeutend. Gerade bei den ganz großen
LI)
bo
Theodor Mayer.
Führern und Organisatoren, z.B. Alfred Krupp, ist das Streben anf
die Verbesserung der Produktion gerichtet, alle materiellen Erfolge kamen
als zwar persönlich erst wesentliche, aber volkswirtschaftlich abgeleitete
Ergebnisse dazu. Wer nur von Ausbeutung reden wollte, der verkennt die
Wirksamkeit und die Leistungen der Führer. Niemals wäre Deutsch-
land ohne diese in die Lage gekommen, 60 Millionen Menschen zu ernähren
und besser zu ernähren als 100 Jahre vorher, niemals hätte die Tätigkeit
der Arbeiter jenen Grad von Produktivität erreicht, wenn nicht die groben
Organisatoren und Erfinder den Weg gewiesen hätten. Der Markt wuchs
märchenhaft, immer neue Erzeuger kamen dazu und doch trat keine
Sättigung ein. Unter solchen Bedingungen mußten die Zünfte, die in
technischer Hinsicht nicht nachgekommen und neben der Großindustriv
bedeutungslos geworden waren, allmählich verschwinden, denn der eivent-
liche Zweck, die Gewährung der „bürgerlichen Nahrung“ war hinfällig
und das Mittel, das Zunftimonopol, war neben der unzünftischen Groß-
industrie Jächerhich geworden.
In einer solchen Zeit, an solchen Aufgaben erwuchs die freie Wirt-
schaft. Was der Alltag verlangt, kann auch die Zunft, Großes und Neues
zu organisieren vermag nur die freie Wirtschaft, denn sie allein gibt den
groBen, schöpferischen Organisatoren die nötige Freiheit der Betätigun«.
Hält man sich das alles vor Augen, so ist es klar, daß nicht immer die
freie Wirtschaft herrschen kann, weil sie nicht immer die
ihre Existenzberechtigung erweisenden Aufgaben vorfindet.
Keine Wirtschaftsordnung aber kann sich erhalten, wenn sie nieht mit
den Aufgaben des Wirtschaftslebens im Einklang steht.**)
Damit haben wir aber auch klargelegt, was der Kapitalismus ist.
Ir ist jenes Wirtschaftssystem, in dem die Individualisten.
die Führer?*) dieHerrschaft haben, es ist dies die dynamische Wirt-
55) Nur vergleichsweise führe ich an, daB der Kapitalismus in Venedig den vene-
z\Äanischen Orienthandel, der in Holland und England den Kolontalhandel. die Stellung
dieser Länder als Handelsvermittler zwischen der alten und der neuen Welt aufgebaut
haben. Der Kapitalismus hat auch hier besondere Voraussetzungen gehabt und hervor-
vagende Leistungen vollbracht.
36) Tch möchte allerdings bemerken. daß es neben diesen Führern der Wirtschaft
immer auch andere „Unternehmer gibt. deren Tätigkeit darin legt, irgendwelche
Gelegenheiten für sich auszunützen, ohne der Volkswirtschaft zu dienen. deren Tätig-
keit also nur eine Verschiebung in der Einkommensverteilung. nicht die Erhöhung
des Gesamtertrignisses der Volkswirtschaft zur Folge hat; das sind die Schmarotzer
des Kapitalismus und der freien Wirtschaft.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 25
schaft“). Er kommt nur dann und nur dort zum Durchbruch und
erhält sich nur solange, als der Volkswirtschaft große Aufgaben
zuwachsen, als Neu- oder Umorganisationen des Wirtschafts-
systemes notwendig sind, welche die genossenschaftliche,
zünftische Wirtschaftsverfassung nicht zu bewältigen im-
stande ist, deren Betätigung in der statischen Wirtschaft liegt.
Obwohl inımer auch statische Bestrebungen vorhanden waren, ist der
herrschende Wirtschaftsgeist der auf Expansion und Intensivierung, auf
Erweiterung der Erwerbsgrundlage gerichtete Erwerbsgeist. Die Art. wie
er sich betätigt, entspricht der ratio einer auf Überwindung der Kon-
kurrenz bedachten Gesinnung und ist daher durch die Erfordernisse eines
Kampfes bedingt, der sich aller Mittel bedient, die als zweckdienlich
erscheinen.
Hält man sich das Wesen der dynamischen Wirtschaft vor Augen,
so kann gar kein Zweifel sein, daß es eine solche und damit einen Kapitalismus
schon vor dem 19. Jahrhundert gegeben hat, daß man in diesem Sinne
wohl auch für die Karolingerzeit die Bezeichnung Kapitalismus anwenden
darf, daß hiefür die Größe des zur Verwendung kommenden Kapitales
kein Merkmal von grundsätzlicher Bedeutung ist, dab vielmehr die Menge
des Kapitales nur als Verhältniswert zu beurteilen ist.
Das Wesen der freien, der dynamischen Wirtschaft ist das der Ver-
änderung, der Bewegung. Diese Veränderung braucht nicht immer
eine solche zum besseren, im Sinne eines Fortschrittes, einer Einschaltung
von neuen Umwegen der Produktion zu sein. Sie kann auch andere Ur-
sachen und Ziele haben. Kriege führen eine Veränderung in der Produktion
herbei, sie stellen der Wirtschaft große neue Aufgaben, sie stellen aber vor
allem andere Aufgaben als die Friedenswirtschaft und erzeugen daher
27) Vel. O. Spann: Fundament der Volkswirtschaftslehre. G. Fischer. Jena
1918. 5. 247 f. J. Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Leipzig
1912. Schumpeter schreibt S. 479: ..Die Erfindungen stellen sich ein, wenn der
Unternehmer sie braucht. und steht nicht die Persönlichkeit des Unternehmers schon
an ihrem Platze, um von jeder neuen Erfindung Gebrauch zu machen. so werden die
Erfindungen niemals praktisch. Nicht die Erfindungen haben den Kapitalismus.
sondern der Kapitalismus hat sich die nötigen Erfindungen geschaffen. Einer so
allgemeinen Fassung kann ich vom historischen Standpunkt aus nicht zustimmen,
im 17.—18. Jahrhundert waren die Kapitalisten bereitgestanden. aber die Erfindungen
fehlten. W. Mitscherlich: Der wirtschaftliche Fortschritt, sein Verlavf und
Wesen. Leipzig 1910 behandelt ebenfalls diese Fragen, geht aber nicht sehr tief.
Weiters M. Lenz: Kleine historische Schriften. 1910. S. 20.
24 Theodor Maver.
eroße Möglichkeiten zu Erwerb und zu dynamischer Betätigung, indem
keine staatliche Gewalt, die um ihre Existenz kämpft, sich jemals scheuen
wird, zünftische Privilegien ohne weiteres zu verletzen. Deshalb ergeben
sich infolge der Kriege immer auch leichte Mörlichkeiten zur Vermögens-
bildung durch einzelne; es ist selbstverständlich, daß dadurch einer kapi-
talistischen Richtung Vorschub geleistet wird, nicht weil dieses Kapital
Mehrwert heckender Wert ist und ein Verwertungsbestreben besitzt,
sondern weil es dem Besitzer von Kapital leichter möglich war, neue
Betriebsarten zu eröffnen. Ein weiterer Weg, durch Veränderung sich
kapitalistisch zu betätigen, ist die Mode,3*) denn sie bringt immer Neues.
In diesem Sinne ist auch der Luxus, der auf die Mode eingeht und die
neuen Bedürfnisse der Mode als wirkliche Bedürfnisse wertet, förderlich
für den Kapitalismus. Doch damit kommen wir schon auf ein Gebiet, wo
der Kapitalismus seine Existenzberechtigung zu verlieren beginnt, denn
er leistet nur noch wenig für den Ausbau und den Wohlstand einer Wirt-
schaft.?®) Die Veränderung wird hervergerufen um ihrer selbst willen, um
sie zu Erwerbszwecken auszunützen, nicht aber infolve der Einführung
von neuen Umwegen der Produktion.
So wie gerade diese Richtung an Stärke gewinnt, tritt eine voll-
ständige Materialisierung des ganzen wirtschaftlichen Denkens und Strebens
ein, einziges Ziel ist der höchste Gewinn. Quantität ist der Grundsatz
des schrankenlosen Kapitalismus, besonders des Monopoles, Qualität
erzeugt die Konkurrenz, aber nur als Mittel zum Zweck, Qualität als
Hauptzweck ist das Ziel der Genossenschaften. Durch die zünftische
Organisation erhält eben das dynamische Streben einzelner eine andere
Richtung. Die Versachlichung aller Werktätigkeit nimmt eine ganz andere
Richtung, sobald der Erwerb in feststehende Grenzen gebannt ist, ideale
Zwecke treten in den Vordergrund. Auch der Kapitalismus ist an und
für sich eine eminente Versachlichung der Arbeitsgesinnung, aber mit
einer bedeutenden Änderung in der Zwecksetzung, da nur der materielle
Erfolge den Ausschlag gibt.
Der dynamische Geist ist nicht auf die Wirtschaft beschränkt, er läbt
sich mit veränderter Zielrichtung fast überall wieder feststellen, in der
Politik, in der Kriegführung, in der Wissenschaft, auch hier abhängig von
38) Vel. E. Jaffe, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 40, 1915. S. 19 ff.
5") Vorausgesetzt, daß es sich nicht um die Ausfuhr von Modeartikeln
handelt,
Wesen und Entstehung des Kapitalisınus 2p
den Aufgaben und den erreichbaren Möglichkeiten. Überall gibt es Unter-
nehmergeist, es fragt sich nur, in welche Bahnen er gelenkt wird.
Wer sind die Träger der kapitalistischen Wirtschafts-
gesinnung ? M. Weber hat besonders auf die Kalvinisten hingewiesen,
W.Sombart wieder hat von den Juden*") gesprochen. Beide Ansichten sind
von der Kritik heftig bekämpft worden, nicht ganz mit Unrecht, denn ebenso
wie M. Weber das reliriöse Moment überschätzt, übertreibt Sombart
die Wirksamkeit der Juden, besonders in der Zeit vor dem 19. Jahrhundert.
Sombart hat in der 2. Auflage seines „Modernen Kapitalismus“ die
Beantwortung in dem Sinne erweitert, daß er jetzt allgemein von den
Nonkonformisten spricht. Damit ist er wohl der Lösung näher gekommen,
aber er hat sie doch nicht erreicht. Die Träger des „kapitalistischen Geistes“
sind die Unternehmer, die individualistischen Organisatoren, gleichviel,
welcher Religion sie angehören, ob sie vornehmer oder geringer Geburt
sind. Der Nonkonformismus spielt aber insofern eine Rolle, als er haufig
den Ausschluß von der normalen, traditionalistischen bürgerlichen Be-
taticung zur Folge hatte, so zwar daß die Nonkonformisten in ihrer
Tatigkeit auf ein Gebiet hingelenkt wurden, das ihnen nicht durch solche
Schranken versperrt war; auBerdem war ihnen auch die Verzunftung
überhaupt erschwert. AU das sind Folgen der rechtlichen Sonderstellung.
Daß die kalvinistische thik als solche diese Folgen nicht zeitigte, beweisen
die zahlreichen Kalvinisten in Ungarn. Da sie nämlich wegen ihres Glaubens
thr gewohntes bürgerliches Leben zu äudern nicht gezwungen waren,
ihren Erwerb in der überkommenen Weise weiterpflegen konnten, hat sich
auch bei ihnen kein besonderes Hinneigen zu Kapitalistischer Tätigkeit
vezeist.
Für die wirtschaftliche Gesinnung und Betätigung muß
man im allgemeinen wirtschaftliche Ursachen suchen.
M. Webers Beispiele stammen größtenteils aus Amerika, aus jenen
Lande, in dem durch Jahrhunderte die intensivste wirtschaftliche Organi-
sationsarbeit geleistet werden mußte; Amerika besaß einen ungeheuren
Markt von unübersehbarer Erweiterunesfähickeit. es war daher immer das
Eldorado für Unternehmernaturen, dorthin sind die tüchtigsten und
4) Auf die Kritiken gegen M.Weber wurde schon hingewiesen. Gegen Sombart
ist F. Rachfahl in Preußische Jahrbücher, 147. Bd., H. Wätjen in Vierteljahrs-
schrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 11, und Brentano in „Anfänge
des modernen Kapitalismus“. S. 158—199 aufgetreten,
26 Theodor Maver.
unternehmendsten Kräfte der alten Welt ausgewandert. Sollte die in
einem solchen Kreise entstandene bürgerliche Ethik nicht auch auf die
religiöse einigermaßen eingewirkt haben? Dabei möchte ich aber das
eine Moment nicht gering schätzen, daß die Prädestinationslehre von
Anfang an nicht unwesentliche Hindernisse ethischer Art, die Anders-
vläubige beschweren konnten, aus dem Wege räumte und schließlich auch
die Menschen in ihrem Selbstvertrauen und Glauben an ihre gerechte
Sache ungemein stärkte und sie aufmunterte, auf dem einmal erwählten,
erfolgreichen Wege zu verharren, um so mehr, als das in die Wege geleitete
Werk wirklich ein hohes und großes Kulturwerk war. Große Werke werden
nur von Menschen vollbracht, die vor allem einen Glauben an sich und
ein starkes Selbstvertrauen besitzen. Dieses Selbstvertrauen wurde aber
gewiß durch die kalvinistische Ethik mehr als durch eine andere immer
wieder gestärkt. In diesem Sinne darf man wohl den Ausführungen
M. Webers zustimmen.
Zu den Nonkonformisten gehören allyemein die Ausgewanderten; viel-
fach haben diese Kenntnisse mitgebracht und auch Kapital. Die Kennt-
nisse haben sie oft in einem weniger entwickelten Lande betätigt und
konnten daher leicht zu Organisatoren, die Umwege der Produktion berbei-
führen, werden. In Bezug auf das Kapital trat aber bei diesen Leuten wirklich
das Verwertungsbestreben in erheblichem Maße wirksam auf, denn sie
mußten von ihm leben. So sehr wir also die marxistische Auffassung
zurückgewiesen haben, in diesem Sonderfalle kann sie wirklich zutreffen.
Haben wir die Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus
und seine Wirksamkeit und Bedeutung erkannt, so erübrigt es noch, die
Frage zu beantworten, weshalb der Kapitalismus wieder untergegangen
oder soweit zurückgedrängt worden ist, daß er nicht mehr die Signatur
einer Zeit bildet. Den wichtigsten Grund kennen wir schon, nämlich die
eroBe Organisationstatigkeit, die naturgemäß nicht immer mit der gleichen
Jinergie betrieben werden kann, weil die Aufgaben fehlen. v. Below
hat in seiner Arbeit über die Motive der Zunftbildung im deutschen
Mittelalter*') den wertvollen Nachweis erbracht. daß, als einmal der Konsum
einen ungefähr erkennbaren und erkannten Umfang angenommen hatte,
41) Historische Zeitschrift, Bd. 109, jetzt Probleme der Wirtschaftsgeschichte,
S. 258—301. Vgl. auch den älteren Aufsatz von G. Schönberg: Zur wirtschaftlichen
Bedeutung des deutschen Zunftwesens im Mittelalter. Jahrbuch für Nationalökonomie
und Statistik, Bd. 9.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 21
die Produzenten sich zusammenschlossen, um als beati possidentes ihren
Anteil zu sichern und einen weiteren Zuwachs an Konkurrenz durch esetz-
liche Maßnahmen zu verhindern. Sobald also irgendwo und irgendwie ein
bestiinmter Verbrauch in einer bestimmten Erzeugung seine Deckung
gefunden hatte, der Markt wirklich oder scheinbar vesittigt war, da wurden
die Mauern und Schranken des Zunftwesens aufgerichtet, da machte sich
die Idee von der „bürgerlichen Nahrung” geltend. Deshalb haben sich auch
die verschiedenen Beschränkungen der Zunft nicht oder nur mit ver-
minderter Stärke auf jene wirtschaftliche Tätigkeit bezogen, welche über
die Grenzen des eigenen Wirtschaftskörpers hinausging, wo der Erzeugung
nicht ein von vornherein ungefähr bekannter Verbrauch entsprach, wo
die „bürgerliche Nahrung‘ keines Angehörigen der Zunft der eigenen Stadt
eschmälert wurde.
Damit haben wir den wichtigen Nachweis gewonnen daß die freie
Wirtschaft nur dann und solange bestehen blieb, als trotz
stärkerer Betätigung einzelner noch immer für die anderen
ein genügender Raum übrig blieb oder zu bleiben schien,
daß also die freie Wirtschaft und die Betätigung des individuellen Erwerls-
veistes, die wir als Voraussetzung für den Kapitalismus bezeichneten,
ihrerseits wieder die Möglichkeit zur Voraussetzung hat, auch eine größere
als zur Erhaltung jedes einzelnen Erzeugers notwendige Gesamt-
produktionsmenge dem Verbrauche zuzuführen. Es gibt aber außerdem
bedeutsame innere Gründe. Es ist eine mit gesetzmäbirer Kraft wirkende
Tatsache, daß jede Tendenz, die ihr Ziel ganz erreicht, damit zum Abschluß
kommt. Die Erfüllung des letzten Zweckes macht sich in gleicher Weise
auch beim Kapitalismus geltend. Das endliche Ziel des Kapitalismus ist
die zweckmäßieste Durchführung seiner Absichten, Insoweit sie dem
Erwerbsinteresse dienen, der höchste Erwerb auf breitester Grundlage,
die Gewinnung des ganzen Marktes. Dieses Ziel ist nichts anderes als das
Monopol?*) dessen Ertrag sich annähernd bis an die höchste Grenze
steigern läßt. [mmer schen wir als markantes Zeichen des Kapitalismus
die Monopolsucht, die im 19. und 16. Jahrhundert geradezu phantastische
Blüten treibt. Nehmen wir an, es hätte jemand für einen bestimmten
Markt in einer Ware ein Monopol erreicht, z. B. anf Eisen, Kohle, Industric-
artikel ete., ein fremder Markt aber sei ihm vollständig versperrt, so gibt
$2) Vgl. v. Philippovich, Allgemeine Volkswirschaftslehre. 8.237 18. Vel.
auch E. Jaffe, Archiv für Sozialwissenschaft. Bd. 40.
28 Theodor Mayer.
es dann eine Gewinnsteigerung voraussichtlich nur auf Grund neuer Um-
werre der Produktion. Aber auch hier läßt sich die Grenze der wirtschaft-
liehen Rentabilität annähernd erreichen. Von diesem Augenblick an ist
die Monopolbildung, der, solange sie rationelle Umwege der Produktion
und bessere Organisation des Absatzes ermöglicht, die wirtschaftliche
Bedeutung nicht abzusprechen ist, nur mehr ein Erzeugnis des reinen
irwerbseeistes, sie ist unproduktiv. Dann sind die gegen die Monopole
erhobenen Anklagen berechtigt. Soweit menschliche Voraussicht reicht,
sind mit dem Monopol die Zukunftsmöglichkeiten erschöpft, die Zukunft
aber und die Unsicherheit sind der Tummelplatz der Wünsche und Gie-
danken der Kapitalisten. Das Unternehmen wirkt nicht mehr auf die
Phantasie. Damit wird der Gewinn annähernd gleichmäbig, er wird zur
Rente, die an die Stelle der unsicheren, durch Arbeit und Spekulation
erworbenen Gewinne tritt. Das Moment der Möglichkeit, die Erwerbs-
vrundlagen zu vergrößern, schwindet, das wirtschaftliche Streben richtet
sich naturgemäß auf Erhaltung und Bewahrung ein, der Kapitalismus
in unserem Sinne hört auf, an seine Stelle tritt eine konservative, nicht
selten dem Fortschritte feindliche Stimmung. Der Monopolinhaber kann
sich erlauben, Produktionsverbesserungen zu unterdrücken, um sich Neu-
anlagen zu ersparen, in der freien Wirtschaft wäre das unmöglich.*?) So
sehen wir also, daß die restlose Erfüllung der kapitalistischen
Ziele schließlich zu einer anderen Wirtschaftsgesinnung führt,
zum Rentnertum, das in scharfem Gegensatz zum dynamischen
Prinzip steht.
Nicht selten ist die vermeintliche Sättigung des Marktes und Unmög-
lichkeit der Erweiterung der Erwerbsgrundlage, sowie die damit im Zu-
sammenhang stehende Bequemlichkeit, die nicht mehr aufgepeitscht wird,
die Ursache für die Errichtung von. Aktiengesellschaften oder anderen
venossenschaftlichen Bildungen. Die Geschichte der Steyrer Eisenhandels-
kompagnie ist ein treffender Hinweis.**) Die Kaufleute, welche zusammen
43) Vgl. F. Gerlich: Geschichte und Theorie des Kapitalismus, S. 387, An-
merkung.
#4) J. Strieder: Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen.
N. 129 ff. Vgl. auch 145- 56. Strieder scheint mir das geradezu antikapitalistische
Moment zu verkennen. Sein Augenmerk ist im allgemeinen auf die Kapitalsbeschaffung
durch Gesollschaftsbildung gerichtet. Es müßte für jede solche Gesellschaft auch
dieses Motiv untersucht werden.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 29
das Monopol besaßen, richteten sich den Handel so ein, daß sie ein bequemes
Leben als Besitzer von Landgütern führen konnten, während nur einige
wenige sich noch in der Leitung der Gesellschaft betitigten. Auch heute
können wir häufig die gleiche Erfahrung machen. Wenn einmal die Wirt-
schaft nach starker Entwicklung zu einer gewissen Ruhe kommt und eine
annähernde Übersicht über den Verbrauch zu erlangen ist, da treten in
jenen Zweigen der Erzeugung, für die die Monopolbildung leicht möglich
ist, Erscheinungen auf, die auf die Ausschaltung des Wetthewerbes, auf
die Erhaltung einer möglichst gleichbleibenden Einnahmequelle abzielen,
die Kartelle, die abgeschlossenen Genossenschaften, die Zünfte. Immer ist
die Monopolsucht als das Zeichen des Kapitalismus bezeichnet und auch
angeklagt worden. Aber war denn das Bestreben der mittelalterlichen
Zünfte, innerhalb eines Wirtschaftskörpers jeden Wettbewerb von außen
abzuwehren, nicht ganz das Gleiche 7**) Freilich war das nicht das Monopol
eines Individuuns, sondern einer Genossenschaft und erhielt damit ein
soziales Mantelchen. Immer galt der höchste zu erreichende Gewinn als Zie!
wirtschaftlicher Tätigkeit. Die zahllosen Preissatzungen, die uns aus der
zünftischen Zeit erhalten sind, sind nicht zufällig erlassen worden, sie sind
auch nicht das Produkt von miiBigen Amtsschreibern, sie bilden viel-
mehr das ganz natürliche und notwendige Regulativ, welches einsetzen
muß, wenn nicht die Preise durch den freien Wettbewerb selbsttätig
geregelt werden. Die vielen Festsetzungen der Höchstmenge der zulässigen
Erzeugung im einzelnen Betriebe wären auch nicht notwendig gewesen,
wenn die Wirtschaftsgesinnung immer nur traditionalistisch gewesen wäre,
sie erinnern uns aber sofort an ihr modernes Gegenbeispiel, die Kartell-
quoten. Die Kartelle sind ja auch nichts anderes als genossenschaftliche
Monopolbildungen, ebenso wie die alten Zünfte. Wie im Mittelalter die
Erzeugung über das Stadtgebiet hinaus frei war; so ist auch heute die
Produktion für das Ausland unbeschränkt, also wieder eine Parallele.**)
Der ganze Vorgang könnte auch als Kampf gegen das Gesetz vom
abnehmenden Ertrag bezeichnet werden; entweder es gelingt durch stän-
digen Fortschritt, den Gewinn zu steigern oder doch zu erhalten oder die
Konkurrenten geben den kostspieligen Wettbewerb auf, verzichten auf
43) Vgl. neben v. Below: Probleme, S. 258 ff. noch den Artikel Monopol“ von
Lexis im Handwörterbuch der Staatswissenschaft, Bd. VI. S. 769 f. sowie Artikel
Zwang- und Bannrecht‘‘ von Stieda, ebendort, Bd. VIII. S. 1162.
46) Vgl. W. Wygodzinsky: Wandluneen der deutschen Volkswirtschaft im
19. Jahrh. Köln 1907 von R. Liefmann: Kartelle und Trusts. 3. Aufl. 1918.
30 Theodor Maver.
die Hoffnungen auf eine unsichere und gefahrvolle Zukunft, um sich für
die Erhaltung der Gegenwart einzurichten; was sonst die Tiichtigkeit
des einzelnen erreichen sollte, das mußte jetzt die gesetzliche Norm sichern.
Besonders klar zeigen sich diese Tendenzen bei der Landwirtschaft,
wo im allgemeinen nicht von einem Kapitalismus gesprochen wird.**) Fin
Kapitalismus im Sinne der Erweiterung der Erwerbsgrundlagen ist dort
nur insolange möglich, als neue Umwege der Produktion eingeführt werden
können, dann aber. bevor der Grund und Boden endgültig in festen Besitz
übergegangen ist, also vor Abschluß der Kolonisation**) oder wenn sich
Gelegenheit ergab, Bauern zu legen und damit die Eigenwirtschaft zu ver-
erößern. Für die Einführung von neuen Produktionsumwegen ist aber durch
den „abnehmenden Ertrag“ eine sichere Grenze gezogen. Durch alle diese
Umstände wurde der konservative Charakter wesentlich befestigt: derErtrar
der Landeüter erfuhr eine weitgehende Stabilisierung und erhielt dadurch
den Charakter der Rente, der spekulative Zukunftshoffnungen fehlen.**)
Nicht nur von außen drohen also dem Kapitalismus Gefahren, in
sich selbst trägt er das Gesetz der Erfüllung und der eigenen Negation,
aus sich selbst heraus führt er wegen seiner Monopolsucht letzten Endes
zu seiner eigenen Überwindung, sobald seine Voraussetzung, die Um-
oder Neuorganisation der Wirtschaft, ihrem Ende zugeht und ihm nicht
mehr tagtäglich durch neue Aufgaben neue Impulse und frische Lebens-
kraft zugeführt wird.?®)
Der Kampf von außen her mub in seiner Bedeutung richtig einge-
schätzt werden. Solange tatsächlich für jeden die Möglichkeit besteht,
sich selbst, wenn auch im kleinsten Kreise als Unternehner zu betätigen,
ist es überhaupt kaum möglich, eine geschlossene Linie gegen ihn zu bilden,
47) Vel. G.F. Knapp: Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit. Leipzig 1909,
Sieveking in Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Bd. 7, 1909, 8.69.
$s) Vel. für Amerika W. Sombart: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten
keinen Sozialismus ? 1996, und G. M vers: Geschiehte der großen amerikanischen Ver-
mögen. Berlin 1916. Die Darstellung ist zwar sehreinseitig, aber sie bringt viel Material.
**) Teh möchte nach dem Gesagten nicht bloß in der Geldwirtschaft von Kapi-
talismus sprechen, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß die unendliche erhöhte Beweg-
lichkeit der Geldwirtschaft den Kapitalismus unendlich erleichterte und begünstigte.
5) Die Grenze des Kapitalismus ist allerdings individuell verschieden, eine voll-
ständige Sättigung des Marktes tritt kaum einmal ein. Besonders tüchtige Leute
finden doch immer wieder nene Möglichkeiten, es ist aber begreiflich, daB bei Monopol-
inhabern eine Müdirkeit eintritt.
Wesen und Entstehung des Kapitalismus. 51
da: heweisen die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten.’') Wenn aber
diese Möglichkeit schwindet, ersteht die Reaktion. Viele sind in der freien
Wirtschaft berufen, aber doch nur sehr wenige auserwählt. Angriffspunkte
bietet nun der Kapitalismus genug, denn kein System neigt so sehr zu Aus-
wiichsen wie er. Das liegt in seiner Natur; wer immer nur bedachtig bleibt,
der ist nicht zum Kapitalisten geboren. Schrankenlosigkeit in jeder Hin-
sicht ist ein Lebenselement des Kapitalismus. Schrankenlosigkeit, Uber-
spekulation ist aber auch ein Todeskeim für den Kapitalismus, also wieder
eine sich selbst negierende Eigenschaft, sie hat den Kapitalismus des
16. Jahrhunderts zum Bankrott gebracht. Die Proteste der Monopol-
rezner haben ihm wenig geschadet. Wegen dieser Schrankenlosiekeit haben
die Kaufleute damals auch den Zusammenhang des Handels mit der
politischen Organisation unterschätzt. Ein Steg des Kaisertumes in Deutsch-
land. die Aufriehtung einer wirklichen Weltherrschaft durch Karl V. hätte
ihrem Treiben längeren Bestand verliehen, in den kleinen deutschen Terri-
torialwirtschaftsgebieten, die sich tunlichst abschlossen, waren die Ent-
wicklungsmöglichkeiten bald erschöpft. Politische Vorgänge können wirt-
schaftliche Entwieklungsmöglichkeiten und damit den Kapitalismus zur
Folge haben, sie können aber auch die geventeilige Wirkung hervorrufen.
Die gleichen Gründe, welche das Aufkommen des Sozialismus in
Amerika so stark gehemmt haben, haben auch den genossenschaftlichen
Kampf gegen den Kapitalismus im alten Europa verzögert. Erst allmählich
erwuchs die Reaktion und die Opposition. Aber es fehlte an einer zusanı-
menfassenden Organisation, denn alles Zünftische war untergegangen
oder doch machtlos. Die Bildung der Kartelle der großen Produzenten —
Zünfte wäre als ein unpassender Ausdruck erschienen -— haben wir schon
besprochen. Den Kartellen entsprechen die Genossenschaften der Gewerbe-
treibenden, die den Ring durch einen komplizierten Befahigungsnachweis
und vielfach durch die Erbringung des Nachweises des Bedürfnisses wieder
schließen wollen. Nur dem Namen nach und eradmabig unterscheiden sie
sich alle von der Zunft. Aber auch bei den Arbeitern selbst sehen wir
diesen Geist in der Gewerkschaft wirksam. Gleichmabigkeit des Ein-
kommens ohne Rücksicht auf die Individualleistung, ja Zurückhaltung
höher Veranlagter ist die Grundtendenz. Das alte Nahrungsprinzip steht
wieder in Geltung. Kein Zweifel, daß wir schon aus rein wirtschaftlichen
Gründen, jetzt, da der größte Teil der Neuorganisation der Wirtschaft
“ty Sombart a.a. O.
a Theodor Mayer.
abgeschlossen ist, mit voller Deutlichkeit dem Systeme des Zunftwesens
zu steuern. Der Umstand, daß der Kapitalismus von selbst sich zu genossen-
schaftlichen Bildungen entwickelt, verhindert, daß er vom Kommunismus
abgelöst wird. So merkwürdig es klingt, die Genossenschaft ist der eigent-
liche, unüberwindliche Gegner des Kommunismus, nicht der Kapitalismus.
Der Krieg und die Zeit seit 1918 haben freilich noch einmal dem
Kapitalismus neue Lebenskraft eingehaucht, die Reaktion ist aber deshalb
um so stärker. Niemals herrschte allgemein ein so lebhaftes Streben nach
eenossenschaftlichen Organisationen. Die augenblicklichen Verhältnisse
beweisen allerdings, wie sehr die leichte Gewinnmoelichkeit den Erwerbs-
geist erhitzt, einen längeren Bestand kann aber diese kapitalistische Be-
wegung nur insofern haben, als sie die Neuorganisation des wirtschaft-
lichen Lebens durchführt. | 7
Uberblicken wir den Gesamtverlauf des deutschen Wirtschaftslebens in
den letzten 1000 Jahren, so sehen wir den Übergang von einer mehr freien
Wirtschaft zu einer gebundenen, eine nicht vollständig zum Durchbruch
gelangte freie Wirtschaft im 16. Jahrhundert, eine freie und individuali-
stische im 19. Jahrhundert. Immer treffen wir aber neben der gebundenen
Form eine freie Betätigung, die nur vom individualistischen Erwerbsgeist
getragen wird. Ihr oblag die Pflege jener Zweige der Wirtschaft, zu der
die Zunft nicht fähig gewesen ist, also besonders die über den gleichmäßigen
Konsum des eigenen Wirtschaftskörpers hinausgehende Produktion und
Handelsbetatigung.
Zwei Bestrebungen treten im wirtschaftlichen Leben deutlich zutage,
eme zielt auf die Erweiterung der Erwerbserundlage, die andere auf die
Erhaltung des Erworbenen ab, die eine ist kapitalistisch, die andere zünft-
lerisch, die eine dynamisch, die andere statisch. Die eine ringt sich dann
durch; wenn große Erwerbsmögliehkeiten vorhanden sind, wenn der Wirt-
schaft große neue Aufgaben zuwachsen, zu deren Bewältieung die mbe-
hinderte Betätigung eines zielbewußten Unternehmertums notwendig ist,**)
den Zeiten der hastigen Unruhe folgen aber wieder solche der Sammlung.
Die freie Wirtschaft, der Individualismus allein ist befähigt, in kürzester
52) Diese höhere Leistungsfähigk°it der freien Wirtschaft war schon im Mittel-
alter wohlbekannt. Als Wien im Jahre 1275 dreimal von schweren Brandschäden
heimgesucht wurde, gewährte König Přemysl Ottokar I]. für fünf Jahre Gewerbe-
freiheit, er hob die „nunanimitates artificialium’ auf, um den Wiederaufbau zu er-
leichtern und zu beschleunigen. Vgl. Contin. Vindob. Mon. Germ, Seript. IX., S. 707.
Wesen und Entstehung der Kapitalismus. 33
Zeit eine Organisation zu errichten, niemals hat das die Zunft vermocht,
niemals wohl wird sie dazu imstande sein. Das kann nur eine Richtung,
die unbeirrbar nur das sachliche Moment sieht. Diese selbst aber negiert
sieh. wenn ihr die Möglichkeit zur weiteren Ausbreitung fehlt und auch
wenn sie ihr letztes Ziel erreicht. Kalt und nüchtern ist der Bau, den die
freie Wirtschaft aufführt, wohnlich wird er erst, wenn eine zünftlerische
Riehtung zur Herrschaft kommt, die nicht mehr bloß den Ertrag allein
im Auge hat, sondern den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Politik rückt.
Einer Richtung, welche nur auf die Auffindung neuer Quellen des Reich-
tums abzielt, folgt eine andere, welche die Verteilung regeln will.
Jede gesunde Volkswirtschaftspolitik muß trachten, daß die Er-
rungenschaften der Wirtschaft dem Volke als ganzem und nicht bloß
einzelnen zugute kommen, daß jeder den Anteil an dem Gesamteinkommen
erhält, der dem wirklichen Ertrage und dem wahren Werte seiner Arbeit
sleichkommt. Eine Übertreibung dieses Anteiles durch rücksichtslose Betäti-
sung des Individualismus oder durch starrköpfiges Festhalten an veralteten
Privilegien muß zu Gegenbewegungen führen. Eine Richtung braucht
ein ständiges Gegengewicht an der anderen, ohne Individualismus kein
Fortschritt, ohne genossenschaftliche Bildung keine Gesellschaft. Kapita-
lismus ist der Grundsatz des Erwerbes, Zunft der der Verteilung, beide
müssen zusammenwirken. Hier die richtige Mitte zu finden ist nur schwer
möglich. Wer unvoreingenommen und ohne geschichtliche Erfahrung
die Schriften eines Anhängers der freien Wirtschaft oder die eines Ver-
treters der mäßig zünftischen liest, wird an den einen wie an den andern
Genugtuung finden, und doch haben beide recht und unrecht zugleich,
wollten sie als Evangelien für alle Zeiten gelten. Alle derartigen syste-
matischen Schriften vergessen zu leicht, daß sie nicht bloß von einer un-
persönlichen Wirtschaft sprechen, für welche allein die Vernunft gilt,
sondern von Menschen mit Vorzügen und Fehlern, die allzu leicht geneigt
sind, die Möglichkeiten eines Wirtschaftssystemes auszunützen, sei es, um
sich ungehörig zu bereichern, sei es, um sich selbst in trägem Genießen von
einem Systeme tragen zu lassen. Jede Bewegung erzeugt daher im Laufe
der Zeit solche Auswüchse, daß sie von einer jungen Reaktion abgelöst
wird. Die Entwicklung geht nicht geradlinig vorwärts oder aufwärts,
sie führt schließlich in irgend einer Form wieder zum Ausgangspunkt
zurück und schließt so den ewigen Kreislauf.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 3
Wirtschaftliche Bestimmungen
des Friedensvertrages von Saint-Germain.
Von Richard Schüller.
Das unübersehbare, bedeutungsvolle Material, das die Wirtschafts-
vorgänge im Weltkrieg und seit Friedensschluß der wissenschaftlichen
Untersuchung bieten, muß erst gesammelt werden. Nur ein Teil dieses
Materials liegt vollständig und übersichtlich vor: Die Friedensverträge,
die für den Übergang zur Friedenswirtschaft ein entscheidendes Moment
darstellen. Die kritische Betrachtung dieser Verträge hat schon vor ihrem
Inkrafttreten nicht nur in den Noten und Denkschriften der alliierten
Mächte, sondern auch von anderer Seite begonnen; vor allem in dem so
berechtigtes Aufsehen erregenden Buche von Keynes. Zur Beurteilung
der Friedensverträge und ihrer Einpassung in das Gesamtbild der wirt-
schaftlichen Entwicklung dient die Beobachtung, wie sie sich in der prak-
tischen Durchführung gestalten; die Feststellung des Verhältnisses zwischen
ihrer Theorie und Praxis. Diese soll in foleendem für einen Teil des öster-
reichischen Friedensvertrages versucht werden, soweit es jetzt schon
möglich ist.
Fachleute aller alliierten und assoziterten Staaten, Beamte, Gelehrte,
Finanziers haben die umfangreichen wirtschäftlichen Bestimmungen der
Friedensverträge verfaßt, für deren Tendenzen und Hauptpunkte der
Wille der leitenden Männer der Entente maßgebend war. Ihre Redaktion
wurde dadurch erleichtert, daß sie nicht im Wege von Verhandlungen,
sondern in der Hauptsache durch einseitiges Diktat der siegreichen Mächte
zustande kamen, so verderblich dies für ihren Inhalt und die europäischen
Verhältnisse wurde. Den Friedensdelegierten der besiegten Mächte gegen-
über wurde die Nichtberücksichtigung ihrer Anträge oft damit begründet,
daB die Friedenskonferenz schon zu müde sei. Aber trotz der nur allzusehr
benutzten Möglichkeit einseitiger Festsetzung war die Aufgabe eine
ungeheure. Es sollten die wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen
Wirtschaftliche Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain. 35
zwischen den am Kriege beteiligten Staaten durch fünf Staatsverträge
auf lange Zeit hinaus cine Regelung erfahren. Die größten Schwierigkeiten
mußten hiebei daraus entspringen, daß die Durchführbarkeit der Friedens-
artikel und ihrer Wirkungen von der künftigen wirtschaftlichen Ent-
wicklung der beteiligten Staaten abhängt. Es war zur Zeit des Friedens-
schlusses für die siegreichen Staaten nicht möglich, ihre eigene Lage richtig
zu beurteilen, noch viel weniger die der besiegten Staaten und deren
Zukunft. Solche Kursstürze der europäischen Zahlungsmittel, wie sie
seither eingetreten sind, hat man nicht vorausgesehen. Hiedureh allein
schon ist das Bild ganz verschoben worden, was sich bei den Verhand-
lungen über die von Deutschland zu leistenden Reparationen zeigt. In
den Friedensverträgen ist ferner nicht damit gerechnet, daß die Staats-
ausgaben der besiegten Staaten auf ein Vielfaches hinaufschnellen, die Ein-
nahmen nur einen Bruchteil der Ausgaben decken, Eisenbahnen und andere
Staatsbetriebe mit vielen Milliarden passiv sein würden. Man sah auch
nicht voraus, daß die europäischen Staaten es nicht vermöchten, die dringend-
sten Lebensmittel und Rohstoffe aus überseeischen Gebieten zu beziehen.
Im Friedensvertrag von Saint-Germain kam noch dazu, daß ein
Großteil des Textes aus dem Versailler Vertrag mit Deutschland über-
nommen wurde, vielf&ch ohne Rücksicht darauf, daß die betreffenden
Artikel auf österreichische Verhältnisse nicht anwendbar sind oder eine
ganz andere Wirkung hervorrufen. So wird im Annex III der Partie VIII
nach Muster des Deutschen Friedensvertrages Österreich verpflichtet, alle
Seehandelsschiffe, die Angehörigen der früheren Staaten gehören, an die
Entente abzuliefern. Nun hat das neue küstenlose Österreich, in dessen
Bereich keine Seeschiffahrtsgesellschaft ihren Sitz hat, über diese Schiffe
weder faktisch noch rechtlich Gewalt. Es ist also eine blanke Unmöglichkeit
Schiffe abzuliefern, die Staatsangehörigen alliierter oder assoziierter Staaten
gehören und sich im Machtbereich dieser Staaten befinden. Deutschland
konnte seine Seeschiffahrtsgesellschaften zur Übergabe verhalten, wie aber
soll Österreich italienische und S. H. S. Gesellschaften zur Ablieferung von
Schiffen an die Entente zwingen? Aus Übertragungen von Versailler
Friedensbedingungen mußten sich unerträgliche Konsequenzen in den
Fällen ergeben, in denen Maßnahmen, die für das Verhältnis zwischen den
siegreichen Staaten und Deutschland vorgesehen sind, auf das Verhältnis
zwischen den ehemalig österreichisch-ungarischen Gebieten und dem neuen
Österreich angewendet wurden. Ein besonders krasses Beispiel hiefür bildete
36 Riehard Sehiiller.
im Entwurf der Friedensbedingungen die Bestimmung, daß alles öster-
reichische Privateigentum in den Gebieten der aufgelösten Monarchie, mit
Ausnahme des neuen Ungarn, der Sequestration und Liquidation unter-
leet. Dieser ungeheuerliche Artikel rief, als er bekannt wurde, so heftige
Proteste hervor, daß er bald fallen gelassen wurde. Aber andere Verfügungen
dieser Art sind nicht oder nur teilweise beseitigt worden, wie Bestimmungen
über die Altkronenschulden zwischen den Angehörigen des ehemaligen
Österreich-Ungarn. Die Berater der Friedenskonferenz in diesen Fragen
waren Politiker der Nationalstaaten, die sich von vermeintlich einseitigen
Interessen und von Gefühlen leiten ließen, so daß die schwierigen Probleme
nicht gelöst, sondern zum Schaden aller Teile verwirrt wurden.
Die Auflösung des österreichisch-ungarischen Wirtschaftsgebietes in
sieben Teile war bereits vor Abschluß des Friedens eine durch politischen
Zerfall der Monarchie herbeigeführte Tatsache. Der Friedensvertrag hat
ihr rechtliche Sanktion erteilt, ohne daran. von wenigen noch zu bezeich-
nenden Ausnahmen abzusehen, Bedingungen für die Aufrechterhaltung der
wirtschaftlichen Zusammenhänge dieser Gebiete zu knüpfen oder auch nur
für eine rationelle ökonomische und finanzielle Liquidierung der gegen-
seitigen Beziehungen Vorsorge zu treffen.
Die Folgen, die die plötzliche Zerstörung der Monarchie insbesondere
für das neue Österreich haben mußte, suchte man durch Einzelbestin-
mungen zu mildern. So wurden im Artikel 224 der Tschecho-slowakische
Staat und Polen verpflichtet, Österreich 15 Jahre lang im Kohlenverkehr
die Meistbegünstigung zu gewähren und mit Österreich Verträge über
Kohlenlieferungen abzuschließen. Bis zum Zustandekommen dieser Ver-
einbarungen, doch nicht für länger als drei Jahre sollen sie die Ausfuhr
von Kohle nach Österreich abgabefrei, zu Inlandspreisen und in Mengen
gestatten, die mangels eines Übereinkommens von der Reparations-
kommission festzusetzen sind. Seither wurden mehrere Übereinkommen
mit der Prager Regierung abgeschlossen; nach dem gegenwärtig in Kraft
stehenden soll Österreich täglich 5000 ¢ Kohle aus der Tschecho-Slowakei
erhalten, die aber nicht voll geliefert werden. Die inländische Förderung,
zu deren Steigerung große Anstrengungen gemacht werden, ergibt pro Tag
rund 7000 kg Braunkohle. Durch Verträge mit Deutschland und mit Unter-
stützung der interalliierten Plebiszitkommission erhalten wir durchschnitt-
lich etwas mehr als 6700 ¢ oberschlesische Kohle. Österreich würde demnach
im ganzen über ungefähr 19.000 ¢ verfügen, wenn die Lieferungen voll
Wirtsehaftliche Bestiinmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain. 31.
eingehalten würden. Der auf das äußerste reduzierte Bedarf wäre aber,
ohne Hausbrand und bei nur etwa 50°, Belieferung der Industrie, ungefähr
30.000 ¢ täglich. Die Reparationskommission hat in der Erkenntnis, daß
die Vermehrung der Kohlenzufuhr für uns eine Lebensfrage ist, die
Zuweisung größerer Kohlenmengen an Österreich beantragt. Der ungarische
Friedensvertrag enthält im Artikel 208 die Bestimmung, daß zwischen
Ungarn und Österreich Vereinbarungen über die Lieferung von Nahrungs-
mitteln, Rohstoffen und Fabrikaten getroffen werden sollen. Bis zu ihrem
Zustandekommen, doch nicht länger als fünf Jahre, wird Ungarn ver-
pflichtet, die Ausfuhr von Nahrungsmitteln nach Österreich abgabefrei,
zum Inlandspreis und „up to a reasonable quantity“ zu gestatten. Wenn
hierüber keine Einigung erfolgt, hat die Reparationskommission die Menge
zu bestimmen. Der ungarische Friedensvertrag ist gegenwärtig noch nicht
in Kraft getreten.
Diese Einzelbestimmungen können natürlich keinen Ersatz für die
zerstörten Verbindungen Österreichs mit den anderen Teilen der Monarchie
bilden. Das ökonomische Hauptproblem des Friedens von Saint-Germain
bestand deshalb darin, wie das aus Wien und den Alpenländern bestehende
neue Österreich existieren könne. Zwei Lösungen kamen in Frage: Die
Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Verbindungen mit den früheren
Gebieten der Monarchie und der Anschluß an Deutschland. Gegen diesen
war bekanntlich insbesondere die französische Regierung, gegen jene
Italien, das jeden Ansatz einer Donau-Konföderation bekämpfte, aber auch
die Nationalstaaten, die ihre volle Selbständigkeit nicht durch wirtschaft-
liche Bindungen beeinträchtigt sehen wollten. Das Ergebnis der Verhand-
lungen war, daß beide Richtungen siegten. Es könnte scheinen, als wäre
dies nicht der Fall, sondern ein Kompromi8 zustande gekommen, das keine
der beiden Lösungen absolut negiert; denn nach Artikel 88 kann der
Anschluß an Deutschland gestattet werden, wenn der Völkerbund seine
Zustimmung gibt, und nach Artikel 222 können Österreich, Ungarn und
die Tschecho-Slowakei einander für fünf Jahre zolltarifarische Zugeständ-
nisse machen, auf die die Meistbegünstigung keine Anwendung findet. In
Wahrheit jedoch sind Österreich beide Wege versperrt worden, denn den
Anschluß an Deutschland kann der Vélkerbund nur mit Zustimmung aller
Staaten erlauben und die nähere Verbindung mit der Tschecho-Slowakei
und Ungarn gemäß Artikel 222 muß eine leere Formel bleiben. Schon die
Einschränkung dieses Artikels auf drei Staaten, insbesondere die Aus-
38 Richard Schüller.
schlieBung des S. H. S. Staates macht die Erzielung eines entsprechenden
Ergebnisses unmöglich. Sollen Österreich und die Tschecho-Slowakei die
Produkte des S. H. S. Staates ungünstiger als die Ungarns behandeln ?
Es ist ferner die Begrenzung solcher Verträge auf fünf Jahre gegen den
Sinn einer auf die Dauer berechneten engeren Wirtschaftsverbindung; auch
ist nur von differentiellen Tarifbegünstigungen die Rede, die leicht mehr
Schaden als Nutzen bringen und den Zweck einer wirtschaftlichen Ver-
bindung am wenigsten in einer Zeit erfüllen können, in der die Zolltarife
nicht das wichtigste unter den zahlreichen Hindernissen des gegenseitigen
: Verkehres sind. Man kann wohl mit Recht annehmen, daß die tschecho-
slowakischen Delegierten der Friedenskonferenz im klaren darüber waren,
daß sie von der im Artikel 222 eingeräumten Befugnis keinen Gebrauch
machen würden. In einer Note Clémenceaus vom 8. Juli 1919') wurde
zwar darauf hingewiesen, daß es Österreich durch den Artikel 222 ermöglicht
werde, den wirtschaftlichen Güteraustausch mit den Ländern aufrecht zu
erhalten, aus denen seine wichtigsten Importe stammten und nach denen
es den größten Teil seiner Produkte absetzte. Die österreichischen Dele-
gierten haben aber schon damals geantwortet, es werde mit diesem Artikel
nichts anzufangen sein.®) Dies hat sich inzwischen als richtig erwiesen.
Der Friedensvertrag läßt also für die engere wirtschaftliche Ver-
bindung der früheren Gebiete der Monarchie keinen gangbaren Weg offen.
Nicht einmal für die Herstellung eines normalen Handelsverkehrs, wie er
vor dem Kriege zwischen unabhängigen Staaten bestand, ist zwischen den
Gebieten der aufgelösten Monarchie Vorsorge getroffen. Die Artikel 217
bis 223 sichern auch der Tschecho-Slowakei, Polen, dem S. H. S. Staate
und Rumänien einseitig die Meistbegünstigung in Österreich, daneben noch
die Fortdauer geltender Vertragszölle während bestimmter Fristen. Hie-
durch mußte der Abschluß von Handelsverträgen mit diesen Staaten
erschwert werden. Dessenungeachtet haben inzwischen die Belgrader und
die Bukarester Regierung mit der österreichischen provisorische Handels-
übereinkomnen auf der Grundlage gegenseitiger Meistbegünstigung ab-
geschlossen. Sie ließen sich dabei wohl mit von der Erwägung leiten, daß
die Verweigerung der Meistbegünstigung verbitternd wirken müßte und
daß es doch nicht recht angehe, wenn ihre Kaufleute und Waren nach
1) Beilage der konstituierenden Nationalversammlung Nr. 379, Bericht über die
Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation. I. Band, S. 321, 322,
*) Ibd. S. 421 folgende.
Wirtschaftliche Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Gormain. 39
Österreich gelangen können, die österreichischen aber nicht in ihre Länder. ?)
Doch selbst wenn uns allseitig die Meistbegünstigung gesichert wäre, würde
dies nicht genügen, um den Handelsverkehr wieder herzustellen; bliebe es
doch jedem Staate freigestellt, seine Zölle beliebig zu erhöhen, das System
der Einfuhr- und Ausfuhrverbote aufrecht zu erhalten und Importe und
Exporte nur gegen spezielle Bewilligungen zu gestatten. Tatsächlich sind
die Staaten Zentraleuropas zu dieser rohen Form des Merkantilismus
zurückgekehrt. Bis zum Ausbruch des Krieges sind die Schutzzolltarife
und Handelsverträge immer feiner gestaltet und spezialisiert worden. An
Stelle dieser Präzisionsmaschinen werden jetzt wieder die groben Werk-
zeuge früherer Jahrhunderte verwendet mit dem Ergebnis, daß die Handels-
beziehungen zum Auslande schwer geschädigt, die Preise im Inland noch
mehr in die Höhe getrieben, die Bewilligungen und der Schmuggel die
Quellen großer Gewinne werden und Staatsbeamte darüber entscheiden
müssen, ob, wann und zu welchen Preisen eine Ware ein- oder ausgeführt
werden kann, eine Funktion, zu der sie sich nirgends befähigt gezeigt
haben. Überzeugt, daß für kleine Staaten immer und jetzt um so mehr
ein möglichst freier Handel notwendig sei, suchte Österreich zunächst die
Ausfuhrverbote auf die notwendigsten Waren — Nahrungsmittel und nicht
in genügender Menge vorhandene Rohstoffe -- einzuschränken und wendete
Einfuhrverbote der Tschecho-Slowakei, Polen und Ungarn gegenüber nicht
an. Es hatte mit diesem guten Beispiele keinen Erfolg und sieht sich deshalb
und durch die im Friedensvertrag enthaltene Verpflichtung zur meist-
begünstigten Behandlung an die alliierten und assozlierten Staaten ver-
anlaßt, auch seinerseits allgemein gültige Kinfuhrverbote in Kraft zu
setzen. Der Verkehr mit der Tschecho-Slowakei ist trotz aller Hindernisse
auf Grund der alten Verbindungen und infolge des Bezuges von Kohle
und Zucker bedeutend; mit den übrigen Gebieten der früheren Monarchie
ist der Verkehr relativ gering und steht weit hinter dem mit Deutschland
und Italien zurück. Der durch den Friedensvertrag geschaffene Zustand
2) Die alliierten Hauptmächte haben Österreich die Meistbegünstigung noch nicht
gewährt, vielleicht hauptsächlich um kein Präjudiz Deutschland gegenüber zu schaffen.
Da die GroBmachte die österreichische Konkurrenz gewiß nicht zu fürchten haben
und sich selbst für die Förderung unserer Ausfuhr einsetzen, um uns die Beschaffung
unserer notwendigen Lebensmittel und Rohstoffe zu ermöglichen, liegt ein seltsamer
Widerspruch darin, daß sie sich gleichzeitig vorbehalten, unsere Waren ungünstiger
zu behandeln als die anderer Staaten.
40 Richard Schüller.
wird durch die Prohibitionspolitik der Staaten Zentraleuropas weit über
das Maß verschärft, das von den Mächten bei Friedensschluß voraus-
gesehen wurde. Wie die handelspolitischen wurden auch die währungs- und
finanzpolitischen Beziehungen zwischen den Gebieten Österreichs und
Ungarns im Friedensvertrage nicht entwirrt, ihre Regelung vielmehr durch
teils unklare, teils undurchführbare Bestimmungen erschwert, wofür der
Artikel 206 über die Liquidierung der u un Bank ein
nur zu starker Beleg ist.
Die Hauptmächte sind sich inzwischen wohl bewußt geworden, wie
nachteilig und unhaltbar diese Verhältnisse sind. Ein Zeugnis hiefür bildet
der Beschluß des Obersten Rates der alliierten Mächte vom 8. März 1920,
daß sofort eine freundschaftliche Kooperation und der unbeschränkte
Warenaustausch zwischen den neu geschaffenen und vergrößerten Staaten
hergestellt werden sollen, damit das europäische Wirtschaftsleben nicht
durch die Schaffung künstlicher wirtschaftlicher Barrieren gefährdet werde.
Den gleichen Beschluß faßte die Brüsseler Internationale Finanzkonferenz
im Oktober 1920. Die österreichische Sektion der Reparationskommission
hat den beteiligten Staaten vorgeschlagen, eine Konferenz abzuhalten, auf
der Erleichterungen ihres gegenseitigen Verkehres vereinbart werden sollen.
Aber auch eine Besserung der gegenwärtigen Verhältnisse würde nichts
daran ändern, daß das österreichisch-ungarische Wirtschaftsgebiet in sieben
Teile zerfallen ist und daß durch die Friedensverträge dem aus allen
Zusammenhängen gerissenen neuen Österreich beide Wege zur Wieder-
herstellung seines Wirtschaftslebens — der Anschluß an Deutschland und
die Verbindung mit den Nachbarstaaten — versperrt worden sind. So
wurde die Einigung zwischen den Mächten in dieser Frage erzielt, aber nun
stand und steht man vor dem Problem, wie Österreich unter solchen
Umständen leben kann.
Im Texte des Friedensvertrages würde man vergeblich nach einer
Antwort auf diese Frage suchen. Man findet darin, daß dem neuen Öster-
reich allein auch noch der weitaus größte Teil der Schulden des früheren
österreichischen Staates aufgebürdet und daß es außerdem zu Reparations-
zahlungen im weitesten Umfange verpflichtet werde. Allerdings zeigte sich
ein wenn auch schwacher Anfang zur Erkenntnis der wahren Lage darin,
daß nicht wie im deutschen Vertrage bestimmte Summen genannt werden,
die als Anzahlung auf die später zu fixierenden Reparationssummen zu
erlegen sind, sondern die Bestimmung hierüber ganz der Reparations-
Wirtschaftliche Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain. al
kommission überlassen wird.*) Die Kommission soll zunächst festsetzen,
weiche „somme raisonable“ in Geld und Waren bis Ende April 1921 zu
erlegen ist. Es wird ihr’) die Anweisung gegeben, die reale wirtschaftliche
und finanzielle Situation Österreichs und die durch den Friedensvertrag
herbeigeführte Verringerung seiner Zahlungsfähigkeit zu berücksichtigen.
Aber genau wie im deutschen Verträge ist für die Reparationsforderungen
durch Artikel 197 eine erste Hypothek auf alles öffentliche Eigentum
gelegt und die Reparationskommission durch § 12b des Annexes II beauf;
tragt, dafür zu sorgen, daß die öffentlichen Einnahmen i in erster Linie und
vor Verzinsung der inländischen Staatsschulden zur Deckung der Wieder-
herstellungen verwendet werden. Die österreichische Sektion hat inzwischen
unsere Verhältnisse eingehend untersucht und ist zu der Überzeugung
gekommen, daß Österreich i in seiner gegenwärtigen Lage keine Reparationen
leisten kann.
Ähnlich verhält es sich mit den Bestimmungen über die nach Annex IV
der Partie VIII in natura zu vollbringenden Wiederherstellungen. Österreich
sollte diesem Paragraph gemäß nach Listen, die von den beteiligten
Regierungen über die in ihren Gebieten angerichteten Schäden ausgearbeitet
wurden, Vieh und Maschinen, Baumaterialien und andere Waren gegen
Gutschrift des Wertes auf Reparationskonto liefern. Noch vor Feststellung
dieser Listen sollen drei Monate nach Inkrafttreten des Friedens Italien,
dem S. H. S. Staate und Rumänien 6000 Milchkühe und bestimmte Mengen
anderen Viehes ($ 6) und in sechs Monaten für den Export verfügbare
Mengen der in Österreich zum Verkaufe stehenden Möbelvorräte geliefert
werden. ($ 7.) Die Lieferung von Milchkühen und Vieh ist zu einer Zeit,
in der Kondensmilch, Fleisch und Fett auf Kredit importiert werden
müssen, offenbar nicht möglich. Der auf die Möbel bezügliche Paragraph
ist im Frühjahr 1919 verfaßt worden, als tatsächlich größere Mengen
billiger Möbel in Wien vorrätig waren, die inzwischen aber infolge des
Standes der Wechselkurse längst in das Ausland gegangen sind. Die
Termine für diese Lieferungen sind bereits verstrichen, ebenso die Termine
für die Feststellung der Leistungen in natura überhaupt. ($ 3.) Bei der
Entscheidung über diese Leistungen ist übrigens schon durch den Friedens-
vertrag selbst ($ 4) die Reparationskommission aufgefordert, die inneren
Bedürfnisse Österreichs insoweit zu berücksichtigen, als dies zur Aufrecht-
) Artikel 181 und Annex II, § 12c.
5) Ibd. § 12 b.
42 | j Richard Schüller.
erhaltung seines sozialen und wirtschaftlichen Lebens notwendig ist. Auch
die Bestimmungen des Annexes V über Lieferung von Holz, Eisen und
Magnesit zu Inlandspreisen hat sich bisher nicht als praktisch erwiesen,
da lelie Lieferungen rascher und leichter durch private Übereinkommen
als durch Regierungsaktionen erfolgen können.
Es hat sich gezeigt, daß Österreich gegenwärtig nicht nur zu Geld-
und ‘Sachleistungen unfähig ist, sondern überhaupt nicht leben könnte,
wenn es nicht Nahrungsmittel aus dem Auslande erhielte, die es nicht zu
bezahlen vermag. Im Friedensvertrag ist vorgesehen, daß die Reparations-
kommission die Summen bestimme, für die Österreich Nahrungsmittel und
Rohstoffe aus den Auslande beziehen kann (Artikel 181). Diese Summen
sollen aus den auf Reparationskonto geleisteten Zahlungen entnommen
werden. Da aber solche Zahlungen nicht stattfinden, kann der Bezug von
Lebensmitteln nur in einer vom Texte des Friedensvertrages abweichenden
Weise erfolgen: durch Gewährung von Krediten. Tatsächlich erhielt Öster-
reich schon vor dem Abschlusse des Friedens Kredite, die allmählich auf
48 Millionen Dollar erweitert wurden. Sie sind von den Vereinigten Staaten
von Amerika zu je einem Drittel England, Frankreich und Italien und von
diesen Staaten Österreich eingeräumt worden. England hat die auf seinen
Teil entfallenden 16 Millionen Dollar inzwischen bereits zurückgezahlt. Da
mit diesen Krediten das Auslangen nicht gefunden werden konnte, wurden
weitere Summen zugestanden, so daß sich der Betrag im Jahre 1919 auf
82 Millionen Dollar belief.*) Im Jahre 1920 wurden nchen einem Kreditrest
aus dem Vorjahre von den Vereinigten Staaten von Amerika 200.000 £
Mehl im Werte von mehr als 20 Millionen Dollar an Österreich geliehen,
von England die Fracht beigestellt, von der Schweiz und Holland Nahrungs-
mittel im Werte von ungefähr 10 Millionen Dollar gegen Rückzahlung nach
fünf Jahren kreditiert, von Argentinien 5 Millionen Pesos unter besonders
sünstigen Bedingungen zur Verfügung gestellt. Auch hat die englische
Regierung der österreichischen Industrie größere Wollmengen gegen lang-
jährige Kredite überlassen und sich zur Lieferung von Saatkartoffeln im
Werte von 1 Million Pfund bereit erklärt.
Inzwischen hat-im Juli 1920 die österreichische Sektion der Repara-
tonskOmmIssI0n ihre Arbeiten in Wien begonnen. Die Reparations-
s) Siehe die Berichte Sir William Goodes an den englischen Staatssekretär für
Äußeres, veröffentlicht als Berichte an das Parlament. — Economic Conditions in
Central Europe (I u. II) Miscellaneous Series Nr. 1 u. 6, 1920, London. .
Wirtschaftliche Bestimmungen des Friedensvertrages von Saint-Germain. 43
kommission hatte schon in ihrer Zuschrift an die österreichische Regierung
vom 21. Mai 1920‘) den Standpunkt eingenommen daß der österreichischen
Regierung Kredite für Lebensmittel und Rohstoffe eingeräumt werden
würden, und ihr die Ermächtigung erteilt, für solche Kredite Schatzscheine
auszugeben, die den Vorrang vor den Reparationsansprüchen genießen
sollen. Die Sektion nimmt hiefür finanzielle Kontrollrechte in Anspruch,
die noch über die im Friedensvertrag selbst -enthaltenen hinausgehen.
Nicht nur Staatseigentum, sondern auch Eigentum der Länder und
Gemeinden darf nicht ohne Zustimmung der Sektion veräußert werden.
Die österreichische Regierung wird verpflichtet, über Wunsch der Sektion
auch den Verkauf von Privateigentum an das Ausland gesetzlich zu unter-
sagen. Die Sektion behält sich vor, wenn ihr dies notwendig erscheint, die
unmittelbare Kontrolle der Staatseinnahmen und Staatsausgaben zu über-
nehmen. Sie kündigt zugleich an, daß sie einen umfassenden Plan für die
wirtschaftliche Wiederaufrichtung Österreichs ausarbeiten werde. Dies ist
inzwischen geschehen. Die österreichische Sektion der Reparations-
kommission hat erkannt, daß es nicht genüge, Österreich unter bestimmten
Bedingungen seine eigenen Aktiven zur Erwerbung ausländischer Kredite
freizugeben, daß vielmehr die Finanzen und das Geldwesen Österreichs
ohne mehrjährige ausländische Kredite nicht aufrecht erhalten werden
können. Die Vorschläge der Sektion sind von der Pariser Reparations-
kommission angenommen und den Regierungen der Hauptmächte über-
mittelt worden. Diese haben sich in ihren Konferenzen, die Ende Jänner
in Paris stattfanden, für einen anderen, auf der Heranziehung des inter-
nationalen Privatkapitals beruhenden Plan ausgesprochen, der jetzt in
Verhandlung steht. Wenn eine entsprechende Aktion von den Mächten
durchgeführt würde, hätte das wirtschaftliche Grundproblem des Staats-
vertrages von Saint-Germain in der Praxis vorläufig folgende Lösung
gefunden: Es wird Österreich durch auswärtige Hilfe ermöglicht, daß
es mehrere Jahre daran arbeite, die aus dem früheren Produktionsapparat
Österreich-Ungarns herausgerissenen Teile, die seine gegenwärtigen Grenzen
umfassen, zu einem selbständigen Wirtschaftskörper zu gestalten. Würde
die Aktion der Mächte nicht zustande kommen, dann wäre die Ver-
pflichtung Österreichs, als selbständiges Wirtschaftsgebiet weiter zu be-
stehen, als undurehführbar erwiesen.
7) S. „Wiener Zeitung‘ vom 31. Juli 1920.
um
Die Gesetzgebung
auf dem Gebiete der Innenkolonisation
im Deutschen Reiche.
Studie für eine Heimstatten-Gesetzgebung in Österreich.
Von Emanuel Hugo Vogel.
Die Innenkolonisation hat bereits lange vor dem Kriege in vielen
Staaten, insbesondere aber im Deutschen Reiche und in England eine
vielgestaltige gesetzliche Entwicklung durchgemacht, die auch zugleich
erkennen läßt, wie sehr gerade dieses Problem und seine Realisierung stets
notwendig die Züge des betreffenden Landes und Volkes sowie seiner
politischen und wirtschaftlichen Besonderheiten an sich trägt. Die Koloni-
sation oder Besiedelung im Heimatlande hat teils den Zweck, neue Bauern-
güter mittlerer und kleinerer Größe zu schaffen, auf diese Art regulierend
und reformierend in die bestehende Grundbesitzverteilung einzugreifen und
hier allzu große Gegensätze der Besitzverhältnisse auszugleichen, ins-
besondere aber zwischen Latifundien und Zwergbesitz eine widerstands-
fähige, produktionskräftige bäuerliche Mittelschichte einzuschieben, — teils
verfolgt sie wichtige Aufgaben auf dem Gebiete des ländlichen Arbeiter-
verhältnisses, indem sie die Ansiedlung von Landarbeitern auf Kleinstellen,
sei es zu Rentengut, Erbpacht oder mindestens die Landbeigabe an Arbeiter
und Taglöhner ohne Eigenhaus behufs Ergänzung ihres Lohneinkommens
zum Gegenstande hat. Diese umfassenden Aufgaben der inneren Koloni-
sation greifen also in die wichtigsten Gebiete der Agrarpolitik ein
und verfolgen in diesem Sinne einen rein wirtschaftlichen Zweck, die
Erhaltung und Mehrung des bäuerlichen Mittelstandes, die Hebung und
Förderung der landwirtschaftlichen Produktionskraft und damit auch des
inländischen Ernteergebnisses, die Verbesserung des ländlichen Arbeiter-
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 45
verhältnisses und die Bekämpfung der Leutenot und Landflucht. Außerdem
können sich mit der Innenkolonisation noch besondere nationale oder
staatspolitische Momente verbinden, wie dies namentlich in Grenzgebieten
oder in national gemischten Ländern der Fall zu sein pflegt. Diese Art der
Innenkolonisation verläßt bereits die rein wirtschaftliche Sphäre und
verfolgt Interessen der Staatspolitik oder nationaler Sicherung und
Abwehr.
Zu allen diesen bisherigen Aufgaben und Zwecken staatlicher Siede-
lungspolitik ist in der Kriegszeit noch ein neuer Zweig hinzugekommen,
welcher das ganze staatliche oder doch staatlich geleitete und beaufsichtigte,
wenn auch zunächst von freigebildeten Assoziationen (Siedlungsgesell-
schaften, Genossenschaften, Vereine) oder Anstalten, Banken usf. in
Angriff genommene Siedlungswesen auf ganz neue Grundlagen zu stellen
und zugleich mit einer neuen unschatzbaren Agitationskraft auszustatten
geeignet ist. Es ist die Heimstättenfrage, insbesondere die Fürsorge für
heimgekehrte Krieger und Kriegsgefangene, welche in allen früher krieg-
führenden Staaten eine schon aus Rücksichten der Bevölkerungspolitik
nach einem völkermordenden jahrelangen Weltkriege, zugleich aber auch
aus primären Gründen einer rationellen Ernährungspolitik unumgänglich
notwendige, höchst dringliche Aufgabe der nächsten Zukunft bildet. Damit
verbindet sich die Vorsorge für eine wenigstens teilweise Rückleitung des
überschüssigen Standes an industriellen und gewerblichen Arbeitern,
städtischen Arbeitslosen, Beamten, Offizieren usf. in ländliche Produktions-
und Erwerbstätigkeit, da die Schwierigkeiten der Kohlen- und Rohstoff-
beschaffung die Wiederaufnahme der industriellen Arbeit im früheren
Umfange nicht mehr gestatten.
Da in Deutschösterreich das Problem der Innenkolonisation, zumal
in seiner neuen Gestalt als Problem landwirtschaftlicher Heimstatten eine
der aktuellsten Fragen bildet und die Schaffung eines „Heimstätten-
gesetzes‘‘ eine der nächsten legislatorischen Aufgaben für die Übergangs-
und Friedenswirtschaft darstellt. so erscheint es als unerläßliche Vorarbeit
hiefür geboten, zunächst einmal den gesamten gegenwärtigen Stand der
Gesetzgebung auf dem Gebiete der Innenkolonisation und der hiemit
zusammenhängenden Zweige der Agrargesetzgebung (wie Wiederbesiedelung
velegter Bauerngüter, Besitzfestigung usf.) im benachbarten Deutschen
Reiche kennen zu lernen. Dies ist umso wichtiger, als gerade auf diesem
Gebiete die Rechtskontinuität mit dem letzteren gewahrt werden muß,
46 | Emanuel Hugo Vogel.
anderseits aus den in Deutschland gemachten reichen praktischen
Erfahrungen sich manch wertvolle Lehre für die Durchführung in Österreich
gewinnen läßt.')
© Wir müssen uns hiebei im allgemeinen auf einen kurzgedrängten
Überblick über die wichtigsten (Gesetzesbestimmungen und Aktionen
beschränken, während für alle Details auf die betreffenden Gesetze und
deren Ausführungsvorschriften sowie die einschlägige Spezialliteratur und
die größeren agrarpolitischen Systemwerke verwiesen sei. ?) 3) l
Die neuere innere Kolonisation in Preußen setzt mit dem Gesetze
vom 26. April 1886 (Ges. S. S. 131), betreffend die Beförderung deutscher
Ansiedlungen in den Provinzen Westpreußen und Posen ein. Dieses Gesetz
hatte in erster Linie eine nationalpolitische Bedeutung, sollte aber auch auf
agrar- und sozialpolitischem (Gebiete auf eine Verbesserung der Besitz-
verhältnisse, und zwar durch Schaffung sowohl von Bauerngütern als von
Kleinsiedlungen für Arbeiter hinwirken. Es stellt der Staatsregierung für
Ansiedlungszwecke einen Fonds von 100 Millionen Mark zur Verfügung,
1) Speziell für Österreich hat der Verfasser in einer im Verlage der Deutschen
Landbuchhandlung erschienenen Schrift: „Innere Kolonisation und Land-
arbeiterfrage nach dem Kriege“ (ein Beitrag zum Problem der landwirtschaft-
lichen Kriegerheimstätten), Berlin 1919, die Grundzüge für ein Heimstättengesetz
entworfen, wofür die vorliegende Arbeit eine der Vorstudien gebildet hat. Eine weitere
Vorarbeit für den gleichen Zweck bildet ferner eine auf Einladung des k. k. Ackerbau-
ministeriums in Wien verfaßte Arbeit: „Die agrarstatistischen Grundlagen
der Innenkolonisation in Österreich“, W. Frick, Wien 1919.
2) Siehe die der erstzitierten Schrift beigegebene eingehende Literaturübersicht
zum Kolonisations- und Kriegerheimstättenproblem. ferner die Literaturzitate in
der vorliegenden Abhandlung. Aus der jüngsten Zeit sei zur Frage der Rentenguts-
institution insbesondere auf die Abhandlung Karl Schmidt: „Rechtsformen der
Innenkolonisation‘“, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 48. Bd.. 1. Heft,
Seite 192 f. 1920 verwiesen. Als allgemeine und fortlaufende Quelle für alle
Fragen der Innenkolonisation kommt vor allem das von Prof. Sohnrey und Dr. Keup
herausgegebene „Archiv für innere Kolonisation‘‘, Berlin, Deutsche Landbuchhand-
lung, nebst den von letzterer herausgegebenen „Schriften zur Förderung der inneren
Kolonisation‘ in Betracht. Außerdem siehe auch gelegentlich das Thünen-Archiv und
das Jahrbuch der Bodenreform von A. Damaschke.
3) Über die wichtigsten Siedlungs-Aktionen in den auf dem Gebiete der ehe-
maligen Österreichisch-ungarischen Monarchie entstandenen Nationalstaaten wird eine
demnächst im Bande 48, Heft 2, des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik““
erscheinende Abhandlung des Verfassers über die „Gesetzgebung auf dem Gebiete
der Innenkolonisation in den österreichischen Nachfolgestaaten‘“ berichten.
Die Gesetzgebung auf dein Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 41
auf Grund dessen von der gleichzeitig eingesetzten staatlichen Ansiedlungs-
kommission Bauerngüter und Kleinsiedlungen für Arbeiter nach Renten-
gutsprinzip ausgegeben werden sollten. DasCharakteristische dieses (resetzes
im Unterschiede von den späteren Gesetzen ist, daß der ganze Betrieb der
Innenkolonisation als ‘ein durchweg staatlicher, ohne Anteilnahme
privater Kreise gedacht ist, die Ansiedlungskommission ist selber der
Kolonisator, sie erwirbt die geeigneten Grundstücke, teilt sie auf und
vergibt sie. Durch diese Zentralisierung der Ansiedlungstätigkeit in der
Hand einer einzigen, mit reichlichen Mitteln ausgestatteten Stelle war die
Einheitlichkeit ihrer Durchführung von vorneherein gesichert. Der Haupt-
sache nach handelt es sich um die Ansiedlung in Form von Rentengütern,
zum kleineren Teile um Pachtungen. Bei den ersteren handelt es sich
wieder überwiegend um Bauernsiedlungen, nur zum Teile und erst im
späteren Verlaufe auch um staatliche Kleinsiedlungen für Arbeiter. Die
Ausgabe des Rentengutes erfolgte gegen eine Dauerrente (ohne Tilgungs-
quote) in der durchschnittlichen Höhe von 3%. des Bodenpreises. (In
Ausnahmsfällen kann die Rente zwischen 1'/2°'o bis 312% festgestellt
werden.) oe
Der Ansiedhingskommission steht ein Wiederkaufsrecht zu, außerdem
gilt für die mit staatlicher Hilfe errichteten Rentenrüter nach dem Gesetze
vom 8. Juni 1896 das Anerbenrecht. (Anrechnung des Gutes zum Ertrags-
werte, Einräumung eines Präzipuunıs zugunsten des Anerben, der Erbanteil
der Miterben bloß in Gestalt einer von ihnen nicht kündbaren Abfindungs-
rente.) Von der Rente ist ein Zehntel unablösbar, der Rest ist mit dem
33-3fachen vom Rentengütler ablösbar, der Staat kann erst nach 50 Jahren
die Ablösung in Teilbeträgen mit dem 25fachen fordern. *)
Die bisher zufolge des Gesetzes vom 25. Mai 1876 bestehenden allgemeinen
Bestimmungen über (rrundstiicksteilungen und Bedingungen sowie Verfahren für
die Zulassung neuer Ansiedlungen auf unbewohnten Grundstücken wurden neu-
geregelt durch das (sesetz betreffend die Gründung neuer Ansiedlungen in den
Provinzen Ostpreußen, Westpreußen. Brandenburg. Pommern. Posen. Schlesien,
Sachsen und Westfalen vom 10. August 1904 (Ges. S. N. 227): unter grundsätzlicher
-%, Damit wurde das im Gefolge der Banernbefreiung im Gesetze vom 2. März. 1850
aufgestellte Prinzip. daß die auf dem Grundbesitz haftenden Lasten (ebenso Erbpacht-
lasten) für grundsätzlich ablösbar erklärt werden (hiefür wurden .‚Tilgungskassen‘
bei den gleichzeitig geschaffenen Rentenbanken errichtet) und die Auflegung unablös-
barer Renten in der Zukunft als unzulässig verboten wird, zugunsten der Renten:
sutskolonisation durchbrochen.
48 Emanuel Hugo V ogel.
Anerkennung des Rechtes zur Ansiedlung soll die Ansiedlungsfreiheit nur insoweit
beschränkt werden, als es die Wahrung berechtigter privater oder öffentlicher Inter-
essen erfordert. Alle Ansiedlungen (einzeln wie in Kolonien) bedürfen der Ansiedlungs-
genehmigung des Kreisausschusses, in Städten der Ortspolizeibehörde. Im Falle es
sich um Rentengutsbildungen im Sinne des unten zu erörternden Gesetzes vom 7. Juli
1891 handelt, gelten diese Beschränkungen für die Erteilung der Ansiedlungs-
genehmigung nicht, hier ist die Genehmigungsbehörde ausschließlich die General-
kommission. (Siehe unten.)
Der ursprünglich mit 100 Millionen Mark dotierte Ansiedlungsfond wurde
später wiederholt erhöht: 20. April 1898 (Ges. S. S. 63) um 100 Millionen, 1. Juni 1902
(Ges. S. S. 294) um 150 Millionen Mark (außerdem 100 Millionen für den Ankauf von
Domänen und Forsten), 20. März 1908 (Ges. S. S. 29) um 250 Millionen Mark (davon
125 Millionen für allgemeine Ankaufszwecke, 50 Millionen zu Ankauf und Parzellierung
größerer Güter, 75 Millionen zur Umwandlung bestehender bäulicher Güter in An-
siedlungs(Renten)güter (Besitzfestigung) und zur Förderung der Seßhaftmachung
von Arbeitern auf dem Lande). Zugleich werden durch letzteres Gesetz unter Ein-
führung des Enteignungsrechtes behufs Erwerbung von Grundkomplexen die Zwecke des
Ansiedlungsfonds dahin erweitert, daß die Ansiedlung von selbständigen deutschen
Arbeitern auf Rentengütern durch Prämien gefördert werden soll. Mit dem Gesetze
vom 28. Mai 1913 (Ges. S. S. 259) erfolgt eine weitere Erhöhung des Fonds um 230 Mil-
lionen, und zwar in der Reihenfolge der vorgenannten Verwendungszwecke 75, 30,
100 Millionen Mark, für Ankauf von Domänen und Forsten 25 Millionen Mark. Zu-
sammen betragen also die sämtlichen Dotierungen des Ansiedlungsfonds bis Ende 1913
nicht weniger als 830 Millionen Mark.
Die Schwierigkeiten, denen die Ausführung dieser staatlichen An-
siedlungsaktion auf Grund des obigen Gesetzes begegnete, lagen vor allem
darin, daß infolge der Bodenankäufe seitens der Kommission (wie auch
zum Teile infolge einer polnischen Gegenaktion) eine starke Bodenpreis-
steigerung einsetzte, welche die Rentabilität der Rentengutsausgabe stark
beeinträchtigte und so die Finanzierung erschwerte.°) Des weiteren bildete
die rationelle Verwendung der bei der Aufteilung großer Gutskomplexe
verbleibenden „Restgüter‘‘ mit ihrem oft noch wertvollen Bestande an
Wirtschaftsgebäuden eine erhebliche Schwierigkeit, die nicht immer eine
zw eckmäßige Lösung finden konnte. Außer der eigentlichen Kolonisierungs-
tätigkeit hat sich die Ansiedlungskommission auch noch mit der „Besitz-
festigung“, das heißt der Sicherung und Erhaltung gefährdeter Bauern-
güter durch eine Entschuldungsaktion auf der Basis des Rentenguts-
prinzipes zu befassen. Sämtliche Aktionen der vorangeführten Gesetze
>) Nach Buchenberger (1. Bd., 2. A., S. 447) bezahlte die Kommission
durchschnittlich pro Hektar 1886 568 Mk., 1890 656 M., 1900 1623 M, 1913 1821 M.
Die Gesetzgebung auf dein Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 49
waren stets zugleich zum Zwecke der Stärkung des Deutschtuns in
den östlichen Provinzen von vorwiegend nationalpolitischen Gesichts-
punkten geleitet. ®)
Die staatlichen Ansiedlungskommissionen haben auf Grund der Ansiedlungs-
gesetze von 1556, 1898, 1902 und 1908 bis Ende 1913 409.461 ha (iutsland und 29.009 ha
Bauernland (zusammen 77!; Quadratmeilen) angekauft und 21.372 Ansiedler-
familien mit 125.232 Köpfen (Ende 1914: 21.683 Ansiedlerstellen) unter Neugründung
von 235 Dörfern auf 303.342 ha mit einem Kostenaufwande von rund 549 Millionen
Mark angesetzt. Für öffentliche Zwecke wurden 31.117 ha verwendet, an den Domänen-
und Forstefiskus sowie Nichtansiedler wurden 52.298 ha veräußert. Von den 21.372
Ansiedlungsfallen waren 19.022 Rentengüter, 115 läuslersiedlungen in staatlichen
Arbeitermiethäusern und 2235 Pachtungen.?)
Bereits wenige Jahre nach (reltung des ersten Kolonisationsgesetzes
wurde die Ansiedlungstätigkeit, welche bisher eine ausschließlich staat-
liche war, auf eine wesentlich breitere Grundlage gestellt und gleichzeitig
jene Bestimmung, welche in diesem Gesetze am meisten angefochten wurde,
obwohl ihre praktische Bedeutung sehr gering war, abgeändert, nämlich
jene von der teilweisen Unablösbarkeit der Rente. Mit dem Gesetzevom
27. Juni 1890 (Ges. S. S. 290) wurde ganz allgemein neben der durch
das vorangegangene Gesetz zur Ansiedlunystatigkeit berufenen staatlichen
Ansiedlungskommission hiezu auch die private Initiative herangezogen,
wobei sich der Staat nur auf Kreditsewährung und kostenvermindernde
Begiinstigungsbestimmungen beschränkt. Neben die ausschließlich zen-
tralistisch organisierte Ansiedhingstitigkeit des Gesetzes von 1886 tritt nun
die dezentralisierte private und gesellschaftliche Arbeit. Die
Grundstücksausgabe wird in dem neuen Gesetze auf privatwirtschaftlicher
Grundlage geordnet. Sowohl jeder private Grundbesitzer als gemeinnützige
und sonstige Siedlungsgesellschaften können Grundstücke als Rentengut
ausgeben, die Finanzierung besorgt die staatlich geleitete und garantierte
Rentenbank, die einer staatlichen Behörde gleichgeachtet wird.®) Zugleich
*) Durch das Gesetz vom 20. März 1908 erhielt der Staat auch das Recht zur
Enteignung polnischer Grundstücke bis 70.000 ha, wovon jedoch die Ansiedlungs-
kommission nur in ganz wenigen Fällen Gebrauch machte.
7) Siehe Buchenberger S. 447, Pringsheim, Annalen für soziale Politik
und Gesetzgebung, Jahrg. 1916, 5. 391.
») Schon nach dem Gesetze vom 2. März 1550 (Ges. S. S. 112 über die Errichtung
von Rentenbanken) wurde die Erfüllung der den Rentenbanken auferlegten Ver-
pihehtungen vom Staate gewährleistet, die Rentenbriefe stehen an Sicherheit Staats-
anleihen gleich. Für die Ablösung der auf dem Boden haftenden Lasten gegen Tilgungs-
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 4
50 Emanuel Hugo Vogel.
wird die Möglichkeit der Abtrennung und Veräußerung von Teilen eines
größeren Grundstückeskomplexes zwecks Bildung von Rentengütern er-
leichtert, indem sie von der Einwilligung der Fideikommißanwärter oder
Hypothekargläubiger unabhängig gemacht wird, sofern die „General-
kommission“ ein „Unschädlichkeitsattest‘‘ ausstellt. An Stelle der teil-
weisen Unablösbarkeit der Geldrente aber ist die grundsätzlich von der
vertragsmäßigen Zustimmung beider Teile abhängig gemachte
Ablösbarkeit der Rente getreten ($ 1). Die Feststellung des Ablösungs-
betrages und der Kündigungsfrist bleibt der vertragsmäßigen Bestimmung
überlassen. Doch darf von dem Rentenberechtigten ein höherer Ablösungs-
betrag als der 25fache Betrag der Rente nicht gefordert werden, wenn die
Ablösung auf seinen Antrag erfolst.?) Die unter einem vielfach geforderte
Wiedereinführung der Erbpacht durch das Ansiedlungsgesetz wurde von
der Regierung abgelehnt, weil sie die Möglichkeit neuer Abhängigkeits-
verhältnisse in sich schließe, die seinerzeit durch die Gesetzgebung auf-
gehoben worden seien. j
Die Frage der Ablösbarkeit der Rentenverpflichtung ist von einem
zweifachen Gesichtspunkte zu beurteilen: einerseits ist ihre Beschränkung
oder Ausschließung eine Sicherung für die dauernde Erhaltung des Renten-
gutes in seiner ursprünglichen Zweckbestimmung und eine dauernde Ein-
flußmöglichkeit des Rentengutsausgebers auf dieses letztere!®), eignet sich
renten wurden damals in den Rentenbanken Tilgungskassen geschaffen. Die Bestim-
mungen dieses Gesetzes finden im allgemeinen mit einigen sinngemäßen Modifi-
kationen auf die Rentengutskolonisierung Anwendung.
9) Im früheren Gesetze vom 26. April 1886 $ 3 hieß es bloß, daß die Ablösbarkeit
der Geldrente von der Zustimmung beider Teile abhängig gemacht werden kann.
Wenn der Ausschluß der einseitigen Ablösbarkeit der Rente nicht in das Grundbuch
eingetragen ist, so gilt Dritten gegenüber die das Grundstück belastende Rente als
eine solche, welche von dem Verpflichteten nach sechsmonatlicher Kündigung mit
dem 20fachen Betrage abgelöst werden kann (§ 1, Abs. 3).
10) Dieser fortdauernde Einfluß des Rentengutsausgebers soll unter andern auch
dadurch gesichert werden, daß vertragsmäßig der Erwerber des Rentengutes in seiner
Verfügung über dasselbe hinsichtlich der Abtrennung oder Abveräußerung von
Grundstücksteilen dadurch beschränkt werden kann, daß er hiezu die Zustimmung
des Rentenberechtigten einholen muß (§ 3) oder behufs Sicherung der wirtschaft-
lichen Selbständigkeit des Gutes zur Erhaltung der darauf befindlichen Gebäude
in ihrem baulichen Zustande usf. verpflichtet wird (§ 4). Dadurch sollten die
neubegriindeten Ansiedlungen von den Gefahren des freien Grundstiicksverkehres,
der Grundzerstückelung und Güterschlächterei bewahrt werden. Doch kann in den
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. OL
also von vorneherein am besten für öffentlichrechtliche Rentengutsausgabe,
anderseits bewirkt sie eine sozial nicht erwünschte Bindung des Renten-
rutsbesitzers, die stark an die so viel bekämpften Abhängigkeitsverhältnisse
des geteilten Eigentums (Gutsuntertänigkeit) erinnert. Praktisch genügt
zur Erreichung des ersteren Zweckes jedenfalls auch eine Bestimmung wie
im Gesetze vom Jahre 1890, welche die Ablösbarkeit der Rente von der
Zustimmung. beider Teile abhängig macht, denn dadurch wird sie tat-
sächlich doch in der Regel auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen.
Aber auch das Ansiedlungsgesetz von 1800 erwies sich in seiner recht-
lichen Ausgestaltung als unzweckmäßig, vor allem deshalb, weil die Guts-
hesitzer den Erhalt einer Barsumme für das abzuverkaufende Grundstück
dem Erwerb einer J)auerrente vorzuziehen pflegen, also die grundsätzliche
Ablösbarkeit und Auszahlung einer Abfindungssumme dem praktischen
Bedürfnisse besser entspricht, ferner weil sie durch Verschuldung überhaupt
an einer Parzellierung simultan belasteter Grundstücke gehindert waren.
So sah man sich denn genötigt, die ganze Kolonisationsaktion durch
ein neues Gesetz vom 7. Juli 1891 (Ges. S. S. 279) auf eine ganz andere
rechtliche und finanzielle Grundlage zu stellen, indem einerseits als
Finanzierungsinstitut die staatliche Rentenbank zum Vermittler zwischen
Rentengutsausgeber und -erwerber berufen und ihre Tätigkeit zugleich auf
die grundsätzliche Ablösung der durch Verkauf gegen Rente geschaffenen
Stellen kleineren und mittleren Umfanges ausgedehnt wurde, anderseits
Generalkommissionen mit der technischen Durchführung der
Parzellierungen betraut wurden. Die Ablösung der nicht amortisablen
Dauerrenten des Ansiedlers gegenüber dem Rentengutsausgeber durch die
Rentenbank über Antrag der Beteiligten wird nun als Regel auf-
gestellt. „Die auf Rentengütern von mittlerem und kleinerem Umfange
haftenden Renten können auf Antrag der Beteiligten durch Vermittlung
der Rentenbank soweit abgelöst werden, als die Ablösbarkeit derselben
nicht von der Zustimmung beider Teile abhängig gemacht ist“ ($ 1).
Auch hier also ist in erster Linie der freie Wille der beiden Vertragsteile
für die Frage der Ablösbarkeit entscheidend, er wird in aller Regel nicht
auf eine solche wechselseitige Bindung und damit auf einen tatsächlichen
Ausschluß der Ablösbarkeit gerichtet sein (Sering, S. 58). Soweit eine
oben erwähnten Fällen ‚die versagte Einwilligung durch richterliche Entscheidung
der Auseinandersetzungsbehörde ersetzt werden‘, wofür der Rentenberechtigte
die Ablösung der Rente mit dem 25fachen Betrage verlangen kann ($ 5).
52 Emanuel Hugo Vogel.
solche vertragsmäßige Bindung tatsächlich nicht erfolgt ist, kann die
Ablösung auch über einseitigen Antrag eines der beiden Teile (in der Regel
ist dies der Rentenberechtigte) im Wege der Rentenbank erfolgen ($ 1.
Absatz 2). Außerdem kann unter gewissen Voraussetzungen ($ 10) innerhalb
der für die Sicherheit der Rentenbankrente vorgesehenen Grenzen (siehe
unten) auch der vertragsmäßig nur mit Zustimmung beider Teile ablösbare
Teil der Rente auf Antrag des Rentenberechtigten auf die Rentenbank
übertragen werden, womit der Staat (beziehungsweise die Rentenbank) in
alle dem Rentenberechtigten aus dem Rentengutsvertrage zustehenden
Rechte tritt. !!)
Das für die praktische Anwendung des Gesetzes Entscheidende ist
nun, daß durch dieses Dazwischentreten der Rentenbank erst eigentlich
der Staatskredit in weitestem Maße der Rentengutsbildung durch private
Kolonisierung zur Verfügung gestellt wurde, was eben wieder zur Voraus-
setzung hat, daß es sich um Renten handelt, die grundsätzlich ablösbar
sind, so daß die Befugnisse des Rentenberechtigten auf die Rentenbank,
beziehungsweise den Staat übergehen können. Der Vorgang besteht hiebei
darin, daß die Rentenbank im Falle der einverständlichen oder nicht ein-
verständlichen Ablösung (letztere ist bisher praktisch die fast ausnahmslose
Regel in allen Fällen der Rentengutsbildung nach diesem Gesetze) mit
Zustimmung der Generalkoinmissionen den Rentengutsausgeber durch
Hergabe von Rentenbriefen mit dem vollen Kapitalsbetrage abfindet.
während gleichzeitig der Ansiedler nunmehr vom Zeitpunkte der Ablösung
und Rentenübernahme eine den Staatssteuern eleichstehende Renten-
bankrente an die Rentenbank als Gläubiger zu entrichten hat, durch
welche die Abfindunessumme innerhalb einer vorausbestimmten Frist ver-
zinst und getilst wird. An die Stelle der zwischen privaten Reehtssubjekten
bestehenden, nicht amortisablen Danerrentenverpflichtung tritt also nun
die „Rentenbankrente‘, das heißt eine an ein öffentliches Institut zu ent-
richtende Tilgunesrente.
Der Rentenberechtigte erhält als Abfindung entweder den 27fachen
Betrag der Rente in 312°» oder den 232’,fachen Betrag in 4". Renten-
briefen nach deren Nennwert oder, soweit dies nicht durch solche geschehen
11) Nämlich: sofern diesem Rententeile das Vorrecht vor allen privatrechtlichen
Belastungen zusteht und der 25fache Betrag des demselben entsprechenden Testes
der Rentenbankrente noch innerhalb der für letztere vorgeschriebenen Sicherheit
(75° des Liegenschaftswertes, siehe unten) steht.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. D3
kann, in barem Gelde ($ 1, Absatz 3). Ebenso können auch zur erstmaligen
Einrichtung des Rentengutes für Aufführung der Wohn- und Wirt-
schaftsgebäude unkündbare Darlehen gewährt werden, die ebenfalls in
Rentenhriefen in der vorbezeichneten Art auszufolgen sind und in die
amortisable Rentenbankrente einbezogen werden. !?) Die für Abfindungs-
summe und Darlehen bedungene Rentenbankrente enthält eine '/2°/o
Tileungsquote, das heißt sie beträgt, im Falle 3'’,%% Rentenbriefe aus-
gegeben wurden, 4°, bei 4°% Rentenbriefen aber 4!’ %/o des Nennwertes
derselben und des „zur Ergänzung gegebenen baren Geldes“. In ersterem
Falle ist sie während einer Tilgungsperiode von 60'%, im zweiten Falle von
D'i: Jahren zu entrichten. !?)
Bei Begründung des Rentengutes kann die Zahlung der Rentenbank-
rente auf Antrag des Rentengutsbesitzers für das erste Jahr gestundet
werden. Um den Betrag des Ausfalles wird das zu tilgende Kapital erhöht
und davon dann die weiterhin während der Tilgungsperiode zu entrichtende
Rentenbankrente berechnet. Übrigens steht dem Rentenverpflichteten auch
das Recht zu, vor Ablauf der Tilgungsperiode (innerhalb der ersten zehn
Jahre nach Begründung des Rentengutes jedoch nur mit Zustimmung der
(ieneralkomniission) die Rentenbankrente durch Abtragung des für den
betreffenden Zeitpunkt berechneten Kapitalsbetrages abzulösen und
so sein Gut rentenfrei zu machen (Tabelle I und IF des Gesetzes, § 6, Z. 4).
Für die Sicherheit der Rentenbankrente ist nach diesem Gesetze
erforderlich: 1. daß die abzulösende Rente oder das erteilte Darlehen das
Vorrecht vor den sonstigen privatrechtlichen Belastungen des Rentengutes
besitze, in welches dann die Rentenbankrente eintritt; 2. daß der 25fache
Betrag der. Rentenbankrente noch innerhalb des 30fachen für die Grund-
steuer ermittelten Katastralreinertrages zuzüglich des halben Versicherungs-
wertes der Gebäude oder innerhalb der ersten drei Viertel des durch ritter-
12) Doch beschränken sich diese weiteren Darlehen der Rentenbank auf den
angezebenen Zweck der ersten Einrichtung, darüber hinaus bleibt das Rentengut
auf die Kapitalshvpotheken von dritter Seite angewiesen.
13) Interessant und für die Nachteile einer Finanzierung mit „Rentenbriefen“
charakteristisch ist die Bestimmung des Gesetzes, daß, „solange der Kurs der 4°,
tentenbriefe an der Berliner Börse dauernd auf dem Nennwerte oder darunter steht,
345°, Rentenbriefe nur mit Zustimmung des Empfängers (Rentenberechtigter be-
ziehungsweise Grundstücksausgeber, Rentengutsbesitzer bei Darlehen) ausgegeben
werden‘. Bekanntlich standen vor Kriegsausbruch die 4°, Rentenbriefe durch-
schuittlich auf 88.
54 Emanuel Hugo Vogel.
schaftliche, landschaftliche oder besondere Taxe zu ermittelnden Wertes
der Liegenschaften zu stehen kommt. In allen diesen Beziehungen hat die
Generalkommission zu entscheiden, insbesondere auch die „besondere Taxe’
unter Zuziehung zweier Kreisverordneten und eines Bausachverständigen
festzusetzen, ebenso wie sie die ganze Begründung des Rentengutes, die
Aufsetzung des Vertrages und alle weiteren Schritte zu überwachen.
bez chungsweise durchzuführen hat. Solange die Rentenbankrente auf dem
Gute haftet, kann die Aufhebung seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit,
die Zerteilung desselben oder die Abveräußerung von Teilen rechtswirksam
nur mit Genehmigung der Generalkommission erfolgen. '*)
Das besprochene Gesetz vom Jahre 1891 stellt eine weitgehende
Verbesserung gegenüber dem Rechtszustande nach dem früheren Gesetze
dar, insbesondere da nunmehr zur wirtschaftlichen Grundlage der ganzen
Ansiedlung praktisch die tatsächliche Ablösung der privaten Renten-
verpflichtung gegenüber dem Rentengutsausgeber und ihre Ersetzung durch
eine auf bestimmte Zeit eingeschränkte Verpflichtung gegenüber einem
öffentlich-rechtlichen Institut, der Rentenbank, gemacht wird. Dadurch
wird in weitem Maße die Heranziehung des öffentlichen Kredits für die
Rentengutsansiedlung ermöglicht, ferner durch die sofortige Kapital-
abfindung ein außerordentlicher Anreiz zur Grundstücksausgabe geboten,
wie auf der anderen Seite es dem Grundstückerwerber ermöglicht wird,
das Gut in absehbarer Zeit für sich oder seine Nachkommen bei guter
Wirtschaft rentenfrei zu machen. Allerdings stellt diese Finanzierungsform
des Rentengutes viel höhere Anforderungen an seinen Inhaber, die Gefahr,
daß er durch Mißerfolge in der Wirtschaft allmählich seine finanzielle
Widerstandskraft einbüßt und es schließlich zur Versteigerung des Renten-
gutes kommen muß, liegt nahe, letztere hat sich auch tatsächlich in
ziemlich zahlreichen Fällen ereignet. Ein weiterer Nachteil ist der hinter
dem normalen in der Regel weit zurückbleibende niedrige Kursstand der
Rentenbriefe, welcher nicht nur zur fast ausschließlichen Anwendung des
höheren Rentenbrieftypus von 4%, (daher eine Rentenbankrente von 4": ®/o)
nötigte, sondern außerdem auch die Abfindung und Darlehensauszahlun:
14) Ein Gesetz vom 8. Juni 1896 (Ges. S. S. 124) regelt die Anwendung des An-
erbenrechtes auf die vom Staate ausgegebenen und von der Rentenbank beliehenen
Rentengüter. Das Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch vom 20. September
1899, Artikel 29, führt die Möglichkeit zur Bestellung des Wiederkaufsrechtes bei
Rentengütern ein.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 55
in Rentenbriefen außerordentlich erschwerte, beziehungsweise zu kost-
spieligen Barergänzungen führte. Darin liegt ein Kardinalfehler aller auf
dem hergebrachten Pfandbrief- oder Rentenbrieftypus basierten Finan-
zierungsformen der Innenkolonisation, daß sie mangels einer stabilen und
hochwertigen Effektengrundlage allzuschr vom jeweiligen Stand des
Anlagezinsfußes und der Kurse abhängig wird. Auf dem Wege der Renten-
oder Pfandbrieffundierung ist eben normalerweise!) eine erfolgreiche
Finanzierung, die ein sich mindestens stabil al pari erhaltendes, dabei aber
möglichst niedrig verzinsliches Schuldpapier voraussetzen würde, nicht zu
erreichen. Nachteilig wirkt ferner die etwas allzu rigorose Umgrenzung der
Rentensicherheit, da diese infolge des unbedingten Vorrechtes vor allen
privatrechtlichen Belastungen eine Darlehensaufnahme von dritter Seite
erschwert und so den Rentengutsinhaber überwiegend auf den nicht aus-
reichenden Rentenbankkredit verweist, welcher aber wieder nur innerhalb
75%, des Liegenschaftswertes möglich ist, so daß 25%, anderweitig,
beziehungsweise bar aufgebracht werden müssen. !®) Diesen Nachteilen ist
erst durch ein in allerjüngster Zeit ergangenes Gesetz zum Teile abgcholfen
worden, von welchem unten noch näher die Rede sein soll. Zunächst wollen
wir die praktische Durchführung des Gesetzes von 1891 erörtern.
Dieses Gesetz hat nur die Errichtung von Rentengiitern von ,,mittlerem
und kleinerem Umfange zum Gegenstande, dagegen bleibt die Errichtung
von Häusler- und Arbeiterstellen hier grundsätzlich außerhalb des
Bereiches der staatlichen Förderung. Es bleibt also den Privaten überlassen,
eventuell, jedoch ohne Inanspruchnahme der staatlichen Mittel und Unter-
15) Von den vorübergehenden Kursbewegungen der Kriegs- und Nachkriegszeit
(z.B. Hochstand während des Krieges) auf dem Anlage- und speziell auf dem
Pfandbriefmarkte muß vom Standpunkte einer auf längere Zeitperioden berechneten
Finanzierung abgesehen werden.
16) Soweit dies nicht bar geschieht, müßte ein weiterer Zuschußkredit durch
Kapitalhypotheken aufgebracht werden oder es kann auch der nicht auf die Renten-
bank übernehmbare Kaufpreisrest in Form einer unmittelbaren Rentenverpflichtung
gegenüber dem Grundstücksausgeber belassen werden. In diesem Falle würde auf
dem Gute außer der „Rentenbankrente“ ein „unablösbarer“, beziehungsweise nur
mit Zustimmung beider Teile ablösbarer und seitens des Verkäufers wie des Ansiedlers
einseitig unkündbarer Rententeil haften. Doch kann dieser anfänglich ,,unablésbare‘
Teil der Rente späterhin im Sinne des § 10 des Gesetzes (siehe oben) auf die Renten-
bank übernommen werden, sobald die Amortisation der erst übernommenen Rente
genügend weit vorgeschritten ist und nunmehr die nötige Sicherheit (innerhalb 75%)
für die Restrente vorhanden ist. (Siehe hiezu Sering S. 67—58.)
56 Emanuel Hugo Vogel.
stützung den geschaffenen Rentengütern noch Arbeiterstellen anzuschließen.
Nach der Ausführungsanweisung vom 16. November 1891 wird der Begriff
des Rentengutes dahin erläutert, daß es einer Familie die Grundlage der
wirtschaftlichen Existenz’ bieten müsse, ohne daß es darauf ankänıe, daß
der Besitzer und seine Familie ihre ganze Arbeitskraft ausschließlich auf
die Bewirtschaftung des Gutes verwenden, vielmehr behufs vollständiger
Beschaffung ihres Unterhaltes nebenher auch in der Nachbarschaft Arbeit
suchen müssen. Damit ist es zwar möglich, bei Einrichtung einer Renten-
gutskolonie auch die erforderlichen Handwerker mit geringem Landbesitz
anzusetzen, auch auf den kleineren Rentengütern Arbeitskräfte anzusiedeln,
die nebenbei Lohnarbeiten übernehmen, aber die staatlich geleitete
und geförderte Kolonisationsaktion der Gesetzgebung 1890/91
verzichtet von vornherein sich auch in den Dienst der Land-
arbeiterfrage und ihrer Bekämpfung zu stellen, indem sie die
Errichtung von Arbeiterkolonien und Kleingütern für Lohnarbeiter zur
Gänze ausschließt. Dies ist ein weiterer zweifelloser Mangel der im übrigen
eroßzügigen Ansiedlungspolitik dieser Zeit, da gerade nur im richtigen
Mischungsverhältnisse, in der zweckentsprechenden EinfluBnahme auf die
bestehende Besitzverteilung und in der Vorsorge für zuschüssige, nicht
durch den eigenen Hof ausschließlich in Anspruch genommene Arbeits-
kräfte ein guter und dauernder Erfolg in agrarpolitischer Hinsicht erzielt
werden kann. Dies wurde auch späterhin erkannt und zunächst mit dem
Ministerialerlaß vom 8. Jänner 1907 als mit den Bestimmungen des Gesetzes
von 1891 vereinbar erkläft, daß Rentengüter bis zu einer Mindestgröße
von 12:50 a ('/x Morgen) gebildet werden. Solche Rentengüter sollen ins-
besondere für Industriearbeiter errichtet werden, Bedingung für die
Mitwirkung der Generalkommission bei Inanspruchnahme des Renten-
bankkredites sollte aber sein, daß der Rentengutsausgeber ein Kommunal-
verband oder ein gemeinnütziger Verein ist, nur unter besonderen Voraus-
setzungen werden auch Privatpersonen als Ausgeber zugelassen. Mit
einem weiteren Erlasse vom 10. August 1909 wurden dann auch Grund-
sätze zur Förderung der Ansiedlung von Landarbeitern im Wege der
Rentengutsbildung (Arbeiterrentengüter) aufgestellt. Als Träger solcher
Kleinsiedlungen werden der Kreiskommuanalverband oder örtliche gemein-
nützige Siedlungsgesellschaften mit einem sich auf nicht mehr als einen
Kreis erstreckenden Arbeitsgebiet bezeichnet. Die Arbeitgeber fungieren
sohin nicht als unmittelbare Rentengutsausgeber, sie können aber durch
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 57
Bereitstellung billigen Bodens, Lieferung von Baumaterialien usf. mit-
wirken. Hiedureh soll die Unabhängigkeit der Arbeiter von den Arbeit-
gebern als eine der unerläßlichen Vorbedingungen einer erfolgreichen
kolonisation von Landarbeitern gewahrt werden. Nicht Bedacht genommen
wird aber auf die Notwendigkeit, zumindest die GroBerundbesitzer in die
Lage zu versetzen, unter den günstigen Bedingungen eines Kolonisations-
gesetzes ihre eigenen Arbeiter selbst auf Arbeiterstellen anzusiedeln. Die
Stellen sollen in der Regel nicht größer als 1°5 ha sein. Für jede ordnungs-
mäßige Ansiedlung eines Landarbeiters sollen dem Kreise, beziehungsweise
der Gesellschaft Beihilfen gewährt werden können. Ein Anerbenrecht
komint auf diese Arbeiterstellen selbstverständlich nicht zur Anwendung.
Fine wichtige Änderung hat nun die Gesetzgebung Preußens über die
Innenkolonisation durch das während der Kriegszeit erschienene Gesetz
vom & Mai 1916 (Ges. S. S. 51) erfahren. Dieses Gesetz ist bemüht, einige
der wesentlichsten von den früher hervorgehobenen Mängeln der bisherigen
Rentengutsgesetzgebung zu beheben. Zunächst einmal wird die Möglichkeit
gegeben, die Stundung der Rentenbankrente nach Begründung des Renten-
gutes auf drei Jahre statt bloß eines Jahres zu gewähren, was dem Ansiedler
die Lage wesentlich erleichtern dürfte. Der der Rentenbank entstehende
Ausfall wird dadurch gedeckt, daß das abzulösende Kapital um die ge-
stundeten Zinsen der Rentenbriefe und des zur Ergänzung gegebenen
baren Geldes erhöht wird und von dieser Summe dann die Rentenbank-
rente während der Tilgungsperiode von 60'/: oder 56's: Jahren zu ent-
richten ist. Das wichtigste aber ist die Änderung, welche nun in den allzu
rigorosen Sicherungsbestimmungen für die Rentenbankrente eintritt. Sie
ist für uns deshalb wichtig, weil damit ein Beweis geliefert wird, daB auch
ohne starre Privilegierung der Rentenbankrente eine gesicherte Finanzierung
möglich ist. Vor allem wird bestimmt:
1. Von der Vorschrift, daß die Rentenbankrente den Vorrang vor
allen privatrechtlichen Forderungen und Belastungen besitzen muß, kann
Umgang genommen werden, wenn es sich um eine dem willkürlichen
Kiindigungsrechte des Gläubigers entzogene Abtragshypothek einer Körper-
schaft oder Anstalt des öffentlichen Rechtes handelt. Letzterer kann sohin
die Rentenbankrente nachstehen.
2. Die Sicherheit der Rentenbankrente kann in der Regel dann als
vorhanden angenommen werden, wenn der Nennwert des als Abfindung
oder als Darlehen gegebenen Rentenbriefkapitals zuzüglich des zur
DR Emanuel Hugo Vogel.
Ergänzung gegebenen baren Geldes innerhalb der ersten drei Viertel (75°45)
des durch ritterschaftliche, landschaftliche oder besondere Taxe zu er-
mittelnden Wertes der Liegenschaft zu stehen kommt. '*)
3. Vollständig neu ist aber außerdem eine praktisch außerordentlich
wichtige Erweiterung der Rentenbriefbelehnung auch über 75° in den
Fällen kleinerer Rentengüter. Sind Rentengüter nur so groß, daß sie ganz
oder hauptsächlich ohne fremde Arbeitskräfte bewirtschaftet werden
können, so kann die Sicherheit auch dann als vorhanden angenommen
werden, wenn der Nennwert des Rentenbriefkapitales zuzüglich des zur
Ergänzung gegebenen Bargeldes innerhalb der ersten neun Zehntel
(90°%) des durch eine der früher bezeichneten Schätzungen ermittelten
Wertes der Liegenschaft zu stehen kommt. Nur hat hier die Rentenbank
das Recht, die sofortige Ablösung des die Sicherheit von 75%, übersteigenden
Teiles der Rentenbankrente zu verlangen, wenn eine die Sicherheit derselben
gefährdende Verschlechterung des Grundstückes zu besorgen ist, der Renten-
gutsbesitzer in Konkurs gerät, durch Zwangsvollstreckung zur Zahlung
seiner Rentenrückstände verhalten werden muß oder wenn das Eigentum
am Rentengut an einen anderen als einen seiner Abkömmlinge oder seine
Ehefrau übergeht.
Eine besondere Bedeutung besitzt für die Innenkolonisation die
Gewährung von niedrig verzinslichem Zwischenkredit, der sich ins-
besondere bei der Rentengutsbildung für die erste Einrichtung und die
Herstellung der Wohn- und Wirtschaftsgebäude notwendig erweist.'*) Erst
das Gesetz von 12. Juli 1900 (Ges. S. S. 300) stellt zunächst für die
durch Vermittlung der Generalkommissionen erfolgende Errichtung von
Rentengütern dem Rentengutsausgeber zur Abstoßung der Schulden
und Lasten der aufzuteilenden Grundstücke und den Rentengutsnehmern
zur Errichtung von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden billigen Zwischen-
kredit aus dem Reservefonds der Rentenbanken zur Verfügung, welcher
17) Aufgehoben ist also die zweite Grenzbestimmung, daß der 25fache Betrag
der Rentenbankrente innerhalb des 30fachen Katastralreinertrages einschließlich
des Gebäudeversicherungswertes stehen muß.
18) Bei der Veranschlagung der Rentenbankrente und der Bestimmung ihrer
Sicherheit ist zufolge $ 8 des Gesetzes von 1891 der durch die Errichtung der Wohn-
und Wirtschaftsgebäude zu erzielende Mehrwert mit zu berücksichtigen. Die Über-
nahme der Rentenbankrente ist jedoch in diesem Falle ganz oder zu einem ent-
sprechenden Teile bis zu dem auf die ordnungsmäßige Herstellung der Gebäude
folgenden nächsten Übernahmstermin auszusetzen.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 59
durch wiederholte Gesetzesakte (20. Juli 1910, 28. Mai 1913) erhöht wurde.
Eine dem Bedarf einigermaßen entsprechende Vermehrung haben aber die
für Zwischenkredite verfügbaren Mittel erst durch das schon oben erwähnte
Gesetz vom R. Mai 1916 (Ges. S. S. 51) erfahren, indem der Seehandlung
(preußische Staatsbank) hiefür ein auf dem Anleihenswege beschaffter
Betrag von 100 Millionen Mark zur Verfügung gestellt wurde. Dieser
Fonds hat daher ebensowenig wie die früher ausgeworfenen Kredite von
insgesamt 25 Millionen zur dauernden Beleihung der neu zu schaffenden
Rentengüter zu dienen, letztere bleibt vielmehr grundsätzlich auf die
bisherigen Geldquellen der Innenkolonisation verwiesen. 19) Die Gewährung
des Zwischenkredites nach diesem Gesetze setzte voraus, daß die königliche
Generalkommission die Eignung des aufzuteilenden Grundstückes zur
Rentengutsbildung bestätigt?®) und daß die zur Deckung des Zwischen-
kredites erforderlichen Rentenbriefe und Bareinzahlungen voraussichtlich
aufkommen werden. Anfänglich konnten Zwischenkredite bis zu 90% des
Kurswertes der in Aussicht gestellten Rentenbriefe gewährt werden?!)
während der Dauer des Krieges wurde die Grenze entsprechend der
Beleihungsfähigkeit der Rentenbriefe durch die Manichen Ense auf 70%
des Kurswertes herabgesetzt.
Außer im Wege von Ansicdlungsfonds und Zwischenkredit trägt der
Staat noch in einer dritten Form zur Finanzierung der Innenkolonisation
bei. Bereits mit dem Gesetze vom 26. Juni 1912 (Ges. S. S. 183) (sogenanntes
„Besitzfestigungsgesetz‘‘) wurden nämlich der Staatsregierung 100 Mil-
lionen Mark mit der Bestimmung zur Verfügung gestellt, zur Festigung
und Stärkung des deutschen ländlichen Besitzstandes in den östlichen
Provinzen ländliche Grundstücke zu erwerben und als Rentengüter aus-
zugeben, ferner den Staat mit Stammeinlagen bei gemeinnützigen
Gesellschaften zu beteiligen (im ganzen bis zu höchstens 5 Millionen
Mark), welche sich mit der Ausgabe von Rentengütern beschäftigen. In
19) Diese Geldquellen sind: Die Fonds der Rentenbanken auf Grund der
Rentenbriefausgabe, Darlehen aus den Beständen der Landesversicherungsanstalten,
eventuell stehengebliebene Kaufpreis- Restdarlehen der Rentengutsausgeber, außerdem
Darlehen der Sparkassen, Städte, Kommunalverbände.
=") Nur bei den von den Kommunalverbänden oder gemeinnützigen Vereinigungen
ausgegebenen Rentengütern auch ohne Vermittlung der Generalkommission.
21) Darüber hinaus durfte auf Grund bloßer hypothekarischer Sicherstellung
ein mäßiger weiterer Zwischenkredit bis zu */, des Taxwertes des Restgutes gegeben
werden.
60 Emanuel Hugo Vogel.
ersterer Richtung handelt es sich um eine rein staatliche Ansiedlungs-
tätigkeit im Sinne der oben besprochenen, durch das Gesetz von 1886
eingeleiteten Aktion (wenn auch mit einigen Abweichungen in der Aus-
führung), in letzterer Hinsicht um eine finanzielle Kooperation. Auch das
schon früher erwähnte Gesetz vom 28. Mai 1913 (Ges. S. S. 293) hat unter
anderem der Staatsregierung 10 Millionen Mark speziell zum Zwecke der
Beteiligung des Staates mit Stammeinlagen bei gemeinnützigen Ansiedlungs-
gesellschaften zur Verfügung gestellt, welcher Betrag wie erwähnt vorüber-
gehend auch zur Gewährung von Zwischenkredit benutzt werden konnte. 2?)
Von besonderem Interesse ist nun die Frage nach den Trägern der
Ansiedlungstätigkeit in Preußen. In dieser Hinsicht ist zwischen dem
Gesetze von 1886 und den Gesetzen von 1890/91, beziehungsweise 1916
zu unterscheiden. Ersteres Gesetz hat bekanntlich seinen Wirkungskreis
auf den Osten beschränkt und gleichzeitig eine ausschließlich staatliche
beziehungsweise staatlich geleitete Kolonisierung im Wege von „König-
lichen Ansiedlungskommissionen‘“, welche über staatliche Ansied-
lungsfonds verfügen, ins Auge gefaßt. Neben dieser staatlichen Ansiedlungs-
tätigkeit ist dann durch die Gesetze von 1890,91 auch die private und
gesellschaftlich-gemeinnützige Ansiedlungstätigkeit unter Eröffnung des
Rentenbankkredites herangezogen worden. Diese erfolgte unter der über-
wachenden und leitenden Tätigkeit der „Generalkommissionen‘“, die
aber grundsätzlich nur Vermittler, nicht Träger der Ansiedlungs-
tatigkeit sind. Sie nehmen die Anträge der Gutshesitzer, welche ihre
Ländereien zur Rentengutsausgabe anbieten, entgegen, prüfen sie, nehmen
die Vermessung vor und leiten die erforderlichen Schritte wegen
Finanzierung, Ordnung der Grundbuchsverhältnisse usf. ein. Namentlich
in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Gesetze war die Anzahl
dieser Anträge eine außerordentlich große und eine gewaltige Arbeits-
leistung von den Kommissionen zu bewältigen. Sie können aber auch die
Mitwirkung bei der Begründung und Finanzierung, das heißt Darlehens-
gewährung und Ablösung verweigern, also den gestellten Antrag ablehnen,
wenn dies aus Gründen der Sicherheit oder aus wirtschaftlichen Gründen
geboten erscheint. Insbesondere ist diese Mitwirkung abzulehnen zur Ver-
meidung einer „spekulativen Ausbeutung des Gesetzes“ durch berufs-
22) Außerdem wurden durch dieses Gesetz noch 12 Millionen Mark zur Urbar-
machung von fiskalen Mooren und 3 Millionen zur Ausführung von Meliorationen
auf Domänen zur Verfügung gestellt.
ji bi . . ° . . »
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Dentsehen Reiche. 61
mäßige Parzellierungsunternehmer (Güterzerstückler), ebenso auch im
Falle zu hoher Preisforderung der bisherigen Grundbesitzer. Ein Ent-
eienungsrecht als Waffe gegen gemeinschädliche Widerstände ist nicht
vorgeschen, da eben hier keine staatliche oder aus öffentlichen Gesichts-
punkten zwangsweise Kolonisierung beabsichtigt wird. Die preußische
Gesetzgebung baut vollständig auf der freien Initiative auf, der sie nur
ihre Mittel und Unterstützung zur Verfiigung stellt. Im übrigen fungieren
die Generalkommissionen, welche auch zur Durchführung von Gemein-
heitsteilungen und Zusammenleeungen berufen sind, als Ansiedlungs-
behörden, die nach den Gesetzen bei den einzelnen Stadien der Ansiedlung
von der Grundstiicksabteilung an bis zur vollständigen Einrichtung der
Rentengüter mit Gebäuden und Folgeeinrichtungen (Schulen, Kirchen,
Pfarren. Gemeindeverhältnisse)mitzuwirken haben. 23) Die Beteiligten haben
hiefür eine hinter den wirklichen Kosten weit zurückbleibende Pauschal-
sehühr (in der Regel 12 Mark pro Hektar) zu entrichten.
In der ersten Geltungszeit der neuen Rentengutsgesetze waren die
hauptsächlichsten Träger der Innenkolonisation die privaten
Grundbesitzer selbst, welche ihre Aufteilungsangebote an die General-
kommissionen stellten, die dann als der vom Gesetze berufene Vermittler
das ganze Verfahren der Rentengutsbildung von Anfang bis zu Ende
durchführten. Später haben dann diese Arbeiten vielfach die gemein-
nitzigen Landgesellschaften, Landbanken usf. übernommen, indem
sie als Träger der Innenkolonisation auftraten, von den privaten Grund-
besitzern die Güter kaufen und sie dann unter Aufsicht und Vermittlung
der Generalkommissionen aufteilen und besiedeln. Vielfach wurde jetzt
auch die Mitwirkung der letzteren auf die finanzielle Seite der Ansiedlungs-
tätigkeit beschränkt.
Auf Grund dieser Entwicklung ergibt sich nunmehr folgende Arbeits-
teilung zwischen den verschiedenen Trägern der Innenkolonisation, wobei
zwischen ,,GroBsiedlung, das heißt der Aufteilung größerer Flächen und
Gutskomplexe, und der „Kleinsiedlung‘“, das heißt der Aufteilung kleinerer
5) Plananlage. Vermessung, Verhandlungen zwischen Käufer und Verkäufer,
Prüfung ber Finanzierungsmöglichkeit, Vertragsaufnahme, Vermittlung der lasten-
freien Abschreibung der Trennstücke vom Stammgut durch „Unschädlichkeitsattest‘.
Vermittlung der Baudarlehen und Zwischenkredite, Eintragungen in das Grundbuch
nsf., Überwachung der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung des Rentengutes
während der Dauer der Rentenbankrente.
62 | Emanuel Hugo Vogel.
Flächen (meist begrenzt bis etwa 150 ha im einzelnen Parzellierungsfalle),
unterschieden wird.
Die „GroßBsiedlung‘ wurde bisher in Preußen von den königlichen
Ansiedlungskommissionen (Gesetz von 1886), dann von den in Preußen
mit der „Besitzfestigung‘‘ beschäftigten in Verbindung mit den General-
kommissionen arbeitenden „provinziellen Siedlungsgesellschaften‘“ (auch
„provinzielle Landgesellschaften“, mit einem Wirkungskreis für den
Bereich je einer Provinz) durchgeführt, an denen der Staat, die Provinzen.
dann Kommunal- und sonstige öffentliche Verbände, sowie genossenschaft-
liche Organisationen mit Kapitaleinlagen beteiligt sind.2?) Ihr gemein-
nütziger Charakter ist, abgesehen vom ständigen staatlichen Einflusse, auch
dadurch gewahrt, daß ihre Dividende auf 4— 4'/2 °/ beschränkt ist. Wichtig
ist, daß sie sich zugleich auch der bestehenden genossenschaftlichen
Organisationen bedienen und sie zur Mitwirkung in einem größeren
Assoziationsverbande heranziehen. Mit der eigentlichen „Neubesiedlung‘
verbinden sie auch immer die „Besitzfestigung‘‘, das heißt die Entschuldung
und Festigung des alten bäuerlichen Besitzes innerhalb ihres Wirkungs-
bereiches.
Die „Kleinsiedlung‘“ wird zunächst nebenbei auch von den früher
erwähnten Trägern der Innenkolonisation, also den Ansiedlungs-
kommissionen und den provinziellen Siedlungsgesellschaften, betrieben.
Außerdem beschäftigen sich mit derselben neben ihren sonstigen Haupt-
geschäften auch die „Besitzfestigungsbanken“?°), die Raiffeisenvereine,
dann Kreiskommunalverbände und Stadtgemeinden. Als weitere Träger
der Kleinsiedlung kommen private (nicht gemeinnützige) Erwerbsgesell-
schaften (,Terraingesellschaften‘) und schließlich überhaupt Privat-
personen in Betracht. Eine selbständige, das heißt nicht im Wege
gemeinnütziger Siedlungsgesellschaften, welche den Ankauf der von
Privaten angebotenen Grundstücke besorgen, vermittelte Kolonisierungs-
tätigkeit von Privatpersonen (Großgrundbesitzer, GroBbauern,
——
24) So ist der Staat bei der „Ostpreußischen Landgesellschaft mit 4 Millionen
Mark an dem Gesellschaftskapital von 7-65 Millionen Mark beteiligt. Außerdem
besteht noch die „Pommersche Landgesellschaft‘‘ (Gesellschaftskapital 6-25 Millionen.
Anteil des Staates 3-25 Millionen), die ,.Schlesische Landgesellschaft‘“ (Gesellschafts-
kapital 5-5 Millionen, Anteil des Staates 2-75 Millionen), die Schleswig-Holsteinsche
Höfebank“ (Gesellschaftskapital 1 Million, Anteil des Staates 600.000 M).
25) In Westpreußen die „Deutsche Bauernbank“, in Posen die „Deutsche Mittel-
standskasse‘“.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 63
Fabriksbesitzer) wird aber praktisch, von der Ansiedlungstätigkeit
einzelner großer Industrieunternehmungen (zum Beispiel Krupp) ab-
gesehen. nur in geringem Maße. in der Regel nur auf dem Gebiete der
Arbeitersiedlung in Frage kommen. Hauptsächlich beschäftigen sich
vielmehr mit der Kleinsiedlung die verschiedenen auf gemeinnütziger
Basis errichteten lokalen „Kleinsiedlungsgesellschaften‘ (gewöhnlich
Genossenschaften m. b. H. oder u. b. H., sowie Gesellschaften m. b. H.)
mit örtlich beschränktem Arbeitsgebiet, welche sich außerordentlich zahl-
reich zur Durchführung der Kolonisationsgesetze sowohl auf dem flachen
Lande als in den Stadtgebieten (häufig auch für beides) gebildet haben. 6) *)
Die Ergebnisse der Rentengutskolonisation, für welche in Preußen
bis Ende 1916 insgesamt mehr als I Milliarde Mark (1072 Millionen Mark,
davon 830 Millionen staatlicher Ansiedlungsfonds, 127 Millionen Zwischen-
kredit, 115 Millionen für Beteiligung an gemeinnützigen Gesellschaften mit
Stammeinlagen und Förderung der Innenkolonisation, Urbarmachung der
Moore usf.) aufgewendet wurden, sind verhältnismäßig ziemlich bedeutende.
Die Tabelle A auf Seite 66 möge hierüber Aufschluß geben.
Aus dieser Übersicht, welche die gesamten Kolonisationsergebnisse
vor dem Kriege. sohin sowohl jene der königlichen An-
siedlungskommission in Westpreußen und Posen (Gesetze von 1886
und folgende). als jene auf Grund der Gesetzgebung der Jahre
1890/91 (und folgende) bis Ende 1914 umfaßt, geht einerseits das
Verhältnis der „kleinen Rentenstellen‘‘ zu den größeren Rentenguts-
bildungen, anderseits das Verhältnis der eigentlichen landwirtschaftlichen
Kolonisation von ländlichen Berufsangehörigen und der mit Land-
zulage verbundenen Ansiedlung von Industriearbeitern hervor. Der
Unterschied zwischen dem agrarischen Osten?*) und dem industriereichen
26) Siehe hiezu insbesondere den instruktiven Aufsatz von Heidenhain. Thünen-
Archiv VIII 1916, S. 86 f, ferner Dietrich. Jahrbuch der Bodenreform XIII, 1917,
Heft 2, S. 81 f.
27) Nach einer dem Abgeordnetenhause Anfang 1914 vorgelegten Übersicht
(22. Legislaturper. IJ. Session 1914, Nr. 30 B) gab es im ganzen 106 teils für größere
Gebiete bestimmte. teils lokale gemeinnützige Ansiedlungsgesellschaften (davon 52
in der Provinz Posen); die größeren meist in der Rechtsform der Gesellschaft m. b. H.,
an deren der Staat, Provinzen, Kreise und Gemeinden sowie Genossenschaften und
auch größere (Gutsbesitzer beteiligt zu sein pflegen.
26) Ostpreußen, Westpreußen, Posen, Pommern, Brandenburg, Schlesien.
ogel.
+
Emanuel Hugo \
64
Tabelle A.
Innenkolonisation in Preußen in der Zeit von 1886 bis Ende 1914:
Durch die königl. Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen und auf Grund der Gesetzgebung 1390/91 mit und ohne Mitwirkung
Gebiete
6 Ostprovinzen ..
6 Westprovinzen
Zusammen ......
Kopfzahl der
Angesiedelten.
(Per Rentenstelle
oder Kleinsiedlung
eine Familie zu
6 Köpfen gerechnet.)
der Generalkommissionen,
A. Ergebnisse B. Vergleichszahlen
Oh
2°5 a,
Mill.
kon? Ein
km?
utsbildung unte
Morgen 11
ganzen
In
stellen von über
halt
stellen von 0
bis 2-5 ha
2-5 bis 26 ha und
Rentenstellen
Berufsbevélkerun
und Taglöhner
Arbeiter mit eige-
nem oder gepach-
zalıl 1910 in
im
in
Zahl der Renten-
Zahl der Renten-
Zahl sämtlicher
Kleinsiedlungen von In-
dustriearbeitern ob ne
Schätzungszifiern)
Landwirtschaftliche
Davon landwirt-
schaftliche Arbei
Landwirtschaftliche
Gesamtfliichen-
Gesamteinwoliner-
Rententg
Auf einen
"le
6.014*)| 23.038*)} 29.002*) 5.840.000 {1,022.00
104.700
260,
3,617.700 | 400.600
9,457.700 |1,422.600 | 173.350
203.628 | 378.600
*) Davon entfallen auf die von der königl. Ansiedlungskommission in Westpreußen und Posen auf Grund des Gesetzes von 1886
grgründeten Stellen 2495 unter 2:5 ha, 19.188 Uber 2°5 ha, insgesamt 21.683 Rentenstellen.
Die Ziffern der vorstehenden Tabelle sind entnommen den Mitteilungen über dic „Förderunz des Kleinsiedlungswesens in Preußen“ |
im Auftrage des Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forste von Fischer, im Archiv für innere Kolonis., Jahrgang 1916/17,
Bd. IX. H. '/, S. 12, 20, 21. Einige Ungenauigkeiten der Tabellen (so inshesondere gelten die Ziftern richtig bis einschließlich des Jahres 1914
statt wie es im Kopfe der letzteren heißt „bis zum Jahre 1914°*) ließen sich durch Vergleich mit dem Texte unschwer erkennen und verles-ern.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 65
Westen?) springt in die Augen. Die eigentliche Ansiedlungstätigkeit für
Industriearbeiter mit kleiner Landzulage unter '/z Morgen (das ist unter
125a oder '/s ha) findet sich nur in den Westprovinzen. Es handelt sich
hier vorzugsweise um die von den großen Industriefirmen errichteten
Arbeiterwohnhäuser und -wohnhauskolonien, von denen ein großer Teil
Ein- und Zweifamilienhäuser mit Landzulage, sogenannte ,,Kleinfarmen‘
sind. Mittelbar, insbesondere mit Rücksicht auf die landwirtschaftliche
Hilfsarbeit von Familienmitgliedern oder im Nebenerwerb interessiert
dieser Zweig der Kolonisation selbstverständlich auch vom Standpunkte
der landwirtschaftlichen Besiedlungstätigkeit. Die große Masse dieser
Kleinsiedlungen für Industriearbeiter ist durch die Arbeitgeber in Ver-
bindung mit der genossenschaftlichen Tätigkeit der Arbeitnehmer, zum
Teile auch durch gemeinnützige Bauvereine ins Leben gerufen worden.
Namentlich in der Rheinprovinz vollzog sich zufolge des im Auftrage des
preußischen Landwirtschaftsministers erstatteten Referates Fischers?*)
(S. 18) ein umfangreicher Kleinsiedlungsproze8 durch Schaffung von
Wohnheimstätten mit Landbeigabe, der jedoch selbstverständlich nicht
in Form von Rentengütern stattfinden kann, da letztere auch im Falle
der Kleinsiedlung doch grundsätzlich eine Wirtschaftsheimstätte im
Mindestausmaß von '/s ha Landzubehör voraussetzen.
Betrachten wir nun die Rentengutssiedlung näher, so zeigt sich,
daß in den Ostprovinzen das mittlere und größere Rentengut (über 2°5 bis
25 ha und darüber) vorherrscht, da es sich eben um rein oder überwiegend
landwirtschaftliche Gebiete mit gemischten Besitzverhältnissen handelt. In
den industriell stark durchsetzten Westprovinzen dagegen nimmt die land-
wirtschaftliche „Kleinsiedlung‘‘ unter sämtlichen Rentengutsgründungen
fast die Hälfte ein, ganz entsprechend dem Erfahrungssatze, daß die Klein-
siedlung gerade in solchen Gebieten eine besondere Rentabilität und wirt-
27) Sachsen, Schleswig-Holstein, Hannover, Hessen-Nassau, Westfalen, Rhein-
provinz.
28) Die Zahl der durch Vermittlung der Generalkommission in der Rheinprovinz
geschaffenen Rentengüter ist auffallend gering, nämlich nur 82 bis Ende 1914, davon
31 in der Größe unter 2-5 ha, also Kleinsiedlungen. Die gewerLliche Arbeiterschaft
dieser Provinz ist seit alters gewohnt. die Wohnstätten mit nutzbarer Landfläche
unter 2 ha zu verbinden. Nach der landwirtschaftlichen Betriebsstatistik von 1907
waren von den rund 382.000 landwirtschaftlichen Betrieben der Provinz nur rund
55.000 Hauptbetriebe, dagegen 327.000 Nebenbetriebe, und zwar solche ven weniger
als 2 ha Fläche (meist Eigenland, nicht Pachtland).
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Nene Folge. 1. Band.
66 Emanuel Hugo Vogel.
schaftliche Erfolgsaussicht hat, da sie über erhöhte Absatzmöglichkeiten
verfügt und ihre relativ hohe Betriebsintensität ganz den Bedürfnissen eines
industriell und kommerziell hochentwickelten Landgebietes entspricht.
Im Verhältnis zur gesamten landwirtschaftlichen Bevölkerung und
speziell zur landwirtschaftlichen Lohnarbeiterschaft stand allerdings die
Zahl der Rentengutsgriindungen und speziell der Kleinsiedlungen vor dem
Kriege trotz der relativ großen Erfolge noch immer in einen recht niedrigen
Prozentverhältnis. Im Verhältnis zur gesamten landwirtschaftlichen Lohn-
arbeiterschaft (1.422.600) machte die in Form der „Rentengutsklein-
siedlung‘‘ angesiedelte Zahl von Arbeiterfamilien (8455 Rentenstellen)
etwas mehr als '/2—*/4°'o, die Kopfzahl der Angesiedelten (50.730, die
Familie zu sechs Köpfen gerechnet) etwa 3'2% aus. Die Gesamtzahl der
Rentengutsgründungen (33.938) mit einer Kopfzahl von etwa 203.628 An-
gesiedelter betrug immerhin mehr als 2% der gesamten landwirtschaft-
lichen Berufsbevölkerung (9,457.700). Nicht zu übersehen ist aber, daß die
Zahl der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter mit eigenem oder gepachtetem
Land außerhalb der Rentengutsform eine nicht unbeträchtliche ist.
Was nun speziell die Ergebnisse der Rentengutsbegründung seit dem
neuen Gesetze vom 7. Juli 1891 anbelangt, die sich im Rahmen des letzteren über-
wiegend im Wege der Generalkommissionen vollzog, so wurden in ganz Preußen
in der Zeit vom 7. Juli 1891 bis 31. Dezember 1914 ohne Einbeziehung der in den
Ostprovinzen dureh die „Ansiedlungskommissionen“ vom Staate begründeten Renten-
güter 21.535 Rentenstellen mit einem Gesamtkostenaufwande von rund 282 Millionen
. Mark begründet.?®) Hievon waren 5344 Stellen unter 213 has), 2820 über 214 bis 5 ha,
4821 über 5 bis 10 ka. 6546 über 10 bis 25 ha, 1804 über 25 ha. Von dem Gesamtkosten-
aufwand per 252 Millionen Mark wurden rund 42-5 Millionen durch Anzahlung,
210 Millionen durch Rentenbrietdarlehen (einschließheh Baudarlehen von 20-6 Millionen
in Rentenbriefen), 16 Millionen dureh Resthypotheken, 13 Millionen im Kapitalwerte
durch Privatrenten (gegenüber den Grundstücksausgebern) aufgebracht. Die zu ent-
richtenden Rentenbankrenten belaufen sich insgesamt auf etwa 81, Millionen Mark.
Durch Freistellung der Stammerundstücke von den alten Lasten und Hypotheken an-
läßlich der Rentengutsbildung wurden mindestens etwa 150 Millionen Mark für ander-
weitige Anlage in der Volkswirtschaft frei.) Bis Ende 1913 betrug der Flächeninhalt
der für Rentengutszwecke erworbenen Grundstücke 423.622 ha, wovon bis zu diesem
m) Davon etwa */, Neusiedlungen, tj; Zukäufe.
w) Die Mindestgröße einer Rentengutskleinsiedlung für Arbeiter beträgt be-
kanntlich zufolge des Ministerialerlasses vom 8. Jänner 1907 12:5 a = 1, Morgen.
31) Aus dem dem Ausschusse C der „Studienkommission für Erhaltung des Bauern-
standes, Kleinsiedlung und Landarbeit‘“ vorgelegten Berichte des Regierungsrates
Riechert-Merseburg, Thünen-Archiv 1916, VIII. Heft 1, S. 60.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutsehen Reiche. 67
Zeitpunkte 231.277 ha zur Aufteilung gelangt sind.*?) Obwohl seit Erscheinen des
Ministerialerlasses vom 8. Jänner 1907, durch welchen die Mindestgröße der Arbeiter-
stellen auf 12:5 a = % Morgen herabgesetzt wurde, die Zahl der Ansetzung von
Arbeitern sehr stark zugenommen hat, vermochte sie doch auf die ländlichen
Arbeiterverhältnisse noch keinen nennenswerten Einfluß auszuüben.
Noch seien einige Zahlen über den Umfang der in Preußen durch-
geführten Besitzfestigung mitgeteilt, für welche durch die Gesetze vom
30. März 1908, 26. Juni 1912 und 28. Mai 1913 (Ges. S. S. 259) ziemlich
hedeutende Mittel (im ganzen 175 Millionen Mark für Besitzfestigung
bauerlicher Güter, 80 Millionen für Besitzfestigung größerer Güter, 100 Mil-
lionen im Gesetze von 1912 zugleich mit für Neusiedlungszwecke) zur
Verfügung gestellt wurden. In der Kriegszeit und der ihr folgenden Krisen-
zeit der Übergangswirtschaft ist allerdings die Besitzfestigung infolge
Anspannung der Staatsfinanzen für andere Zwecke so ziemlich zum Still-
stand gekommen. Sie wurde überwiegend durch die großen provinziellen
Landgesellschaften zugleich mit der Innenkolonisation betrieben und hatte
die Entschuldung, beziehungsweise Schuldkonversion bestehender Bauern-
` giiter zum Gegenstande. Die Besitzfestigung hatte bis 31. Dezember 1916
die in der Tabelle B (Seite 70) ausgewiesenen Ergebnisse.
Aus den Ziffern dieser Tabelle läßt sich unschwer erkennen, welch
gewaltige Bedeutung eine zielbewußte Besitzfestigungsaktion in volks-
wirtschaftlicher Hinsicht für den Bauernstand hat, die Ersparnisse an der
Jahresleistung sind trotz wesentlich erhöhter und darum beschleunigter
Tilgung, welche aus dem hohen Betrage der jährlichen Zinsenersparnis
gedeckt wird, relativ sehr groß und rücken die Wichtigkeit dieser Aktion
neben der Neubesiedlung ins rechte Licht (etwa 1'/2 Millionen Mark für
fünf der ausgewiesenen Provinzen, an reinen Zinsen ohne Rücksicht auf
die hieraus gedeckte höhere Tilgungsquote über 3 Millionen Mark). Das
Kapitalabfindungsgesetz vom 3. Juli 1916 hat in $ 1 für das gesamte Reich
ausdrücklich die Ablösung des Versorgungsanspruches für Zwecke des
Grundbesitzerwerbes oder „zur wirtschaftlichen Stärkung eigenen Grund-
besitzes‘‘ (das ist nach der Ausführungsanweisung vom 29. September 1916
durch Entschuldung oder Verbesserung der Schuldverhältnisse) vorgesehen
und damit zweifellos der Besitzfestigungsaktion nach dem Kriege eine neue
Grundlage gegeben.
32) Aus den ,.Geschiftsergebnissen der königlichen Generalkommissionen‘“,
Anlagen zum Berichte Pagenkopf. Archiv für innere Kolonisation, Bd. VI], 1915,
Tabelle e.
Emanuel Hugo Vogel
68
Provinz
Posen........
Östpreußen.......
Pommern.........
Sehlesien.........
Schleswig-Holstein.
Anmerkung: Sämtliche Daten sind dem Aufsatze Dietrich Albert
| Tabelle B.
Ergebnisse der Besitzfestigung in Preußen bis 31. Dezember 1916.
a) bäuerlicher b) größerer
$ zusammen
Besitz Besitz .
Fläche R | Fläche an reinen '
Zahl ha Zahl “ha | Zinsen in M
1
t
a) 934.600
55204 | 6000 | 158126 | 5) 307390
66023 | 5513 | 184603 | © 1.287.805
b) 367.052
12 1696 15 2839
a) 45.422
179 | 6044 191 hi oss
a) 33.783
299 a) 38.453
§ To a) 83.988
369 | 10726 366 b) 17852
buch der Bodenreform XIII. Jahrgang 1917, Heft 2, Seite 81 f. entnommen.
pd u’
in t'o
22 02
19°40
19-3
12-3
16:87
Ersparnis
|
i
an der Gesamtjahres-
leistung bei erhöhter
Tilgungsquote in M
a) 475.100
b) 103.070
a) 680.132
b) 38.139
a) 19.274
b) 19.641
a) 4.847
b. _
a) 38.987
b) 6.936
‚ „Der Weg der Besitzfestigung“ im Jahr-
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 69
Im Jahre 1917 und mehr im Jahre 1918 als dem Jahre des unglück-
lichen Kriegsendes hat Besitzfestigung wie Innenbesiedlung eine in der
Natur der Ereignisse begründete Stagnation erfahren, die infolge der
innerpolitischen Schwierigkeiten und der Lasten des Friedensvertrages noch
andauert. Die kräftige Wiederaufnahme beider Aktionen wird ein erstes
Zeichen wirklicher Konsolidierung sein.
Trotz der fraglos großen Erfolge, welche unter der tatkräftigen Mit-
wirkung einer ihrer Aufgabe vollbewußten Staatsverwaltung erzielt wurden,
haften der preußischen Innenkolonisation einige schwerwiegende Mängel
an, die sich auch bisher stets als empfindliches Hemmniserwiesen haben. Sie
liegen in der Art der Finanzierung, die, soweit nicht unmittelbar aus
Staatsmitteln Fonds bereitgestellt werden, auf den Systeme des Renten-
briefes aufgebaut ist, also einer Pfandbriefdeckung, die je nach ihrer
Wertung auf dem Markte und trotz einer den Staatspapieren gleichen Sicher-
heit doch so wie letztere starken und andauernden Kursdepressionen unter-
liegt. Dieser niedrige Kursstand (in normalen Zeiten) der Rentenbriefe
zwingt nicht nur zur Anwendung des höheren Zinsentyps, sondern verursacht
auch sowohl den gemeinnützigen Siedlungsgesellschaften als gegebenenfalls
den Grundstücksausgebern, beziehungsweise Darlehensempfängern (bei
Hingabe der Valuta in Rentenbriefen zum Nennwerte) namhafte Verluste,
die eventuell durch staatliche Zuschüsse, Barergänzungen usf. gedeckt
werden müssen. 33) Aber auch die dezentralisierte Durchführung der Innen-
kolonisation im Wege der privaten, beziehungsweise gemeinnützigen
Initiative, die eigentümliche, bloß vermittelnde Stellung der General-
kommissionen an Stelle unmittelbar einheitlicher staatlicher Organisation
und Führung hat sich als den Erfolg abschwächendes Hemmnis erwiesen
und noch den weiteren ebenfalls sehr schädlichen Nachteil im Gefolge
vehabt, daß die Verwaltungskosten unwirtschaftlich erhöht werden und
das ganze Ansiedlungswerk empfindlich belasten. 3%) Die Kosten, welche
33) Nach Buchenberger (S. 450) erwuchs der Siedlungsgesellschaft „Eigene
Scholle‘ im Jahre 1912/13 daraus ein Verlust von 235 M pro ha.
34) Insbesondere durch die sogenannten „Besiedlungszuschläge" fiir Kosten
des Verfahrens, Regelung der öffentlich-rechtlichen Verhältnisse und ,,Folgecin-
richtungen‘ (Herstellung von Wegen, Straßen, Gräben, Weiden, Entwässerung,
Meliorationen, Schulen, Kirchenverhältnisse usf.), Kursverluste bei Versicherung der
Rentenbriefe, sonstige Kosten des Kolonisators. Nach Buchenberger erwuchsen
allein aus der Regelung der öffentlich-rechtlichen Verhältnisse, insbesondere der
Schullasten 1912/13 der ,,OstpreuBischen Landgesellschaft‘' Kosten von 758 M per
Ansiedlungsstelle, der Ansiedlungskommission aber 2445 M per Stelle.
10 Emanuel Hugo Vogel.
nach der Gesetzgebung von 1890/91 dem Kolonisator zur Last falen,
obwohl sie zum Teile allgemeinen öffentlich-rechtlichen Charakter tragen,
werden von diesem wieder in dem Gesamtpreise der Ansiedlungsstelle ver-
rechnet und erhöhen die Schuldenlast in Form von Rente oder Hypothek.
Auch dies trug mit dazu bei, daß eine verhältnismäßig große Zahl von
Rentenstellen sich nicht zu halten vermochte und der Zwangsversteigerung
anheimfiel. 35) 36)
Nach anfänglich ziemlich großen Erfolgen infolge eines Massen-
angebotes von Aufteilungsanträgen bei den Generalkommissionen (etwa
bis 1894) sank die Zahl der im Wege der letzteren geschaffenen Renten-
stellen von Jahr zu Jahr (1911: 1328 Rentengüter, 1912: 1216, 1913: 1201),
teils infolge rigoroserer, vielleicht auch allzu ängstlicher Prüfung der Auf-
teilungsanträge und Zurückweisung aller höheren Preisforderungen, teils
da sich private Rentengutsausgeber mehr und mehr vor dem finanziellen
Risiko scheuten. Insbesondere stellte sich heraus, daß nur wenige private
Antragsteller (Grundstückseigentümer) nach ihren Fähigkeiten und den
ihnen zu Gebote stehenden Geldmitteln in der Lage waren, trotz der ver-
mittelnden Unterstützung der Generalkommissionen ein Rentenguts-
verfahren erfolgreich durchzuführen, zumal öffentliche Mittel im Kredit-
wege nur dem Rentengutserwerber, nicht auch dem Rentengutsausgeber
zur Verfügung gestellt werden. Der größte Fehler war, daß zunächst öffent-
liche Mittel der der privaten Initiative überlassenen Innenkolonisation auf
Grund der Gesetzgebung 1890/91 (von der staatlichen Kolonisation auf
Grund des Gesetzes 1886 und den hiefür geschaffenen staatlichen An-
siedlungsfonds wohl zu unterscheiden) nicht zur Verfügung gestellt wurden
und erst neun Jahre später wurde wenigstens für einen Teil der durch die
Kolonisation erwachsenden Ausgaben, nämlich AbstoBung der Schulden
und Lasten sowie Errichtung der Gebäude ein Zwischenkredit mit dem
Gesetze vom 12. Juli 1900 erstmalig gewährt. Erst in der Folgezeit hat
man die Notwendigkeit unmittelbarer staatlicher Kredithilfe für die
Kolonisationstätigkeit selbst und nicht nur für die Finanzierung des
Rentengutserwerbers erkannt. Es ergibt sich also aus der preußischen
35) Siehe hiezu den instruktiven Bericht Riecherts, Thünen-Archiv 1916, S. 43 f.
36) Nach Petersen, Archiv für innere Kolon. 1916, VIII, Heft 9, S. 249, sind
bei 5768 bis zum 1. Oktober 1915 auf die Rentenbank übernommenen Rentengütern
der Provinzen Brandenburg und Pommern bis Ende 1914 im ganzen 2113 Fälle von
Besitzwechsel eingetreten, worunter 70 Fälle der Zwangsversteigerung waren.
bie Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolenisation im Deutschen Reiche. 71
Rentengutspolitik, daß die Fundierung der eine primäre staatliche
Aufgabe bildenden Innenkolonisation auf rein privater In-
itiative beibloßvermittelnderundkontrollierender. beziehungs-
weise Schranken setzender staatlicher Mitwirkung ungenügend
ist, um eine aufs Grobe berechnete Wirkung zu erzielen, daß sie dann
mindestens das berechtigte wirtschaftliche Interesse der Grundstücksaus-
geber, da es sich für letztere um eine rein privatwirtschaftliche Aktion
handelt, in höherem Maße berücksichtiren und die kostenverursachende
Grundstücksausgabe ebenfalls mit staatlichen Mitteln fördern müßte. Ein
Vereleich mit der unmittelbar initiatorischen Tätirkeit der staatlichen
Ansiedlungskommission auf Grund der Gesetzgebune von 1886 für den
Osten (21.683 Rentenstellen in Westpreußen und Posen gegenüber 33.938
in ganz Preußen, beziehungsweise 12.255 auf Grund der Gesetzgebung von
1890 91, siehe Tabelle A) zeigt, daß dieser Weg rascher und sicherer, aber
auch in wirtschaftlicherer und einheitlich organisierter Form zum Ziele führt.
- Eine eroße nicht zu übersehende Schwierigkeit verursachte aber später
auch in immer zunehmenden Mabe die ,.Preisfrage des Siedlungs-
landes, da insbesondere in Preußen durch die Ankäufe der General-
kommissionen wie der Ansiedlungskommission eine gewaltige Preis-
steigerung des Siedlungslandes eintrat. Dies führte schließlich in den
letzten Kriegsjahren zu einer fast völligen Stockung der Siedlungsaktionen.
Eine Steigerung der Besiedlungstätirkeit trat in Preußen erst ein, als
man (etwa seit 1900) zu der von den Generalkommissionen selbst angeregten
Gründung besonderer gesellschaftlicher Unternehmungen auf
gemeinnütziger Grundlage (Landgesellschaften und Kleinsiedlungs-
gesellschaften) zum Zwecke der Innenkolontsation übereing, die nun unter
Leitung von sachverständigen Geschäftsführern und ausgestattet mit den
erforderlichen Geldmitteln planmäßig geeignete Güter aufkauften und
unter Vermittlung der Generalkommissionen deren Besiedlung dureh Auf-
teilung in Rentenstellen durchführten. Dazu kam dann die starke Förderung
durch den erhöhten Zwischenkredit des Gesetzes vom 12. Juli 1900 und
der Folgegesetze aus öffentlichen Mitteln. 37) Seitdem aber diese gemein-
nützigen Siedlungsgesellschaften in Tätigkeit getreten sind, haben sich
37) Siehe hiezu den instruktiven Bericht über die Tätigkeit der Generalkommis-
sionen vom Präsidenten Dr. Metz: „25 Jahre Siedlungsarbeit der ‚Generalkomnis-
sionen", Archiv für innere Kolonis. Bd. IX, 1917, Heft 5'6, S. 113 f., ferner ebenda
Jahrg. 1918/19, S. 57 ff, Jahrg. 1915/16, S. 228 f.
-]
te
Emanuel Hugo Vogel.
Gesetzgebung und Verwaltung bemüht, die Mitwirkung der einen staatlichen
Behördencharakter tragenden gemischten Generalkommissionen immer
weiter einzuschränken mit dem Ziele, ihnen schließlich nur die Ablösung
von Kauf- und Baurenten und die Gewährung von Zwischenkredit, sowie
die Bewilligung von Baudarlehen zu belassen, ja möglichst sie ganz aus-
zuschalten (Metz, S. 113). Wir haben also nunmehr zwei parallele Sied-
Jungsaktionen oder eigentlich drei nebeneinander in Preußen zu beobachten:
einmal die ausschließlich staatliche Kolonisationsaktion im Osten im Wege
der königlichen Ansiedlungskommission, dann die Ansiedlungstätigkeit der
Generalkommissionen auf Grund der Aufteilungsanträge von als Koloni-
satoren auftretenden Privatpersonen oder Erwerbsgesellschaften, endlich
jene der gemeinnützigen Ansiedlungs- und Landgesellschaften mit oder
meist auch ohne Mitwirkung der Generalkommissionen. Die selbständige
Tatigkeit dieser Gesellschaften hat in der letzten Zeit entschieden zu-
genommen.
Aus unseren Ausführungen über die Ansiedlungsaktionen Preußens
geht als praktische Schlußfolgerung mit voller Deutlichkeit hervor, daß
die Innenkolonisation trotz aller Unterstützung durch staatliche Ver-
waltungsstellen und Kreditgewährung auf keinen Fall der privaten
Initiative überlassen werden darf, daß aber auch die gemein-
nützige Siedlungstätigkeit angesichts der vielfachen wirtschaftlichen
Hemmnisse, ihres lokal begrenzten Wirkungsbereiches, der dadurch be-
wirkten Arbeits- und Geldzersplitterung sowie des Mangels an einheitlich
organisatorischer Führung nicht ausreichend ist, um sie zu einem
entscheidenden Faktor der Bevölkerungspolitik und Agrar-
reform zu machen. Dazu bedarf es weit über eine bloß überwachende
und vermittelnde Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung hinaus, der
eigenen führenden Initiative des Staates und der übrigen
öffentlichen Körper, wobei insbesondere ersterer selbst ein
umfassendes Kolonisationsprogramm aufstellen und auf Grund
eines geeigneten Rahmengesetzes zur Durchführung bringen
mub.
Von den übrigen ehemaligen deutschen Bundesstaaten ist eine planmäßige
Kolonisation vor dem Kriege nur in Mecklenburg und Oldenburg in größerem MaB-
stabe erfolgt. In Mecklenburg wurde sie in umfangreicher Weise zur Begründung
von Bauernstellen auf den ausgedehnten Domanialgebieten angewendet. Insbesondere
handelte es sich dabei um Überführung bisheriger Zeitpachtverhältnisse in Erbpacht,
also eine Verbesserung der Besitzlage der betreffenden bäuerlichen Kreise, dann um
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 73
Schaffung von .Büdlnerstellen‘, das heißt kleinerem Grundbesitz mit durchschnittlich
15 bis 20 Morgen Landfläche, endlich von Kleinhäuslerstellen, deren Besitz außer
Haus- und Hofmiete in 20 bis 40 a Gartenland besteht.38) In Mecklenburg hat man
nit dem Erbpachtsystem im allgemeinen außerordentlich günstige Erfolge erzielt,
was darauf zurückzuführen ist, daB dieses Institut dort völlig bodenständig ist und
zu den historisch überkommenen Besitzformen zählt, die hier3*) im Unterschiede von
Preußen stets rechtlich in Geltung verblieben. In Oldenburg erfolgte eine umfang-
reichere Kolonisation auf den staatlichen Moorländereien, und zwar nach dem Renten-
cutsprinzipe zu Eigentum gegen eine mit dem 25fachen Betrage ablösbare Jahresrente
nach 10 Freijahren.*®) Auch in Hannover handelt es sich in erster Linie um plan-
mäßige Besiedlung der dort vorhandenen weiten Odlindereien und Moorflächen.
Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, war also die Frage der Innen-
kolonisation in Deutschland und speziell in Preußen vor dem Kriege bereits
Gegenstand langjähriger und großzügiger Aktionen mit relativ bedeutenden
staatlichen Mitteln. Sie bedienen sich ganz überwiegend des Rentenguts- -
prinzipes und sind getragen in erster Linie von bevölkerungspolitischen,
in den polnischen Provinzen und den Grenzgebieten zugleich von nationalen
Rücksichten. 2 `
+
Während der Kriegszeit trat naturgemäß eine Stockung dieser
Arbeiten ein, wenn auch die Gesetzgebung auf dem Gebiete der Innen-
kolonisation keineswegs stillstand, wie insbesondere das schon erörterte
Gesetz vom 8. Mai 1916 beweist, welches unter Zuwendung eines 100-Mil-
lionen-Betrages für Zwischenkredit zugleich teilweise neue rechtliche
Grundlagen hiefür schuf. *!) Zuden bisherigen Zwecken der Innenkolonisation
38) Näheres hierüber insbesondere Buchenberger, 1. Bd.. 2. A. S. 185 f.
Nach seinen Mitteilungen bestanden 1910 gegen 5500 Bauerngüter, 8000 Büdnereien
und 11.500 Häuslerstellen zu Erbpacht auf dem Domanium Mecklenburgs.
39) Ebenso übrigens auch in einigen anderen deutschen Staaten, wie Braun-
schweig, Reuß, Sachsen-Altenburg, Meiningen und anderen.
$9) In Sachsen ist die Grundbesitzverteilung im allgemeinen eine recht günstige.
Nur etwa 20°, der landwirtschaftlichen Nutzfläche entfallen auf Betriebe über 50 ha.
Daher kommt hier in erster Linie nur die Arbeiteransiedlung, und zwar im Wege
zemeinnütziger Siedlungsgesellschaften in Frage. (Siehe Archiv für innere Koloni-
sation 1914, S. 175). In Bayern hat ein Ansiedlungsgesetz vom 15. Juli 1916 die
Ansiedlung von Kriegsgeschädigten mit Hilfe der Landeskulturrentenanstalt mit
Heranziehung der Kapitalsabfindung eingeleitet.
41) Weitere Akte der Gesetzgebung in Deutschland während des Krieges zur
Förderung der Ansiedlung sind: Sächsisches Gesetz über die Ansiedlung von Kriegs-
teilnehmern vom 5. Mai 1916; bayerisches Gesetz über die Landeskulturrentenanstalt
vom 8. Juli 1916; Kapitalsabfindungsgesetz vom 3. Juli 1916 (siehe unten).
T4 Emanuel Hugo Vogel.
trat nun im Verlauf des Krieges seit etwa Mitte 1915 ein neuer hinzu, die
Versorgung der heimkehrenden Krieger durch Ansiedlung in „Heim-
stätten‘“, für welche ebenfalls die Rentengutsform als die tauglichste in
erster Linie in Aussicht genommen wurde. Zunächst war es der Gedanke
der Invalidenversorgung, von dem die Heimstättenbewegung der ersten
Zeit ausging*?), dann der allgemeinere und richtigere der „Kiegerheim-
stätten‘“ als soziale Fürsorge für heimkehrende Krieger zugleich unter
Verfolgung der durch den’ Krieg besonders akut gewordenen Frage des
Bevölkerungsnachwuchses und — wenn auch in Deutschland damals
noch in verhältnismäßig zurücktretendem Maße — einer Erhöhung der
landwirtschaftlichen Produktivität und des Nahrungsstandes. #4).
‘Der .,Heimstattenvedanke“ geht aber noch auf ältere und ihrem
ursprünglichen Wesen nach anders geartete Ideen zurück. Schon in den
neunziger Jahren hat in Deutschland die „Heimstättenbewegung“, welche
nun in neuer Zweekverbindung im Mittelpunkte der Diskussion steht, ein-
gesetzt. Eine Reihe von Gesetzentwiirfen liegen aus dieser Zeit vor.*®) Ihr
Grundgedanke geht aber stets in Analogie der diesbezüglichen Bestrebungen
im Auslande (siehe insbesondere Vereinigte Staaten, England, Schweiz,
Skandinavien) davon aus, daß jedem Staatsbürger unter gewissen Voraus-
setzungen das Recht eingeräumt werden soll, seinen Grundbesitz als
„Heimstätte“ („Egna Hem“, Schweden „Home stead laws“, Vereinigte
Staaten) erklären zu lassen und ihn dadurch den rechtlichen Sonder- und
Schutzbestimmungen eines „Reichshemstättengesetzes”, insbesondere in
bezug auf Schuldexemtion zu unterwerfen, verfolgt also im Wesen die
Zwecke der „Besitzfestirung”, hat dagegen mit „Innenkolonisation” im
Sinne von „Neusiedlung‘“ zunächst nichts zu tun.
$2) Siehe die Schriften der Deutschen Gartenstadtgesellschaft Leipzig 1915.
$3) Siehe Max v. Gruber. Siedlungsreform. Zeitschrift für Wohnungswesen in
Bavern, XIII. Nr. 10 und 11: VHI. Konferenz der Zentralstelle für Volkswohlfahrt.
Berlin 1916; Berichte der 24. Hauptversammlung des Bundes Dentscher Boden-
reformer vom 2, Oktober 1915, Heft 11 und 12 der „Sozialen Zeitfragen“.,
%) An älteren Deutschen Heimstattenentwiirfen wären zu erwähnen:
1. Entwurf eines Heimstattengesetzes für das Deutsche Reich nach dem Antraze
der Abgeordneten Graf v. Dénhoff-Friedrichstein und Genossen Nr. 99 der
Drucks. ex 1892 mit den Beschlüssen der XXIV. Kommission vom 27. Februar 1892,
2. Entwurf K. Schneider 1891.
3. Entwurf Ed. Aug. Schröder, 1896; alle drei Entwürfe sind abgedruckt im
Jahrbuch für Bodenreform XI, 1915, ï. 152, 189 und 192.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d? Innenkolonisation im Deutschen Reiche. TP
Die Heimstättenbewerxung der jüngsten Zeit dagegen hat mit
diesen älteren Bestrebungen eigentlich nur den Namen gemeinsam. Unter
denn drängenden Einfluß sozialer und volkswirtschaftlicher Notwendig-
keiten ist ihr ausschließlicher Inhalt ‚.Innenkolonisation”, das heißt
Schaffung neuer Siedlungen mittleren und kleineren Umfanges behufs
Verbesserung des Nahrungsstandes mit spezieller Anwendung. auf
die Kriegsteilnehmer. Damit ist sie zugleich zu einem der Hauptsache
nach bevölkerungs- und avrarpolitischen Probleme in der von uns schon
früher eingehend besprochenen Art geworden. Aus dem Kriege hat die
Innenkolonisation unter dem Gesichtspunkte der „Kriegerheinistätten‘“
den wohl denkbar stärksten Impuls erfahren, nun wurde sie in ihrer Be-
deutung als Volks- und Staatsnotwendirkeit in Deutschland allgemein
anerkannt und wird nach Überwindung der schweren innerpolitischen
Erschütterungen zweifellos einer der wichtigsten Programmpunkte des
Wiederaufbaues und der allvemeinen wirtschaftlichen Konsolidierung
bilden. Die wertvollsten Vorarbeiten hat für die gesamten Fragen der
Innenkolonisation vor allem seit mehr als zehn Jahren die „Gesellschaft
zur Förderung der inneren Kolonisation” und der „Deutsche Verein für
ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege” in dem von diesen Vereinigungen
unter der fachmännischen Leitung von Sohnrey und Keup heraus-
gegebenen „Archiv für innere Kolonisation“ geleistet. Umfassende Vor-
erhebungen über die mit der praktischen Durchführung der Innenkoloni-
sation nach dem Kriege zusammenhangenden Fragen, insbesondere auf
agrarpolitischeni Gebiete hat ferner die im Jahre 1912 von der „Ver-
einigung für exakte Wirtschaftsforschung" eingesetzte „Studienkommission
für Erhaltung des Bauernstandes, für Kleinsiedlung und Landarbeit‘ unter
der Leitung von Batocki veranstaltet, deren Hauptergebnisse im Juli 1916
im Thünen-Archiv zur Publikation gelangt sind.?°) Aus den hierin. ept-
haltenen Grundgedanken sei nur erwähnt, daß zunächst die Notwendigkeit,
auch den großbäuerlichen und GroBgrundbesitz im Interesse angemessener
Verteilung der landwirtschaftlichen Besitz- und Betriebsgrößen zu erhalten;
betont wird, da jede zu weitgehende Aufteilung dieser Besitz- und Betriebs-
klassen, welche die wichtigsten Kornproduzenten . sind, zu ernster
Gefährdung der Volksernährung führe. Insbesondere wird auf die durch
Mangel an heimischen Arbeitskräften schon in Friedenszeiten unentbehrlich
%5) Siehe Archiv für exakte Wirtschaftsforschung (’Thünen-Archiv), herausgegeben
von R. Ehrenberg, VIII Bd., 1916, Heft 2, S. 153 bis 168.
16 Emanuel Hugo Vogel.
gewesene Beschäftigung ausländischer Wanderarbeiter in der deutschen
Landwirtschaft hingewiesen. Die Quellen ausländischen Arbeiterzuflusses
(Rußland, Galizien) aber sind infolge des Krieges versiegt. So wird denn
unter anderem die baldigste und weitgehende Zurückführung der in RuB-
land lebenden Deutschen gefordert, doch müsse systematisch durch Ver-
mehrung des kleinbäuerlichen Besitzes, durch Verbesserung der ländlichen
Lohnarbeiterverhältnisse, Kolonisierung der Arbeiter usf. die deutsche
Landwirtschaft vom ausländischen Arbeiterzufluß unabhängig gemacht
werden. Hiebei wird darauf hingewiesen, daß insbesondere nicht nur eine
Vermehrung der kontraktlich gebundenen ständigen Inlandsarbeiter, su
sehr sie erwünscht sei, in Frage stehe, sondern auch die Bereitstellung
zeitweise beschäftigter Arbeitskräfte durch ein zweckmäßiges Ineinander-
arbeiten von Landwirtschaft, Forstwirtschaft und auf dem Lande an-
gesiedelter Industrie. Die Erfahrung habe erwiesen, daß die Vermehrung
der freien Inlandsarbeiter in größeren Umfange durch Schaffung möglichst
vieler kleiner Eigentumsstellen allein nicht zu erreichen sei, so notwendig
diese als Ziel des sozialen Aufstieges der Landarbeiter im übrigen sei, weil
dadurch seine Freizügigkeit eingeschränkt werde. Eine Kleinstelle erwerbe
der Landarbeiter in der Regel nur, wenn er die Möglichkeit hat, durch
Zukaufen oder Zupachten Kleinbauer zu werden. Daher empfiehlt die
Studienkemmission, den in den Bauerndörfern eingemieteten freien Land-
arbeitern kleine Pachtgrundstücke aus Gemeindeeigentum zur Benutzung
zu überlassen, die eine kleine Viehwirtschaft ermöglichen. So wird denn
die Schaffung von Mietswohnungen mit Gemeindepachtland als
eine neue wichtige Aufgabe der inneren Kolonisation bezeichnet.
Dies ist eine außerordentlich wichtige sowohl für Deutschland als nament-
lich auch für Österreich interessante Feststellung, die bei der praktischen
Durchführung der Innenkolonisation nach dem Kriege jedenfalls Beachtung
verdient. Daneben wird darauf hingewiesen, daß insbesondere auch die
großen Industriedörfer mit ihrer meist rasch zunehmenden Bevölkerungszahl
wenigstens zeitweilig der Landwirtschaft Arbeitskräfte stellen. Hier handelt
es sich also wieder um ein planmäßiges Zusammenwirken zwischen land-
wirtschaftlicher und industrieller, beziehungsweise gewerblicher Siedlung.
In industriellen, beziehungsweise gewerblichen wie rein landwirtschaftlichen
Gemeinden sei also auf die Vermehrung der Mietswohnungen für
Lohnarbeiter und die Beigabe von Gemeindepachtland das
Hauptgewicht zu legen. Voraussetzung ist hiebei das Vorhandensein
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 77
dauernder Arbeitsgelegenheit zu angemessenen Bedingungen. Diese sei
gegeben in Dörfern, in deren Nähe nicht nur kleinbäuerliche Familien-
hetriebe, sondern auch großbäuerliche und eigentliche Großbetriebe ver-
treten seien. Mit Rücksicht auf die gewaltige Bedeutung der Landarbeiter-
frage sei für Beschaffung von Gemeindeland wie Mietwohnungen die Bereit-
stellung erheblicher öffentlicher Mittel und die entsprechende Weiterbildung
der bestehenden Rentengutsgesetze erforderlich. Die Pachtsiedlung auf
Gemeindeland soll aber jedenfalls als Vorstufe für die Eigentums-
stedlung gelten, die das Endziel der Kleinsiedlung bleiben müsse. Auf
diese Art solle die soziale Stufenleiter auf dem Lande durch Wieder-
einfügung der fehlenden untersten Stufe vervollständigt werden. Jungen
Leuten namentlich, die noch nicht über die nötigen Mittel zam Erwerbe
einer kleinen Eigenstelle verfügen, soll hiedurch die Möglichkeit, als Tag-
löhner oder Landarbeiter ein kleines Sparkapital aufzusammeln, geboten
werden.
Sind die Ergebnisse der von der „Studienkommission‘ vorgenommenen
Erhebungen, welche ja noch eine Aktion aus der Zeit vor dem Kriege
darstellen, vor allem für die Behandlung des Landarbeiterproblems in der
Innenkolonisation von Bedeutung, so hat sich der im zweiten Kriegsjahre
in Berlin ins Leben gerufene „Hauptausschuß für Kriegerheim-
stätten‘ besondere Verdienste um das aktuelle Problem der Wirtschafts-
heimstätten für Krieger, also die den neuen Wirtschaftsaufgaben
angepaßte Gestalt der Innenkolonisation nach dem Kriege erworben. Die
Arbeiten dieses Ausschusses haben nicht nur eine umfassende Propaganda
für die Heimstättenidee im Deutschen Reiche eingeleitet, sondern auch in
Form von Leitsätzen die Grundzüge eines „Reichsgesetzes zur Schaffung
von Kriegerheimstätten‘‘ aufgestellt. *®)
Von großer praktischer Bedeutung für die Ihnenkeiahtektien, be-
ziehungsweise Heimstättenfrage nach dem Kriege dürfte das „Kapital-
abfindungsgesetz‘‘ vom 3. Julil916 werden. *”) (Siehe hiezu die Bekannt-
machung des Bundesrates, betreffend Ausführungsbestimmungen vom
11. Jänner 1919, Jahrbuch der Bodenreform, XV., S. 33 f.) — Darnach
46) Siehe Prof. Erman: „Die Grundzüge für ein Kriegerheimstättengesetz‘,
Berlin 1915; ferner auch Jahrbuch der Bodenreform von A. Damaschke, XI. Bd.,
1915, S. 307 f.
$7) Siehe den Abdruck des Gesetzes samt den Ausführungsbestimmungen im
Jahrbuch der Rodenreform, XIJ. Bd., 3. Heft, S. 204.
78 Emanuel Hugo Vogel.
kann ein Teil der aus AnlaB des Krieges auf Grund des Mannschafts-
“versorgungsgesetzes oder des Militärhinterbliebenengesetzes zustehenden
Kriegsversorgung ' „zum Erwerbe oder zur wirtschaftlichen
Stärkung eigenen Grundbesitzes unter gewissen Voraussetzungen
(insbesondere vollendetes 21. Lebensjahr und noch nicht zurückgelegtes
55. Lebensjahr) durch Zahlung eines Kapitals abgefunden werden. Die
Kapitalabfindung beschränkt sich auf die Kriegszulage, die Verstiimme-
lungszulage, die Tropenzulage in Höhe der Kriegszulage, die auf Grund des
Militärhinterbliebenengesetzes vom 17. Mai 1907 zustehenden Bezüge für
' Witwen nach Militärpersonen, abgestuft nach dem Range der letzteren bis
zur Höhe von 300, 250 beziehungsweise 200 M. Der Militärverwaltungs-
behérde bleibt die Überwachung der bestimmungsgemäßen Verwendung
des Abfindungsbetrages vorbehalten. Unter gewissen Bedingungen ist auch
die Rückumwandlung der Abfindung durch Rückzahlung der Abfindungs-
summe und Wiederherstellung des Versorgungsbezuges ermöglicht. Von
besonderer praktischer Wichtigkeit ist, daß die Kapitalabfindung als
Finanzierungsbehelf sowohl bei Erwerb eines Grundbesitzes in Form des
Rentengutes, der Erbpacht und des Erbbaurechts, als auch im Dienste der
„Besitzfestigung‘“, das ist zur Abstoßung von Schulden, Konversion
von solchen, Aufbau von Gebäuden, Meliorationen, Inventarnach-
schaffungen usf. angewendet werden kann. Ferner ist zu beachten, daß
sohin nur ein Teil der Versorgungsansprüche (das ist die Zulagen) ablösbar
ist, um dem Versorgungsberechtigten jedenfalls einen fortlaufenden Bar-
bezug zu sichern.
Eine wichtige Ergänzung erfuhr das Kapitalabfindungsgesetz unter
Erweiterung des Kreises der abfindungsberechtigten Personenkategorien
durch das Gesetz vom 26. Juli 1918. Zur gleichen Zeit erging auch ein
besonderes Kapitalabfindungsgesetz für Offiziere und Militärbeamte,
welches wieder die Auszahlung des Kapitalwertes der Versorgungsgebühren
„zum Erwerb oder zur wirtschaftlichen Stärkung eigenen Grundbesitzes““
zum’ Zwecke hat.?®)
Im Laufe des Jahres 1918 sind mehrfache Versuche zu verzeichnen,
um für das Werk der Innenbesiedlung und Kriegerheimstätten die nötigen
gesetzlichen Grundlagen im Reiche zu schaffen. Mehrere Entwürfe eines
Reichsrahmengesetzes für Heimstättenrecht und Kriegerheimstätten ver-
è») Siehe Jahrbuch der Bodenreform, XIV. Bd., 1918, 4. Heft, S. 263 und 266,
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 79
danken dieser Zeit ihre Entstehung. *9) Auch in einzelnen Bundesstaaten
wurden Heimstättengesetze ins Leben gerufen. 5") Mit dem plötzlichen Ende
des Krieges und dem politischen Umsturz wurden zunächst die Vorarbeiten
für die Heimstättenaktion unterbrochen. Von besonderer Wichtigkeit ist,
daß die neue Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919,
R. G. Bl. 152, in Artikel 10, Punkt 4, ausdrücklich dem Reiche die Gesetz-
sehung über „das Bodenrecht, die Bodenverteilung, das Ansiedlungs- und
Heimstattenwesen, die Bindung des Grundbesitzes, das Wohnungswesen
und die Bevoélkerungsverteiling” vorbehält. Auch der Artikel 155 der
Verfassung gibt dem Staate das Recht, die Verteilung und Nutzung des
Bodens zu überwachen und sichert jedem Deutschen eine semen Bedürf-
nissen entsprechende Wohn- oder Wirtschaftsheimstatte zu, wobei ,, Kriegs-
teilnehnier bei dem zu schaffenden Heinistättenreeht besonders zu berück-
sichtigen sind“. Ausdrücklich ist auch dem Staate die Enteignungsbefuenis
für Grundbesitz eingeräumt, dessen Erwerb zur Befriedigung des Wohnungs-
bedürfnisses, zur Förderung der Siedlung und Urbarmachung oder zur
Hebung der Landwirtschaft erforderlich ist. Fideikommisse sollen auf-
gelöst werden. Agrarpolitisch sehr wichtig und auch praktisch ausgestal-
tungsfahig ist die Bestimmung, daß auch eine Pflicht des Grund-
hesitzers gegenüber der Gemeinschaft zur Bearbeitung und Aus-
nutzung des Bodens aufgestellt wird, wobei Wertsteigerungen, welche
ohne Arbeit oder Kapitalaufwendung auf die Grundstücke entstehen, für
die Gesamtheit nutzbar zu machen sind. In diesen wenigen Sätzen sind
4) So zwei Gesetzentwürfe über Ileimstättenrecht und Kriegerheimstätten
auf (rund der Vorarbeiten von Blume, Ermann. Jakobi (beschlossen in der
Vorstandssitzung des Bundes der Bodenreformer am 3. April 1918), dann ein von
Heinrich Ermann ausgearbeiteter Entwurf eines Reichsgesetzes über Heimstätten-
recht und Kriegerheimstätten auf den gleichen Grundlagen. Siehe Jahrbuch der
Bodenreform, XIV. Bd.. Heft 2. S. 98 f., Heft 4. 5. 249 f.. 254 f.
©) Siehe die im Herzogtum Braunschweig unterm 19. April 1918 ins Leben
gerufenen Gesetze betreffend Heimstattenerrichtung (zu Rentengutsrecht) und
Förderung des Siedlungs- und Wohnungswesens (Jahrbuch der Bodenreform, XIV. Bd.,
Heft 2, S. 102 f). Eine wichtige die Innenkolonisation vorbereitende Verordnung
ist am 23. Dezember 1918 in Preußen erschienen. Sie führt VerduBerungsbeschran-
kungen bei land- und forstwirtschaftlichen Besitzungen. insbesondere ein gesetz-
liches Vorkaufsrecht des Staates ein bei allen Verkäufen von mehr als 20 ha großen
Besitzen. Dieses Vorkanfsrecht kann auch gemeinnützigen Ansiedlungsgesellschaften
übertragen werden. Ausgeschlossen bleiben nur Verkäufe an Verwandte oder Ver-
schwägerte in gerader Linie oder bis zum zweiten Grad der Seitenlinie.' à
80 Emanuel Hugo Vogel.
die Grundzüge eines künftigen Agrarprogrammes eingeschlossen, welches
auch die möglichste Intensivierung des Bodenanbaues und die möglichst
vollständige Ausnutzung des verfügbaren Heimatlandes umfaßt. 5t)
Der wichtigste positive Schritt auf dem Gebiete der Innenkolonisation
ist aber die am 29. Jänner 1919 erschienene Verordnung zur Beschaffung
von landwirtschaftlichem Siedlungsland, welche von der verfassung-
gebenden Nationalversammlung unter dem 11. August 1919 in ein Reichs-
siedlungsgesetz umgestaltet wurde. Die Führung des Siedlungswesens
und der Bodenbeschaffung wird in die Hände des Staates (Reich und
Bundesstaaten) gelegt. Speziell die Bundesstaaten werden verpflichtet,
gemeinnützige Siedlungsunternehmungen für territoriale Sprengel
(Ansiedlungsbezirke) ins Leben zu rufen. Hiebei kann es sich sowohl um
die Schaffung neuer Ansiedlungen als um die Hebung bestehender Klein-
betriebe, jedoch „höchstens auf die Größe einer selbständigen Acker-
nahrung‘“‘, handeln. Interessant ist, in welcher Art die Bereitstellung von
Boden in Aussicht genommen wird. In erster Linie kommen Staats-
domänen in Betracht (Ankauf zum Ertragswert ohne Berücksichtigung
vorübergehender Wertsteigerungen im Gefolge des Krieges), dann Moor-
und Ödland (im Enteignungswege $ 3). Des weiteren wird den gemein-
nützigen Siedlungsunternehmungen (als solche können von den Landes-
zentralbehörden auch öffentliche Behörden und Anstalten bezeichnet
werden) ein allgemeines Vorkaufsrecht auf die im Ansiedlungsbezirke
gelegenen landwirtschaftlichen Grundstücke oder Teile von solchen von
mehr als 25 ha eingeräumt. Es kann aber durch Bestimmung der Landes-
zentralbehörde auch auf kleinere Grundstücke ausgedehnt werden. Das
Vorkaufsrecht soll nur bei Verkäufen an Körperschaften des öffentlichen
Rechtes, an den Ehegatten, an Verwandte in gerader Linie, an Seiten-
verwandte bis zum 3. Grade oder an Verschwägerte bis zum 2. Grade aus-
geschlossen sein.
st) Auf dieser Grundlage erschien zunächst eine Verordnung über die „Sicherung
der Landbewirtschaftung vom 4. Februar 1919 (abgeändert durch Verordnung
vom 1}. August 1919), wobei einem Nutzungsberechtigten, der sein Grundstück
nicht entsprechend bewirtschaftet, die Nutzung entzogen werden kann. Wichtig
ist auch die Bundesratsverordnung vom 15. März 1918 über den Verkehr mit Grund-
stücken, wonach Grundstücke von gewisser Größe nur mit Zustimmung der zuständigen
Behörde übertragen werden dürfen. Hiedurch sull insbesondere spekulativer Ankauf
durch Nichtlandwirte verhindert werden.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. Si
Die praktisch wichtigste Bestimmung des neuen Gesetzes aber ist
jene, wonach alle größeren Grundbesitzer eines Ansiedlungsbezirkes zu
„Landlieferungsverbänden‘ zusammengefaßt werden. Es gilt dies für
die Besitzer vor Gütern von 100 und mehr Hektar landwirtschaftlicher
Nutzfläche, sofern diese letztere bei sämtlichen Großgütern (ohne Einrech-
nung der Staatsdomänen) zusammen mehr als 10%, der landwirtsehaftlichen
Nutzfläche des betreffenden Ansiedlungsbezirkes ausmacht. Die Aufgaben
und Rechte solcher als rechtsfähire juristische Personen konstruierter
Landlieferungsverbände (einschließlich ihres Enteignungsrechtes, siehe
unten) können auch auf bestehende landwirtschaftliche Organisationen oder
auf gemeinnützige Siedlungsgesellschaften übertragen werden. Der Land-
lieferungsverband hat nun auf Verlangen der Siedlungsunternehmung
geeignetes Land aus dem Bestande der großen Güter zu angemessenem
Preise (gemeiner Wert, den das Land im GroBbetriebe hat ohne Rücksicht
auf außerordentliche Wertsteigerungen im Kriege)5*) zu beschaffen und
letzterem zum Erwerbspreise zu überlassen. Die Verpflichtung des
Landlieferungsverbandes ist erfüllt, sobald ein Drittel der
gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der großen Güter
(einschließlich der Domänen) für Siedlungszwecke bereitgestellt ist
oder die Jandwirtschaftliche Nutzfläche dieser sämtlichen Güter im An-
siedlungsbezirk nun nicht mehr als 10°, der gesamten landwirtschaft-
lichen Nutzfläche dieses Bezirkes beträgt (§ 13, Absatz 2). Der Land-
lieferungsverband hat auch an Stelle des Siedlungsunternehmens das Vor-
kaufsrecht auf alle Großgüter seines Bezirkes, beziehungsweise muß es auf
Verlangen des gemeinnützigen Siedlungsunternehmens ausüben. Ebenso
kann er geeignetes Siedlungsland aus dem Besitzstande der großen Güter
in Enteignungswege gegen angemessene Entschädigung in Anspruch
nehmen, wenn ein dringendes, auf andere Weise nicht zu befriedigendes
Bedürfnis nach besiedlungsfähigem Lande besteht. Diese Bestimmung ist
wohl nur im Zusammenhange mit der gesetzlichen Verpflichtung des Ver-
handes zu erklären, insgesamt bis zu ein Drittel der landwirtschaftlichen
Nutzfläche für Siedlungszwecke aufzubringen. Der Verband hat also auch
selbst ein Interesse, säumige oder nicht willfährige Genossen im Ent-
eimnungswege zur Anteilnahme an der Landlieferung zu verhalten. Die
52) Also nicht der zur Zeit der Erwerbung geltende Verkehrswert, sondern ein
unter Ausschaltung außerordentlicher Wertänderungen konstruierter Friedenswert
(§ 13 des Gesetzes).
os
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band.
Sr Kamel Hago Vogel.
neuen charakteristisehcn Mhtel der baad ecehe fuasg sind also gusetzliches
Vorkaufsrechi und Zwäangselkeelgultiut,
In erster Linie soll der Verband aus den Grobgütern jene erwerben,
welche an andere als landwirtschaftliche Berufsangehönge übergegangen
sind oder innerhalb der letzien 20 Janre mehrfach den Besitzer gewechselt
haben, dann solche, welche besonders exiensiv oder schlecht bewirtschaliet
werden, Besitzern angehören, welche sich während des größeren Teiles des
Jahres nicht auf dem Besitz aufhalten vad thn nicht selbst cewirtscneften.
endlich Güter, die zu Beskzunsen von „ungerwöhlitenem Umlango”
gehören oder ehemals selostindige Bauernviiter oder Landsiellen, welche
während der letzten 30 Jahre ven Kirentümern großer Güter aul-
gekauft wurden. In leizierem Falo handelt es sich also um Wicder-
besiedlung eeleeter Bauerneüter Bei Durchführung dieser Auf-
gaben ist ein enges Zusammenwirken zwischen „Siedlunesunternehmien”
und „Landlieferungsvernand“ vorgesehen. Ob der gesetzliche Zwang
die mitunter heterogenen Interessen wird völlig zu überwinden vermögen,
werden wohl die praktische Erfahrung und der positive Erfolg dieser
kolonisatorischen Aktion alsbald erweisen. Jedenfalls dürfte die im
(ieseize alleemein ohne Unterscheidung angeordnete Abgabe von
einem Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche aller GroBbetriebe
von mehr als 100 ha unter Umständen für diese außerordenilich nach-
teilig wirken und ihre Produktivität erheblieh vermindern. Auch darin
liest eine große Härte, daß für die Entschädieung erundsätzlich nur der
Wert vor dem Kriege (also ohne Berücksichtigung der Wertsteigerungen
im Kriege) zugrunde zu legen ist, da infolgedessen auch die ein-
getretene Geldentwertung unberücksientigt bleibt, die „Entschädigung“
also zur reinen Fiktion wird. Wird eine außerordentliche Vermogensabeabe
von Miteliedern des Landlieferunesverbandes in pesiedlunesfähleen Lande
entrichtet, so ist letzteres auf das vom Verbande zu hefernde Drittel
anzurechnen, eine zweifellos sehr zweekmäßige Bestimmung, welche die
Durchführung wesentlich zu erleichtern vermag. Dem ,,Siedlungsunter-
nehmen“ steht auch ein Wiederkaufsrecht auf die von ihm begründete
Ansiedlerstelle zu. wenn sie der Ansiedler veräußert oder nicht dauernd
bewohnt und bewirtschaftet. Ebenso steht auch dem früheren Eigentümer
ein Wiederkarfsrecht gegen das Siedlunesunternehmen zu, wenn es das
erworbene Grundstück nient innerhalb zehn Jahren für Siedhineszwecke
verwendet.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche, 559
Schtißbsich können auch Landgemeinden und Guissezuke durch
Anordnung der Laxaiszentälbehörden verpllichtt werden, Ständigen
Landarbeitern ihres Bezirkes auf ihren Wunsch Gelegenheit zur Pachtung
cder sonstigen Nutzung ven Be den für den Bidarf des Hausnaltes zu geben,
wofür das erforderliche-Land auch im Wege der Zwanespachtung oder
Enteignung tinsbLesendere bem Arbeitzeber) in Anspruch genommen
werden kann. Die Verpflichiung gilt als ertüllt, wenn Pacht- oder Nutzland
im Ausmäße ven 69, der landwirischaftlich genutzten Gemeinde- oder
Gutsfelamark zur Vertiigune gestellt ist. Wie wir sehen, wird also hier im
Dienste der Landarbeiterfrace nur der Vall der Gnundstückspachtune (nieht
auch Rentenguissicdlung) in Betracht gezogen, Übsicens wäre es wohl auch
zweckmäßig gewesen, dem Landheferungsverbande die gleiche I flicht der
Bereitstellung ven Grundstücksteilen aufzueriegen, zumal ber Verwendung
des abgegebenen Bedens zu Siedlungszweeken ganz von selbst Restparzellen
für Ausstattung von Landarbeitern sich ergeben müssen. jede Innen-
kolenisation aber gleichzeitig auch die Versorge für genügende Lohu-
arbeitskräfte mit allen tauglichen Mitteln in ihren Plan aufnehmen mub.
Schließlich sei nech erwähnt, daß die Enteignung zu Siedluneszwecken im |
Sinne dieses Gesetzes sich unter keinen Umständen auf Besitzungen
erstreckt, deren landwirtschaftlich genutzte Fläche 100 Aa nieht erreicht.
Wie aus dem besprochenen Rahmengesetze herveoracht, Hegt die prak-
tische Ausführung der Junenbesiedlung bei den Ländern. Allerdings
ist bis zur Gegenwart seitens def letzteren noch nicht viel Positives
geschehen, Ja es sind noch nicht einmal alle Landli-ferungsverbände ins
Leben gerufen worden. Immerhin sind hier wentesiens die unbedingt
erforderlichen gesetzlichen Grundlagen geschaffen, um nach eingetretener
politischer und wirtschaftlicher Konsolidierung mit einer rationellen Innen-
siedlung einsetzen zu können. liinsiehilich der Rechtsformen der Klein-
siedlunz enthält das Reichseesetz var keine nenen Bestimmungen. Hier
bleibt es also bei den bisher üblichen Formen. insbesondere jener des
preußischen Rentengutes mit Tilaungstente.
Auch eine vorläuliee „Landarbeitsordnune” wurde unterm
24. Jänner 1919 erlassen, welche von den im „Reichsbauern- und Land-
arbeiterrat" in Berlin zusammengeschlossenen Verbänden landwirtschaft-
licher Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart wurde. Durch diese Land-
arbeitsordnung wird das landwirtschaftliche Arbeitsverhältnis eingehend
geregelt, wobei in bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsvollzue, Ruhepausen,
S4 Emanuel Hugo Vogel.
Art der Entlohnung, Kündigung usf. den Rücksichten sozialen Arbeiter-
schutzes in weitestgehendem Maße Rechnung getragen wird. 53)
Im Jahre 1919 bis zur Gegenwart ist aber ungeachtet der schweren innerpoli-
tischen Wirren in einzelnen deutschen Bundesstaaten wertvolle legislatorische
Arbeit auf dem Gebiete der Innenbesiedlung geleistet worden, welche sich zum Teile
bereits im Rahmen des früher besprochenen Reichssiedlungsgesetzes bewegt. In
erster Linie ist auf das Preußische Ausführungsgesetz zum Reichssiedlungsgesetze
vom 11. August 1919 (erlassen am 15. Dezember 1919) zu verweisen, welches ins-
besondere das bei der Enteignung durch ein gemeinnütziges Siedlungsunternehmen,
den „‚Landlieferungsverband‘ oder eine Landgemeinde als Antragsteller einzuhaltende
Verfahren regelt, ebenso die Rechtsverhältnisse der für die einzelnen Provinzen zu
konstituierenden Landlieferungsverbände näher ordnet.) In Hessen wurde im
Frühjahr 1919 eine umfangreiche Regierungsvorlage betreffend ein „Landgesetz",
im Wesen auf dem Boden des Reichssiedlungsgesetzes, eingebracht, ®) welches speziell
dadurch charakterisiert ist, daß hier die gesamte Siedlungsaktion ausschließlich in
die Hände des Staates als eines „gemeinnützigen Siedlungsunternehmens‘“ gelegt
wird, welcher hiefür ein „Landessiedlungsamt‘‘ mit einem Beirate von Vertrauens-
männern (teils Delegierte der Volkskammer, teils der Landlieferer und der Ansiedler)
bestellt. Das Gesetz verfügt zugleich eine „Umsatzsperre‘‘, das heißt eine Veräußerungs-
beschränkung für alle eine bestimmte Größe übersteigenden Güter, dann ein noch
„über die Fälle des Reichssiedlungsgesetzes hinausgehendes Vorkaufsrecht des Staates
bei allem Grundbesitz jeder Größe, sofern der Grundbesitz des Käufers nach dem
Erwerbe eine im Verordnungswege festgesetzte GriBe übersteigt. Das Recht der
Enteignung wird hier weit über den Rahmen des Reichssiedlungsgesetzes hinaus
ausgedehnt, so daß die dort vorgesehenen Grenzen (insbesondere die Beschränkung
auf „Großgüter‘‘ über 100 ha landwirtschaftliche Nutzfläche) hiedurch illusorisch werden
(siehe Artikel 58, 59 im Vergleiche mit $$ 12 bis 16 des ersteren). An Stelle dieser
Enteignung seitens des staatlichen Siedlungsunternehmens kann auch in allen hiefür
geeigneten Fällen die Zwangspachtung treten. Immerhin zeigt sich, daB die Innen-
besiedlung in den Einzelstaaten nun in das Stadinm der praktischen Verwirklichung
tritt. Auch in Braunschweig wurde im Wesen auf Grundlage der Reichssiedlungs-
verordnung am 4. Juli 1919 ein ,,Landbeschaffungsgesetz" (Nr. 80, G. und V. S..
S. 177) ins Leben gerufen, welches den Landgemeinden ein gesetzliches Vorkaufs-
recht auf die in ihrem Bezirke gelegenen Grundstücke über 150 m? einräumt. Die
Landgemeinden können wieder die Ausübung dieses Rechtes an Anstalten, Stiftungen
und Vereinigungen übertragen, die als gemeinützig im Sinne des Siedlungsgesetzes
anerkannt sind. Interessant ist, daß nach diesem Gesetze seitens der Landgemeinden
53) Siehe Deutscher Reichsanzeiger Nr. 26 vom 31. Jänner 1919 (Stedlungs-
verordnung) und Nr. 25 vom 30. Jänner 1919 (Tandarbeitsordnung).
Die Siedlungsverordnung ist im Deutschen Reichsgesetzblatte Nr. 22 ex 1919
unter Nr. 6675 enthalten. f
3$) Siehe Jahrbuch der Bodenreform. XV, Heft 4, S. 219f.
55) Siche Jahrbuch der Bodenreform. XV, Heft 2, S. 103 f.
. í $ . . . . . ee
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Iinenkolonisation im Deutschen Reiche. Rd
in landwirtschaftlichen Betrieben ihres Bezirkes ständig beschäftigten Arbeitern
an Stelle der Überweisung von Pacht- oder Nutz!and im Sinne der Siedlungsverordnung
auch Land für eine Heimstätte auf Grund des oben (Anmerkung 50) erwähnten
Heimstättengesetzes vom 19. April 1918 Nr. 22 überlassen werden kann, wenn die
Bewerber ein Viertel des Preises anzahlen. Auch im braunschweigischen Gesetze
finden wir ähnlich wie im hessischen Entwurfe das Institut der ,,Landlieferungs-
verbände‘ des Reichssiedlungsgesetzes nicht verwirklicht. Während in Hessen der
Staat als Siedlungsunternehmen dem von ihm zu schaffenden Landessiedlungsamte
„Landausschüsse‘ beigibt, die aber nicht etwa eine Art autonomen Verbandes der
zur Grundstücksabgabe berufenen Grundbesitzer selbst darstellen, sondern ein ge-
mischt zusammengesetztes Verwaltungs- und Beratungsorgan. werden in Braun-
schweig in ähnlicher Art ,,Landausschiisse nur zur Beschaffung des nach $ 22 des
Siedlungsgesetzes den Arbeitern zu übertragenden Nutz- und Pachtlandes vorgesehen,
im übrigen aber überhaupt das Recht der Zwangsenteignung und Zwangspachtung
unmittelbar den Gemeinden, gemeinnützigen Anstalten, Stiftungen oder Vereini-
gungen ohne Mitwirkung eines kollegialen Organes übertragen. So finden wir also
gerade das charakteristische Institut des Reichssiedlungsgesetzes, welches die Boden-
beschaffung zu einer eigenen Angelegenheit der größeren Grundbesitzer je eines Be-
zirkes im Rahmen eines mit Enteignungsrecht gegenüber den Mitgliedern ausge-
statteten autonomen Verbandes machen will, bisher praktisch außer in Preußen
(siehe obiges Ausführungsgesetz) vorläufig nirgends verwirklicht.
Vollständig abweichenden Charakter trägt das neue „Sachsen-Meiningsche
Siedlungsgesetz“ vom 26. Juli 1919. Es nimmt in keinem Punkte auf das Reichs-
siedlungsgesetz, beziehungsweise die Landsiedlungsverordnung Bezug und macht
auch von dessen Institutionen keinen Gebrauch. Speziell die so wichtige Frage der
Landbeschaffung bleibt infolgedessen hier gänzlich ungelöst und nach der Methode
der älteren Siedlungsgesetze schafft es zunächst den allgemeinen rechtlichen Rahmen
einer staatlichen „Förderung“ des Siedlungswesens. Ausschließlich handelt es sich
hiebei um Kleinsiedlungen (Gartenbau bis zu 2 ha, Landwirtschaft bis zu 15 ha).
Die Durchführung kann vom Staate gemeinnützigen Siedlungsunternchmungen
übertragen werden. Die Kreditgewährung soll durch die Landeskreditanstalt (bis
höchstens 80% des Wertes) unter Bürgschaftsleistung öffentlicher Körper oder eines
Stedlungsunternehmens erfolgen. Des weiteren enthält das Gesetz die Grundzüge
eines „Heimstättenrechts“ in dem schon bekannten Sinn, endlich Bestimmungen
über Besitzfestigung und Entschuldung.
Schließlich ist noch das Kleinsiedlungsgesetz vom 18. Dezember 1919 in Sachsen-
Koburg zu erwähnen. Auch dieses stellt sich als eine vollkommen selbständige
einzelstaatliche Regelung des gesamten Siedlungsrechtes dar, wobei nur bezüglich
des den „gemeinnützigen Siedlungsunternehmungen‘“ einzuräumenden Enteignungs-
rechtes auf die Reichs- und Landesbestimmungen verwiesen wird, dagegen der den
Staaten im Reichsgesetze übertragenen Schaffung von Landlieferungsverbänden
keine Erwähnung geschieht. Das Gesetz enthält einerseits die gesamten materiellen
Bestimmungen über Begriff, Art, Ausgabe von Wohn- und Wirtschaftssiedlungen,
anderseits ein „„Heimstättenrecht‘‘ für diese, indem die Kleinsiedlungen hier speziell
rèt ` .
50 Finanuel Hugo Vogel.
in der Rechtsform der ,,Heimstitte’ gedacht werden (§ 12). Charakteristisch ist,
daB diese Heimstätten nur als Rentengüter begründet werden können. Mit der
ausführlichen Regelung des „Heimstättenreehts“ in diesem Gesetz geht hier die
einzelstaatliche Gesetzgebung der Reichsgesetzgebung voran {siehe das unten zu
erörternde „Reichsheimstöttereesetz“ als Rahmengesetz vom 10. Mai 1920), wie
überhaupt im Deutschen Reiche ein der Sache zewiß nicht fürderlicher Parallelismus
und Partikularismus von Landes- und Reichsgesetzgebung zu konstatieren ist, wobei
sich die erstere vielfach keinesfalls als Ausführung der letzteren darstellt oder auch
nur zum mindesten deren Grundlagen rezipieren würde. 5®)
Die durch das Reichssiedluneseesetz, die Kleingarten- und Pachtland-
verordaung begonnene rahbmeneesetzliche Regelung der Innenkolonisation
fand ihre Krönung und ihren vorläufeen Abschluß durch das Reichs-
heimstäitensesetz vom 10. Mat 1920. Hatte das Reichssiedlungseesetz
insbesondere den Zweck, die Weee zur Landbeschaffung, zur Erwerbung
von Bau- und Siedlunssland zu weisen, so ist Aufeabe des Reichsheim-
stätfengosetzes, die äußere Rechtsform der Hennstätte festzulegen.
Dagegen gibt letzteres keine Mittel an die Hand, ITeimstätten praktisch
zu schaffen, läbt also namentlich auch die Kreditfrage offen. 5°) Damit wurde
endlich eine Rechtsmaterie erschaffen, welche sehon in nicht weniger als
etwa zwölf Entwürfen die Öffentlichkeit beschäftigt hatte. Schon in den
neunziger Jahren wurde der erste Entwurf eines Ileinstättengeseizes Im
Deutschen Reichstave von dea Grafen Moltke und Dönhoff, ein weiterer
[894 von Riepenhausen eingebracht. Der Grundgedanke des nunmehrigen
Gesetzes wie der semerzeittoon Entwitrfe ist der, daß beweglicher und
unbeweelicher Besitz rechtlich verschieden behandelt werden müssen, da
„der römisch-reehtliche Gedanke, daß Kapital und Boden als gleiche
Faktoren zu betrachten seten, uneesunde Bodenverhaltnisse schaffe‘.
(Begründung zum ersien Entwurfe) So scle denn ein Sonderrecht für
gewissen quelifizicrten Jleimstättenbesitz geschaffen werden.
Das Gesetz?) unterscheidet Wohnheimstätten (leinfamimenhaus mit
Nutzearten) und Wirtschaftsheimstätten, als welch letztere landwirt-
56) Siehe don Abdrack des Gesetzes im Jahrbuch der Bodenreform, XVE Bd..
Heft 1. S. 35 4, l
53) Nach dem Motivenberichte der Regierungsvorlage beschränkt sich letztere
darant, „die nene Rechtsform der lieimstätten reehrlich auszugestalten. Maßnahmen
zur Bereitstellung von Mitteln an Land und Geld. um Heimstätten zu schaffen,
gehören nicht zu seiner Aufgabe”.
58) Siehe den Abdrnek des Gesetzes im Jahrbuch der Bodenreform, XVI. Bd..
Heft 2, S. I12 fs ebenda aneh den tutzuuesbertchi dbs Nationalversammlung S. 86 £.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete do tanenkotonisetion im Deutschen Reihe. 8T
cchafiliche mir värtnerisehe Anwesen angesehen werden, zu deren Bowirt-
schaftnne eine Karmile unter regelmaSigen Vernäiinissen keiner siändiven
fomden Arboitskräfte bedarf. Nähere Vorschrift n über die geringste und
die höchsie zulassies Größe der Lleimstitien zu erlassen. wird der obersten
Landestehörde verb hahen so de cigoathel der Ditt der Jleimstätte
in Reiensersetze pusr dureh die Fansetvönkune auf den Fanihenbedart
abzeerenzt bt. Die ol or. so Landeshbcohoid? kann aber ausnahmsweise auch
Grund-tücke als H imstätien anerkennen, dh sus einem Fandlienbaus obn?
Yırzearten bestoben. ja aueh bloß für niept eowerbemiiige eärtnerische
Nuizuny (wie Kleingärten, Laubenland) bs crime sind. Damit wurde
ellerdines über dnüblieben Begsifider Dleimrtätte weit hinausergnngen. >)
Die des Giundluch einzutrarende Tagensebaft els HHeimstötte kann sehen
vor Errichtung ger Wehn- und Wirschaftser! Zude bücheriich festwolesi
werden. Dies erleichtert cuch die intresting ven Hein- und Schreber-
gären, Vie es anderseits der Boden pr hulotion enter genwirken sell AU;
Heimstättenauseeber we den vn cas keleb, die Länder, Gemeinden und
Gemeindcverrände, feiner mit Cer hanteane der Landes: chörde sonstige
öffentliche Verbände und gememmaizive Unternekmunzen anerkannt. Be
der Vervebunge ven Tleimstätten so'n in erster Linie Krioesteillnehmer,
insbesondere Kriege osebädigte, Nricgerwitwen usd kinderreiche Familien
berückstehtiet werden. Aueh die Riockwanderune ven mit der Landwirt-
schaft vertrauten Arbeitern ven den Städten anfs Lend wird hiemit
gefördert werden können. Die besiiminnneen über Teunes- Veräuberungs-,
Verschuldunesbeschrinkineen sied Cie in Hoenmpstättene = zen Übhehen.
In allen diesen Tinstehten ist Zustinumune des Auceebers. eventuell die
/ustimmune einer Azbongetrogvbeböede (S23) erforderlich.) Interessant
= ATs Famebwnttschsftl ehe Vine cen n dusen Sinre sind aueh Mühlen. Böckerei-
enmehtücke nm. del, anzu. ben,
ey) Dor Hetimstätter könn die Zest org des Avevebors zur Tetlune veriarren,
weon die Teile selbständice Heimstätten werden (2 oo) Absatz 2). Diese Bestimmung
"tinsefern eingerwaßen merkwürdig, ak ja bestimmte Höchstzrenzen des Flächen-
mises einer Ifeinistätte vorgesehen sen wessen. sehin nieht durch Teilung hereits
hele Kotmpstätfen entstehen könven. yi mehr die Teile pur zur Bbectöndene never
Keimstätten nitverwendet werden könnten. Die Zustimmung des No. chers zur
Ahveräußerung einzelner Grundstücke oder Grundstücksteile kann der Heimstätter
verlangen. wenn sie seit den Rereln ordaunesmmäßiser Wirtschaft vereinbar ist und den
carsehafilichen Bestand der Possestitte nieht e fährdet. Die Vereinienng mit
Woteren Grandotichen. die biedureh leis!’ aeicensehaft verlangen, bederf eben-
lais der Zustiiniany des Auseebers,
88 Yınanue! Huge Vogel.
ist die Bestimmung, daß für die Belastung mit Hypotheken, Grund- und
Rentenschulden auf der Heimstätte eine Verschuldungsgrenze eingetragen
werden kann. Hypotheken und Grundschulden können hiebei nur in Form
von unkündbaren Tilgungsschulden eingetragen werden. Die Schuldauf-
nahme muß mit den Regeln einer ordentlichen Wirtschaft vereinbar sein
(insbesondere zur Deckung von Erwerbs-, Herstellungs- und Einrichtungs-
kosten, Meliorationen, Abfindun® von Miterben).
Der Heinistättenausgeber hat einerseits ein Vorkaufsrecht. ander-
seits einen Heimfallsanspruch auf die Heimstätte einschließlich der
Baulichkeiten und des dem Heimstätter gehörigen Zubehörs. Ersteres gilt
für alle auf Veräußerung gerichteten Verträge des Heimstätters, ebenso für
Zwangsversteigerung und ist nur ausgeschlossen, wenn es sich um Über-
tragungen an den Ehegatten, an Verwandte oder Verschwägerte (in der
Seitenlinie bis zum 3., beziehungsweise 2. Grade) handelt. Der Heimfalls-
anspruch aber wird wirksam, wenn der Himistättemuinber die Heimstätte
nicht dauernd selbst bewohnt oder bewirtschaftet oder grobe Mißwirtschaft
treibt. In beiden Fällen des Rückerwerbes hat der Ausgeber als Kaufpreis
nur den bei Errichtung der Heimstätte für den Boden festgesetzten Betrag
einschließlich des Wertes vorhandener Baulichkeiten und Verbesserungen,
dagegen unter Ausschluß späterer Wertsteigerungen, zu entrichten. 6t)
Im Erbfalle ıst eine Teilung der Heimstätte nur mit Zustimmung
des Ausgebers zulässig, wobei die Anordnungen des Erblassers, soweit
tunlich bei der Verteilung des Wertes der Heimstätte zu berücksichtigen
sind. Der Landesgesetzgebung ist es überlassen, ein Sondererbrecht für
Heimstätten zu erlassen und das Verfügungsrecht des Erblassers über die
Heimstätte zu beschränken. Die für jedes echte ,,Heimstattengesetz™
charakteristische Schuldexemtion ist in der Art vorgesehen, daß „die
Zwangsvollstreckung in eine Heimstätte wegen einer persönlichen Schuld
des Heimstätters unzulässig sein soll“. Ist eine Verschuldungsgrenze ein-
getragen, so gilt sie auch für die Eintragung von Sicherungshypotheken
61) Die Grundrente fällt daher dem Ausgeber zu. Der auf den Boden entfallende
Teil des Entgeltes mit Ausschluß der Gebäude oder sonstiger Investitionen ist schon
bei Begründung der Heimstätte gesondert festzustellen und im Grundbuche vor-
zumerken. Macht der Ausgeber von seinem Vorkaufsrechte oder Heimfallsanspruch
Gebrauch, so kann er selbst den Dritten bezeichnen, an den der Heimmstätter die Heim-
statte aufzulassen hat,
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiehe. S9
im Wege der Zwangsvollstreckung für eine bereits vor Erwerb der Heim-
stätte bestandene Schuld des Heimstätters. 62)
Die Eigenschaft als Heimstätte kann nur mit Zustimmung der obersten
Landesbehörde gelöscht werden. Ist die betreffende Heimstätte nicht
vom Reiche oder Lande, sondern von einer Gemeinde einem öffentlichen
Verband oder einem gemeinnützigen Unternehmen ausgegeben worden, so
kann hiebei die oberste Landesbehörde innerhalb dreier Monate die Über-
tragung der Heimstätte auf das Land oder einen von ihr bezeichneten
Dritten (Weitergabe der Heimstätte) verlangen.$?) Macht diese hievon
keinen Gebrauch, so fällt das Recht der Weitergabe an das Reich,
beziehungsweise den Reichsarbeitsminister.
Praktisch sehr wichtig ist, daß auch bei schon bestehenden Anwesen,
die den allgemeinen Voraussetzungen über Wohn- und Wirtschaftsheim-
stätten entsprechen, die Eigenschaft als Heimstätte über Antrag des
Eigentümers eingetragen werden kann. Die Eintragung ist aber nur in
Verbindung mit der Eintragung eines „Ausgebers‘' (wieder die oben bezeich-
neten juristischen Personen: Reich, Land, Gemeinde, öffentlicher Verband,
gemeinnütziges Siedlungsunternehmen) zulässig. Mit dem letzteren muß ein
Betrag vereinbart werden, der als der Wert des Bodens gilt. Beides wird
deshalb vorausgesetzt, weil hiemit über die in sonstigen Heimstätten-
gesetzen meist ausschließliche Wirkung einer Schuldexemtion hinaus alle
gesetzlichen Vorschriften und Rechtsbeschränkungen auf das zur „Heim-
stätte‘‘ erklärte Anwesen Anwendung finden. Interessant ist, daß auch auf
Erbbaurechte und Erbpachtrechte (Büdner-Häuslerrechte) die Eigenschaft
als „ Heimstatte“ eingetragen werden kann. Hiebei gilt der Eigentümer des
Grundstücks als Ausgeber der Heimstätte. Da letzterer aber eine im Sinne
des Heimstättengesetzes zur Ausgabe berechtigte juristische Person sein
muß, so kommt die Heimstättenbegründung nur hinsichtlich der von Reich,
Land, Gemeinde, gemeinnützige Unternehmen usf. bestellten Erbbau- und
s2) Für eine vor Erwerb der Heimstätte bereits bestandene persönliche Schuld
des Heimstätters kann bis zum Ablauf eines Jahres nach Erwerb die Zwangsvoll-
streckung durch Eintragung einer Sicherungshypothek beantragt werden. Wäre
die Forderung nach weiteren fünf Jahren noch nicht getilgt, so kann die Zwangs-
versteigerung beantragt werden.
63) Das gleiche Recht auf Anfall oder Weitergabe an einen Dritten hat das
Land, wenn ein anderer Ausgeber als das Reich oder ein Land eine auf Grund des
Vorkaufsrechtes oder Heimfallsanspruches erworbene Heimstätte nieht innerhalb
eines Jahres wieder ausgegeben hat,
1) Emanuel Hugo Vozel.
Erbpachtrechte, beziehungsweise an dem im Eigentum dieser Þefhullichen
Boden in Frage.
Eine einzige Bestimmung des Gesetzes hat auch die Landbeschaffung
für Heimstättenzwecke zum Gegenstande. Zur Beeriindune und zur Ver-
erößerung von Heimstätten können nämlich gemäb $ 28 Grundstücke nach
den für die Enteignung von Siedlungs!and im alleememen geltenden
Grundsätzen enteignet werden. Besenders wichtig für die praktische
Anwendung sind die Bestimmungen des Gesetzes über die Entschädigung.
„Eine durch Rückgang der Bautätiekeit, Änderung ven Bebauunesplänen,
Erschwerung oder Verteuerung der Verkehrsmittel oder ähnliche Umstände
verursachte Wertminderung ist zu berücksichtigen.” „Wertsteige-
rungen, die auf außerordentliche Verhältnisse des Krieges und der darauf
folgenden Zeit zurückzuführen sind, bleiben zußer Betracht. Nach den
AusschuBheratungen soll im Sinne des Artikels 153 der Verfassung und der
Vorschriften des Reichssiedlungsgesetzes grundsätzlich eine „angemessene”
éntschidigung gewährt werden. „Angemessen” bedeute aber, daß nicht
schlechthin der gegenwärtig geltende gemeine Wert ersetzt, sondern eine
billige Alfindung unter Berücksichtigung aller Umstände des Pailes wevährt
werden soll. (Erklärung der Regierung.) Dahin gehören die oben kezetek-
neten „.\Wertminderungen”. Schwieriekeiten verursacht nur die Free der
Wertsteieerungen, insbesondere der Geldwertänderune. Nach don Ane chul-
berichte soll auch diese Frage unter dem Gesichtspunkte der | Apuonressen-
heit” ! eurteilt werden. Daher erfordere dies eine entsprechende Berüek-
sichtigune der gesunkenen Kaufkraft des Geldes, anderseits sell dies aus-
schließen. „daß dem Enteieneten aus besonderen Währunessehwankuneen
/ufallsgewinne zufließen, wie überhaupt Preissteigerungen, welche mat dem
inneren dauernden Werte nichts zu tun hal en, außer Betracht zu lassen ind”.
Trotz der verbehaltlosen Diktien des Gesetzes beziielich der durch
„außerordentliche Verhältnisse der Kiievs- und Nachkrieeszeit hewirkten
Wertsteirerungen wäre also dech die Pretestcieerung des Di dens infolge der
Geldentwertung ber Bestimmung der Iintsehbädieungesstmmme angemessen”
zu berücksichtiven und kommt es nun ganz auf die individacile Beurteilune
des Falles durch die entscheidende Behörde an. Dies hindert weder Willkär.
noch sichert es irgendeine Einheitliehkeit und GleichmiBiekeit der Durch-
führung, zumal gerade in diesem Punkte die gegensätzlichen Auffzssuneen
unvermittelt aufeinanderstoßen. Während von der einen Seite die radikale,
„Sozlalere” Ausgestaltung des Entelgnungsrechtes unter Ausschaltung aller
Die Gesetzrebuner auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutsehen Reiche. OI
a =
Wertsterzerungen gefordert wird, verweist man von anderer Seite auf die
darin liegende Konfiskation von Vermögenswerten, wenn die Entschädigung
in minderwerticem Gelde nach Friedensverhältnissen entrichtet würde. In
dieser Hinsicht gibt das Gesetz keinen sicheren Halt und die zu $ 28 von
der Regierungsseite auf Grund des Ausschußbeschlusses abgegebene „Er-
klärung (wie oben) beweist nur, dab die Frage doch eigentlich offen bleibt. 64)
Der springende Punkt der gesamten neuen Siedlungsgesetzgebung
des Deutschen Reiches nach dem Kriege ist und bleibt die Landbeschaffune
für Heimstättenzwecke. In dieser Im. icht müßte auf die energisehe Durch-
führung des Reichssiedlungsgesetzes. insbesondere das erdnungsmaBige
Funktionieren der „Landlieferungsverbände" hingearbeitet werden, welche
in einem von Großbesitzuneen stärker durchsetzten Siedluneseebiete eine
außerordentlich zweekmäbßire Form der Landbeschaffung darstellen würden.
Das Heimstättengesetz sehafft in diesem Zusammenhange nur die rechtliche
Form der Siedlung, bildet eine Etappe auf dem Wege, während insbesondere
dem neugewählten Reichstave die Bekämpfung der Bodenspekulation, die
sziale Ausgestaltung des Knteienunesrechtes und die Erweiterung der
Kompetenzen des Reiches auf dem Gebiete der Siedlungsfrage ans Herz
elect wurde, #5) Keinem Zweifel kann es begegnen, daß aber auch schon
anf Grund der Fisher geschaffenen Gesetzgebung, wenn sie Insbesondere
von Ländern und Gemeinden verständnisvoll und kräftig durchgeführt
würde, die Innenbesiedlung in Deutschland mächtigen Aufschwung nehmen
könnte. Der gefährliche Kernpunkt der Preisfrage müßte hiebei in einer
der Rechtssicherheit und dem gerade im Heimstättenwesen selber natur-
notwendig begründeten Schutzkedärfnisse des Individualeigentums am
Beden entsprechenden Weise geregelt werden. Unentbehrlieh bleibt aber
hiefür insbesondere eine cut funktionierende Organisation der Heimstätten-
hehörden, namentlich die Schaffune einer von den übrigen Ressorts mörlichst
inahhäneisen Zentralstelle für das Heimstättenwesen, ferner entsprechend
zusammengesetzte Siedlungsausschiisse eder Ansiedluneskommissionen. 86)
64) In den Beratungen wurde die Fassung des $2S als ein Kompromiß der verschie-
denen Parteien bezeichnet, welches eine verhältnismäßig billige Beschaffung von Land
ermectiche, wenn die Bezirkswohnungskommissäre und die Gemeinden ihre Aufgabe
erkennen.
65) In dieser Hinsicht ist allerdings bis nun noch nichts geschehen.
s) Wie der Reichsarbeitsminister in der Debatte hervorhob, könnte als letzte
Kontrollinstanz der beim Reiehsarbeitsministerium bestellte Siedlungsausschuß
(Vorsitzender Prof. Sering) für die Heimstättenaktion fungieren.
92 Emanuel Hugo Vogel.
Anhang.
Sonstige Auslandstaaten.*)
Dic Kolonisationstatigkeit in den übrigen Staaten ist zum Teile von wesentlich
andersartigen Gesichtspunkten getragen als in Deutschland und im Gebiete des ehe-
maligen Österreich-Ungarn. Dies erklärt sich schon aus den ganz verschiedenen
natürlichen, völkischen und wirtschaftlichen Verhältnissen dieser Staaten, zumal
gerade die Siedlungsgesetzgebung aufs innigste mit dem Volkscharakter. mit der
gegebenen Besitzverteilung, dem Agrarrecht eines, bestimmten Gebietes zusammen-
hängt. Wenn sich daher auch für die österreichische Innensiedlung aus den Agrar-
verhältnissen abweichend organisierter Wirtschaftskörper keine unmittelbaren Ver-
gleichsgrundlagen schöpfen lassen, so bieten doch die Erscheinungen der Innen-
siedlung und Heimstättenbewegung außerhalb des mitteleuropäischen deutschen
Wirtschaftsgebietes einen wertvollen und unentbehrlichen Studienbehelf, weshalb
eine allerdings ganz knapp gehaltene und überwiegend auf Zustände und Verhält-
nisse bis vor Ausbruch des Weltkrieges beschränkte Übersicht mit Literaturangaben
als Ergänzung und Abschluß unserer Untersuchung angeführt werden möge.
In England geht das Kolonisationsproblem im Wesen von der Landarbeiter-
frage aus, indem infolge des außerordentlichen Bedarfes der Industrie und des Handels
an Arbeitskräften. der niedrigen Löhne in den landwirtschaftlichen Betrieben seit
alters im großen Stile eine Abwanderung der Landarbeiter in die Städte sich vollzog.
In zwei Formen sollte dem durch Ansiedlung der Landarbeiter entgegengewirkt
werden: durch die „allotments“ und durch die .small holdings".
Erstere sind pachtweise dem Arbeiter zur Bewirtschaftung überlassene Parzellen,
die ihm neben dem Lohne einen ergänzenden und an die Landwirtschaft fesselnden
Erwerb bieten sollen, letztere sind für den selbständigen Erwerb ausreichende land-
wirtschaftliche Betriebe, zu welchen auch der Arbeiter, wenn er durch Fleiß über
die nötigen Ersparnisse verfügt, auf Grund eines allotment aufsteigen kann.)
Die Allotmentsgesetzgebung ist alt und geht bis auf den Anfang des 19. Jahr-
hunderts zurück, jenes Gesetz aber, das die Grundlagen des heutigen Rechtszustandes
liefert, stammt aus dem Jahre 1887. Wir finden hier den auch der nordamerikanischen
Gesetzgebung eigentümlichen Gedanken des „Heimstättenrechtes", der wesent-
lich verschieden ist von der in Deutschland nnd Österreich-Ungarn in Frage stehenden
*) Uber die Siedlungsgesetzgebung in Österreich und den übrigen Nach-
folgestaaten der ehemaligen Monarchie siehe die in Bd. 48, Heft 2, des Archiv für
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erscheinende obenzitierte Abhandlung des
Verfassers.
67) Siehe hier wie zum folgenden insbesondere die vorzügliche knappe Darstellung
Karl Ruzicka in der Abhandlung „allotments und small holdings in England“,
deitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung 1910, Bd. XIX, S. 137 í
t
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 95
Innenkolonisation. Denn während letztere grundsätzlich (von der eigentlich nicht
zu ihrem Begriff gehörigen ‚„Besitzfestigung‘” abgesehen) auf eine Neusiedlung. das
heißt die Schaffung neuer Wirtschaftseinheiten eventuell durch Aufteilung größerer
hiefür geeigneter Gutsflachen gerichtet ist und dem Ansiedlungswerber keinen Rechts-
anspruch auf Erlangung einer Heimstätte, sondern bloß bei Erfüllung der gesetz-
lichen Voraussetzungen die Möglichkeit einer Anwartschaft, beziehungsweise Be-
werbung gibt, geht das ‚„lHeimstättenrecht‘‘ von dem Gedanken aus, daB jedermann
oder doch dem landwirtschaftlich berufstätigen. insbesondere dem besitzlosen Arbeiter,
en Recht auf ein Stück Land und die Begründung einer Heimstätte von Gesetzes
wegen zuzusprechen ist. Die englische Gesetzgebung allerdings hat dieses Heim-
stättenrecht nur in einem beschränkten Umfang anerkannt, nämlich sie gibt dem
Arbeiter (Land- oder Fabriksarbeiter) nur das Recht auf ein kleines Pachtgrund-
stück, nicht auf Eigenbesitz. In dem Allotmentsgesetze vom Jahre 1857 (Nach-
tragsgesetze von 1890, 1844. 1907) wird dem Arbeiter (labouring population") das
Recht zugesprochen, in dem Land- oder Stadtbezirk, in dem er wohnt. von der Ge-
meinde ein allotment, das heißt ein Pachtland in der Größe bis zu 1 acre (0-4 ha)
zu verlangen und diese verpflichtet, es ihm nötigenfalls unter Anwendung des ihr
zu diesem Zwecke eingeräumten Rechtes durch zwangsweise Pachtung oder Ent-
eienung des erforderlichen Grundbesitzes zu verschaffen. Die Errichtung der allot-
ments ist Sache der lokalen Giemeindebehörden, eventuell des Girafschaftsrates,
wenn erstere ihre Pflicht nicht erfüllen sollten. In oberster Instanz hat der board
of agriculture die Ausführung des Gesetzes zu überwachen.®*) Die Beschaffung des
Bodens soll zunächst im Were des Kaufes oder der Pachtung geeigneten Landes
geschehen: wenn es nicht zu einem angemessenen Preise zu beschaffen ist, kann es
zwangsweise anf eine Dauer von 14 bis 35 Jahren gepachtet oder überhaupt für
Sirdlungszwecke enteignet werden. Das von der Giemeindebehörde erworbene Land
wird dann an die Allotmentswerber parzellenweise in Pacht gegeben. Da die
allotments nur eine Ergänzung des sonstigen Haupterwerbes bilden sollen. darf auch
kein Arbeiter solche in einem Ausmaße von mehr als 5 acres besitzen. Die Gemeinde-
behörde hat das Recht einseitiger Aufhebung des Vertrages, wenn der Arbeiter die
Pachtrente nicht entrichtet oder seinen Wohnsitz mehr als eine Meile weit von dem
betreffenden Bezirke verlegt.
Ein eigentliches „Heimstättenrecht‘‘ im früher erörterten Sinne finden wir
erst in einem späteren englischen Gesetze, dem small holdings-Gesetze von 1907
verwirklicht: durch dieses soll jeder Staatsbürger (also nicht nur der Arbeiter) das
Recht erhalten. Land im Ausmaße von 1 bis 50 acres von dem Grafschaftsrate (county
councils) zu verlangen, welcher wieder zur Ausführung dessen eventuell auch im
Wege zwangsweiser Pachtung oder Enteignung vorgehen kann. Damit soll also
s) Die Gemeindevertretung muß das Gesetz in Anwendung bringen, wenn
mindestens sechs Personen, die als Parlamentswähler registriert sind oder Gemeinde-
steuer zahlen, darum ansuchen. Außerdem hat aber die Gemeindevertretung im
Falle einer Nachfrage nach allotments auch selbst ohne Ansuchen das Nötige zu
veranlassen, ebenso wie der Grafschaftsrat und der board of agrikulture aus eigener
Initiative zur Errichtung von allotments schreiten künnen.
94 Emanuel Hugo Vogel.
direkt in die bestehende Besitzverteilung cingegriffen und ein Stand von kleinen
Girundbesitzern geschaffen werden. Dieses Gesetz gestattet sowohl die Begrindurg
von Pacht- als von Eigenbetrieben, während das vorangegargene small-holdings-
Gesetz von 1892 nur die Schaffung kleiner Eigenbetriebe, und zwar nach einer Aıt
von Rentengutssvstem im Auge hatte. In beiden Gesetzen aber handelt es sich um
die Schaffung selbständiger Bauernwirtschaften als Hauptbetriebe, nicht bloß um
Nebenbetriebe für Arbeiter. Die Ausführung des Gesetzes obliegt dem Grafschatts-
rate in Verbindung mit einer hiefür eingesetzten Ansiedlungskommission. In der
Regel hat die Überlassung zu Eigentum gegen Rente, nur wenn der sich bietende
Grund zu hochwertig ist (zum Beispiel weil er in absehbarer Zeit als Baugrund u. dgl.
verwendbar ist) oder wenn der Erwerber nicht kaufkräftig genug ist, auf Zeitpacht
zu erfolgen. Im Falle der Überlassung zu Eigentum ist 20°, des Kaufpreises bar an-
zuzahlen. bis zu weiteren 25°, kann in der Form einer ablésbaren Dauerrente. der
Rest in Form einer Tilgungshypothek oder Tilgungsrente bis zur Dauer von 50 Jahren
auferlegt werden.#®) Die erforderlichen Gelder für die small-holdings-Griindung
werden vom Grafschaftsrate durch Anleihen, ?") sowie Steuerzuschläge aufgebracht,
außerdem wurde ein „small holdings account‘, also eine Art „Heimstättenzentral-
fonds“ bei der Bank von England aus Staatsmitteln gegründet. Interessant ist, dab
das neue Gesetz von 1907 auch gemeinnützige Landgenossenschaften (,,cooperative
small holdings associations’) in den Dienst der Sache stellt, welche direkt von den
Grundbesitzern oder auch vom Grafschaftsrate Land pachten, um es an ihre Mit-
glieder in Subpacht zugeben, zugleich auch als Rohstoff-, Absatz- oder Kredit-
genossenschaften zur Förderung des Wirtschaftsbetriebes ihrer Mitglieder
fungieren. ?!)
Die Ergebnisse des small holdings-Gesetzes von 1592 waren geringe: bis Ende
1907 wurden nur 244 small-holdings auf S8114 acres errichtet, und zwar 9 als Eigen-
besitz, 185 als Pachtstellen. Im Unterschiede hievon hat das Gesetz von 1907 grobe
Erfolge aufzuweisen. Überwiegend waren die Gesuche auf pachtweise Ver-
gebung. nicht auf Eigenerwerb gerichtet. Bis Ende 1912 waren von den Gratsschaften
104.533 acres gekauft und 50.444 gepachtet worden. Hievon wurden 124.709 acres
an 8950 Einzelpersonen verpachtet und nur 212 acres an 20 Einzelpersonen verkauft.
49 Pachtgenossenschaften haben 6004 acres an 967 Mitglieder weiter verpachtet.**)
Die Gesamtzahl der bis Ende 1912 auf Grund dieses Gesetzes angesiedelten Bewerher
wird auf 15.176 geschätzt. Die durchschnittliche Größe eines small-holdings ist
69) Mit diesem Rentengute sind ebenfalls Verfürungsbeschränkungen hinsichtlich
Teilung, Veräußerung oder Weiterverpachtung verbunden.
70) Nach dem Gesetze von 1892 werden den Grafschaftsräten hiefür staatliche
Darlehen gegen niedrige Verzinsung zur Verfügung gestellt.
7t) In diesen Fällen tritt dann der Grafschaftsrat nur mit der Pachtgenossenschaft
in Verbindung. die ihm die Pachtrente zahlt, während die Genossenschaft alle weiteren
Arbeiten der Landausgabe besorgt.
72) Außerdem hatten 2984 Bewerber über 37.000 acres direkt von den Eigen-
tümern unter Mitwirkung der councils erhalten.
Die Gesetzgebung anf dem Gehicie d. Imnenkolmisation in Deutschen Reiche. 99
13 bis 14 acres, ein großer Teil ders Iben ist nur eine Erweiterung bestehender Betriebe. 5)
Wie wir ersehen, iperwiegt in der englischen lineakolonisation das Pacht-
verhältnis entsprechend den althergebrachten eigentümlichen Besitzverhaltnissen
Englands, wodurch allerdings auch ein häufiger Wechsel der Anstedler zum Nachteile
der Wirtschaft eintritt.
Die Innenkolanisation in Irland hängt enge mit den dortiren Besitz-
verhaltnissen (wottzehender Latfuraienbesitz. ger bauernstand ganz überwiegend
pur in Kurztristigem kündbaren Pachtverhaltnis) zusammen und bezweckt vor allem
eine Verbesserung der Lave der Landpächter und die Überführung ihres Pachtver-
kältnisses in Grunde,zentum. Die Landbill vom 22. August 1581 gibt die Möglichkeit
den Pachtzins durch riehterliche Entscheidung festzusetzen. sichert den Bestand des
Pachtrechtes auf mindestens 15 Jahre und läßt seinen jederzeitigen Verkauf zu
(free sale, Nity of tenure, fair rente). Aber erst spätere Gesetze leiteten eine eründ-
Iichere Agrarretorm ein. welche die Bildung eines freien Bauernstandes auf eigener
Scholle bezweekte. Das Hauptmittel war die Überführung des Pachtverhältnisses
in Eigentum, wozu Darlehen aus Staatsgeldern zur Bezahlung des Kaufschillings
an die Landlords gewährt wurden. Letztere Aktion wurde durch die Purchase of
Land Acte von 1585 (lex Ashbourne), 1591 und 1896 in umfangreicher Weise durch-
geführt. Der eingeräumte Staatskredit wurde bis auf 860 Millionen Mark erhöht.
Bis 1902 waren im ganzen etwa SU4.000 ha für mehr als 400 Millionen Mark in Eigen-
tum umgewandelt. Zur Abfindung der Eigentümer wurden 2*,°, Rentenbriefe
ausgegeben, seit 1903 (Irish Land Act Wyndham mit späteren Gesetzen von 1906
und 1909) wurde der Staat mit Rücksicht auf den Kursrückgang der letzteren zur
Barauszahlung der Abfindung ermächtigt. Im großen und ganzen kommt es auf
die Ansatzung zu Eigentum gegen eine Tilgungsrente (Zinsen 24,°,, Tilgungsquote
lo db 68%, Jahren, hinaus. Bis 31. März 1912 wurden auf diesem Wege 9678 Güter
me enem Flächeninhalt von 7.305.727 ha erworben. Insgesamt hat der Staat in
irand zum Landerwerb rund 252.000 Darlehen mit einem Aufwande von 76 Millionen
Piend Lewilligt.°% Durch diese Aktionen hat sich die Zahl der Grundeigentümer
von 22°, auf 641°, erhöht, jene der Pächter aber von TOS auf 35-9, vermindert.
Die Arbeiteransiedlung wurde in Irland mit einem Gesetze von 1853 eingeleitet.
Ks wurden den Arbeitern allotments bis zu 1 acre nebst Rleinwohnungshaus nach
Analogie der älteren englischen Gesetze übertragen. In ganz Irland waren 1912
54.241 Arbeiterwohnsiedlungen erriehtet. >)
Eine besondere Ausbildung, aber auch charakteristische Eigentümlichkeiten
weist das , Heimstättenrecht” der Vereinigten Staaten in den „homestead laws”
13) Die Daten sind teils dem Anfsatze Ruzicka (siehe oben). teils Buchen-
berger. 1. Bd., 2. Aufl. 1904, S. 452, entnommen.
+4) Buchenberger. 1. BL, 2. Aufl, 1914. S. 451 bis 452.
33) Für die sogenannten „überwölkerten Distrikte” wie insbesondere Connaught
mit ihren fast ausschließlichen Parzellenbetrieben wurde eine besondere Aktion mit
den Gesetzen von 1891, 1909 u. f. behufs Regulierung, Zusammenlegung und
Neubesiedlung auf Grund des Enteignungs- und Zwangspachtrechtes des ,,congested
district board" eingeleitet.
96 Emanuel Hugo Vogel.
auf.76) Diese nehmen ihren Ausgang von der Schuldexemtion, das ist dem Ge-
danken, daß das Haus und das zugehörige Land vor Zwangsverkauf zur Bezahlung
von Schulden geschützt sein soll, um dem Besitzer und seiner Familie als dauernde
Heimstätte erhalten zu bleiben. Im einzelnen sind diese „obligatorischen Heim-
stättenrechte‘ in den Gesetzen der Einzelstaaten in verschiedenem Umfange aus-
gebildet.?”) In 15 Staaten ist die Heimstättenexemtion ein Teil der Verfassung, in
13 anderen Staaten ist darüber in besonderen (resetzen vorgesorgt, nur in fünf von
den 33 Staaten bestanden bis in die Wer Jahre keine Heimstättengesetze. Diese
Schuldexemtion wird wie insbesondere Staffort 1882 berichtete,*8) als ein wichtiger
Akt des Staatsinteresses betrachtet. welcher „die Erhaltung der Heimstätte vor Ent-
äußerung durch Unvorsicht oder Unglück des Familienhauptes‘“ sichern soll. Wie er
aber selbst zugibt, wurde durch allzuweite richterliche Auslegung fast dasgesamte Eigen-
tum des Schuldners der Haftung für seine Schulden entzogen, was sowohl die
Kreditfahigkeit beeinträchtigte als betrügerische Manipulationen ermöglichte.
Außerdem besteht in den Veremigten Staaten noch eine zweite Kategorie von
Heimstättengesetzen, die völlig anderen Charakter besitzt. Es sind dies nicht einzel-
staatliche Gesetze, sondern solche der Union, also des Gesamtstaates, und sie haben
nicht Schuldexemtion, sondern die Zusicherung eines begünstigten und rechtlich
geschützten Heimstätten komplexes für den Fall der Neubesiedlung zum Gegen-
stande. Diese Gesetzgebung steht im Dienste der gewaltigen Innenkolonisation des
vordem unkultivierten Westens vorzugsweise durch Einwanderer. Das lleimstätten-
gesetz vom 20. Mai 1886 sichert den Ansiedlern auf öffentlichen Ländereien zunächst
einmal die bis auf gewisse Giebührensätze fast unentgeltliche Überlassung einer Fläche
noch unbebauten Landes zu: darnach kann jeder über 21 Jahre alte Staatsbürger
oder um die Staatsbürgerschaft gleichzeitig ansuchende Einwanderer 160 acres Staats-
76) Über die amerikanischen Heimstittenrechte siehe insbesondere Buchenberger
2. Bd.. 1893, N. 241 bis 264; ferner die im Jahrbuch der Bodenreform, XI, 1915. N. 182 f.
mitgeteilten Gesetze der Republik Texas vom 1839 und des Staates Vermont von 1552.
77) Das älteste dieser Gesetze ist jenes von Texas aus dem Jahre 1539: es wird
jedem Bürger und Familienoherhaupt Freiheit vor allen Eingriffen auf Grund ge-
richtlicher Exekutionen für einen Grundkomplex von 350 acres oder ein städtisches
Grundstück einschließlich der darauf befindlichen Gebäude bis zu einem Gesamt-
werte von 500 Dollars und eines gewissen Wirtschaftsinventars zugesichert. Aus-
genommen von der Exemtion bleiben aber Schulden. die vor Erwerbung der Heim-
stätte oder zum Zwecke ihrer Erwerbung, zu Meliorationen, Anschaffung von Betriel:s-
inventar aufgenommen wurden, mitunter aueh nach Erwerb der Tleimstätte auf-
genommene Schulden, sofern sie in Form einer Ilypothek eingetiagen wurden. In
letzterem Falle beschränkt sich also der Schutz eigentlich nur auf Schulden des
Personalkredits. erschwert denselben aber auch entsprechend. ja führt dahin, daß
von den Gliubigern messt nicht nur ein höherer Zinsfuß, sondern auch anderweitige
reale Sicherstellung verlangt wird.
78) Siehe den Bericht des Oberbibliothekars des Kongresses Washington,
Staffort, 1882, abgedruckt in Übersetzung im Jahrbuch der Bodenreform 1916,
XI. Band, S. 186 f.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 94
x
land (zu 1-25 Dollar per acre im Schätzwerte). oder 80 acres (zu 2-50 Dollar per acre)
in Besitz nehmen gegen Entrichtung einer Gebühr von 5 bis 10 Dollar für die Kesten
der Besitzüberweisung.?®?) Nach fünfjähriger Bewirtschaftung erhält der Ansiedler
ein seinen Besitztitel ausweisendes Patent. Zugleich wird die Schuldexemtien der
unter den Bestimmungen des Heimstättengesetzes erworbenen Ländereien hinsichtlich
jener Schulden ausgesprochen, welche der Ansiedler vor der Ansfelgung seines Heim-
stittenpatentes kontrahiert hat.
Ganz ähnlichen Charakter hat ein im Jahre 1917 erschienenes „Heimstätten-
gesetz" der Argentinischen Republik. Auch hier handelt es sich um eine Siedlungs-
aktion großen Stiles. Es wird dem Ansiedler aus den für die Heimstättengründung
bestimmten Landteilen ein Komplex von 20 bis 200 ha geschenk weise überwiesen, der
sein vererbliches Eigentum wird und weder verpfandet, noch verkauft, noch abgetreten
werden kann auber mit Zustimmung der Behörde an eine andere Ansiedlerfamilie. Als
Ansiedler kann sich jeder Bürger und Familienvater, wie auch jeder Ausländer (auch
Madchen oder Witwen über 22 Jahre). die unbescholten und nech richt im Besitze
eines staatlichen Landanteiles sind, bewerben. In jeder Siedlung wird eine Fläche als
gemeinsame NDorfallmende, eine andere, beziehungsweise deren Ertrag als Schulfond
ausgeschieden. Jede Siedlung erhält ihre Schule und Verwaltungsbehérde. Ebenso
wird für Regulierung der Flußläufe, ferner für eine Beihilfe im Wege der Nationalbank
zur Beschaffung von Tieren, Geräten, Saatgut u. dgl. von Staats wegen gesorgt. Die
Jahreserträge der Siedlung können nur bis zur Hälfte für eingegangene Schulden
gepfändet oder zu ihrer Tilgung verwendet werden. Außer diesen Fällen der Neu-
besiedlung können auch die Eigentümer von schuldfreien Land- oder Stadtgrund-
stücken ihren Besitz oder einen Teil desselben vor dem Gerichte als „Heimstätte“
erklären (bis zu einem Werte von 10.000 Papierpeso), sohin dem Heinistättenrechte
unterwerfen.®°)
Gerade das letztbesprochene amerikanische Heimstättenrecht ist ein Beweis
dafür, daß jede Verfügungs- und Verkehrsbeschränkung, sowie „‚Rechtssicherung‘
der landwirtschaftlichen Güter auf Kosten ihrer Kreditfahigkeit überhaupt nur dort
Erfolg zeitigen kann, ja wirfschaftspolitisch berechtigt ist, wo zugleich eine kraft-
volle Innenkolonisation der durch diesen Abschluß des bestehenden Besitzes ins-
besondere zum Beispiel durch das Anerbenrecht. geradezu zur Abwanderung in die
Stadt gedrängten nachwachsenden Generation Gelegenheit zur Ansiedlung, zur
Gründung neuer „„Heimstätten‘ gibt und wo des weiteren eine entsprechende Organi-
sation des ländlichen Kredits, insbesondere des Personalkredits, die Schäden, welche
seine Einschränkung infolge des Heimstättencharakters mit sich bringt, ausgleicht.
Auf Grund des Zivilgesetzbuches vom 10. Dezember 1907 besitzt nun auch die
Schweiz ein Heimstättenrecht (Artikel 349--35%). Die Kantone sind danach
39) Siehe näheres in Jahrbuch der Bodenreform von Damaschke, XIV. Jahrg.,
Heft 1, S. 32 f.
8) Keiner Einzelperson ist gestattet, auf Grund des Heimstättengesetzes mehr
als 160 acres zu erwerben, doch kann durch privaten Zukauf beliebig Land hinzu-
erworben werden.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band.
95 Emannel Hugo Vogel
befugt, die Begründung von ‚„Familienheimstätten“ (landwirtschaftliches oder einem
Gewerbe dienendes Gut oder ein Wohnhaus samt Zubehör) zu gestatten. Die Er-
klärung zur lleimstätte unter Eintragung ins Grundbuch kann nur mit Zustimmung
der vorhandenen Gläubiger erfolgen. Auf eine solche Heimstätte dürfen vom Zeit-
punkte der Eintragung an „keine neuen Grundpfänder gelegt werden, der Eigen-
tümer darf sie weder veräußern noch vermieten, verpachten, eine Zwangsvollstreckung
ist ausgeschlossen, wohl aber kann im Falle der Zahlungsunfähigkeit ein Zwangs-
verwalter im Interesse der Gläubiger bestellt werden. Der Eigentümer kann um
die Aufhebung, beziehungsweise Löschung des Heimstättencharakters ansuchen.
Ein Anerbenrecht wird nicht vorgesehen, stirbt der Eigentümer und ist nicht durch
Testament die Besitznachfolge geregelt, so wird die Eintragung in das Grundbuch
gelöscht.#!)
Heimstättenrechtsbestimmungen besitzt außerdem auch noch Rumänien,
welche jedoch nur gegen die Verschuldung des Grundbesitzes ankämpfen sollen.
Nach Artikel VII des Agrargesetzes vom 14. 26. August 1564 dürfen weder der Be-
sitzer noch seine Erben innerhalb 30 Jahren eine Hypothek auf den ihnen zu Eigen-
tum überwiesenen Boden aufnehmen und ihren Besitz nur an die Gemeinde oder
einen anderen Dorfbewohner veräußern.**)
In Serbien wurde durch ein Gesetz vom 24. Dezember 1873 (siehe den Abdruck
desselben im Jahrbuch der Bodenreform 1915 XL, S. 149) im wesentlichen die Be-
freiung von der Zwangsvollstreckung für einen Besitz von 5 Morgen Landes (der
Morgen = 1600 m), ebenso für das Wohnhaus mit Nebengebäuden und einen Platz
bis zu einem Morgen Ackerland ausgesprochen. Dieser Besitz darf nicht veräußert
und nur im Notfalle bei öffentlichen Kassen und stets mit Ausnahme von zwei Morgen
Grund und des Hauses verpfandet werden.
Im Unterschiede von der ,,Heimstittenrechtsbildung in den Vereinigten
Staaten und der Schweiz ist in den skandinavischen Staaten eine kräftige Besied-
lungstätigkeit, also Innenkolonisation im eigentlichen Sinne des Wortes, zu ver-
zeichnen.®5) Sie ist hier entsprechend den Grundbesitzverhälnissen im wesentlichen
Ileinsiedlung, das heißt SeBhaftmachung von Land- und Industriearbeitern, da
dic Leutenot bei der dünnen Besiedlung dieser Länder ganz besonders empfindlich
ist. Die in den skandinavischen Ländern angewendete Methode ist jene der Kredit-
gewährung, sei es in Form direkter Staatsdarlehen (Dänemark), sei es durch Ver-
mittlung provinzialer Landwirtschaftsgesellschaften oder staatlich anerkannter Sied-
lunesgesellschaften. Mit größter Energie und auch mit verhältnismäßig hohen staat-
lichen Mitteln hat vor allem Dänemark eine umfangreiche Ansiedlungsaktion durch-
geführt, die als vollständig gelungen bezeichnet werden muß. Es handelt sich über-
wiegend um die Ansiedlung von Landarbeitern, und zwar grundsätzlich nur zu Figen-
tum. nieht zu Pacht. Hiefür wurde durch das Gesetz vom 24. März 1599 aus Staats-
et) Siehe den Abdruck der bezüglichen Bestimmungen im Jahrbuch der Boden-
reform, AJ. 1915, 8. 148.
8:) Siehe Buchenberger, 1. Bd., 1893, S. 263.
83) Siehe insbesondere Dr. J. Frost, Die innere Kolonisation in den skandi-
navischen Ländern, 1914 Berlin, Parey.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 99
mitteln ein jährlicher Betrag von 2 Millionen Kronen bereitgestellt und diese Summe
dann durch Gesetze von 1904 und J969 auf yahrlich 4 Millionen Kronen erhöht.
Die Ansiedlung der ,,Staatshausler™ oder „husmänd" erfolgt dureh Kommissionen,
die in den einzelnen Kreisen unter Mitwirkung der Gemeinden amtieren. Die Häusler-
stellen. welehe aber im Laufe der Zeit nach ihrer durchsehnittlichen Größe (4-22 ha)
den Charakter von Kleinbauernsiedlunzen arnahmen. werden vom Staate bis zu
neun Zehntel des Wertes zu niedrigem ZinsfuB belehnt. Diese hypothekarisch sicher-
zustellenden Staatsdarlehen sind erst nach fünf Jahren ameortisationspflichtig. Wie
wir sehen, erfolgt hier also die Kolonisation unmittelbar durch den Staat und auch
bezüglich des zu erteilenden Kredites aus Staatsmitteln.94) Bis Ende 1913 hat Dänemark
auf diese Art 6745 Häuslerstellen errichtet und 31-3 Millionen Kronen Gesamtdarlehen
gewährt, eine Ziffer, die im Verhältnis zur Größe und Bevölkerungszahl dieses Staates
gewiß außerordentlich beachtenswert ist. Außerdem erfolgt noch eine Heidenkoloni-
sation. Die Kleinsiedlung ist in Dänemark deshalb so erfolgreich, da hiefür be-
sonders günstige Vorbedingungen gegeben sind.*9)
Durch ein neueres Gesetz vom 24. Juni 1914 wurde die im Gesetze von 1909
festgestellte Höchstgrenze für die einzelnen Darlehen von 6600 auf GCO K (Zinsfuß
4 statt 3°,,) erhöht, gleichzeitig auch der alljährlich im Budget einzustellende Betrag
für Kolonisationszwecke von 4 Millionen Kronen auf 5 Millionen Kıonen abgeändert.
In Norwegen wurde das erste Ansiedlungseesetz 1903 geschaffen und eine
Kolonisationsbank ins Leben gerufen. welche Darlehen zum Erwerke der Wirtschaften
und zur Bauführung bis zu neun Zehntel des Gutswertes erteilt. Im ganzen wurden
von 1903 bis 1913 13.140 Stellen geschaffen und dafür 31-8 Millionen Kronen als
Darlehen ausgegeben. In Schweden erhält die ;,Egna-llem”-Bewegung in dem
Gesetze vom 17. Juni 1904 eine positive Grundlage, die Grundbesitzverhältnisse
sind hier von vorneherein günstige, es gibt keine Latifundienwirtschaften oder extensiv
bewirtschaftete Rittergüter, sondern eine ausgebreitete bäiferliche Landwirtschaft
bei allerdings sehr verschiedener Dichte der Besiedlung in den einzelnen Landesteilen.
Der Staat stellte zunächst für die Zeit von 1905 bis 1909 10 Millionen Kronen zum
Zwecke billiger Darlehen zur Verfügung, welche durch die 26 Landwirtschaftsgesell-
schaften Schwedens ausgegeben werden. In erster Linie handelt es sich wieder um
die Ansiedlung von Land- und Indnstriearbeitern, doch wurden in der späteren Zeit
in immer zunehmendem Maße kleine Bauernwirtschaften gegründet. Die mehrfach
geänderten Darlehensgrenzen wurden zuletzt durch Gesetz vom 13. Juni 1908 für
Stellen mit Grundbesitz auf 6000 A (1910 mit 7600, 1912 mit S000 A) festgesetzt.
die Beleihung kann bis zu fünf Sechstel des Wertes erfolgen. Zugleich wurden für die
Zeit von 1909 bis 1913 weitere 5 Millionen Kronen jährlich zu Ansiedlungszwecken
8%, Ein eigentliches Anerbenrecht besteht nicht, wohl aber kann der Eigentümer
dem Erben, welchem er den Hof vermachen will, einen größeren Erbteil zuschreiben als
den übrigen Erben. Im übrigen sind die Verfügungsbeschränkungen in Dänemark
nicht strenge, jede zu weit gehende Bindung der husmänd wird vermieden.
65) Siehe näheres in dem Aufsatze J. Frost, Die Vertragsform zwischen der
dänischen Regierung und ihren husmänd, Archiv für innere Kolonisation 1914, VI.,
S. 3271.
100 Emanuel Huge Vogel.
bereitgestellt. Die Zahl der geschaffenen Ansiedlerstellen belief sich von 1905 bis 1911
auf 7691 Stellen mit einem Darlehenskapitale von 32-6 Millionen Kronen, davon
5313 oder zwei Drittel solche mit Grundbesitz (landwirtschaftliche Stellen).8®)
Die Erfahrungen, welche mit den angesiedelten Landarbeitern in Skandinavien
gemacht wurden, waren allerdings nicht durchwegs günstige. Vielfach gaben sie
ihren früheren Stand auf, wurden entweder selbständige Kleinbauern oder suchten
sich Nebenverdienst in der Stadt, in Fabriken oder auf dem Meere, weshalb jene
Landarbeitersiedlungen am besten gediehen, die in der Nähe des Meeres errichtet
wurden.
Von den romanischen Ländern unterstützte seit 1908 Frankreich den
Erwerb von Kleinwirtschaftsstätten (Gesetz vom 10. April 1908, betreffend Klein-
grundbesitz und billige Wohnungen), sofern ihr Wert 1200 Fr. nicht übersteigt, durch
Kreditgewährung. Diese erfolgt durch Vermittlung gemeinnütziger Gesellschaften,
welche aus einem staatlichen Fonde von 100 Millionen Francs selbst 2°, Darlehen
erhalten, auf Grund deren sie dann den Ansiedlern Darlehen zu 2-5 bis 3°, erteilen.
Ein Fünftel des Liegenschaftswertes muß bar gezahlt werden.
Eine Ergänzung hat dieses die Erleichterung des Erwerbes von Kleinbesitz
betreffende Gesetz durch das Heimstättengesetz vom 12. Juli 1909 (loi sur la
constitution d’un bien de famille insaisissable) erhalten. Es hat vor allem Sicherung
und Schutz des bestehenden Kleinbesitzes insbesondere gegenüber Schuldexekution nach
Art der amerikanischen Heimstattengesetze zur Aufgabe. Voraussetzung für die Zu-
erkennung des Heimstättencharakters ist in subjektiver Hinsicht Vorhandensein einer
Familie (Kinder, Enkel), in objektiver ein Höchstwert des Hauses samt Grundstücken
und Vieh von 8000 Fr. Die Begründung der Heimstätte erfolgt durch entsprechende
Erklärung des Antragstellers vor einem Notar und Entscheidung des Friedensrichters
und Eintragung im Grundbuche. Die hauptsächliche Konsequenz der Heimstätten-
erklärung ist die Unangreifbarkeit im Exekutionswege, das heißt die Heimstätte ist von
der Eintragung an der Zwangsvollstreckung für Forderungen (ausgenommen aus
strafbaren Llandlungen, Steuern, der Feuerversicherung usf.) entzogen. Außerdem
treten Einschränkungen der hypothekarischen Belastung, der Veräußerung und der
Vererbung hinzu. Das Gesetz hat in der bäuerlichen Bevölkerung trotz seiner Vor-
teile nur geringen Erfolg gehabt, die Anzahl der errichteten Heimstätten ist bis zum
Kriegsausbruch sehr gering gewesen. Viel trugen hiezu die viel zu engen Grenzen
86) In Holland richten sich die Bestrebungen vor allem auf die Urbarmachung
und Kultivierung, beziehungsweise Aufforstung der ausgedehnten Ödländereien
'/, der gesamten Landesoberfläche) und der dureh Trockenlegung der Zuidersee
gewonnenen Poldergebiete. Diesem Zwecke widmet sich seit mehreren Jahrzehnten
in erfolgreicher Weise die „Nederlandsche Heidemaatschappy“ (niederländische
Heidekulturgesellschaft), welche auf den kultivierten Ländereien sodann Wohn-
häuser erbaut und Wirtschaften einrichtet. Die Kapitalbeschaffung erfolgt über-
wiegend aus privaten Mitteln der Anzusiedelnden, doch mit staatlichen Subventionen
für Meliorierungsarbeiten. Auf den Poldergebieten wurde die namentlich in der
Provinz Groningen unter dem Namen „Beklem-regt‘‘ seit alters beibehaltene Erb-
pacht mit Erfolg in Anwendung gebracht.
Die (cesetzgebung aul dem Gebiete d. Innenkolomsatien im
Meutsenen Reide., Jol
bei (hinsichtlich Höchstwert, Fläche usf.), welche seiner Anwendung gezogen
waren.
In Italien beschränkte sich bisher die Innenkolonisation der Hauptsache nach
auf die Kultivierung von Sumpfgebieten und Anlage von Siedlungen in diesen, sei es
auf staatlichem oder privatassoziativem Wege, allerdings in beiden Richtungen mit
nur geringem Erfolge. Im wesentlichen handelt es sich um Meliorationsgesetze mit
Geltung in einzelnen Provinzen (so für Sardinien Gesetz vom 2. August 1897, für
Kalabrien vom 25. Juli 1906, agro Romano vom 13. Dezember 1903 usf.), und zwar
um Anlage von Musterwirtschaften. Bewässerungsanlagen, Aufforstungen, Melio-
rierung von Sumpfland usf. Nur in der Provinz Treviso wurde mit dem Gesetze
vom 21. Februar 1892 eine Aufteilung von staatlichen Domänen und eine Kolonisten-
ansiedlung nach erfolgter Parzellierung durchgeführt.
(irößeren Umfang weist die Innenkolonisation in Spanien mit seinen auBer-
ordentlich ungünstigen Besitzverhältnissen und großen Ödländereien auf. Mit einem
Gesetze über die „Ansiedlung und innere Wiederbevölkerung‘‘ vom 30. August 1907
sollen vor allem die Ödländereien des Staates und der Gemeinden mit besitzlesen
bäuerlichen Familien besiedelt werden, wozu der Staat 20% (bis zu einem Höchst-
betrage von 1500 Pesetas) per Stelle beiträgt. Diese fällt nach fünf Jahren ins Eigen-
tum des Ansiedlers. Dem Ausgeber ist ein Wiederkaufs- und Vorkaufsrecht gesichert.
Zur Durchführung der Besiedlung ist eine zentrale Kolonisationsbehörde (Junta
Central) berufen. Während der ersten fünf Jahre sind die Ansiedler zinsen- und
abgabenfrei. Für die Ansiedlung sollen in erster Linie arme Bauernfamilien des:
betreffenden Municips, und zwar jene mit der größten zur Landwirtschaft geeigneten
Kinderzahl, dann Bewohner der Provinz oder überhaupt des Königreiches heran-
gezogen werden.
Neuere Daten über die Innenkolonisation in den romanischen Ländern während
des Weltkrieges und mehr noch nach Abschluß desselben liegen nicht vor. Auch
hier aber dürfte sie zum bedeutsamen innerwirtschaftlichen Problem geworden sein,
da die Zusammenfassung der nationalen Kraft allüberall als das einzige Heilmittel
gegenüber der drohenden Weltkrise erkannt wird.
Auch RuBland hat lange vor dem Kriege mit einer ziemlich umfangreichen
Innenkulonisation (insbesondere Verteilung der Staatslandereien) eingesetzt.87) Schon
ein kaiserlicher Ukas vom 9. Novtember 1906 bahnt die Überführung des Gemeinde-,
beziehungsweise (remeinschaftsbesitzes („Mir“) in das individuelle Eigentum der
Bauern an. (Von der Duma am 14. Juni 1910 zum Gesetze erhoben.) Hiefür wurden
„Landeinrichtungsbehörden" geschaffen, denen zugleich die Aufteilung der Staats-
ländereien oblag, welche also die eigentlich innere Kolonisation in Rußland zu leiten
—-..
87) Siehe zur russischen Agrarreform und Innenkvlonisation insbesondere:
Prever, Die russische Agrarreform, Jena 1914; Wieth-Knudsen, Bauernfrage
und Agrarreform in Rußland, Leipzig 1913; Stolypin und Kriwoschein, Die Koloni-
sation Sibiriens. Berlin 1912; Dietze, Stolypinsche Agrarreform und Feldgemein-
schaft. Herausgegeben vom Osteuropa-Institut, Berlin 1920; ferner Buchenberger.
1. Bd.. und Archiv für innere Kolonisation, insbesondere Jahrg. V, 1913, S. 314 f.
(Hollmann). |
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102 _ 2.000,00. Emanuel Hugo Vogel.
hatten. Außerdem hatten die Träger der Stolypinschen Agrarreform, die „Agrar-
kommissionen“, mitzuwirken, deren Begründung und Leitung zufolge eines kaiser-
lichen Erlasses vom 4. März 1906 einem besonderen Ausschusse (Vertreter der Mini-
sterien, Reichsbank und Bauernbank) übertragen wurde. Die Finanzierung und
praktisch positive Durchführung des Ansiedlungsgeschäftes oblag der schon 1852
neben einer „Adelsbank" begründeten „Bauernbank“, die unter unmittelbarer
Aufsicht des Finanzministeriums stand. Letztere hatte die spezielle Aufgabe, sowohl
einzelnen Ansiedlern als Gemeinden und Genossenschaften für Zwecke der Ansiedlung
Hypothekardarlehen zu gewähren, aber sodann auch den Ankauf von Ländereien
und Verkauf derselben an Bauern gegen kleine Baranzahlung (4 bis 6°, des Kauf-
preises) und Resthvpothek durchzuführen (Amortisation in 5513 Jahren zu 4°).
In der letzten Zeit vor dem Krieg hatte die vorher mehr auf Gewinn gerichtete privat-
finanzielle Tätigkeit der Bauernbank unter der Mitwirkung der „Agrarkommissionen’“
einen gewaltigen Umfang erreicht. Diese letzteren hatten die Aufgabe, beim Ankauf
der Ländereien Zwischenhändler und Spekulationsgewinn auszuschließen, insbesondere
die vom Bodeneigentiimer geforderten Preise zu überprüfen. Umfangreiche Land-
gebiete wurden auf diese Weise der „Aufteilung“ zugeführt, insbesondere waren es
„Staatsländereien“, deren Parzellierung von der Bauernbank durchgeführt wurde.
In den Jahren 1907 -1911 allein wurden an Staatsländereien nicht weniger als
329.005 Desjatinen$s#) in einem Werte von 321, Millionen Rubel auf 57.243 Bauern-
stellen aufzeteilt.%%) Hiebei wurden auch Musterbetriebe eingerichtet und die land-
wirtschaftliche Kreditgewährung (insbesondere Betriebskredit) organisiert. Die von
der Bank im ganzen vom Großgrundbesitze und vom Staate erworbenen Ländereien
repräsentierten einen Wert von 482 Millionen Rubel, die ausgegebenen Darlehen
betrugen 1910 bereits über 1 Milliarde Rubel. Es wurden überwiegend Bauernstellen
im Umfange von 10 bis 20 ha begründet. Seit Errichtung der Bank, d.i. 1883 bis Ende
1905, waren dureh Vermittlung derselben bereits 8.276.195 Desjatinen von Bauern
erworben worden, ab 1. Jänner 1906 bis 1. Juli 1910 wurden durch die Operationen
der Bank teils Staats-, beziehungsweise Apanagenländereien (zirka 1-2 Millionen
Desjatinen von insgesamt 2 Millionen Desjatinen), teils Privatländereien (3-7 Millionen
Desjatinen) für Parzellierungszwecke erworben, außerdem landbedürftigen Bauern
Kredit zum privaten Erwerb von weiteren 2-9 Millionen Desjatinen gewährt. Ins-
gesamt hatte also die Tätigkeit der Dank in der Zeit von 1906 bis Juli 1910 allein
bereits &5 Millionen Desjatinen Land betroffen und der Parzellierung, beziehungs-
weise Überführung aus den Händen des Großgrundbesitzes und Staates in jene von
Kleinbauern eingeleitet. Daraus ergibt sich, in weleh bedeutendem Maße bereits
vor dem Weltkriege die „Bandaufteilung‘“ in Rußland praktisch durchgeführt wurde.
sodaß für dieses von der späteren revolutionären Regierung so gerne gebrauchte
Schlagwort, wenigstens soweit es sich um Staatsländereien, nicht privaten Groß-
erundbesitz handelt. kein allzu großes Betätiennesfeld mehr erübrigte. Die gewaltige,
allerdings von staatspolitischen Motiven getragene Kolonisationsaktion Rußlands
%) Siehe Soring, „Politik der Grundbesitzverteilung in den großen Reichen“,
Berlin 1912; ferner Buchberger, 1. Bd., 2. Aufl, 8. 454.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete d. Innenkolonisation im Deutschen Reiche. 105
in Sibirien vor dem Kriege (1906 bis 1911: 417.000 Familien oder 2 Millionen Menschen
auf rund 20 Millionen Hektar nach Buchenberger) fällt außerhalb des Rahmens
unserer Betrachtung.
In der „Konstituierenden Versammlung” vom 18. Jänner 1918 wurde bekanntlich
überhaupt alles Privateigentum an Grund und Boden. Bodensehätzen, Wäldern und
Gewässern ohne Entschädigung aufgehoben und als gemeinsames Eigentum der
Nation erklart.*!)
Bezüglich der zufolge Zeitungsmeldungen im bolschewistischen Rußland pro-
klamierten „Aufteilung“ aller eine gewisse Grobe überschreitenden Güutsgebiete
legen zu ungenaue Nachrichten vor, um über die praktischen Resultate dieser radikal-
kommunistischen Aktion ein abschließendes Urteil abzugeben.
9) Jahrbuch der Bodenreform, XIV. Bd.. Heft 2, S. 132.
Vorstehende Abhandlung wurde abgeschlossen am 30. November 1920.
Der Staatsbegriff der „verstehenden
Soziologie“. *)
Von Hans Kelsen.
Auch die bedeutendste soziologische Leistung, die seit Simmels
„Soziologie“ erschienen ist, Max Webers geistvolle Untersuchungen über
„Wirtschaft und Gesellschaft“, ') bestätigen, daß alle Bemühungen, das
Wesen des Staates auf außerjuristischem, speziell soziologischem Wege
zu bestimmen, immer wieder auf eine mehr oder weniger versteckte Identi-
fikation des gesuchten Begriffes mit dem Begriff der Rechtsordnung
hinauslaufen. Bei Max Weber ist dieses — unbeabsichtigte — Ergebnis
durch die Eigenart seiner soziolorischen Methode eigentlich schon von
allem Anfang an vorherbestimmt, obgleich der Gegensatz seiner „ver-
stehenden Soziologie‘ zur juristischen Erkenntnis immer wieder mit
Nachdruck betont wird. Soziologie soll — nach der spezifischen Auf-
fassung Webers — soziales, das heißt seinem Sinne nach auf das Ver-
halten anderer bezogenes Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem
Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären.®2) Indem nun diese
Betrachtung auf den immanenten Sinn menschlichen Verhaltens ge-
richtet ist, dieses Verhalten durch Ermittlung seines Sinnes deuten will,
muĝ siesichnotwendig aufandere -von dem cigenen als „Soziologie“
bezeichneten Standpunkt aus verschiedene — Erkenntnissysteme
beziehen. Denn wenn die Menschen mit ihrem Handeln einen Sinn ver-
binden, wenn ihr Hendeln rational ist, so muß sein Inhalt mit dem Inhalt
von Gedanken korrespondieren, die ihren Platz in bestimmten, von
einander verschiedenen Gedankensystemen haben. Der Physiker, der ein
— —— _- SS ee
*) Diese Abhandlung ist einer demnächst erscheinenden größeren Arbeit:
», Der soziologische und der juristische Staatsbegriff“ entnommen.
1) (rrundriß der Sozialökonomik, III. Abt.. T. Teil: Die Wirtschaft und die
gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Tübingen J. C. Bo Mohr 1921.
?) a. a. 0. S. 1.
Der Staatsbegriff der „verstehenden Soziologie”. 105
Experiment macht, der Händler, der eine Ware verkauft, sie lassen ihr
Handeln von einem bestimmten Wissen oder Denken leiten, dessen Zu-
sammenhang Nachdenken reproduzieren muß, wer ihr Handeln ,,deutend
verstehen‘ will. Das eine Mal sind es physikalische Gesetze, das andere
Mal Rechtsnormen, auf die sich die „Deutung“ beziehen muß, ja, durch
die allein die „Deutung“ erfolgen kann. Ob es ein vom Standpunkt solehen
„deutenden Verstehens’’ immanentes, somit wesenseemäßes Kriterium
ist, das zur Abgrenzung der verstehenden „Soziologie“ führt: die
Bezogenheit einer Handlung gerade auf eine Handlung eines anderen
Menschen und nicht etwa auf das Verhalten eines beliebigen Obh-
jektes, kann hier dahingestellt bleiben. Es genügt festzustellen, dab
„deutendes Verstehen“ keineswegs ein Spezifikum der von Weber postu-
lierten „Scziolerie“ ist, und daß diese „Sozielogie“, weil sie ihr Deutungs-
prinzip, richtiger ihre Deutungsprinzipe aus anderen Gebieten holen muß,
einen durchaus unselbstandigen Charakter hat.
Der ‚Sinn‘ einer Handlung, in dessen Ermittlung die Deutung der
..verstehenden‘“ Soziologie besteht, ist entweder der vom Handelnden
tatsachlich gemeinte Sinn oder der „in einem begrifflich konstrmerten
reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden sub-
jektiv gemointe Sinn‘“.s) Im letzteren Falle konstruiert die Soziologie
einen Idealtvpus streng zweckrationalen Handelns, sozusagen als
Deutungsschema. Alles zweckwidrige, irrationale Verhalten der Menschen
wird dann als „Abweichung“ von dem bei rein rationalem Verhalten zu
gewartigendem „Verlaufe“ verstanden. Genau genommen: „Verstehen“
kann man menschliches Verhalten nur, so weit es irgend einen Verstand,
des heißt. Zweck hat, sofern es irgend einem Zwecksvstem entspricht. Die
.. Abweichung“ von dem einen System kann Entsprechung gegenüber einem
anderen Zwecksystem bedeuten. „Verstehen“ kann man also eigentlich nur
ein Zwecksystem, einen logischen Zusammenhang. Dies muß Weber gegen-
über nur darum kemerkt werden, weil der „Staat“ im Sinne der ,.ver-
stehenden Seziologie“ offenbar ein ..Jdealtvpus", eine begriffliche Kon-
struktion streng zweckrationalen Handelns, das heißt ein gedachtes Zweck-
system ist, das man als Deutungsschema menschlichen Handelns benutzt.
.. verstehen“ — und zwar als „Staat“ verstehen — kann man menschliches
Verhalten nur insoweit, als es diesem ..konstiuierten“, gedachten System
strispricht. Man echt mit diesem System als wit einem Deutunessehema
“Yaa. O. S. 1.
106 Hans Kelsen.
an das tatsächliche Verhalten der Menschen heran, als ob die Menschen
im allgemeinen nur zweckrational und den spezifischen Zwecken des bier
als Deutungsschema fungierenden Systems im besonderen entsprechend
handeln würden. Sofern dies nicht der Fall, erklärt man es als „Abweichung“.
Die „verstehende Soziologie“ ist. wie Weber immer wieder betont, auf das
reale Verhalten der Menschen gerichtet. Aber „verstehen“ kann man dieses
Verhalten — zumindest dert, wo mit dem Idealtypus gearbeitet wird —
nur soweit es inhaltlich dem idealen, gedachten Zwecksystem entspricht.
Schließlich läuft alles auf die Einsicht in dieses Zwecksystem hinaus und
speziell beim Problem des Staates komint es einzige und allein darauf an,
festzustellen, welches eigentlich das als Deutunysschema, als Idealtvpus
fungierende Zwccksystem ist. Dies scheint, trotz Webers nachdrücklichem
Hinweis auf die Tatsächlichkeit als Gegenstand der Soziologie, der Kern-
punkt zu sein.
Von den sozialen ,,Gebilden“ im alleememen und dem Staat
im besonderen sagt Weber, sie seien für die verstehende Deutung des
Handelns durch die Soziologie lediglich „Abläufe und Zusammenhänge
spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns
verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind’.4) Das
„Spezifische“ dieses Handelns liest offenbar in dem Sinn, der mit diesem
Handeln tatsächlich verbunden wird oder — mit Hilfe der Konstruktion
eines Idealtypus rationalen Handelns — verbunden werden kann. Welches
ist aber der Sinn, an dem die Handlungen orientiert sind, deren Ablauf
eben wegen dieses Sinnes „Staat“ heißt? Weber nennt ein „seinem Sinn-
gehalt nach aufeinander eingestelltes und dadurch orientiertes Sichver-
halten mehrerer“ soziale „Beziehung“ >) und sagt, speziell in bezug auf den
Staat: „Die soziale Beziehung besteht, auch wenn es sich um sogenannte
‚soziale Gebilde‘ wie Staat, Kirche, Genossenschaft, Ehe usw. handelt
ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem Sinneehalt
nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, siatt-
findet oder stattfinden wird. Dies ist immer festzuhalten, um eine ‚sub-
stanzielle‘ Auffassung dieser Begriffe zu vermeiden.“®) Das Wesen des
„Staates — zum Unterschied von der „Kirche“ oder „Ehe“ — liegt also
offenbar in dem spezifischen Sinngehalt gewisser Handlungen, nicht in
+) a. a. O. S. 6.
5) a. a. 0. S. 13.
6) a, a. O, S, 13.
Der Staatsbegriff der „verstehenden Soziologie®. 107
den körperlich-mechanischen. ohne Bezug auf ihren „Sinn“ nur Muskel-
kontraktionen darstellenden Handlungen selbst. Der Staat ist der spezi-
fische Sinn gewisser Handlungen, nicht irgend eine Handlung oder auch
nur ein Komplex von Handlungen. Gewiß ist es von Bedeutung und
Wichtigkeit, die Chance oder Wahrscheinlichkeit festzustellen, mit der
Handlungen eines gewissen Sinnes tatsächlich erfolgen. Aber die Chancen
der Tatsächlichkeit solcher Handlungen sind. wohl zu unterscheiden von
dem Sinneehalt dieser Handlungen. Nur durch diesen Sinneehalt unter-
scheiden sich die Handlungen für die auf das Wesen der sozialen „Gebilde“
gerichtete Betrachtung; ja nur auf diesen Sinngehalt und nicht auf die
äußeren, an sich „sinnlosen“ Handlungen muß eine Betrachtung gerichtet
sein, die das Wesen von Staat, Kirche, Ehe usw. erfassen will. Es ist darum
zumindest eine irreführende Terminologie, wenn nicht eine unzulässige
beeriffsverschiehung, wenn Weber fortfährt: „Ein ‚Staat‘ hört zum Bei-
spiel seziologisch zu ‚existieren‘ dann auf, sobald die Chance, daß be-
stimmte Arten von sinnhaft orientiertem sozialem Handeln ablaufen,
eeschwunden ist.“ Denn nunmehr hat Weber den Begriff des Staates
von dem spezifischen „Sinngehalt‘, der „bestimmten Art sinnhaft orien-
tierten“ Handelns auf die Tatsächlichkeit des Handelns verschoben. Der
Staat ist nicht mehr der Sinn eines Handelns, sondern dieses an sich
sinnlose Handeln selbst, beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit dieses
Handelns. Weber hat dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens ein
verhängnisvolles Begriffsopfer gebracht. Dieser spricht wohl von einer
„Existenz‘' des Staates ebenso wie von der Existenz irgend eines sinnlich
wahrnehmbaren Dinges oder Vorganges, Allein als Sinngehalt, als Zweck-
system oder Deutungsschema, als welches allein der Staat gerade für eine
auf den Sinn des Handelns gerichtete „verstehende“ Seziologie in Betracht
kommt, „existiert“ der Staat ebensowenig oder ebensosehr wie etwa der
Prthasoräische Lehrsatz; seine „Existenz“ ist seine Geltung, und darum
xt er wesentlich verschieden von der Tatsächlichkeit der Handlungen,
deren Sinn er ist. Diese haben als Vorgänge allerdings jene „Existenz“,
von der Weber spricht. Nur daß sich ihre „Existenz“ zur Geltung des
„Staat“ genannten Sinneehaltes prinzipiell ebenso verhält, wie das Denken,
Aussprechen, Zeichnen des pythagoräischen Lehrsatzes zu diesem als ge-
dachtem Sinngehalt. Und ebensowenig wie die „Chance“, daß die Menschen
oder gewisse Menschen dieses mathematische Gesetz denken und irgendwie
zum Ausdruck bringen mit dem Gesetze selbst identisch ist, darf der Staat
108 Hans Kelsen.
mit der Chance identifiziert werden, daß Handlungen solchen Sinngehaltes
erfolgen.
Erkennt man, daß die Rechtsordnung das Zwecksystem oder der
Idealtypus zweckrationalen Handelns ist. der als Deutungsschema ver-
wendet werden muß, um jenen Sinn des sozialen Handelns zu erfassen. der
das soziale Gebilde „Staat? ausmacht, daß nur die Rechtsordnung als der
Sinngehalt jener Handlungen angegeben werden kann, deren wahrschein-
lichen Ablauf Weber die soziologische Existenz des Staates nennt, dann be-
deutet diese letztere „Chance“ nichts anderes als dasjenige, was für gewöhn-
lich als Faktizität des Rechts — im Gegensatz zu seiner Normativität —
bezeichnet wurde.?) Und es findet sich bei Weber die gleiche Tendenz,
die auch son t festeestellt werden kann, den Staat als Verwirklichung
des Rechts, als seine Faktizität eder doch mit besonderer Berücksichtigung
dieser Faktizität zu bestimmen. Ihre Kritik ist hier nicht am
Platze. Daß aber die Rechtsordnung der Sinngehalt jener Hand-
lungen ist, deren Ablaufchanee bei Weber die soziologische Existenz
des Staates heißt, daß es die Rechtsordnune ist, an der diese Handlungen
orientiert sein müssen, ja, daß schließlich der Staat — als Sinngehalt —
mit der Rechtsordnung identisch oder doch zumindest eine bestimmt
qualifizierte Rechtsordnung ist, das läßt sich aus der Darstellung Webers
selbst leicht nachweisen.
Als „Recht“ bezeichnet Weber eine bestimmt qualifizierte Ordnung. ®)
Ordnung aber ist ein bestimmter „Sinngehalt“ sozialer Beziehungen. Und
dieser Sinngehalt kann - wenn man all das berücksichtiet, was Weber
von ihm aussagt — kaum anders und deutlicher charakterisiert werden als
durch den Begriff des Sollens, der Soll-Regel oder Norm. „Gelten‘ einer
Ordnung, hetont Weber, soll mehr bedeuten als eine bloße durch Sitte
oder Interessenlage bedingte Rerelmäßiekeit eines Ablaufs sozialen
Handelns“. Natürlich, denn „verstchende” Soziologie geht auf den
3) Weber hebt mit Recht von der Chance“ eines bestimmten Handlungs-
ablaufes und insbesondere auch von der soziologisch ‚Staat‘ bezeichneten Chance
hervor. daß sie verschiedene Grade haben könne, während ein Rechtssatz entweder
bestehe oder nicht bestehe (a. a. O. S. 13, 14). Allein kann man wirklich von einem
Staate. von jener Ordnung, die den Durchschnittssinn der meisten Urteile über den
Staat bildet, sagen, daß er bald mehr. bald weniger existiere? Für den Staat, der den
Gegenstand der Staatslehre bildet, gilt durchaus die Alternative, die Weber für die
Soziologie ablehnt und für die Geltung der Rechtsnormen feststellt.
syaa O.S. 16 ff,
Der Staatshegrifl der „verstehenden Soziologie”. 109
„Sinn“ des Handelns, jenen Sinn, den der Handelnde mit seiner Handlung
verbindet oder doch verbinden muß, wenn diese rational deuthar sein soll.
„Gelten einer Ordnung“ liegt nur insofern vor, als der Handlungsablauf
(der Ablauf des an der Ordnung orientierten Handelns) garantiert ist „durch
das ‚Gelten‘ der Ordnung als Gebot, dessen Verletzung nicht nur Nach-
teil brachte, sondern — normalerweise — auch von seinem (des Handelnden)
‚Pflichtgefühl‘ wertrational (wenn auch in einem höchst verschiedenem
Maße wirksam) perhorresziert wird“. Der durch den steten Bezug auf die
Faktizität des Handlunesablaufes stark verdrangte Grundgedanke ist wohl
der: Der Sinngehalt, den wir geltende Ordnung nennen, ist: Sollnorm
oder Pflicht. Der Handelnde muß mit seiner (sozialen) Handlung den
Sinn verbinden: ich handle so, weil ich so handeln soll, er muß sich an
einer Ordnung als an einem Gebot orientieren. Darauf laufen auch die
weiteren Ausführungen Webers hinaus. „Einen Sinngehalt einer sozialen
Beziehung wollen wir a) nur dann eine ‚Ordnung‘ nennen, wenn das
Handeln an angebbaren ‚Maximen‘ ... orientiert wird.“ (Diese Maximen
sind doch wohl gleichbedeutend mit „Normen“ und stellen als solche die
„Ordnung‘ dar; eingangs des Paragraphen ist davon die Rede, daß Handeln
an der Vorstellung von dem Bestehen einer bestimmten Ordnung orientiert
sein könne, und wiederholt wird von einem Handeln gesprochen, das an
einer Ordnung orientiert ist.) „Wir wollen b) nur dann von einem Gelten
dieser Ordnung sprechen. wenn diese tatsächliche Orientierung an jenen
Maximen mindestens auch ... deshalb erfolgt, weil sie als irgendwie für
das Handeln geltend: verbindlich oder vorbildlich, angesehen werden.
Tatsächlich findet die Orientierung des Handelns an einer Ordnung natur-
gemäß bei den Beteiligten aus sehr verschiedenen Motiven statt.®) Aber
der Umstand, daß neben den anderen Motiven die Ordnung mindestens
einen Teil der Handelnden auch als vorbildlich oder verbindlieh und
also als gelten sollend vorschwebt, steigert naturgemäß die Chance, daß
das Handeln an ihr orientiert wird, und zwar oft in sehr bedeutendem
») Darum ist nicht - wie in der Definition des Begriffs . Soziologie‘ behauptet
wird — das deutende Verstehen einer Handlung mit ihrer ursächlichen Erklärung
identisch. Indem ich die Rechtsordnung als Deutungsschema verwende, kann ich
zahlreiche Handlungen — als an der Rechtsordnung orientiert, der Rechtsordnung
entsprechend — deutend verstehen. Das Deutungsprinzip ist ein einheitliches, die
Motive aber — die Ursachen also -- aus denen die Menschen sich ordnungsgemäß
verhalten, Können sehr verschiedene sein und bleiben bei dieser Deutungsmethode
völlig unbekannt, ja sind im Grunde genommen gleichgültig.
110 Hans Kelsen.
Maße.“ Sofern nach dem Sinngehalt des Handelns die Frage ist — und
das ist nach Webers eigenen Worten beim Begriff der Ordnung der Falı
—- dann ist eigentlich die Chance des Handlungsablaufs nebensächlich.
Worauf es ankommt ist dies: Damit der Sinngehalt eines Verhaltens als
„Ordnung“ bezeichnet werden kann, muß der Handelnde mit seiner Hand-
lung die Vorstellung einer Norm verbinden, die diese Handlung als gesollt
setzt. Ist Ordnung als Sinngehalt identisch mit Norm, dann ist die „Geltung“
dieser Ordnung identisch mit Sollen. In der Vorstellung, die der sich an
der Ordnung Orientierende mit seiner Handlung verbindet. ist die
„Geltung“ der Ordnung ihr Sollen. Davon verschieden die mehr oder
weniger große Chance, daß man sich tatsächlich an einer Ordnung
orientiert. Diese Chance findet ihren Ausdruck in einer Seins-Regel mit mehr
oder weniger Ausnahmen; ich nenne sie — im Gegensatz zur Geltung —
Wirkung oder Wirksamkeit einer Norm. Es ist wiederum eine unzulässige
Begriffsverschiebung, wenn Weber eben jene Wirksamkeitschance als
„Geltung“ der Ordnung bezeichnet, obgleich er diese Ordnung als Sinn-
gehalt und diesen Sinngehalt als Sollnorm charakterisiert. Auch sonst
zeigt sich der durchaus normative Charakter des Ordnungsbegriffes der
„verstehenden‘ Soziologie. Von dieser Ordnung wird gesagt, daß sie aus
„Regeln“ besteht, noch deutlicher, daß sie „Normen“ enthalte (5. 26),
daß sie „gesatzt‘‘ werde, was nur einen Normaiivakt, die Soll-Satzung
von Normen bedeuten kann; es wird immer wieder von „Innehaltung“ und
„Verletzung“ der Ordnung gesprochen, was sinnlos wäre, wenn „Ordnung“
nur der Ausdruck für eine tatsächliche Regvelmäßiekeit wäre. Vor allem
aber wird der spezifische Sinn der Ordnung wiederholt dahin charakterisiert,
daß sie „Geltung in Anspruch nehme“, „gelten wolle“ (S. 27, 28), was
ja nur die übliche — psychologistische — Umschreibung des Sollens ist.
Dieser durchaus normative Begriff der Ordnung ist aber einer der Haupt-
bestandteile, einer der tragenden Begriffe des Systems der verstehenden
Soziologie, und zwar darum, weil diese gemäß ihrer spezifischen Methode
auf den Sinngehalt des Handelns gerichtet ist, das heißt den Sinn er-
mitteln muß, den die Handelnden mit ihrem Verhalten verbinden, dieser
Sinngehalt aber — sofern es sich um ein an einer „Ordnung“ orientiertes
Verhalten handelt — zugegebenermaßen ein „Gebot“, eine „Pflicht“, ein
„Sollen“ ist. Ohne den steten Bezug auf diesen Sinngehalt wäre Soziologie,
unmöglich, denn alles Soziale ist in dem Sinnechalt menschlichen Handelns
beschlossen, demeegeniiber die Faktizitit oder ReeelmaBigkeit des fak-
‘ 349° ; a . . E
Der Staatsberrill der „verstehenden Soziologic®. 111
tehon Handelns an ich nur sekundären Charakter hat. In der cigen-
artiven Doppelheit des Gegenstandes und der Blickrichtung dürfte das
Wesen der — als Wissenschaft darum so problematischen — Soziologie
zumindest der „verstehenden“ Seziolvgie liegen. Darum ist es keine bloß
terminolegische Pedanterie, wenn den folgenden Ausführungen Webers
nicht ganz zugestimmt wird: „Zwischen Geltung und Nichtgeltung einer
bestimmten Ordnung besteht also für die Soziologie nicht wie für die
Jurisprudenz (nach deren unvermeidlichen Zweck) absolute Alternative,
sondern es bestehen flüssire Übergänge zwischen beiden Fällen und es
können, wie beinerkt, einander widersprechende Ordnungen nebeneinander
‚gelten‘, jede — heißt dies dann — in dem Umfang, als die Chance besteht,
daB das Handeln tatsächlich an thr orientiert wird." '!°) Riehtie ist, daß
der AusschlieBlichkeit der (normativen) Geltung einer Ordnung die Ver-
einbarkeit der Wirksamkeit zweier verschiedener Ordnungen (genauer:
des Vorstellens, Wollens, Handelns nach zwei verschiedenen Ordnungen)
gecontibersteht. Unrichtig aber ist, daß für die verstehende Soziologie
die Sollgeltung einer Ordnung und somit der normative Ordnungsbeertff
überhaupt nicht in Betracht und daß darin ihr Unterschied gegenüber der
Jurisprudenz zum Ausdruck kommt. Dieser Unterschied, den Weber
hezeichnenderweise nicht oft genug betonen kann, ist aber mehr als zweifel-
haft. Die „‚verstehende" Soziologie muß — da der von ihr zu ermittelnde Sinn
des sozialen Handelns sehr häufig eben das Recht ist, auch Jurisprudenz
sein oder doch mit den Augen des Juristen schen, um überhaupt zu
sehen. So vor allem. wenn es eilt das Phänomen des Staates zu begreifen.
Eine „Ordnung“ ist nach Weber dann „Recht“, wenn sie „äußerlich
earantiert ist durch die Chance (physischen oder psychischen) Zwanges
durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung
eerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von
Menschen.‘'t) Der Unterschied dieser „soziologischen“ Definition des
Rechts von der üblichen juristischen ist kaum zu bemerken. Die Be-
tonung der Faktızität (‚Chance‘) fällt umsoweniger ins Gewicht, als das
gewisse Minimum von Faktizität auch vom Standpunkt normativer
Betrachtung, nämlich in den Inhalt der Norm selbst aufgenomnen,
dem Rechtsbegriff beigefügt werden kann. Auffallend ist, daß sich diese
soziologische Rechtsdefinition nicht begnügt, das Recht als Zwangsordnung
—
t) a a 0.8.17. ,
T
1) a. a. O. S. 17.
11? Haus Kelsen.
überhaupt zu. bestimmen, sondern daß „für den Begriff ‚Recht‘ ...
die Existenz eines Erzwingungsstabes entscheidend sein soll“. '®)
„Eine soziale Beziehung ... soll nach außen ‚offen‘ heißen, wenn
und, insoweit die Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt orientierten
gegenseitigen sozialen Handeln, welche sie konstituiert nach ihren geltenden
Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu tatsächlich in der Lage und
geneigt ist. Dagegen nach außen ‚geschlossen‘, insoweit und in dein
Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme
ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen.“ Das Recht
muß wohl -— obgleich dies nicht direkt gesagt ist — als eine „geschlossene
soziale Beziehung angesehen werden. Falls die Geschlossenheit einen bestinim-
ten Charakter hat, nämlich wenn die Beteiligung an der sozialen Beziehung
„reguliert“ ist, nennt Weber die Betelligten geradezu „Rechtszenossen”. 13)
„Verband soll eine nach auße‘ regulierend beschränkte oder ge-
schlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer
Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung ein-
gestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und eventuell
eines Verwaltungsstabes, der gegel enenfalls normalerweise zugleich
Vertretungsgewalt hat.“ 1») Danach muß das Recht als ein Verband gelten.
Zwar fehlt in der Begriffsdefinition des Verbandes die ausdrückliche
Erwähnung des Zwangsmomentes, beziehungsweise des „Erzwingungs-
stabes“. Aber die folgenden Ausführungen Webers lassen keinen Zweifel
darüber, daß der „Verwaltungsstab‘ ein „Krzwingungsstab” ist. „Das
Vorhandensein eines Leiters, Familienoberhauptes, Vereinsvorstandes,
(reschäftsführers, Fürsten, Staatspräsidenten, Kirchenhauptes, dessen
Handeln auf Durchführung der Verbandsordnung eingestellt ist,
soll genügen, weil diese’ spezifische Art von Handeln: ein nicht bloß an
der Ordnung orientiertes, sondern auf deren Erzwingung abgestelltes
Handeln, soziologisch dem Tatbestand der geschlossenen ‚sozialen Be-
ziehung‘ ein praktisch wichtiges neues Merkmal hinzufügt.“ ..Dureh-
führung“ und „Erzwineung”“ der Ordnung durch einen eigens dazu be-
stimmten (soziologisch: darauf eingestellten) Stab ist also identisch. Von
Bedeutung ist ferner der Begriff des „Verkandshandelns“, das ist „des
Handeln des Verwaltungsstabes selbst und außerdem alles planvoll von
i) a. a. O. S. 18.
13) a. a. 0. S. 23.
I a. a. O. S, 26.
' . a `:
Der Staatsbegrifi der „verstehenden Suziologie*. 115
ihm geleitete verbandsbezogene Handeln“.!>) Verbandsbezogenes Hande.n
ist „an der Verbandsordnung orientiertes Handeln der sonst beteiligten“
(außer den den Verwaltungsstab bildenden) Menschen. „Eine Ordnung,
welche Verbandshandeln regelt, soll Verwaltungsordnung heißen. Eine
Ordnung, welche anderes soziales Handeln regelt und die durch diese
Regelung eröffneten Chancen den Handelnden garantiert, soll Regulierungs-
ordnung heißen. Insoweit ein Verband lediglich an Ordnungen der ersten
Art orientiert ist, soll er Verwaltungsverband, insoweit lediglich an solchen
der letzteren, regulierender Verband heißen.“ 186) Zunächst muß festgestellt
werden, daß das Recht e.ne Verwaltungsordnung sein muß; denn es
regelt das Handeln des Erzwingungsstabes, der ein Verwaltungsstab Ist,
und somit Verbandshandeln. Die Rechtsordnung ist demgemäß eine Ver-
waltungsordnung, der Rechtsverband ein Verwaltungsverband. Dann aber
muß nachdrücklichst betont werden, daß die von Weber versuchte Unter-
scheidung von Verwaltungs- und Regulierungsordnung unvollziehbar ist.
Anderes soziales Handeln (als das Handeln des auf Erzwingung der
Ordnung eingestellten Stabes und das vom Stab planvoll geleitete an der
Ordnung orientierte Handeln) kann eine Ordnung garantiert nur dadurch
regeln, daß sie Verbandshandeln, Handeln eines Erzwingungsstabes
regelt. Nur dadurch, daß die Rechtsordnung zum Beispiel das Handeln
des Richters und Exekutionsbeamten regelt, regelt sie das Verhalten des
Schuldners, der ein empfangenes Darlehen zurückerstattet. Gerade dieses
Handeln des Schuldners, das dem Gläubiger nur so von der Rechts-
ordnung garantiert wird, daß diese das Handeln des Erzwingungsstabes
regelt, scheint aber Weber im Auge zu haben, wenn er neben dem Handeln
“des Verwaltungsstabes und dem verbandshezogenen Handeln von einem
„verbandsgeregelten‘‘ Handeln spricht: „Die geltende Ordnung kann auch
Normen enthalten, an denen sich in anderen Dingen das Verhalten der
Verbandsbeteiligten orientieren soll (zum Beispiel im Staatsverband das
‚privatwirtschaftliche‘ nicht der Erzwingung der Geltung der Ver-
bandsordnung, sondern Einzelinteressen dienende Handeln; an
‚bürgerlichen‘ Recht.)‘*7) Allein die Normen des bürgerlichen Rechtes können
von den Exekutionsnormen, ihren Erzwingungsnorinen, gar nicht losgelöst
werden. sie bilden nus in wesentlicher Verbindung nut ihnen Rechts-
_ 4.
15) a. a. O. S. 26.
1s) a. a. O. S. 27 28.
17) a. a. O., S. 26.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 8
114 Hans Kelsen.
normen, sind ohne sie rechtlich Fragmente, ehen weil das Recht, auch
das sogenannte bürgerliche Recht, seinem Wesen nach Zwangsordnung
ist. Und weil jede Rechtsnorn als letzte Einheit der Rechtsordnung die
Eigenschaften des ganzen Rechtes d.h. alle Eigenschaften des Rechtes
aufweisen muß (so wie das kleinste Stückchen Gold alle Eigenschaften
dieses Metalles), muß jede Rechtsnorm das Zwangsmoment enthalten und
dementsprechend muß die Formulierung des Rechtssatzes erfolgen. Darum
ist ja die übliche Trennung zwischen materiellem und formalem (Prozeß-,
Exekutions-) Recht unhaltbar. Diese falsche juristische Anschauung ist
allerdings der von einer soziologischen Terminologie umhüllte Kern der
Weberschen Theorie vom Unterschied zwischen verbandsbezogenen und
verbandsgeregelten Handeln, zwischen Verwaltungsordnung und Regu-
lierungsordnung, Verwaltungsverband und Regulierungsverband. Bei den
Versuche, diesen Unterschied durch konkrete Beispiele zu illustrieren,
kommt es allerdings zu einer argen Begriffsverwirrung. „Ein lediglich
regulierender Verband wäre etwa ein theoretisch denkbarer reiner ‚Rechts-
staat‘ des absoluten laissez faire.“ Rechtsstaat ist, herkömnilicher Wort-
bedeutung nach, eine Ordnung, die sich darauf beschränkt, das Verhalten
der Gerichte, also eines Erzwingungs- beziehungsweise Verwaltungsstabes,
also Verbandshandeln zu regeln, müßte demnach nach der Weberschen
Definition ein Verwaltungs-, kein Regulierunesverband sein. (Daß sie eben
dadurch auch Regulierungsordnung ist, indem sie indirekt das zwangs-
vermeidende Verhalten der Genossen reguliert, ist hier nebensächlich!)
Den Ausführungen Webers scheint — unbemerkt — ein anderer als
der von ihm (allerdings recht willkürlich) geschaffene Verwaltungsbegriff,
nämlich der in der Jurisprudenz übliche Begriff der Verwaltung sich ein-
geschlichen zu haben: Verwaltung im Gegensatz zu Gerichtsbarkeit, der
Rechtsstaat im Gegensatz zum Verwaltungs-, das heißt nicht nur Straf- und
Zivilgerichtsbarkeit, sondern auch andere Funktionen versehenden Staat.
Daß es sich — auch bei diesen Funktionen letztlich um eine — nur nicht
durch Gerichte, sondern technisch anders organisierte Behörden zu übenden
Zwang, um Verwaltungszwang handelt, ist ja selbstverständlich. Die tra-
ditionelle systematische Verwirrung der Jurisprudenz, die dadurch entsteht,
daß sich das formale Moment des Zwanges mit dem materialen des durch
die Zwangsandrohung zu erzielenden Erfolges, des zwangsvermeidenden Ver-
haltens, kreuzt, und die sich insbesondere auch in der systematisch unhalt-
heren Scheidung zwischen dem sogenannten öffentlichen und dem sogenannten
Der Staatsbeerifi der „verstehenden Soziologie“. 115
privaten Recht ausdrückt, ist bei Weber leider cinfach ins Soziologische
übertragen. „Im allgemeinen ... fällt die Grenze der Verwaltungs- und
Regulierungsordnung mit dem zusammen, was man im politischen Verband
als ‚öffentliches‘ und ‚Privatrecht‘ scheidet.‘‘!#) Die verstehende Soziologie
bildet ihre Begriffe eben im engsten Anschluß an die Jurisprudenz.
„Betrieb soll ein kontinuierliches Zweckhandeln bestimmter Art,
Betriebsverband eine Vergesellschaftung mit kontinuierlich zweck-
handelnden Verwaltungsstab heiBen.“1!%) Demnach muB das Recht wohl
auch als ein Betriebsverband gelten, da ja die Kontinuität des Ver-
bandshandelns des Erzwingungsstabes bei einer auf die Chance des Hand-
lungsablaufes eingestellten Betrachtung selbstverständlich ist.
„Anstalt soll ein Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen inner-
halb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merk-
malen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden kann.“
„Okroyiert‘‘ heißt: eine „nicht durch persönliche freie Vereinbarung aller
Beteiligten zustande gekommene Ordnung‘.20) Die Rechtsordnung ist
demnach — sofern sie gesatzt ist — eine Anstalt, und mit Beziehung auf
die Kontinuität der Tätigkeit des Erzwingungsstabes: ein Anstalts-
betrieb. (Nebenbei bemerkt scheint es recht willkürlich, den Anstalts-
charakter von der Entstehungsart: Satzung oder Gewohnheit, abhängig
zu machen; ist nicht gerade die traditionale, nicht gesatzte, sundern gewohn-
heitsmaBig gewordene Rechtsordnung ihrem Wesen nach „vktroyiert‘ ?)
„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten
Inhaltes bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“21) Da jede Ordnung
. — ihrem Sinngehalt nach, in der Vorstellung des sich nach der Ordnung
Orientierenden — als Befehl auftritt, müßte streng genommen jede Ordnung
Herrschaftsordnung und insbesondere jeder Verband ein Herrschaftsverband
sein. Weber sagt nur: „Ein Verband ist vermöge der Existenz seines Ver-
waltungsstabes stets in irgend einem Grade Herrschaftsverband."*2) Und
demnach muß das Recht ein Herrschaftsverband sein.
In dem Begriff des „politischen Verbandes‘ im allgemeinen und dem
des Staates im besonderen gipfelt die Begriffspyramide der verstehenden
18) a. a. O. S. 28.
19) a. a. O. S. 28.
20) a. a. 0. S. 27.
2!) a. a. 0. S. 28.
2) a. a. O. S, 29
116 Hans Kelsen.
Soziologie. „Politischer Verband soll ein Herrschaftsverband dann und
insoweit heißen als sein Bestand und die Geltung seiner Ordnungen inner-
halb eines angebbaren geographischen Gebietes kontinuierlich durch An-
wendung und Androhung physischen Zwanges seitens des Verwaltungsstabes
garantiert werden.“23) Das Recht ist demnach — zumindest in der Regel —
ein politischer Verband; denn daß der Erzwingungsstab den Bestand und
die Geltung der Rechtsordnung nur „innerhalb eines angebbaren geo-
graphischen Gebietes“, also in räumlicher Beschränkung garantiert, das ist
schon wegen des beschränkten Wirkungsradius jeder empirischen Macht-
quelle unvermeidlich. Man vergesse nicht, daß Weber die Faktizität im
Auge behalten will und daher selbstverständlich eine unbegrenzte Wirk-
samkeit ausschließen muß. Im übrigen ist auch mit dem rein normativen
Rechtsbeeriff irgend eine räumliche Geltungsbeschrinkung keines-
wees unvereinbar.
„Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und
insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen
physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch
nimmt.“») Und so ist das Recht schließlich identisch mit dem
Staat, zumindest aber: der Staat eme Rechtsordnung. Denn „das Monopol
legitimen physischen Zwanges“ muß auch der für das Recht charakteri-.
stische Erzwingungsstab in Anspruch nehmen. „Monopol“ ist nämlich nur
das dem Bereich der Wirtschaft entnommene Bild für „Souveränität“;
die Rechtsordnung aber tritt ihrem Wesen nach als eine souveräne
Ordnung auf, soferne sie eine höchste, von keiner anderen ableitbare und
darum ausschließlich geltende, das heißt jede andere Ordnung aus--
schließende Ordnung zu sein beansprucht. Daß dieser .,.Monopolcharakter™
die Eigenschaft jedes selbständigen Normensystenis ist, habe ich in anderem
Zusammenhange nachgewiesen.25) Das gleiche gilt von der Eigenschaft.
der Legitimitat. Ihrem Sinngehalte nach muß jede Ordnung als „legitime“
gelten wollen. Das liegt im Begriffe des Geltens, und zwar im normativen
ebenso wie in dem „Wirksamkeit“ bedeutenden faktischen. Im übrigen
identifiziert Weber selbst „Legitimität‘‘ mit „Vorbildlichkeit oder Ver-
bindlichkeit‘‘2*), also mit einem dem Begriff jeder Ordnung wesenhaft
23) a. a. O. S. 29.
24) a. a. O. S. 29.
25) Vgl. dazu mein Problem der Souveränität und die Theorie des Völker-
rechts, 1920, S. 187 ff.
26) a. a. O. S. 16.
Der Staatshegiiff der „verstehenden Soziologie“. 117
inhärierenden Moment und subsumiert das Recht unter die Kategorie.
von Ordnungen, deren Legitimität garantiert ist.27)
Weber stellt die Unmöglichkeit fest, einen politischen Verband durch’
Angabe des Zwecks seines Verbandshandelns und erweist die Notwendig- -
keit, ihn „durch das — unter Umständen zum Selbstzweck gesteigerte —
Mittel zu. definieren, welches nicht ibm allein eigen aber allerdings spezi--
fisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die Gewaltsamkcit,“2*) das heißt.
den Zwang. Und fährt dann fort: „Den Staatsbegriff empfiehlt es sich, da.
er in seiner Vollentwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen
Typus entsprechend — aber wiederum: unter Abstraktion von den wie.
wir gerade ja jetzt erleben wandelharen inhaltlichen Zwecken — zu
definieren. Dem heutigen Staat formal charakteristisch ist: eine Ver-
waltungs- und Rechtsordnung, welche durch Satzung abänderbar sind,.
an der der Betrieb des Verbandshandelns des (gleichfalls durch Satzung
geordneten) Verwaltungsstabes sich orientiert und welche Geltung be-.
ansprucht nicht nur für die — im wesentlichen durch Geburt hinein-
gclangenden — Verbandsgenossen, sondern in weitem Umfang für alles
auf dem beherrschten Gebiet stattfindende Handeln (also: gebietsanstalts-
mäßig). Ferner aber: Daß es ‚legitime‘ Gewaltsamkeit heute nur noch
insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zuläßt oder vorschreibt. (Zum
Beispiel dem Hausvater das ‚Züchtigungsrecht‘ beläßt, einen Rest einst-
maliger eigenlegitimer, bis. zur Verfügung über Tod und Leben des Kindes
oder Sklaven gehender Gewaltsamkeit des Hausherrn.) Dieser Monopol-
charakter der staatlichen Gewaltherrschaft ist ein ebenso wesentliches
Merkmal ihrer Gegenwartslage wie ihr rationaler ‚Anstalts-“ und konti-
nuierlicher ‚Betriebs‘-Charakter.‘2») Aus der hier durchgeführten kritischen
Analyse der relevanten Grundbegriffe der ,,verstehenden Soziologie“ geht
hervor, daß Weber sich nicht hätte vorsichtig — die Frage nach dem
Verhältnis von Staat und Recht offen lassend — darauf beschränken
müssen, zu sagen: für den Staat ist eine Verwaltungs- und Rechtsordnung
charakteristisch, sondern der ganze Aufbau des Weberschen Begriffs-
systems drängt geradezu zu der Erkenntnis: der Staat ist eine Rechts-
ordnung. Damit ist die Staatssoziologie als Rechtslehre enthüllt. Daran
kann der stete Bezug auf die Faktizität, die spezifische Einstellung auf
—.
27) a. a. O. S. 17.
28) a. a. 0. 8. 30.
3») a. a. 0. S. 30,
118 Hans Kelsen.
die Fraze nach der Chance eines Ablaufes von Handlungen mit dem Sinn-
gehalt: Staat (oder Recht), nichts ändern. Die primäre, wahrhaft grund-
legende Bedeutung des normativen Rechtshegriffes ist gerade in der
Methode der ‚„verstehenden“ Soziologie unverlierbar festgehalten, denn
diese ist auf den Sinngehalt des Handelns gerichtet, und der stellt sich
dort, wo die Untersuchung auf den Staat zielt, immer wieder nur als der
Gedanke des Rechtes als einer Zwangsnorm heraus. In diesen
immanenten Sinn muß sich die verstehende Soziologie versenken, den
spezifischen Standpunkt der Rechtshetrachtung. muß sie sich zu eigen
machen, soll sie die Handlungen deuten können. In diesem immanenten
spezifisch juristischen Sinne liegt alles beschlossen, was diese Soziologie
über das Wesen des Staates aussagen kann; es ist nicht um ein
Wörtehen mehr, als die normative Rechtstheorie lehrt. Fügt die
Soziologie noch die Frage hinzu: unter welchen Bedingungen und in welchem
Maßeein an der ‚‚Staat“‘ benannten Rechtsordnung, also an einer bestimmten
Ideologie orientiertes Handeln wahrscheinlich ist, so begibt sie sich aller-
dings in eine von normativer Rechtserkenntnis verschiedene Sphäre. Aber
dieses Problem ist sekundären Charakters, das heißt es ist erst nach Er-
mittlung des Sinngehalts stellbar, und keinesfalls liegt in seinem Bereiche
die Lösung der Frage nach dem Wesen des sozialen Gebildes „Staat“.
Wie sehr der juristische normative Gesichtspunkt für die Fr-
kenntnis des Staates entscheidend ist, das zeigen gerade die letztzitierten
Ausführungen Webers. Der ‚Monopolcharakter“ des Staates, beziehungs-
weise der staatlichen Zwangsordnung, das heißt in die Rechtssprache über-
setzt: die Souveränität des Staates, ist natürlich nur für den Bereich norma-
tiver Betrachtung gereben. Daß es einen legitimen Zwang nur insoweit
gibt, als die staatliche Ordnung ihn zuläßt oder vorschreibt, das ist gerade
nur von einem spezifisch juristisch normativen Standpunkt, das heißt in
dem immanenten Sinne des Systems von Rechtsnormen, richtig. Sozio-
logisch, das heißt bei Betrachtung des tatsächlichen Verhaltens der Menschen
„gibt“ es natürlich neben dem staatlichen Zwang, innerhalb des Rechts-
hereiches der staatlichen Zwangsordnung faktisch auch anderen legitimen
Zwang, das heißt Zwangsakte, die die handelnden Menschen tatsächlich an
einer anderen als der staatlichen Rechtsordnung orientieren. Weber selbst
hat ja diesen Unterschied zwischen seiner soziologischen und der juristischen
Betrachtung hervorgehobens*) und erkannt, daß die Ausschließlichkeit der
3) Vgl, oben S. 108, Anm. 7,
Der Staatsbegriff der „verstehenden Soziologie“. 119
Geltung einer Ordnung nur im spezifisch juristischen, das ist normativen
Sinn gegeben ist, während im Bereich des Tatsächlichen die Wirksamkeit
zweier verschiedener Ordnungsverstellungen nebeneinander möglich ist.
(Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß das ganze Problem
ciner Ordnungskonkurrenz nur von einem spezifisch normativen
Standpunkt aus einen Sinn hat und in der Sphäre der Seinserkenntnis
sekundär und eigentlich ganz denaturiert, weil nicht mehr auf gültige
Ordnungen, sondern auf das Vorstellen von Ordnungen und auf das dadurch
motivierte Handeln bezogen, auftritt.) Indem Weber den Monopol-
charakter als zum: Wesen des Staates gehörig behauptet, faßt er den Staat
wesentlich als eine normative Rechtsordnung.
Der nordische nationalökonomische
Kongreß in ene August—September
1920.
Nach den in den „Soziale Meddelser‘‘ des norwegischen ,,Departementet for
soziale saker“ 1) veröffentlichten Berichten.
Von Fritz Hayek (Wien).
Auf Einladung der Schwedischen nationalökonomischen Gesellschaft fand
am 31. August, 1. und 2. September d. J. in Stockholm eine Zusammenkunft
der Nationalökonomen Dänemarks, Norwegens und Schwedens statt, die von
ungefähr 250 Teilnehmern aus den drei Ländern besucht wurde. In der oben
angeführten Zeitschrift veröffentlicht E. Storsteen einen ausführlichen Bericht
über diesen Kongreß, woraus hier das Wichtigste wiedergegeben sei. An den drei
Tagen des Kongresses wurden sechs Hauptvorträge gehalten, je zwei von den Ver-
tretern eines Landes, worauf jedesmal zuerst Vertreter der beiden andern Länder
korreferierten und sich dann eine allgemeine Diskussion anschloß. Den ersten
Vortrag hielt Prof. Jens Warming aus Kopenhagen über „Wohnungsfürsorge
bei privater, kooperativer und kommunaler Bautätigkeit‘. Wie Prof.
Warming ausführt, haben seit dem Kriege auch die skandinavischen Länder
schwer unter der Wohnungsnot zu leiden, was um so mehr zu bedauern ist, als
die Arbeiter deshalb ihre in dieser Zeit stark gestiegenen Löhne ausschließlich
für Nahrungsmittel, Kleidung und Unterhaltung verwenden lernen, so daß sie
auch wenn es wieder einmal möglich sein wird, eine bessere Wohnung zu
bekommen, dafür keine Mittel übrig haben werden. Schon unter normalen
Verhältnissen sei das Bedürfnis dieser Kreise nach einer besseren Wohnung
gering gewesen, während deren soziale Bedeutung doch nicht leicht hoch
genug eingeschätzt werden kann. Wenn nun für dieses anspruchslose Publikum
gebaut werde, das nicht begreift, warum es für eine besser gelegene und
eingerichtete Wohnung mit der gleichen Anzahl Räume mehr bezahlen solle
als für eine gleich große aber weniger gute, sei es nur allzu begreiflich,
daß, bei. auf Gewinn berechneter Bautätigkeit, nur getrachtet werde,
möglichst viele Räume zu erzielen und die Qualität der Bauten arg vernach-
1) Christiania 1920, Heft 8, in Kommission des Stensken-Verlages,
Der nordische nationalékonomiselie Kongreß in Stoekhohn. 121
lassigt werde. Ein Fortschritt im Kleinwohnungsbau sei also nur von einer
nicht auf Gewinn berechneten Bautätigkeit zu erwarten. Prof. Warming
empfiehlt darum stärkste kommunale Bautätigkeit, die noch viel weiter gehen
müsse, als sie schon vor dem Kriege an vielen Orten Preußens und Englands
getrieben wurde. Die Beteiligung der Gemeinden sei dabei natürlıch nicht auf
die Art beschränkt, daß dıese selbst baue, sondern könne auch. wie schon während
des Krieges, durch (rewährung von Zuschüssen geschehen. Doch verlange dies
eine fortwährende Kontrolle der Vermietung und Administration und schaffe
so ein Zwitterding von öffentlichem und privatem Betrieb, das nicht praktisch
wäre. Daneben bleibe noch der Weg, die Bautätigkeit durch gemeinnützige
` Gesellschaften unter kommunaler Unterstützung nach Art der englischen ,,public
utility societies’ ausüben zu lassen. Die Heranziehung der Gemeinden sei jedoch
schon wegen der Schwierigkeit, anderswie Kapital zu beschaffen, jedenfalls not-
wendig. Nur sie könnten den notwendigen energischen und kapitalkräftigen
Bauherrn abgeben und wären dazu auch geeigneter als die von anderer Seite vor-
geschlagenen Baubanken. Sehr zu begrüßen sei der in Norwegen und Schweden
aufgetauchte und in ersterem Staate in gemäßigter Form auch Gesetz gewordene
Gedanke, den Arbeitgebern die Pflicht aufzulegen, bei der Schaffung von Arbeiter-
wohnungen mitzuwirken. Wenn er auch wegen der Gefahr, das Wachstum der
Industrie zu hemmen, nicht immer ganz unbedenklich sei, so sei doch gerade
bei dem gegenwärtigen großen Kapitalwachstum Aussicht auf seine Verwirk-
lichung. Vorläufig sei jedoch die Bautätigkeit der Gemeinden die aussichts-
reichste Art. und der Vortragende führte dazu noch eine große Anzahl von meist.
bekannten, indirekten Vorteilen an, die sich aus ihr ergeben. Freilich hat auch
sie ihre Grenzen und eigne sich vorzüglich zum Bau von Mietskasernen in den
Städten. — Der Vortrag Prof. Warmings hatte eine lebhafte Diskussion zur
Folge, an der sich vor allem J. Rummelhof für Norwegen und Gösta Bragge
für Schweden beteiligten, dieihre Stellungnahme in künftigen Heften der ‚Sozialen
Meddelser‘‘ niederlegen wollen. Zur Lösung der finanziellen Frage wurde außer
einer außerordentlichen Vermögenssteuer von Dr. Kr. Schönheyder (Norwegen)
ein gesetzlicher Ausgleich des Mietzinses alter und neuer Gebäude vorgeschlagen,
Das nächste Thema, die „Geld- und Valutafrage“, leitete am Nach.
mittag desselben Tages der Professor für Nationalökonomie an der Universität
Kristiania Oskar Jaeger durch einen Vortrag ein. Es sieht den Grund der
gegenwärtigen schlechten Geldverhältnisse darin, daß die nordischen Staaten
die Goldwährung aufgegeben haben; sonst wäre die ärgste Preissteigerung
vermieden worden, Nicht nur in der Vertenerung der Produktion sei deren T'reache
122 Fritz Hayek.
gelegen, sondern vor allem in der Verringerung des Geldwertes, die wieder eine
Folge der unbegrenzten (ieldvermehrung sei. Das einzige Mittel dagegen ist
eine Erhöhung des Diskonts. Wäre man bei der Goldwährung geblieben, hätte
sich dieser von selbst reguliert, da die emittierende Bank zum Schutze ihres
Goldbestandes gezwungen gewesen wäre, den Diskontsatz zu erhöhen. Statt
dessen wurde der Diskont gerade in der ärgsten Spekulationszeit herabgesetzt.
Der Krieg hat eine Menge Realkapital vernichtet und mit der daraus folgenden
Preissteigerung hätte sich auch die Rente erhöhen müssen. Und wenn schwedische
Noten ein Agio gegenüber den norwegischen hatten, so hätte Norwegen seinen
Diskont höher hinaufsetzen müssen. als er in Schweden stand, Die einzige Rettung
sei nun die Rückkehr zur Goldwährung, die, wenn sie auch nicht theoretisch die
vollkommenste sci, doch praktisch die meisten Vorteile biete, da sie sich auto-
matisch u Für Schweden eröffnete Prof. Knut Wicksell die Dis-
kussion und faßte die gegenwärtige Situation in folgende drei Punkte zusammen:
1. Heftige Schwankungen der Wechselkurse, 2. den Umstand, daß sämtliche
europäischen Valuten tiefer stehen als die amerikanische, und 3, daß, als die
bedeutendste von allen Erscheinungen, das Gold selbst einen großen Teil dcs
Wertes und der Kaufkraft, die es vor dem Kriege hatte, verloren hat. Um au
ein Ende der täglichen Schwankungen der Valutakurse zu kommen, sollte ein
Übereinkommen zwischen den Zentralbanken Europas getroffen werden, den
Dollarkurs etwa einen Monat hindurch unverändert zu halten. Der sinkende
und wechselnde Wert des Geldes mache es dem Sprecher. unmöglich, die Rück-
kehr zur Goldwährung zu empfehlen, wenn man nicht auf irgendeine Weise
den Goldwert stabilisieren könnte. Das Gold hat nach seiner Meinung seine
Rolle als Wertmaß ausgespielt. Die Rettungslinie sollte nicht die Rückkehr
zum Golde, sondern die Stabilisierung des Preisniveaus sein, wozu entweder
das gegenwärtige Preisniveau beizubehalten oder auf das Niveau von vor dem
Kriege zurückzukehren sei. Dagegen ist der schwedische Professor Eli
Heckscher mit Prof. Jaeger darin einig, daß zur Goldwährung zurückzukehren
sei. Trotz der Mängel dieses Systems seien jetzt jene Länder, die daran fest-
schalten hätten, besser gestellt als jene, die es aufgegeben haben.
(Der nächste Hauptvortrag, den G. Lagerbjelke (Stockholm) hielt, behandelte
„Die Wiederherstellung der Staatsfinanzen nach dem Kriege”.
Wenn auch der Staatshanshalt der nordischen Staaten, gemessen an dem der
Kriegführenden, noch glänzend scheint, so hat er sich doch gegen die Verhält-
nisse vor dem Kriege arg verschlechtert. Namentlich in Schweden hat die neue
Arbeiterschutzgesetzgebung dem Staat große Tasten aufgebürdet. Über die Auf-
Der nordische nationalökonomische Kongreß in Stockholm, 123
brinzung der notwendigen Mittel, besonders in der Frage, ob direkte oder indirekte
Steuern, wurden jedoch in Vortrag und Diskussion die entgegengesetztesten
Meinungen vertreten, und nur in dem Ruf nach größter Sparsamkeit waren sich `
die Redner einig. — Das nächste Thema: „Verlangt die ökonomische Ent- w
wicklung in der Neuzeit Einschränkungen im bestehenden Grund- `
eigentumsrecht ?“ eröffnete der dänische Departementschef H. Waage mit |
seinem Vortrag. Er sieht in den gegenwärtigen Eigentumsverhältnissen ein Hinder-
nis für die Entwicklung der in der Gesellschaft ruhenden Produktionskräfte.
Die Erweiterung des Großgrundbesitzes habe notwendig eine Vermehrung des
städtischen Proletariats zur Folge. Da aber das Proletariat nur indirekt an dem
Fortschritt der Produktion interessiert ist und sein unmittelbares Interesse sich nur
auf die Erzwingung der höchsten erreichbaren Löhne bei möglichst geringer Arbeit
gerichtet ist, muß eine steigende Proletarisierung der Bevölkerung eine ent-
sprechend abnehmende Produktivität zur Folge haben. Und dieselbe. Wirkung
hat es, wenn die Verhältnisse die Leiter der Produktion und die kapitalbesitzenden
Kreise zwingen, sich in ihren wirtschaftlichen Dispositionen ausschließlich von
dem Verlangen nach Rentabilität der Produktion leiten zu lassen; denn in vielen
Fällen ist diese leichter und sicherer durch eine Einschränkung als eine Aus- —
dehnung der Produktion zu erreichen. Alles in allem leide also die Gesell-
schaft unter einer Abnahme der Produktivität, der nur durch eine Reform des
Grundeigentumsrechtes zu steuern sei, die das Recht der Grundbesitzer, andere
von der Benutzung des Bodens auszuschließen, aufhebt oder doch einschränkt.
Jedermann müsse ermöglicht werden, auf billige Weise in den Besitz von Boden
zu gelangen. Die Folge würde zuerst eine Ausdehnung der Produktion durch
Schaffung einer großen Anzahl von Kleinbetrieben sein. Weiter würde der
leichtere Zugang zum Grundbesitz bewirken, daß die Arbeiter größere Forde-
rungen für andere Dienste verlangen würden, was in nicht geringem Grad auf
die Leisturgsfahigkeit der Industrie einwirken würde. Die Preise der Industrie-
artikel würden also steigen, und da somit der Bedarf der bäuerlichen Bevölkerung
nach möglichst billigen Industrieartikeln durch die Tätigkeit der gegenwärtigen
Großindustrie nicht mehr befriedigt werden könnte, wird die ackerbauende
Bevölkerung die Produktion selbst in die Hand nehmen müssen. Dies kann auf
die Art geschehen, daß die Bauern am Land kleinere Fabriken zur Erzeugung
von den am meisten verlangten Industrieartikeln anlegen und diese Fabriken
durch ihre eigene Arbeit während der Zeit des Jahres, da die landwirtschaftliche
Tätigkeit weniger Kräfte verlangt, in Gang halten. Da diese Winterfabriken
überwiegend nach dem kooperativen System angelegt und betrieben gedacht
124 Fritz Havek.
werden müssen. also als Konsumentenvereinigungen, können ihnen nie Absatz-
schwierigkeiten drohen, die die gegenwärtigen großindustriellen Betriebe so oft
beeinträchtigen. Während also unser Grundeigentumsrecht die Bevölkerung vom
Lande vertreibt und in den Städten und Industriezentren zusammendrängt,
hätte die vorgeschlagene’ Reform also die entgegengesetzte Wirkung. Ein großer
Teil der Bevölkerung würde selbst an größtmöghchster Erzeugung interessiert
und die Verbindung zwischen Ackerbau und Industrie, der die Reform den Weg
bauen will, herbeiführen, daß der Produzent auch vielseitiger als jetzt an der Er-
zengung interessiert wird. Eine Reform des Grundeigentums wie sie hier angedeutet
wurde, könne selbstverständlich nicht ohne starke Eingriffe in die jetzige Stellung
der Grundbesitzer durchgeführt werden. Da diese jedoch unschuldig daran
sind, daß das Grundeigentumsrecht in seıner gegenwärtigen Form in immer
steigendem Maße ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung geworden
ist, wäre es sehr ungerecht, wenn die Grundeigner allein die Opfer tragen müßten,
die die Reform verlangt. Deshalb und um eine Schwächung der Produktion
durch diese Änderungen zu verhüten, muß man allzu plötzliche und gewalt-
same Eingriffe in die bestehenden Verhältnisse vermeiden. Redner schlage des-
halb vor: Jeder Staatsbürger solle das persönliche Recht erhalten, soviel Grund-
eigentum zu besitzen als er mıt seiner und seiner Familie Arbeit bebauen könne.
Dieses müsse er um einen mäßıgen Pres erstehen können und die Staatsgewalt
habe daher dafür zu sorgen, daß dıe Anerkennung eines persönlichen Rechtes
auf Grundbesitz keine Preissteigerung herbeiführe. Die aussichtsvollste Maß-
nahme, um Preissteigerungen zu verhindern, sei eine Änderung des geltenden
Besteuerungs- und Enteignungsrechtes, die die Besteuerung des unbeweglichen
Gutes in eine reine Grundwertsteuer verwandle, womit die Möglichkeit gegeben
sei, den Grund zu dem der Besteuerung zugrunde liegenden Wert zu enteignen.
Prof. E. Sommarin (Schwede) knitisierte die Ausführungen Waages
und hielt die vorgeschlagene Enteignung auf Privatantrag für höchst bedenklich.
Auch der Grundgedanke, daß das unbegrenzte Eıgentumsrecht an Grund und
Boden schuld an der abnehmenden Produktivität der gesellschaftlichen Tätigkeit
sei, scheine ihm nicht haltbar. Der Vorredner hätte namentlich die Bedeutung
des Kapitals in der landwirtschaftlichen Produktion übersehen. In der Forderung
nach einer zeitgemäßen Grundsteuer sei er jedoch mit dem Vorredner einig,
doch betreffe dies nicht das Eigentumsrecht selbst; er möchte daher die im Titel
des Vortrages gestellte Frage mit einem bestimmten Nein beantworten. Auch
Prof. Warming ist mit den Ausführungen Waages über die Wirkung auf die
Produktivität nicht einverstanden, Wenn er sich aber auch nicht dessen radikalen
Der nordisehe nationalékonomisehe Kongreß in Stockholm. 125
Lösungsvorschlägen anschließen könne, so mache seiner Ansicht nach doch das
Wachstum des Proletariats eimen kleinen Schritt in der Richtung einer Be-
schrankung des Grundeigentumsrechtes nötig.
Das fünfte Thema „Der Anteil der Arbeiter an der Betriebs-
leitung“ wurde auf Grund eines Referates von Thr. Aarum (Norwegen)
über die Demokratisierung der industriellen Betriebe in England, Deutschland
und Österreich, ferner über die schon früher veröffentlichten Berichte der Arbeiter-
kommissionen und über das Betriebsrätegesetz von 1918 in Norwegen) besprochen.
O. Järte (Schweden) stellte die Verhältnisse in Amerika als nachahmenswert
hin, wo die Verhandlungen zwischen den Fachvereinigungen und den Arbeit-
gebern Betriebsräte völlig überflüssig machen. Throne Holst betont, daß sich
‚die Arbeitgeber in Norwegen dem Entwurf eines Betriebsrätegesetzes gegenüber
vollkommen ablehnend verhalten. Max Ballin (Dänemark) konstatierte, daß
‘der norwegische Entwurf eines Betriebsrätegesetzes noch weit über das deutsche
hinausgehe. Die dänischen Arbeiter bätten sich dagegen noch nicht so sehr in
den Rätegedanken verbissen und sähen ein, daß die Arbeiter heute den Anforde-
rungen, die eine Beteiligung an der kaufmännischen und technischen Leitung
der Betriebe stelle, noch nicht gewachsen seien. Staatssekretär Anders Orne
‘erwartet sich von einer solchen ökonomischen Demokratie noch keinen Frieden
in den Arbeitsverhältnissen, der nur durch eine Beteiligung der Konsumenten
.an der Leitung der Betriebe herbeizuführen sei. Schon ohne Betriebsrat gab
‚es genug Gegensätze, nun würden noch leicht die vereinigten Arbeitgeber und
‚Arbeitnehmer zu den Verbrauchern in Gegensatz treten. Prof. Wicksell sieht
idie Voraussetzungen einer Beteiligung der Arbeiter an der Betriebsleitung eben-
falls in einer Erhöhung ihrer Kenntnisse und Kultur.
Die sechste und letzte Frage auf dem Programm des Kongresses war „Die
Handelspolitik der nordischen Länder nach dem Kriege‘. Konsul
Kurt Bergendahl aus Stockholm leitete die Diskussion mit einem Rückblick
auf den Weltkrieg ein und ging dann auf die besonderen skandinavischen Produk-
tions- und Zollverhältnisse über. Im Anschluß an ihn sprachen N. Rygg, Eh
Heckscher und M. Ballin. l |
Der nächste nordische nationalökonomische Kongreß soll in Norwegen
abgehalten werden. | |
2) Der Mehrheitsantrag der Beratungskommission wurde in Heft 8 von 1919,
der Minderheitsantrag in Heft 2 und das „lov om arbeiderudvalg‘‘ (Betriebsräte-
gesetz) in Heft 7 von 1920, der „Sozialen Meddelser“‘ veröffentlicht.
Überblick
über das Schrifttum des Geldwesens
von 1914 bis 1920.
Von Richard Kerschag].
I.
Hildebrand, Das Wesen des Geldes. Jena 1914. Fischer.
Herzfelder, Die volkswirtschaftliche Bilanz und eine neue Theorie der Wechsel-
kurse. Berlin 1919. Springer. l
Dalberg, Geldentwertung. München und Leipzig 1918. Duncker u. Humblot.
Dalberg, Die ‘Entthronung des Goldes. Stuttgart 1916. Enke.
Knapp, Die staatliche Theorie des Geldes. II. Aufl. München und Leipzig 1918.
Duncker u. Humblot.
Bendixen, Währungspolitik und Geldtheorie im Lichte des Weltkrieges. II. Aufl.
München und Leipzig 1918. Duncker u. Humblot.
Bendixen, Geld und Kapital. II. Aufl. München und Leipzig 1920. Duncker
u. Humblot.
Bendixen, Kriegsanleihen und Finanznot. München und Leipzig 1918. Duncker
u. Humblot.
| Bendixen, Das Inflationsproblem. München und Leipzig 1917. Duncker u.
Humblot.
Moll, Logik des Geldes. München und Leipzig 1916. Duncker u: Humblot.
Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld. Arnstadt
‚1919. Roman Gesell.
= Heyn, Unser Geldwesen nach dem Kriege. 1916. Enke.
Hilferding, Das Finanzkapital. II. Aufl. Wien 1920. Verlag Volksbuchhandlung.
Eulenburg, Das Inflationsproblem. 1920. Sonderabdruck des „Bankarchivs“.
W. Gatzen, Scheckgeld, organische Reichsfinanzreform. Wien. 1919. Ante
portas- Verlag.
W. Gatzen, Geldersatz. Wien 1919. Ante portas-Verlag.
Rosenberg, Valutafragen. Wien 1918. Manz.
Zaglits, Valutasturz — Valutahebung. Wien 1919. Deuticke.
Hollitscher, Die Sozialisierung des Geldes. Wien 1919. Manz.
Hahn, Von der Kriegs- zur Friedenswährung. Tübingen 1918. Mohr.
Kerschagl, Die Währungstrennung in den Nationalstaaten. Wien 1920. Manz
Kahn, Unsere Valutasorgen. Leipzig 1917. Veit u. Co.
Überbliek über das Schrifttum des Geldwesens von 1914 bis 1920. 12i
Fisher, Stabilizing the Dollar. New York 1920. Macmillan.
Vissering, Financial and economic problems. London 1920. Macmillan.
= Cassel, Memorandum on the world‘s monetary problems. London 1920. Harrison
x. Son. l
Dr. Th. Christen, Die absolute Währung des Geldes. Bern 1915. A. Franke.
- Es ist unmöglich, eine Übersicht über die wirklich gesamte ‘Geldliteratur
eines Zeitabschnittes zu geben, da diese so zahlreich ist, daß ein derartiger Ver-
such auf Lückenlosigkeit wohl kaum Anspruch haben könnte. Es soll vielmehr
versucht werden, eine Übersicht und kurze Kritik über die hauptsächlichsten, `
seit 1914 erschienenen Werke der Geldhteratur zu geben, soweit sie tatsächlich
vun Bedeutung sind, das heißt eine neue Erkenntnis oder den Versuch einer
neuen Theorie auf dem Gebiete des Geldwesens darstellen. Die minder be-
deutenden Werke oder Neuauflagen älterer Werke, welche vor dem Jahre 1914
erschienen sind, sind hiebei nur kurz erwähnt. Eine weitere Besprechung der
hier nicht angeführten Werke wird in einer der nächsten Nummern "folgen.
Im Jahre 1914 ist bei Fischer in Jena von Hildebrand das ‚Wesen des
‘Geldes‘*‘ erschienen. Wir finden hier eine rein juridische, ja eher juridisch formale
Betrachtung des Geldproblems und es drängt sich einem unwillkürlich hiebe
der Gedanke auf, daß die staatliche Theorie im Vergleich hiezu doch fast eine
ökonomische Theorie des Geldes darstellt. In der Einleitung wird der Unter-
schied zwischen Kauf und Tausch herausyearbeitet: „Beim Tausch werden
immer individuell bestimmte Dinge gegeneinander umgesetzt... Beim
Kauf dagegen ist höchstens die eine der beiden gegeneinander umgesetzten
Sachen oder diejenige, welche den Gegenstand des Kaufes oder die Ware bildet,
eine individuell bestimmte, während die andere oder diejenige. in’welcher der
Preis vereinbart wird oder welche nur das Mittel zum Kaufe bildet, inimer eine
nur generell bestimmte oder fungibile (vertretbare) ist, ...“ (S. 5.)
Der Kauf sei nicht aus dem Tausch entstanden. Auch sei der Kauf nicht
aus dem Vorhandensein des Geldes, sondern das Geld als meistgebrauchte
Fungibilie eben aus dem Kaufe hervorgegangen (S. 7). Recht interessant sind
die Auseinandersetzungen Hildebrands über die beiden Begriffe Zahlungs-
mittel und Geld. Im Kern läuft die Erörterung allerdings dann darauf hinaus,
daB weder die Banknote, noch irgendein Papiergeld, noch etwa ein Scheck trotz
ihrer Zahlungsmittelqualität wirklich Geld sein können, denn sie stellen nur
eme datio in solutum dar, keine solutio; das kann nur das Geld allein. Allerdings
stellt sich dann heraus, daB eben die Metallqualität des Geldes, oder wenn wir
sagen wollen, seine Vollwertigkeit, eben den Geldbegriff ausmachen und Hilde-
128 Riehard Ker-chagl.
brand bekennt sich so als Metallist. Eine außerordentlich hübsche Darstellung
von Behelfen bei Geldmangel — Hildebrand bringt hier einige Beispiele aus
Virginia und Maryland — sowie eine ausführliche Besprechung der juridischen
Natur der einlöslichen und uneinlöslichen Banknote mit und ohne Zwangskurs
sowie der Staatsnote bilden den Schluß. Was zunächst das inkonvertible
„Papiergeld“ mit Zwangskurs betrifft, in dem die Theorie das „eigen-
liche‘‘ oder „wahre“ Papiergeld erblicke, so verdiene auch dieses, mag es vom
Staate oder von einer Bank emittiert sein, nicht die Bezeichnung ,,Geld‘‘, sondern
nur eines an Geldes Statt verwendbaren Zahlungsmittels, da es seine Eigenschaft
als Zahlungsmittel nur einem Gesetze (!) verdankt und daher nur in solutione,
nicht auch in obligatione ist... Denn wenn nunmehr auch derjenige, welcher
eine Geldsumme schuldet, von der ihm bezüglich der Zahlung zustehenden
„facultas alternativa‘‘ nur noch in der Weise Gebrauch macht, daß er seine
Schuld in dem „Papiergeld“ liquidiert, so ist doch eine Forderung, die auf eine
in der gesetzlichen Rechnungseinheit bestimmte Summe lautet, ihrem Gegen-
stande nach noch immer eine Forderung auf eine bestimmte Gewichtsmenge
gemünzten Metalles und bildet daher nur dieses noch immer das Geld. Die
Bezeichnung „Papierwährung‘“‘ ist mithin ebenso unzutreffend wie die Be-
zeichnung „Papiergeld“ (S. 39, 40ff). Ebensowenig wie die uneinlösliche ver-
diene die einlösliche Banknote mit Zwangskurs die Bezeichnung Geld.
Vielmehr sei auch diese nur ein an Geldes Statt verwendbares Zahlungsmittel.
Denn die Verpflichtung der Bank, ihre Note jederzeit auf Verlangen einzulösen,
dient wohl dazu, deren Wert aufrechtzuerhalten, verleiht dieser Note aber nicht
die rechtliche Eigenschaft eines Zahlungsmittels, die sie vielmehr, ebenso wie
die uneinlösliche Note, dem Zwangskurs verdankt (S. 43). Noch weniger —
wenn hier überhaupt von Gradunterschieden die Rede sein kann -- als die ein-
lösliche Banknote mit Zwangskurs verdiene die einlösliche Banknote ohne
Zwangskurs die Bezeichnung ‚Geld‘. Ja, bei dieser kann man nicht einmal
von einer „Zahlung“, sondern nur von einer Hingabe „an Zahlungs Statt‘
sprechen (S. 44, 45ff)..... Es fällt sehr schwer, sich in eine rein juristische
Betrachtung hineinzudenken, welche, streng formal gehalten. schließlich beim
Metallismus endet. Historisch jedenfalls ist die Sache als Gegenstück zu Knapp
von Bedeutung.
Einen dickleibigen Band hat uns Herzfelder in ‚Die volkswirtschaftliche
Bilanz und eine neue Theorie der Wechselkurse‘‘ beschert. Man erschriekt
ordentlich, wenn man die vielen Seiten bei flüchtigem Durchsehen betrachtet,
die mit Ziffern gefüllt und einer mathematischen Betrachtung des Geldproblems
Üvervliek über das Sehrifitum des Goldwesens voa LDL bis 1229. 129
gewidmet sind. Hiezu kommen noch einige neue ungewöhnliche Ausdrücke,
speziell bei der Wertbetrachtung, sowie eine Ankündigung über die Art, wie
sich der Verfasser die Problembehandlung vorstellt, welche auf den ersten Blick
an die Geheimnisse der Zahlen in einer alchimistischen Hexenküche des Mittel-
alters zu erinnern scheint. „Die reinste Form des Geldwesens wird sich in der
Zukunft nur in den Zahlen offenbaren. Wer nicht rechnen kann und das Geld-
wesen nur philosophisch lösen will, der wird stets an das Hindernis stoßen, seine
besten Gedanken unausgedrückt lassen zu müssen. Die höchsten philosophischen
Wahrheiten müssen sich in der Kombination der Zahlen offenbaren und so ist
die „Zahl“ das Alpha und Omega eines jeden Geldwesens.‘“
Eine recht originelle Art und Weise, das Mengenproblem des Geldwesens
zu betrachten, verblüfft auf den ersten Augenblick. Der Verfasser bekennt
sich nämlich als reiner Chartalist und sagt dann folgendes: „Die Summe aller
Realgüter plus dem Geld bedeutet die absolute Giitermenge; alle Realgüter
tragen ihren Wert in sich selbst, das Geld aber lautet nur auf einen Wert und
entlehnt seinen Wert von der Gesamtgiitermenge, das heißt es zieht gewisser-
maßen einen Teil des wirklichen Wertes der Realgüter an sich. Daher bedeutet
das Geld in zunehmender Menge eine zunehmende Verkleinerung jenes Wert-
teiles, welcher auf jedes einzelne Güterstück entfällt“ (S. 461ff.). Nach längeren
Auseinandersetzungen landet der Verfasser dann glücklich bei einer Art Quanti-
tätstheorie, welche er für die „qualitativ-relative Wertverschiebung‘ als gültig
bezeichnet. Wenn man sich hier, wie überall anders ın dem Buche, nicht an den
fremden Ausdrücken stößt, sondern dem Gesagten auf den Grund geht, so kommt
man schließlich darauf, daß es sich um eine zum Teil mißverstandene Anwendung
der Grenznutzenlehre der Wiener Schule handelt. Das Problem des objektiven
Geldwertes — er nennt es allerdings anders — will er auf mathematischem Wege
und mit Hilfe einer Art Quantitätstheorie lösen, das Problem des subjektiven
Geldwertes auf diesem Wege zu lösen steht er schließlich ab und erklärt es bei
dem derzeitigen Stande der Wissenschaft für nicht möglich. Allerdings glaubt
er, auf mathematischem Wege eingehende Aufschlüsse über die Zirkulations-
geschwindigkeit, das Mengenproblem, das Deckungsproblem, das Preisproblem
des Geldes und das Verhältnis dieser Probleme zueinander geben zu können.
Als den Gipfelpunkt seiner „mathematischen Erkenntnis“: betrachtet er dann
die Bestimmung der „Geldmenge der besten Geldschépfung": en
Bestimmung der Geldmenge der besten Geldschöpfung ist... das doppelte
Produkt aus dem Vorrat mit dem Bedarf, dividiert durch die Summe des Vorrats
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik Neue Folge, 1. Band. 9
„Die
130 Richard Kerschael.
und des Bedarfs.“ (5. 274.)!) Im großen und ganzen ist das Buch reich an einzelnen
guten Einfällen, ohne eingehende Kenntnis des Geld- und Wertproblems und
des Großteiles seiner Literatur von einem findigen Kopf geschrieben: im übrigen
ist Herzfelder wohl nicht der erste und nicht der einzige Autor, der in einer
mathematischen Lösung des Geldproblems den Stein der Weisen zu finden glaubt.
Dalberg hat uns im Jahre 1918 eine zweite Auflage der ‚„Geldentwertung“‘
gebracht. Eine teilweise Erweiterung des wirklich wertvollen Buches hat den
wissenschaftlichen Wert desselben erhöht. Besonders die Kapitel über den
Einfluß der Änderung der Produktionsrichtung sowie über die Entwicklung
des Staatskredites sind außerordentlich lesenswert.... Ein etwas älteres Buch
von ihm ist die ..Entthronung des Goldes“. Es handelt sich im wesentlichen
um praktische Vorschläge für die Politik der Reichsbank nach Beendigung des
Krieges. Im wesentlichen empfiehlt er eine Goldkernpolitik. betont aber stark.
daß bei einer günstigen Produktionsentwicklung und einer dadurch bedingten
günstigen Gestaltung der Handelsbilanz auch eine reine Papierwährung im Bereiche
der Möglichkeit liege. Dalberg befürwortet auch eine möglichst starke. zentral
geleitete, gleichzeitige Ordnung der Produktion und des Geldwesens, damit
dieselben Hand in Hand eine günstige Entwicklung nehmen sollen; ein starker
Einfluß des Staates erscheint ihm hiezu wünschenswert. Die Schrift ist auBer-
ordentlich klar, aber eben vollständig aus der Stimmung des Jahres 1915 heraus-
geschrieben und nur von diesem Gesichtspunkt aus vollkommen erklärlich und
verständlich.
Die zweite Auflage von Knapps ,.Staatlicher Theorie‘ ist im Jahre 1918
herausgekommen und hat eine Anzahl Veränderungen gegenüber der ersten
aufzuweisen. Besonders die Kapitel über die Politik der Österreichiseh-ungarischen
Bank haben wertvolle Ergänzungen und neue Erörterungen aufzuweisen. Eine
dritte Auflage befindet sich derzeit noch im Druck.
Von Bendixen ist eine zweite Auflage von „Geld und Kapital‘ unter dem
neuen Titel „Währungspolitik und Geldtheorie im Lichte des Weltkrieges‘
herausgekommen. Diese Sammlung von Einzelaufsätzen ist stark vermehrt
und durch etliche Erörterungen von Wahrungsereignissen während des Krieges
vervollständigt worden. Interessant ist das Ganze auch als eine Geschichte
der wissenschaftlichen Entwicklung Bendixens selbst. Während die Polemik
„Das Geld als Tauschgut‘‘ gegen Mises vom Jahre 1913 noch ein teilweises
Unverständnis gegenüber dem Problem des subjektiven Geldwertes zeigt, ist
1) Vgl. hiezu auch Bortkiewiez „Der subjektive Geldwert’, Sehmollers Jahr-
buch, XLIV. Jahrgang, 1. Heft.
(berblick über das Schrifttum des Geldwesens von 1014 bis 1920. 131
der Artikel „Geld und Einkommen‘ — eine Entgegnung auf Liefmanns „Geld
und Gold — eine wirklich vorzügliche Erörterung des Einkommenproblenis
und seines Zusammenhanges mit dem Geldwertproblem. Außerordentlich
scharfsinnig findet Bendixen die angreifbaren Stellen in Liefmanns Indi-
vidualismus und sagt ihm, daß die Erklärung wirtschaftlicher Erscheinungen
aus der Individualwirtschaft oft zu einer ganz verfehlten Betrachtung der Ge-
santwirtschaft führen müsse. Geradezu instinktiv findet er in dieser anders
gearteten Grundauffassung von der Wirtschaft die Quelle zahlreicher Irrtümer
und überall blickt seine Ahnung durch, daB es sich hier um mehr drehe. als eine
verschiedene Auffassung einiger ,,Geldfunktionen”.
Sehr gut sindauch Bendixens Ausführungen über die Stellung von Knapps
staatlicher Theorie in der Lehre vom Gelde, welche er im Zusammenhang mit
der Polemik gegen Liefmann bringt. „Mag der Metallist die Knappsche
Lehre bekämpfen, für den Nominalisten enthält sie nur fast selbstverstandliche
Wahrheiten... Man kann Knapps Theorie einseitig formal nennen, man kann
ihr nachsagen, daß sie das Geldproblem nur zum Teile löse,... War Knapps
Lehre bewußt und erlaubt einseitig, insofern sie nur einen Teil des Geldproblems
behandelt, ohne der Entwicklung der Lehre im allgemeinen vorzugreifen, so
st Liefmanns Buch unbewußt und fehlerhaft einseitig, da es das ganze Geld-
problem aus dem einen individual-wirtschaftlichen Gesichtswinkel ausschließlich
zu lösen unternimmt... (S. 144 ff.). Die Theorie des Geldes, wenn sie vollständig
sein soll, erlaubt und verlangt eine Betrachtung sowohl vom öffentlich-recht-
lichen wie vom gesamt-wirtschaftlichen wie auch vom einzel-wirtschaftlichen
Standpunkt. Die Aufgabe des Forschers ist nicht, sich nur einen einzigen Stand-
punkt zu eigen zu machen und von diesem aus die andern Standpunkte leiden-
schaftlich zu bekämpfen, sondern die verschiedenen Perspektiven objektiv zu
würdigen, ihre Beziehungen zueinander festzustellen und die Grenzen zu bestimmen
innerhalb deren die einander scheinbar widerstrebenden Anschauungen Gültigkeit
in Anspruch nehmen können.‘ (S. 146.)
Die letzte Auflage ist stark vermehrt gegenüber der ersten wie der zweiten,
stofflich geordnet und enthält noch einmal die Zusammenfassung aller Ideen,
nit welchen der wirklich bedeutende Mann Knapps „Staatliche Theorie’ ins
Ökonomische zu übersetzen bestrebt war. Wer Bendixen persönlich nahestand,
der weiß, wie er, schon ein schwerkranker Mann, mit Aufbietung seiner letzten
Kräfte an der Vollendung seines Werkes arbeitete. Es ist gewissermaßen sein
Testament in wissenschaftlicher Beziehung. Die Arbeit stellt sicherlich die
beste Schrift des besten Knapp-Schülers dar. Weniger Glück hat Bendixen
132 Richard Kerschagl.
mit seiner 1918 erschienenen Schrift ,,Kriegsanleihen und Kinanznot‘ gehabt.
Bendixens Erörterungen der Finanz- und Kreditnot gipfeln in dem Vorschlag.
die gesamte Kriegsanleihe einfach in Banknoten oder doch zumindest in Reichs-
kassenscheine umzuwandeln. ‘Bei aller Achtung vor den ‚außerordentlich be-
merkenswerten Ausführungen Bendixens, scheint dieser Vorschlag doch außer-
ordentlich von einer Nachkriegspsychose beeinflußt und hat dem Ruf der Charta-
listen nicht gerade genutzt. Der Verfasser hat übrigens selbst in seiner letzten
Zeit die praktische Nichtvertretbarkeit dieses Standpunktes zugegeben. Eine
sehr gute und gründliche Arbeit ist Bendixens ‚Inflationsproblem‘‘. Be-
sonders jene Seiten, welche die Inflation als Wirtschaftsproblem behandeln.
sind lesenswert.
Eine der bedeutendsten Erscheinungen ist jedenfalls Bruno Molls „Logik
des Geldes“. Der Verfasser der „Modernen Geldtheorien im Lichte der Politik
der Reichsbank‘‘ hat mit der ‚Logik des Greldes‘‘ eine überaus interessante
theoretische Untersuchung über das innerste Wesen chartalistischer und metalli-
stischer Anschauungen vom Gelde geliefert. Molls Untersuchungen sind auf
ein bestimmtes Ziel eingerichtet, auf die Frage, was ist das letzte Ende des Geldes ?
Zunächst versucht Moll der Logik des Metallismus nachzugehen: ..Einigen
Metallisten mag der Wert des Edelmetalls als etwas Starres. Festgefrornes
erscheinen — sehr im (iegensatz zu dem modernen Wertbegriff der national-
ökonomischen Wissenschaft —. eine eigenartig-sinnliche Auffassung. Wäre
aber an dem toten Stoff des edlen Metalls irgend etwas gelegen, wenn es nicht
mehr Träger von unzerstörbarem Wert durch Zeit und Raum bliebe? So kann
einseitiger Metallismus zum individualistischen Materialismus der Cieldauf-
fassung werden...
Aber nun könnte der Metallismus auch weniger einseitig auftreten, nämlich
in Kombination mit der sogenannten Anweisungstheorie... Eine Garantie
für die dauernde Erhaltung des Wertes einer Substanz könnte und brauche
kein Staat zu übernehmen. Dies ändere nichts daran, daß der Begriff des Geldes
nach seiner Auffassung immer die Edelmetallqualität fordere. Vielleicht aber
würde er dann auch zugestehen, daß das Ende eines Geldsystems nicht rein
metallistisch gedacht werden sollte, sondern daß man sich hier Sachgüter
und Dienste als Abschluß vorzustellen habe. (S. 34ff.)
Das nächste, die Betrachtung der reinen Anweisungstheorie, zeigt in Wirk-
lichkeit keinen Abschluß, sondern eine unendliche Reihe. Geld wird ausgetauscht
gegen Ware und immer wieder ausgetauscht, es wird unendliche Male ausge-
tauscht und wo man anch die Reihe abbrechen mag, ein Ende ist nirgends abzu-
Überblick über das Sehrifttum des Geldwesens von 1914 bis 1020. 133
sehen... Die Anweisungstheorie liefert also keine Lösung für das Problem
des Endes...“ (S. 40ff.)
Die Untersuchung von Knapps ,,Staatlicher Theorie’ führt Moll wieder
auf die bekannten Schwierigkeiten, welche die Kritik eines rein juridischen
Systems mit sich bringt. ‚In der zirkulatorischen Befriedigung liegt nur ein
Teil der Wahrheit; sie bedeutet zunächst keine Lösung. sondern nur eine reine
Problemstellung. Die Frage bleibt eben: Unter welchen Bedingungen ist ein
(reldsystem möglich, das einzig auf der Vorstellung der zirkulatorischen Be-
friedigung aufgebaut erscheint? Hier taucht aber Zweifel auf: Kann wirklich
im Zirkulieren Befriedigung liegen? ... Der Begriff der zirkulatorischen Be-
friedigung scheint uns bei Knapp in der Luft zu schweben. Formal bleibt
auch Knapp im Rechte...“ (S. 47ff.) |
Eine interessante Besprechung der Lehre vom ewigen Nationalkredit Adam
Müllers (S. 48 bis 56) schließt den ersten Teil des Buches. .. Warum der Begriff
der Unendlichkeit auf das leben der Staaten angewandt. in der wirtschaft-
lichen Logik keine xo große Rolle spielen darf. wie bei Müller. das soll im folgenden
Abschnitt gezeigt werden...‘ (S. 57.) Und nun: ..Letzter Zweck jeder Wirt-
schaft bleibt eben die definitive Befriedigung. zu der alle (reldarten immer wieder
zurückfinden müssen... Auch ein girales System, wohl die höchste Stufe jener
Entwicklung. setzt doch immer den Beginn und als Möglichkeit des Ausgleichs
am Ende voraus. Darüber wird man nie hinwegkominen. und da liegt die logische
(Grenze für die Möglichkeit eines stoffwertlosen Zahlungswesens. Anfang und
Ende verlangen stoffwertvolle Befriedigung.‘‘ (S. 583 ff.)
Ausgezeichnet sind die Ausführungen Molls über die Assignatenwirtschaft,
über das psychologische Problem der Vorstellung einer Realisierungsmöglichkeit
und schließlich seine Kritik der Quantitätstheorie, welehe den letzten Teil seines
Buches bilden.
Im Jahre 1919 ist die dritte Auflage von Silvio Gesells „Natürliche Wirt-
schaftsordnung durch Freiland und Freigeld‘‘ erschienen. Es ist gewiß nicht
uninteressant. jemanden über das Geldproblem zu hören, der auf dem Boden eines
reinen Sozialismus steht, der aber allerdings die einschlägige Geld- und Wert-
literatur nur zum allergeringsten Teile kennt. Hiezu kommt noch, daß er Theorie
und praktisches Wirtschaftsprogramm fortwährend vermengt. Immerhin aber
ist schon die Einleitung, welche die Entstehung des Geldes durch die gesell-
schaftliche und wirtschaftliche Arbeitsteilung behandelt, klar und interessant.
„Darum stockt ja auch sofort die Arbeit, sowie im Absatz der Erzeugnisse
eine Störung eintritt... Und den Absatz, den gegenseitigen Austausch der
134 Richard Kersehagl.
Arbeitsprodukte, vermittelt das Geld. Ohne das Dazwischentreten des Geldes
gelangt keine Ware mehr bis zum Verbraucher...“ (S. 116.)
„Hunger, Durst und Kälte... werden alle, die nicht zur Urwirtschaft
zurückkehren können..., alle, die die Arbeitsteilung, ihr Gewerbe weiter be-
treiben wollen, zwingen, ihre Erzeugnisse gegen das vom Staate ausgegebene
Geldpapier anzubieten... Das Geldpapier verwandelt sich also in Papiergeld:
1. weil die Arbeitsteilung große Vorteile bietet;
2. weil die Arbeitsteilung Waren erzeugt, die nur als Tauschgegenstände
dem Verfertiger nützlich sind;
3. weil der Austausch der Waren, bei einer gewissen Entwicklung der Arbeits-
teilung, ohne Tauschmittel unmöglich wird; -
4. weil das Tauschmittel seiner Natur nach, nur als gesellschaftliches, staat-
liches Geld denkbar ist...‘ (5. 133.)
Gesell bekennt sich schließlich als reiner Nominalist, mit außerordentlich
treffenden Worten schließt er seine Polemik gegen den Metallismus:
„Wir brauchen das Piano nicht als Brennholz, die Lokomotive nicht als
(rußeisen und das Papiergeld nicht als Tapete. Also warum spricht man immer
nur vom Zellstoff. wenn vom Papiergeld die Rede ist ? Warum sprechen wir nicht
vom Tauschmittel?...“ (S. 137.) l
Er kommt aber auch zu dem Schlusse, daß das Geld infolge seiner hervor-
ragenden’ Eigenschaften, die ex heute besitze, wie Wertbeständigkeit, groBe
Konzentration des objektiven Wertes und vor allem dadurch, daß es nur in sehr
geringem Maße dem Anbotszwang unterlieze, gewisse Vorzüge gegenüber der
Ware erlangt habe, vor allem auch gegenüber der Ware ‚Arbeitskraft‘ und daher
die kapitalistische Ausbeutung ermögliche und begünstige (sie!.) Die logische
Kette ,,Geld—Kapitalsbildung — Zins“ sei die Grundlage der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung. Das Geld müsse wieder Ware werden; es sei ja eine Ware,
welche ihren Wert der Nützlichkeit, oder besser gesagt, dem Funktionsnutzen,
ableite. Das Geld darf nicht Zins tragen, es muß dem Anbotszwang unterliegen
und das könne nur erreicht werden durch ein automatisch in einem gewissen
Prozentsatz mit der Umlaufzeit an Wert verlierendes Geld (!). Dies würde nicht
nur die größte ökonomische Ausnutzung einer zirkulierenden Geldmenge be-
deuten, es würde vielmehr auch geeignet sein, den Kapitalszins zu beseitigen
und eine Beihilfe zur Aufrichtung des sozialistischen Staates darstellen, ohne
welche derselbe ganz unmöglich sei. Bei aller Verworrenheit und allen logischen
Seitensprüngen fehlt es nicht an guten und bis zur letzten Konsequenz ausge-
Überblick über das Schrifttum des Geldwesens von 1914 bis 19°90, 135
dachten Gedanken. speziell was das Problem Wirtschaft -- Produktion — Geld
anbelangt.
Im Jahre ly. hat Otto Hey n bei Enke „Unser Geldwesen nach dem Kriege“
erscheinen lassen. Es ist ein recht gutes Buch, welches allerdings in der Zeit
einer so großen Wirtschaftskrise wie heute fast fremd anmutet. Im wesentlichen
handelt es sich hier um die bekannten Vorschläge Heyns für eine Goldkern-
wahrung und eine abermalige Erörterung der Gefahrlichkeit einer starren Gold-
währung, speziell im Falle einer Kreditkrise. Von Hilferdings „Finanzkapital“
ist im Verlage deg Volksbuchhandlung Wien im Jahre 1920 eine zweite Auflage
erschienen. Dieselbe weist keine Veränderungen gegen die erste auf. Das Fest-
halten an dem strengen Dogma des Marxismus puneto Wertlehre und die Un-
kenntnis der Hauptwerke der modernen Geldliteratur — vor allem eine fast
vänzliche Verständnislosigkeit gegenüber Knapp — kennzeichnen das Buch.
Eulenburgs ,.Inflationsproblem™ ist in einem Sonderabdruck des Bankarchivs
von 1920 erschienen und gibt einen interessanten Überblick über die Fragen
des Inflationsproblems. verbunden mit einer wertvollen und sehr genau ge-
arbeiteten Übersicht über die einschlägige Fachliteratur. Von mehr praktischen
Büchern, welche sich in letzter Zeit mit dem Geldproblem und seinen Erscheinungen
befaßt haben, seien nur einige kurz erwähnt. William Gatzen hat ,,Scheckgeld*‘
und .‚Greldersatz‘‘, zwei umfangreiche Erörterungen des bargeldlosen Zahlungs-
verkehrs. seiner Grenzen und Möglichkeiten. erscheinen lassen, welche allerdings
wohl eine ziemlich bedeutende Überschätzung des Wertes und der Bedeutung
des bargeldlosen Zahlungsverkehrs im allgemeinen enthalten. Im Jahre 1918
hat Rosenberg bei Manz seine ..Valutafragen“ herausgegeben, eine Schrift,
welche sich hauptsächlich mit dem durch die zunehmende Geldentwertung
hervorgerufenen Problem der Wertverschiebung temporär verschiedener, im
Nennwert jedoch gleichen Schulden befaßt. 1919 ist bei Deuticke von Zaglits
„Valutasturz - -Valutahebung‘ herausgekommen. eine Erörterung unserer Valuta-
note im Zusammnenhang mit Wirtschaft und Außenhandel. Ebenfalls 1919 hat
Hollitscher bei Manz Die Sozialisierung des Geldes in Deutsehösterreich‘“
erscheinen lassen. Ganz abgesehen davon. daß es sich weder um ein ernsthaftes
Projekt einer Sozialisierung, noch um eine wissenschaftliche Behandlung des
Geldproblems handelt. stellt die Schrift eine zum x-ten Male wiederholte Ab-
wandlung John Law scher Gedanken. betreffend hypothekarische Notendeckung,
dar. Der Titel sollte anscheinend der damaligen „Hochkonjunktur in Soziali-
sierung“ Rechnung tragen. Bei Mohr in Tübingen hat Hahn ‚Von der Kriegs-
zur Friedenswährung‘‘ veröffentlicht. Im wesentlichen handelt es sich hier um
136 Richard Kerschagl.
den Vorschlag, die Einlösungspflicht der Notenbank gegen Gold in eine Abgabe-
pflicht von fremden Valuten gegen eigene Noten umzuwandeln. Das Buch ist
gut und überzeugend geschrieben und betont auch ganz richtig, daß gesunde
wirtschaftliche Zustände die Grundbedingung für die Reform wären. Vom Ver-
fasser selbst, Dr. Kerschagl, ist im Jahre 1920 bei Manz „Die Währungs-
trennung in den Nationalstaaten“ erschienen. Das Büchlein behandelt die Ent-
stehung der neuen Währungen auf dem Boden der ehemaligen österreichisch-
ungarischen Monarchie und die Liquidation der Oesterreichisch-ungarischen
Bank im Zusammenhang mit dem Friedensvertrage. Schließlich erscheinen
auch die Rechts- und wirtschaftlichen Fragen der ungestempelten, falschge-
stempelten und abgestempelten Note berücksichtigt. Es wäre auch noch Kahns
„Unsere Valutasorgen‘ zu erwähnen. In anregender Weise gelangen die Fragen
des Devisenhandels, die Vor- und Nachteile von Zentralstellen für den Ausland-
verkehr und schließlich die Möglichkeit, respektive die Vorteile einer teilweisen
Ausschaltung oder doch wenigstens Verringerung des Devisenverkehrs wirt-
schaftlich schwacher Länder aus dem Wege der Einraumung größerer Wirt-
schaftskredite durch den Gläubigerstaat zur Besprechung.
Mit einigen Worten sei auch noch der Auslandsliteratur gedacht. Im Jahre
1920 ist in New York eine stark umgearbeitete, durch die Erfahrung des Krieges
bereicherte, Ausgabe von Irving Fishers ..Stabilizing the Dollar“ erschienen.
Wieder bezeichnet hier Irving Fisher als den idealen Zweck einer Währung,
daß sie stabile wirtschaftliche Verhältnisse schaffen solle. Auf Grund eines
umfangreichen und sehr interessanten Materials von Indexziffern stellt er nun
dar, welche Wege die Notenemission in den Vereinigten Staaten gehen solle
um jenes Haupterfordernis zu erfüllen. Im Hintergrunde leuchtete der Gedanke
durch, daß die Stabilisierung des inneren Wertes des Dollars zusammen mit der
Stabilisierung des inneren Wertes der anderen Währungen die notwendigen
Grundbedingungen für die günstige zwischenstaatliche Arbeitsteilung und damit
für ein wirtschaftliches Optimum der Weltwirtschaft geben solle. Eines der
bekanntesten Bücher — es Ist ja auch inzwischen ins Deutsche übersetzt worden
— ist sicherlich Visserings „Financial and economic problems“. Das Buch
ist so viel besprochen worden und hat so oft die Grundlage für verschiedene
praktische Vorschläge, speziell in Österreich gebildet, daß ich mich mit der
Inhaltsangabe wohl recht kurz fassen darf. Die Stabilisierung der verschiedenen
Währungen erscheint als notwendige Grundlage für den Wirtschaftsaufbau.
Der beste Weg für eine solche Stabilisierung sei aber die Schaffung einer inter-
nationalen Goldabrechnungsstelle und einer Goldnote. Die Staaten. welche
Uherblick über das Schrifttum des Geldwesens von 1911 bis 1920. 137
das nötige Gold zu hinterlegen hätten, sollten es sich eben ausleihen oder auf
anderem Wege verschaffen. Daß diese Lösung nicht den Kern der Sache trifft
und die Wirtschaftsfrage nicht in genügendem Maße erörtert, das spürt Vissering
selbst, indem er eifrig betont — und das ist ein bedeutender Vorzug gegenüber
den mehr oder minder geistreichen Goldnotenprojekten aus Österreich! —, die
Wirtschaftshilfe müsse natürlich ebenfalls einsetzen; er findet jedoch nicht den
Mut, zuzugeben, daß sein Vorschlag eigentlich mehr technische Bedeutung habe.
Cassel hat sein vorzügliches Memorandum für die Brüsseler Finanzkonferenz
„Menıorandum on the world’s monetary problems‘ bei Harrison & Son in London
in Druck erscheinen lassen. In vortrefflicher Weise bespricht er die Grundlagen
des Wiederaufbaues Europas; Zusammenarbeit, weitestgehende Arbeitsteilung,
Aufhören der staatlichen Papiergeldschaffung und gegenseitige Wirtschaftshilfe,
nicht zuletzt auch von seiten der Vereinigten Staaten, welche die europäische
Wirtschaftskrise am eigenen Leib als eine Überproduktions-, Absatz- und Kredit-
krise zu spüren bekommen. Er rechnet scharf mit den Goldnotenprojekten ab
und erklärt die scheinbare Einfachheit dieser Vorschläge mit Recht als eine
vielleicht sogar bewußte Täuschung über den wahren Charakter des Wirtschafts-
problems (Kap. XI). Er schließt seine Ausführungen damit, daß er erklärt,
eine Lösung der Geldprobleme ohne vorherige Lösung der Wirtschaftsfragen
sei nicht zu erhoffen, die Schwierigkeiten seien natürlich bedeutend größer, als
wenn man nur versuche, an der finanziellen Seite allein herumzudoktern, aber
nur so sei ein schlieBlicher Erfolg überhaupt zu erwarten. Zum Schlusse wäre
noch eines Schweizers namens Christen zu gedenken, der im Jahre 1917 ein
Buch über „Die absolute Währung des Geldes‘ veröffentlicht hat. Es sind Vor-
schläge im Sinne Irving Fishers verbunden mit der Überzeugung, daß gerade
der jetzige Zeitpunkt zu einer Abkehr von der Goldwährung und zu einem Über-
gang zum reinen Nominalismus günstig sei. Es finden sich auch einige treffende
Anschauungen über die Unterkonsumtions- respektive Überproduktionskrise,
welche nach Beendigung des Krieges wohl einsetzen und die durch Schwierig-
keiten währungstechnischer Natur wohl ganz bedeutend gesteigert werden
würde. Das Ganze ist in der Form eines Vorschlages an den Schweizer Bundes-
rat gehalten.
Einzelbesprechungen.
— oo.
I. Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie,
theoretische Volkswirtschaftslehre.
Dr. Michael Hainiseh, Ist der Kapitalzins berechtigt? Voraus-
setzungen und Grenzen des Sozialismus. Leipzig und Wien. 1919, Franz Deuticke.
VI und 100 8S. |
Die hier aufgeworfene Frage beschäftigt heute einen großen Teil der öffent-
lichen Meinung. Die Sozialdemokratie verneint sie bekanntlich und erklärt
den Kapitalzins für eine Form der Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten,
für ein schreiendes Unrecht, das beseitigt werden müsse. Andere sind schwankend
und zweifelhaft und haben weder den Mut noch die klare Meinung, um auf die
heikle Frage eine bestimmte Antwort zu geben, und doch ist sie bei der heutigen
Lockerung der alten Rechts- und -Wirtschaftsbegriffe eine Grundfrage. von
deren Beantwortung die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung, sowie
das Schicksal aller jetzt in der Luft schwirrenden Sozialisierungspläne abhängen
wird. Diese Pläne wollen entweder den Kapitalzins ganz aufheben, konfiszieren
oder mit Entschädigung enteignen, oder ihn nur in gewissen Betrieben zulassen.
sonst aber dem Staate oder den Gemeinden oder gemeinwirtschaftlichen Organi-
sationen zuweisen, während in vielen Arbeiterkreisen die einfache Besitznahme
eines Unternehmens durch dessen Arbeiter als die einfachste und rascheste
Lösung angesehen wird (Syndikalismus, wie man diesen Gewaltakt in Frankreich
nennt). So verschieden diese Projekte sind, ihr Ausgangspunkt ist immer die
Beseitigung oder die Beschränkung des Kapitalgewinnes und ihr theoretischer
Ursprung liegt in der Marxschen Lehre von der Unrechtmabigkeit des kapitali-
stischen Mehrwertes. der den Arbeiter um einen Teil seines Arbeitsertrages
betrügt und, obwohl aller Wert nur durch Arbeit geschaffen werde, dem Unter-
nehmer ein arbeitsloses Einkommen gewährt. Will man aber anderseits gegen-
über diesen sozialistischen Bestrebungen die im Titel des vorliegenden Buches
gestellte Frage bejahen und die Berechtigung des Kapitalzinses vertreten,
dann muß man einen anderen Ausgangspunkt wählen als die Marxsche Theorie,
die bekanntlich den Mehrwert nur aus dem variabeln Kapital (der Aufwendung
für Lohnzwecke) entstehen läßt und jede Wertproduktivität des konstanten
Kapitals (Verwendung von Kapitalgiitern) leugnet und für diese nur den ein-
fachen Ersatz im Produktionsprozeß, wie eine Art Abgleichung, zugibt. Die
Leugnung der Wertproduktivität des Kapitals geht in der Regel von dem viel-
Jeicht ungeschickten Sprachgebrauch aus, der dem unpersönlichen Kapital eine
Enzvklopidien. Dogmengeschichre, Soziologie. theoret. Volkswirtselraftsiehre. 139
selbständige Fähigkeit zuschreibt, übersieht aber dabei. daß die menschliche
Arbeit mit Kapital, das als Werkzeug oder Roh- oder Hilfsstoff verwendet wird,
unzweifelhaft Werte schafft und zwar einen höheren Wert als Arbeit ohne Kapital.
Wenn nun das letztere richtig ist, so muß das Kapital als ein an der Produktion
beteiligter Wertfaktor gelten und dann wird man ohne Bedenken die aufge-
worfene Frage nach der Berechtigung des Kapitalzinses bejahen können. Wie-
viel von dem Gesamtertrag der Arbeit und wieviel davon dem Kapital zuge-
rechnet werden soll. wird dann nicht bloß ein Produktions- sondern auch ein
Verteilungsproblem sein. Daß tatsächlich der Lohnanteil an dem (resamtertrag
der Produktion selbst vor dem Krieg und vor der Nachkriegszeit mit ihren außer-
ordentlich hoch gestiegenen Löhnen bedeutend größer war als der Kapital-
anteil und auch damals schon im Steigen begriffen war, ist durch mehrfache
statistische Arbeiten insbesondere von Calwer aus den Rechnungsergebnissen
der deutschen Aktiengesellschaften (1907 74 : 26°%) und ähnliche Untersuchungen
in Amerika nachgewiesen worden, wodurch die Folgerungen der Ausbeutungs-
theorie einigermassen erschüttert werden; und ebenso verliert diese an Beweis-
kraft, wenn im Falle der Aufteilung des bisherigen Kapitalanteils an die Arbeiter
einer Unternehmung sich nur eine verhältnismäßig geringe Kopfquote für den
einzelnen Arbeiter ergeben würde, wie dies für mehrere große Betriebe rechnungs-
mäßig festgestellt und in der allerletzten Zeit von Rathenau. der nicht als Gegner
des Sozialismus gelten kann, zugestanden wurde.
Der Verfasser des vorliegenden Buches. der alles Einkommen nur aus Arbeit
hervorgehen läßt und darum kein Anhänger der Produktivitatstheorie des Kapitals
ist. der also sich des wirksamsten Arguments für die Berechtigung des Kapital-
zinses begibt. sieht aber gleichwohl die Notwendigkeit einer Begründung des
Kapitalprofits ein und findet diese in der kaufmännischen und technischen Be-
triebsleitung seitens des Unternehmers. der aber dann eigentlich nur einen so-
genannten Unternehmerlohn bezieht. Die im allgemeinen Unternehmergewinn
enthaltene Verzinsung des Anlage- und Betriebskapitals. ‘sei es des eigenen oder
des geborgten. wird dabei ganz beiseite gelassen. Zur Beleuchtung der Leitungs-
aufgabe des Unternehmers bespricht das Buch kurz die Geschäftsführung der
Aktiengesellschaften, in die durch die Aktienform zwar ein unpersönliches Element
hineinkommit. die aber trotzdem durch die maBgebende Stellung der leitenden
Direktoren oft eine diktatorische Organisation angenommen hat. Ohne sich
übrigens länger bei dieser Betriebsform aufzuhalten. geht die Darstellung auf
die Produktivgenossenschaften über, die Marx schon in den sechziger Jahren
der Internationale empfohlen hat. um die Arbeiter zu Unternehmern zu machen
und den Unternehmern den Kapitalprofit nicht mehr zukommen zu lassen.
Die bisherigen Ergebnisse der Produktivgenossenschaften in den verschiedenen
Ländern werden ausführlich geschildert und sie sind nichts weniger als günstig.
Einige von ihnen sind von selbst durch die Notwendigkeit der Kapitalbeschaffung,
durch den Wechsel der Mitglieder und andere Verhältnisse einfach kapitalistische
Unternehmungen geworden, haben also die Vereinigung von Kapital und Arbeit
in der Hand der Arbeiter nicht herbeigeführt ; die meisten dieser Genossenschaften
140 i Einzelbesprechungen.
leiden an Diszipliniosigkeit und an der Unfähigkeit der Arbeiter zur kaufmännischen
Leitung, so daß oft statt einer demokratischen Genossenschaftsverfassung eine
oligarchische Ordnung, selbst mit Zuziehung von Außenstehenden oder gar
eine Art von Diktatur eines einzelnen eintritt. Die Produktivgenossenschaften
sind in den wenigen Fällen ihres Erfolges in der Regel für Anschaffung und Absatz
auf Unterstützung von außen angewiesen, so wie Lassalle ihnen Staatskredit
gewähren wollte oder werden von der Regierung oder Gemeinde oder von einer
politischen Partei patronisiert oder suchen Anschluß an einen Konsumverein,
der ihre Verbindung mit der Kundschaft herstellt; die Hoffnungen. die Marx
auf die Produktivgenossenschaften setzte, seien somit schließlich nicht in Er-
füllung gegangen. Die naheliegende Frage der Gewinnbeteiligung der Arbeiter
an Einzelunternehmungen wird nicht herangezogen. Die Konsumvereine. ins-
besondere jene der Arbeiter, werden ausführlich besprochen, ebenso in der Folge
jene, welche nicht bloß allgemeinen sozialpolitischen Charakter überhaupt haben,
sondern auch solche, welche versuchen zur Eigenproduktion überzugehen. Diese
letzteren müssen übrigens, was hervorgehoben zu werden verdient, auch kapita-
listisch ausgestattet werden, entweder aus dem Kapital oder den Reserven des
Konsumvereines: die allerdings nicht sehr zahlreichen Erfahrungen dieser letzten
Art haben gezeigt, daB die Überschüsse (Kapitalprofit) der gründenden Konsum-
vereine in dem Maße sinken. als die Eigenproduktion ausgedehnt wird. weil
die steigenden Lohnforderungen, die Aufhebung der Akkordarbeit. die Ein-
führung der Zeitvorrückung und die Übertragung der Disziplinargewalt von
der Leitung auf den ArbeiterausschuB eher einen Rückgang der Produktion
herbeiführen. Zur Frage der Ausschaltung des privaten Unternehmertums und
damit der Berechtigung des Kapitalgewinnes wird das staatliche Tabaknıonopol
herangezogen. dessen Gedeihen wesentlich von der Beherrschung des Absatzes
und der Bindung des Bedarfes an feste Typen abhängt. Je freier umgekehrt die
Bedarfswahl ist, desto notwendiger wird der Unternehmer. der für seine Leistung
durch Kapitalgewinn abgefunden werden muß. Dabei wird übersehen, daß die
Monopolverwaltung nicht bloß diesen Unternehmerlohn des Privatunternehmers
entweder bezieht oder sich in Rechnung stellt, sondern auch für den ganzen
Umfang ihres Betriebs auch auf kapitalistischer Grundlage steht, bloB mit dem
Unterschied, daß hier das Anlagekapital für Bau und Einrichtung der Tabak-
fabriken sowie das Betriebskapital zum Ankauf der Tabakblätter vom Staats-
schatz beschafft wird; diese Kapitalien müssen in den Verschleißpreisen (zugleich
mit dem die Steuer vertretenden Teil des Monopolgewinnes) rückerstattet und
verzinst werden und es ist daher auch hier Kapitalwirtschaft vorhanden, nur
nicht private Kapitalwirtschaft.*) Die in einigen Landern als FinanzmaBregel
vorgenommene Verpachtung des staatlichen Tabakmonopols an kapitalistische
Gesellschaften beweist, daß auch hier Kapitalgewinn im gewöhnlichen Sinne
des Wortes erzielt wird und nicht bloß der beschränkte Unternehmerlohn, der
aus der Bindung des Bedarfes hervorgeht.
*) Nach Ad. Wagner (Allg. Steuerlehre S. 498) sind im Reinertrag des Monopols
Kapitalzins, gewerblicher Gewinn und Steuer zusammen enthalten.
Enzvklopiidien, Dogmengeschichte. Soziologie, theoret. Volkswirtschaftslehre. 141
“Die Ausdehnung des Konsumentensozialismus durch Förderung der Eigen-
produktion hält der Verfasser trotz der von ihm angeführten Bedenken und
gegenteiligen Erfahrungen für wohl möglich, die Schwierigkeiten liegen nach
ihm nicht auf dem Gebiete der Schwerindustrie. sondern auf dem der Export-
industrie und auf dem der Landwirtschaft. Bei der ersteren handelt es sich win
den Absatz wohlfeilerer Waren im Auslande und für diese wie überhaupt für die
Auswahl der zahlreichen Fertigprodukte für den ausländischen Markt ist der
Kaufmann als Leiter der Betriebe und des Absatzes nicht zu entbehren. Als
zweites Gebiet. das vom Konsumentensozialismus nicht zu erobern ist, erscheint
die Landwirtschaft. alle landwirtschaftliche Produktivgenossenschaften haben
sich bisher als lebensunfähig erwiesen, ebenso auch die landwirtschaftlichen
Betriebe der englischen Großeinkaufsgesellschaften. Die vorliegende Schrift,
die voll Sympathie für die Sozialisierungstendenzen. aber zugleich objektiv
genug ist, um die (regengründe nicht zu übersehen, stellt an der Hand der bis-
herigen Erfahrungen der Lohnforderungen bei den Eigenproduktionen soziali-
stischer Konsumvereine fest. daß eine sozialistische Gesellschaft nur dann öko-
nomisch befriedigen könne, wenn es gelingt, durch bessere Volkserziehung das
alleemeine Pflichtbewußtsein zu heben, also eine Vertröstung auf eine gründliche
Änderung der Natur der Menschen und namentlich der heutigen Menschen.
Aber nicht bloß die moralischen Bedenken erschüttern die Hoffnungen auf eine
Sozialisierung der Produktion, noch höher schätzt der Verfasser die Befürchtung
ein. daB sich in einer solchen Gesellschaft, die ihre Teilnehmer wenigstens relativ
befriedigen würde. der technische Fortschritt nur schwer durchsetzen könnte,
da er wesentlich durch den Wettbewerb hervorgerufen wird und da, wo dieser
fehlt, die Gefahr der Stagnation vorhanden ist. Solange sich die Sozialisierung
nur auf einige Industriezweige beschränkte, so wären vermöge der Konkurrenz
technische Fortschritte, wenn auch langsamer auch in den sozialisierten Betrieben
zu erwarten und vielleicht durch eine ,,Verkopplung des sozialistischen und indi-
vidualistischen Wirtschaftsprinzips‘' zu erzielen. Je mehr aber die Sozialisierung
auch international fortschreitet, desto mehr fallen alle solche Aushilfsmittel weg.
Es bliebe dann, nach der Meinung des Verfassers, nur zu hoffen, daß es nie an
starken Persönlichkeiten fehlen werde, um den steckengebliebenen Karren wieder
flott zu machen. Sollten sich diese Hoffnungen als eitel erweisen, so bedeutete
die Sozialisierung immerhin einen Verzicht auf den technischen Fortschritt. Mit
diesem für die Anhänger der Sozialisierungsideen nicht gerade sehr tröstlichen
Ausblick schließt das anregende kleine Buch, das auf einer gründlichen Heran-
ziehung der Literatur und der Tatsachen aufgebaut ist. Aber auch für die ent-
schiedene Bejahung der aufgeworfenen Frage nach der Berechtigung des Kapital-
zinses wird keine allgemeine Unterstützung geboten. Nachdem die Produktivität
des Kapitals verneint wird, so engt die Untersuchung den Kapitalzins auf den
Unternehmerlohn ein, der in der Statik als Abgabe für die Freiheit der Bedarfs-
wahl (im Absatz) und in der Dynamik für den uneingeschränkten technischen
Fortschritt gezahlt werden muß.
Wien. E. Plener.
142 O Einzelbesprechungen.
H. Oswalt, Vorträge über wirtschaftliche Grundbegriffe. 8°, 3. Aufl..
Jena 19%. Gustav Fischer, VIII und 163 8.
Die Oswaltsche Schrift ist das einzige deutsche Werk, das geeignet Ist,
die Probleme und in die Denkweise der theoretischen Nationalökonomie ein-
zuführen. Wir besitzen eine Anzahl bändereicher Kompendien, die mit großem
Fleiße und mit mehr oder weniger Geschick allerlei Wissenswertes zusammen-
getragen haben. Wir haben aber kein zweites Werk, das sich angelegen sein
ließe, die theoretischen Fragen in einer auch dem Anfänger und dem Laien ver-
ständlichen Weise zu behandeln. Mengers „Grundsätze der Volkswirtschafts-
lehre würden vielleicht diese Lücke ausfüllen. wenn sie nicht bedauerlicherweise
seit Jahrzehnten aus dem Buchhandel gänzlich verschwunden und in den öffent-
lichen Büchereien so selten wären, daß es außerordentlich schwer fällt. sich dieses
Buch auch nur leihweise zu beschaffen. In Betracht kämen etwa noch Böhm-
Bawerks „Grundzüge der Theorie des wirtschaftlichen Güterwertes“. Diese Arbeit
ist aber nie im Buchhandel besonders erschienen. Sie ist in einem alten Bande
der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik" vergraben. Der Deutsche.
der den Weg zur theoretischen Volkswirtschaftslehre sucht, ist, wenn er nicht
gleich zu so umfangreichen und die schwersten Probleme in monographischer
Darstellung behandelnden Arbeiten wie zu Béhm-Bawerks „Kapital und
Kapitalzins“ greifen will, genötigt, Werke englischer oder amerikanischer Autoren
zu studieren. So entsprechen denn Oswalts „Vorträge über wirtschaftliche
Grundbegriffe’ einem wirklichen Bedürfnis. Sie sind vor 15 Jahren zum ersten
Male erschienen und liegen jetzt in dritter, so gut wie unveränderter Auflage
vor. Man darf sie mit Recht eines der besten Erzeugnisse unseres theoretischen
Schrifttums nennen, und die Ehrung, die ihrem Verfasser von der wirtschafts-
und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt durch die Ver-
leihung des Ehrendoktorates widerfahren ist, ist wohl verdient. Gegenüber dem
Gesamteindrucke der ganzen Leistung. die hier vorliegt, wäre jede Kritik im
. einzelnen unangebracht. Daß der Standpunkt, den der Verfasser in manchen
wichtigen Fragen einnimmt, nicht aufrechtzuhalten ist, kommt gegenüber der
Tatsache, daß seine Gesamtdarstellung methodologisch einwandfrei ist und, was
das allerwichtigste ist, die Probleme scharf herausarbeitet, nicht in Frage. Ich
habe seit Jahren das Buch Studierenden und Männern des praktischen Lebens.
die sich ernsthaft mit nationalökonomischen Fragen beschäftigen wollten, zur
ersten Einführung empfohlen und habe gefunden, daß der Erfolg immer ein sehr
guter war. Daß das Buch. trotzdem sein Verfasser den akademischen Kreisen
fernsteht. in verhältnismäßig kurzer Zeit die dritte Auflage erleben konnte, ist
wohl der beste Beweis dafür, daß die Anteilnahme für die theoretische National-
ökonomie auch im Deutschen Reiche beständig im Steigen ist.
Bedauerlich ist es, daß der Verfasser es unterlassen hat, seinen vortrefflichen
Ausführungen auch einen kurzen Wegweiser durch das volkswirtschaftliche
Schrifttum anzuschließen. Er entläßt den Leser, dessen Interesse für die Theorie
er geweckt hat. ohne ihm zu sagen, wo und wie er sich weitere Belehrungen holen
könne. Es hätte genügt. wenn er etwa ein Dutzend deutsche und ebensoviele
ope e K . . > . ed
Enzvklopidien, Dogmengeschichte. Soziologie. theoret. Volkswirtschaftslehre. 14.
anglo-amerikanische Schriften genannt hätte. Hoffentlich holt er bei der wächsten
Auflage das Versäumte nach. i u
Wien. . Ludwig Mišes.
' ; j t-
Antonio Osorio, Théorie mathématique de l'échange avec une intro-
duction de Vilfredo Pareto, traduit par José D’Alınada, Paris (Ve) 1913,
M. Giard et E. Brière. Vill und 3945. l
WI. Zawadzki, Les mat hématiquesappliqućesà économie politique,
Paris 1914, librairie des sciences politiques et sociales, Mareel Rivière et Cie.
AXV und 327 S. |
Beide vorliegende Arbeiten beschäftigen sich mit der Darstellung der
Probleme der‘ theoretischen Ökonomie unter Anwendung der mathematischen
Methode. Über diese Methodenrichtung und über ihren erkenntnistheoretischen |
Wert befinden sich die Meinungen noch immer im Widerstreit, ja die Zahl der
Geenerschaft hat sich in den letzten Jahren. besonders in Deutschland, wo diese
Riehtung allerdings immer wenig Pflege fand, sogar vergrößert und die methodo-
Insischen Diskussionen, ausgehend von der Windelband-Rickertschen Schule
haben die Gegensätze verschärft. Von den bekannten Einwendungen abgesehen,
wurden in letzter Zeit von tiefzehenden methodologischen Untersuchungen aus.
welche das ganze Wissensgebiet unserer Disziplin betreffen, bedeutsame Bedenken
sven das mathematische Verfahren erhoben, welche mit ihrer absoluten Gültig-
keit allerdings die Mathematik als selbständige Forschungs- und Untersuchungs-
methode in Frage stellen würden. Die Kritik gipfelt in der Hauptsache in folgenden
zwei Punkten: erstens, daß es sich in der Wirtschaftswissenschaft nieht um Güter-
quantitäten handle, sondern als Objekt der Ökonomie allein wirtschaftliche
Handlungen (als Mittel für wirtschaftliche Zwecke), an die allerdings Güter-
uantitäten gebunden sind, in ihrem Zusammenhange in Betracht kämen und
daß diese Mittel nie quantitativen Charakter hätten, sondern nur qualitativ von
graduell verschiedener Intensität wären. Zweitens, könne man folglich auch nicht
von einem Interpendenzsystem von Giiterquantitaten und von einem Gleich-
gewichtszustand sprechen. da es in Wirklichkeit keine unmittelbare Abhängigkeit
von Güterquantitäten gibt, sondern nur von einem System, einer Rangordnung
von leistungsmäßigen Mitteln für wirtschaftliche Ziele als Ausdruck wirtschaft- '
lichen Handelns, woraus sich auch kein quantitatives Gleichgewicht, sondern ein
System der Entsprechung aller Mittel ergebe.
Im Rahmen dieser kurzen Besprechung kann auf eine Replik und genaue
Auseinandersetzung nicht eingegangen werden. Es sei hier nur bemerkt; daB
diese Argumentationen die bisher übliche kausaltheoretische Auffassung der
„Quantitätsökonomie“ überhaupt trifft und nicht nur an die Adresse der mathe-
matischen Ökonomie gerichtet wäre, obwohl diese allerdings daraus Anwendungen
weitgehendster Abstraktion macht; dann müßte wohl auch erst erwiesen werden,
laß diese indirekte Betrachtungsweise für ein engbegrenztes Gebiet der Theorie
sicht als selbständige Uniersuchungsmeihode von großem Wert sein könnte, um
-
144 Einzelbespreelluigeit:
an einem konstruktiven — eben von wirtschaftlichen Handlungen bestimmten —
System abhängiger Leistungsträger oder Güter (kausale Begleitreihe) zu Resul-
taten zu gelangen, welche ohne diese Methode scharfer Spezialisierung und
konziser erschöpfender Deduktionen durch die bloße Analyse der vieldeutigen
Wortsprache kaum zu erlangen wären. Auch die prinzipielle Möglichkeit, die
wirtschaftlichen Mittel in ihrer vergleichsweisen Intensität mathematisch zu
erfassen, kann nicht in Abrede gestellt werden, ebenso schließt auch die teleo-
logische Relation die Anwendung des mathematischen Funktionenbegriffes.
welcher mit dem Kausalitätsbegriff nicht identisch ist, nicht so ohne weiters aus.
Die Resultate jedoch, welche die mathematischen Okonomen in ihren Unter-
suchungen aufzuweisen haben, würden allein die Berechtigung dieser Betrach-
tungsweise ergeben und die Verifikation ihrer Ergebnisse an der Wirklichkeit
zeigt, daß diese Deduktionen aus dem ,,Spiegelbild des wirtschaftlichen Handels’
nicht gar so unzuverlässig und verzerrt sind, als aus den verschiedensten methodo-
logischen Erörterungen zu erwarten wäre.
Methodologische Erörterungen eben allein sind es, in welchen sich die Gegner
in ihrer Polemik erschöpfen, ohne an die konkreten Resultate, auf die oft hin-
gewiesen wurde, heranzutreten. Es ist dies jedoch begreiflich, wenn ınan bedenkt.
daß die Beherrschung dieser Methode allein ein genaueres Studium erfordert und
Viele die Resultate dieser Wissenschaft kennen zu lernen wünschen, ohne in allem
den mühseligen Weg trockener mathematischer Erörterungen mitgehen zu wollen.
Im besonderen hat das deutsche Lesepublikum dafür wenig übrig. Eine Ein-
führung in diese Methodologie, ihre spezielle Anwendung und eine Darstellung
der daraus gewonnenen Resultate gibt es meines Wissens in deutscher Sprache
nicht, so sehr dies auch wünschenswert wäre, was auch der Grund für die geringe
Popularität und für das mangelnde Verständnis dieser Richtung sein mag.
Die beiden eingangs genannten Werke, welche kurz vor dem Krieg — aller-
dings jetzt erst wieder zugänglich — in der französischen Literatur erschienen
sind, dienen teilweise diesem Behelfe.
Das erste und das ungleich bessere von beiden „Theorie mathématique de
l'échange“ ist eine Darstellung des Hauptproblemes der theoretischen Ökonomie.
der ganzen reinen Okonomie in nuce. Osorio beschränkt sich in der Widergabe
der mathematischen Lösungsversuche des Tauschproblemes auf die Theoreme der
hervorragendsten Vertreter der mathematischen Okonomie, der beiden Lausanner
Gelehrten Leon Walras und seines Schülers und Nachfolgers Vilfredo Pareto. In
einer einleitenden dogmenhistorischen Zusammenfassung wird ein kurzes Referat.
über die wichtigsten Vertreter der mathematischen Schule gegeben. Bemerkenswert
und interessant ist, daß sowohl Osorio als auch Zawadzki die Begründer der
österreichischen Schule ihren Problemlésungen nach zu ihrem Kreise zählen, da
eben die Theorie des Grenznutzens als Grenzanalyse ein unbestreitbar mathe-
matisches Kalkül in sich schließt. Jevons und Fisher haben übrigens in ihren
bekannten Bibliographien dasselbe getan. In zwei folgenden Kapiteln werden,
allerdings in sehr breiter Darstellung. die Voraussetzungen für die Theorieu
Walras’ und Paretos entwickelt, die Auffassung Walras’ vom Wesen und den
Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie, theoret. Volkswirtschaftslehre. 145
Aufgaben der Ökonomie und Paretos homo oeconomicus und ophelimite. Der
folgende Abschnitt gehört dem für jedem Ökonomen dieser Schule unumgäng-
lichen Kapitel, wo er sich seiner Haut wehren und seine Methode verteidigen
muß. Nun, Osorio wird es nicht überzeugend genug gelingen, obwohl er ganz
richtig sein Hauptargument auf die logische Struktur der Wirtschaftswissenschaft
stützt, darauf hin jedoch in eine Entwicklung mathematischer Logik verfällt,
was sich bei der Gegnerschaft nicht besonderer Sympatien erfreut. Das über das
Interpendenz- und Gleichgewichtssystem Gesagte entspricht dem Üblichen. Die
vier folgenden Teile nun werden dem großen System von Walras und Pareto
gewidmet. Hierin liegt die verdienstvolle Bedeutung dieser Arbeit. Nicht
referierend und die wichtigsten Kapitel aus den Originalen herausgreifend, wird
diese Aufgabe gelöst, sondern der Hauptinhalt der Theoreme der beiden Gelehrten
wird in kurzer, aber abgeschlossener Darstellung, von überflüssigen Schwierig-
keiten befreit, ohne Essentielles als nebensächlich zu behandeln, zum Vortrag
gebracht. Besonders hervorzuheben ware der Ubervang zum System Paretos im
Ausbau von Walras’ l'équilibre économique durch die Typen l und II (freie
Konkurrenz und Monopol) und die Darstellung von Paretos „Theorie du choix".
Letztere Theorie, welche von einer Wertbasis vollkommen absieht und die wirt-
schaftlichen Probleme zu erfassen sucht, indem es dem Wirtschaftssujekt zwischen
bestimmten Güterkombinationen gleicher, dann verschiedener Intensität die Wahl
gibt, läßt die primäre Geltung der wirtschaftlichen Handlung in den Vordergrund
treten und versucht die quantitative Messung in vergleichsweisen Intensitäten.
Diese Theorie, welche dem mit der Methode nur flüchtig Vertrauten in Paretos
„Manuel‘‘ nur schwer zugänglich ist, wird darstellerisch vollendet vorgetragen.
Es kann hier nur auf die Darstellung selbst verwiesen werden.
Zawadzki gibt in seinem Buche „Les mathématiques appliquées à l’&cononiie
politique‘‘ der Darstellungsweise der mathematischen Anwendung einen breiteren
Raum, doch ohne die gleiche glückliche ‘Wiedergabe von Osorios Buch zu
erreichen, dem es auch an didaktischem Wert nicht gleich kommt. Ergänzend
ist es von Nutzen, indem auf alle bedeutenden Ökonomen mathematischer Schule
Bezug genommen wird. In der einleitenden Dogmenhistorik werden die Vorläufer
der Schule, wie Canard, Whewell und v. Thünen in zu breiter Ausführung
behandelt, sogar der Ableitung der berüchtigten Thünenschen Wurzel entgeht
man nicht. Die Bedenken gegen diese Vertreter der Methode waren immer gerecht-
fertigt, dies war nicht mathematische Deduktion sondern Symbolik. Ein eigenes
Kapitel wird Cournot gewidmet, dessen Monopoltheorie ein klassisches Beispiel
für den Wert mathematisch ökonomischer Erkenntnis liefert. Im folgenden wird
dann die Theorie des Grenznutzens eingeführt, Gossen, der verdienterweise jetzt
immer wieder zu Ehren kommt, Jevons, Walras und die Wiener Schule. In
den drei folgenden Kapiteln wird der statische Gleichgewichtszustand in sehr
ausführlicher Weise besprochen. Die Darstellung von Walras und Pareto wird
leider nicht sehr einheitlich und anschaulich diskutiert. Die übrigen Vertreter
werden nur flüchtig erwähnt, man vermißt zum Beispiel die sehr instruktive —
Dastellung von F. J. Edgeworths contract curve, Irving Fisher wird kaum
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 10
146 | | Einzelbesprechungen.
bemerkt. Vollständig fehlt die Erwähnung von Ph. H. Wicksteed, dessen
allerdings mehr geometrische Darstellung von desto größerer Anschaulichkeit und
Überzeugung auf den Nichtmathematiker wirkt, und von Maffeo Pantaleoni.
wie der übrigen Italiener (Barone, Rossi). In einem Schlußkapitel wırd
Marshalls gedacht und seine Angebots- und Nachfragekurven eingeführt, ohne
jedoch auf seine Renten- und Monopoltheorie Bezug zu nehmen. Auch über die _
Preistheorie der beiden Wiener Autoren Auspitz und Lieben wird in nur kurzer
Weise referiert, Knut Wicksells nur Erwähnung getan. Trotz allem ist ‘auch
hier Gelegenheit geboten, sich mit dem, was die Ökonomen mathematische
Schulung treiben, vertraut zu machen.
Einen Mangel wird der mit der Methode gar nicht vertraute Leser empfinden:
Eine gewisse notwendige Darstellung der höheren Analysis und des Infinitesimal-
kalküls, wenigstens insoweit dies in der Hauptsache in den erwähnten Schriften
zur Anwendung kommt. Im Rahmen der Arbeit Zawadzkis hätte dies Platz
gefunden.
Man mag nun über diese Methodenfrage denken wie man will, die Absicht
der beiden Autoren wäre jedoch bereits erreicht, wenn die Lektüre dem mit der
Materie gar nicht vertrauten Leser die Bestrebungen der mathematischen Schule
in der theoretischen Ökonomie verständlich machte und auch dem dieser Methode
fernstehenden Sozialökonomen ihre Resultate einer kritischen Würdigung
ermöglichte.
Wien. | Ewald Schams.
Plenge, Staatswissenschaftliche Musterbücher, 1. Bd., Die Stammformen
der vergleichenden Wirtschaftstheorie. Gr.-8°. Essen 1919. G. D.
Baedeker. XIX und 173 S.
Das Buch, „Die Stammformen der vergleichenden Wirtschaftstheorie‘‘, ist
ein Bekenntnis zu einer Forschungsrichtung. Plenge hat als Schüler Büchers
früh gelernt mit der vergleichenden Wirtschaftstheorie zu arbeiten. In Leipzig
wurde die vergleichende Wirtschaftstheorie in der sauberen Präparierung, die
ihr Bücher gegeben hatte, in erster Linie als geschichtliches Orientierungsmittel
und Lehrbehelf verwendet. Plenge hat aber später der Theorie eine ganz andere
Stellung im System zugewiesen, indem er in ihr das Band mit der Gesellschafts-
lehre fand und durch sie auf die „allgemeine Organisationslehre‘‘, welche für
ihn die Grundlehre der Gesellschaftswissenschaft ist, überging. ')
!) Plenge, „Drei Vorlesungen über allgemeine Organisationslehre‘- Essen 1919,
Die Auseinandersetzung mit der Theorie erfolgte in der „Grundlegung der ver-
gleichenden Wirtschaftstheorie“‘ (Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung.
Band V, Berlin 1917 S. 39 ff.) Auf Grund dieses Aufsatzes entstanden folgende
Untersuchungen: „Die vergleichende Wirtschaftstheorie bei Karl Marx‘ von
Dr. Bernhard Odenbreit, „Die Entwicklung der vergleichenden Wirtechaftstheorie*
von Dr. Hans Matich, ‚Die Anfänge der Kulturwissenschaft, die sumerische
Tempelstadt von Dr. Anna Schneider, alle Essen 1919 und 1920 in den staats-
wissenschaftlichen Beiträgen bei G. D. Baedeker.
Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie, theoret. Volkswirtschaftslehre. 147
Im Mai d. J. wurde in Münster in Westfalen das erste staatswissenschaft-
liche Unterrichtsinstitut eröffnet und es wird von Plenge geleitet. Den Mit-
gliedern des Institutes wird als der Musterbücher erster Band ‚Die Stamm-
formen der vergleichenden Wirtschaftstheorie‘‘ in die Hand gegeben, „Allgemeine
Organisationslehre‘‘ wird dort gelesen. Darin liegt ein programmatisches Be-
kenntnis. Ohne diese äußerliche Geschichte zu kennen, wird man leicht das Buch
unterschätzen und darin eine Zusammenstellung von Buchstellen sehen, über
die man sich nicht allzuviel Gedanken machen kann.
Im Geleitwort weist der Herausgeber darauf hin, daß er eine alte Idee
verfolgt, wenn er die vergleichende Wirtschaftstheorie in dieser Form wieder
zur Erörterung stellt. Der Hauptzweck ist, das Bewußtsein rauben, daß es sich
hier um abgetane Dinge, gelöste Probleme handelt. Aus der Zusammenstellung
von Verfassern aus den verschiedensten Kulturepochen zeigt sich die starke
Verschiedenheit in der Auffassung und dabeı das gleiche Streben nach Formung
einer Theorie über den Wirtschaftsverlauf. Jede Zeit hat über das Problem
nachdenken, ihr Verhältnis zu ihm suchen müssen. Dazu soll die Zusammen-
stellung auch uns anregen und zugleich bequemes Material bieten. Aber es ist
das Buch nicht allein als Hilfsmittel für die Forschungsaufgabe gedacht, sondern
auch als Lehr- und Lernbehelf, denn viele können nicht mehr durch Selbst-
studium bis zu den Quellen gehen und sich dort selbst ihren Weg suchen. Sollen
sie doch tiefer in die method.schen Fragen eindringen, so muß ihnen das leicht
zugänglich gemacht werden, denn die Studienzeit muß heute meist nach Möglich-
keit abgekürzt werden, um zur Praxis zu kommen. Wenn die Quellen, wie in
dem vorliegenden Buche, meisterhaft übersetzt, knapp und gut ausgewählt sind,
so wird auch der Eiligste Zeit finden, sich mit ihnen zu beschäftigen. Was geboten
wird, wird niemanden, der zu lesen versteht, enttäuschen.
Einige Seiten führen zuerst in die Ansicht der Griechen über den wirtschaft-
lichen Entwicklungsgang ein. Aristoteles, auch da am Anfang der systematischen
Verarbeitung eines bereits reichen Forschungsmaterials stehend, ordnete die
Menschen in bestimmte Klassen ein, je nach ihrer Ernährungsweise, ganz ent-
sprechend der Einteilung des Tierreiches. Aber es ist auch schon die Aufeinander-
folge beobachtet und festzuhalten gesucht und da nicht mehr als Folge ver-
schiedener Ernährungsweisen, sondern bereits als ein Anwachsen des Gesell-
schaftskreises, der jeweils in wirtschaftlicher Verbindung steht. Die Epigonen
des Aristoteles gehen nicht über ihren Meister hinaus, geben aber der Theorie
in ihrer einfachsten Form mehr Genauigkeit.
Unmittelbar auf Aristoteles folgen Stellen aus Adam Smith. Dazwischen
liegt eine ungeheure Spanne Zeit, während der diese Theorie keineswegs vergessen
war, aber sie wurde nicht selbständig ausgebaut, kam nur in Verbindung mit
theologischen und allgemeinen, geschichtlichen Entwicklungstheorien vor. *)
Bei Adam Smith finden wir die alte Theorie von den ‚„Berufsstufen‘“ (so
nennt Plenge die Stnfentheorie nach den verschiedenen Mannesbeiufen: Jäger
nn
148 Einzelbesprechungen.
Fischer, Ackerbauer usw.) in selbstverständlicher Weise als sicheren wissenschaft-
lichen Besitz verwendet. Das wird vielen erstaunlich sein, denn man ist gewöhnt
in Adam Smith den Dogmatiker zu sehen, der die Gesetze eines Wirtschafts-
zustandes aufzudecken sucht, man kennt ihn als Wirtschaftshistoriker nicht.
Man hat das lange übersehen, weil die wirtschaftsgeschichtlichen Beobachtungen
nicht bei der Darlegung der Grundsätze seines Systems in den ersten Büchern
des „Wealth of nations’ stehen, sondern bei der Behandlung der Staatsfinanzen
im 5. Buche. Die gänzlich verschiedenen Formen des Kriegswesens, der Rechts-
ordnung, der Erziehung zwingen ihn zum Vergleich der Wirtschaftszustände und
zur konsequenten Verwendung einer Stufentheorie.
Auf Smith folgt List, der als der eigentliche Schöpfer der Stufentheorie
galt. Nun zeigt es sich, daB er eine schon lange bestehende Theorie aufnahm,
sie aber zum Träger seines Systems machte. Aus der Relativität der Wirtschafts-
politik in den verschiedenen Wirtschaftsstufen leitet er die Forderung nach
Schutzzöllen und Ausbau der Industrie in Deutschland trotz England ab. Das
ganze System Lists mit seinen politisch-wirtschaftlichen Kräftegruppen, die
sich mit jeder Epoche in der Geschichte eines Volkes ändern, beruht auf der
Stufentheorie.
List innig verwandt und anderseits wieder sein stärkster Gegner ist
Marx. Auch Marx schöpft die Schwungkraft seines Systems aus der Geschichte,
besser Geschichtsphilosophie. Durch Hegel ist ihm der Grundsatz alles im
Werden zu begreifen unauslöschlich eingeprägt. Auch Marx sieht die Gesell-
schaftsklassen als Repräsentanten der Wirtschaftskräfte. Dort steht aber das
Zusammenwirken in der nationalen Wirtschaft vor Augen, hier die internationale
Klassenvereinigung. Dieser noch heute unausgetragene Kampf, welcher der
Bildung des Deutschen Reiches vorausging, wird durch kurze Auszüge und an
der Hand der vergleichenden Wirtschaftstheorie zum Bewußtsein gebracht.
Marx selbst ist als vergleichender Wirtschaftstheoretiker wohl nicht allzu hoch
einzuschätzen, denn sein Dogmatismus raubte ihm die historische Objektivität.
Die Stufen Bruno Hildebrands nach dem wirtschaftlichen Verkehrsmittel
sind in dessen Artikel in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik,
2. Bd., der zum Abdruck gebracht ist, entwickelt. Der knappe und gut geschriebene
Aufsatz ist auch heute noch interessant, wenn man sich auch seinen Einteilungs-
grund nicht zu eigen macht. Die Kreditwirtschaft, die er als Stufe der Lösung
der wirtschaftlichen Klassengegensätze in Aussicht stellt, zu prophezeien, ist ihm
durch die sozialistischen Phantasien der Franzosen nahegelegt worden. Er ist da
dem gleichen Einfluß verfallen wie Marx, nur bleibt er bürgerlicher.
Endlich schließt sich ein Auszug aus dem klassischen Aufsatz Schönbergs
„Zur wirtschaftlichen Bedeutung des deutschen Zunftwesens im Mittelalter“ an.
Diese Aufsätze sind auch heute noch das beste, was auf diesem Gebiete geschrieben
wurde und, was neu aus ihnen herausgeholt wird, ist der Nachweis, den Plenge
führt, daß schon die ganze nachher ,,Biichersche Stufentheorie‘‘ genannte wirt-
schaftliche Entwicklungsfolge bei Schönberg zu finden ist. Die ,,Vollstufen‘'
(Hauswirtschaft, Stadtwirtschaft, Volkswirtschaft) lagen für Schönberg leicht
Prakt. Volkswirtsehaftslolre, Wirtschaftsbesehreibung, Wirtschaftsyeschichte. 149
greifbar da, denn ihm standen die Forschungen über das Wirtschaftsleben im
Altertum zur Verfügung, er selbst schaffte sich Klarheit über die Wirtschaft
des Mittelalters und hatte die moderne Wirtschaft vor Augen. Plenge hat die
„Vollstufen‘‘ bereits so geordnet, wie sie später Bücher ordnete und läßt daher
die systematisch durchgearbeitete und scharf zugespitzte Theorie in der Bücher-
schen Fassung fort.
Ein Extempore ist die „islamitische Stadtwirtschaft‘‘ von Schurtz, ein
Versuch auch außereuropäische Wirtschaftszustände in Beziehung mit dem, für
unsere Kultur aufgestellten, Entwicklungsschema zu setzen.
Das Buch wird abgeschlossen durch einen Aufsatz Plenges. in dem er das
Zeitalter der Hegemonialwirtschaft mit dem Zeitalter des Kapitalısmus ver-
gleicht, die innere Verwandtschaft über die Kluft der Kulturverschiedenheit
hinweg darlegt. Dieser letzte Aufsatz ist nicht als ein Abschluß gedacht. sondern
im Gegenteil als eine Aufforderung zur Revision der Theorie, zu einem Versuch
die Wirtschaft einmal nach den Epochen jeder Kultur zu gliedern, sich frei zu
machen von dem (ilauben an das einfache Wachstum der Wirtschaftsgesellschaft
durch alle Zeit und übeı alle Kulturkreise.
Man könnte über die Auswahl deı Verfasser manche Frage stellen und
namentlich hervorheben, daß mit diesen so kurzen Proben die Geschichte der
vergleichenden Wirtschaftstheorie nicht geschrieben ist, aber es sollen ,,Stamm-
formen‘‘ sein, die Ausgangspunkte der Theorien gezeigt werden, die heute zur
Diskussion stehen. Deshalb fehlen auch Hinweise auf moderne Versuche, welche
noch keine feste Form gefunden haben, wie Lamprechts Versuch der sozial-
psychologischen Wirtschaftsstufentheorie.
Der eigentliche Wert des Buches bleibt, daß es ein Ansporn ist, Geschichte
zu begreifen und Gegenwart zu sehen. um das leisten zu können, was die Zeit
von uns veilangt: bewußte Gestaltung der notwendigen Zukunft.
Wien. Hans Matich.
II. Praktische Volkswirtschaftslehre, Wirtschafts-
beschreibung, Wirtschaftsgeschichte.
Dr. Constantin v. Dietze, Stolypinsche \grarreform und Feldgemein-
schaft, herausgegeben vom Osteuropa-Institut in Breslau. 8°. Leipzig und Berlin
1920, Verlag B. G. Teubner, 89 S.
Über die Stolypinsche Agiarreform liegen bisher zwei größere Werke in
deutscher Sprache von Preyer und von Wieth-Knudsen vor. Darüber hinaus
liefert obige Untersuchung sehr wertvolle Aufschlüsse, insbesondere über Wesen
und Entstehung der russischen Feldgemeinschaft. Der Verfasser betont bei
Darstellung und Beurteilung der russischen Agrarreform sehr richtig die Abhängig-
keit und den Zusammenhang der Bauernfrage mit der gesamten Volkswirtschaft
und verfolgt dieses Problem näher. Er schildert die verschiedenen Ursachen,
welche die wirtschaftliche Not des russischen Bauernstandes zu Anfang des
150 Einzelbesprechungen.
20. Jahrhunderts bewirkten. Hiebei verweist er treffend darauf, daß ‚technische
Rückständigkeit, extensive Betricbsform und Landmangel‘‘ enge miteinader
zusammenhängen. Denn Landmangel besteht eben insolange, als die russische
Bauernschaft auf ihrer technisch rückständigen Wirtschaftsstufe beharrt. Nur
liege die Forderung nach mehr Land näher als jene nach betriebstechnischer
Neuorganisation. Der Bauer sieht im Erwerb von Guts- und Staatslandercien den
einzigen Ausweg aus seiner Not und dies erklärt auch seine politische Stellung-
nahme während der Revolution. Selbst durch eine restlose Aufteilung des Groß-
grundbesitzes wäre bestenfalls nur eine vorübergehende Linderung. nie aber
eine Beseitigung des bäuerlichen Landmangels angesichts des fortwirkenden
Bevölkerungszuwachses möglich gewesen. So liegt denn, wie der Verfasser treffend
zeigt, das Problem wesentlich tiefer, indem der Landmangel nur durch eine
dauernde Intensitätssteigerung der Bodenproduktion beseitigt werden
könnte. Da aber wieder auf jeder Stufe der landwirtschaftlichen Entwicklung
der Entfernung vom Markte ein bestimmter Grad von Intensität entspricht, so
hängt jede Intensivierung von Getriebe und Entwicklung der gesamten Volks-
wirtschaft, insbesondere der Ausbildung des Veikehrswesens ab. Darin liege das
Kernproblem der russischen Agrarfrage.
Auf dieser Grundlage zieht der Verfasser nun die Richtlinien für die russische
Agrarpolitik, deren allgemeines Ziel die Anpassung der russischen Landwirtschaft
an den Stand der gesamten Volkswirtschaft sein muß. ‚Die Bildung neuer Märkte
für die Erzeugnisse der russischen Landwirtschaft zu fördern und die örtliche
Verbindung zu den letzteren zu erleichtern, sei eine Aufgabe der Wirtschafts-
und Verkehrspolitik, insbesondere der auswärtigen Handelspolitik, während die
eigentliche Agrarpolitik sich eine der Lage zum Markte entsprechende Intensitäts-
steigerung zur Aufgabe machen müßte‘. Welche Hindernisse aber dieser natürlichen
Entwicklung speziell in Rußland entgegenstanden, das schildert der Verfasse: in
sachkundiger Form. Neben den Hemmnissen einer rückständigen Handels- und
Verkehrspolitik waren es in erster Linie der unerträgliche Abgabendruck, die
rechtliche Stellung des Bauern im Agrarsystem des Mir, schwer zu beseitigende
betriebstechnische Mängel, dann der Fortbestand der „Feldgemeinschaften‘,
welche eine einschneidendere Besserung der landwirtschaftlichen Lage ver-
hinderten. Speziell die Form der Feldgemeinschaft tindet in der Schrift
eingehende Untersuchung und Würdigung. Sie sei für eine Wirtschaft ohne
erheblichen Tauschverkehr charakteristisch, dagegen für ein halbwegs aus-
gebildete Verkehrswirtschaft nicht geeignet, verhindere im Gegenteil das Hinein-
wachsen in eine kapitalistisch ausgestaltete Volkswirtschaft. Das Übel wird durch
die mit der Feldgemeinschaft verbundene Gemengelage und den Flurzwang
betriebstechnisch noch verstärkt. Darum war auch einer der Hauptpunkte der
Stolypinschen Agrarreform speziell die Auflösung der Feldgemeinschaft, vor allem
die Abstellung der sogenannten „Umteilungen‘‘, die Beseitigung der Gemengelage
verbunden mit Abschaffung der bestehende rechtlichen Beschränkungen des
Bauern insbesondere hinsichtlich seiner Freizügigkeit. Eine kritische Beurteilung
der Wirkungen und tatsächlichen Erfolge der Stolypinschen Agrarreform beschließt
Prakt. Volkswirtsehaftslehre, Wirtschaftsbeschreibung, Wirtschaftsgeschichte. 151
die knappe, aber instruktive Schrift, welche eine dankenswerte Bereicherung
unserer bisherigen Kenntnisse russischer Agrarverhältnisse bildet.
Wien. Emanuel H. Vogel.
Ludwig Heyde, AbriB der Sozialpolitik. 8°. Leipzig 1920. Quelle und
Mever (Sammlung: Wissenschaft-und Bildung). VIII und 168 S.
Die ständig wachsende Bedeutung sozialpolitischer Fragen und die große
Anteilnahme, die breite Schichten ihnen entgegenbringen, rechtfertigen mehr
a's vollauf das Erscheinen eines kurzen und allgemein verständlichen Ab-
risses der Sozialpolitik. Der Verfasser — es ist der (ieneralsekretär der
Gesellschaft für soziale Reform in Berlin - hat es unternommen, in knapper
Darstellung ..nicht so sehr in die Pıobleme der Sozialpolitik. als in die
Lösung, die sie gefunden haben“, einzuführen (S. V).
Ein erste: Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Wesen der Sozial-
politik, ihrem Sinn und Zweck und ihren Motiven. Hier tritt des Verfassers
theoretische Grundeinstellung zutage, auf die weiter unten noch zurückzukommen
sein wird. Ein zweiter Abschnitt behandelt in größter Kürze Vorgeschichte und
Geschichte der deutschen und österreichischen Sozialpolitik und weiß nicht nur
den Kampf um die sozialpolitischen Errungenschaften unserer Zeit äußerst
lebhaft vorzuführen, sondern auch die Männer, die dabei im Vordergrunde
standen: Bismarck und Wilhelm II.. Graf Posadowsky und Freiherr
v. Berlepsch (welch letzterem Heydes Schrift gewidmet ist) u.a.m. Es wird
geschildert, wie es zum Sozialistengesetz kam, wie dieser arge Fehlgriff des großen
Kanzlers bald in sich zusammenbrechen mußte und wie schließlich alle Be-
mühungen aus dem Kreise reaktionärer Unternehmer und teils auch Gelehrter
scheiterten. Nichts vermochte sıch dem Fortschreiten der Sozialpolitik auf die
Dauer entgegenzustellen und gerade in unseren Tagen steht ihre Entwicklung
wieder im Vordergrunde.
Der letzte und Hauptteil des Buches bringt eine Systematik nach dem
heutigen Stand der Dinge. Hiebei weicht der Verfasser vom bisher üblichen
Schema mit Glück ab und kommt zu einer Gliederung des Stoffes nicht nach
den Mitteln, die die Sozialpolitik anwendet, sondern nach den Zwecken, die sie
verfolgt. Das ergibt die Dreiteilung: Schutz der Arbeitskraft, Sicherung des
Arbeitsentgeltes und Schutz der Persönlichkeit. Im ersten Unterabschnitt
werden die Vorschriften über Arbeitsdauer und gesundheitlich und sittlich ein-
wandfreie Betriebseinrichtung zusammengefaßt mit Arbeitsvermittlung, Koalitions-
recht und Gewerkschaftswesen. Der Abschnitt ‚„Lohnschutz‘‘ beschäftigt sich
vornehmlich mit der Sozialversicherung (als „Lohnergänzung‘‘), aber auch
mit dem Konsumvereinswesen (als „Lohnverwendungsschutz‘‘) und sonstiger
unmittelbarer Lohnsicherung, die wohl eine geringere Rolle spielt. Der dritte
Unterteil bringt die Maßnahmen, die vor allem auf Schutz der Menschenwürde
des Arbeiters und seiner Persönlichkeit in engeren Sinne abzielen, und leitet
über zu Grenzgebieten der Sozialpolitik wie Bildungswesen und Wohnungs-
frage. All das wird mit Sorgfältigkeit und großer Sachkenntnis behandelt.
152 Einzelbesprechungen.
Vielleicht wäre eine reichlichere statistische Ausgestaltung der Darstellung
manchmal zugute gekommen, doch muß zugegeben werden, daß es schwer ist,
hier das richtige Maß zu finden, ohne den Rahmen des Buches zu sprengen.
Wenn uns der Verfasser in seiner verdienstvollen Arbeit etwas doch
‚vermissen läßt, so ist es eine durchwegs geklärte gesellschaftstheoretische Grund-
einstellung, die überall streng folgerichtig durchgeführt würde. Wenn auch an
einer Stelle „eine Loslösung von aller mechanischen und eine entschlossene Hin-
wendung zu organischer Staatsauffassung‘‘ ausdrücklich gefordert wird (S. 7),
so ist es dem Verfasser dennoch nicht vollkommen gelungen, sich von der Auf-
fassungsart der ersteren ganz zu befreien. Es sei zum Beispie: der Gedanken-
gang, der Sinn und Zweck der Sozialpolitik klarlegen will (S. 3 ff.), kurz wieder-
gegeben: Der Mensch, der sich seiner Sterblichkeit bewußt ist, dessen spekulative
Anlagen aber in die Unendlichkeit führen, kommt zur Frage nach dem Sinn des
Lebens und weiter zum Verlangen nach Unsterblichkeit. Den primitiven beruhigt
die Religion, ‚im nachdenklichen Menschen tritt neben sie (oder an ihre Stelle)
der Glaube an die Erhaltung der persönlichen Leistung in der Entwicklung der
‚Menschheit‘ (S. 3). Um letzteres zu ermöglichen, sind zwei Voraussetzungen
nötig: Erstens „die Existenz der Nation als Mittlerin zwischen Individuum und
Menschheit“ (S. 4) — dies allerdings ein tiefer und wahrer Gedanke, der gerade
heute nicht genug betont werden kann — und zweitens innerhalb der Nation
„eine gewisse Kulturhöhe der rezeptiven Durchschnittsmenschen“, auf daB
das Samenkorn, das der einzelne streut, auf guten Boden falle (S. 4). „So stellt
sich uns Sozialpolitik als eine Kategorie der Kulturpolitik dar“, die in die Breite
dringen will, weil ohne diese Höhe und Tiefe wertlos bleiben (S. 5).
Einer strengen Zergliederung gegenüber erweist sich diese etwas weit-
schweifige Gedankenkette als unzulänglich. Das Individuum, von dessen speku-
lativer Beunruhigung ausgegangen wird, ist hier letzten Endes eine atomistisch
gesehene Einzelkraft. Denn, wenn auch noch so sehr von der Gesellschaft beein-
flußt, steht es dieser als etwas begrifflich außer ihr Seiendes gegenüber. Primär
ist nach des Verfassers Auffassung die im Einzelnen gegebene ‚Spannung zwischen
Lebenswillen und Lebensdauer“ (S. 3) und, um sie. zu lösen, sucht sich dieser
in ein gewisses Verhältnis zur Gesellschaft zu bringen. Von hier aus zu einer
wissenschaftlichen Darlegung von Sinn und Zweck der Sozialpolitik ist ein bedenk-
licher Sprung in der Gedankenführung. Hätte der Verfasser seine oft angedeutete
Überzeugung von der Richtigkeit der universalistischen Gesellschaftsauffassung
bis zu Ende verfolgt, hätte er sich immer vor Augen gehalten, daß die Gesell-
schaft begrifflich vor dem Einzelnen gegeben sei, dann wäre er ohne Umwege
zu der Erkenntnis gekommen, zu der er nun nach abwegigen Beweisführungen
etwas unvermittelt gelangt, daß Staat und Gesellschaft die benachteiligten
sozialen Klassen schützen müssen, so wie jeder Organismus seine schwachen
Organe schützen muß. Funktionsstörung eines Organes bedeutet Störung, ja
unter Umständen Zerstörung des ganzen Organismus, da dieser eine Wesens-
einheit, nicht -vielheit darstellt. Bei dieser Einstellung wäre der Verfasser auch
von selbst dazu gekommen, in der Entstehungsgeschichte. der deytschen Sozial-
Prakt. Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsbeschreibung, Wirtschaftsgeschichte. 153
politik deren in erster Linie bedeutungsvollen Zusammenhang mit dem univer-
salistischen Gesellschaftsbegriff der deutschen Philosophie an den gebiihrenden
Platz zu stellen.
Bei alledem sei es nochmals betont, daß Heydes „Abriß‘‘ auch in seiner
heutigen Form eine äußerst verdienstvolle Leistung ist. Ist er doch derzeit das
einzige Handbuch, das auf dem Laufenden in der Gesetzgebung ist, und eines
der wenigen. das auch Österreichs Verhältnisse durchgängig mitberücksichtigt.
Wir Deutschösterreicher begrüßen das auf das herzlichste und können für eine
folgende Auflage den Wunsch nach mehr in dieser Hinsicht nicht unterdrücken.
Das Büchlein wird sich sicher in weitesten Kreisen, wo immer es hinkommt,
Freunde erwerben. Große Verbreitung und Anerkennung ist ihm nur zu wünschen.
Wien. G. Seidler-Schmid.
Th. Hüpeden, Zur Arbeitslosenversicherung. Mit einer Übersicht der
Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. 8°, Leipzig 1920, Felix Meiner, 47 S.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Handbuch für Industrielle und Gewerbe-
treibende. Herausgegeben vom Hauptverband der Industrie Deutschösterreichs.
Lex.-8°. XV und 416 S. Wien und Leipzig 1920, Franz Deuticke.
Th. Hüpeden’s kurze Schrift will die hauptsächlichsten, bisher erstatteten
Vorschläge auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung untersuchen und an-
schließend eigene Anschauungen darüber darlegen. Der Verfasser entscheidet sich
für Versicherungszwang und Zwangsversicherung unter Berufung auf die an ver-
schiedenen Stellen gesammelten Erfahrungen und befürwortet weiter den in den
letzten Jahren von den freien Gewerkschaften gemachten Organisationsvorschlag,
der eine Anlehnung der Reichsarbeitslosenversicherung an die Einrichtungen der
Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung verlangt. Diese Idee wird in
manchem umgestaltet, bezüglich ihrer versicherungs- und verwaltungstechnischen
Probleme durchgeführt und ihre Vor- und Nachteile werden in aller Kürze
sachlich beleuchtet. Vor allenı verdient es hervorgehoben zu werden, daß der
Verfasser in seinen Vorschlägen vor straffer Zusammenfassung der Kräfte und
Unterordnung des einzelnen unter den Gemeinwillen nicht zurückschreckt. Den
entsprechenden Schluß des Schriftchens bildet eine Übersicht der Mittel zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit: von Notstandsarbeiten und Arbeitsnachweis-
wesen bis zu staatlicher Planwirtschaft und allgemeiner Arbeitspflicht. Die
idealste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit wäre immer vorbeugende Ver-
hütung. —
Die sozialpolitische Gesetzgebung vnseres jungen Staatswesens hat bereits
einen stattlichen Umfang angenommen und so sah sich der ‚Hauptverband
der Indnstrie Deutschösterreichs‘ veranlaßt, alle jene Gesetze und Voll-
zugsanweisungen, die seit Bestehen der Republik in das Verhältnis zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer eingegriffen haben“ (S. XIII), in einem Hand-
buch gesammelt herausgeben zu lassen. Da der Zweck des Buches ein rein prak-
tischer ist — es will ein „Betriebsbuch‘‘, ein Nachschlagewerk für das tägliche
Leben sein — und ausdrücklich auf theoretische Erörterungen verzichtet wird,
154 Einzelbesprechungen.
kann es sich hier nur um einen kurzen Überblick dessen, was es inhaltlich bietet.
handeln. Dr. Max Kaiser, Generalsekretär des Hauptverbandes der Industrie
Deutschösterreichs, kommentiert den Text des Betriebsrätegesetzes, der dies-
beziiglichen Vollzugsanweisungen, das Koalitionsgesetz und die §§ 11545 und
1155 a. b. G. B. (Fortbezug des Entgeltes bei zufälliger, kurzer Verhinderung
an der Dienstleistung). Dr. Eugen Margaretha. Sekretär des Wiener
Industriellenverbandes, behandelt das Einigungsamt. Dr. August Demel-
Elswehr, Sekretär des Hauptverbandes der Industrie Deutschösterreichs. das
Gewerbegericht. Sektionschef Ing. Viktor Würth stellt die Gesetze und Vor-
schriften über Unfallsverhütung, Hygiene u. ä. zusammen, Dr. Siegfried
Camuzzi, Sekretär des Hauptverbandes der Industrie Deutschösterreichhs,
befaßt sich im Abschnitt „Das Arbeitsverhältnis‘‘ mit den Neuerungen auf dem
Gebiete der unmittelbar das Arbeitsverhältnis berührenden Gesetze und Vollzugs-
anweisungen. Dr. Theodor Schneider, ebenfalls Sekretär des Hauptverbandes
der Industrie Deutschösterreichs, bearbeitet den umfangreichen Stoff der ,,Ver-
sicherung der Arbeitnehmer‘.
Der Wert des Buches liegt darin, daß es den Text der (iesetze und Ver-
ordnungen für den ganzen Umkreis äußerst übersichtlich zusammenfaßt, und
seine Brauchbarkeit wird noch beträchtlich erhöht durch den Umstand, daß
es erläuternde Bemerkungen hervorragender Praktiker und ein sehr detailliert
angelegtes Inhaltsverzeichnis und SCHIASMGEEIESINET anfügt.
Wien. | G. Seidler-Schmid.
Sidney Osborne. The Upper Silesian Question and Germany's
Coal Problem. In two parts. 8°. London 1921, Allen & Unwin. 285 p.
Osbornes fesselnd geschriebenes Buch verdient eine besondere Würdigung
an dieser Stelle nicht so sehr wegen wesentlich neuer Forschungsergebnisse. als
vielmehr deshalb, weil es mit seltenem Mut und durch nichts getrübten Scharf-
blick der Welt eine unumstößliche Wahrheit verkündet. die nicht überall gerne
gehört wird. Die Wahrheit nämlich um das deutsche Land Oberschlesien und
die mit seinem Schicksal eng verknüpfte Kohlenfrage Deutschlands und ganz
Suropas. Der Verfasser geht von Schlesiens natürlich-geographischer Einheit
aus, die durch sein Berg- und Flußsystem fest bestimmt ist. Dann zeigt er
geschichtlich, wie Oberschlesien, das im frühesten Mittelalter vorübergehend
unter polnischer Herrschaft stand. schon seit einem Jahrtausend germanisches
Gebiet ist und im Jahre 1336 (durch Kasimirs Verzicht) endgültig und unwider-
ruflich Teil des Deutschen Reiches geworden war. Als solcher nahm es seinen
wirtschaftlichen Aufschwung, als solcher wurde es ein Bergbau- und Industrie-
gebiet allerersten Ranges. Der Verfasser bemüht sich darzulegen — und darin
möchten wir rein wissenschaftlich sein Hauptverdienst erblicken —, wie Ober-
schlesien nun mit unzähligen organischen Fäden an Deutschland verknüpft und
mit ihm verbunden ist. wie eine Trennung beide Teile bis zur Vernichtung ver-
stümmeln müßte. (,.Indeed. for Upper Silesia. there could be no other possible
orientation of its life and industry than this close relationship with Germany...“
Prakt. Volkswirtschaftslelire, Wirtschaftsbeschreibung. Wirtschaftsgeschiehte. 199
S. 111; oder: ,, The fate of Silesian trade and industry has been so inextricably
bound up with the other parts of the realm that amputation of a part would
unquestionably so affect the whole as to strike at the very life and vitality of the
nation.“ S. 119.) Oberschlesiens verkehrsgeographisch ungünstige Lage wird
durch den Anschluß an das deutsche Schiffahrtskanal- und Eisenbahnnetz halb-
wegs ausgeglichen. Einen großen Teil der Nahrungsmittel für seine dichte Be-
völkerung bezieht es aus dem anliegenden Ostdeutschland. wofür es dorthin
künstlichen Dünger liefert. Seine Kolllenförderung — natürlich der weitaus
wichtigste Lebensnerv des Landes — machte vor dem Krieg ungefähr ein Viertel
der gesamten deutschen Kohlenförderung aus (44 von 187 Millionen Tonnen).
Damit steht und fällt Deutschlands Industrie. Die chemische Industrie insbesondere
ist aber wieder der notwendige Abnehmer der Abfallerzeugnisse von Ober-
schlesiens Hochöfen. Anderseits arbeitet ganz Oberschlesien, Bergbau und
Industrie, mit deutschen Rohstoffen und Maschinen, braucht ununterbrochen
Ersatzteile und Neueinrichtungen ausganz Deutschland. All das (und noch manch
anderer bedeutungsvolle Zusammenhang) wird in Osbornes Buch ausgeführt,
auch vielfach statistisch belegt und ergibt das lebendige Bild eines ganzen,
einheitlichen und unzertrennbaren Wirtschaftskörpers: Deutschland und Ober-
schlesien.
Schließlich wird (wieder mit statistischen Angaben und Tafeln) die Stellung
von Deutschlands Kohlenproduktion innerhalb der der Welt behandelt. Über-
ugend schließt das Buch mit dem Ergebnis: Deutschlands ungestörte und volle
Aohlenförderung bedeutet nicht nur keine gefährliche Nebenbuhlerschaft für
Europas anderes großes Kohlenland England, sondern ist für das wirtschaftliche
(und mittelbar politische) Gleichgewicht der Welt eine Bedingung, die nicht zu
umgehen ist. (Die einzige Lösung der Kohlenversorgung der Erde „is for the
Allied Governments to kecp their hands off Upper Silesia, and permit no inter-
ierence on the part of Poland with the natural, historical. political and economic
relationship of that country with Germany. That is the solution of Germany's
coal problem and the only possible solution thereof’. S. 220.)
Wien. G. Seidler-Schmid.
A. Sartorius von Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte
[815 -1914. Gr.-8°. Jena 1920, Verlag Gustav Fischer, X und 598 S.
Die Geschichte der deutschen Volkswirtschaft von den Befreiungskriegen
bis zum Weltkrieg zu schreiben. ist eine dankbare, aber auch schwierige Aufgabe.
Sie erzählt von dem ungeheuren Aufstieg einer wenig entwickelten, in sich zer-
paltenen, unselbständigen, verhältnismäßig armen Wirtschaft zu einer einheit-
lichen, blühenden, selbständigen, fest im ganzen Weltverkehr verankerten
Volkswirtschaft. So klar und einfach auch Anfang und Ende sind, so zahlreich
und verwickelt sind die Probleme, die den Werdegang begleiten.
Die Hauptaufgaben, welche die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert
zu bewältigen hatte und die daher in einer Darstellung meines Erachtens das
Gerüst bilden müßten, waren zuerst die Überwindung der Nachwehen der napo-
156 Einzelbesprechungen.
leonischen Kriege, dann die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes
und Inlandsmarktes, die Befreiung vom Druck überlegener auswärtiger Kon-
kurrenz und die Erringung einer Stellung auf dem Weltmarkte, der Übergang
vom handwerksmäßigen Kleinbetriebe zum technisch vollkommenen Groß-
fabriksbetriebe, die Rationalisierung der Wirtschaft im Einzelbetriebe bis zur
zweckmäßigen Ausgestaltung der Gesamtvolkswirtschaft und schließlich die
Beschaffung des notwendigen Kapitals. Keine feste Bahn, keine gesicherte
Linie, keine alte Erfahrung, immer neue, immer raschere Veränderung, Über-
gangswirtschaft in jeder Hinsicht und Umorganisierung, das ist die Signatur
des Zeitalters. Eine kurze Gegenüberstellung der deutschen Wirtschaft des
19. Jahrhunderts und etwa der englischen oder französischen würde am besten den
besonderen Werdegang der ersteren beleuchten, wozu auch Hinweise auf Amerika
sehr lehrreich wären. Der Merkantilismus hat sich als politisches System in den
westlichen Ländern auf das ganze Staatsgebiet erstreckt, er hat dort die politischen
Voraussetzungen für ein einheitliches Wirtschaftsgebiet geschaffen, während er in
Deutschland sein Ziel im landesfürstlichen Kleinstaat sah, also in der Errichtung
von kleinen landwirtschaftlichen Wirtschaftseinheiten; Deutschland stand also
um eine weite Entwicklungsphase hinter den Weststaaten. England hatte seine
Industrie technisch ausgestalten und finanziell kräftigen können, als Deutschland
‘eben anfing eine namhaftere Industrie überhaupt einzurichten, Englands
Industrie hatte einen weiten Markt, den die deutsche erst erringen mußte. Die
englische Industrie war in der Lage, die Entwicklung zur Großindustrie langsamer
durchzumachen dürch Ausgestaltung der älteren Werke, Deutschland mußte.
als es einmal selbständig war, fast unvermittelt zur GroBindustrie übergehen,
darausergabsich vielfach einerationellere, technisch vollkommenere Ausgestaltung,
aber auch die Notwendigkeit, mit Kredit zu arbeiten. Die Ersparnisse des einzelnen
Industrieunternehmens genügten zur Ausgestaltung nicht, es mußten die Er-
sparnisse der ganzen Volkswirtschaft herangezogen werden, daher die ungeheure
Entwicklung der Industriebanken, des Aktienwesens. Die Lösung der Arbeiter-
frage konntein England nach Uberwindung der Auswiichse des jungen Kapitalismus
in Angriff genommen werden, als in Deutschland dieses Problem infolge der mit hef-
tigstem Ungestiim beginnenden Vollindustrialisierung erst einsetzte, um dann aller-
dings so viel wuchtiger das Wirtschaftsleben zu erschüttern, daß hier der ohnehin
zu obrigkeitlicher Regelung aller Fragen des öffentlichen und Wirtschaftslebens
leichter geneigte Staat eingreifen mußte. Auch Deutschland war bei Beginn
des Weltkrieges jener Lösung nahe, die aus einem international orientierten
Proletariat eine deutsche Arbeiterschaft machte. Die am nationalen Kulturleben
beteiligte Arbeitergewerkschaft, die genossenschaftlichen Kleingewerbetreibenden.,
die zum Kartell vereinigten Großbetriebe, sie alle waren deutliche Zeichen der
Überwindung jener durch die Übergangswirtschaft bedingten freien Wirtschafts-
form, des Kapitalismus. Die deutsche Wirtschaft war eine Volkswirtschaft
geworden, weil Deutschland ein einheitliches. eng zusammengeschlossenes Wirt-
schaftsgebiet geworden war und weil die Gewinne aus der wirtschaftlichen Arbeit
dem Ganzen zugute kamen und nicht von einzelnen zurückgehalten wurden.
Prakt. Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsbeschreibung, Wirtschaftsgeschichte. 157
Die außergewöhnlichen, aber unsicheren Gewinne ebbten ab, noch ein Menschen-
alter der Ruhe und Deutschland wäre vielleicht zum Staate Fichtes und Hegels
reif gewesen. |
Warum ich diese Dinge so breit ausführe? Weil sie mir im vorliegenden
Werke kaum berücksichtigt erscheinen. Im einzelnen sind zahlreiche derartige
Gedanken zu finden, aber sie bilden nicht die festen Richtlinien, v. S. trägt
zahlreiche Bausteine zusanımen, türmt sie hoch auf, aber es entsteht nicht ein
einheitliches geschlossenes Gebäude. Wir besitzen für den gleichen Gegenstand
in der „Deutschen Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert‘ von W. Sombart ein durch
den Glanz der Darstellung hervorragendes Werk, dem aber der Fehler anhaftet.
daB es allzusehr bestrebt ist, einheitliche Grundlinien und primäre Ursachen
aufzudecken. Wer Sombarts Buch liest, wird sich ein Bild machen können.
freilich eines, das mitunter kräftiger Korrekturen bedarf. Immerhin ist aber
Sombarts Streben, den Stoff zu durchdringen und zu großen Linien zu gelangen,
voll anzuerkennen und hätte auch für v. S. als Muster für eine große Darstellung
gelten können. l
v. N. teilt den Stoff chronologisch in fünf Abschnitte, denen er eine Übersicht
über die vorangegangene Zeit vorschickt. Der erste Abschnitt reicht bis zum
Abschluß des Zollvereines, der zweite bis 1848, der dritte bis zur Reichsgründung,
der vierte bis zum Sturze Bismarcks, der letzte bis zum Weltkrieg. Die einzelnen
Abschnitte sind in eine Reihe von Kapiteln gegliedert, welche die Industrie, die
Landwirtschaft, den Handel, das Bankwesen, Transportwesen und jeweils
besonders hervortretende Fragen, wie die Gründung des Zollvereines, des Nord-
deutschen Bundes, die Eingliederung von Elsa8-Lothringen in die deutsche
Volkswirtschaft, das Jahr 1873 und die Kolonien betreffen. Es ist kaum möglich,
eine in jeder Hinsicht zutreffende Einteilung durchzuführen, immerhin schiene
mir eine Dreiteilung bis zum Zollverein, bis zur Reichsgründung und bis zum
'eltkrieg die Zusammenhänge besser zu erfassen, als dies durch Einschaltung
von zwei weiteren, durch den Wechsel der Konjunktur begründeten Abschnitten
geschieht. Zuviele Abschnitte führen zu einer mehr zuständlichen Schilderung
von Stufen und zerreißen für die Darstellung das Bild des ununterbrochenen
Werdeganges. `
v. S., der wissenschaftlich als Verteidiger der Schule der historischen National-
ökonomie die theoretische Nationalökonomie meines Erachtens nicht richtig
beurteilt, vertritt in seinem Werke den preußischen, und zwar den Regierungs-
standpunkt. Es ist daher begreiflich, daB er die liberale Wirtschafts- und die
sozialdemokratische Parteipolitik aufs entschiedenste bekämpft. So gerne man
einzelnen seiner Einwände beipflichtet, so wirken sie in einem Werke, das Geschichte
sein will, durch. ihre Einseitigkeit oft befremdlich. Gewiß braucht der Historiker
nicht mit seiner persönlichen Überzeugung zurückhalten, aber er soll sich nicht
zum Richter aufwerfen. Eine Zeit und eine Bewegung in ihren Ursachen, ihrem
Fühlen und Streben verstehen und begreifen und dieses Verständnis den Lesern
vermitteln, das ist seine Aufgabe, nicht aber Urteile fällen, die als nachträgliche
Prophezeihungen allzu billig sind, als Ansicht eines politischen Gegners den Wert
158 Einzelbesprechungen.
von Quellen besitzen können, aber in einer allgemeinen Darstellung besser ver-
mieden werden.
Wir besitzen für das 19. Jahrhundert eine brauchbare Statistik, die es
ermöglicht, die Ereignisse auf zahlenmäßiger Grundlage darzustellen. Leider
vermißt man hier solche exakte Schilderungen. So bleibt z. B. die Darstellung
des Bankwesens verschwommen und entbehrt der wünschenswerten Präzision.
Was v. S. über das Kartellwesen bringt, ist unzulänglich und läßt die volks-
wirtschaftliche Bedeutung in keiner Weise erkennen.
Es ist gewiß schwer, in einem Bande die ganze Fülle von Begebenheiten
aufzuzeigen, es gibt da nur zwei Wege. Entweder es wird der Stoff stark durch-
gearbeitet und von einer höheren Warte aus gesehen vorgeführt, oder es soll ein
Werk das Material gedrängt wiedergeben und hauptsächlich die Hinweise auf
die Spezialliterratur und die Belege für das Gebotene bringen. Der ersten
Forderung entspricht der vorliegende Band kaum, leider auch nicht der zweiten.
Die Literatur ist immer nur am Schlusse der Abschnitte zusammengestellt.
so daß es schwierig ist, die für eine Spezialfrage wichtigen Werke zu finden.
Es wirkt sehr peinlich, wenn man alle Angaben hinnehmen oder sie höchst
mühsam nachprüfen muß. Soweit ich kontrolliert habe, fand ich kein Versehen,
aber zweifellos wird der praktische Wert durch die Art der Literaturnachweise
herabgesetzt. Als einen unbedingten Mangel bei einem als Handbuch gedachten
Werke muß man das Fehlen eines entsprechenden Registers bezeichnen.
` Ich halte es nicht für die Aufgabe der Kritik, bei einem so groBen Werke
einzelne Fehler aufzuzeigen; wer immer das Buch liest, wird es nicht ohne
wirkliche, reiche Belehrung aus der Hand geben und dem Verfasser dankbar
‘ dafür sein, daß er durch die Zusammenfassung des immensen Stoffes eine unange-
nehme Lücke ausgefüllt hat, oder wenigstens für das Tatsachenmaterial
die bestehende Literatur ergänzt hat. v. S. schließt mit dem Gedanken, daß
das deutsche Volk im Jahre 1815 arm war und nur durch harte Arbreit reich
geworden ist. Nichts kam geschenkt, alles mußte sauer verdient und schwer
erkämpft werden. Da mag jeder das Buch zur Hand nehmen, um wieder den
Glauben an das deutsche Volk und das Vertrauen zu seiner Kraft und Willens-
stärke zu gewinnen, das wird wohl jener Erfolg sein, der dem Verfasser selbst
am meisten am Herzen liegt.
Wien, Jänner 1921. Theodor Mayer.
Walter Sehiff, Der Arbeiterschutz der Welt. Ergänzungsheft AV]
des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Gr. = Tübingen 1920,
J.C. B. Mohr, XI und 487 S
Dieses Werk, ein stattliche Band von fast 500 en ist das Ergebnis
eines rühmenswerten Fleißes und seltener Gründlichkeit. Mit peinlicher Gewissen-
haftigkeit, die auf jeder Seite das hingebende Interesse des Verfassers auch fiir
alle Einzelfragen des Arbeiterschutzes erkennen läßt, werden für alle Staaten
der Erde — es fehlen zum Beispiel auch Chile, Ceylon und Zypern nicht — die
gesetzlichen Vorschriften über den Arbeiterschutz zu einer übersichtlichen,
Prakt. Volkswirtschaftslehre, Wirtschattsbeschreibung. Wirtschaftsgeschichte. 159
streng systematisch nach einheitlichen Gesichtspunkten geordneten Darstellung
vereinigt. Schon die wissenschaftliche Persönlichkeit des Verfassers gewähr-
listet, soweit es die Kräfte eines Privatmannes vermögen, Vollständigkeit und
Genauigkeit in der Wiedergabe der Vorschriften. Ist in diesem Sinne das Werk
der uneingeschränkten Anerkennung eines jeden Fachmannes sicher, so können
doch mancherlei Einwendungen gegen seine Brauchbarkeit für die Praxis nicht
unterdrückt werden. Die Sammlung und Darstellung der Maßnahmen des
Arbeiterschutzes, die hier vorliegt, ist nicht aus einem Gusse. Sie wurde zunächst
während des Krieges vorgenommen und gibt daher den Stand der Arbeiter-
schutzgesetzgebung zu Beginn des Krieges wieder. Da sich indes das Erscheinen
des Buches aus technischen Griinden verzögerte. sah sich der Verfasser, damit
das Werk nicht schon im Zeitpunkte der Veröffentlichung zum guten Teile über-
holt sei, veranlaßt, einen Anhang anzufügen, der die neueren Schutznormen
— bis Ende 1919 — wiederum nach Ländern und nach den gleichen sachlichen
Gesichtspunkten geordnet, darstellt. Wer das Buch verwenden will, muß sich
daher der unangenehmen Aufgabe unterziehen, zunächst durch einen Vergleich
der Darstellung des ersten mit jener des zweiten Teiles Klarheit darüber zu
gewinnen, inwieweit die Vorschrift, die ihn interessiert, nach dem Kriege eine
Änderung erfahren hat. Es wird nicht immer möglich sein, dies einwandfrei fest-
zustellen. Dazu kommt. daßdie Arbeiterschutzgesetzgebung, dıe nach dem Kriege
in allen Staaten mit sehr raschem Tempo einsetzte, nach dem Jahre 1919 umso
weniger zum Stillstande gelangt ist, als man sich in der, Übergangszeit zum
Frieden fast überall mit provisorischen Vorschriften behalf, die nur nach und
nach durch dauernde ersetzt werden, zumal überdies die Durchführung der von
der Washingtoner Arbeitskonferenz gefaßten Beschlüsse eine Novellierung vieler
Arbeiterschutzgesetze erheischen wird. Ist demnach der erste Teil des Werkes
in mancher Hinsicht gänzlich überholt (man denke zum Beispiel an die Gesetz-
gebung des kaiserlichen Rußland), so dürfte es auch der zweite Teil in wenigen
Monaten sein. Eine derartige rein kompilatorische Zusammenstellung dürfte
sich daher besser als Aufgabe für eine amtliche Stelle eignen, die, wie das Inter-
nationale Arbeitsamt, über ausreichende Mittel verfügt, um fortlaufend ergänzende
Nachträge zu veröffentlichen, als für eine Privatarbeit. Auch gegen die Ab-
grenzung des von der Darstellung erfaßten Stoffes lassen sich mancherlei Ein-
wendungen vorbringen. Der Verfasser versteht unter Arbeiterschutz nur die
„öffentlich-rechtlichen Beschränkungen des — sonst freien — Arbeitsvertrages‘‘;
er scheidet daher grundsätzlich die Bestimmungen über Abschluß oder Beendi-
gung des Arbeitsverhaltnisses, über kollektive Arbeitsverträge aus seiner Betrach-
tung aus, aber auch die Arbeiterversicherung, Einigungsämter u. dgl. Es ist wahr-
lich nicht ohne weiteres einzusehen, warum Vorschriften über die der Kündigungs-
frist nicht zum Arbeiterschutz im engeren Sinne des Wortes gehören. Noch
wichtiger scheint ein zweites Bedenken zu sein: Wenn nach dem österreichischen
Gesetz über Einigungsämter und kollektive Arbeitsverträge durch behördliche
Verfügung die Bestimmungen eines Kollektivvertrages als Satzung zur allgemein
verbindlichen Norm erhoben werden können — eine ähnliche Befugnis ist in
160 Einzelbesprechungen.
Deutschland dem Reichsarbeitsminister eingeräumt — so ist hier die Möglichkeit
der Fortbildung des Arbeiterschutzes in ständiger Anpassung an die Bedürfnisse
der einzelnen Gewerbezweige gegeben. Das ist, nebenbei bemerkt, eine weit
vollkommenere Form der Regelung als die meist ziemlich rohe und vorschnell
generalisierende durch allgemeine gesetzliche Vorschriften. Derartige Normen
könnten aber nach der ganzen Anlage des Werkes in seinem Rahmen keine Auf-
nahme finden, ja gar nicht andeutungsweise erwähnt werden. Wäre also zum
Beispiel in einem Lande der freie Samstag-Nachmittag durch derartige Satzungen
ganz allgemein den Arbeitern gesichert, so würde doch der Leser des vor-
liegenden Werkes nichts davon erfahren können, und so auch hinsichtlich
der in die Darstellung einbezogenen Materien ein höchst unvollständiges Bild
erhalten. Schließlich noch eine Bemerkung zu dem — auf alle Staaten einheitlich
angewendeten — Schema, das der Verfasser der Gruppierung des Stoffes zugrunde
legt. Indem er mit peinlicher Gewissenhaftigkeit alle gesetzlichen Vorschriften
unter den von ihm gewählten Gesichtspunkten (Personenschutz, Betriebsschutz,
Mutterschutz usf.) rubriziert, ist er gezwungen, die Gesetze, in denen die Normen
sich finden, vollständig zu zerreißen; es ist dem Leser ganz unmöglich, den für
das Verständnis eines Gesetzes meist unentbehrlichen Einblick in den Aufbau
des Gesetzes zu gewinnen. Will also zum Beispiel der Leser Kenntnis von den
Vorschriften des österreichischen Heimarbeitsgesetzes gewinnen, so muß er
sich aus den unter die verschiedenen Kapitel zerstreuten Bruchstücken das
Gesetz zu rekonstruieren versuchen — was ihm kaum gelingen dürfte, was ihm
selbstverständlich gar nicht. vollständig gelingen kann.
Wien. Karl Pfibram
lll. Finanzwissenschaft.
Dr. Karl Bräuer, Die Neuordnung der deutschen Finanzwirtschaft
und das neue Reichssteuersystem. Finanz- und volkswirtschaftliche Zeit-
fragen, herausgegeben von Schanz u. Wolf, 67. Heft, 64 S. 8°, Stuttgart 1920,
Verlag Ferd. Euke.
In den Zeiten schwerster Krise und Finanznot hat man sich im Deutschen
Reiche zu einer grundicgenden Neuordnung des gesamten Finanzwesens ent-
schlossen, welche zwar noch nicht vollendet vorliegt, aber immerhin in den
(arundzügen bereits feststeht. Die kleine Schrift orientiert über die neue Steuer-
gesetzgebung des Reiches in klarer, übersichtlicher Gestalt und führt auch in die
Vorgeschichte der Reform in knappen Umrissen ein. Der Keınpunkt der neu-
geschaffenen (iesetze (Reichsabgabenordnung, Reichseinkommensteuer, Körper-
schaftssteuer, Kapitalertragssteuer, Reichsnotopfer, Erbschaftssteuer, Umsatz-
steuer, Landessteueigesetz) liegt in der völlig neuartigen Verteilung der steuer-
lichen Gewalten zwischen Reich, Ländern (das heißt Staaten) und Gemeinden
als der notwendigen Folge des durch die neue Reichsverfassung geänderten
staatsrechtlichen Verhältnisses zwischen Reich und Gliedstaaten. Der Schwer-
Finanzwissenschaft. 161
punkt der steuerlichen Gewalt wird nun von den Einzelstaaten auf das Reich
verschoben und im Zusammenhange damit auch der althergebrachte Grundsatz:
„Den: Reiche die indirekten, den Einzelstaaten die direkten Steuern‘ ebenso
aufgegeben wie das so wenig bewährte System der Matrikularbeiträge. Nachdem
schon der Wehrbeitrag, die Besitzsteuer sowie die Kriegssteuern von 1916 und
1918 den neu zu betretenden Weg vorgezeichnet hatten, hat mit den neuesten
(esetzesreformen das Reich vollends von Einkommen und Vermögen als Steuer-
quelle Besitz ergriffen. Zugleich damit wird die Finanzhoheit von den früheren
Einzelstaaten in die Hände des Reiches verlegt, eine eigene Reichssteuerverwaltung
unter Umwandlung der Landessteueräniter in Reichssteuerbehörden geschaffen
und so die volle Ausnutzung der steuerlichen Leistungsfähigkeit bis zur äußersten
Belastungsgrenze ermöglicht. Im System der neuen Reichssteuern fehlt eine
periodisch wiederkehrende Reichsvermögenssteuer, da das „Reichsnotopfer“ in
den Formen der 30—50jahrigen Rentenzahlung ohnehin eine fortlaufende
Belastung des Vermögens zur Folge hat. Auch die Besteuerung des Vermögens-
zuwachses in Gestalt der Besitzsteuer harıt noch der durch die Reichseinkonimen-
steuer und die neue Erbschaftssteuer notwendig gewordenen Novellierung. Über
die bisherigen Änderungen der indirekten Reichssteuern gibt die Schrift ebenfalls
ziemlich erschöpfenden Aufschluß. Umsatzsteuer, Brantweinmonopol, Tabak- und
Kohlensteuer, Reichsstempelabgaben und Transportsteuern sind die haupt-
sächlichen. im Laufe der Kriegs- und Übergangszeit abgeänderten Abgabengebiete.
Treffend sind die Schlußausführungen des Verfassers, welcher die Schwierig-
keiten darlegt, die insbesondere die Beteiligung der Länder am Ertrage der
Reichssteuern nach sich ziehen wird. Länder und Gemeinden erhalten zusammen
zwei Drittel der Reichseinkommensteuer und Korperschafissteuer, ein Fünftel der
Erbschaftssteuer, 150/ der Umsatzsteuer nebst einer Beteiligung am Ertrage der
Grunderwerbsteuer (Grundstückumsatzsteuer). Wie der Verfasser zeigt, ist durch
die Zentralisierung der Steuererhebung und Finanzverwaltung beim Reiche ein
Zustand der Überweisungen geschaffen worden, demgegenüber die zur Zeit der
Matriknlarbeiträge und der Frankensteinschen Klausel soviel beklagten Mib-
stände ein reines Kinderspiel gewesen seien. Den Ländern sind als Uberbleibsel
ihrer ehemaligen Finanzhoheit nur die Grundsteuer und Gewerbesteuer gelassen
worden. Besonders interessant ist, daß nach der neuen Steuerverfassung Lander
und Gemeinden auf der einen Seite auch auf den ihnen zukommenden Teil der
Einkommensteuer zugunsten ihrer Steuerzahler verziehten, auf der andern
Seite aber auch das vom Reiche freigelassene Mindesteinkommen (steuerfreie
Untergrenze für den Steuerpflichtigen, dessen Gattin und Kinder) selbst mit
einer Steuer belegen können. Dadurch wird der steuerlichen Ungleichheit je nach
dem Wohnsitze des Steuerpflichtigen und der finanziellen Lage der Wohnsitz-
gemeinde Tür und Tor geöffnet. Die Bevorzugung sogenannter , Rentner-
gemeinden‘ ist eine unmittelbar drohende Folge. Schlimmer als all dies ist aber
das rapide Anschwellen der Reichsausgaben, insbesondere infolge der kolossalen
Fehlbeträge bei Reichseisenbahnen und Post, während zur gleichen Zeit die
Erbschaftssteuer und das Reichsnotopfer unaufhaltsam zur Auflösung der großen
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 11
162 Einzelbesprechungen.
Vermögen und zur systematischen Vernichtung der künftigen Steuerkraft führen.
Zu all dem lastet noch die Umsatzsteuer als indirekte Generalsteuer auf allen
Lebensnotwendigkeiten. Zunehmende Kapital- und Steuerflucht, Einschränkung
des Massenverbrauches und der Lebenshaltung des deutschen Volkes sind die
notwendige Folge. Nach Ansicht des Verfassers könne nur durch umfassende
Auslandskredite, welche den Wiederaufbau der deutschen Volkswirtschaft
eımöglichen, dem sonst unvermeidlich eintretenden Zersetzungs- und Auf-
lösungsprozesse Einhalt geboten werden, da auf dem Wege der Besteuerung und
inneren Finanzierung eine Rettung aus dem durch den Fr iedensvertrag bewirkten
finanziellen Chaos nicht mehr zu erhoffen ist.
Wien. Emanuel H. Vogel.
IV. Statistik und Bevölkerungslehre.
Annuaire International de Statistique, Publié par L'office permanent de
L'Institut International de Statistique. I. Etat de la Population (Europe).
(ir.-8°, Haag 1916. XII und 166 5. -- II. Mouvement de la population
(Europe). Gr.-8°, Haag 1917. XXIV und 182 S. — III. Etat de la Population
(Amerique). Gr.-8°, Haag 1919. XXI und 250 S. — IV. Mouvement de la
Population (Amérique). Gr.-8°, Haag 1920. XII und 120 S. — VI. Salaires
et durée du travail. Conventions collectives. Chémage. Placement. Syndicats
ouvriers et patronaux. Grèves et lock-outs. (ir.-8°, Haag 1920. VIII und 154 S.
Bulletin mensuel de [Office permanent. 1°? et 2™° livraison. Haag 1920.
64 und 67 S.
Internationale Zusammenstellungen statistischer lörgebnisse sind ein Gipfel-
ziel der statistischen Praxis. Nicht nur, daß sie ein vorliegendes Bedürfnis
befriedigen, indem sie dem statistischen Verbraucher schnell die gesuchten
Zahlen an die Hand geben, — in solchen Vergleichszusammenstellungen rücken
auch die statistischen Ergebnisse erst ins rechte Licht und gewinnen ihre volle
Bedeutung. Es haben sich daher seit dem Erwachen der eigentlichen statistischen
Betätigung immer wieder Bemühungen auf solche den Bearbeiter zwar wenig
lohnende aber dafür umso verdienstvollere Sarmmelarbeiten bezogen. Wir ver-
weisen auf die zum Teil schon veralteten internationalen Übersichten von Bodio,
Sundbärg, L. March, die Anhänge der statistischen Jahrbücher, die
Abstracts des englischen Handelsamtes u. a.
Während alle diese Arheiten zwar nicht der erfassenden Stelle aber duch
der Art ihres Zustandekommens nach als Privatarbeiten zu betrachten sind,
die ihre Zahlen schlecht und recht aus den zerstreuten statistischen Quellen
zusammensuchen, nimmt das im Jahre 1913 ins Leben gerufene ständige Amt
des Internationalen Statistischen Instirutes im Haag gewissermaßen eine offiziöse
Stellung ein. Fs steht in unmittelbarer Verbindung mit allen in Frage kommenden
statistischen Ämtern, deren Vorstände regelmäßigerweise Mitglieder des Inter-
nationalen Statistischen Institutes sind, und hat auf diese Weise einen viel
Statistik und Bevölkerungslehre. 163
leichteren Stand bei der Quellensanimlung. Es ist diesem Amte ermöglicht, im
Wege unmittelbarer Erhebungen bei den statistischen Ämtern und nachheriger
Zusendung der Korrekturbogen die amtliche Statistik der einzelnen Staaten
selbst ihre Sache führen zu lassen. So kommt denn auch den vom ständigen
Amte des Internationalen Statistischen Institutes herausgegebenen Internationalen
Statistischen Jahrbüchern im Voraus eine besondere Geltung zu.
Von diesem Werke liegen bisher fünf Lieferungen vor, von denen zwei
(Lieferung I und II), allen Schwierigkeiten zum Trotz, noch im Kriege, die letzten
drei (Lieferung III, IV und VI) in der Nachkriegszeit in schneller Aufeinander-
folge erschienen sind. Davon behandeln die ersten vier Lieferungen den
Bevölkerungsstand und die Bevölkerungsbewegung der Staaten Europas
und Amerikas, die fünfte (mit der Ordnungsnummer VI, da eine abschließende
Lieferung über die Bevölkerungsstatistik der übrigen Erdteile in Vorbereitung
steht, Fragen aus der Sozialstatistik.
Die internationalen Vergleiche über den Bevölkerungsstand Europas
stellen sich dar als Fortführung teils J. Bertillons „Statistique internationale
résultant des Recensements de la Population exécutés dans les divers Pays de
l'Europe pendant le XIX™° siècle et les époques precedentes‘‘, teils als Fort-
führung G. Sundbärgs: „Aperçus statistiques internationaux". Die Tabellen
des Internationalen Statistischen Jahrbuches bringen den Bevölkerungsstand der
europäischen Staaten (mit geschichtlichen Rückblicken, die zum Teil bis zu
Beginn des 18. Jahrhunderts zurückreichen), ferner alle gebräuchlichen Gliede-
rungen nach natürlichen und rechtlichen Eigenschaften der Bevölkerungsmasse
wie Geschlecht, Alter, Zivilstand, Nationalität, Religionsbekenntnis, Bildungs-
grad. Gebrechen usw., dagegen nicht die wirtschaftliche und soziale Charakteri-
sierung der Masse durch Beruf und Stellung im Berufe, die einer besonderen
Darstellung vorbehalten bleibt.
Die internationalen Vergleiche über die Bewegung der Bevölkerung in
den Staaten Europas bringen in reicher sachlicher und zeitlicher Gliederung die
wichtigsten Zahlen über die Eheschließungen und Ehescheidungen, Geburten und
Sterbefälle zur Darstellung und erscheinen hierin als eine Fortführung der von
der „Statistique Générale de la France‘ herausgegebenen ,,Statistique inter-
nationale du Mouvement de la Population d‘aprés les registres d'état civil“
(L. March).
Die entsprechenden Lieferungen III und IV über die Bevölkerungsstatistik
der Staaten Amerikas sind im wesentlichen gleich eingerichtet wie diejenigen
über Europa.
Mag man auch nicht mit allen Einzelheiten der Bearbeitung einverstanden
sein — wir bemängeln zum Beispiel die Beibehaltung der überlebten Methode
der Sterblichkeitsmessung nach der Einheitsbevölkerung (Standard popu-
lation), ferner gewisse von L. March übernommene theoretische Ansichten über
die Berechnung des mittleren Heiratsalters, der mittleren Lebensdauer u.a. —,
jedenfalls wird man die ungeheure Arbeitsleistung und den straffen Willen
bewundern müssen, der die über Europa lagernde Atmosphäre der Feindseligkeit
164 Einzelbesprechungen
schon während des Krieges zu durchdringen und die durch Welten geschiedenen
Bestandteile zu einem wohl geformten Kinheitswerk zu gestalten vermochte.
Mit der VI. Lieferung verläßt das Internationale Statistische Jahrbuch das
Gebiet der Bevölkerungsstatistik, das nach dem Willen des Internationalen
Statistischen Institutes zuerst darzustellen war und das nach der gewaltigen
Leistung seines ständigen Amtes im Haag nun teilweise (bis zur Veröffentlichung
der Ergebnisse der nächsten Volkszählungen) zurückgestellt werden kann. und
beginnt die erste Lieferung des eigentlichen, jährlich die statistischen Daten
erneuernden Jahrbuches mit einer internationalen Sozialstatistik, einem Gebiete.
das durch die Umwälzungen des Weltkrieges in den Vordergrund des allgemeinen
Interesses gerückt ist. Behandelt erscheinen hier die Statistik der Löhne und
Arbeitszeit, der Gesamtvertrage, der Arbeitslosigkeit, der Stellen-
vermittlung, der Unternehmer- und Arbeiterverbände und der Arbeits-
einstellungen und Aussperrungen.
So wenig wir es bei den Vergleichen über die Bevölkerungsstatistik ver-
mochten, so wenig könnten wir uns hier vermessen, aus dem überreichen Material
dieser Lieferung Zahlen herauszugreifen und dem Leser vorzuführen. Dagegen
wollen wir kurz einiger allgemeiner Ergebnisse gedenken, welche diese Lieferung
über die besonderen Zahlenergebnisse hinaus an den Tag gefördert hat.
Wenn wir zu Eingang des im Jahre 1920 erschienenen Werkes, gewisser-
maßen an die Spitze der an erster Stelle stehenden Lohnstatistik gesetzt, eine
Währungsumrechnungstabelle aus der guten alten Zeit finden, in der noch eine
österreichische Krone 1:05 Fr. gilt, so können wir uns keinen besseren symbolischen
Ausdruck für den Wert der folgenden lohnstatistischen Vergleiche vorstellen als
diesen. So wie jene brave Währungstabelle auf, das allergründlichste aus den
Fugen gegangen ist, ebenso und eben dadurch hat die vergleichende Statistik
der Nominallöhne jenen gewissen Wert verloren, den sie in Friedenszeiten durch
die verhältnismäßige Ständigkeit der Währungsverhältnisse und der Lebens-
haltung besessen hat. Aber ihre Verwendbarkeit war doch nur verhältnismäßig.
Sie war aufgebaut auf bestimmter Voraussetzung und mußte mit deren Schwinden
selbst ins Stürzen kommen. Was nützt uns heute die sehr fleißige Arbeit des
Internationalen Statistischen Institutes, wenn ıhr Zweck, der zeitliche und
örtliche Vergleich, durch die Natur der Zahlen vereitelt ist? Was nützt es uns
zu wissen, daB die Löhne in Kneland z, die in Deutschland y der Währungs-
einheit betragen, oder daß die Löhne in Deutschland seit irgend einem Zeit-
punkte um xX", gestiegen sind. Das ist ein ebenso papierenes Wissen, wie die
Mehrlöhne ein papierener Besitz zu sein pflegen.
Immerhin ist die Arbeit des Internationalen Statistischen Jahrbuches nicht
umsonst geschehen. Sie hat das Verdienst, die bisherige Nominallohnstatistik
ad absurdum geführt zu haben und es wird eine der nächsten Aufgaben
des Internationalen Statistischen Institutes sein müssen. eine ein-
heitliche Reduktionsmethode der Nominallohn- auf eine Reallohn-
statistik zu beschließen. Im vorliegenden Falle hätte es immerhin eine gewisse
Milderung bedeutet, wenn der Nominallohnstatistik eine Lebenshaltungsstatistik
Statistik und Bevölkerungslehre. 165
wäre angefügt worden, eine Unterbrechung, die übrigens in der zweiten Lieferung
des noch zu erwähnenden „Bulletin mensuel“ teilweise gut gemacht worden ist.
Eine weitere Anregung für den Ausbau der internationalen Statistik ergibt
sich von selbst aus den vorgefundenen Lücken und der Mangelhaftigkeit vor-
handenen Materials. Die bei den verschiedenen Staaten vorhandenen Lücken in
der Statistik werden jeweils besonders angeführt. Wir erfahren da zum Beispiel
mit Erstaunen, daß die fortgeschrittene Schweiz wichtige Gebiete der Sozial-
statistik noch gar nicht gepflegt hat, ebenso Spanien, Portugal, Finnland,
Ungarn usw. Es kann nicht ausbleiben, daß das Fehlen dieser Staaten in den
Vergleichszusammenstellungen ihren löhrgeiz anspornen wird, wie auch das
ständige Amt des Internationalen Statistischen "Institutes mit Befriedigung
berichten kann, daß hier und dort infolge seines Materialersuchens neue
Erhebungen auf Gebieten eingeleitet wurden, die diese Staaten bisher noch nicht
gepflegt hatten.
Die gleiche erzieherische Wirkung stellt sich dort ein, wo methodische Ver-
schiedenheiten der Erhebung oder Darstellung die Vergleichbarkeit der Zahlen
beeinträchtigen. Die sehr verdienstvolle Aufmerksamkeit, welche das Jahrbuch
den methodischen Grundlagen bei jedem Staate schenkt, bildet eine reiche Fund-
grube für theoretische Studien überhaupt sowie insbesondere für Anregungen auf
weiteren Ausbau und weitere Vervollkomninung dieser Gebiete der Statistik. In
dieser Richtung sei insbesondere auf die ausführlichen methodologischen Zu-
sammenstellungen des Heftes auf dem Gebiete der Statistik der Arbeitsein-
stellungen und Aussperrungen hingewiesen.
Der Lieferung VI des Internationalen Statistischen Jahrbuches soll binnen
wenigen Wochen eine weitere folgen mit dem Inhalte: Volksschulunterricht,
Landwirtschaft, Post und Telegraphen, Aktiengesellschaften, Hilfs-
kassen. Wohnungen und Großpreise, sowie in weiterer absehbarer Zeit
eine dritte mit dem Inhalte: Finanzen, Produktion, Emissionsbanken
und Wechselkurse.
Außerdem gibt das Amt eine Monatsschrift heraus, die die GroBhandels-
preise, Generalindices aus solchen, die Arbeitslosigkeit, Steigerung
der Lebenskosten (zumeist beschränkt auf die Nahrungskosten), die
Emissionsbanken und die Wechselkurse monatlich behandeln soll.
Hievon ist die erste und zweite Lieferung mit Zahlen, die einerseits bis auf
den Durchschnitt von 1901/1910 zurückgeführt sind, anderseits bis in die
neueste Zeit (1920) hereinreichen, bereits erschienen.
Wir sehen das ständige Amt des Internationalen Statistischen Institutes
somit in regster, fruchtbarster Betätigung. Mag sich hier und dort ein Einwand
in Einzelheiten geltend machen, alles in allem stehen wir Gaben von unschätz-
barem Werte gegenüber, deren EinfluB auf die Weiterentwicklung der Statistik
derzeit noch gar nicht abzusehen ist. Wir begrüßen die Leistungen des Amtes
aber auch noch aus einem anderen Grunde. Das Gebiet der Statistik ist eines
der wenigen, auf dem wissenschaftlicher Gemeingeist während des Weltkrieges
alle Klüfte der Völkerfeindschaft und des Völkerhasses überbrückt und sich auf
166 Einzelbesprechungen.
dem neutralen Boden des Amtes im Haag zu gemeinsamer Arbeit zusammen-
eefunden hat. Von dieser erfreulichen Bewährung von Ruhe und Besonnenheit
können wir uns wohl für die Zukunft Wirkungen versprechen, die über die
besonderen, die Statistik als solche belangenden noch hinausgehen dürften.
Wien. Wilhelm Winkler.
Beiträge zur Statistik der Republik Österreich. 5. Heft. Vorläufige Ergebnisse
der auBerordentlichen Volkszählung vom 31. Jänner 1920 nebst Gemeinde-
verzeichnis. Bearbeitet und herausgegeben von der Statistischen Zentral-
kommission. Wien 1920. 24* und 136 S.
Der Weltkrieg und sein Ausgang haben die Tatsache ‚der biologischen
Konstanz der Bevölkerung“ (Lexis) sowie der verhältnismäßigen Stetigkeit
gesellschaftlicher Entwicklungen zeitweilig außer Geltung gesetzt: Das Sterben
hat vermöge der Kriegsverluste und der Opfer der Hungerblockade einen trawig
veränderten Gang genommen. der Kriegsgeburtenausfall hat ebenso die ohnehin
schon ungünstige Entwicklung der t(ieburtenhäufigkeit unterbrochen, die
Wanderungen haben ganz neue Antriebe erhalten — kurz, die ganze Bevölkeiungs-
entwicklung ist aus ihren bisherigen ruhigen Bahnen geworfen worden. welche
gestatteten, sich aus vorhandenen Zahlen für einige Zeit hinaus ein Bill von den
weiteren Verhältnissen zu machen, und hat einen solchen Verlaur genommen, daß
alle statistischen Bevölkerungseigebnisse aus der Vorkriegszeit als mit einem
großen Fragezeichen versehen erscheinen müssen. In Erkenntnis der Dringlichkeit
der Beschaffung neuer Zahlen über Deutschösterreich hat die Statistische Zentral-
kommission nicht erst den durch das Volkszählungsgesetz bestimmten Zeitpunkt
des 31. Dezember 1920 abgewartet, sondern hat am 31. Jänner 1920 eine auBer-
ordentliche Volkszählung in wesentlich verringertem Umfange vorgenommen, um
einen ersten schnellen Überblick über die Bevölkerungsverhältnisse unseres
Staates zu erlangen. Von dieser Volkszählung liegen als Heft 5 der Beiträge zur
Statistik der Republik Österreich die vorläufigen Ergebnisse bereits vor.
Darnach zählte Deutschösterreich einschließlich des nördlichen Abstimmunegs-
gebietes in Kärnten (Abstimmungszone JI) 9 Städte mit eigenem Statut. 75
politische Bezirke, 248 Gerichtsbezirke und 3913 Ortsgemeinden, welch letztere
sich zusammen mit den 9 autonomen Städten nach der Größe folgendermaßen
aufteilten:
bis 2.000 Einwohner 3551 Gemeinden mit 2,414.837 Einwohnern
von 2.001 ,, 5.000 N 295 n „854.592 E
„ 5.001 ,, 10.000 m 43 me 293.736 u
„ 10.001 ,. 20.000 sg 13 Ms „172.226 ”
„ 20.001 ,, 30.000 RS 7 a » 183.870 =
» 50.001 ,, 100.000 = 2 rn » 149.132 =
mit über 100.000 m 2 (Graz u. Wien) 1.999.037 y
Die den Größenstufen entsprechenden Hundertteile betragen bei der Ver-
teilung der Gemeinden folgeweise: 907, 7:5, 1:1, 03, 02, 0'1, 01°56. bei
der Verteilung der Einwohner 39°8, 141, 4°8, 2°8, 3:0, 2'5 und 33:095. Es wohnten
Statistik und Bevölkerungslehre. 167
also von den gezählten 6.067.430 anwesenden Bewohnern Deutschösterreichs.
wenn wir die städtische Grenze bei 2000 Einwohnern annehmen. 60'2°,, oder
drei Fünftel der Bewohner in Städten, ein Verhältnis, das die Ernährunge-
schwierigkeiten als wohl erklärlich erscheinen läßt.
Wie der Krieg auf die Bevölkerungszahl Deutschosterreichs eingewirkt hat,
ergibt sich aus folgender Zusammenstellung:
Zunahme (+) oder Abnahme (—)
Land Anwesen.ilc Bevölkerung der anwesenden Bevölkerung von
1910 1920 1911 bis 1920
überhaupt von 100
Stadt Wien ........ 2.031.498 1.842.005 — 189,493 — 9°33
Niederösterreich ohne
Wien sus 1,493.596 1,471.150 — 22,446 — 1°90
Niederösterreich im
ganzen .........-. 3.525.094 3.313.155 — 211.939 — 601
Oberösterreich ...... 853.006 891.234 44.228 + 0:50
Salzburg ........... 214.737 213.877 -= 860 — 040
Steiermark ......... 952.590 946.721 -- 5,869 - 02
Kärnten (unbedingtes
Staatsgebiet) ..... 240,573 241.11 BE 608 1 0°25
Kärnten nördl. (I1.)
Abstimmungsgebiet 58.5918 06,076 - 2442 — +17
Tirols near 304.713 306.155 + 1.440 + 047
Vorarlberg.......... 145.408 133.033 — 12.375 -- BDL
Zusammen „2.2... 6.294.639 6.097.430 — 327.209 — 361
Die Hauptlast der durch den Krieg hervorgerufenen Bevölkerungsver-
minderune Deutschösterreichs trägt Wien ( - 933 v. IT), dieser am nächsten
steht das industrielle Vorarlberg ( - 851 v. H.): die an dritter Stelle folgende
Abnahme (Kärnten. nördliches Abstimmungsgebiet) ist offenbar teilweise auf
politische Ursachen zurückzuführen und dürfte vorübergehender Natur sein. Die
übrigen Länder haben teils geringfügige Abnahmen erlitten, teils sogar Zunahmen
erfahren.
Die Zahlen für Westungarn und die südliche (1) Abstimmungszone in
Kärnten fehlen hier, da die Volkszählung nur in den am 31. Jänner 1920 in
deutschösterreichischer Verwaltung stehenden Gebieten stattgefunden hat. Die
entsprechenden Zahlen nach der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 sind
345.082 und 72.138 anwesende Personen, um die annähernd die obire Gesamt-
summe wird vermehrt werden müssen, um zu einem Gesamtbegriffe von der
Bevölkerung Deutschösterreichs zu gelangen (rund 6!/, Millionen Icinwohnern).
Genaue Angaben über diese Gebiete wird erst die nahe bevorstehende ordent-
liche Volkszählung bringen.
Was das Äußerliche der Veröffentlichung anlangt, ist angesichts der
hohen Druckkosten und des geringen Absatzes statistischer Werke der verhält-
nismäßig niedrige Preis von 20 K bemerkenswert. Auch dieser Preis könnte
168 Einzelbesprechungen.
noch weiter herabgesetzt werden, wenn derartige statistische Veröffentlichungen.
die geradezu elementare Lesefibeln staatsbürgerlichen Wissens sind, den Weg
auf den Schreibtisch jedes Gebildeten fänden.
Wien. Wilhelm Winkler.
Ludwig Flügge, Die rassenbivlogische Bedeutung des sozialen Auf-
steigens und das Problem der immunisierten Familien. 8°, Göttingen
1920. Vanderhoeck u. Ruprecht. VIII und 74 S.
Diese, von der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene mit einem Ehren-
preise ausgezeichnete Schrift behandelt die für die quantitative und qualitative
Zukunft eines jeden Volkes und einer jeden Rasse (es wäre gut gewesen, wenn
die besprochene Schrift diese beiden Gesichtspunkte folgerichtig auseinander-
gehalten hätte) entscheidende Frage des sozialen Aufstieges einzelner Familien
und des Unterschiedes solcher ‚‚neuaufgekommener‘‘ und der bereits seit längerer
Zeit in der höheren sozialen Schicht befindlichen Familien — letztere, insoweit
sie eine eigene, ihrem Stande eigentümliche Lebensauffassung geschaffen und
diesen Stil weiter überliefert haben, .‚traditionsbegabt‘‘ benannt — in bezug auf
die Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses. Insofern solche „traditions-
begabte‘‘ Familien der allgemeinen Regel: ‚soziale Höhe hat Geburtenriickgang
zur Folge‘‘ nicht schlechthin entsprechen, sondern einen quantitativ zureichenden,
qualitativ befriedigenden Nachwuchs aufzüchten, nennt Verfasser sie „immunisiert‘“.
Verfasser geht von der Tatsache des Sinkens der Geburtenziffer aus, das
insbesondere in den sozial höher stehenden Schichten zu beobachten ist und
macht darauf aufmerksam, daß es falsch ist, zu meinen, die ziffermäßige EinbuBe
dieser Schicht von „Kulturträgern‘‘ lasse sich ohneweiters durch das Aufsteigen
einzelner hiezu fähiger Individuen oder Familien wettmachen: diese Quantitäts-
ergänzung droht eine Qualitätsveischlechterung zu bringen. Die Erziehung allein
kann diese Gefahren nicht — oder nur schwer — bannen. Der Verfall alter
Familien ist also eine Gefahr, um so mehr, als ‚eine alternde Kulturgemeinschaft
die fremdentstammten, mit frischer Lebenskraft in den Kulturkreis eintretenden
Individuen für die kulturtragende Nation wie überhaupt für die Kultur nur bis
zu einem gewissen Sättigungspunkt zu gewinnen vermag“. Gegen den Verfall der
Geschlechter ist aber die größtmögliche Zahl gesunder Kinder der beste Schutz,
wobei Verfasser das Hauptgewicht auf die Fortpflanzung im Mannesstamm legt.
Trotz des Verweises auf Lorenz und Keckule erscheint mir diese an einem
schmalen Beobachtungsmaterial gewonnene, durch die Vorgänge bei der Ver-
schmelzung männlicher und weiblicher Chromatosomen nicht begründete An-
schauung als der Hauptfehler der Arbeit, der auch bei der Gewinnung des
statistischen Materiales seine schlimme Wirkung äußert. Nachdem Verfasser
noch den Wert großer Geschwisterzahl für den Heranwachsenden hervorgehoben
hat (was in erster Reihe für die Führenden auf dem Gebiete der Politik und der
Wirtschaft, weniger der Kunst und Wissenschaft gilt), kommt es zur Zusammen-
fassung: „Vom Standpunkt der Familie wie der Gesamtheit ist bei tauglichen
Familien eine möglichst große Summe der in der Familie wirksamen Kräfte,
Statistik und Bevölkerungslehre. 169
das heißt eine möglichst blühende Nachkommenschaft wünschenswert. Praktisch
kann gesagt werden, daß ein Blühen der Familie mit einer größeren Kinderzahl
meistens zusammenfällt.‘‘ Nun entwickelt Verfasser die Gefahren, welche die
höhere soziale Position für die Volksvermehrung birgt und findet sie in Über-
eintimmung mit der bestehenden Literatur in den „vier großen Tatsachen-
komplexen der a) inneren und b) äußeren Kultur, c) der behaglichen Erschlaffung,
auch des Zwanges zum Unnatürlichen und d) der Ausschweifungen. Sie werden
vielfach gefördert durch Wohlstand, durch elementare und höhere Schulbildung‘.
Im Verhältnis von Ost- zu Westvölkern, Landbewohnern zu Städtern, manuellen
zu geistigen Arbeitern ist also die Gefahr des Aussterbens der sozial höher
Gestellten vorhanden.
Innerhalb dieser sozial höher stehenden Familien gibt es nun aber solche,
die den Geburtenrückgang aufweisen — insbesondere die neu aufgekommenen —
und solche, die ihn nicht aufweisen, eben die immunisierten: souveräne Dynastien,
Adelsfamilien, Patriziergeschlechter, Gelehrten- und Pastorenfamilien, einzelne
Bauerngeschlechter. Solche ,,verwitterungsfeste Geschlechter, die sich durch
Lebensklugheit, nicht zuletzt in der physischen Lebensführung und in der Zucht-
wahl über die gewöhnliche Zeitdauer hinaus behauptet haben‘ (man beachte, daß
Verfasser im Sinne der herkömmlichen Genealogie Fortpflanzung im Weiber-
stamm außer Betracht läßt, wodurch der Begriff „Aussterben einer Familie‘
im Inhalte verengert, im Umfange über das biologisch zulässige Maß hinaus
erweitert wird!), nennt die alte deutsche Sprache „adelig“: der Stamm „ah“
bedeutet „ewig“ und kehrt in ‚Ehe‘, „ewa“ wieder. ‚‚Adelig‘‘ bedeutet also
etwas anderes als „nobilis“ = bekannt. Da wir nun wissen, „daß die Natur durch
längere Zeit nicht ungerecht waltet“, erachtet Verfasser den logischen Schluß
von der „Verwitterungsfestigkeit‘‘ des Adels auf seine „Würdigkeit‘“ gerecht-
fertigt. Der neukantianische Erkenntniskritiker (vgl. Vaihingers „Philosophie
des Als ob‘‘) würde allerdings den Untersatz dieses Syllogismus lieber nicht in
der Fassung vom „Walten der Natur‘: lesen. Das Wort „Natur“ deckt hier
keinerlei klar erkannten Zusammenhänge, sondern ist nur ein sprachliches Symbol
für Wirkungen, deren Ursachen nicht oder noch nicht bekannt sind: Die Kon-
klusion aus einem derartigen Untersatz gibt also keine wirkliche Erkenntnis oder
praktische Orientierung. ,,In der Literatur ist eine Rechtfertigung des Adels
unter diesem Gesichtspunkt nirgends bekannt geworden." Der Gedanke diese:
Beweisführung verdiente eine neuerliche Fassung, erst dann könnte er einer
endgültigen Prüfung unterzogen werden.
Nun gibt Verfasser Daten über den deutschen Adel nach dem „Uotha‘.
Das wertvolle Material sei auszugsweise wiedergegeben. Die Personen unter
15 Jahren betrugen in Prozenten der Gesamtzahl bei: regierenden Häusern 27'104,
hohem Adel 24787, Grafen (nach Abstufungen) 22'305 bis 23'219, Freiherren
vom Uradel 20:365, Briefadel 18:687 — bei der Gesamtbevélkerung 34'205,
Verfasser folgert hieraus, ‚daß der Uradel günstiger dasteht als der Briefadel‘
und daß die adeligen Familien ‚um so verwitterungsfester sind, je höher ihr
Rang ist“. Das „unleugbare Absterben der Geschlechter vollzieht sich regelmäßig
170 Einzelbesprechungen.
um so langsamer, je älter die Familie und je vornehmer ihr Rang ist‘‘. Angesichts
der Seltenheit des Materiales darf aber meines Erachtens von: der Kıitik nicht
verschwiegen werden, daß einerseits doch das Ziffernmaterial etwas zu schmale
Basis hat und die Abstufung des demologischen und biologischen Wertes der
verschiedenen Rangstufen des Gotha recht wenig Evidenz hat; es ist nicht recht
einzusehen, inwiefern ein uradeliger Graf als Kulturträger und Züchter von
Nachkommenschaft etwas so wesentlich anderes sein soll als ein Freiherr des
älteren Briefadels. Die Zahlen selber verdienen jedoch unleugbar Beachtung.
Auch die Feststellungen Galtons über das rasche Aussterben der neu erhobenen
Peersfamilien wird vom Verfasser in diesem Zusammenhang erwähnt.
Nun wendet sich Verfasser der Immunisierung des gebildeten Biirgertums
zu. polemisiert eegen Ammons Ansicht, daß sich solche Familien regelmäßig
nicht über ein Jahrhundert erhalten und kommt auf Grund der Beobachtungen
Kohlbrügges über das Amsterdamer und Hamburger Patriziat zu dem Schlusse,
„daß die städtischen Patrizier und bevorzugten Bürger an Lebenskraft der Familien
den Durchschnitt der übrigen Stadtbewohner zum Teil mäßig, zum Teil ganz
bedeutend übertreffen‘.
Weiter bringt Verfasser noch Material aus den ..Schulstatistischen Blättern‘
(1916, Nr. 1 -10), wonach die durchschnittliche Kinderzahl im Deutschen Reich
betrug: bei uradeligen Freiherren 1'693, bei höheren Postbeamten 1'439, bei
mittleren Postbeamten 1°296, bei Lehrern 1'600, bei Postunterbeamten 2°030.
Außerdem bringt Verfasser die Ergebnisse einer von ihm unternominenen Enquete
über 71 beobachtete Fälle.
Konstruiert man nun auf Grund dieser Beobachtungen eine graphische
Darstellung der Fruchtbarkeit der hierarchisch angeordneten sozialen Schichten,
so erhält man nicht, wie leichthin angenommen, eine Pyramide, sondern eine
Spindel: die breite Basis des Proletariates, die schmalste Stelle bei aen nicht
immunisierten Familien des .‚Bürgerstandes“‘, und darüber hinaus wieder sich
verbreiternd die zweite, schmälere Breitseite der ..Adeligen‘‘, Immunisierten. Um
im Bilde zu bleiben: Aufsteigende müssen durch den schmalen Spindelhals durch
und laufen Gefahr, hiebei ausgeschieden zu werden: das ist die Gefahr des sozialen
Aufstieges, nämlich für die Aufsteigenden das Aussterben. fiit die Gesamtheit der
Umstand, daß die Lücken der oberen Breitseite nicht mehr rechtzeitig durch den
Aufstieg ausgefüllt werden können.
Bei den „bevorzugten Familien“ sehen wir also eine „gewaltige Überlegenheit
an Wideıstandskraft‘‘. ,,Diese innere Festigkeit beruht in der Regel nicht so sehr
auf einem besonderen Mab physischer oder geistiger Kräfte, als vielmehr auf einer
guten Ökonomie dieser Kräfte und ihrer richtigen Verwendung. Dies erscheint
nach außen als Schönheit, Anmut, natürlicher Chick, Takt und Vornehmheit‘‘ —
zumeist Eigenschaften „alten Kulturblutes‘‘, traditionsbegabter Menschen und
Familien. Solche Menschen zeigen eine starke Reizempfindlichkeit gegen alles
„Unpassende“, auch gegen das Ungesunde; diese Reizempfindlichkeit beruht auf
einer „guten Kinderstube‘‘ und auf der guten (iewöhnung. So entsteht die Geistes-
richtung der Traditionsbegabten, ,,die auf das Positive und Ausgeglichene gerichtet
Statistik und Bevölkerungslehre. 171
ist, das Problematische und Eigenartige relativ ablehnt und neue Wahrheiten nur
zögernd anerkennt‘. Damit erklärt sich auch ihr politischer Konservatismus, ihre
Zuneigung zu „Thron und Altar‘, eine Erscheinung. die aus bloßer Interessen-
politik nicht restlos zu erklären wäre. Die religiöse Orientierung des Adels, übrigens
auch des evangelischen Pfarrhauses, ist geradezu Mitursache für den Kinder-
reichtum dieser Kreise. Ähnliche andere metaphysische Orientierungen (Kantischer
Pflichtenkultus, romantischer Idealismus) haben ähnliche. wenn auch schwächere
Wirkungen.
Traditionsbegabte Familien können ihrer Aufzuchtspflicht erwünschtermaßen
nachkommen, da ihre günstige wirtschaftliche Lage den aus wirtschaftlichen
Bedenken hervorgehenden Zolibat gesunder Menschen verhindern kann. Auch
über eine besondere Berufserfahrung verfügen solche Familien, was ebentalls der
Aufzucht günstig ist, denn sie verhindert es, daB ein jüngerer Mann sich von
dem für ihn zweckmäßigen Lebensweg entfernt und sich so die gesunde Zuchtwahl
und Fortpflanzung erschwert. Auch auf die Anschauung Galtons über die
Vererbung technischer Befähigung für einen angestammten Beruf wird ver-
wiesen — worüber man jedoch zum mindesten sehr anderer Ansicht sein darf,
da die etwa doch mögliche Vererbung erworbener Eieenschaften doch kaum in
so verhältnismäßig kurzer Geschlechterfolge auftreten dürfte und für die Annahme
einer Keimveränderung und Mutation für etwa pastorale Beredsamkeit oder frei-
herıliche Kontenance oder für den geborenen Bezirkshauptmann denn doch zu
wenig Anhaltspunkte vorliegen.
Alle diese Umstände bewirken die Immunisierung der ..elücklich Geborenen’’.
„Immunität im absoluten Sinne ist aber eine \usnahmeerscheinung‘‘, das heißt
die Bildungsschicht ginge ziffermäßig doch zurück, wenn nicht die Stammhaften
durch den, ‚sozialen Auftrieb‘ der Neuaufgekommenen ergänzt würden. Diese
müssen also, nach dem vorigen Bilde, den Spindelhals mit all seinen Gefahren
passieren. Nunmehr werden die einzelnen Gefahren besprochen, die ein „feines
Kind'‘, das heißt ein zum sozialen Aufstieg befähistes Kind, das nicht ‚glücklich‘,
das heißt nicht in einer traditionsbegabten Familie geboren ist, geschildert und
daraus aufgezeigt, welchen Wert es hat, wenn solch ‚feines Kind“ in einer
traditionsbegabten und immunisierten Familie zur Welt kommt. Diese Nach-
weise, die insbesondere von sozialpädagogischer Bedeutung sind, gehen in tief-
grindiger und stellenweise lichtvoller, immer aber dankenswerter Weise sehr ins
einzelne.
Einer besonderen Erwähnung aus diesem Teile der Arbeit erscheint mir
folgende Erwägung wert zu sein. Sozial Neuaufgekommene, zumal Regierungs-
beamte, aber auch Industrielle und Kaufleute, kommen oft in Kolonialgebiete.
Je kolonialer ein solches Gebiet ist, desto leichter ist das Ausleben, wodurch aber
das „Kapital an Spannkraft‘‘, über das die Rasse verfügt, rasch aufgezehrt wird.
Der unharmonische Mensch wird sich toller ‚.ausleben‘‘, also beim Passieren des
„Spindelhalses‘‘ aus der Fortpflanzung leichter ausgeschieden werden, während
der harmonische Mensch auch im Kolonialgebiet als . Herreninensch‘‘ Maß hält.
Als Beispiel führt Verfasser den Hinweis auf die griechischen Kolonien in Klein-
172 Einzelbesprechungen.
asien, die schon abgeblüht waren, als die Eupatriden Athens auch ohne staats-
rechtliche Position Athen noch weiter blühen machten.
„Der Charakter und die innere Lebenskraft des Menschen zeigt sich nament-
lich darin, wie er bei nicht unbeschränkten Mitteln persönlich mit dem Geburten-
problem sich abfindet. In allen diesen Punkten sind die Neuaufkommenden im
Nachteil.“ Dies wird umso bedenklicher, je stärker der Auftrieb wird. Und so
schließt die Arbeit mit den Worten: ‚Die Gefahr liegt hauptsächlich in der
qualitativen Verschlechterung des Menschenmaterials. Videant consules, ne quid
res publica detrimenti capiat!“
Die besprochene Schrift ist höchst wertvoll, aber sie leidet an einem Fehler
und bedarf zweier weiterer Ausführungen. Es werden zuviele Ausdrücke, wie
„Lebenskraft‘‘, „Lebensenergie‘‘, ,, Spannkraft der Rasse‘‘ usw. verwendet, die nur
scheinbare Erklärungen unerklärter Tatbestände, in Wirklichkeit aber nur Worte
ohne Bedeutung sind. Dann wäre der rassenbiologische Wert der Lebensführung
der Traditionsbegabten, der Begriff und die Voraussetzungen des „feinen Kindes‘‘
noch näher auszuführen, vor allem jedoch das Abwehrmittel gegen die Gefahr,
die konkrete Anweisung an die consules zu geben. Meines Erachtens handelt es
sich um die Gewinnung einer Ausdruckskultur, eines Lebensstiles, und zwar eines
deutschen Lebensstiles für die Neuaufgekommenen, und so mündet auch dieses
Problem in das große Problem völkischer Erziehung, völkischer Lebenspflege und
völkischen Wiederaufbaues!
Wien. R. M. Delannoy.
V. Geschichte, Rechtswissenschaft, Philosophie und
andere Hilfswissenschaften.
Dr. Franz Klein, Die Revisiondes Friedensvertragesvon St.Germain.
Ein Leitfaden für die Aufklärungsarbeit. Gr.-8°, 63 S. Wien 1920, Verlag der
internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. (Frisch u. Komp. Wien-
Leipzig-Ziirich-Amsterdam. )
Ks war ein glücklicher Gedanke der internationalen Frauenliga für Frieden
und Freiheit, Franz Klein damit zu betrauen, die Unhaltbarkeit des Österreich
aufgezwungenen Friedensvertrages von St. Germain dem Forum der inter-
nationalen Offentlichkeit darzulegen. Seine Vertrautheit mit dem Stoffe, die
Wärme seiner Empfindungen für das durch den Frieden seiner Existenzmöglich-
keit beraubte Staatswesen, sowie seine Fähigkeit lichtvoller und überzeugender Dar-
stellung ließen ihn für diese Aufgabe berufen erscheinen, wie kaum einen anderen.
Die Art und Weise, wie Klein die Aufgabe gelöst hat, sichert ihm den Dank unseres
Volkes und der internationalen Friedensfreunde, für die es keine schlimmere Ge-
fahr eines dauernden Weltfriedens geben kann als unhaltbare Friedensverträge.
Es darf als besonderer Vorzug der kleinen Schrift hervorgehoben weiden.
daß sie, sich auf die allgemeinen Richtlinien beschränkend, doch das volle Ver-
ständnis des vielseitigen und komplizierten Problems erschließt.
Wien, Gustav Seidler.
Geschichte, Rechtswissenschaft, Philosophie und andere Hilfswissenschaften. 173
Adelf Lenz, o. 6. Professor an der Universitat Graz. Der Wirtschafts-
kampf der Völker und seine internationaleRegelung. 8°. Stuttgart 1920.
Ferdnand Enke, XVI und 315 S.
Nach dem Vorwort handelt es sich dem Herrn Verfasser darum, ‚die typischen
kreheinungsformen. deren sich der wirtschaftliche Imperiali:mus im allgemeinen
und der Wirtschaftskrieg währena des Weltkrieges im besonderen bediente,
sowie die Arten seiner rechtlichen Regelung, und zwar sowohl die im nationalen
Interesse wie im internationalen Interesse unternommenen, im einzeinen dar-
zustellen“. Lenz sieht in der während des Weltkrieges neben dem militärischen
Kampf geführten wirtschaftlichen Fehde (dem sogenannten Wirtschaftskrieg)
wesentlich eine auf den Bahnen offenkundiger Gewalt sich bewegende Betätigung
des wirtschaftlichen Imperiali..mus. Diese Überzeugung drückt sich schen in
der Betitelung des Werkes aus: „Der Wirtschaftskampf der Völker‘. Der
moderne Imperialismus ist nämlich. mag er „auch verschiedene Formen annehinen,
das in seiner Energie unstillbare und seinem Umfang nach unbegrenzte Drängen
nach Expansion der Volkskraft“.
Ein kurzer geschichtlicher Überblick leitet das 1. Kapitel ein. Er gibt
die empirische Begründung jener These; er zeigt, wie sich die führenden Mächte
vor dem Krieg an der wirtschaftlichen Expansion beteiligten, und entrollt das
Bild eines schonungslosen Wettbewerbes, der nur gemildert wird durch die not-
wendige Rücksicht auf mächtige Mitbewerber, die gegebenenfalls mit ‚‚Kompen-
sationen‘“ abgrefunden werden, sowie durch seine Einkleidung in friedliche Formen.
Hinter wohlklingenden Ausdrücken, wie „Protektorat“, „friedliche Durch-
dringung‘‘, „Einflußsphären‘, verbirgt sich in Wahrheit ein System ,,wirtschaft-
licher Gewalt‘; ja der Imperialismus der Vereinigten Staaten von Amerika „trägt
nach außen die Züge einer Weltmission für Völkerfreiheit und Völkergleichheit‘,
die der Union das Kriegführen unter Umständen zur ,.sittlichen Pflicht“ macht.
Im zweiten Abschnitt wird das ‚Wesen‘, im dritten werden die ,,Kampf-
mittel“ dieses wirtschaftlichen Imperialismus des näheren dargelegt; denn es
gilt, „zur Erkenntnis seiner internationalen Bedeutung zu gelangen“: er ist
„das Ringen einer Volkswirtschaft um einen stetig wachsenden Anteil an der
Weltwirtschaft‘ (S. 31). Er baut zwar auf den privaten Wirtschaftsorganisationen
auf, besonders auf den großen Kartellen und Trusts, aber wesentlich ist ihm, daß
es die Staatsgewalt selbst ist, die sich in seinen Dienst stellt, zumal die Staats-
gewalt in den national einheitlichen Staaten: „Das gesellschaftliche Bindemittel
ist das Nationalgefühl geworden“ (S. 32). Der wirtschaftliche Imperialismus ,,ent-
springt außer aus wirtschaftlichen Ursachen auch aus den Forderungen einer
nationalen Wirtschaftspolitik. Dadurch erhält der Materialismus der wirtschaft-
lichen Ausdehnung einen sittlichen Gehalt. Ja, man kann sagen, daß der wirt-
schaftliche Imperialismus der modernen Zeit geradezu die wirksamste Betätigung
der Volkszusammengehörigkeit geworden ist“ (S. 32). Mit dieser Feststellung
bekennt sich Lenz augenscheinlich zur energetischen Staatsauffassung.
Das Bestreben, womöglich viele Waren auszuführen, drängt zur Massen-
produktion. diese wieder zur erhöhten Einfuhr von Rohstoffen und Halbfabrikaten ;
174 Einzelbesprechungen.
die Ernährung der industrialisierten Bevölkerung zwingt zum Import von
Lebensmitteln, die ihrerseits mit Waren bezahlt werden müssen, und so ergibt
sich bald die Notwendigkeit nach ‚Sicherung der Absatzmärkte und Einfuhrländer
gegen jeden Wettbewerb“. Der wirtschaftliche Imperialismus ist ‚zum Bestandteil
der Großmachtpolitik geworden‘, insofern jede Grroßmacht nach Autarkie strebt,
das heißt nach Unabhängigkeit von Ein- und Ausfuhr. Die moderne Kolonial-
politik steht solcherart im Zeichen der „wirtschaftlichen Eroberung‘; aber der
wirtschaftliche Imperialismus kann vom politischen nur „theoretisch geschieden
werden‘‘; beide sind „praktisch meist miteinander verbunden“ (S. 34). Unter
„wirtschaftlicher Gewalt (pression économique, economic pressure)“ versteht
Lenz ‚jeden Zwang, der durch Entfaltung wirtschaftlicher Machtmittel geübt
wird“ (S. 37). Die Mittel, deren sie sich bedient, sind der leicht zum Kampi-
zoll, ja zum Zollkrieg ausartende Schutzzoll (Maximal- und Minimaltarife) und
die offenen und versteckten Ausfuhrprämien, die letzten Endes zur Schleuder-
konkurrenz führen. ‚Die aggressive Tendenz erhält aber der wirtschaftliche Im-
perialismus hauptsächlich durch das im Wege der Kartelle, Trusts, Fusionen oder
Interessengemeinschaften geeinigte (sroßkapital“, das von Kjellén als ‚‚fünfte
Waffe der kriegerischen Expansion‘ bezeichnet worden ist. Die Ausnützung der
monopolistischen Stellung im Inland führt zur Anhäufung von Kapital, das nach
Verwertung und Anlage im Ausland sucht und damit die Regierung auf die
Bahn der kriegerischen Expansion treibt. ‚Die erobernde Kraft des Leihkapitals
wiid durch dessen bankmäßige Verwertung noch gesteigert.“ In der Form von
Aktien gelangt es in die Hände der (Großbanken, der Träger des ,,Effekten-
kapitalismus“; das dort konzentrierte Finanzkapital wird schließlich, gleich
dem Handelskapital, der Hauptinteressent an der wirtschaftlichen Expansion:
„So entsteht in der politisch einfluBreichen kapitalistischen Wirtschaft-gruppe
ein ökonomisches Interesse an Schutzzöllen, Kartellen, Monopolen, Dumping,
kurzum aggressiver Außenpolitik. Dazu kommt, daß die Eroberung nahrungs-
und’ rohstoffreicher Länder eine die militärischen Kreise gewinnende Autarkie
schafft und das organisierte Kapital auch ein Interesse an der Fortdauer de:
Konsumtionsexzesses während des Krieges erhält“ (S. 43).
Im zweiten Kapitel wird der Wirtschaftskrieg dargestellt, den Groß-
britannien und dessen Bundesgenossen gegen die Mittelmächte führten. Der
Herr Verfasser bespricht zuerst das „privatwirtschaftliche Kampfrecht der
Enntente‘‘, das in Handels- und Zahlungsverboten, in Beschränkungen der Prozeß-
fähigkeit und in allerlei Hemmungen und Enteignungen von Rechten aes Feindes
bestand; sodann die „Seehandelssperre‘‘ und „die Aufsicht über die Einfuhr
in die neutralen Lander‘; endlich ‚.die Vergeltungsmaßregeln der Mittelmächte‘“.
Hiebei werden die maritimen Maßnahmen der Alliierten und die von den Zentral-
staaten dagegen geübten Repressalien besonders eingehend erörtert und mit
seltener Sachkunde rechtlich beurteilt.
Allerdings wird der Herr Verfasser dem Vorgehen der Mittelmächte meines
Erachtens nicht ganz gerecht. Um nur eines hervorzuheben: Mr bemerkt. daß
der sogenannte Unterseebvotkrieg insofern nur als Vergeltung gerechtfertigt
Geschichte, Rechtswissenschaft, Philosophie und andere Hilfswissenschaften. 1.75
erscheint, als er „in drei Punkten, der Unterlassung von Anhaltung und Durch-
suchung. der Zerstörung anstatt Weenahme und der Unterlassung der Sicherung
von Passagieren und Mannschaft vor der Zerstörung“ den Regeln des über-
lieferten Prisenrechts widersprach. Und er fährt dann fort: ..Aber auch diese
Rechtfertigung versagt dann, wenn die Vergeltungsmaßnahmen derartig sind.
dab sie sich nicht nur gegen den Kriegtührenden, der Anlaß zur Vergeltung
gegeben hat, sondern auch gegen Neutrale richten, wie es von den Vereinigten
Staaten von Amerika in ihrer Note vom 23. Juli 1915 hervorgehoben wurde“
($.108). Lenz nimmt otfenbar an. daB neutrale Staatsangehörige einen Anspruch
darauf haben, auf Handels- und Passagierschiffen kriegführender Staaten auf
dem Kriegsschauplatz unbehelligt zu reisen. Ich halte diese Annahme für
unbegründet. Neutrale Personen. die sich unter der Flagge eines Kriegführenden
auf den Kriegsschauplatz begeben, handeln auf eigene (iefahr. Es würde zu
unerträglichen Folgen führen, wollte man ihnen zuliebe den Kriegführenden die
Wahrnehmung von Lebensinteressen verwehren. Dieser Gedanke ist des näheren
in dem Aide-Mémoire ausgeführt, das das österreichisch-ungarische Ministerium
des Äußern am 5. März 1917 an den amerikanischen Botschafter in Wien zerichtet
hat. Ich erwähne diese vom Herrn Verfasser nicht zitierte Denkschrift deshalb.
weil sie sich mehr als irgendeine andere Note der Mittelmachte auf die politisch
heiklen juristischen Streitfragen einließ. Welche Bedeutung ihr die Gegner
beimaßen. zeigt der stürmische Widerspruch, den sie in der Presse der Entente-
mächte fand. sowie die Tatsache, daß die Unionsregierung ihre Veröffentlichung
in den amerikanischen Blättern untersagte.
Im dritten Kapitel sucht Lenz das dem wirtschaftlichen Imperialismus.
und dem Wirtschaftskrieg „gemeinsame Wesen’ zu erfassen: „Der Wirtschafts-
kampf im Weltkrieg oder Wirtschaftskrieg im engeren Sinne bedeutet gegenüber
dem Wirtschaftskampf des Imperialismus nur eine Fortsetzung des Kampfes
in anderer Art“ (S. 114). Im Frieden beschränkt der wirtschaftliche Imperialis-
mus den Mitbewerber „nur hinsichtlich einzelner Betätigungen seiner Volkswirt-.
schaft“, der Weltkrieg brachte eine volle Sperre zu Lande und zur See, gesichert
durch privatwirtschaftliche Rechtsverbote’ und durch Aufbietung der — übrigens
auch zu Friedenszeiten häufig in den Dienst des wirtschaftlichen Kampfes
gestellten — militärischen Macht: ..Der Weltkrieg war. soweit es sich wn den
Krieg des Vierbundes mit England und Rußland handelte, in hohen: Maße,
soweit es sich um Frankreich handelte, in minderem Maße, soweit es sich um
Italien handelte, in geringem Maße ein Wirtschaftskampf.‘ Ferner: Im Frieden
zeigte der wirtschaftliche Kampf eine gewisse Lokalisierung: er äußerte sich
nur im Verhältnis der kämpfenden Bewerber, war auch sein Schauplatz „die
ganze Welt. in besonderem Maße aber das Gebiet der politisch oder wirtschaftlich
schwachen Staatsgebilde. wie die Türkei. China, Persien. Marokko, und das
Siedlungsgebiet aller Volker .niederer Zivilisation’ überhaupt“. Im Weltkriege
hat der Wirtschaftskrieg „nicht nur die Volkswirtschaften der Kriegsteilnehmer,
sondern auch die neutraler Staaten ... mittelbar mit in den Krieg einbezogen
und die Einhaltung strenger Neutralität auf wirtschaftlichem Gebiet geradezu
176 Einzelbesprechungen.
unmöglich gemacht“ (S. 115). So gelangt Lenz zu dem Schlusse: ‚Der Wirt-
schaftskampf ist dem militärischen Kriege vielfach vorangegangen, er hat in
verschärften Formen den militärischen Krieg begleitet und wird nach dem
militärischen Frieden fortgesetzt werden. Die selbstsüchtige Verfolgung wirt-
schaftlicher Ausdehnung durch Mittel der Gewalt ist daher vom militärischen
Kriege unabhängig.“ So soll er denn, da er, wie der militärische Krieg, ein
„Übel“ ist, das „den Gegenstand internationalen Interesses bildet", und da er
‚gleich dem militärischen Krieg kaum immer und überall zu verhindern sein
wird", ebenfalls einer internationalen .„‚Regelung‘‘ zugeführt werden (S. 116).
Das vierte Kapitel ,,Die Beendigung des Wirtschaftskrieges‘‘ handelt
hauptsächlich von der Pariser Wirtschaftskonferenz des Jahres 1916 und den
Friedensschlüssen von Brest-Litowsk, Bukarest, Versailles und Saint-Germain.
Wie Lenz aie Auswüchse des wirtschaftlichen Wetthewerbes der Staaten als
etwas „Gemeinschädliches‘‘ betrachtet, das durch internationale Bindung
verhütet oder wenigstens beschränkt werden soll, wendet er sich auch gegen
den Wirtschaftskrieg, den er der zerstörenden Wirkungen halber, die er auch
auf den Angreifer und die Neutralen übt, und wegen seiner Tendenz, den offiziellen
Friedensschluß zu überdauern (,,war after war‘‘), als ‚ungesund‘ bezeichnet
(S. 119). Der Wirtschaftskrieg widerspricht dem bisher geltenden allgemeinen
Völkerrecht: er beruht weder auf einer ‚universellen Gewohnheit aller Kultur-
völker‘‘, noch auf Verträgen, ja er verstößt gegen das vertragsmäßige Völkerrecht,
wie Lenz durch eine Erörterung der vielumstrittenen Bestimmung desArtikels 23 A
des Haager Landkriegsreglements darzutun sucht. Zum mindesten sei „die
Konfiskation feindlichen Privateigentums‘‘ und die „Aufhebung oder Über-
tragung von Privatrechten‘‘ als gewohnheitsrechtlich unzulässig zu betrachten
(S. 127).
Die Friedensschlüsse im Osten zeigen im allgemeinen das Bestreben der
Mittelmächte, dem militärischen und dem wirtschaftlichen Krieg von beiden
Seiten ein Ende zu machen. Abweichend davon tritt in den Beschlüssen der
Pariser Wirtschaftskonferenz die Tendenz zutage, den Wirtschaftskrieg nach
dem militärischen Friedensschluß fortzusetzen, und zwar in dem Sinne, dab
die Mittelmächte der wirtschaftlichen Gleichberechtigung entbehren, ja sogar
eine weitgehende Überwachung dulden sollen. Allerdings wollen auch die Friedens-
schlüsse von Versailles und Saint-Germain , nicht als Machtsprüche der siegreichen
alliierten und assoziierten Mächte erscheinen. Die Kriegsbeendigung soll wie
die Kriegführung einen Rechtsspruch darstellen... Krieg und Frieden
erscheinen im Lichte dieser Verträge als eine Art Strafverfahren der alliierten
und assoziierten Mächte, das sich gegen Deutschland und Österreich als Urheber
der Kriegsschäden richtet. Weil es aber den alliierten und assoziierten Mächten
an einem völkerrechtlichen Titel zu einem Richterspruch mangelt, wird das
von einer Kriegspartei ohne Garantien für die Unparteilichkeit gefällte Urteil
durch den Friedensvertrag zur Anerkennung durch den Gegner gebracht...
Derart soll der Friedensschluß aus einem Machtspruche zu einem Urteil über
die Sachfälligkeit kraft Anerkenntnisses in einem Rechtsstreiteumge wandelt
Geschichte, Reehtswissenschaft, Philosophie und andere Hilfswissenschaften. 17%
werden. Dieser endet, soweit es die unterlegenen Staaten angeht, mit ihrer
Solidarhaftung für die Wiedergutmachung aller Schäden, die der Zivil-
bevölkerung der alliierten und assoziierten Mächte und ihrem Eigentum durch
den Angriff zu Lande, zur See und in der Luft zugefügt wurden’ (S. 167).
Leider unterläßt es der Herr Verfasser, die von ihm so treffend charakterisierten
Friedensschlüsse von Versailles und Saint-Germain mit den Bestimmungen des
Waffenstillstandes zu vergleichen und seine Auffassung über die Rechtsverbind-
lichkeit der Friedensverträge vorzutragen. Indessen, es ist ihm in diesem Kapitel
im wesentlichen um die systematische Darstellung der Bestimmungen der Friedens-
verträge zu tun; und diese ist ihm denn auch in hohem Maße gelungen — doppelt
anerkennenswert bei der Vielfältigkeit und Sprédizkeit des Stoffes.
Das fünfte und letzte Kapitel des verdienstvollen Werkes darf das
größte Interesse in Anspruch nehmen; es befaßt sich mit der ‚internationalen
Regelung des Wettbewerbes der Völker“.
Die Welt bedarf eines dauernden Wirtschaftsfriedens. Denn der wirtschaft-
liche Kampf, sowohl in der Form des wirtschaftlichen Imperialismus, wie in
der des Wirtschaftskrieges ist — der Herr Verfasser wiederholt es mit Nach-
‚druck — ein Übel, mag man ihn vom Standpunkt der Sittlichkeit, der Politik
oder der Wirtschaft selbst betrachten (S. 208). Wie schon die Erfahrungen der
letzten zwei Jahre zeigen, vermag das freie Spiel der Kräfte allein den wirt-
schaftlichen Frieden nicht herbeizuführen; er kann ‚nur aut dem Wege einer
rechtlichen Ordnung der weltwirtschaftlichen Beziehungen der Völker schritc-
weise veiwirklicht werden‘ (S. 210).
„Das Problem einer internationalen Regelung des Wirtschaftskampfes
mündet in den Ausgleich zwischen den Interessen der nationalen Wirtschafts-
politik und der Weltwirtschaftspolitik ein.“ Drei Ziele sind zu verfolgen: Her-
stellung der „rechtlichen Gleichheit des Wettbewerbes durch Beseitigung
der Vorzugs- und Ausschlußrechte einzelner Mitbewerber‘; dann „die Ver-
hütung und die Regelung des unvermeidbar gewordenen Wirtschafts-
krieges‘‘; endlich „die Herbeiführung tatsächlicher Gleichheit im inter-
nationalen Wettbewerb durch Sicherung der wirtschaftlichen Existenz jeder
völkerrechtlich anerkannten Volkswirtschaft, ihren Schutz vor wirtschaft-
licher Ausbeutung und die Überführung einzelner nationaler Anteile an der
Weltwirtschaft in die Gemeinwirtschaft (Sozialisierung)‘“ (S. 214).
Der Internationalisierung des Wettbewerbes ist nach Lenz bis jetzt nur
in sehr geringem Maß vorgearbeitet. Denn der Wiederaufbau der in den letzten
Jahrzehnten geschaffenen internationalen technischen Einrichtungen (Post.
Telegraph, Eisenbahnen, Kabel usf.) stellt „nur ein unzureichendes Maß der
Sicherung dar“ (S. 215). Es gilt vor allem, der Absperrung des Handelsverkehres
entgegenzutreten. Die von mehreren Seiten befürwortete Einführung des Frei-
handelssystems stieBe jetzt auf mannigfache Schwierigkeiten; sie würde übrigens
insofern nicht Abhilfe schaffen, als „gerade die Freiheit des Verkehres von den
imperialistischen Staaten zum Mißbrauch ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit ...
geführt hat“ (S. 218). Es bedürfte daher eines völkerrechtlichen Schutzes der
Zeilschrift für Volkswirlschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1. Band. 12
178 Einzelbespreehuneen.
schwächeren Volkswirtschaften vor wirtschaftlicher Ausbeutung. Das System
der Meistbegünstigung. an das man in diesem Zusammenhang auch denken
mag, leidet an einem Gebrechen anderer Art; es „kann dazu führen, daß durch
engere wirtschaftliche Einigung zwischen Ländern ähnlicher wirtschaftlicher
Entwicklung die Steigerung des Wirtschaftsgegensatzes mit den übrigen Ländern
zunimmt‘ (S. 219). Unter diesen Umständen kommt dem Grundsatz der „offenen
Tür“, besonders aber der Idee der Sozialisierung erhöhte Bedeutung zu. Die
Sozialisierung bestünde in der „Unterordnung der Machtpolitik einzelner Volks-
wirtschaften unter die gemeinsamen Bedürfnisse der Weltwirtschaft‘, konkreter
gesprochen: in einer „Beschränkung des freien Verfiigungsrechtes der einzelnen
Volkswirtschaft über ihren Anteil an der Weltwirtschaft‘. Letztes Ziel der
Internationalen ..Kontrolle’ des Wettbewerbes wäre „die Vergesellschaftung
der überschüssiren Anteile, die eine Volkswirtschaft an der Weltwirtschaft
besitzt“: „Wie bei der Sozialisierung in der nationalen Volkswirtschaft, so
müßten schließlich einzelne Produktionsmittel der Weltwirtschaft, insbesondere
Kohlenbergwerke, Grund und Boden, Verkehrsmittel allmählich in weltwirt-
schaftliches Eigentum übergeführt werden. Die Volkergemeinde hätte dieses
öffentlichrechtliche Verfürungsrecht durch den Völkerbund als internationales |
Wirtschaftsorgan auszuüben” (S. 224). Hiebei hat der Herr Verfasser nur „die
im Übermaße. das heißt in dem die nationalen Bedürfnisse überschreitenden
Maße vorhandenen Produktionsmittel im Arge. Er führt als Beispiel das tast
unbeschränkte .itecht der Beherrschung und Nutzung Englands und Frank-
reichs an den Tropenprodukten einerseits und Deutschlands an den Kalilagern
anderseits“ an (58.215). Lenz täuscht sich nieht darüber, daß dieser Plan sehr
schwer durchzuführen wäre. Er will daher ‚nur von den vorläufigen, das heißt
bei der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Lage möglichen und ersten
Mitteln der Sozialisierung™ (N. 225) handeln: Das sind „die Gewährleistung der
wirtschaftlichen Lebensfähigkeit”” der schwächeren Volkswirtschaften (vor allem
Verpflichtung der ein Monopol genieBenden Länder zur Lieterung ihrer Über-
senüsse an die bedürftigen Wirtschaften), dann gleichmäßige Zugänglich-
machung der Kolonialgebiete und des Meeres. Die „Völkerschaften. die noch
nicht die Fähigkeit der politischen und wirtschaftlichen Selbstverwaltung erlangt
haben, müßten einer internationalen Aufsicht unterstellt werden“ (S. 228). Deu
„kriegerischen Methoden des wirtschaftlichen Imperialismus“, besonders den
Kampfzöllen, dem Dumping und den Austuhrpräimien, wäre mit völkerrechtlichen
Verboten zu begegnen (8. 231). Dagegen hielte es Lenz nicht für angezeigt.
den „unlauteren Wettbewerb” im internationalen Handelsverkehr schlechthin
zu verbieten: denn ein solches Verbot müßte „eine genauere Fassung der einzelnen
Methouen enthalten, wofür noch nicht die erforderlichen Abgrenzingen getunden
sind’? (8. 231).
Was den Wirtschaftskrieg anlangt, schlägt der Herr Verfasser in der Über-
zeugung, daß ein Verbot dieser Art der Kriegführung in absehbarer Zeit nicht
zu erreichen ist, eine Regelung im Sinne der Aufstellung ‚rechtlicher Schranken’
vor. In ausführlichen Darlegungen (S. 231 bis 255) untersucht Lenz, innerhalb
Geschichte. Rechtswissenschaft, Philosophie und andere Hiltswissenschaften. 179
welcher Grenzen „das privatwirtschaftliche Kampfrecht und die „Seehandels-
sperre“ rechtlich geregelt werden könnten. Hier kann die dem Herrn Verfasser
vorschwebende Regelung nut in Schlagworten wiedergegeben werden: Beschtän-
kung des Wirtschaftskrieges auf den Handelsveikehr und Monopolisierung durch
die Staatrgewalt; Zulässigkeit der Suspendierung von Rechten, wie der Ver-
wahrıng und Zwangsverwaltung feindlichen Privateigentuns, dagegen grund-
-ätzlich Verbot der Liquidation und Konfiskation; Achtung der Neutralität
aueh im Wirtschaftskrieg; vélliges Aufhören des Wirtschaftskrieges im Augen-
biek des Friedensschlusses. Zur See: Beibehaltung des Beuterechtes.
doch Verbot aller Lieferungen neutraler Personen nach dem Gebiet oder den
Streitkräften eines Kriezführenden. und zwar auch über neutrale Häfen: Beseiti-
«ung des Schutzes feindlichen Gutes dureh die neutrale Flagge: Verbot der
offensiven Verwendung verankerter Minen; Verbot der Verwendung des Unter-
seeboots als Kampfmittel im Wirtschaftskriex; Verbot der Bewattnune von
Handelsschiffen und des Mißbrauch: neutraler Flaggen — kurz: Anpassung der
Normen des Seektiegs- und Neutralitätsrechtes an den zulässigen Wirtschaftskriee.
Als „internationales Wirtschaftsorgan“ hätte nach Lenz der Volkerbund
zu wirken. „Er soll die rechtliche und die tatsächliche Gleichheit aller an der
Weltwirtschaft teilnehmenden Volkswirtschaften annähernd regeln. Zu diesem
Zweck muß er mit Autorität und Zwangsgewalt ausgerüstet sein: Die Vertassune
des Völkerbunds soll ‚eine dreifache 'Tätirkeit rechtsetzender, richtender oder
vermittelnder und vollziehender Natur vorsehen und die hiefür erforderlichen
Bundesorgane schaffen“ (S. 257). Der ,„Deleriertenversammlung‘‘ käme zu,
die „Grundsätze für die Internationalisierung und Sozialisierung des wirtschaft-
lichen Verkehres‘“ festzulegen, sie selbst wäre aber nicht nur aus Vertretern der
Regierungen, „sondern zugleich aus Vertretern der Parlamente im Verhältnisse
von 1:2 zu bilden“. „Vom Standpunkt der Erhaltung des Wirtschaftsfriedens
aber müßte neben den politischen Erwägungen auch den wirtschaftlichen Inter-
essengruppen eine Vertretung gewährt werden" (S. 258). Die Schlichtung etwa
ausbrechender Streitigkeiten obläge, soweit sie rechtlicher Erledigung zugänglich
sind, einem ständigen internationalen Gerichtshof, andernfalls einem ständigen
Vermittlungsrat. Uber ‚die Zusammensetzung des Exekutivorgans' äußert
sich Lenz lieber nicht; er bezeichnet diese Frage mit Recht als ..besonders heikel“.
Als wirtschaftliche Zwang. mittel nennt er ..die Einstellung des Post-, Telegraphen-
und drahtlosen Verkehres mit dem rechtsbrüchiren Staat, das Verbot der Einfuhr
nach oder der Ausfuhr aus diesem Staat. das Verbot des Handelsverkehres, die
Blockade eines oder mehrerer Häfen und schließlich die Sperre des gesamten
Seeverkehires. Die Beschlagnahme oder Liquidation feindlichen Privateigentums
wäre wegen ihrer Gefährlichkeit für die Weltwirtschaft zu unterlassen‘ (S. 261).
Im letzten (siebenten) Abschnitt unterwirft Lenz die „Regelung des inter-
nationalen Wettbewerbes in den Friedensschlüssen von Versailles und Saint-
Germain‘ einer eindringenden Beurteilung: „Bei dem einseitig auferlegten Macht-
frieden wäre eine die weltwirtschaftlichen Interessen wahrende Ordnung nicht
zu erwarten gewesen, wenn nicht in der Annahme der wirtschaftspolitischen Grund-
180 Einzelbesprechungen.
sätze Wilsons durch die alliierten und assoziierten Mächte als Grundlage der
Friedensbedingungen hiefür ein Anlaß gegeben gewesen wäre.“ So war „die
Erwartung begründet, daß der Wirtschaftskampf durch ein Abkommen über die
internationale Zusammenarbeit ersetzt würde. Anstatt dessen beobachten wir,
wie bei der Regelung des privatwirtschaftlichen Kampfes, so auch beı der Ordnung
des internationalen Wettbewerbes überhaupt, das Ringen der imperialistischen
Bestrebungen mit den weltwirtschaftlichen Interessen‘ (S. 261). Die „Ordnung
des Wettbewerbes im einzelnen‘ läuft in fast allen Materien auf einseitige Be-
günstigung der Ententestaaten und ıhreı Mitläufer hinaus. Von einer „Sicherung
der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit‘‘ kann, soweit das Deutsche Reich und
Österreich in Betracht kommen, nicht die Rede sein. Daß die Mächte in Versailles
im Völkerbund „ein besonderes Organ der Völkergemeinschaft mit weltwirt-
schaftlichen Aufgaben und militärischer wie wirtschaftlicher Zwangsgewalt“
errichtet haben, stellt einen bedeutenden Fortschritt gegenüber dem anarchischen
Zustand der Weltwirtschatt vor dem Kriege“ (S. 304). dar Aber dem Volkerbund
mangelt die „Allgemeinheit‘‘ und eine hinreichende Kompetenz. Auch bietet
seine Organisation keine Bürgschaft dafür, daß die weltwirtschattlichen Inter-
essen gewahrt werden (S. 315).
Kann man füglich erwarten, daß die Ausführungen des Herın Verfassers
in ihrem deseriptiven und kritischen Teile — wenigstens bei voruiteilsfreien
Lesern — lebhafter Zustimmung begegnen werden, so muß man wohl damit
rechnen, daß das von ihm entwickelte Programm auch Widerspruch finden
wird. Es ist freilich nichts leichter, als die Frage aufzuwerfen, ob auch nur geringe
Aussicht besteht, so weit ausgreifende Gedanken zu verwirklichen, insbesondere
zur Herstellung einer „rechtlichen und tatsächlichen Gleichheit der Volkswirt-
schaften‘ zu gelangen, nachdem man kurz zuvor große Wirtschaftsgebiete
zerschlagen und ein bisher unerhörtes System wirtschaftlicher Ungleichheit
begründet hat. Man könnte auch darauf verweisen, daß es zwar durchaus
verständlich ist, wenn die jetzt zur Ohnmacht verurteilten Mittelmachte wenigstens
nach dem Strohhalm einer internationalen Vereinbarung greifen, daB es aber
ebenso verständlich ist, wenn die imperialistischen Westmächte nicht geneigt
sind, ihre mit großen Optern errungenen Ertolge wieder aus der Hand zu geben.
Vollends werden jene zur Skepsis neigen, die mit Gustav F. Steffen (Weltkrieg
und Imperialismus) im Imperialismus die Äußerung einer ‚in der tiefsten Tiefe‘
der Volksseele liegende „Begierde, zu organisieren und zu leiten“, also eine Art
elementarer Kraft erblicken, die rechtlicher und sittlicher Schranken spottet.
Allen diesen Zweiflern gegenübeı wird sich Lenz auf seinen realpolitischen
Ausgangspunkt berufen: er betont des öfteren, daB das Interesse aller Staaten.
auch der Ententemächte, nach eine: zwischenstaatlichen Regelung der welt-
wirtschaftlichen Fragen drängt, ein Interesse freilich, das heute manchenorts
noch nicht anerkannt ist. Jüngst ist dem Herrn Verfasser auf britischem Boden
ein Bundesgenosse erstanden, dessen Gedanken sich in ähnlicher Richtung
bewegen; der bekannte Norman Angell bestreitet, daß der große Krieg für aie
Westmächte wirklich erfolgreich war; auch er sei eine „falsche Rechnung‘ gewesen.
Gesebichte, Rechtswissenschaft, Philosophie und andere Hilfswissenschaften. 181
Wie immer man im übrigen die Vorschläge Lenz‘ beurteilt, scheint doch das
eine unbestreitbar zu sein. daß sein Buch. das den schwierigen Stoff in jeder
Hinsicht meistert und sorgfältig anf die bisherigen Lösungsversuche Bedacht
nimmt, besonders geeignet ist, das Zusammenarbeiten der Juristen und Volks-
wirte auf dem beide in gleicher Weise interessierenden ‚Gebiete zu tördern. Möge
also das schöne und lehrreiche Werk in beiden Kreisen viele Leser finden !
Wien. Alexander Hold-Ferneck.
Dr. jur. et phil. Karl Binding und Dr. med. Alfred Hoche, Die Freigabe
der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.
Leipzig 1920. Felix Meiner. 62 S.
Abgesehen von den Tötungsrechten und abgesehen vom Notstand ist nach
heute geltendem Recht die unverbotene Lebensvernichtung auf die Selbsttötung
des Menschen, den sogenannten Selbstmord, beschränkt, jede Vernichtung
fremden Menschenlebens verboten und bei schuldhaften Handeln strafbedroht.
Soll es bei den engen Grenzen der unverbotenen Lebensvernichtung bleiben oder
sollen sie nicht vielmehr auf Tötungen von Nebenmenschen erweitert werden
und in welchem Umfang ? Das ist die Frage, die Binding auf Grund ,,bedach-
tiger rechtlicher Erwägung‘ der Gründe für und wider, mittels strenger juristischer
Behandlung lösen will. Es sei zunächst der Gang der Untersuchung kurz wieder-
gegeben. Den Ausgangspunkt bildet das geltende Recht. Der Selbstmord ist
weder Delikt noch rechtmäßige Handlung, sondern rechtlich unverbotene
Handlung, der Mensch ist Herr über sein Dasein. Die Teilnahme am Selbst-
mord ist nicht freigegeben, sie ist Delikt, wenn auch infolge der verfehlten Anlage
des Gesetzes nicht strafbar. Die Euthanasie oder Sterbehilfe ist bei richtiger
Begrenzung des Begriffes überhaupt keine Tötungshandlung im Sinne des Rechts.
Sie ist nur dann anzunehmen, wenn die vorhandene Todesursache (Verwundung,
Krankheit) durch eine andere schmerzlos wirkende ersetzt wird und der Zeit-
unterschied zwischen dem infolge der ersten Ursache vorauszusehenden und dem
durch das Mittel der Sterbehilfe verursachten Tod nicht in Betracht fällt. Sie
ist eine reine Heilbehandlung, eine unverbotene Handlung, aber keine frei-
gegebene Tötungshandlung.
Das geltende deutsche Recht zeigt einen schwachen „Ansatz‘‘, zur Frei-
gabe der Tötung von Nebenmenschen fortzuschreiten. Die Tötung desjenigen,
der seinen Tod ausdrücklich und ernstlich verlangt, durch den, an den das Ver-
langen gerichtet war, wird als ein selbständiges Tötungsvergehen behandelt
und verhältnismäßig milde bestraft. Andere Gesetze verbinden den hier wirk-
samen Gedanken mit einem zweiten, indem sie die Sonderbeliandlung davon
abhängig machen, daß der Getötete todkrank oder tödlich verwundet war. Aber
auch der letztere Gedanke allein hat in der älteren deutschen Gesetzgebung
(Preußisches Landrecht) und im norwegischen Strafgesetz zu weitgehender
Strafmilderung geführt: sie wird dem zuteil, der einem tödlich Verwundeten
oder sonst Todkranken in vermeintlich guter Absicht das Leben verkürzt. Viel
182 Einzelbesprechungen.
radikaler ist die nur im Schrifttum vertretene Bewegung. Im vorigen Jahr-
hundert ist von naturrechtlicher Grundlage aus behauptet worden, die Ein-
willigung des Verletzten schließe die Rechtswidrigkeit der Verletzung aus, die
Tötung des Einwilligenden könne also gar nicht bestraft werden, so unter anderen
W. v. Humboldt, Henke. Wächter. In Jüngster Zeit haben Jost (Göttingen
1895) und Dr. Elisabeth Rupp (Stuttgart 1913) gefordert, „das Recht auf den
Tod“ anzuerkennen. Dies die Sachlage, bei der es eine offene Frage ist, ob nicht
die künftige Gesetzgebung von der Strafmilderung der geltenden zur Straf-
ausschlieBung fortschreiten solle. Vorerst ergibt sich die Vorfrage: Gibt es
Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben.
daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen
Wert verloren hat ? Kühler Überlegung kann die Antwort nieht zweifelhaft sein.
Aber das genügt nicht. Jede unverbotene Tötung eines andern muß als eine
Erlösung mindestens für ihn empfunden werden. Der Lebenswille aller, auch der
kränkesten und nutzlosesten Menschen muß voll geachtet werden. Somit ergeben
sich drei Gruppen von Menschen, deren Tötung freizugeben zum Gegenstand
der weiteren Untersuchung zu machen ist, zwei Hauptgruppen und eine Mittel-
gruppe geringerer Bedeutung. 1. Die infolge Krankheit oder Verwundung
unrettbar Verlorenen, die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden
Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen
gegeben haben. etwa unheilbar Krebskranke, unrettbare Phthisiker, tödlich
Verwundete. Weder vom rechtlichen noch von sozialen. sittlichen, religiösen
Gesichtspunkt aus läßt sich irgendein Grund finden, die Tötung dieser Unrett-
baren nicht an die Personen freizugeben, von denen sie verlangt wird. Die Frei-
gabe ist eine Pflicht gesetzlichen Mitleids und mag auch das Interesse der Ange-
horigen der Tötung widerstreben — das Mitleid mit dem Unrettbaren, der seinen
Tod verlangt, ist das Entscheidende. 2. Die unheilbar Blödsinnigen — gleich-
viel ob es sich um angeborenen oder erworbenen Blödsinn handelt. Sie haben
keinen Lebenswillen, sie können getötet werden. ohne daB ein Lebenswille gebrochen
werden müßte. Ihr Dasein ist für ihre Angehörigen und die Gesellschaft eine
furchtbar schwere Last. Ein eigener Beruf entsteht, der sich darin erschöpft.
lebensunwertes Leben zu fristen. Von allen den oben angeführten Standpunkten
aus ist kein Grund dagegen aufzufinden, die Tötung solcher Menschen freizu-
geben. Sie darf aber nicht jedermann freigegeben werden. Nur die Angchorigen
und Vormünder sollen zum Antrag auf Freirabe berechtigt sein und nur den
Antragstellern wäre die Tötung freizureben. Der Mutter wäre ein Kinspruchs-
recht einzuränmen, wenn sie die Pflege des Blödsinnigen selbst übernimmt oder
dafür aufkommt. Die Mitteleruppe wird von geistig Gesunden gebildet. die durch
irgendein Ereignis (zum Beispiel tödliche Verwindung) bewußtles geworden
und unretthar dem Tod verfallen sind und aus ihrer Bewußtlosiekeit nur zu
namenlosem Ende erwachen würden. Wer in Fällen dieser Art den Bewußtlosen
aus Mitleid und in der Meinung tötet, der Getotete würde seiner Tötung zuge-
stimmt haben. wenn er dazu imstande cewesen ware. der soll zwar nieht unnbedinet
straflos bleiben. Stellt sich aber seine Annahme nicht etwa als übereilt. sondern
` . . . . or. . D ‚m
Geschichte, Rechtswissenschaft. Philosophie und andere Hilfswissenschaften. 185
als sachlich gerechtfertigt heraus, dann sollte die Möglichkeit bestehen, keine
Strafe zu verhängen.
Die Freigabe soll womöglich durch eine Staatsbehörde in einem besonderen
Verfahren ausgesprochen werden. Den Ansto® zum Verfahren gibt der Antrag
eines Berechtigten. In der Gruppe I ist der Kranke selbst zum Antrag berechtigt.
aber auch der Arzt oder irgend jemand anderer. den der Kranke beauftragt
hat. Von der Antragsberechtigung bei der Gruppe 2 war bereits früher die Rede.
Die Behörde hat zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Freigabe vorhanden sind.
Sie setzt sich aus einem Arzt für körperliche Krankheiten, einem Psychiater
und einem Richter zusammen und kann die Freigabe nur bei Einstimmiekeit
aussprechen. Der Beschluß gebietet die Tötung nicht und gibt kein Recht auf
sie. Er erklärt nur, dab der Tötung kein hindernder Grund im Wege stehe und
daß es dem Antragsteller anheimeereben werde, die Erlösung des Kranken in
sachgemiiBer Weise in die Were zu leiten. Es wäre empfehlenswert, auch das
veeignetste Mittel zur Tötung zu bezeichnen. Es sollte nur von einem Sach-
verständigen angewendet werden dürfen. Über den Vollzugsakt wäre ein sorg-
fältiges Protokoll aufzunehmen und dem Freisabeausschuß zu übergeben. -- In
manchen, wenn auch seltenen Fällen wird es nicht mörlich sein, ein Erkenntnis
des Freigabeausschusses einzuholen (Gruppe L und insbesondere Gruppe 3).
Dann soll die Tötung straflos bleiben. wenn der Täter mit Recht angenommen
hat. die Voraussetzungen der Freigabe seien gegeben, Es wäre ihm aber eine
„Verklarungspflicht” aufzuerlegen. das heißt er hätte dem Freigabeausschuß
sofort nach der Tat Anzeige zu erstatten.
Daß der Freigabeausschuß einmal ein irriges Erkenntnis fällt, diese
Möglichkeit ist zuzugeben. Aber um ihretwillen die Freigabe ganz verwerfen,
hieße die Erlösung vieler Unrettbarer der Erhaltung eines doch kaum wert-
vollen Lebens opfern. Es ist der Fehler unserer Zeit. das Mitleid über das richtige
MaB hinaus zu steigern. Den Unheilbaren den ersehnten Tod verweigern. ist
kein Mitleid mehr, sondern sein Gegenteil (S. 41).
Hoche gibt in seinen ärztlichen Bemerkungen zunächst einen Überblick
über das Verhältnis des Arztes zu fremden Menschenleben und sucht zu zeigen,
wie es dureh die „ärztliche Sittenlehres, den AusfluB der Standesanschauungen
bestimmt werde. Das katerorische Gebot der unbedingten Lebensverlängerung
wird für den Arzt am Sterbebett des Kranken zu einer bedrückenden Fessel.
Fs wäre zu begrüßen. wenn sie gelockert würde. Der Verfasser wendet sich dann
der Hauptfrage zu, der Frage. ob es Menschenleben gebe. deren Fortdauer für
die Lebensträger, wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren habe.
und erklärt, daß sie im allgemeinen mit Bestimmtheit zu bejahen sei. Im
einzelnen wird bei der Gruppe 1 nicht immer der subjektive und der objektive
Lebenswert gleichmäßig aufgehoben sein. bei der zweiten. den unheilbar Blöd-
sinnigen, fehlt jeder Lebenswert. Die letzteren sind zu teilen in a) Fälle, bei
welchen der geistige Tod im späteren Verlauf des Lebens nach Zeiten geistiger
Vollwertigkeit oder doch Durchsehnittlichkeit erworben wird und in 5b) solche.
die auf Grund anzeborener oder in frühester Kindheit einsetzender Gehirn-
184 Einzelbespreehungen.
veränderungen entstehen. Zu a) Greisenveränderungen des Gehirns, dementia
paralytica (,,Hirnerweichung‘), arteriosklerotische Veränderungen im Gehirn.
dementia praecox (Verblödungsprozesse im jugendlichen Alter); zu b) MiB-
bildungen des Gehirns, Hemmungen der Entwicklung wahrend der Existenz
im Mutterleib, Krankheitsvorgänge der ersten Lebenszeit. Bei beiden Gruppen
ist derselbe Grad geistiger Öde möglich. Aber es besteht doch ein Unterschied
im Zustand des geistigen Inventars, gleich dem zwischen einem regellos herum-
liegenden Haufen von Steinen, an die noch keine bildende Hand gerührt hat,
und den Steintrümmern eines zusammengestürzten Gebäudes. Diesem Unter-
schied reiht sich ein weiterer im Verhältnis der Umgebung zu den geistig Toten
der zwei Gruppen an. Die der Gruppe 5) haben eben eine geistige Vergangenheit
und können deshalb einen ganz anderen „Affektionswert‘‘ erworben haben.
Endlich ergeben sich Verschiedenheiten in der wirtschaftlichen und moralischen
Belastung durch die geistig Toten. Eine aufsteigende Linie führt hier von Hirn-
erweichungen und Greisenblödsinn über- die dementia praecox (Lebensdauer
von 20 oder 30 Jahren im Zustand des Blödsinns) zur Vollidiotie auf Grund aller-
frühester Veränderungen (Lebensdauer von zwei Menschenaltern). Die Kulmination
geistiger Verödung trifft also mit der schwersten Belastung der Gesellschaft zu-
sammen. Nach dem Ergebnis einer Rundfrage bei sämtlichen deutschen Anstalten
befinden sich 20.000 --30.000 Idioten in Anstaltspflege; davon sind aber nur 3000
bis 4000 Vollidioten, das heißt Leute, bei welchen keinerlei geistiges Leben, kein
Rapport zur Umgebung vorhanden ist. Der durchschnittliche Aufwand pro Kopf
und Jahr beträgt 1300 M (Frühjahr 1920). Die wirtschaftliche Belastung durch
die Idiotenpflege ist mit den angeführten Ziffern lange nicht erschöpft. Die
gegenwärtige Lage des Deutschen Reiches drängt zur sorgfältigen Prüfung. ob
der Aufwand für „Ballastexistenzen‘ völlig gerechtfertigt sei. Aber der Gedanke.
hier durch die Freigabe der Vernichtung völlig wertloser Existenzen zu entlasten.
wird zunächst und wohl noch für lange lebhaftem. vorwiegend gefühlsmäßig
vermitteltem Widerspruch begegnen und nur soviel läßt sich sagen: „wir
werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daB die Beseiti-
gung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Hand-
lung, keine gefühlsmäßige Roheit, sondern einen erlaubtennützlichen Akt
darstellt‘“.
.Kennzeichnend für den Zustand des geistigen Todes ist nach außen hin der
Fremdkörpercharakter im Gefüge der menschlichen Gesellschaft. das Fehlen
irgendwelcher produktiven Leistungen, ein Zustand völliger Hilflosigkeit mit der
Notwendigkeit der Versorgung durch andere, in bezug auf den inneren Zustand
das Fehlen des Selbstbewußtseins. Um dieses Mangels willen ist die Beseitigung
eines geistig Toten einer sonstigen Tötung nicht gleichzusetzen. Denn der geistig
Tote ist auBerstande, auf irgend etwas Anspruch zu erheben. also auch nicht auf
das Leben. Falsch ist ihm gegenüber auch der Gesichtspunkt des Mitleids. Er
beruht auf dem verfehlten Hineintragen unseres Denkens und Fühlens in fremde
lebende Geschöpfe. Der geistig Tote leidet nicht -- nicht im Leben und nieht
im Sterben. Daher auch kein Mitleid.
Gesehiehte, Rechtswissenschaft, Philosophie und andere Hiltswissensehaften. 185
Die Frage der technischen Sicherungen gegen irrtümliches oder mißbräuch-
liches Vorgehen bei der Beseitigung geistig Toter kann keine Schwierigkeiten
bereiten. Die Auswahl der Fälle. die für die Lebensträger und die Gesellschaft
endgültig wertlos geworden sind. kann mit solcher Sicherheit getroffen werden,
daß Irrtümer ausgeschlossen sind. An dieser ,.hundertprozentigen Sicherheit“
kann für den Arzt nicht der geringste Zweifel bestehen. Die Unmöglichkeit der
Besserung kann um so sicherer erkannt werden, als in vorderster Reihe die Zu-
stände geistigen Todes in Frage kämen, die von frühester Jugend an vorhanden
sind. Da kommt zwar nicht schon im zweiten oder dritten Lebensjahr, aber noch
in der Kindheit der Zeitpunkt, in dem die Zukunft zweifelsfrei bestimmt werden
kann.
Hoche schließt mit einem Hinweis auf das von Goethe stammende Bild
des Entwicklungsganges wichtiger Menschheitsfragen in der Form der Spirale.
Die Spirallinie kommt in gewissen Abständen immer wieder auf derselben Seite
an, aber jedesmal ein Stockwerk höher. Wie es eine jetzt als barbarisch betrachtete
Zeit gab, in der die Vernichtung lebensunfähig Geborener oder Gewordener
selbstverständlich war und wie jetzt die Erhaltung jeder noch so wertlosen
Existenz als höchste sittliche Forderung gilt. so wird eine neue Zeit kommen,
die vom Standpunkt einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forde-
rungen eines überspannten Humanitatsbegriffes und einer Überschätzung des
Wertes der Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzu-
setzen. Dabei kann es sich nur um einen ganz langsamen Prozeß handeln. Darum
werden diese Ausführungen heute keineswegs schon überall auch nur Verständnis
finden. Doch das ist kein Grund zum Schweigen für den. der nach mehr als
einem Menschenalter ärztlichen Menschendienstes das Recht beanspruchen kann,
in allgemeinen Menschheitsfragen gehört zu werden.
An diese schönen Schlußworte des ärztlichen Bearbeiters seien ein paar
kurze kritische Bemerkungen angeknüpft. Mit vollem Recht spricht Hoche
von allgemeinen Menschheitsfragen. Denn darum handelt es sich bei dem von
ihm erörterten Problem und nicht um eine juristische Frage. Das Problem durch
rechtliche Erwägungen, in strenger juristischer Behandlung lösen zu können,
ist der eine Grundirrtum Bindings. Man beachte bloß die geradezu gequälte
Fragestellung: „Gibt es Menschenleben, die so stark die Migenschaft des Rechts-
gutes eingebüßt haben, daß thre Fortdauer ... allen Wert verloren hat 2"
Das UOTEPOV TPOTEPOV im logischen Sinn ist geradezu handereiflich. Verliert
das Leben die Eigenschaft eines Rechtsgutes, wenn und weil es jeden Wert verloren
hat oder umgekehrt ? Kann ich die Eigenschaft des Rechtsentes nnabhängie
davon verneinen. ob das Leben für jemanden Wert hat ? In der Tat sind die
Erwägungen Bindings durchaus außerrechtlicher Natur und die Begründung
seines Vorschlages beruht im wesentlichen in der Behauptung, er sehe vom
rechtlichen. sozialen. sittlichen usw. Standpunkt keinen Grund gegen die
Freizabe der Tötung. Diese Behauptung wird ganz gleichmäßig für beide Haupt-
gruppen aufgestellt. In der Gleichheit der Behandlung beider sehe ich den
zweiten Hauptfeliler der ganzen Ausführungen Bindings; denn es handelt
186
Einzelbespreehungen.
sich um grundverschiedene Dinge. Bei der Gruppe 1 kann nur die Frage auf-
tauchen, ob die von einem unrettbar dem Tod Verfallenen verlangte Lebens-
verkürzung freizugeben sei. Man kann vom individualistischen Standpunkt
aus die Berechtigung der Strafe anzweifeln, man kann aber kein gesellschaft-
liches Interesse für die Lebensverkürzung geltend machen. Aus Geschichte und
Rechtsvergleichung läßt sich eine Entwicklunestendenz auf Strafmilderung
ableiten, aber nicht mehr. Den wichtigsten Punkt hat wohl Hoche berührt.
wenn er auf den den Arzt belastenden Zwang hinweist, unter allen Umständen
lebensverlängernde Eingriffe am Todkranken vorzunehmen. Würde die Pflicht
zu solchen Eingriffen eingeschränkt, dann fiele die angemessene Unterlassung
des Eingriffes nicht mehr unter den Begriff der Tötung und es bedürfte gar keiner
„Freigabe“. Für die übrigen, tatsächlich doch seltenen Fälle genügt die Möglich-
keit weitgehender Strafmilderung, wenn nur überhaupt das Strafgesetz die
Elastizität besitzt, die heute gefordert ist. Daß sich trotzdem einmal ein Fall
ereignen kann, für den der Bestand der Strafdrohung nicht ganz gerechtfertigt
ist, mag zugegeben werden. Aber kein Gesetz vermag auch den extremsten
Fällen gerecht zu werden. Seine Härte wird dann das ,.Sicherheitsventil des
Rechts“, die Gnade, beseitigen.
(ranz anders verhält es sich bei der Gruppe der Idioten. Hier handelt es
sich nur um einen Ausschnitt aus dem viel umfassenderen Problem, ob und in
welchem Umfang der Staat aus Gründen gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit
das Entstehen menschlicher Lebewesen verhindern und Menschenleben vernichten
soll. Die krörterung unter dem Gesichtspunkt der Freigabe der Vernichtung
von Menschenleben ist methodisch zweifach verfehlt. Denn einmal ist der Gesichts-
punkt viel zu enge gewählt und dann steht in erster Reihe gar nicht die Freigabe
der Tötung in Frage, sondern vielmehr das „Soll. In der Tat läuft die von
Binding versuchte Beweisführung darauf hinaus, darzutun, daß die Ver-
nichtung des Lebens der Idioten nützlich, vom Interesse der Gesellschaft gefordert
sei. Angenommen, daß dem so ware, dann dürfte es doch nicht vom Belieben
eines einzelnen abhängen, ob er die Freigabe der Tötung erwirkt und die frei-
vegebene Tötung vollzieht. Gerade die „Ereigabe‘ widerstreitet der Idee, kraft
deren sie gefordert wird. Die Tötung der geistig Toten. vollzogen um der Zweck-
mäbirkeit willen, könnte übrigens nur der Gipfelpunkt einer Entwicklung sein,
auf deren unteren Stufen das Unfruchtbarmachen schwer Belasteter, die Ab-
treibung bei schwerer Belastung der Eltern und anderes stehen müßten. Gegen-
über der von Binding erhobenen Forderung muB doch auf den Widersinn ver-
wiesen werden, der schon darin läge, die Tötung der Idioten freizugeben. aber
jede Abtreibung zu bestrafen. In unserer Welt wäre die Freigabe der Tötung
ein unheilvoller erratischer Block. Vergeblich weist Binding auf den grellen
MiBklang hin. der sich ergeben soll, wenn man sich ein mit Tausenden toter
Jugend bedecktes Schlachtfeld und daneben ein Idioteninstitut vorstellt. Was
die Tausende und Tausende im Weltkrieg töten und sterben ließ, das waren
— zutreffend oder nicht — die Vorstellungen der Pflicht und unabweisbarer
Notwendigkeit. Um der Nützlichkeit willen zu töten. hält heute noch die große
ae gp I ae
Geschichte, Reehtswissenschaft, Philosophie und andere Hilfswissensehatten, 187
Mehrzahl der Menschen eine starke Scheu ab, ein Gefühl, das ihnen für unsere
hulturstufe im Interesse der Erhaltung der Art eingeboren ist. Solange das
zutrifft, wird nicht ohne gefährlichste Verwirrung die Strafdrohung zurück-
wezen werden können, die diesem Gefühl zur Seite steht oder sein Fehlen
enetzen soll.
Mit vollem Recht betont Hoche, dab nur ein ganz langsam sich entwickelnder
Prozeß der Umstellung und Neneinstellung auf unserem Gebiet möglich sei und
nit vollen Recht hat er darum die Vernichtung des Lebens der geistig Toten
nicht in der Form eines „Antrages, sondern nur in der einer theoretischen
Erörterung der Möglichkeiten und Bedingungen behandelt. Es wäre lebhaft
m wünschen, daß diese Erörterung besonders von Ärzten und Soziologen fort-
setzt würde und Juristen, die sich daran beteiligen. dessen eingedenk bleiben,
daß das Problem nicht juristisch behandelt werden kann. Das Verdienst Bindings
che ich darin, den Anstoß zur Erörterung überhaupt gegeben und die wertvollen
Ausführungen Hoches veranlaßt zu haben.
Wien. W. Gleispach.
Einlauf von Büchern
und periodischen Veröffentlichungen.
A. Bücher.
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theoretische Volkswirtschaftslehre.
Dietzel, Heinrich, Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und
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Elster, Karl, Die Seele des Geldes. Grundlagen und Ziele einer allgemeinen
(teldtheorie. Gr.-8°. Jena 1920. Gustav Fischer, XVI und 371 S. br. M 38° —.
Herzfelder, Edmund, Die volkswirtschaftliche Bilanz und eine neue
Theorie der Wechselkurse, die Theorie der reinen Papierwährung.
Gr.-8°. Berlin 1919. Verlag von Julius Springer. XVI und 486 S. M 27-—.
Levy, Prof. Dr. Hermann, Soziologische Studien über das englische
Volk. 8°. Jena 1920. Gustav Fischer. VIII und 144 S. M 20° —.
Odenbreit, Dr. Bernhard, Die vergleichende Wirtschaftstheorie bei
Karl Marx. Gir.-8°. Essen a.d. Ruhr 1919. G. D. Baedeker (Sammlung: Plenge.
Staatswissenschaftliche Beiträge). IX und 98 S. M 7-20.
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Gr.-8°. Jena 1920. Gustav Fischer. VIII und 163 S. M 19° —.
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Volkswirtschaftslehre. I. (Volkswirtschaftliche Systeme, Wesen und disponierende
Ursachen des Volkswohlstandes). 2 und 3. neu bearbeitete Aufl., Lex.-8°. Freiburg
1. Br. 1920. Verlag Herder. XIV und 738 S. M 60°—, geb. M 76° —.
Schmidt, Max, Grundriß der ethnologischen Volkswirtschaftslehre.
1. Bd.: Die soziale Organisation der menschlichen Wirtschaft. Gr.-8°. Stuttgart 1920.
Ferdinand Enke. VIII und 222 S. Geh. M 18°.
Schumpeter, Joseph, Zur Soziologie der Imperialismen. Gr.-8°. Tübingen
1919. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 76 S. M 4-50.
Singer, Kurt, Das Geld als Zeichen. Gr.-8°. Jena 1920. Gustav Fischer
Vi und 206 S. M 28-—.
Spann, Othmar, Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre aui
dogmengeschichtlicher Grundlage. Mit einem Anhang: Wie studiert man
Volkswirtschaftslehre ? 5. vermehrte Aufl., 8°. Leipzig 1920. Quelle und Meyer. 176 5.
Spann, Othmar, Kurzgefaßtes System der Gesellschaftslehre. Gr.-8°.
Berlin 1914. J. Guttentag. XVI und 384 S. Geh. M 18-—, geb. M 20° —.
Spann, Othmar, Fundament der Volkswirtschaftslehre. Gr,-8°, Jena
1918. Gustav Fischer. XII und 292 8. M 12- -,
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gehalten am 6. Mai 1919 an der Universität Wien. Gr.-8°. Jena 1919. Gustav Fischer.
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Vortrag. Gr.-8°. Eger 1920. Böhmerland-Verlag. 22 S.
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Gustav Fischer Verlag. VIII und 227 S. M 28: —.
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Verlag der Wiener Voksbuchhandlung. 120 S. M 9.—-
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schaft. G.-8°. Leipzig und Berlin 1920. B. G. Teubner. VIII und 89 S. M 7--.
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besonderer Rücksicht auf Arbeitsnachweis und Arbeitslosenversicherung im Deutschen
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M 44---, geb. M 50-—.
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Grotius, Hugo, Von der Freiheit des Meeres. Übersetzt und mit einer
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9°. Leipzig 1919. Felix Mener. 93 5. Br. M 7:50, geb. M 1250.
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Verkehrsfreiheit in Friedenszeiten. Gr.-8°. Jena 1918. Verlag von Gustav
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Hegel, Der Staat. 8°. Leipzig. Felix Meiner (Taschenausgaben der „Philosophi-
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lumäus. 4 Bde., 8°. XL und 942 X. und Einleitungsband („Hegel als Geschichts-
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Br. M 97-50, geb. M 125-—.
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Einleitung in die Philosophie der Geschichte. Auf Grund des aufbehaltenen hand-
schriftlichen Materials neu herausgegeben von Georg Lasson, Pastor an St. Bartho-
lomäus, Berlin. 8°. Leipzig 1917. Felix Meiner. X und S. 1—264 Br. M 7-— und 150%,
Zuschlag, geb. M 10-— und 150%, Zuschlag.
192 Einlauf von Büchern und periodischen Veröffentlichungen.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Die orientalische Welt. Auf Grund des
anfbehaltenen handschriftlichen Materials neu herausgegeben von Georg Lasson,
Pastor an St. Bartholomäus, Berlin. 8°. Leipzig 1919. Felix Meiner. XIV und S. 266
bis 624 Br. M 8°— und 150°, Zuschlag, geb. M 11-— und 150°% Zuschlag.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Die griechische und die römische Welt.
Auf Grund des aufbehaltenen handschriftlichen Materials neu herausgegeben von
Georg Lasson, Pastor an St. Bartholomäus, Berlin. 8°. Leipzig 1920. Felix Meiner.
VIII und S. 625—764 Br. M 9-— und 150°, Zuschlag, geb. M 12-— und 150%
Zuschlag.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Die germanische Welt. Auf Grund des
aufbehaltenen handschriftlichen Materials neu herausgegeben von Georg Lasson,
Pastor an St. Bartholomäus, Berlin. 8°. Leipzig 1920. Felix Meiner. VIII und S. 755
bis 942 Br. M 9-— und 100% Zuschlag, geb. M 12-— und 150°, Zuschlag.
Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 8°.
Leipzig. Felix Meiner (Taschenausgaben der, ‚Philosophischen Bibliothek“). S. 87 bis 176
M 2.26.
Humboldt, W. v., Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Be-
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S. 80—134. M 1:60.
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Hume, Von den ersten Grundsätzen der Regierung. Absolutismus
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ausgaben der „Philosophischen Bibliothek"). S. 23—61. M 1-60. ©
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2. Aufl., 8°. Leipzig 1919. Felix Meiner (Sammlung: „Philosophische Zeitfragen’’).
65 S. M 3-60.
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Geschichtsphilosophie unter eine idealistische. II. Psychologie der
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Krause, Karl Christian Friedrich, Entwurf eines europäischen Staaten-
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gegen jeden Angriff wider die innere und äußere Freiheit Europas(1814).
Neu herausgegeben und eingeleitet von Hans Reichel. 8°. Leipzig 1920. Felix Meiner.
30 S. M 3-75.
Lasson, Georg, Pastor an St. Bartholomäus, Berlin Hegel als Geschichts-
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Scheiding, Ernst, Das erste Jahr der deutschen Revolution. 8°, Leipzig
1920. Felix Meiner. 90 S. M 4 -—.
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Felix Meiner (Taschenausgaben der „Philosophischen Bibliothek‘). S. 158 - 271.
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Einlauf von Büchern und periodischen Ve:öffentlichungen. 193
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Feliz Meiner (Sammlung: „Philosophische Zeitfragen‘‘). 26 S. M 2-—.
Volkelt, Johannes, Religion und Schule. 8°. Leipzig 1919. Felix Meiner
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W. Moeser. 170 S. M 7-50.
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Bücher, Karl, Lebenserinnerungen. 1. Bd. 1847 — 13%. Gr.-8°. Tübingen 1919.
H. Laupp‘sche Buchhandlung. V und 462 S.
Freytag-Berndts Karte des Südslawischen Staates SHS. (der Serben,
Kroaten, Slowenen). Maßstab 1:1,500.000. Zusammengefaltet (ir.-8°. Wien, Karto-
graphische Anstalt G. Freytag u. Berndt. |
Freytag-Berndts Handkarten. Tschecho-Slowakische Republik. Mab-
stab 1:1,500.000. Zusammengefaltet (ir.-8°. Wien, Kartographische Anstalt G. Freytag
u. Berndt.
G. Freytags Karte von Rumänien mit der neuen Grenze nach dem
Frieden 1919. Zusammengefaltet Gr.-8°. Wien und Leipzig. Kartographische Anstalt
G. Freytag u. Berndt.
Freytag-Berndts Handkarten Polen und Litauen. Maßstab 1:2,000.000.
mam meng etaltet Gr.-8.°. Wien und Leipzig, Kartographische Anstalt G. Freytag u.
erndt.
Freytag-Berndts Handkarten, Republik Österreich. Maßstab 1:600.000.
Zusammengefaltet Gr.-8°, Wien, Kartographische Anstalt G. Freytag u. Berndt.
Freytag-Berndts Handkarten, Ungarn nach dem Friedensvertrag von
Neuilly und mit Angabe der ethnographischen Grenze des magvarischen
Siedlungsgebietes. Maßstab 1:1,500.000. Zusammengefaltet Gr.-8°. Wien, Karto-
graphische Anstalt G. Freytag u. Berndt.
Kiefl, Dr. F. X., Sozialismus und Religion. 8°. Regensburg 1919. Verlags-
anstalt vorm. G. J. Manz A.-B. 135 S.
_ Noch weiter aus dem Turm heraus! Kirchenpolitische Gegenwartsprobleme von
en katholischen Geistlichen. Gr.-8°. Essen a.d. Ruhr 1919. G. D. Baedeker. 32 S.
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Plenge, Die Zukunft Deutschlands und die Zukunft der Staats-
wissenschaft. Ein Weckruf an den staatswissenschaftlichen Nachwuchs. 8°. Essen
ad. Ruhr 1919. G. D. Baedeker. 67 S. M 3-—.
Plenge Johann, Durch Umsturz zum Aufbau. Eine Rede an Deutschlands
Jugend. 8°. 1918. E. Obertüschens Buchhandlung A. Schultze. IV und 79 S.
Plenge, Johann, Über den politischen Wert des Judentums. 8°. Essen
a.d. Ruhr 1920. G. D. Baedeker. 39 S. M 3-60.
Peucker, Dr. Karl, Die Donaustaaten von Bern bis Odessa, von Berlin
bis Saloniki reichenden Grenzen nach den Bestimmungen der Friedens-
verträge. Übersichtskarte 1: 2,500.000. Zusammengefaltet Gr.-8°. Wien, Artaria u. Co.
Zentrale für Heimatdienst, Der Geist der neuen Volksgemeinschaft.
Eine Denkschrift für das deutsche Volk. 8°. Berlin 1919. Verlag S. Fischer. 167 S.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band 13
194 Kiniauf von Büchern und periodischen Veröffentlichungen.
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Bollettino di statistica e di legislazione comparata. 8°. Roma. Tipografia coo-
perativa sociale. Anno XVIII. Fascicolo I. 1917/18 e 191819. |
Parte I. Statistica. Riscossioni trimestrali e riscossioni dell’ intero esercizio
1917—18, confrontate con quelle dei corrispondenti periodi dell’ esercizio 1916—17.
Riscossioni trimestrali e riscossioni dell’ intero esercizio 1918—19, confrontate con
quelle dei corrispondenti periodi dell’ esercizio 1917 — 18.
Parte II. Legislazione italiana, notizie estere. Italia: Il Registro,il
Bollo e le Tasse nell- esercizio 1918 —19'e durante l’ intero periodo della guerra.Colonie
Italiane: Le tasse sugli affari in Tripolitania. Provvedimenti tributari. Francia:
Il prodotto delle Tasse di Registro, di Bollo e annesse nel periodo dal 1913—19
inclusi. Inghilterra: Tasse di successione. Proposte di riforma. Spagna: Il registro
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. Johns Hopkins University Studies in historical and political science. Under the
direction of the Departements of History, Political Economy and Political Science.
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Carleton College: The amalgamated association of iron, steel and tin workers. 1920.
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Korrespondenz fiir Gemeinwirtschaft. Herausgeber: Verein ,,Forschungsinstitut
für Gemeinwirtschaft‘‘. Jahrg. 1, Nr. 1, 2. Wien II 1920.
Mitteilungen der Deutschösterreichischen Hauptanstalt für Sachdemobilisierung.
2. Jahrg. Nr. 70, 79, 80, 81, 82, 84, 87, 88, 89, 90. Schriftleitung Wien II 1920.
Reichsarbeitsblatt. Amtsblatt des Reichsarbeitsministeriums und des Reichsamts
für Arbeitsvermittlung. Gr.8°. Berlin 1920. Verlag des Reichsarbeitsblattes (Reimar
Hobbing). Jahrg. 1 (Neue Folge), Nr. 1. M 3-—.
1. Amtlicher Teil: Entwurf eines Arbeitsnachweisgesetzes. Österreichisches
Gesetz vom 24. März 1920 über die Arbeitslosenversicherung. Das bulgarische Gesetz
über die Arbeitsdienstpflicht etc.
2. Nichtamtlicher Teil: Prof. Dr. E. Francke. Amtliche und freie Sozial-
politik. — Paul Umbreit. Die Sozialisierung der Kohlenwirtschaft. Entwicklung
und Stand der Erwerbslosigkeit. Die amtliche Lebenshaltungsstatistik und Teuerungs-
zahlen. — Prof. Dr. Walter Kaskel. Zur Reform des Schlichtungsverfahrens. MaB-
nahmen der produktiven Erwerbslosenfürsorge etc.
Rivista Internazionale di scienze sociali e discipline ausiliarie. 5°. Roma 1919.
(Für Deutschland: Freiburg i. Br., B. Herder‘'sche Verlagsbuchhandlung.) 160 S.
Anno XXVII, Vol. LXXXI, Fase. CCCXXI—CCCXXIII. Sett.— Ott. - Nov. 1919.
sarmelo Caristia. La democrazia e la guerra mondiale. — P. Aurelio Palmieri.
La missione politica e religiosa della Polonia nella nuova Europa. — G. Gabrieli
I Semiti ete.
Studies in history, economics and publie law. Edited by the faculty of political
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Einlauf von Büchern und periodischen Veröffentlichungen. 195
Whole Number 203; Volume LXXXIX, 2. Thomas Harrison Cook, Ph. D.,
Instructor in History, De Witt Clinton High School, New York City: The return of
the democratic party to power in 1884. 1919. 261 S.
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for transportation. 1920. 127 S.
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1700. 1920. 367 S. l
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national Labor Legislation. 1920. 268 S.
ee ee
Österreichische Staatsdrockerei. 1361020.
Carl Menger.
Von Joseph Schumpeter.
Es ist ein Prüfstein für die Schlagkraft eines Arguments, ob es für sich
allein als entscheidend empfunden werden kann oder einer langen Reihe
von unterstützenden Nebenargumenten bedürftig ist. Und es ist ein Prüf-
stein für die Wucht einer Lebensarbeit, ob man in ihr eine Leistung hervor-
heben kann, die für sich allein Größe bedeutet, oder ob viele kleine Steine
zu einem Mosaik zusammengesetzt werden müssen, um ein Bild von ihr
zu geben. Menger gehörte zu den Denkern, denen eine solche Leistung
von entscheidender, für die Wissenschaft historischer Bedeutung gelungen
ist. Mit einem neuen Erklärungsprinzip, das das gesamte Gebiet national-
ökonomischer Theorie revolutioniert, ist sein Name für immer verbunden. |
Was immer für bedeutende oder liebenswerte Züge man seinem Charakter-
bild einzeichnen, was immer für Einzelleistungen auf dem Gebiet der
Wissenschaft man noch anführen, was immer man endlich von ihm sagen
mag über hingebungsvolle Lehrtätigkeit und kaum erreichte Gelehrsamkeit
— alles das tritt auf dem Gipfel, auf dem seine Gestalt steht, in den Hinter-
grund. Der Biograph Mengers wird natürlich all dieses Material zu einem
Gesamtbild einer starken und sympathischen Persönlichkeit vereinen. Aber
es gewinnt selbst erst seine Bedeutung durch jene eine große Leistung, es
bedarf seiner nicht, um Mengers Namen groß zu machen.
Da Menger nach mehr als 20 Jahren strengster Zurückgezogenheit
reschieden ist, nach einem Lebensabend, den er dazu verwendete, mit MuBe
die Gebiete seines Interesses zu durchstreifen und zu genießen, so haben
wir ausreichend Distanz gewonnen, um von seinem Lebenswerk wie einer
wissenschaftsgeschichtlichen Tatsache zu sprechen. Und wahrlich, impo-
nierend nimmt es sich aus. Der Hintergrund, aus dem Mengers wissen-
schaftliche Persönlichkeit emporwächst, ist mit wenigen Strichen zu
schildern: Aus praktischen Zweifeln, aus den Bedürfnissen praktischer
Zeitschrift für Volkswirischafl und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 14
108 Joseph Schumpeter.
Politik hatte sich vom 16. Jahrhundert herwärts ein kleiner Fonds von
Wissen über wirtschaftliche Dinge entwickelt, Fragen der Währungs- und
Handelspolitik hatten seither, das heißt seit die moderne Verkehrswirtschaft
die Bande von Dorf und Herrenhof zu sprengen begann, zu Diskussionen
geführt, die Gründe und Folgen auffälliger wirtschaftlicher Erscheinungen
in primitiver Weise miteinander verbanden. Die langsame Entwicklung
nach Durchsetzung der Individualwirtschaft und des Freihandels hin war
begleitet von einem immer lauter rauschenden Strom von Schriftchen und
Schriften, deren Autoren sich meist wenig Gedanken über tiefere Probleme
machten und desto mehr um die Lösung der wirtschaftlichen Zeitfragen
sich mühten. Das konsolidierte sich im 18. Jahrhundert zu einer Wissen-
schaft, die ihre Richtungen, Resultate, Kämpfe und lehrbuchmäßigen
/usammenfassungen hatte und ihre gelehrten Fachmänner fand. Das war
die erste Epoche unserer Wissenschaft, die man, wenn man will, in Adam
Smith kulminieren lassen kann. Dann folgte bekanntlich eine Periode der
Analyse und Spezialisierung, die für das Gebiet, das uns allein hier inter-
essiert, weil Mengers Leistung darauf liert, beherrscht ist von der Arbeit
der englischen Klassiker. Der Name Ricardos gibt der Epoche ihr Geprage.
Sie evolvierte ein zusammenhängendes System von Lehrsätzen, die wissen-
schaftlichen Charakter und innerhalb schr weiter Grenzen allgemeine
Geltung beanspruchten: Die reine Theorie der Wirtschaft war da. Es wird
nie restlos verständlich zu machen sein, warum dem so schnellen Erfolg
eine so völlige Niederlage folgte. Noch arbeiteten mehrere von den führenden
Köpfen der neuen Disziplin, noch war sie nicht über die Fundamente hinaus-
gekommen, und schon sehen wir lähmende Stagnation innerhalb und all-
gemeines Mißtrauen, Feindseligkeit oder Nichtbeachtung außerhalb ihres
Kreises. Zum Teil lag das an den inhärenten Mängeln des Geleisteten, an
der Primitivität mancher Methoden, an der Oberflachlichkeit mancher
(tedankengänge und an der weithin sichtbaren Unzulänglichkeit mancher
Resultate. Das wäre zwar kein Unglück gewesen, das hatte man ja ver-
bessern können. Aber niemand machte sich an diese Arbeit, niemand inter-
essierte sich für das innere Gefüge des neuen theoretischen Baues, denn —
und das hat zum anderen Teil den Mißerfolg verschuldet — die öffentliche
Meinung wie die Fachkreise hatten sich aus einem anderen Grund von ihr
abgewendet: Die neue Lehre hatte sich nämlich viel zu früh daran gewagt,
praktische Fragen zu lösen und sich mit dem Anspruch auf wissenschaft-
liche Geltung in den Streit politischer und sozialer Parteien gestützt. Die
Carl Menger. 199
Niederlage des Liberalismus wurde so auch ihre eigene Niederlage. So
kam es, zumal man in manchen Ländern, namentlich in Deutschland,
der sozialen Theorie überhaupt mit Abneigung gegenüberstand und beim
geistigen Erbe philosophischer und historischer Tradition verblieb, daß der
folgenden Generation fast nur die wirtschafts- und sezialpolitische Außen-
seite der klassischen Theorie vermittelt, der Weg in ihr inneres Gefüge aber
eeradezu verbarrikadiert wurde. Was da zu holen sei an wissenschaftlichen
Erkenntnissen und noch mehr an Möglichkeiten, das wußten die jüngeren
Leute kaum mehr. Und es sah so aus, wie wenn die Theorie ein ideen-
historisches Intermezzo gewesen wäre, der Versuch einer Begründung der
Wirtschaftspolitik einer bestimmten, schnell vorübergehenden Zeit. In
Fachkreisen erhielten sich natürlich, wie das nicht anders möglich war.
hie und da kleine Fonds von Theorie. In einzelnen Fällen kam es auch
zu Leistungen von größerer Bedeutung, aber im wesentlichen lag das
Gebiet brach. Daran ändern für Deutschland auch die Namen Thünen
und Hermann nichts. Nur die sozialistische Theorie blieb ohne zu erstarren
auf dem methodischen Standpunkt der Klassiker.
Mit der Eigengesetzlichkeit wissenschaftlicher Größe hebt sich nun von
diesem Hintergrund das Lebenswerk Carl Mengers ab. Ohne äußere An-
regung, vollends ohne äußere Hilfe, drang er gegen den halbverfallenen Bau
der ökonomischen Theorie vor. Es war nicht wirtschaftspolitisches, nicht
ideengeschichtliches Interesse, auch nicht der Drang nach Bereicherung
unseres Tatsachenvorrates, der ihn lockte, sondern lediglich der Trieb des
geborenen Theoretikers nach neuen Erkenntnisprinzipien, nach neuen
Instrumenten unserer Beherrschung der Tatsachen. Und während sonst im
besten Falle dem Forscher ein Teilerfolg gelingt, die Lösung irgendeines
der vielen Einzelprobleme einer Disziplin, so gehört er zu jenen, die den
Bau einer Wissenschaft niedergerissen und auf ganz neue Grundlage gestellt
haben. Nicht die Historiker und Soziologen, die die alte Theorie beiseite
warfen, nicht alle die Wirtschafts- und Sozialpolitiker, die ihre praktischen
Konklusionen ablehnten, haben sie überwunden, sondern er, der ihre
inneren organischen Mängel erkannte und auf ihrem eigenen Boden etwas
Neues aus ihr schuf. |
Es ist stets miBlich, für einen weiteren Kreis das Grundprinzip einer
Theorie zu formulieren, denn die letzte Formulierung eines Grundprinzips
ist immer eine Selbstverständlichkeit. Die geistige Leistung eines Ana-
Ivtikers liegt niemals in dem Inhalt des Satzes, der das Grundprinzip
01) Joseph Schumpeter.
ausdrückt, sondern immer nur darin, daß er es fruchtbar zu machen und
alle Probleme der betreffenden Wissenschaft darauf zurückzuführen ver-
steht. Sagt man jemand, das Grundprinzip der Mechanik liege in dem Satze,
daß ein Körper dann im Gleichgewicht sei, wenn er sich nach keiner Rich-
tung hin bewegt, so kann der Laie kaum verstehen, welchen Wert dieser
Satz hat und welche geistige Leistung in seiner Formulierung lag.. Und
wenn man den Grundgedanken der Mengerschen Theorie dahin formuliert.
daß die Menschen die Güter schätzen, weil sie sie brauchen, so werden wir
verstehen, daß das dem Laien — und Laie in theoretischen Sachen ist sogar
die Majorität der Fachgenossen — nicht sehr zu imponieren vermag. Die
Kritiker der Mengerschen Theorie haben denn auch stets gesagt, daß die
Tatsache der subjektiven Wertschätzung niemals irgendwem unbekannt
gewesen sein kann und daß nichts ungerechter sei als eine derartige
Trivialität den Klassikern wie eine Einwendung entgegenzuhalten. Aber
die Antwort ist sehr einfach: Fast bei jedem der Klassiker läßt sich zeigen,
daß er mit dieser Erkenntnis anzufangen versuchte und sie beiseite warf.
weil er mit ihr nicht von der Stelle kam, weil er glaubte, daß die sub-
jektive Wertschätzung im Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft ihre
Bedeutung als Motor des Räderwerkes verliere. Und wie mit der sub-
jektiven Wertschätzung an sich, so meinte man mit den darauf basierenden
Erscheinungen der Nachfrage gegenüber den objektiven Tatsachen der
Kosten zu versagen. Heute noch kann man hin und wieder bei den Gegnern
derMengerschule lesen, daß die subjektiveWerttheorie höchstens die Preis-
bildung von Genußgütern bei gegebenem Vorrat erkläre und sonst nichts.
Also nicht auf die Entdeckung kommt es an, daß die Wirtschafts-
subjekte Güter erwerben, kaufen oder erarbeiten, weil und in dem Maße
als sie sie vom Standpunkte ihrer Bedarfsbefriedigung schätzen, sondern
auf eine Entdeckung ganz anderen Stiles: die Entdeckung nämlich, daß
diese einfache Tatsache und ihre Hintergründe in den Gesetzen des mensch-
lichen Bedarfslebens wirklich vollständig ausreichen, um alle die kom-
plizierten Erscheinungen moderner Verkehrswirtschaft prinzipiell ver-
ständlich zu machen und daß trotz scheinbar schlagenden gegenteiligen
Anscheins das Bedürfnis auch außerhalb der isolierten oder verkehrslosen
Wirtschaft die treibende Kraft des wirtschaftlichen Mechanismus ist. Dem
Gedankengang, der dazu führt, liegt die Erkenntnis zugrunde, daB das.
was an der Volkswirtschaft im Gegensatz z1 allen anderen scziologischen,
historischen und technischen Momenten spezifisch wirtschaftlich ist, in der
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Carl Menger. 201
Pıeserscheinung liegt und daß alles spezifisch wirtschaftliche Geschehen
in das Schema des Preises gefaßt werden kann. Rein wirtschaftlich be-
trachtet ist die Volkswirtschaft nichts wie ein System zusammenhängender
Preise, alle Spezialprobleme, mögen sie heißen, wie sie wollen, lassen sich
letztlich unter dem Gesichtspunkt der Preiserscheinung sehen, sind nur
Spzialfälle eines und desselben wiederkehrenden Grundvorganges, und alle
spezifisch wirtschaftlichen GesetzmaBigkeiten gehen auf Gesetze der Preis-
bildune zurück. Diese Erkenntnis findet sich schon in der Vorrede des
Mengerschen Werkes als selbstverständlich vorausgesetzt. Das Gesetz der
Preisbildung zu finden ist sein wesentliches Ziel. In dem Augenblick, wo
e ihm gelungen war, die Lösung des Preisproblems, und zwar sowohl der
„Nachfrage‘‘- wie der ,,Angebots‘‘-Seite desselben auf eine Analyse unseres
Bedarfslebens und auf jenes Prinzip, dem Wieser den Namen ,,Grenz-
nutzen“ gegeben hat, zu stützen, erschien das gesamte komplizierte Getriebe
des Wirtschaftslebens auf einmal in einer ungeahnten, klar durchleuchteten
Einfachheit. Alles was noch zu tun war, war nur Ausarbeitung und Fort-
xhreiten zu immer größeren Komplikationen im Detail.
Das Hauptwerk, das die Lösung dieses Grundproblems und bereits den
klaren Hinweis auf alles weitere enthält, das zusammen mit den ungefähr
gleichzeitigen von ihm unabhängigen Arbeiten von Jevons und Walras
als die Grundlage der modernen Wirtschaftstheorie zu betrachten ist, führt
den Titel „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Erster allgemeiner Teil“
und erschien im Jahre 1871. Ruhig, fest und klar, seiner Sache vollständig
sicher, in sorgfältiger Durcharbeitung jedes Satzes, legt er uns da die große
Reform der Werttheorie dar. Anhänger haben diese Leistung häufig
kopernikanisch genannt, Gegner sich noch häufiger über diesen Vergleich
lustig gemacht. Es ist heute wohl nicht unmöglich, sich darüber klar zu
sein, was davon zu halten ist: Menger reformierte eine Wissenschaft, deren
streng exakte Denkarbeit viel jünger und unvollkommener war, als die
jener, welche Kopernikus auf eine neue Grundlage stellte. Insofern war
die technische Leistung des letzteren viel größer und schwieriger, gar nicht
davon zu reden, daß sie auf einem Gebiete lag, dessen Resultate dem Laien _
unprüfbar und von Geheimnis umgeben sind. Aber dem Wesen und der
Qualität nach gehört Mengers Werk in die gleiche Kategorie, ähnlich wie
rin Feldherr, der eine kleine Armee in einem wenig beachteten Land zum
Erfolg führt, seiner persönlichen Leistung nach in die Kategorie der
Napoleons und Alexanders gehören kann, wenngleich eine solche Ein-
202 Joseph Schumpeter.
reihung den Fernstehenden befremden würde. Vergleiche sind überhaupt
mißlich und führen zu unfruchtbaren Diskussionen. Da sie aber trotzdem
ein Mittel sind, die Stellung eines Mannes gegenüber jedem, der nicht
Fachmann im engsten Sinne ist, zu präzisieren, so wollen wir einen Ver-
gleich Mengers mit anderen Nationalökonomen riskieren. Stellen wir ihn
zum Beispiel neben Adam Smith, so fällt sofort auf, daß seine Leistung
viel enger ist als die des schottischen Professors. Dieser hat das praktische
Wort der Zeit formuliert, sein Name ist mit der Volkswirtschaftspolitik der
Epoche unzertrennlich verknüpft. Mengers Leistung ist rein wissenschaft-
lich und innerhalb der Wissenschaft wieder rein analvtisch. Nur mit den
' spezifisch theoretischen Kapiteln Smiths kann sein Werk verglichen
werden. Da aber steht es um ganze Türme höher. Smith war gar nicht
originell und gerade in den wissenschaftlichen Grundfragen ganz bedenklich
oberflächlich. Menger hat in Tiefen geschürft und aus eigener Kraft Wahr-
heiten entdeckt, die Smith ganz unzugänglich waren.
Eher ist Ricardo als ein Pair zu nennen. Wir haben da zwei
theoretische, innerhalb der Theorie allerdings ganz’ grundverschiedene
Talente vor uns. Ricardos Fruchtbarkeit und Schärfe liegt in den vielen
praktischen Konklusionen und Einsichten, die er sehr primitiven Grund-
lagen entlockte. Mengers Größe liegt eben in diesen Grundlagen und
vom Standpunkt reiner Wissenschaft dürfte er höher zu stellen sein.
Ricardo ist eine Voraussetzung Mengers, die er selbst hätte sicherlich
nicht schaffen können. Aber Menger ist der Überwinder der Ricardianischen
Theorie.
Da Menger und seine Schule bald als die einzig ernst zu nehmenden
Konkurrenten der marxistschen Theorie betrachtet wurden, sei auch ein
Vergleich mit Marx gewagt. Auch hier muß man den Scziologen und den
Propheten Marx ganz abscheiden und lediglich vom rein theoretischen
Knochengerüst seines Werkes sprechen. Nur mit einem Ausschnitt des
Marxschen Lebenswerkes hat Menger konkurriert. In diesem Ausschnitt
aber übertrifft er Marx wesentlich an origineller Kraft wie an Erfolg. Auf
dem Gebiet der reinen Theorie ist Marx Schüler Ricardos und selbst
mancher Nachfolger Ricardos, insbesondere der sozialistischen und halb-
sozialistischen Werttheoretiker der Zwanzigerjahre in England. Menger
ist Niemandes Schüler und was er geschaffen hat, hält. Man miBverstehe
nicht: Aus Mengers Werk ließe sich keine Soziologie der Wirtschaft oder
der wirtschaftlichen Entwicklung ablesen. Zum Bilde der Wirtschafts-
Carl Menger. 203
geschichte und des Kampfes der sozialen Klassen leistet es nur einen
kleinen Beitrag, aber die Wert-, Preis- und Verteilungstheorie, die es
bietet, ist bis nun die beste, die wir haben.
Ich habe gesagt, Menger sei Niemandes Schüler gewesen. In der
Tat hat er nur einen Vorläufer gehabt, der seinen Grundgedanken bereits
ebenfalls in voller Bedeutung erschaut hatte, Gossen nämlich. Mengers
Erfolg erst weckte das vergessene Buch dieses Finsamen aus seinem
Schlummer. Im übrigen findet sich von den Scholastikern herwärts
natürlich so mancher Anklang an eine subjektive Werttheorie und selbst
an eine darauf basierende Theorie des Preises. Bei Genovesiund Isnard
vor allem und dann bei manchen deutschen Theoretikern der ersten Jahr-
whnte des 19. Jahrhunderts, aber nirgends viel mehr als jene Selbstver-
ständlichkeit, vun der wir sprachen und deren Bedeutung sich schon dem
eigenen Ringen erschlossen haben nıuß, damit man mehr als eine Selbst-
verständlichkeit in jenen Anklängen sehen könne. Freilich ist ja jede
wissenschaftliche Leistung immer die Blüte alter Stämme. Wenn das nicht
so ist, weiß die Menschheit mit ihr nichts ar zufangen und sie fällt unbeachtet
w Boden. Aber so weit es im wissenschaftlichen Leben, im Leben des
Menschen überhaupt Originalität geben kann, so weit ist Mengers Theorie
ganz sein Eigen, sein Eigen und das von Jevons und Walras.
Und das erklärt denn auch die Art, wie seine Gabe entgegengenommen
. wurde und ihre ersten Schicksale. Seine Gabe war die Frucht seines Denkens
und Ringens des dritten Jahrzahnts seines Lebens, jener Periode heiliger
Fruchtbarkeit, die bei jedem Denker schafft, was die Folgezeit ausarbeitet.
Geboren am 23. Februar 1841, war er gerade 31 Jahre alt, als sein Buch
erschien. Zunächst richtete es sich an Wien, denn er wollte sich damit
habilitieren, und die Größe seiner subjektiven Leistung wird uns erst dann
voll bewußt, wenn wir uns klarmachen, in welche Wüste er seine Bäume
pflanzte. Auf dem Gebiet unserer Di:ziplin hatte sich bei uns lange kein
Leben geregt. Man muß auf Sonnenfels zurückgehen, dessen Werk bis
zım Jahre 1848 das offizielle Lehrbuch war, um auch nur gute Durch-
schnittsleistung zu finden. Was präsentabel war, war von Deutschland
importiert. Und die Männer, die Menger bei seinem Auftreten an der
Universität antraf, hatten für seine Gedanken und das ganze Gebiet, das
er befruchten konnte, kaum viel Verständnis. Sie bereiteten ihm auch
jenen wenig liebenswürdigen Empfang, von dem er uns allen noch erzählt
hat. Schließlich setzte er sich durch, er wurde Professor und im Laufe
204 Joseph Schumpeter.
der Zeit kamen die üblichen Ehren des Mannes der Wissenschaft, aber nie
hat er diesen ersten Kampf vergessen. Vollends in Deutschland blieb er
unbeachtet, und zwar schon aus dem Grunde, weil einerseits Sozialpolitik
und anderseits die wirtschaftsgeschichthche Detailforschung das Feld
beherrschten. Ganz allein, ohne Tribüne, von der seine Stimme in die Welt
hinaus hätte schallen können, ohne jede Einflußsphäre und ohne jenen
Apparat, der üblicherweise dem Inhaber einer hervorragenden Lehrkanzel
in aNer Herren Länder zur Verfügung steht, sah er sich vollständiger Ver-
ständnislosiekeit und damit zusammenhängender Feindseligkeit gegenüber.
Wer die interne Geschichte wissensehaftlichen Fortschritts kennt, der
weiß zu erzählen von all der Taktik, die im engsten Kreise aufgewendet zu
werden pflegt, um neue Gedanken durchzusetzen. Menger wußte nicht,
wie man das macht und wenn er es gewußt hätte, so hätten ihm die Mittel
gefehlt, seine Feldzüge zu führen. Aber durch alles Diekicht drang und
über alle feindlichen Phalangen siegte seine gewaltige Kraft. Das war
erstens einmal sein eigenstes Verdienst. In der menschlichen Seele gibt es
einen nicht immer deutlichen, oft scheinbar fehlenden, feinen und intimen.
aber sehr realen Zusammenhang zwischen der geistigen Energie, die sich
von überkommenen Anschauungen frei machen und selbständig in die
Tiefe der Dinge dringen kann, und schulenbildender Kraft, jener eigen-
tümlichen Faszination, die die werdenden Geister anzuziehen und zu über-
zeugen vermag. Bei Menger führte Konzentration auf seine Gedanken-
arbeit unmittelbar auch zur Konzentration auf die Verkündung seiner
Resultate. Hat er auch nie wieder in Dingen der Werttheorie das Wort
ergriffen, so hat er dennoch einer ganzen Generation von Hörern seine
Grundsätze eingepflanzt. Außerdem hat er in der richtigen Erkenntnis,
daß in Deutschland nicht so sehr seine Theorie, als Theorie überhaupt
abgelehnt würde, einen Kampf um die Durchsetzung des Lebensrechtes
theoretischer Analyse in sozialen Dingen aufgenommen. Diesem Kampf,
der unter dem Namen des Methodenstreites sattsam bekannt ist, verdanken
wir seine Arbeit über die Methoden der Sozialwissenschaften, in der er mit
systematischer Gründlichkeit und in einer vielfach noch heute nicht über-
troffenen Formulierung den Boden exakter Forschung von dem Gestrüpp
methodischer Konfusionen frei zu machen suchte. Auch diese Arbeit ist
von bleibendem Wert, mag sie im Strom der Entwicklung der Erkenntnis-
theorie auch vielfach überholt worden sein. Man täte seinem Hauptweré
unrecht, wenn man sie daneben stellen wollte, aber unermeBlich war ihre
Carl Menger. 205
pädagogische Wirkung auf die Mitlebenden. Auf außerdeutsche Gebiete
wirkte sie nicht und brauchte sie nicht zu wirken. Dort war das, was sie
durchzusetzen strebte, ja größtenteils schon Gemeingut. In der Entwicklung
der deutschen Wissenschaft war sie ein Markstein. |
Zweitens aber gewährte ihm das Schicksal bei der Durchsetzung seines
(redankens auch ein Begründern von Schulen nur selten zuteil werdendes
Glück: die Bundesgenossenschaft zweier ihm ebenbürtiger Geister, die sein
Werk unmittelbar auf gleichen Niveau originirer Kraft fortführen konnten,
Böhm-Bawerk und Wieser. Die Werke und das Wirken dieser beiden,
die sich unmittelbar an das seine anschließen. und die der eigene Beruf zu
wissenschaftlicher Führerschaft nicht hinderte, stets auf ihn zurück-
zuweisen, haben die „österreichische Schule“ geschaffen, die ihren Grund-
vedanken langsam die wissenschaftliche Welt dieses Spezialgebietes er-
oberte. Der Erfolg ließ auf sich warten. Er trat häufig in einer menschlich
sehr begreiflichen aber darum doch nicht sehr erfreulichen Form auf, die
wir in der Geschichte der Wissenschaft stets beobachten, wenn einer Gruppe
das fehlt, was man nicht anders als wissenschaftliche Reklamemittel nennen
kann. Nämlich in der Form, daß das Wesentliche rezipiert wurde, daß aber
statt dankbarer Anerkennung, eine formelle Ablehnung, gestützt auf irgend-
welche Nebenpunkte, die Rezeption begleitet. In dieser Weise ging die Sache
in Italien vor sich. Ganz frei von dieser Schwäche waren auch die führenden
englischen Theoretiker nicht. Viel offener und generöser war die Aufnahme
in Amerika und, als sie schließlich erfolgte, auch in Frankreich. Vor allem
aber in den skandinavischen Staaten und in Holland. Erst als dieser Erfolg
errungen war, begann man sich in Deutschland mit der neuen Richtung als
einer Tatsache abzufinden. Schließlich also hat es Menger noch erlebt, daß
die wissenschaftlichen Kreise, wo immer unsere Disziplin betrieben wird,
sich mit seiner Richtung auseinandersetzten, und daß seine fundamentalen
Gedanken langsam und unmerklich über die Tagesdiskussion hinaus-
wuchsen und zum gesicherten Besitz der Wissenschaft wurden. Er selbst
hatte ein lebhaftes Gefühl dafür, und mochte er auch gelegentlich als echter
Gelehrter über den einen oder anderen kleinen Nadelstich eines Kollegen
grollen, so war er sich duch bewußt, daß er wissenschaftliche Geschichte
gemacht habe und daß sein Name aus der Geschichte der Wissenschaft
nicht verschwinden könne.
Das wissen wir heute alle. Keine wissenschaftliche Leistung kann in
dem Sinn ewig sein, daß sie nicht vum Fortschritte der wissenschaftlichen
206 Joseph Schumpeter. Carl Menger.
Arbeit verändert werden könnte. Seine eigenen Nachfolger und in anderer
Richtung alle die Arbeiter auf unserem Gebiet, die sich an Walras an-
schließen, haben schon manches an dem Gebäude, wie er es sich dachte,
geändert und werden es in Zukunft zweifellos noch weiter tun. Aber in
einem andern Sinn ist seine Leistung zeitlos geworden. In dem Sinn
nämlich, daß es heute außer Frage steht, daß ihm ein gewaltiger Schritt
auf dem Wege der Erkenntnis gelungen ist, daß inmitten der Masse von
Zeiterscheinungen, von denen die größte Zahl der Vergessenheit bestimmt
ist, er und sein Werk, den fernsten Generationen erkennbar, hervorragen
werden.
Wäre die eine Leistung nicht so groß, so würde jetzt noch manches
zı nennen sein. Vor allem seine im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften enthaitene Geldtheorie, seine Beiträge zur Kapitalstheorie und zu
praktischen Währungsfragen. Man müßte seiner Lehrtätigkeit gedenken,
die den älteren unter uns, weit über den’ engeren Fachkreis hinaus, eine
unvergeBliche Erinnerung ist, und der ungeheuren Spanne seines Inter-
essenkreises. Aber neben seiner Wert- und Preistheorie, neben seinem
eigenen Selbst soz ısagen, kommt das alles wenig in Betracht.
Wir freilich trauern nicht allein um den Denker, sondern auch um
den liebenswerten Menschen. Tausend Erinnerungen, die uns teuer sind,
drängen sich an jeden, der ihn kannte.
— re cee
Die sozialökonomische Kategorie
des Wertes.
Von Hero Moeller.
Die Frage nach dem Verhältnis des sozialökonomischen Erkenntnis-
gegenstands zu einer Kategorie des Wertes zerfällt in zwei voneinander
unabhängig zu behandelnde Teilprobleme. Einmal bedarf dic Stellung der
Sozialökonomik als Wissenschaft innerhalb des gesamten menschlichen
Erkenutnisgebäudes darüber einer Präzisierung, ob sie bei Zugrundelegung
einer Teilung der Wissenschaften innaturwissenschaftliche und geisteswissen-
xhaftliche (beziehungsweise ähnlich zu unterscheidende) Diszipliren zur
ersteren oder zur letzteren Gattung gehöre. Hiebei bleibt die Möglichkeit
offen, daB diese Scheidung sich überhaupt als irrig herausstellt oder gerade
bei Betrachtung der eigentümlichen Formulierungen der theoretischen
Sozialdkonomik als revisionsbediirftig erkannt wird. In jedem Falle aber
würde es im Rahmen einer nach erkenntnisihcorctischen Grundsätzen
erfolgenden Svystematisic.ung der Wissenschaften für die richtige Ein-
eliederung einer Einzeldisziplin von grundlegender Bedeutung sein, ob
ihr Erkenntnisresultat, ihre Begriffsbildung, notwendig bedingt sei durch
eine teleologische Beziehung des Gegenstands, das heißt, ob also, ganz
allgemein. in ihrem Erkenntnisvorgange eine Relation zwischen einem
„Objekt“ und einer im logischen Sinne subjektiven Kategorie des Wertes (der
Bedeutung’) stattfinde. Für das spezielle Gebiet der Sozialökonomik
bliebe gegebenenfalls zu entscheiden, ob der etwaige teleologische Gchalt
in dm Begriffe der Wirtschaft die Einordnung in ein System der Werte
verträgt und wie diese Einordnung zu erfolgen habe.
Hiemit ist aber das sozialökonomische Wertproblem nicht erschöpft.
Neben dem Problem der Philosophie, beziehungsweise allgemeinen Er-
kenntaistheoric existiert dasjenige der speziellen Wissenschaftslehre. Die
Methodologie der Sozialékonomik wird danach zu fragen haben, welche
208 Hero Moeller
Funktion eine im Begriffe der Wirtschaft gegebenenfalls aufgefundene
Wertkategoric innerhalb der Disziplin ausübt, das heißt, in welcher Art
und in welchem Umfange sie für die positive sozialökonomische Begriffs-
bildung Bedeutung besitzt.
Soll zwar das zuerst genannte, vielleicht inhaltsreichere Problem jetzt
nicht zur Erörterung kommen, so kann ihm doch gleichzeitig mittelbar
gedient werden. Denn wenn hier die Frage nach der Bedeutung des Wert-
begriffes innerhalb der Sozialökonomik zur Untersuchung gelangt, so muß
damit zugleich die festere einzelwissenschaftliche Fundamentierung für
die Lösung des allgemein-erkenntnistheoretischen Problems, wie sie grund-
sätzlich nur der reine Logiker selbst vornehmen kann, geliefert werden.
In einer früheren, im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik
erschienenen Abhandlung habe ich den Nachweis zu führen unternommen,
daß die sozialékonomische Begriffsbildung eine spezifische Färbung durch
die besondere logische Form des wirtschaftlichen Wertgedankens erhält.
Der Begriff des wirtschaftlichen Wertes sei, im Gegensatz zu viel-
fachen anderen Kategorien der Bedeutung, bestimmt einmal durch eine
besondere Art der Abstraktion vom Realen, ferner durch seinen Charakter
als Quantitätsvorstellung. Der Gedanke des abstrakt-quantitativen Wesens
des sozialökonomischen Wertbegriffs ist keine Erscheinung, die sich aus
Ursachen im engeren Sinne ableiten oder erklären ließe, sondern eine Form
der inneren Vorstellung, die als logisch konstitutiver Bestandteil des Be-
griffes selbst, beziehungsweise als Voraussetzung der Möglichkeit anderer
Begriffsbildungen erkannt werden muß. Es war seinerzeit vom Verfasser
dargelegt worden, daß gewisse formale, gesetzmäßige Bestimmungen der
theorctischen Sozialökonomik — insbesondere wurde das Grenznutzen-
gesetz zum Gegenstand einer Analyse gemacht — nur durch die Voraus-
setzung eines abstrakt-quantitativen Charakters des ökonomischen Wert-
begriffs ihre logische Erklärung finden könnten und nur auf diesem Wege
ihr Geltungswert feststellbar sei. Hier muß demgemäß auf jene Unter-
suchungen verwiesen werden.
Von zwei beachtenswerten Seiten sind nun in der ncucsten
Literatur der theoretischen Sozialökonomik in großem, systematisch
umfassendem Rahmen neue Angriffe gegen die Präponderanz der Wert-
Jehre und die Verwendung des Wertbegriffs in der Disziplin gerichtet
worden. Es handelt sich um die Untersuchungen Robert Liefmanns')
4) Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. 1. Bd., Stuttgart 1917, 2. Bd.. 1919.
Die sozialikonomische Kategorie des Wertes. 209
und diejenigen Gustav Cassels.?) Da hiedurch nicht nur die Bedeutung
einer besonderen Form des sozialökonomischen Wertbeeriffs für die Be-
eriffsbildung der Theorie überhaupt in Frage gestellt. sondern darüber
hinaus an Fundamenten des Lehrgebäudes gerüttelt wird, so liegt ein
dringendes Interesse zu näherer Untersuchung vor.®) Man wird hiebei zu-
nächst nach einer alleemeinen theoretischen Klärung des Sachverhalts
sowie nach einer inhaltlichen Deutung der Kategorie des Wertes fragen,
um darauf die Angriffe auf ihre Berechtigung zu prüfen. Ist man in der
Lage, erundsätzliche Irrtümer nachzuweisen, insbesondere aber, festzu-
stellen. daß der abstrakt-quantitative Wertbegriff selbst dort noch als
Voraussetzung vorliegt, wo der allgemcine abgelehnt wird, beziehungs-
weise, daß er bei Erklärung letzter Schwierigkeiten wesentliche Hilfe
leistet, so kann auf der einen Seite für die Erkenntnis des berrifflichen
Aufbaues selbst, auf der anderen für die methodologischen Grundlagen
ein bescheidener Dienst erwartet werden.
Das Verfahren, nach welchem die gesamte Behandlung des hiemit
umrissenen Problems stattfinden könnte, ist entweder die einer dogmen-
geschichtlichen oder die einer systematischen Prüfung. Will man, kurz
gesagt, die Bedeutung des Wertbegriffs für die sozialökonomische Theorie
erweisen, so kann man entweder die bedeutenden. systematisch ganz
unifas:onden Lehrgebäude einer großen internationalen Literatur vor-
nehmen und sie daraufhin prüfen, welche innere Beziehung zwischen dem
darin verwandten und zur Durchbildung gelangten Wertbegriff und den
sonstigen Lehren des gleichen Autors vorliegt. Es versteht sich von selbst,
daB die irgendwie aufgestellten Behauptungen über die Bedeutung oder
Nichtbedeutung des Wertbegriffs und Wertproblems an sich kein
Argument darstellen, vielmehr es allein auf die logischen Verhältnisse
zwingender gegenseitiger Bedingtheit von Wertbegriff, Werttheorie und
*) Theoretische Sozialökonomie. Leipzig 1918. Vgl. hiezu u.a. F. Eulenburg,
„Wertfreie‘‘ Sozialökonomik. Weltwirtschaftliches Archiv. 15. Bd., S. 445 ff.
3) Bezüglich früherer Angriffe auf den Wertbegriff vgl. F. Gottl, Der
Wertgedanke. ein verhülltes Dogma der Nationalökonomir. Jena 1897, S. 2f., ferner
Ad. Weber in Roscher, Grundlagen der Nationalökonomie. 25. Aufl.. Stuttgart 1918,
S. 876f.. sowie Ch. Gide in Gide und Rist, Geschichte der vo:kswirtschaftlichen
Lehrmeinungen, Deutsche Übersetzung. Jena 1913, S. 603, A 1. Ferner vgl.
H. Dietzel, Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marxschen
Verteilungslehre (Zeitschr. f. Sozialwiss. N. F. XII. Jahrg. [1921], S. 107 ff.). dort
zahlreiche Nachweise älterer Meinungsäußerungen.
210 Hero Moeller.
ökonomischer Theorie ankommt. Aus seleken dogmenkritiscken Unter-
suchungen würde cs sich gegebenenfalls von selbst herausstellen, daß nicht
nur die einzelnen Meinungen, sondern auch die geistesgeschichtlichen
Zusammenhänge eine solche Wechselwirkung aufweisen.
Wenn man jedoch eine derartise Untersuchung zur Durchführung
bringen wollte, würde man hald bemerken, daß man für die ursprünglich
gestellte prinzipielle Frage nichts Wesentliches ermittelt. Sagt man, der
Begriff des Wertes solle „umfassend“ sein, so kann damit nur gemeint sein,
daß er im Rahmen einer Ökonomik insgesamt auftrete und Bedeutung habe;
welches ist aber dieser Rahmen ? Die Begriffsbildung der sozialökonomischen
Theorie und damit ihre Beziehung ihrer Begriffe zueinander ist bedingt
durch die Vorstellung, die man von dem Gesamtgegenstande der Okonomik
besitzt. Die erste Frage lautet also: Gibt es überhaupt einen Begriff der
Wirtschaft — wenn wir diese als den Gegenstand der Wirtschaftswissen-
schaft ansehen —, der durch eine Kategorie des Wertes umfassend be-
einflußt ist, und wie ist er zu bestimmen?
Wenn aus diesem Grunde eine prinzipielle Untersuchung zu bevor-
zugen sein dürfte, so müßte sie folgerichtig mit einer Verständigung über
das Objekt der Wirtschaft überhaupt beginnen. Diese Voruntersuchung
würde das Thema sogleich ins uferlose ausdehnen, wenn man in sie selbst
schon das ganze Problem der Ökonomik als Wissenschaft hineinlezte. E:
macht sich hier von vornherein eine Relativität in bezug auf die Geltungs-
grenzen aller wirtschaftstheoretischen Erkenntnis insofern bemerkbar, als
augenscheinlich an irgendeinem Punkt eine gewisse „Willkür“ einsetzt.
die die Begriffsbildung bestimmt. Weder Erfahrung noch exakte Er-
kenntnis leiten uns — einigen anderen geisteswisserschaftlichen Disziplinen
geht es in dieser Beziehung nicht besser — deutlich hin auf eine bestimmte
Entscheidung über die Grenzen und die Natur der ökonomischen Wissen-
schaft. Für die Bestimmung des Begriffs der Wirtschaft wird es im Rahmen
dieses Versuchs richtig sein, von einem gegebenen, etwa von
der „herrschenden“ wissenschaftlichen Meinung vertretenen Begriff der
Wirtschaft auszugehen, wolei aber niemals vergessen werden darf, daß
dieser Entscheidung selbst einc zwingende Bedeutung nicht zukommt.
Der Gedankengang der Untersuchung ist hiedurch im wesentlichen
gegeben. Zunächst wird eine Einigung ad hoc über den Begriff der Wirt-
schaft notwendig. Sodann folgt der Kern des Problems: Ist ein Begriff
des Wertes zu denken, der sich mit dem ganzen Gebäude der Ökonomik
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 911
verknüpft, der für alle wirtschaftstheoretische Begriffsbildung ein konsti-
tutiver Faktor ist? Welches, nach den vorangegangenen Untersuchungen,
kann vor allem der inhaltliche Charakter eines solchen Wertbegriffs sein ?
Anders ausgedrückt, wie muß man den in den ökonomischen Systemen
tatsächlich fast überall gegebenen Wertbegriff verstehen, wenn man seine
Bedeutung für alle Begriffsbildung sich begreiflich machen will? Kommt
man auf diese Weise zu einer vorläufigen Verständigung über eine bestimnite
Deutung des ökonomischen Wertes, so wird es zweckmäßig sein, diesen
Deutungsversuch in Folecrungen und Aushlicken an grundlegenden Be-
standtcilen der ökonomischen Theeric zu prüfen. Hichei kommt es im
Rahmen dieser Untersuchung allein darauf an, sich ein Bild darüber
zu verschaffen, ob ein einziger, in sich völlig homogener, einheitlicher
Wertbegriff gegenüber diesen verschiedenen Problemen der Ökonomik
einen Sinn ergibt. Dabei müssen diejenigen Probleme ausgewählt werden,
bei denen ein solcher Sinn am chesten fraglich erscheint. Es ist darum
nicht die Lehre vom sogenannten Tauschwert und vom Preise, welche uns
hier vorwiegend zu beschäftigen hätte.
Begriffliche Voraussetzungen.
Wenn man etwa unter Wirtschaft den Inbegriff der auf fortgesetzte
Beschaffung und Verwendung von Gütern zur Bedürfnisbefriedigung ge-
richteten, planvollen Ardeitstätigkeitin einem geschlossenen oder geschlossen
gedachten menschlichen Bedürfnis- und Befriedigungskreise versteht»), so
sind in dieser Formulierung als augenscheinlich wichtigster Inhalt zwei
Bestandteile enthalten, die in nahezu allen Definitionen dieses als Aus-
gangspunkt der meisten ökonomisch-theoretischen Untersuchungen dienen-
den Gegenstandes wiederkehren: Wirtschaft ist einmäl eine ınenschliche
Tätigkeit und sodann cine solehe menschliche Tätigkeit, welche
sich auf die Erstellung von Gütern als Mitteln der menschlichen
$) Vgl. Ad. Wagner, Grundlegung der politischen Ökonomie. III. Aufl., Leipzig
1892. I. Teil, S. 81, 143. Für Carl Menger (Grundsätze der Volkswirtschaftslehre,
Wien 1471, S. 32, 53) besteht Wirtschaft in der Sorge des Menschen für die Deckung
seines Bedarfs an den für seine Bedürfnisbefriedigung nötigen Güterquantitäten.
Übrigens spricht Wagner von Wirtschaft als einer ,,planvoll nach dem
ökonomischen Prinzip erfolgenden‘“‘ Tätigkeit. begeht also einen circulus in
definiendo.
212 Hero Moeller.
Bedürfnisbefriedigung richtet.) Mittel (hier im Sinne des Tuns) und
Ziel (als dessen Resultat) sind also gegeben; beide aber bedürfen einer
‘klärenden Bestimmung. Die Tätigkeit ist durch ihre Einstellung auf das
Ziel, ihre vernunftgemäße Beherrschtheit durch den Zielgedanken gekenn-
zeichnet, das Ziel der Tätigkeit selbst ist nicht Selbstzweck, sondern
wiederum Mittel zum Zweck, es ist nicht durch äußere, technische Merkmale
schon bestimmt, vielmehr muß es den Charakter des „Gutes“ haben. Es
erscheint von vornherein klar, daß für die Ökonomik das Wesentliche nieht
in der Tätigkeit als solcher und dem Ziele als Gegenstand liegt, sondern
ihre Besonderheit sich aus diesen attributiven Erscheinungen herleitet.
Es kommt für uns auf eine genaue Vergegenwärtigung dieser Merkmale.
auf eine Verständigung an, zunächst über das Wesen des Mittels, sodann
über das des Ziels.
Man findet in der systematisch bedeutsamen Literatur keine Definition
der Wirtschaft, die diese nicht als eine Auswirkung menschlichen Tuns
bezeichnete. Die Art dieser Handlungen wird jedoch auf verschiedene
Weise erläutert. Entweder sind sie nur allgemein durch ihren Zweck, ihr
Ziel von anderen Tätigkeiten unterschieden, oder aber sie sind an sich
von besonderer Art, nämlich „planvoll“ oder durch das „ökonomische
Prinzip“ bestimmt. In ersterem Sinne erklärt sich eiwa Schonberg®) unter
der Beeründung, daß auch eine nicht planvolle, ohne eine bewußte Plan-
setzung vor sich gehende Tätigkeit Wirtschaft sein könne, gegen den
Waenerschen Begriff des PlanmaBigen und sagt, daß nach dem üblichsten
Sprachgebrauch „Wirtschaft zu definieren sei als der „Inbegriff der
wirtschaftlichen Tätigkeit einer Persönlichkeit (Person, beziehungsweise
Personengemeinschaft), das heißt die Gesamtheit der Handlungen einer
Persönlichkeit. welche sich auf die Beschaffung und Verwendung
materieller Güter zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse beziehen, sowie der
durch diese Tätigkeit herbeigeführte wirtschaftliche Zustand derselben.“
Das Problem, welches in allen Bestimmungen der Wirtschaft dann auf-
taucht, wenn man, wie hier geschehen, die Handlung selbst nieht näher
3) Unschwer läßt sich durch zeitlich entfernte Veriegung und abstrakte. kom-
plexe Vorstellung die „Verwendung“ von Gütern noch zur „Erstellung“ (Beschaffung
im weitesten quantitativen. qualitativen. räumlichen und zeitlichen Sinne) rubrizieren:
die Vorstellung des geschlossenen Wirtschaftskreises hat im wesentlichen nur illus ra-
tive Bedeutung.
8) Die Volkswirtschaft (Schönbergs Handbuch der politischen Ökonomie.
4. Aufl., 1. Bd.) Tübingen 1896, S. 10.
aoa . Gs . . . . . a)
Die sogalikonomisehe Kate sorie des Wertes. 21:
charakterisiert. ist infolge der scheinbaren Identität des Ziels dasjenige der
Trennung von Wirtschaft und Technik. Diejenigen, die von einer Charak-
terisierung absehen — zu ihnen gehören insbesondere Fr. J. Neumann und
H. Dietzel —, würden demgemaB genötigt sein, eine Verschiedenheit des
Tätiekeitsresultats anzunehmen. Ersterer behauptet, Wirtschaft sei ein
Inbegriff von Tätigkeiten zur Gewinnung und Erhaltung von Vermögen
für jemand”), schaltet das Attribut der Bestimmtheit durch das ökonomische
Prinzip mit dem Einwand aus, daß dieses Prinzip eine über das Gebiet
der Ökonomik hinausgehende, also nicht spezifisch wirtschaftliche Be-
deutung habe, und sieht das Ziel der Wirtschaft im Gegensatz zu dem der
Technik im Begriff des Vermögens gegenüber etwa demjenigen der Gegen-
sände an sich, im physischen Sinne.*) Dietzel hingegen vertritt von
vornherein die Ansicht, daß die wirtschaftliche Handlung sich nur durch
ihr Objekt kennzeichne, indem er aber Wirtschaft schlechtwez als das
Ganze der Handlungen bezeichnet, mittels deren ein Subjekt seinen Be-
darf an Sachgütern deckt,?) bleibt er mit der das Problem nieht lisenden
Bemerkung, die Grenzlinien zwischen Okoromik und Technik müßten
durch den Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften gefunden
werden, 19) die eigentliche Erklärung schuldig.
Das Bild verändert sich nun wesentlich. wenn man sich vergegen-
wärtist. daß vielfach auch dort, wo jene Kennzeichnung der wirt-
schaftlichen Tätigkeit als solcher in der Definition entfällt. im System
selbst ein eigener Typus vorausgesetzt wird. So sagt sogar Dietzel an
anderer Stelle. daß alle vernünftige Wirtschaft — hiebei wird der Aus-
druck „vernünftig‘‘ nicht einschränkend, sondern erläuternd verstanden
— als eine Reihe von Handlungen verlaufe, deren jede das Streben nach
dem Maximum von Nutzen für das Minimum von Kosten aufweise.!')
Auch Philippovich bezeichnet Wirtschaft zunächst nur als die Gesamt-
heit aller jener Vorgänge und Einrichtungen, welche auf die dauernde
Versorgung der Menschen mit Sachgütern und Dienstleistungen und auf
7) Grundlagen der Volkswirtschaftslehre. 1. Abteilung, Tübingen 1889, S. 33.
e) Vgl. a. a. O. S. 25. Der Vermögensbegriff ist durch den in der englischen
Literatur stets noch obwaltenden Ausdruck des „wealth“ beeinflußt.
9) Theoretische Sozialékonomik. 1. Bd., Leipzig 1895, S. 159.
10) A. a. O. S. 188.
11) A. a. O. S. 190. Hier tritt ohne logische Ahleitung das Beeriffspaar Nutzen
und Kosten auf, und das soeben in Auseinandersetzung mit der Wagnerschen Definition
von Dietzel abgelehnte ökonomische Prinzip ist in voller Erscheinung da.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 15
14 liero Moeller.
den Verbrauch beziehungsweise die Nutzung dieser Güter gerichtet „ind,
charakterisiert aber erläuternd das wirtschaftliche Handeln als eine
Tätigkeit, die durch planvolle, vergleichende Überlegungen nach Maßgabe
des ökonomischen Prinzips bestimmt werde.t?) Immerhin lassen sich
in dieser überwiegenden, die Eigenart des Vorganges selbst bejahenden
Richtung zwei Anschauungsarten unterscheiden. Entweder wird die
Handlung als überhaupt zweckmäßig bestimmt gedacht, oder sie wird
ausdrücklich als durch die Norm des ökonomischen Prinzips, die man in
irgendeiner Weise genauer beschreibt, beherrscht vorgestellt. Die Grenzen
dieser beiden Fälle sind praktisch insofern nicht scharf zu ziehen, al; nicht
alle diejenigen, welche die bloße zweckmäßige Bestimmtheit annehmen
und etwa mit v. Schulze-Gaevernitz Volkswirtschaftswissenschaft im
weitesten Sinne als die Wissenschaft von der Unterwerfung der äußeren
Natur unter die „Zwecke“ der Gesellschaft mit „gesellschaftlichen“
Mitteln bezeichnen. wie dieser das Prinzip der Wirtschaftlichkeit aus-
drücklich ablehnen.'s) Roscher definiert Wirtschaft als die „planmäßiee“*
Tätigkeit. des Menschen, um seinen Bedarf an äußeren Gütern zu befriedigen t>),
ähnlich C. Menger als eine „vorsurgliche“ Tätigkeit des Menschen. 1+)
Nicht nur Wagner nimmt entscheidend in den Begriff der Wirtschaft
ein spezifisches wirtschaftliches Prinzip hinein. Wenn F. B. W. v. Her-
mann sagt, daß Wirtschaft die „quantitative Überwachung“ der Her-
stellung und Verwendung der Güter in einem gesonderten Kreise von
Bedürfnissen, das heißt, die quantitative Bemessung der Arbeit bei der
Herstellung der Güter und in der Zuratehaltung des mit Arbeit hergestellten
Bedarfs an brauchbaren Dingen bei der Bedürfnisbefriedigung sei, um
mit dem Quantum an Mitteln dem Bedürfnis möglichst vollständig zu
12) Grundriß der Politischen Ökonomie. 1. Bd., 12. Aufl., Tübingen 1918, S. 1 f.
13) ,, Wirtschaftswissenschaft ?““ (in Festschrift für L. Brentano). München 1916,
S. 406. Er erklärt ein besonderes Prinzip der Wirtschaftlichkeit als überflüssig, da
dieser Grundsatz das Vernunftsprinzip einer jeden „zweckmäßigen‘‘ Handlung sei.
14) A. a. O. S. 5, ähnlich J. Conrad und besonders G. Cohn. |
1.) Menger hat das Wesen dieser Vorsorge eingehend analysiert (a. a. O. S. 24 ff,
32 ff). Die Menschen sind nach ihm bei ihrer auf d.e Befriedigung ihrer Bedürfnisse
gerichteten vorsorglichen Tätigkeit unter andercın bemüht, mit jeder gegebenen Teil-
quantität „durch zweckmäßige Verwendung einen möglichst großen Erfolg und einen
bestimmten Erfolg mit einer möglichst geringen Quantität zu erzielen, oder, mit
andern Worten, die ihnen verfügbaren Quantitäten von Genußmitteln, zumal aber
die ihnen verfügbaren Quantitäten von Produktionsmitteln, in zweckmäßigster
Weise der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zuzuführen.“ (.\. a. O. S. 53.)
Die sozial6konomische Kategorie des Wertes. 215
genügen, '®) so ist damit der Versuch gemacht, das Wesen des wirtschaft-
lichen Handelns als eines solchen nach Maßgabe des ökonomischen ict
spezifisch zu beschreiben.
Zunächst ist für uns, da es hier nur darauf ankommt, eine genaue
Vorstellung vom inneren Wesen des Wirtschaftens auf Grundlage der
üblichsten Begriffsbildung zu erhalten, nur die Frage von Interesse, wie
das Verhältnis de» „vernunftgemäßen‘“, ,,planvollen oder dergleichen
Handelns zu dem Begriffe des Handelns nach dem ökonomischen Prinzip
erklärt wird, ob in beiden eine Identität anzunehmen ist, ob letzteres das
erstere nur für das Gebiet der Ökonomik näher erläutert, oder ob es etwas
selbständig Neues aussagt, das heißt, inwieweit die Norm des ökonomischen
Prinzips durch das rationale wirtschaftliche Handeln schon beschrieben ist.
0. Spann bezeichnet Wirtschaft als die Widmung von Mitteln für Ziele
auf (rund ausgleichenden und sparenden Abwägens bei Überfülle an
Zielen und Knappheit an Mitteln, oder kürzer als die Widmung ‚von
Mitteln für Ziele auf Grund des Abwägens der Mittel“, wobei „Mittel für
Ziele“ ausdrücklich die „größtmögliche Erreichung des Zieles“ in sich
schließen soll,'?) und erklärt, daß Handeln nach wirtschaftlichem Grund-
satz nicht „rationales Handeln“ überhaupt heiße, sondern nur rationales
Umgehen mit Mitteln, das heißt rationales Handeln beim Abwägen und
Widmen knapp vorhandener Mittel für Ziele. Wo ein solches Abwägen
stattfinde, sei immer und notwendig Wirtschaft da, und: wenn es statt-
finde, sei es „seiner Idee nach vernünftig und streng logisch“.!8) Das Be-
sondere, welches dem Handeln gemäß dem ökonomischen Prinzip im Ver-
hältnis zum „rationalen‘‘ Handeln überhaupt zukommt, ist nach dieser
Ansicht das „Abwägen“ von Mitteln für Ziele. „Mittel“ ist für Spann
das, was hier als Ziel im Sinne des Resultats der wirtschaftlichen Tätigkeit
bezeichnet wurde, aber in der Tat, wie gesagt, den Zwecken gegenüber,
für welche das Resultat die Voraussetzung darstellt, selbst wiederum zum
bloßen Mittel wird. Spann spricht in ähnlichem Sinne (S. 40 f) von Vor-
zwecken, beziehungsweise Zwischenzwecken.'®). Jenes für Wirtschaft
l 16) Staatswirtschaftliche Untersuchungen. 2. Aufl. Miinchen 1870, S. 10. (Es
liegt uns die erste Auflage nicht vor.) Vgl. Schönberg, a. a. O. S. 11, A. n (Technik
geht für Hermann demgegenüber aufs Qualitative.)
17) Fundament der Folre PAT ehe. Jena 1918, S. 54.
18) A. a. 0. S. 61. |
1%) Spann erkennt, daB schon nach seiner Formulierung auch in der
Verwirklichung der Feldherrnkunst, nach welcher der Feldherr mit Mann und Material
216 Hero Moeller.
als Prozeß des Handelns ausschlaggebende Abwägen erscheint ihm
als „Ausgleichen“ und ‚Sparen‘, wobei der Spargrundsatz sich aus
dem Ausgleichsgrundsatz ableite, nur ersterer also primären Ursprungs
sai. Dies Ausgleichen bestehe nun dafin, daß ‚die Vorzwecke auf
die Endzwecke nach dem Maße von deren Wichtigkeit (ihres Geltungs-
grades) aufgeteilt werden“.”) Da nun die Feststellung dieser Wich-
tigkeit kein Teil der wirtschaftlichen Tätigkeit ist, so wird deren
Wesen und damit das sogenannte wirtschaftliche Prinzip auch bei Spann
rein logisch erklärt;?') was kann nun bloße logische Folgerichtigkeit bei
einer „Tätigkeit“ bedeuten, welche in der gedachten Weise bestimmi ist ?
Das einzige ‚Prinzip‘, welches im letzten Grund die Logik hier zu fordern
vermag, ist das der Konsequenz; angewendet auf den vorliegerden Fall,
würde der Wunsch, eine solche Tätigkeit solle im reinen logischen — jede
inhaltliche Hinzufügung ausschließenden — Sinne „rational“ sein, nur
bedeuten können, sie solle in Volkommenheit bis in ihre letzten Teiler-
scheinungen, durch den „Zweck“, das „Ziel“ oder dergleichen bestimmt
sein. Alles, was irgend dem ins Auge gefaßten Tätigkeitskomplex nicht
im Sinne des Zweckes notwendig, nicht „zweckmäßig“ ist, soll unter-
bleiben beziehungsweise „ist nicht wirtschaftlich“.**) Dadurch ist aber die
Ökonomik gegenüber der Technik wiederum noch nicht scharf abgegrenzt,
und es fragt sich, ob nicht eine genaue Formulierung der „rationalen“
Tätigkeit nach Maßgabe des ökonomischen Prinzips diese Schranke ein-
deutig zieht. Da aber das ökomomische Prinzip selbst nur aus der Raciona-
lität, und diese nur aus der Logik folgen kann, logische Grundsätze aber
an aeae o ee
sparen müsse. ein „wirtschaftliches‘‘ Element liege (a. a. O. S. 52). Spann nimmt
von einer Differenzierung des „Ziels“ Abstand (vgl. unter anderm S. 29 f) und sieht
auch die Entstehung desselben nicht dynamisch, als Prozeß, an.
20) A. a. O. S. 46. Das Verhältnis der Art der ökonomischen Tätigkeit (die bei
Spann durch dieses Abwägen gebildet wird) mit der ,, Knappheit“ beschäftigt uns
erst später. Der Vergleich von ‚Kosten und Nutzen‘‘, „Unlust und Lust“ usw.
ist selbstverständlich auch für Spann durch die Erkenntnis abgelöst, daß die Kosten
bloBer negativer Nutzen sein können, so daß alle Erwägungen von den Differen-
zierungen im Ziele abhängen (a. a. O. S. 74).
31) Die älteren ethischen und die psychologischen Erklärungsversuche sind
auch vom Verfasser in seiner früheren Schrift zurückgewiesen worden; eine spezifische
Formulierung hat das ökonomische Prinzip jedoch dort nicht gefunden.
2) Diese Interpretation des ökonomischen Prinzips entspricht (ungefähr) der-
jenigen von Fr. v. Gottl-Ottlilienfeld in Wirtschaft und Technik (Grundriß der
Sozialökonomie, 11. Abt., 1. Buch, 5. Bd., S. 210).
Die suzialdkonomisehe Kategorie des Wertes. 217
ihrer Natur nach die Voraussetzungen ihrer Möglichkeit niemals aus Er-
scheinungen einzelwissenschaitlicher Disziplnen herzuleiten vermögen,
so kann die Beziehung nur eine umgekehrte sein: Der allgemeine logische
Grundsatz verschafft sich in der Einzelerscheinung sein „Objekt“, er bildet
sich seine Welt, formt sich seinen spezifischen Gegenstand, oder vielnichr,
wirkt seinerseits an der Bildung des Objekts in besonderer Weise mit.
Wirtschaftliches Tun setzt voraus eine Umdenkung aus dem Technisch-
Materiellen ins Abstrakt-Quantitative, welches die Form ist, in der alle
jene möglichen, im weitesten Sinne „gegenständlichen‘‘ Resultate dem
Wirtschafter erscheinen.”) Das hiedurch überhaupt erst mögliche Ver-
gleichen beruht demgegenüber augenscheinlich auf der Vergegenwärtigung
dieser Gegenstände als abstrakter Größen und das ökonomische Prinzip
ist nichts als die rein logisch notwendige Forderung, daß für das Ziel,
das Resultat, den Nutzen, nicht Mittel, Aufwand, Kosten angewendet
werden sollen, die für diesen Zweck nicht erforderlich sind. Das, was über-
haupt erforderlich ist, kennzeichnet sich als das „Minimum“ der Mittel,
das, was überhaupt erreichbar ist, als das Maximum des Resultats. Eigent-
licher „Aufwand“ im ökonomischen, Sinne ist also nur jenes Minimum
selbst, das heißt, das durch den Zweck notwendig bestimmte Maß an
Mitteln. Das ökonomische Prinzip ist demgemäß nur zu deuten
als die Form, welche der Grundsatz des zweckmäßigen
Handelns nach Maßgabe des Objekts der wirtschaftlichen
Tätigkeit diesem gegenüber annimmt; damit ist die Frage nach
der für uns gegebenen Definition der Wirtschaft dahin entschieden, daß
wobl das Objekt (das heißt das gegenständliche, sclbst wiederum Mittel
für irsendwelche Ziele darstellende Tätigkeitsresultat) der Okonomik und die
Rationalität des Handelns selbst klargestellt sein müssen, das ökonomische
Prinzip aber als bloße Erläuterung und Zergliederung dieser Rationalität
in der Begriffsfestlegung entfallen kann. Wirtschaft sehen wir also an als
2) Vgl. die erwähnten früheren Untersuchungen des Verfassers in ihrem ganzen
Umfange, ferner unter andern Spann (a. a. O. S. 75): Nutzen ist ein „urößen-
begriff“ aller Verrichtung oder Leistung, die Werttheorie ist,, LeistungsgréBen-
lehre‘“. Den Unterschied zwischen Wirtschaft und Technik sieht Spann (S. 41)
darin, daß die Technik das System der Mittel als Ursächlichkeiten ansehe, während
die Wirtschaft das System der Mittel als Zwischenzwecke betrachte. Wenn wir das
oben Gesagte dahin erläutern, daß die Wirtschaft die Ziele und die Mittel nach dem
Grade ihrer Zweckbedeutung, die Technik sie nach ihren naturgesetzlich-kausalen
Voraussetzungen betrachte, so ist das entscheidende Trennungsmerkmal das rleiche.
218 Hero Moeller.
eine measchliche Tätigkeit, die von dem Zweck der Erstellung gerenständ-
licher Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bestimmt ist, und
bemerken uns, daß diese Begriffsbildung solange unvollkommen bleibt,
als nicht das Wesen der gegenständlichen Mittel als Objekte der Wirt-
schaft seine Klärung erfahren hat.”*)
Befindet sich eine solche Formulierung mit den herrschenden Be-
eriffsbestimmungen im Einklang, so kann zwischen ihr und dem tatsächlich
den Theorien zugrundcliegenden Objektsbegriff dennech cine Divergenz
vorliegen. ls gibt keine vollständige sozialökonomische Theorie, die in
mathematischer Vollendung „vom Begriffe der Wirtschaft zum Begriffs-
gebäude der Volkswirtschaftslehre‘ (Spann) aufstiege und die Verschieden-
artigkeit, mit welcher die theoretische Sozialökonomik aufgebaut worden
ist, findet in der Regel nicht ihre Grundlage schon in bestimmten Auf-
fassungen vom Begriff der Wirtschaft. Die Behauptung, welche in der
Definition liegt, daß das Resultat der Wirtschaft auf menschliche Tätigkeit
zurückgeführt werden müsse, drängt sich dureh den Begriff des Wirt-
schaftens auf, scheint jedoch in ihrer Eindeutigkeit schon durch das
Prinzip der Wirtschaftlichkeit, nach welchem in der gewöhnlichen For-
mulierung cine feste Beziehung zwischen Tätigkeit und Tätigkeitsresultat
nicht gegeben ist, widerlegt zu sein. Ist vernunftgemäße Tätigkeit geeignet,
als Bestimmungsgrund des ökonomischen Resultats zu gelten? Es läßt
sich nicht leugnen, daß, wenn man Wirtschaft als menschliche rationale
Tätigkeit zur Erstellung der Bedürfnisbefriedigunesmittel bezeichnet, der
Begriff dieses Tuns die Möglichkeit einer restlosen Erklärung des Resultats
im ökonomischen Sinne gewähren muß. Wie ist also das Verhältnis zwischen
Aufwand und Resultat zu deuten, liegt dem Vorgange des Wirtschaftens
und damit dem so charakterisierten Objekte der Ökonomik im dynami-
schen Sinne (in der Bewegung innerhalb der Zeit) ein Gesetz einer irgend-
wie zwingenden kausalen Relation zugrunde, nach welcher sich das Gebäude
der Ökonomik konstituiert? Hieraus folet insgesamt gegen die vorgelegte
Definition der Einwand, daß in thr kein Motiv enthalten sei, nach welchem
die Bindung der ökonomischen Kntwieklumg sich in einer bestimniten
Weise regle.
© 2%) Den Streit um die Frage der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit eines
Begriffs der Wirtschaft überhaupt, wie er insbesondere zwischen F. v. Gott] (Die
Herrschaft des Wortes, Jena 1901) und A. Amonn (Objekt und Grundbegriffe der
theoretischen Nationalökonomie, Wien 1911) und anderweit ausgefochten ist. haben
wir hier plangemäß auszuschalten.
Die sozialökonomische Kategorie des Werten. 219
Es ıst eine der merkwürdigen Erscheinungen der modernen theore-
tiehen Okonomik — wenigstens der deutschen, während sonst infolge
anderer Terminologie diese Einwendung nicht in gleichem Maße zutrifft —,
daß in der allgemeinen Bestimmung des Objektes alles Dynamische als
durch den Menschen und seine irgendwie geartete Tätigkeit verursacht
mlt, während im Aufbau der tatsächlichen Theorie vielfach fremde Be-
stimmungsgründe dieser menschlichen Tätigkeit parallel wirkend an die Seite
gestellt werden. Solange algerundete, überlegte Definitionen des Gegen-
standes nicht vorlieren, wie etwa in der klassischen Okonomik, entfällt
die Notwendigkeit einer entsprechenden Angleichung. Die moderne Lehre
klafft hingegen in Zielsetzung und Ausführung in vielen Belangen über-
haupt auseinander. In Anschung des hier vorliegenden speziellen Sach-
verhaltes ist die Schwierigkeit, zu einem eindeutigen Begriff der Ver-
ursachung oder überhaupt einer zwingenden Relation auf dem Hinter-
grunde der Zeitvorstellung für das Gebiet der Sozialökonomik zu gelangen,
neben Beeinflussungen durch dogmengeschichtliche Tradition und durch Zu-
fälliskeiten der Erfahrungswelt von besonderer Bedeutung gewesen. Dennoch
ist es für unser Vorhaben notwendig, zum Zwecke der Verständigung über
das Wesen des wirtschaftlichen Vorganges — das Wesen seines Resultats
kommt planmäßig erst hienach zur Sprache — gegenüber dem besagten
Einwande eine vorläufige Klärung herbeizuführen.
Verharren wir auf dem, wenn auch hypothetischen Boden der hier ge-
wählten Begriffsbildung, so erscheint es als notwendige logische Forderung,
daß jeder Veränderung im Resultat des Wirtschaftens eine Veränderung
in der Art oder „Menge“ der wirtschaftlichen Tätigkeit entspricht. Da wir
diese wirtschaftliche Tätigkeit selbst nur bestimmt haben durch die Vor-
aussetzungen, es handle sich einmal um ein Tun des Menschen, sodann um
ein solehes Tun, welches durch die Idee eines bestimmten gegenständlichen
Zieles beherrscht ist, so kann die besagte Relation nur insoweit gegeben
sein, als die Tätigkeit selbst, als Erkenntnisgegenstand, sich erst durch
eine irgendwie stattfindende Vergegenwärtigung ihres Zieles als eine ,,wirt-
schaftliche“ Tätigkeit erfassen läßt. Jene Äquivalenz von Tätigkeit und
Tätigkeitsresultat im Rahmen des Phänoniens „Wirtschaft“ ist demgemäß
durch eine begriffliche Beziehung in der Weise gekennzeichnet, daß dem
Begriff der Tätigkeit eine durch das Resultat bestimmte Grenze
gesetzt ist. Es können also Erscheinungen gegeben sein, die als Tätig-
keit zur Erstellung ven Bedürfnisbelriedigungsnitteln gelten, aber, in-
220 Hero Moeller.
sofern als sie für dieses Ziel nicht notwendig die Voraussetzung sind,
keinen Anspruch auf die Bezeichnung als ‚wirtschaftliche Tätigkeit" haben.
In den Rahmen des hier vorausgesetzten Begriffes der Wirtschaft
gehört demgemäß nur die so unterschicdene, ihrer Art nach jedoch in keiner
Weise bestimmte, also in dieser Beziehung weit gefaßte, wirtschaftliche
Tätigkeit hinein, so daß Wirtschaftsresultat und wirtschaftliche Tätigkeit
in fester Bindung zueinander verharren. Die Frage also, an welchen Vor-
aussetzungen die Veränderungserscheinungen im Wirtschaftsresultat sich
knüpfen, ist dahin zu beantworten, daß hiefür die Bedingungen der
Möglichkeit wirtschaftlicher Tätigkeit zuständig sind, die ihrer-
seits nicht selbst in den Bereich der „Wirtschaft“ gehören. Zugleich bleibt
der Sonderfall übrig, daß von Bedingungen einer wirtschaftlichen Tätig-
keit in einem bestimmten Umfange, beziehungsweise für den bestimmten
Teil einer solchen Tätigkeit überhaupt nicht gesprochen werden kann (oder
jedenfalls nicht im Sinne einer kausalen Relation), eine Möglichkeit, die
sich nach Maßgabe der Stellung zum Problem der Willensfreiheit und der
ursächlichen Ungebundenheit geistiger, ideeller „Handlungen“ aufdrängt.
Wenn hiedurch Freiheit und Gebundenheit der wirtschaftlichen Ent-
wicklung in einer dem gewöhnlichen begrifflichen Verfahren nicht voll-
kommen entsprechenden, dieses aber nur in bezug auf die logische An-
ordnung nicht inhaltlich verändernden Art und Weise bestimmt worden
sind, so ließe sich immerhin noch cinwenden, daß für die Betrachtung
eines einzelnen ökonomischen Gebildes die Voraussetzungen der wirt-
schaftlichen Tätigkeit selbst wirtschaftlicher Natur sind, daß gerade das
Wesen der Wirtschaft in einem Zusammen- und Nacheinanderwirken einer
empirisch kaum feststellbaren Zahl räumlich und zeitlich getrennter 6kono-
mischer Subjekte gesehen werden muß. Hieraus folgt richtig, daß der
Begriff der Wirtschaft sich auf eine nach auben geschlossen gedachte
Wirtschaft bezieht, als welche in den positiven Erscheinungen der Gegen-
wart in der Tat niemals die Wirtschaft eines einzelnen ökonomischen
Subjekts (einer Person oder eines Personenkreises, Volkes oder dergleichen)
angesehen werden kann, sondern zunächst nur die Wirtschaft überhaupt.
das heißt, die Universalwirtschaft. Demungeachtet ist es unmöglich, irgend-
ein ökononusches Resultat restlos in bezug auf seine ökonomische Struktur
zu analvsieren, ohne von der Idee einer nach außen begrenzten Totalitat
der für dieses „nebengetanen” oder „vorgetanen” ökonomischen Hand-
lungen geleitet zu sein. Wenn auch demzeinäß die einzelne subjektive
~
. e .. s - . > e (9
Die sozialGhonomisehe Kategorie des Wertes. 221
Wirtschaft keme geschlossene Wirtschaft darstellt, so ist doch eine solche
gerenüber jedem einzelnen ökonomischen Phänomen als gegeben an-
zunchmen.
Zieht man die Grenze zwischen Tätigkeit und wirtschaftlicher Tätig-
keit dort, wo wir sie soeben gewählt haben, so ist man bezüglich letzterer,
durch welche allein ein ökonomischer Erfolg zustande kommen kann, auf
die Erkenntnis des Wesens des Resultates dieser Tätigkeit, des wirtschaft-
lichen Gutes, hingewiesen. Wenn im vorhergehenden das ökonemische
„Gut“ als ein gerenständliches Mittel zur Befriedigung menschlicher Be-
dürfnisse bezeichnet worden ist, so bedarf diese Bestimmung, obwehl sie
den gewöhnlichen Formulierungen angepaßt ist, deswegen einer Erklärung,
weil sowohl der Begriff des Gegenstandes und der des Bediirfnisses, als
auch der des menschlichen Subjektes einer verschiedenen Auffassurg
fähig ist.
Aus der in der Definition der Wirtschaft liegenden Grundauffassung
über das Gut als einheitliche, rein ökonomische Kategorie folgen notwendig
sechs Merkmale:
1. Der Begriff des wirtschaftlichen Gutes bezieht sich an sich niemals
auf eine „Gattung“ von Gütern, insoweit man Gattungen nach Maßgabe
naturwissenschaftlicher, beziehungsweise technischer Gesichtspunkte bildet.
Dadurch, daß zwei Bediirfnisbefriedigungsinittel physikalisch und chemisch
gleich sind, ist über ihre Gleichheit als „Gut“ nichts ausgesagt. Erst nach-
dem diese Tatsache geklärt ist, darf die ökonomische Theorie an natur-
wissenschaftliche Gattungsbegriffe herantreten.
2. Der Begriff des Gutes ist in keiner Weise beschränkt auf bestimmte
technische, „materielle“ Eigenschaften. Die einzige äußere Kennzeichnung
ist die, daß es sich um etwas „Gegenständliches“ handeln muß. Darunter
ist eine im Zustand der Ruhe (in der Statik) erkennbare Erscheinung zu
verstehen. Die Dienste sind nicht statische, sondern dynamische (Be-
wegungs-)Erscheinungen, dennoch gehören sie — dem überwiegenden
wissenschaftlichen Sprachgebrauch gemäß — zu den „Gütern; denn
die Möglichkeit einer Dienstleistung in einer Zeitspanne ist an das Vor-
handensein einer bestimmt gearteten, örtlich bestimmten, zur Dienstleistung
fähigen und bereiten Persönlichkeit oder Personengruppe gebunden.
3. Der Begriff des Gutes ist ferner nicht auf einzelne rechtliche Voraus-
setzungen beschränkt, wie zum Beispiel auf die des Eigentums oder der
222
Hero Moeller.
Möglichkeit der Entstehung eines Eigentumsanspruchs an den Gegenstand,
stellt vielmehr bereits eine Kategorie der „reinen“ Okonomik dar.
4. Dementsprechend ist der Gutsbegriff zugleich nicht auf solche Dinge
beschränkt, die Gegenstand des Tausches sind oder sein können; der Tausch
kann nur. als Teil des als theoretische Okonomik bezeichneten Er-
scheinungskomplexes gelten, während „Gut“ ein allgemeiner konstituieren-
der Begriff der ,, Wirtschaft" selbst sein soll.
5. Dor ökonomische Gutsbegriff setzt eine Tätigkeit zur Erlangung
voraus. Das Gut ist das Resultat der Wirtschaft und nur insofern ,,Gut‘.'*)
25) Wagner sagt in diesem Sinne, daß wirtschaftliche Güter diejenigen seien.
zu deren Erlangung behufs Bedürfnisbefriedigung irgendeines Menschen irgend-
welche menschliche Arbeit die Vorbedingung sei. Hiebei bleibt er insofern unklar,
als er auf der einen Seite ausdrücklich als freie Güter auch solche bezeichnen will,
die die bloß okkupatorische Arbeit des Aneignens erfordern, gleichzeitig aber solche
Güter „insoweit“ wirtschaftliche Güter nennt, „als sie diese Aneignungsarbeit er-
fordern“. (A. a. 0., S. 290 ff.) Die gerügte Unklarheit betrifft den Bestimmungsgrund
des ökonomischen Gutsbegriffs, ja, enthält die letzte Schwierigkeit in der begrifflichen
Fundamentierung der ‚reinen‘ ökonomischen Theorie in sich; Güter sind stets
nur „insoweit“ wirtschaftlich, als sie „Arbeit“ erfordern, „an sich’ sind sie niemals
wirtschaftlich.
Der Grund der Schwierigkeit für Wagner ist augenscheinlich zunächst darin
zu suchen, daß ihm in dem speziellen Falle die „Arbeit‘‘ dem Gute, nämlich dem
(iegenstande, nicht zu entsprechen, ihm nicht äquivalent zu sein scheint. Zwischen
technischer Arbeit und bedürfnismäßigem Arbeitsresultat sieht er eine zu große
Spanne. Wichtig ist also, daß Wagner zunächst einen allgemeinen Arbeitsbegriff
aufstellt, dann aber einer Arbeitsart eine Sonderbehandlung gibt. Ein weiterer Nachteil
bei Wagner dürfte darin liegen, daß er zunächst den Gutsbegriff nebst Vermögen,
Wert und (ield, dann erst den Begriff der Wirtschaft behandelt. (Ebenso Roscher,
anders Philippovich. Spann, im Schönbergschen Handbuch. bei H. Dietzel u. a.)
Wenn man Wirtschaft als den allgemeinen Giegenstandsbegriff erkennt und die
Natur dieses Begriffs erfaßt hat, wird man von vornherein die Grenzen des Begriffs
des Gutes und des Wertes schärfer bestimmen. Schließlich erscheint es richtiger.
denjenigen theoretischen Komplex. der von Wagner als „reinet Ökonomik bezeichnet
wird, für sich in sciner Totalität in Erscheinung treten zu lassen. Die Anschauung
der Dinge vom „rein ökonomischen‘ und zugleich vom sozialen oder „.historisch-
rechtlichen Standpunkt der einzelnen‘ verzerrt das Bild, zumal „sozial oder historisch-
rechtlich“ ein kompliziertes Begriffsgebilde ist, aus dem sich von vornherein kein
bestimmt erfaßbarer .‚Standpunkt‘‘ zu einem Objekt entnehmen läßt. Für die Öko-
nomik besteht logisch notwendig zunächst nur das Ökonomische und das Nicht-
ökonomische. (In diesen Untersuchungen bestimmen wir hiefür eine geeignete Grenze,
gehen aber über diese nicht hinaus.) Bei Wagner hat die Vermischung zur Folge,
daß in seiner Theorie des Gutes die „Erwerbsart‘‘ durch Arbeit in der reinen Okonomik
.-
Die sozialökonowische Kategorie des Wertes. 223
6. Das ökonomische Gut ist zunächst nichts als die letzte gegenständ-
liche Voraussetzung des schließlichen nutzenmäßigen Ziels. Das sogenannte
Gut „erster“ Ordnung, und zwar dieses auch in räumlicher und zeitlicher
Hinsicht tatsächlich unmittelbar vor dem „Konsum“ (der Nutzung) be-
griffen, ist das eigentliche Gut und es ist eine nebensächliche Frage, ob die
Güter höherer Ordnung überhaupt als Güter zu bezeichnen sind. Dem-
semäß ist auch die wirtschaftliche Arbeit äußerstenfalls nur insofern ein
Gut (höherer Ordnung), als in ihr statisch-gegenstandliche Elemente (der
Mensch, seine Eigenschaften und Unterhaltsvoraussetzungen) gegeben
sind, die Arbeit als Vorgang der Leistung ist gegenständlich unerfaßbar.
(Vergl. die diebezüglichen späteren Darlegungen.)
Ebenso einheitlich wie für die Wirtschaft insgesamt die gegenständliche
Seite des Gutsbegriffes, muß der Aufgabe entsprechend die bedürfnis-
mäßige Kennzeichnung festgelegt sein. Die Bedürfnisse, welche in Frage
kommen als Voraussetzung der Wirtschaft, sind keine speziellen. Die ,, Wirt-
schaft“, die es, wie O. Spann sagen würde, mit „Mitteln für irgendwelche
Ziele‘ zu tun hat, schiebt sich hinein zwischen die „natürliche“ Materie
und ihre, abgesehen von den sogenannten Kräften des Bodens, häufig
den Erwerbsarten nach Maßgabe rechtlicher Kategorien gegenübergestellt wird,
obwohl diese letzteren ebenso auf Arbeit beruhen können. Die (irenzen der reinen
Ökonomik erscheinen also als nicht deutlich und jedenfalls zu eng gezogen.
Gemeinhin wird aber nicht eine ökonomische Tätigkeit, sondern die „Knapp-
heit‘ als Voraussetzung für die Existenz eines ökonomischen Gutes, insbesondere
im Gegensatz zu einen sogenannten „‚freien‘‘, bezeichnet. Insbesondere die ,,subjek-
tiven‘‘ Wertthevretiker, von C.Menger (vgl. a.a.0..S.54,61,80, passim) an, haben ein
außerordentliches Gewicht darauf gelegt, „die Arbeit“ als Voraussetzung des ökono-
mischen Gutsbegriffes auszuschalten. Dies ist solange berechtigt, als man damit
den Zweck verfolgte, einer etwaigen Lehre von einer Bestimmtheit des ‚Wertes‘
durch die Arbeit den Boden zu untergraben; es ist aber nur eine Selbstverständlichkeit,
daß aller Wert schlechthin durch den Nutzen gegeben ist, so daB auch nichts irriger
wäre, als die hier noch folgenden Untersuchungen als die Grundlage einer Arbeits-
weritheorie in solchem Sinne aufzufassen.
Wie wir noch später zu sehen Gelegenheit haben werden, ist der Begriff der
Knappheit seiner begrifflichen Natur nach unklar und für den vorliegenden Zweck
ungeeignet. Überall wird dieser Becriff auch nur gebraucht, um mit ihm sogleich
die Notwendigkeit ökonomischer Erwägungen zu begründen und es bedarf nur der
allerdings sehr notwendigen, für uns, wie noch zu zeigen sein wird, fundamentalen
Klarstellung, daß dieses Bedenken, Sparen und Haushalten selbst Arbeiten, selbst
ökonomisches ‚‚Gestalten‘‘ der Dinge bedeutet, aber, und das ist wiederum sehr
wichtig, Arbeit ist nicht nur jenes Erwägen,
e
224 Hero Moeller.
übersehenen natürlichen dvnamischen Möglichkeiten auf der einen, und
die menschlichen Wünsche auf der anderen Seite, soweit es der Erstellung
besonderer ‚Mittel‘ der Bedürfnisbefriedigung bedarf, das heißt, soweit
Tätigkeit zur Erstellung solcher Mittel stattfinden muß. Aus dieser außer-
ökonomischen Voraussetzung findet allein eine Beschränkung der für die
Ökonomik in Frage kommenden Bedürfnisse stait.
Diesen Feststellungen entspricht, daß Wirtschaft es zunächst mit zwei
Arten von unter Umständen personell identischen „Subjekten‘ zu tun hat,
jenen, die wirtschaften, und jenen, für deren Bedürfnisse gewirtschaftet
wird, wobei demgemäß die letztere Gruppe auf dem Wege über die Bedürf-
nisse als solche mit der „Wirtschaft‘‘ verknüpft ist. Wirtschaft hört da
auf, wo reine Konsumtion beginnt, alle Nichtkonsumtion kann als Produk-
tion bezeichnet werder, alles Wirtschaften ist daher mit Produzieren in
einem solchen weiteren Sinne identisch, das heißt derjenige Konsument. der
Dispositionen über die zeitliche Verteilung des Selbstverbrauches eines in
seiner Verfiigungsmacht befindlichen Gegenstandes trifft, ist als solcher
Produzent oder besser ,, Wirtschafter“. Ist Wirtschaft die menschliche Tätig-
keit zur Erstellung von Mitteln menschlicher Bedürfnisbefriedigung, so
eehört die reine Konsumtion nicht zur Wirtschaft. Da die menschliche wirt-
schaftliche Tätirkeit, wie wir sahen, artlich, technisch in keiner Weise, viel-
mehr nu: durch ihre Gerichtetheit auf einen Zweck gekennzeichnet ist, so ist
jede nicht zur reinen Konsumtion gehörende „Verwendung“ von Gütern mit
cemsclben Rechte ökoncmisches Handeln wie die Produktion im engeren
Sinne. Das Gut ist erst als sclehes bestimmt, wenn es als unmittelbar,
das heißt seiner quantitativen und qualitativen, räumlichen und vor
allem auch zeitlichen Existenz nach gegeben ist, das heißt, wenn es in eine
unmittelbare, letztliche Beziehung zu einem bestimmten subjektiven Be-
dürfnis gelangt.
Nach der üblichen Auffassung hat die Ökonomik die besondere Auf-
gabe, Vergleiche zwischen Gütern anzustellen. und zwar das „Gut“
in zweifacher Hinsicht vergleichend zu betrachten. Einmal kann das be-
stimmte, gegebene Gut mit anderen Gütern verglichen werden, sodann
kann vielleicht auch zwischen ihm und dem Aufwande, mit welchem es
hergestellt wurde. ein Vereleich stattfinden. Wie sind solche Überlegungen
möglich und wie verhalten sich beide Überlerungsarten zueinander ?
Wie bereits aus dem Begriffe der Wirtschaft und der wirtschaftlichen
Tätigkeit entnommen werden konnte, ist jener letztere Vergleich nur die mög-
u med
Die sozialikonomisehe Kategorie des Wertes. 22)
lichst genaue Vergegenwärtigung des für ein bestimmtes Zielnotwendigen
Aufwandes menschlicher Tätigkeit. Ist nun eine Tätigkeit in der Tat schon
dann wirtschaftlich festgelegt, wenn nur dieses notwendige Maß menschlicher
Tatigkeit zur Anwendung gelangt, wenn also restlos „zweckmäßig“ cchandelt
worden ist ? Sofern Wirtschaft nur aus einem einzelnen tätigen Subjekt, etwa
der Menschheit, und nur aus einem bedürftigen Subjekt, nämlich eben dieser
und nur aus einem bestimmten Bedürfnis, nämlich nach der Gesamtheit
aller „Güter“, das heißt aller nützlichen Gegenstände in bestimmter Menge,
Art, sowie räumlicher und zeitlicher Gruppierung besteht. würde dies zu
bejahen sein;.denn Zweck und Mittel sind restlos bestimmt. Fehlt aber
nur ein einzelnes Merkmal, etwa die zeitliche Festlegung des Gutes, so
ist die Möglichkeit gegeben, die vorhandenen Mittel auf zu verschiedenen
Zeiten vorhandene, wenn auch technisch gleiche Gegenstände und damit
auf in ökonomischem Sinne definitionsgemäß verschiedene zu erstellende
Güter zu richten. Die „Vernunft“ ist also genötigt, die Ziele miteinander zu
vergleichen. Sind nun mehrere Elemente nicht gegeben, so würde sich der
gedankliche Vorgang um einen weiteren Grad komplizieren. Indessen bedarf
es hier augenscheinlich zunächst einer genaueren Analyse des Wesens des
„Aufwands‘‘. Nach der Begriffsbestimmung der Wirtschaft würde der Auf-
wand, der in ihr stattfindet, zuletzt nur die zweckgerichtete menschliche
Tätigkeit sein können, die selbst erst durch das von ihr erstellte Resultat
richtig erfaßt werden kann. Ist dieses Resultat durch das Zusammen-
wirken mehrerer ökonomischer Subjekte derart bedingt, daß sich eines
der andern nur zur Mitwirkung bedient, so kann ersterem die
Tätigkeit der letzteren als Aufwand oder „Kosten“ erscheinen; damit
ist jedoch nur gesagt, daß die Tätigkeit des ersteren ein engeres Ziel hat,
als es das ‚Produkt‘, welches als das seinige gilt, anzeigt. So ist also auch
hier der Aufwand die eigene ökonomische Tätigkeit der einzelnen Subjekte.
Dieser aber läßt sich definitionsgemäß mit dem Resultat nicht ,,ver-
eleichen‘‘, weil er sich erst aus ihm, als sein Korrelat, ableitet.
Demgcmäß würde ein Vergleich zwischen Aufwand und Erfolg nur
den Sinn einer Abrechnung fremden Tätigkeitsresultats vom eigenen, soweit
beide in einem einheitlichen Gegenstande sich verkörpern. haben können,
nicht aber eine allgemeine ökonomische Grundfunktion sein. Hiegegen
dürfte sogleich eingewandt werden, daß auch das einzelne Subjekt seine
ökonomischen Entscheidungen von einem Vergleich seiner eigenen Mühen
oder sachlichen Aufwendungen mit dem Resultate abhängig zu machen
226 Hero Moeller.
pflege. Die hiefür typische Vorstellung ist die des Strebens nach Ver-
ıneidung von „Mühe“. Hat man das gleiche Resultat vor Augen, so ergibt
sich bereits aus dem logischen Grundsatz, bei der auf dessen Erzielung ge-
richteten Tätigkeit alles zu unterlassen, was solchem Ziel nicht entspricht.
die Richtlinie „ökonomischen“ Handelns. Werden mehrere mögliche Resul-
tate miteinander verglichen, so muß zunächst eine Vergezenwärtigung des
für sie notwendig erforderlichen persönlichen Aufwands erfolgen. Dieser
Aufwand ist aber auch hier nur die bloße Vergegenwärtigung des Resultats
nach Maßgabe seiner Entstehung durch Tätigkeit und diese zweckgerichtete
Tätigkeit ist durch das Resultat selbst aufgewogen. Da in der Ökonomik
an sich nichts „frei“ entsteht, so findet kein „Vergleich“ der Leistung
mit dem Resultat statt, sondern nur eine Zurückführung des Re-
sultats auf seine leistungsmäßigen Voraussetzungen. Es
entspricht diese Feststellung der überwiegend vertretenen Ansicht, daß
die äußere Leistung für einen ökonomischen Zweck in Gestalt von Arbeits-
mühe, Arbeitszeit oder Unlust nicht die wahre Voraussetzung sein könne,
weil jeder Arbeit nicht Mühe und jeder Leistung nicht eine bestimmte
Zeit notwendig korrespondiere.?*) Insoweit Tätigkeiten auf die Möglich-
keit, anderen Zielen nachzustreben, mehr oder weniger einschränkend
wirken, ‘spielen der Faktor der Zeit oder der Ermüdung allerdings im
Bereiche des Wirtschaftlichen eine Rolle; doch ist auch hier nur das Re-
sultat maßgebend, nämlich dasjenige, welches insgesamt erz.elt werden
kann. Dasselbe gilt für die „sachlichen‘‘ Aufwendungen. DemgemaB
ist zu folgern, daß alle. Ökonomik allein aus dem Vergleich der
wirtschaftlichen Güter ihre Richtlinien entnimmt und jenes Problem
der zweifachen Arten des Vergleichens entfällt. Daß die Güter nicht in
ihrer technischen Gestalt, sondern im Rahmen der Wirtschaft in bezug
auf ihren Nutzen, im allgemeinsten Sinne einer Bedeutung als Mittel zur
—
26) Eine gründliche Behandlung dieser Materie finden wir bei H. Dietzel,
a. a. 0. S. 203 ff., insbesondere 218 --237. Dort fehlt jedoch die Inbeziehungsetzung
des Problems zu dem Begriffe der Wirtschaft und des wirtschaftlichen Prinzips.
das heißt es ist nicht gezeigt worden, wie sich das Letztere in das Prinzip der Nutzen-
erzielung auflöst: Bezüglich des Verhältnisses von Arbeit und Unlust vgl. auch
H. Herkner, Arbeit -und Arbeitsteilung, Grundriß der Sozialökonomik. Jl. Abt.,
1. Buch, 4, Bd., S. 172, ferner B. Harms, Artikel Arbeit im Handwörterbuch der
Staatswissenschuften, 3. Aufl., 1. Bd., S. 574, ferner F. Wieser, Theorie der gesell-
schaftlichen Wirtschaft (Grundriß der Sozialökonomik J, 1. Buch, A TIT), Tübingen
1914, S. 141.
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Die sozialökonomische Kategorie des Wertes.
Befriedigung von Bedürfnissen menschlicher Subjekte, und nur in bezug
auf diesen angesehen, also stets zunächst als Voraussetzungen von „Nutzen“
beurteilt werden, folgt schon aus dem Begriffe des Gutes selbst. Diese
Kategorie des Nutzens, gemeinhin als ökonomischer ‚Wert‘ bezeichnet,
ist also die Einheit gegenüber der Vielheit der „materiellen“ Gegenstände
und damit die Voraussetzung für die Möglichkeit der Vergleichung dieser
Objekte untereinander. u
Deutung und Notwendigkeit der Wertkategorie.
Wie in Anschung des Wesens des Gutsbegriffes hier von der [rage
verschiedener Arten und Ordnungen von Gütern als Problem der speziellen.
Theorie abgesehen werden konnte, so interessiert der Begriff des Wertes
hier nur in bezug auf seine allgemeinen Merkmale, und die Aufgabe ist darauf
beschränkt, darzutun, daß er in einer geschlossenen Theorie der Wirt-
schaft einen notwendigen, konstituierenden Bestandteil bildet und ihm ver-
möge bestimmter, allgemeiner, ihm stets anhafte der Attribute das Merk-
mal eines einheitlichen, besonderen Begriffs zukommt. Eine Theorie der
Werthöhe und des Preiser zu gehen, ist nicht die Absicht dor vorliegenden
Untersuchungen. |
Wie aus dem Vorangezangeaen brreits folgt, ist der ökonomische Wert
eine begrifflich notwendig dem ökonomischen Gute anhaftende Eigenschaft.
Es ist nicht ein bloBer terminologischer Streit, ob man das, was hichei
vor Augen steht, mit ‚Nutzen‘ oder mit „Wert“ bezeichnet; denn der
Begriff des Wertes kann zugleich die Bedeutung der Bezeichnung eines
selbständigen Objektes haben. Wie von uns an genannter anderer Stelle
ausführlich entwickelt worden ist, liegt die Besonderheit des ökonomischen
Wertbegriffs einmal in der logischen Erfassung des Objekts der Vorstellung
als Quantität, wonach eine „Größe“ des Wertes von Gegenständen (Güter n)
vorgestellt und mit anderen Wertmengen arithmetisch vergleichbar gemacht
wird,27) sodann in dem rein abstrakten Charakter dieser Quantität, indem
27) Es sef hier nur die folgende typische Formulierung von Marshall (Handbuch
der Volkswirtschaftslchre. 1. Bd., deutsche Übersetzung, Stuttgart 1905, S. 104), der sich
in seinem System cines ökonomischen Wertbegriffes nicht bedient, herangezogen.
Er versteht unter wirtschaftlichen (rütern solche, die sich außerhalb des Menschen
befinden, ihm und nicht gleicherweise seinem Nachbarn gehören, und die ‚zweitens
direkt mit Geld mieBbar sind — ein Maßstab einerseits für die Anstrengungen und
Opfer, durch welche sie ins Dasein gerufen, andrerseits für die Bedürfnisse, welche
939 Hero Moeller.
ihr keinerlei äußeres Quantum, sei es der Länge oder des Gewichtes, sel es
selbst der Zeit, irgendwie entspricht. Diese Eigentümlichkeit des ökonomi-
schen Wertes ist eine solche des wirtschaftlichen Gutes als des — im ökono-
- mischen Sinne verstandenen — , Resultats“ aller wirtschaftlichen Handlung
(das heißt der gegenständlichen Voraussetzung aller Zielerreichung) und
steht, da diese Handlung selbst durch dieses Resultat als ökonomische
Tätigkeit erst erkennbar ist, im Mittelpunkt der Theorie. Der Wert
ist die notwendige und typische Erscheinungsform der „Gegenstände“
im Zusammenhange der Ökonomik, im Lichte der ökonomischen Be-
trachtung.
Hiegegen ließe sich nach Maßgabe der gegehenen Voraussetzungen
zweierlei einwenden. Einmal ist gerade hier von der Priorität des reinen,
letzten, nur auf das Subjekt der eigentlichen Konsumtion bezogenen Guts-
begriffs ausgegangen worden. Sind diese individuellen Wertvorstellungen
überhaupt als quantitative zu deuten, ist eine solche Vorstellungsform, da
eine entsprechende Umdenkung doch höchstens dann notwendig erscheint,
wenn ein Vergleich stattfinden soll, nicht beschränkt auf das bloße Tausch-
gut? Wenn sich auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Handelns das Ver-
gleichen ganz allgemein als ein Vergleichen dessubjektiven Nutzens (Ertrages)
verschiedener Handlungen kennzeichnet, wobei der Tausch nur als eine
Etappe solcher Handlungen erscheint, so ist, da stets für den Menschen ver-
schiedene Mittel der Bedürfnisbefriedigung nach Maßgabe der Differenziert-
heit seiner Bedürfnisse als Ziel gegeben sein können, der Vergleich selbst
in der isolierten Wirtschaft schon möglich. Dennoch erscheinen hier und
in gewissem Grade auch in jeder hochentwickelten Tauschwirtschaft die
verschiedenen bedürfnismäßigen Ziele eben gerade wegen ihrer inhalt-
lichen Differenziertheit als unvergleichbar, unvertretbar, so daß man
geneigt ist, eine allgemeine Kategorie des Nutzens überhaupt abzulehnen,
versteht es sich doch von selbst und folgt aus der gegebenen Begriffs-
bestimmung, daß das technisch gleiche „Objekt“ gegenüber verschiedenen
Subjekten, ja gegenüber dem gleichen Subjekt zu verschiedener Zeit, selbst
ceteris paribus eine verschiedene Nutzenvorstellung auslösen kann. Wenn
durch sie befriedigt werden. Wagner dürfte nach wie vor Recht haben, wenn er
(a. a. O. S. 286) sagte, daß die Grundbegriffe der Volkswirtschaft ihre eingehendste
und scharfsinnigste Erörterung in der deutschen Literatur des Faches gefunden
hätten. Bei Marshall fehlt überhaupt das Bestreben nach einer logisch befriedigen-
den einheitlichen Deutung.
. . En . + ` t ei x “).)
lie sozialökene misehe Kategorie des Wertes. 220)
also ein derartiger Vergleich auch insofern allgemein möglich ist, als in
jedem Falle verschiedene Objekte gegeben sind, so könnte er doch des-
wegen unstatthaft sein, weil diese Objekte nichts ihnen stets Gemeinsames
aufweisen, woran sie vergleichbar sind. Selbst dann, wenn man die Form
des Abstrakt-Quantitativen als Voraussetzung arithmetischer Vergleich-
barkeit äußerlich nicht quantitativer Objekte als gegeben annähme, anstatt
sie erst als notwendig zu eiweisen, würde man daraus die Möglichkeit des
Vergleiches nur dann folgern können, wenn man eine einheitliche inhalt-
liche Deutung dieser Mengenvorstellungen darzutun in der Lage wäre;
denn das Quantitative gibt eben nur die logische Form der Gedanken-
veıbindung. Nehmen wir umgekehrt das letztere an, so bedarf es allerdings
nach dem Verhergesagten nicht mehr eines Beweises für die Möglichkeit
jener abstrakt-quantitativen Wertvorstellung; vielmehr bliebe höchstens
übrig, zu zeigen, wie historisch-empirisch allmählich die Verifikation eines
solchen abstrakten Zie!gegenstandes stattgefunden hat.
Damit konzentriert sich das Problem auf die Frage nach der einheit-
lichen inhaltlichen Deutung des Wertbegriffes auf dem Boden der hier
vorauszesetzten Bestimmung der Wirtschaft. Der „Wert“ müßte also ein
einheitliches Attribut jedes ökonomischen Resultates sein, ja er müßte
eben dieses Resultat als solches ausmachen. Gibt bereits der einfache
Begriff des Nutzens, wie er in dem des Gutes enthalten ist, diesen Inhalt ?
Die Werttheorie hat zweierlei Aufgaben. Zunächst muß der Wert-
begriff als reine ökonomische Kategorie erfaßt werden; man muß verstehen,
wie durch ihn die Zielsetzung des ökonomischen Handelns bestimmt ist,
inwiefern sich in ihm und durch ihn die wirtschaftlichen Ziele von anderen
Zielsetzungen sichtbar scheiden. Ferner dient er als Grundbegriff zur Er-
klärung der tatsächlichen Wertungen, darunter vor allem der Preise. Die
Preistheorie hat die spezielle Aufgabe, allgemeine Gründe nachzuweisen,
nach welchen sich die Preise bilden. Dahei wird der Preis im allgemeinen
als eine Erscheinung des Tausches verstanden, und nicht jeder Über-
gang eines Objektes an einen anderen, selbst gegen Entgelt, ist für jenen
Typus des Tausches, in dem an eine gewisse Äquivalenz beiderseitiger
Leistungen gedacht zu werden pflegt, ein Beispiel. Die Grenzen sind,
wenn man sie nicht vom Gesichtspunkt des positiven Rechts aus ziehen
will, nicht scharf zu bestimmen. Die Zurückhaltung aus Macht ist so
wenig wie ale Hingabe aus „Güte“ cine Erscheinung ökenonischen
Ausgleichs. Es entstehen überall Güterübertragungen, bei welchen die
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, Neue Folge, 1. Band. 16
330 Hero Moeller.
Ursachen und Motive ganz oder teilweise Resultate einer „Willkür“
darstellen und sich nicht auf allgemeine Regeln bringen lassen. Des-
halb dürfte der ökonomischen Werttheorie von vornherein nicht die Auf-
gabe zu stellen sein, alle „tatsächlichen“ Wertungen, sei es, daß sie bei
Tauschvorgängen, sei es, daß sie anderweit offenbar werden, zu erklären.
Vielmehr muß sie augenscheinlich versuchen, im engen Rahmen einer
„reinen“ Ökonomik ein allgemein gültiges oder möglichst allgemein gelten-
des Gesetz als empirische Regel festzustellen.
Weshalb wird nun hier der allgemeine Satz, daß der Wert der Güter
auf ihrem Nutzen beruhe, mit ihrem Nutzen inhaltlich identisch sei,
schon im Rahmen einer bloßen ökonomischen Werttheorie zumeist
als unzureichende Erklärung empfunden? Zunächst will man den
Nutzen selbst analytisch erklären, man bringt cine Skala der
Bedürfnisse und zeigt ihren Einfluß auf die ökonomischen Zielsetzungen.
Aber auch der Zweck solcher Untersuchungen liegt im Sinne der theorc-
tischen Ökonomik nicht in dem psychologisch-soziologischen Tatbestande,
sondern überall läuft die Untersuchung darauf hin, von der Erklärung des
Nutzens gegebener Güter zur Erkenntnis des Vorganges des Werdens
dieser Güter als solcher nach Maßgabe einer Zielsetzung einzelner oder
vieler, in den verschiedenen Variationen des Zusammenwirkens (in zeit-
licher und örtlicher Trennung) auftretender ökonomischer Subjekte vor-
zudingen. Von der Erkenntnis des nutzenmäßigen Wertes selbst sucht
man zu einer Art ursächlicher Erklärung zu gelangen. Das statische Resultat
der Ökonomik will aus einsv dynamischen Entwiekung heraus verstanden
werden.
Versuchen wir jedoch zunächst, uns ein Bild der gegebenen Problematik
auf dem Gebiete der reinen Wertlehre, das heißt der Lehre vom ökono-
mischen „Gebrauchswert‘‘ im Sinne der neueren, durch die voraus-
gegangenen Bemerkungen über .das wirtschaftliche Gut kenntlich ge-
machten Terminologie, zu verschaffen. l
Den Wert erfassen wir als den Grad des Nutzens, wie er durch das
konsumreife Gut repräsentiert ist, der also von der Verfügung über dieses
Gut abhängt. Demgemäß ist das Grundgesetz der Wertgröße die aus-
schließlich subjektive Empfindung oder Vorstellung von der Bedeutung
des Nutzens, eine Empfindung, welche sich nach Maßgabe der empirischen
Ähnlichkeit menschlicher Vorstellungen in hohem Grade verallgemeincrt,
„verobjektiviert“‘. Hiebei sind jedoch die psvehologischen, sezislogischen,
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 231
beziehungsweise allgemein kulturellen Maßstäbe und Klassifikationen selbst
nicht Gegenstand der ökonomischen Betrachtung, für diese ist vielmehr
die dadurch irgendwie bedingte jeweilige tatsächliche Nutzenschätzung
das fertig Gegebene.
Nun ist der „Gegenstand“ (im früher festgestellten weiten Sinne)
nicht ein Objekt, welches durch seine Existenz als solches den Nutzen
ergäbe, das heißt es gibt nicht einen „Wert des Gegenstandes“, sondern, °
wie oben bereits angedeutet, nur einen Wert, der in der Möglichkeit der
Verfügung über den Gegenstand besteht, anders ausgedrückt, der Gegen-
stand hat nur insofern und in demjenigem Grade ‚Wert‘, als er die Be-
dingung für die Erlangung des Nutzens darstellt. Ist also von dem Gegen-
stande des konkreten, bestimmt beschränkt gedachten Bedarfes noch ein
weiteres gleiches, im übrigen nutzloses Quantum ebenfalls zur unmittel-
baren Verfügung bereit, so ist eines der beiden Quanten (somit das erste)
wertlos, ist ihre Anzahl gleich unendlich, so sind sie insgesamt wertlos.
Demgemäß ist die Tatsache des „Wertes“ (als einer Relation zwischen
Objekt und Subjekt) allein für die objektive Seite nicht durch die artliche
Erscheinung des Gegenstandes an sich (seine Größe, Schwere, Farbe,
(estalt usw.) bereits gegeben, sondern folgt erst aus seiner Alleinhaftigkeit,
bezithungsweise dem Grade dieser Alleinhaftigkeit im Umkreise der
unmittelbaren Verfügungsmacht des Subjekts.
Betrachten wir also, dem Ausgangspunkte entsprechend, den Bedarf
(des Subjektiven) als das Gegebene, so kann das Objekt, aut welches
der Bedarf sich richtet (von der Verfügung über welches die Be-
frieligung des Bedarfs abhängt), gegeben sein: a) dem Bedarf (genau)
entsprechend, b) in größerer Menge (das heißt in einem Vielfachen ven
Exemplaren), c) in geringerer Menge.
Ist nun Wirtschaft die menschliche zweekinäßige Tätiekeit zur Erstellung
von Gegenständen, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen
sallen, so findet Wirtschaft im eigentlichen Wortsinne unter obigcn Fällen
nur dort statt, wo der Gegenstand des Bedarfes in zu geringer Menge gegeben
ist, und zwar insofern, als, wenn überhaupt der Bedarf Teilbarkeit auf-
Waist, cine Disposition über die gegebenen Teilmengen zugunsten ver-
scuicdener Teilbedürfnisse erfolgt. Da dies jedoch nicht mehr unter der
engangs erwähnten Voraussetzung der Gegebenheit des Bedarfes geschicht,
vielmehr die Teilung (Beschränkung) des Bedarfes seine Veränderung be-
dexet, so wird dieser Fall cia solcher, bei welchem entsprechende Be-
he
SS
lo
Hero Moeller.
friedigung eines (neuen) Bedarfes vorliegt oder vorliegen kann. Im Falle
der Teilung (Aufteilung) der gegebenen Menge werden zugleich die Teile
das unmittelbar Gegebene, die Gesamtmenge hingegen stellt sich nur
noch als (vorher) mittelbar gegeben dar.
Im ersten obigen Falle ist der Grad des Nutzens von dem bloßen
Verfügen über den Gegenstand sowie zuvor seiner Erkenntnis als not-
-= wendige Voraussetzung der Nutzenerzielung abhängig, dementsprechend
sinkt, beziehuugweise steigt der Grad des abhängigen Nutzens im zweiten,
beziehungsweise dritten Falle (in letzterem nach dem Gedanken des Grenz-
nutzengesetzes).
Außer der bisher erörterten Möglichkeit der unmittelbaren Gegeben-
heit des Gegenstandes ist diejenige seiner mittelbaren denkbar. Die Nicht-
gegebenheit kann auf quantitativen (der bereits analysierte, sich aus dem
obigen dritten Fall ergebende Tatbestand), qualitativen, räumlichen und
zeitlichen Sachverhalten beruhen, die auf dem Wege der Gütererstellung,
das heißt mittels wirtschaftlicher Tätigkeit, derart zu überwinden sind,
daß unmittelbar verfügbare Gegenstände beschafft werden.
Dem Spezialfall einer Disposition über die Teile eines gegebenen
Ganzen entspricht hier die mannigfaltige Form der Gestaltung der Dinge,
dort wie hier ist die Handlung von dem Ziele bestimmt, diese Dinge dem
Bedarf anzupassen. Der Grad der Mittelbarkeit und damit die Formen
ihrer Überwindung sind mannigfaltig, zugleich sind die Voraussetzungen
für die Erstellung des bestimmten Gegenstandes gleichzeitig mögliche Vor-
aussetzungen der Befriedigung einer Vielheit anderer Bedürfnisse des
gleichen oder anderer „Subjekte“. Insoweit als diese anderen Bedürfnisse
von solchen Voraussetzungen abhängig sind, schließt zugleich das auf
ihrer Grundlage tatsächlich Geschaffene jene anderen Möglichkeiten aus.
Durch diese Verwicklung des Prozesses ergeben sich vielfache Abhängig-
keiten, welche insofern für den Wert der Güter von Bedeutung sein können,
als (ähnlich wie in dem vorher genannten Fall) der Bedarf sich den Gegeben-
heiten (hier vor allem dem aus der Norm zweckgemäßen wirtschaftlichen
Verfahrens sich ergebenden jeweiligen GesamtprozcB) anpassen, das heißt
sich gegebenenfalls auf andere Ziele umstellen muß.
Es ist schon deshalb nicht unsere Aufgabe, hier eine kurze Übersicht
über die Entwicklung der Werttheorien — von denen uns zu dem vor-
wiegend nur die „subjektivistischen‘ interessieren — zu geben, weil eine
-r e
Die sozialökonomisehe Kategorie des Wertes. 239
sche bereits in musterhafter Klarheit vorliegt.2*) Die Grundvorstellung
der Erklärung des Wertes aus dem „abhängigen Nutzen“, verbunden mit
dem Postulat der Allgemeingültigkeit dieser Erklärung, sowie die zuerst
von Menger glänzend herausgearheitete Veränderung der Schätzung bei
veringertem zur Verfügung stehendem Quantum gemäß dem Verzicht
auf das jeweils mindest geschätzte oder wenigst wichtige Bedürfnis sind
Anschauungen, die festes Gemeingut der modernen Wertlehre geworden
iind. Die Frage, ob die insbesondere von Wieser in Anlehnung an Gossen
ausechaute Lehre von den Arten von Bedürfnissen und den Graden der
Sättigung einen mehr oder weniger zwingenden Charakter habe, was
Menger nach Maßgabe seiner naturwissenschaftlichen Auffassung zu
bejahen geneigt war, ist ebenfalls kein fundamentales Problem mehr.
Desgleiehen wird die Lehre von dem Primat der Güter erster Ordnung,
von der Bestimmtheit aller Wertungen der ,,Kostengiiter“ durch die
schließliehen Nutzengüter und damit überhaupt -der zielmäßigen, teleolo-
gichen Bestimmtheit des ökonomischen Handelns ziemlich allgemein
anerkannt.?°) Ebenfalls scheint es unzweifelhaft, daß in diesem Sinne der
Tauschwert vom Gebrauchswert abhängig ist, und in der besonders von
Böhm-Bawerk ausgebauten Preistheorie bestehen sehr bedeutende Gegen-
sätze nicht mehr.:°)
Immerhin könnte man auf dem engeren, hier behandelten Gebiete der
bloßen allgemeinen Wertlehre zwei Fragen als noch erheblich strittig
—
28) K. Diehl, Die Entwicklung der Wert- und Preistheorie im 19. Jahrhundert
(Festschrift für Schmoller, 1. Teil, Nr. II), Leipzig 1908, besonders S. 55 bis 63. Vgl.
ferner die dogmengeschichtlichen Werke von J. Schumpeter, O. Spann und
Ch. Gide-Ch. Rist. Es ist höchst bedauerlich, daß gerade die wichtigsten Schriften
(Mengers Grundsätze, Wiesers Ursprung und Hauptgesetze, Natürlicher Wert,
Böhm-Bawerks Positive Theorie, 3. Aufl. — neben zahlreichen anderen Arbeiten
dieses Verfassers —) im Buchhandel vergriffen sind, ja Mengers Werk nur in ganz
wenigen Bibliotheken erhältlich ist. Merkwürdigerweise ist keine einzige dieser
Schriften in den Diehl-Mombertschen „Ausgewählten Lesestücken, Wert und Preis‘,
zwei Bande, 2. Aufl., Karlsruhe 1920, beriicksichtigt worden (die ,,Positive Theorie‘
noch immer nur nach der zweiten Auflage), wohl aber Marshall!
29) Hiegegen hat sich F. v. Kleinwächter (Die Lehre vom Grenznutzen und
das sogenannte Zurechnungsproblem der Wiener nationalökonomischen Schule,
Jahrbücher für Nationalök. u. Stat., III. F., 59. Band 119201, S. 117 f.) gewandt,
aber kaum mit durchschlagenden Einwendungen.
3) Vgl. J. Schumpeter, Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte
(Grundr. d. Sozialök., I. Abt., 1. Buch. A II), Tübingen 1914, S. 121.
24 Hero Moeller.
herausheben. Zunächst ist das Problem nicht restlos entschieden, inwieweit
das Grenznutzengesetz als Lehre vom Preise aufzufassen sei und den-
gemäß, wie man schließen würde, auf bestimmte Voraussetzungen des
Wirtschaftssystems beschränkt ist. Hier beschäftigt uns unter bewußter
Beschränkung auf die formalen Probleme nur der Gegensatz, wie er etwa
in der Ansicht Wiesers*') und derjenigen Böhm-Bawerks??) gegeben
ist, wonach jener den Wert cines Gesamtvorrats als das Produkt von
Grenznutzen und Stückanzahl ansieht, während dieser ihn als die Summe
des Nutzens der Teile, die jeweils zum geringsten aus ihren Verwendungrs-
möglichkeiten sich ergebenden Nutzen veranschlagt worden sind, auf-
fassen will. Nur wo der als einheitliches Objekt zu schätzende Vorrat
mit dem gesamten überhaupt verfügbaren oder existierenden Vorrat
zusammentreffe, treffe auch der Gesamtnutzen des Vorrates schlechthin
mit seinem Grenznutzen zusammen. Da jene einheitliche Schätzung ihre
typische empirische Erscheinung in der marktmäßigen Preisbildung hat,
der Fall selbst aber von sehr umfassender Bedeutung ist, läßt die Lösung
im Sinne Böhm-Bawerks die eigentliche Grenznutzenlchre im wesent-
lichen als Lehre vom Preise erscheinen.**) Hat auch Wieser in späteren
Untersuchungen seinen Standpunkt grundsätzlich aufrecht crhalten,**)
so doch nur unter Anführung von Beispielen des Tauschverkehrs, in denen
jene notwendige objektive Voraussetzung als gegeben von ihm angenommen
wird.
‚Wichtiger ist für unsere Frage der Einheit im Begriff des Wertes das
zweite noch strittige Grundproblem: die Auffassung von der Stellung der
Arbeit als des Inbegriffs aller wirtschaftlichen Tätigkeit zu der Frage
der subjektiven ökonomischen Wertung. In diesem Punkte bleiben die
Lehren der klassischen Theorie noch von einer gewissen Bedeutung für die
gegenwärtigen Problemstellungen.**) Bei Menger selbst findet sich die
31) Der Natürliche Wert, Wien 1889, S. 24.
32) Kapital und Kapitalzins. 2. Abt. Positive Theorie des Kapitals, 3. Aufl.,
2. Halbband, Innsbruck 1912, S. 256 f.
33) Demgemäß mein Versuch einer diesbezüglichen Analyse in der erwähnten
Abhandlung „Zur Frage der ‚Objektivität‘ des wirtschaftlichen Prinzips“ (Archiv
für Sozialwiss. und Sozialpol., 47. Band), S. 450f. Die Ansicht C. Mengers (vgl.
a. a. O. S. 107 f.) dürfte sich mit der unsrigen decken.
34) Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft (Grundriß der Sozialök., I. Abt.,
1. Buch, A I), S. 191 f.
>) Vel. J. Schumpeter, a. a. O. S. 119,
Die sozialökunoinische Kategerie des Wertes. 253)
Grundlage der hier gegebenen Schwierigkeit. Auf der einen Seite wird von
„Quantitäten‘ von Arbeit gesprochen,**) auf der andern erklärt, daß der
Begriff der Arbeit nur durch die Leistungen im Rahmen der Wirtschaft
sine Bestimmbarkeit erhielt.?”) Der „Wert der Arbeit“ wird folgerichtiger-
weise aus dem Werte des Arbeitsresultats abgeleitet oder vielmehr mit
diesem als identisch erklärt. Wenn Wirtschaft die Erstellung von Gegen-
stinden ist, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu dienen
bestimmt sind, so ist es augenscheinlich sinnwidrig, neben der Bedeutung
dieser gegenständlichen Resultate von einer Bedeutung der sie schaffenden
Arbeit an sich zu sprechen. Dieses letztere Urteil hätte gar kein cigenes
„Objekt“, an welches es sich auknüpfen könnte, es sei denn, daß man sich
an die Zeiteinheit oder die sachlichen (unterhalts- und ausbildungs-
mabigen) Voraussetzungen, beziehungsweise die negativen Nutzenwir-
kungen (Mühe) der Arbeit klammerte. In diesem Falle aber würde man
mit der Grundvorstellung vom Werte als einer Leistungsgröße in Kerflikt
graten. Man kann also sagen, daß ein Wert der Arbeit an sich im Ralimen
einer subjektiven Wertlchre eine Vorstellung ohne Inhalt sei, mit dem
gleichen Recht aber aus dem Beeriff der Wirtschaft die von uns schon
anzedeutete Anschauung ableiten, wonach aller ökonomischer Wert eine
irgendwie geartete Leistung menschlicher Subjekte zur Voraussetzung
habe, daß die menschliche gestaltende Tätigkeit das notwendige Korrelat
aller ökonomischen Bewertungsobjekte darstelle. Alles also werde preduziert
und habe Wert, insofern als es Produkt sei, Zweckgestalt babe, Arbeit
selbst, in richtiger Konsequenz des Gedankens, sei selbst nicht Predukticns-
resultat.
In großer Klarheit ist die Unmöglichkeit einer Vorstellung vem Werte
der Arbeit als solcher von Wieser?*) dargetan worden, zugleich hat er die
Fülle der Probleme, die sich daraus ergeben, zum wohl ersten Male scharf
auseinandergelegt.?®) Dabei wird die Arbeitsmühe als eine bloße, für
den Arbeitswert nicht unmittellar bedeutsame Begleiterscheinung aus-
36) C. Menger, a. a. O. S. 120.
=) C. Menger, a. a. O. S. 149 ff.
+) Nat. Wert. S. 136 ff.. vgl. auch S. 78.
=) Nat. Wert. S. 187 ff. Wenn bei Überfluß an Arbeitskräften die Arbeit nach
dem persönlichen Arbeitsopfer geschätzt werden soll, so jedenfalls nur, weil das
Arbeitsmotiv sich mit dem Nutzenmotiv im Resultate deckt. Vgl. Theorie d. ges,
W,, S, 168, 207 ff.
33h - Hero Moeller,
geschaltet und die materialistische Arbeitstheorie der Klassiker in ihre
Grenzen verwiesen. |
Dennoch hat die Frage nach der Eingliederung des Phänomens der
Arbeitsmühe in eine allgemeine, einheitliche Werttheorie hiedurch nicht
ihre Erledigung gefunden. Böhm-Bawerk war genötigt, sich mit einer
umfangreichen anglo-amerikanischen Literatur über ‚disutility‘‘ als Be-
stimmungsgrund des Güterwertes neben dem Grenznutzenprinzip aus-
einanderzusetzen*®), und kommt dabei zu dem Resultat, daß nur eine
Meinungsverschiedenheit über den Grad der empirischen Bedeutung der
beiden Prinzipien bestehen könne. Nunsind aber nach Maßgabe des oben
dargelegten Begriffes der Wirtschaft die sich gemäß dem „Gesetze“
der zunehmenden Arbeitsplage ergebenden Entschlüsse nicht anders, wie
diejenigen, welche aus dem Gesetz der zunehmenden Sättigung folgen,
nur mittelbar ökonomischer Natur; sie bestimmen selbst nur den Umfang
des Bedarfes und erst über diesen und die Erkenntnis seiner gegenständ-
lichen Voraussetzung den wirtschaftlichen Prozeß. Die physiologische
Begleiterscheinung der „Arbeit“ ist demgemäß trennbar von dem Grade
ihrer zweckgestaltenden Kraft.
Unter den neueren werttheoretischen Eklektikern ist das Problem
des Verhältnisses von Arbeit und Wert am eingehendsten von Dietzel
behandelt worden. Bei Dietzel finden wir folgende „Leitsätze“:
„Alle Güter haben Wert wegen der Nutzeneinbuße oder der Kosten,
welche ihr Verlust dem Subjekt verursachen würde. Daß solche Nutzen-
einbuße eintritt, hat bei den irreproduziblen Gütern seine Ursache in der
begrenzten Quantität dieser Güter selbst, bei den reproduziblen: in der
begrenzten Quantität der zu ihrer Reproduktion tauglichen Mitteln.
Der Wert der irreproduziblen Güter beruht auf ihrem eigenen Wert;
der Wert der reproduziblen auf dem Wert der Mittel, deren Aufwand ihre
Reproduktion erfordert. Tine Teilmenge jener hat Wert, weil die Güter
selbst, eine Teilmenge dieser, weil die Mittel begrenzt verfügbar sind.‘*s*)
Bezüglich der von Dietzel für sich behandelten ‚Messung‘ des Güter-
wertes gilt der folgende Satz:
„Alle Güter werten#2) entsprechend den Kosten, die im Verhustfalle
eintreten würden. Aber:
40) Vgl. Pos. Th. Exkurs IX, S. 265 ff. Ferner Text, 5. 300 ff.
41) A. a. O. S. 224,
42) Dieser Ausdruck wird von Dietzel, englischen Sprachgebrauche entsprechend.
als Intransitivum gebraucht.
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 231
A. die reproduziblen entsprechend den Kosten, die infulge der Repro-
duktion erwachsen würden — diese Kosten bestehen darin, daß mit dem an
die Reproduktion gebundenen Mittelquantum (Geld- oder Arbeitsquantum)
ein ihm entsprechendes Nutzenquantum verloren geht;
B. die irreproduziblen entsprechend den Kosten, die infolge der Un-
möglichkeit der Reproduktion erwachsen würden — diese Kosten bestehen
darin, daß mit einem solchen Dinge das Nutzenquantum, das bisher aus
dem Dinge selbst gezogen wurde, verloren geht.“ +)
Wenn man die in diesen Sätzen niedergclegte Theorie auf ihre Elemente
zurückführen will, so wird man zunächst von der Trennung des Werterundes
und der Wertmessung als verschiedenen, nebeneinandergestellten Problemen
absehen können. Auch die Dietzelschen Formulierungen zeigen schon an
sich, wie die Wertmessung aus der Erklärung des Wertgrundes sich durch
lovische Gedankenentwicklung notwendig ergibt. Ferner kann die hier,
und vielfach sonst so stark in den Vordergrund der Betrachtung gestellte
Trennung der Güter in reproduzible und irreproduzible beiseite gestellt
werden. Die Veranlassung zu dieser Scheidung liegt in dem Bestreben, die-
jenigen Erscheinungen der Wertschätzung, welche sich nicht unmittelbar
ader mittelbar aus einer wirtschaftlich gerichteten Leistung erklären
lassen, durch die Negation in ein bestimmtes Verhältnis zu einer möglichen
Leistung zu bringen. Der Begriff der Reproduzierbarkeit im eigentlichen
Sinne enthält die Möglichkeit der Produzierbarkeit in sich. Die Über-
legung der Voraussetzungen für ein nochmaliges Herstellen wird zweifellos
angestellt, und zwar in dem Momente, in welchem ein Gut, das irgendwie
segeben ist, „verwandt“ werden soll, und besagt, wenn man nunmehr den
tatsächlichen ökonomischen Vorgang in seiner gesamten zeitlichen Aus-
dehnung überblickt, daß die Bedeutung einer auf ein Gut gerichteten Leistung
nicht notwendig dem Leistenden selbst bekannt und beim Tätigsein
bewubt ist. Erst der Prozeß, der vom Beginne bis zum Schluß vollkommen
vor Augen steht, enthüllt sich in seiner ökonomischen Struktur; es kann
ein Tatigkeitsresultat durch Bedarfsumstände der verschiedensten Art, die
gradweise differenziert in allen ökonomischen Prozessen auftreten werden,
in seiner wirtschaftlichen Bedeutung eine unvorhergesehene Erhöhung oder
Herabsetzung erfahren. Dabei besteht die Möglichkeit einer fahrlässigen
Disposition, aber auch diejenige eines nach Maßgabe der Unmöglichkeit
der Voraussicht fremder Umstärde anzunchmenden Nichtversehuldens,
13, A. a. 0. S. 293.
258 Hero Moeller.
Außer der Nichtreproduzicrbarkeit im engeren Sinne besteht die Möglichkeit,
daß eine Wertschätzung sich auf ein Objekt richtet, das überhaupt nicht auf
menschliche Leistung zurückzuführen ist, es also in Ansehung des gewöhn-
lichen Begriffs der Wirtschaft zu dieser nicht gehört oder man von einem
unvollständigen ökonomischen Prozeß sprechen muß. Diese Möglichkeit
aber ist ebenfalls gradweise überall gegeben, sie ist nichts als die Frage
nach der „Mitwirkung“ der Natur bei der Bildung von Gegenständen der
menschlichen Wertschätzung. Das Verhältnis dieses Zusammenwirkens ist
ein zentrales Preblem, das auch bei den reproduziblen Gütern auftritt und
für alle Ökoncmik nach einer einheitlichen Erklärung verlangt. Schließlich
kann man auch im Sinne Dietzels vom „Gelde“ als ,,Mittelquantum“ ins«-
weit abschen, als es sich hier nur um eine mittelbare, letzten Endes wieder
aus Arbeit erklärte, im Falle des Zusammenwirkens verschiedener leistender
Subjekte, auftretende Erscheinung handelt. Das so übrig bleibende Gerippe
besagt demgemäß, daß der wirtschaftliche Wert dem Grade der Bedeutung
entspreche, welche die Tätigkeit, die bei der Produktion stattfand, im
Momente der Zielerreichung erhält. Es handelt sich hienach also bei der
inhaltlichen Deutung der Wertschätzung als einer irgendwie auftretenden
Erscheinung des Augenblicks um ihre Zurückführung auf die dynamische
Erscheinung menschlicher Tätigkeit. Die Werttheorie als Problem
der Möglichkeit einer allgemeinen ökonomischen Kategorie
des Wertes läuft in bezug auf die einheitliche inhaltliche
Deutung eines Wertbegriffes demgemäß hinaus auf die Frage
nach einem umfassenden leistungsmäßigen Begriff der Arbeit.
Das eigentliche Resultat, welches sich aus dem Streit um den sozialökonc-
mischen Wertbegriff herauslösen läßt, ist, daß eine Berücksichtigung bloB
einer der beiden Seiten des ökonomischen Objekts keine befriedigende
Lösung gewährt, das heißt im Rahmen eines gesamten ökonomischen
Systems nicht zu einheitlichen Erklärungen führt. Es mag allerdings
eingewandt werden, daß schon die schroffe Gegenüberstellung zweier
möglicher Arten der Werterklärung, wie sie von Dietzel, Diehl und
anderen herausgearbeitet worden ist, weniger eine logische Notwendig-
keit als vielmehr einen praktischen Leitfaden dogmengeschichtlicher
Analyse darstellt, oder daß wenigstens eine Gegenüberstellung der
Grennutzentheorie, die das Hauptgewicht auf die Erforschung der wirt-
schaftlichen Wertschätzungen lege, ohne die Entstehungsbedingungen der
wirtschaftlichen Güter zu berücksichtigen, und der Arbeitswertiheorie —
Die sozialdkonomisehe Kategorie des Wertes. 230
so formuliert Gelesnoff den vorliegenden Gegensatz =) — das Problem zu
eng fasse, so daß die Grundfrage der Werttheorie sich hiemit nicht iden-
tifiziere. Doch zeigt gerade die hier vorgelegte Begriffsbestimmung der
Wirtschaft die doppelte subjektive (menschliche) Bedingtheit des wirt-
schaftlichen Gutes mit unmittelbarer Deutlichkeit und es ist von vornherein
klar, daß sowohl die extremsubjektivistischen Theorien objektivistische Er-
klärungsmomente, ohne notwendig ihr allgemeines Nutzenprinzip aufgeben
zu müssen, enthalten, als auch umgekehrt sogenannte reine Arbeits-
werttheorien das Nutzenmonient nicht auszuschalten vermögen. Der Begriff
der Arbeit enthält schon eine Beziehung auf den ökonomischen Zweck.)
Wirtschaftliche Tätigigkeit wurde bereits von uns als begrenzt
bezeichnet durch den Grad der Zweckmäßigkeit, wie er sich in dem Resultat
kundtut. Da wir Wirtschaft von vornherein auf die (unmittelbare oder
mittelbare) Schaffung von „Gegenständen“ beschränkten, so ist Arbeit ganz
allgemein eine gestaltende Tätigkeit, und zwar eine gestaltende Tätigkeit, die
wir auf den rationalen Gehalt (die Zweckbestimmtheit) hin anschauen, der
in ihr liegt. Wie ist Arbeit in diesem Sinne als Vorgang für sich und in
seiner Stellung im theoretischen System zu verstehen, inwiefern gehen die
verschiedenen Arten von Arbeit, die sich unterscheiden lassen, und die
gemeinhin unterschieden werden, in diesen Begriff auf, und wie verhält
sich hiezu das Problem der Arbeitsmenge ?
Arbeit, sofern wir diesen Begriffim Sinne der menschlichen Leistung
verstehen, ist jene gestaltende Tätigkeit nur, insoweit wir sie als zweck-
4) Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Deutsche Übersetzung. Leipzig 1918,
5. 239.
43) Man kann von vornherein einen Unterschied zwischen den Begriffen der
Tatigkeit und der Arbeit in dem teleologischen Gehalt des letzteren Begriffes sehen,
der auch zumeist anerkannt worden ist. So bezeichnet Bücher mit Arbeit die zur
Erlangung der beschränkt verfügbaren Dinge erforderliche (!) Anstrengung (Volks-
wirtschaftliche Entwicklungsstufen. Grundriß der Sozialökonomik. I. Abt., Tübingen
1914, S. 3). Harms definiert: „Arbeit im engeren Sinne ist jede einen äußeren Effekt
auslösende Betätigung körperlicher oder geistiger Kraft. Ob es sich, wie beim Menschen,
um zweckbewußte oder, wie beim Tier, um unbewußte Kraftbetätigung handelt,
ist in diesem Zusammenhange gleichgültig. Im engeren Sinn ist Arbeit die auf Be-
darfsdeckung oder Erwerb gerichtete Betätigung körperlicher oder geistiger Kraft.
Entscheidend ist hiebei, daß das Ausgangsmotiv solcher Arbeit die Absicht ist,
wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen, wobei es bedeutungslos, ob dieser wirklich eintritt.“
(Artikel Arbeit im Wörterbuch der Volkswirtschaft. 3. Aufl. Jena 1911, J. Bd., S. 121.)
240 Hero Moeller.
bestimmt erkennen. Sie ist, als ökonomische Kategorie, eine Versinnlichung
dieses rationalen Inhaltes selbst, sie ist ebensowenig die Tätigkeit, die
wir in ihrer äußeren Erscheinung sehen, noch die „Vernunft“ selbst, auf
wirtschaftliche Ziele gerichtet, wie wir sie vielleicht psychologisch, in der
inneren Wahrnehmung, fühlen oder nachfühlen können. Marx hat mit seiner
Theorie der Substanz etwas derartiges empfunden, wenn er vom Arbeits-
resultat als etwas Gallertartigem, von ,,Arbeitsgallerten“, spricht; der
gallertartige Körper ist derjenige, welcher seiner Menge nach geteilt, ver-
ändert werden, den man sich leicht in den verschiedensten Formen vor-
stellen kann, der aber das geringste Maß „qualitativer“ Attribute auf-
weist: man denkt sich eine feste, formbare, sozusagen addierbare Masse,
das in reiner Körperlichkeit vorgestellte Quantum als solches, das weder
die schwierige Teilbarkeit und Zusammenfiigharkeit des Eises oder des
Glases, noch die zerfließende Formlosigkeit des Wassers besitzen darf. Man
stelle sich einen bestimmten Gegenstand des Bedarfs vor und vergegen-
wirtige sich seine Bedeutung in einem gegebenen Augenblick für cin be-
stimmtes Subjekt unter bestimmten Umständen, denke sich, es sei die
gestaltende menschliche Tätigkeit, welche für die Bildung dieses Gegen-
standes und scine Stellung in diesen Rahmen bis in die fernste Vergangen-
heit oder in der weitabliegendsten Erdgegend erforderlich war, in ihm mit
einem einzigen Blick vertiefter Anschauung sichtbar, wandle aber das
gedachte Resultat in die Vorstellung eines bloßen Quantums, einer Linie,
oder eines sonst attributlosen Körpers um, und man wird sich vielleicht
darüber verständigen können, daß in den Teilen dieses Quantums Grade
ciner irgendwie zweckgestaltenden „Kraft“ sich in abstrakter Gegen-
ständlichkeit darstellen, und daß dieses Quantum im ganzen, als der Re-
präsentant des gestalteten Zwecks, oder der zweckmäßigen „Gestalt“,
dem Begriffe des ökonomischen Wertes, als einer alleemeinen Kategorie
des Nutzens von Gegenständen, entspricht. Die Vorstellung der Arbeit
erscheint als in diesem Begriff aufgelöst und in die Rolle einer dynamischen
Erläuterung einer in einem bestimmten Augenblick gegebenen Erscheinung
zurückgedrängt. Die geringe artliche Bestimmtheit des Resultats setzt
eine ebenso geringe Bestimmtheit im Begriffe der Arbeit voraus, und so
einleuchtend eine solche einmal erfaßte Beeriffsbildung im Sinne einer
einheitlichen Klärung des überall gegebenen allgemeinen Tatbestandes
erscheint, so schr bedarf es demgemäß allerdings einer Rechtfertigung
gegenüber den empirischen Differenzierungen.
Die sozialökonomisehe Kategorie des Wertes. 241
Wenn wirtschaftliche Arbeit zweckgerichtete menschliche Tätigkeit
ist, so ist zunächst nicht die Bewußtheit, also die subjektive Einstellung.
sondern die Gemäßheit für den Begriff ausschlaggebend, wenn auch der
Grad der Bewußtheit eine besondere Bedeutung für die tatsächliche Zweck-
gerichtetheit besitzt. Die unbewußte Handlung kann zweckgerichtet, die
bewußte unzweckmäßig sein. Eine räumlich und zeitlich weite Anschauung
ökonomischer Geschehensreihen vermag das definitive Urteil über die
wirtschaftliche Bedeutung einer auf wirtschaftliche Ziele eingestellten Tat
erst richtig zu bilden. Ist somit naturgemäß auch eine sogenannte rein
körperliche Handlung Arbeit, so doch nur insoweit, als sie einem Zwecke
entspricht, als sie „leistet“; sie kann verstandesmäßig sein, ohne als
im vollen Sinne „bewußt“ angesprochen werden zu müssen. Der
im Rahmen der „Wirtschaft“ gegebenen Aufgabe, zweckmäßige Gestal-
tungen zu schaffen, steht die „äußere“ Erscheinungswelt als Ganzes, mit
ihren Stoffen und Kräften „teilnahmslos‘‘ gegenüber, das Spezifische im
menschlichen Intellekt, seine Fähigkeit, Zwecke zu erfassen, das Gegebene
auf Zwecke hin einzustellen, findet in der „Natur“ das Material seiner —
in diesem Sinne nur relativen — Pflicht. Soll der Begriff der Arbeit als
reines Korrelat des Arbeitsresultats gedacht werden, so ist in der Vor-
stellung vom Wesen der Arbeit eine außerordentliche Abstraktion vom
AuBern des Vorganges notwendig Dennoch ist es unschwer möglich, die
rein als äußere Geschehnisse in Erscheinung tretenden Formen der Arbeit
als Teil eines so gefaßten Arbeitsbegriffes zu erkennen. Wie vielfach, in-
sonderheit von G. Cohn,**) dargelegt werden ist, kann körperliche Arbeit
des Menschen nicht ohne geistige gedacht werden, das heißt also auch
dann nicht, wenn der Gesichtspunkt einer Bestimmung der Grenzen der,
Arbeit durch Bindung an den Zweck nicht im Vordergrunde steht. Hier
sei nur beispielsmäßig bemerkt, daß zweifelsohne auch die Tätigkeit etwa
des Maurers in weit größerem Maße von allgemeiner und spezicller, für
sich getätigter oder übungsmäßiger Ausbildung und dauernder Einstellung
auf einen, wenn auch im Rahmen des gesamten Objekts mehr oder weniger
geringfügig erscheinenden Teilzweck beherrscht ist, als man zunächst
anzunehmen geneigt ist. Wenn man erklärt, daß die physische Leistung
an sich ökonomisch irrelevant ist, so möchte vielleicht eingewandt werden,
daß ein Dienstmann, dessen Spezialität „rein“ körperliche Kraftleistungen
sind, in dem Resultate seiner Tätigkeit eine gewisse, wenn auch nicht
—— -
~ 46) Grundlegung der Nationalökonomie, Stuttgart 1885, S. 290 ff.
2 lero Moeler,
genaue Proportion zu dem Grade seiner Körperkraft auffinden wird.
Nehmen wir aber selbst den Fall, daß zwei Dienstleute in allen Stücken
gleich seien, nur sei des einen Körperkraft plötzlich, durch einen zufälligen
Vorgang um zehn Prozent größer, als des anderen, so wird er doch nur
insofern mehr leisten, als er auf den einzelnen Teil der vermehrten Leistung
dieselbe Geschicklichkeit anwendet, wie auf den einzelnen Teil der ge-
ringeren Leistung. Dem Verstande, in seiner noch so schwachen Aus-
wirkungsform, ist die Möglichkeit gegeben, sich zu vermehren, und unter
Umständen und in einem gewissen Grad umsomehr zu „leisten“, je mehr
Objekte sich bieten, an denen seine Betätigung erfolgen kann. Je weniger
intelligent der Betreffende ist, je weniger er von sich aus Ziele setzt und
von sich aus die Dinge nach ihnen bildet, je mehr er seine Ausbildung
nicht sich selbst, seiner Initiative verdankt, destoweniger leistet er, desto-
mehr leisten seine Ausbildner oder der etwaige Geschäftsherr, der seine
Tätigkeit organisiert und vielleicht auch mehr oder weniger reguliert, korri-
. jegrtund kontrolliert. Sorichtet sich der Smith sche Begriff der Arbeitsteilung
weniger auf die Differenziertheit äußerer, physischer Leistungen, als auf die
intellektuelle Spezialisierung der Leistenden; das gleiche kann von dem
Bücherschen Ausbau der Smithschen Arbeitsteilungslehre gesagt werden.
Im Grunde ist diese oder doch eine nahe verwandte Auffassung vom
Wesen der Arbeit in der sozialökonomischen Theorie — zum mindesten im
Unterbewußtsein, das heißt hier in demjenigen Grade der Erkenntnis, der
eine Richtigkeit empfindet, sie aber noch nicht begrifflich formuliert —
schon vielfach vertreten worden, jedenfalls aber, ohne daß ein konsequenter
Einbau in ein System von Grundbegriffen erfolgt wäre. Die Aufgabe kann
‘nur sein, nicht bloß das Wesen der Arbeit überhaupt, sondern zugleich
ihre diesem Wesen entsprechende Stellung im Rahmen der Okonomik
aufzuzeigen. Durch das Vorangesagte ist in unserem Zusammenhange
versucht worden, dem Begriffe der Arbeit in ihrer unmittelbaren Ver-
kettung mit dem ökonomischen Wertgedanken, dessen Inhalt die Arbeit zu
bilden scheint, eine zentrale Stellung für den Aufbau einer reinen Ökonomik
zuzuweisen. Es ist eine eigentümliche Erscheinung der Dogmengeschichte,
daß diese zentrale Stellung an sich, trotz cinem häufig gegenteiligen wirk-
lichen Aufbau des betreffenden theoretischen Gebäudes, bei Theoretikern
aller Richtungen anerkannt wird.
In seiner für die gegenwärtige Theorie der Arbeit maßgebenden Schrift
über „Arbeit und Arheitsteilung‘“ erklärt Herkner, daß der wirtschaftliche
Die sozinlökonomische Kategorie des Wertes. 243
Aufwand, sobald man sich auf den rein ökonomischen, absoluten oder
weltwirtschaftlichen — wir würden vorziehen zu sagen universalwirtschaft-
liehen — Standpunkt stelle, stets cin persönlicher sei; auch aller Sach-
güteraufwand löse sich dann letzten Endes in Arbeit auf.*7) Lexis sagt.
daß als eigentlicher aktiver Faktor der Produktion im objektiven Sinne
nur die Arbeit anzusehen sei.®*) Ähnlich äußert sich v. Wieser, wenn
er die drei Produktionsfaktoren Land, Kapital und Arbeit als nicht gleich-
geordnet bezeichnet, sondern die Arbeit übergeordnet nennt. Sie habe
die Führung, die andern seien nur ihre Hilfsmittel, ihre Werkzeuge,
während sie selber, zielbewußt schaffend, lebendige Kraft habe.
In diesem Sinne dürfe man mit Recht sagen, daß die Arbeit allein produ-
zicre, und man dürfe auch noch hinzufügen, daß Land und Kapital nichts
weiter als die Bedingungen scien, damit die Arbeit produzieren könne,
in diesem Sinne dürfe man auch den vielgebrauchten Ausdruck verwenden,
daß jedes Produkt im Grunde ein Arbeitsprodukt sei.**) Die Belege für
eine derartige Ansicht über die Stellung der Arbeit und den,,schépferischen“
Charakter der Arbeit als dem letzten Grunde dieser besonderen Stellung
lassen sich unschwer vermehren. Im gleichen Umfange treten allerdings
auch begriffliche Schwierigkeiten auf, wie sie sich einmal aus der dyna-
mischen Scite der „Natur“, sodann, beziehungsweise im Zusammenhange
hiemit, aus der Notwendigkeit der Erklärung des Verteilungsproblems
ergeben. Wenn viele Sczialükonomen nicht die „Natur“, sondern das
Land (den Boden) und damit nicht das Lebendige, Schöpferische in der
Natur selbst als den natürlichen Produktionsfaktor annehmen, so hat
diese Auffassung nicht ihren Grund in dem Bestreben einer logisch lücken-
Iesen oder gleichmäbigen Erfassung des Gegenstandes, sondern in dem
Wunsche, die Faktorenlehre mit der Verteilungstheorie in Einklang zu
bringen. Die Rente ist das Phänomen, das in Gestalt ihres Beziehers zuerst
beobachtet und durch die Lehre von der Knappheit, der „nicht beliebigen
Vermehrbarkeit™ des Bodens (terre, land) zu ergründen versucht wurde.
+) A. a. O. S. 170. Wie Diehl (a. a. O. S. 3) hervorhebt, formulierte Smith
den Sa!z „Labour is the measure of value“. Die Gesichtspunkte der ausgesprochenen
„Objektivisten‘“ bedürfen hier keiner besonderen Erwähnung.
$8) Artikel Produktion im Wörterbuch der Volkswirtschaft. 3. Aufl., II. Bd.,
S. 599, derselbe Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Berlin 1910, S. 43 f.
49) ‘azorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, S. 207. Die Verteilungslchre
nimmt jedoch zuch bei v. Wieser nicht von diesem Gesichtspunkt her ihren Ausgang
(vzl. S. 220).
344 Hero Moeller.
Die Physiokraten sprechen naturgemäß im allgemeinen von Grund und
Boden; soweit bei Smith von einer Produktionsfaktorenlehre geredet
werden kann, trifft dies auch für ihn zu. J. B. Say spricht bemerkens-
werterweise von den Naturkräften, bringt aber in die Vorstellung vom
Verhältnis der natürlichen und der menschlichen Kräfte so wenig Klarheit
wie J. St. Mill, der die Reduktion auf das Seltenheitsmoment zum ersten-
mal in den Vordergrund rückte. +°) Dadurch, daß der Blick Ricardos dureh-
aus auf das Verteilungsproblem gerichtet war, ist ohne weiteres erklärt,
weshalb er den Begriff des Bodens verwandte. Die Literatur nach ihm hat
sich im allgemeinen darauf beschränkt, das Verhältnis der beiden Begriffe
zueinander gründlicher aufzuklären, und damit auch der Arbeit im Italımen
der Produktionslehre eine widerspruchslosere Stellung einzuräumen. Von
den alten Theorien ausschend, setzt Gide an die Stelle von „terre“ als
einem der „agents de la production“ den Begriff „nature“, definiert diesen
als „milieu materiel, solide, liquide et gazcux, dans lequel nous vivons“
und versteht darunter wohl die Rohstoffe (matiere premiere), wie die Natur-
60) Für die Faktorenlehre insgesamt, die indessen für uns hier nicht der Gegen-
stand ist, vgl. J. Müller, Abriß einer Geschichte der Theorie von den Produktions-
faktoren (Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staats-
wissenschaftlichen Seminars zu Halle, 66. Bd., Jena 1911), welche Schrift allerdings
nur vorsichtig zu Rate gezogen werden darf, insbesondere bezüglich Smith. J. B. Say
wird von Müller bewußt, aber aus unzureichenden Gründen, übergangen. Schum-
peter urteilt demgegenüber richtig, wenn er die Produktionsfaktorenlehre Say zu-
schreibt und betont, daß sie nicht einfach schon bei Smith enthalten sci (Epochen
der Dogmen- und Methodengeschichte, Grundriß der Sozialökonomik, I. Abt., 1. Buch,
A II, Tübingen 1914, S. 74). Vgl. J. B. Say, Traité d’Economie Politique ou simple
exposition de la manière, dont se forment, se distribuent et se consomment les
Richesses (!). 16cme Edition. Paris 1841, I. Bd.. S. 74: „Les faits nous montrent
que les valeurs produites sont dues à l'action et au concours de l’industrie, des capitaux
et des agents naturels, dont le principal, mais non pas le seul a beaucoup pres, est
la terre cultivable, et que nulle autre que ces trois sources ne produit une valeur,
une richesse nouvelle.“ E. C. Morstadt verdeutscht in seiner Übersetzung (I. Bà.,
3. Ausg., Heidelberg 1830) „industrie“ nicht immer geschickt, insbesondere wenn
er (a. a. O. S. 87) sagt: „Solche Gegenstände, welche die Natur uns nicht schon völlig
zubereitet zur Befriedigung unserer Bedürfnisse liefert, können durch die Industrie
diese Eigenschaft erlangen‘‘, während wir im Original (a. a. O. S. 59) „notre industrie‘“
lesen. Say unterscheidet geradezu industrie agricole, industrie manufacturiére und
industrie commerciale, und der homme industrieux ist nicht mit dem Gewerbsmann,
jedenfalls nicht mit dem Gewerbsmann im gegenwärtigen Sprachgebrauch identisch.
Insofern ist die Präponderanz des Produkiionsfaktors der Arbeit auch bei Say nicht
völlig verkannt worden.
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 24
kräfte (forces motrices).°') Ähnlich unterscheidet Leroy-Beaulieu „nature
et forces naturelles“, „travail“, „capital“ und bemerkt, daß die Eng-
länder deshalb zunächst terre (land) gesagt hätten, weil sie mit
den beschränkten Anschauungen einer früheren Kulturstufe behaftet
gewesen seien.°‘) Bei Rau finden wir in der deutschen Literatur
noch eine verhältnismäßig eingehende und vom theorctisch-logischen
Interesse bestimmte Darlegung, in welcher Kräfte und Vermögensteile
und unter diesen Naturkräfte und menschliche Kraft einerseits, Grund-
stücke und „Capitale“ andrerseits unterschieden werden. Aus den
Begriff der Natur wird also auf der einen Seite das „Land“ heraus-
gehoben, auf der andern die Gesamtheit der natürlichen Kräfte, cin
Versuch, bei dem unter andern die Rohstoffe keine spezielle Berücksich-
tigung erfahren. Für unseren gegenwärtigen Zweck der Erkenntnis der
Entwicklung des allgemeinen Arbeitsbegriffes im Zusammenhange mit
der Produktionslehre, insonderheit der „Natur“ als Produktionsfaktor
ist es bedeutsam, daß Rau die Naturkräfte heraushebt und gleichzeitig
betont, daß unter menschlicher Kraft nicht allein der menschliche Geist
zu verstehen sei, der zwar, wie er sagt, jeden Kraftgebrauch zur Arbeit
leite, und dessen Schöpferkraft ganz vorzüglich in der Produktion mächtig
sei, sondern auch die „Tätigkeit der Gliedmassen“, ohne die der mensch-
liche Geist nicht zureichen würde, eine körperliche Hervorbringung von
Vermögensteilen zu bewirken.53) Interessant ist hiezu der Versuch von
Philippovich, Produktionselemente als Voraussetzungen für den tech-
nischen Vorgang (und zwar Natur und Arbeit), sowie Produktionsfaktoren
51) Principes d’Economie Politique, 13¢me Edition, Paris 1911, S. 83 ff. In
seiner Verteilungslehre spricht auch Gide naturgemäß nur von „terre“.
52) Traité d’Economie Politique, 3¢me Edition, Paris 1900, $.122. Leroy-Beaulieu
ist mit dem oben Gesagten, wie schon bemerkt, unseres Erachtens nicht ganz im Recht.
Übrigens haben die Franzosen seit der Lehre der Physiokraten ein besonderes Interesse
an diesen (Gegenständen behalten. Für die deutsche dogmengeschichtliche Ent-
wicklung mag hier die Bemerkung von L. v. Wiese zutreffen, wonach mit dem Fort-
schreiten der realistischen Methode in der deutschen Volkswirtschaftslehre die Kapitel
von der Produktion sich mit Tatsachenmaterial füllten, das Begriffsgebände hin-
gegen, was sie trug, immer einfacher wurde. (Die Lehre von der Produktion und der
Produktivität, Festschrift für Schmoller, 1. Teil, Nr. IH, Leipzig 1908, S. 24.)
53) Grundsätze der Volkswirtschaftslchre, 5. Ausgabe, Heidelberg 1847, S. 109 f.
Ad. Wagner bietet hiezu verhältnismäßig wenig Besonderes. Auch die diesbezüg-
lichen Darlegungen von Marx, Roscher, Schmoller, v. Wieser, Conrad, Gelesnoff u. a.
Systematikern enthalten keine bemerkenswerten Gesichtspunkte.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 17
246 Hero Moeller.
als Veraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufwand (nämlich Boden
oder Land, Kapital und Arbeit) zu unterscheiden. Es ist hier für den Begriff
der Produktionsfaktoren das Seltenheitsmoment im Sinne Mills verwertet
werden, und zwar aus dem Gesichtspunkte der Kostenzurechnungslehre.
Die Arbeit als Produktionsfaktor bezeichnet Philippovich als das die
„toten“ Faktoren Boden und Kapital belebende Element, wobei er den
natürlichen Voraussetzungen durch die Ersetzung der „Natur“ durch den
beschränkt vorhandenen Boden das „Lebendige“ insgesamt oder zum
Teil entzogen hat.5*) Man wird aus diesen wenigen Feststellungen alles in
allem erkennen, daß die Stellung des Begriffs der Arbeit im System der
Ökonomik sehr verschieden aufgefaßt wird, Versuche einer einheitlichen,
umfassenden Erklärung des wirtschaftlichen produktionsmäßigen Aufbaues
aber nur auf Grundlage eines irgendwie geformten Becriffes der Arbeit
auftreten.
Welche Rolle kommt aber im Rahmen des theoretischen Aufpvaue;
den verschiedenen Arbeitsarten zu, das heißt inwiefern lösen sich die
verschiedenen, in ihrer ökonomischen Bedeutung unterschiedlichen Arbeits-
arten einheitlich in einen allgemeinen Vorgang des Arbeitens auf, inwie-
fern wird die „Wertbildung‘“ diesen verschiedenen Qualitäten gerecht?
Wird ein allgemeiner Begriff der Arbeit als allgemeiner Inhalt des Wirt-
schaftens überhaupt postuliert, und hat man bereits in großen und ganzen
erkannt, daß der gewählte Begriff der Arbeit den geeigneten umfassenden
Charakter trägt, so zwingt doch gerade die allgemeine, verhältnismäßig
qualititslose Formulierung zu einer Erklärung gegenüber der Frage nach
der richtigen Berücksichtigung der Bedeutung der verschiedenen Differen-
zierungen. Aus unseren Darlesungen würde die Antwort hierauf allerdings
ohneweiters lauten, daß die reine Ökonomik die Arbeitsarten nur nach
der relativen Bedeutung des Arbeitsresultates hin anerkennt, und es würde
hier nur betont zu werden brauchen, daß cine Untersuchung des Wesens
cer Arbeit in dieser Richtung eine Aufgabe ist, die bisher einer umfassenden
3) A. a. O. I, S. 140 f. Die Ansichten von Philippovich identifizieren sich in
vielfacher Hinsicht mit denen von Böhm-Bawerk, vgl. dessen Positive Theorie des
Kapitals. 3. Aufl., Innsbruck 1909, S. 146 f.
Philippovich behandelt unter Arbeit tatsächlich fast nur die „ausführende‘
Arbeit. Sein Kapitel über Produktion gliedert sich in Wesen der Produktion, Arbeit,
Land und Kapital, und die .,leitende Arbeit findet ihre Berücksichtigung im wesent-
lichen nur im Rahmen des erstgenannten Abschnittes.
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. PAT
Lösung nech nicht entgegengeführt wurde.55) Wenn aber die Theorie der
Arbeit in eine Lehre vom Werte organisch eingebaut werden soll, so kann
man nicht an der Tatsache vorübergehen, daß die Dogmengeschichte
Versuche aufweist, die Bedeutung der Arbeitsarten auf einem anderen
Wege zu erklären, als die der Arbeit insgesamt. Dabei muß vor allen Dingen
die Ursache festgestellt werden, infolge deren eine solche gesonderte,
komplizierende Behandlung stattfindet.
In seiner Theorie des reinen ökonomischen Wertes führt H. Dietzel
den Wert der Güter, wie schon angedeutet, auf den Wert der Arbeit
zurück und erklärt den Wert der Arbeit durch ihre Nützlichkeit
und diese durch ihre Begrenztheit.**) Im Begriffe der Begrenztheit
ist augenscheinlich zweierlei enthalten, die Vorstellung eines be-
stimmten, erkennbaren „Objektes“, welches mengenmäßig gegeben
ist, und demgegenüber ein Bestreben nach derartigen Objekten,
das auf solche in einem Umfange gerichtet ist, der die gegebene
Menge tibertrifft.57) Da dieser letztere Bestandteil, nämlich das Bestreben,
seiner Ursache nach selbst Teil des Nutzenmomentes ist, so kommt es bei
einer selbständigen Erklärung auf den ersteren Bestandteil, also darauf
an, dic Arbeit an sich, unabhängig von aller Idee des Zwecks in Form
einer quantitativen Vorstellung zu erfassen. Die einzige Vorstellungs-
form nun, in welcher die Arbeit objektiv, das heißt im Sinne eines äußeren
Vorgangs, mengenmäßig erfaßt werden könnte und gemeinhin erfaßt zu
werden pflegt, ist die der Zeit.5*) Die Arbeit läßt sich aber nur dann in
ihrer Bedeutung aus der Zeitmenge bestimmen, wenn das Verhältnis
45) H. Herkner hat sicherlich sehr recht, wenn er bemängelt, daß dio National-
ökonomie bisher auf die Ergründung des Arbeitsbegriffs nicht das der Kompliziertheit
des Gegenstandes entsprechende Gewicht gelegt habe (a. a. 0., S. 170). Er selbst
scheidet landwirtschaftliche und industriell-kommerzielle, ferner gelernte, ungelernte
und angelernte Arbeit, ausführende, leitende und schöpferische Arbeit, schließlich
produktive und unproduktive Arbeit: B. Harms scheidet (Wörterbuch der Volkswirt-
schaft a. a. O.. S. 121 f.) nach Wirtschaftszweigen und gibt dadurch ein Beispiel, wie
der Begriff der Arbeit den der Produktion insgesamt ausfüllt. Die Grundlage u die
allgemeine Theorie der wirtschaftlichen Arbeit ist damit gegeben.
w) A. a. O. S. 252.
37) Dietzel scheint die Tatsache, daß anch in der Kategorie der Begrenztheit die
Vorstellung des Nutzens enthalten ist, nicht erkannt zu haben (vgl. seine Auseinander-
setzung mit Böhm-Bawerk, a. a. O. S. 259/61, die nicht durchgreifend ist).
36) Die Messung nach der Kraftmenge ist, wie Dietzel selbst a. a. O. S. 246
dartut, technisch selbstredend nicht möglich.
2 18 Hero Moeller.
“zwischen Zeitaufwand und Bedeutung bei aller Arbeit gleich, das heißt
nach Dietzel, wenn die Arbeit überall gleicher Art ist.°®) Damit ergibt
sich für Dietzel — wie für alle diejenigen, welche die Arbeit mengenmäßig
auf äußere Vorgänge beziehen wollen (insbesondere trifft dies auch für
Marx zu) — die Notwendigkeit, die verschiedenen Arbeitsarten, das
heißt die mögliche verschiedene Bedeutung von eine gleiche Dauer in
Anspruch nehmenden Arbeiten zu erklären und aufzulösen.
Diese Erklärung erfolgt nun bei Dietzel einmal durch die verschie-
denen materiellen „Kosten“ der Arbeit, wie sie nach Maßgabe von
Kräfteersatz, insbesondere Unterhalt und Erziehung sich ergeben, ferner
durch die verschiedenen „persönlichen“ Kosten, worunter Dietzel den ver-
schiedenen Grad der Unlust versteht.®°) Da jene materiellen Kosten sich
augenscheinlich auf persönliche reduzieren lassen könnten, so ist der allein
wichtige Faktor die Unlust. Dietzel meint nun, die Werte der Produkte
seien nicht einfach aus den Zeitmengen, die sie kosten, zu bestimmen,
sondern zunächst müßten nach Maßgabe der hienach verschiedenen Kosten
der Arbeit die ,, Werte der Zeiteinheiten‘ der verschiedenen Arbeitsarten
verglichen und auf einen „Generalnenner‘ gebracht werden, indem die
Stunde höherwertiger Arbeit als Vielfaches einer Stunde normalwertiger
Arbeit oder „Normalarbeit“, die Stunde minderwertiger Arbeit als Bruchteil
einer solchen ausgedrückt werde, welche Auflösung auch möglich sei.®')
Da nun von einer Veränderung des Wertes der Arbeit insgesamt alle (durch
Arbeit zu reproduzierenden) Produkte gleichmäßig getroffen würden, so
sei auch die Wertrelation zwischen den Arbeitsprodukten von den Wert
der Arbeit unabhängig.®®)
Der Dietzelsche Begriff der Arten der Arbeit und der Arbeit selbst
enthält hienach zwei Komponenten, die, vom „subjektiven“ Gesichts-
5») A. a. O. S. 245. Dietzel sagt (a. a. O. S. 259), daB eine Lehre, wonach
die Kosten einfach nach der Stundenzahl der Arbeit zu berechnen seien, ihm nicht
bekannt sei. Fast alle Hauptarten der Arbeitstheorie hätten betont, es sei zu berück-
sichtigen, daß gleiche Mengen Arbeitszeit durchaus verschiedenen Wert haben könnten;
allerdings werde dieses Thema nur flüchtig und beispielsweise gestreift.
60) A. a. O. S. 248 ff. Die Unlust wird hier verwertet, obwohl sie, wie von uns
schon erwähnt, von Dietzel als ungeeignet zur Begründung der Arbeitswertthes;rie
bezeichnet worden ist (a. a. O. S. 233).
61) A. a. O. S. 251. Wir zitieren hier detailliert, da die Dietzelsche Theorie in
einer anderen, zum Teile logisch unbefriedigenden Gedankenfolge auftritt.
62) A. a. 0. S. 256.
~~
Die sozialökoromische Kategorie des Wertes. 249
punkt des Nutzens unabhängig, an äußere „objektivet Vorgänge an-
knüpfen, die psychologische Tatsache der Unlust und die Zeitvorstellung.
Die Abhängigmachung des ökonomischen Begriffes der Arbvit von der
Unlust konnte bereits ohne Schwierigkeit zurückgewiesen werden. Für
den Faktor der Zeit ist das gleiche möglich; wir sahen schon, daß Dietzel
selbst erkennt, daß die Relation zwischen Zeit und Arbeit nicht in
einem derartigen Sinne gefaßt werden kann. Es ist nicht einzusehen,
weshalb die theoretische Konstruktion einer Nurmalarbeitsstunde dem
Vorwurf entgehen kann, daß in ihr die Zeiteinheit als Einheit für die
‘rkenntnis der Arbeit in quantitativer Hinsicht gebraucht wird. Zeit und
Arbeit sind einander nicht proportional, ihre Beziehung zueinander besteht
allein darin, daß Arbeit „in der Zeit“ vor sich geht.s®) Im übrigen kann
Arbeit in allen ihren Arten nicht durch Zeit oder gar Unlust, sondern allein
durch ihr Resultat als „Größe“, und damit überhaupt als ökonomische Kate-
gorie, erfaßt werden. Die Marxsche Formulierung einer „gesellschaftlich
notwendigen‘ Arbeitszeit **) besitzt jedenfalls den Vorzug, im Begriffe der
Notwendigkeit den Zielgesichtspunkt hereinzunehmen. Wie jedoch unsere
Analyse bereits ergibt, hat Dietzel selbst jene objektiven Faktoren schließ-
lich wieder eliminiert, ohne daß es ihm allerdings — schon in Anbetracht
der Unabgeschlossenheit seiner Lehre — gelungen wäre, eine allgemeine
Werttheorie im Sinne des hier vorgetragenen Postulats zu schaffen.
Damit ist zugleich die letzte, für den Aufbau der hier darzubietenden
Gruppe zentraler Grundbegriffe der reinen Ökonomik nutwendige Frage
nach dem „‚Werte‘‘ der Arbeit, die bei Dietzel gerade eine so ausmachende
Rolle spielt, dahin entschieden, daß von einem Werte der Arbeit an sich
überhaupt nicht gesprochen werden kann. Die Bedeutung ökonomischer
Arbeit folgt ausschließlich aus dem Wesen des Arbeitsresultats, und eine
Messung der Arbeit ist nur nach Maßgabe des abstrakt-quantitativen
Charakters des ökonomischen Wertes, wie er dem Gutsbegriff anhaftet,
möglich. Eine „Arbeitsmenge“ an sich gibt es im Sinne der Okonomik
nicht, die Ökonomik hat es weder mit Kraft- noeh mit Zeitmengen,
s3) Die Tatsache, daß das Arbeitsresultat in der arbeitsgeteilten Wirtschaft
in Form von Gehalt und Lohn häufig durch Verwendung von Zeiteinheiten berechnet
wird, ist eine Erscheinung, die sich aus bloßen empirischen Zweckmäßigkeitsgründen
erklärt.
64) Das Kapital, I. Bd.. Stuttgart 1914. S. 7, 168 passim. Für Band II (1. und
2. Teil, Hamburg 1894) vgl. insbesondere Kapitel 51.
27) Hero Moeller.
sondern allein mit derjenigen Mengenvorstellung zu tun, welche durch
die Form des ökonomischen Wertbegriffs gegeben ist. Die Arbeit im Sinne
der reinen Okonomik ist durch das inhaltliche Wesen des reinen Wertes dar-
gestellt, sie ist die dynamische Entsprechung des statischen a
ist eine reine Kategorie der Leistung.
Damit haben wir versucht, den ökonomischen Wertbegriff als zentrale
Kategorie der reinen Ökonomik auf Grund eines bestimmten Begriffes der
Wirtschaft zu entwickeln, diesem Begriffe gemäß, als notwendig zu seiner
Konstituierung, festzustellen, und nach Form und Inhalt möglichst ein-
deutig zu kennzeichnen. Vielleicht dürfte die Möglichkeit einer allge-
meinen ökonomischen Kategorie des Wertes dargetan sein, und für unsere
Untersuchung nach der aufbauenden nur die kritische Aufgabe übrig
bleiben. Zunächst soll kurz die Vorfrage beantwortet werden, wie sich
die hier gegebenen Formulierungen, wenn man im Auge behält, daß mit ihnen
das Wertproblem nur von einer bestimmten Seite aus angegriffen worden ist,
wobei von allen Problemen des Preises bewußt abstrahiert wurde, zu dem
angeblichen Gegensatz von objektiver und subjektiver Werterklärung ver-
halten. Sodann haben wir die Forderung eines allgemeinen Wertbegriffs der
zu Anfang dieser Untersuchung gekennzeichneten Aufgabe gemäß an den ab-
lehnenden Standpunkten G. Cassels und R. Liefmanns zu prüfen. Schließlich
bleibt es als ratsam übrig, die hier allgemein vorgetragenen Begriffs-
gebilde daraufhin zu untersuchen, ob ihnen im Rahmen eincs voll-
kommencn Systems der Okonomik eine wirkliche Existenzbereehtigung
zukommt, beziehungsweise inwieweit eine derartige Kategorie des Wertes,
in Sonderheit nach Maßgabe ihrer spezifischen inhaltlichen Seite, die
gegebenen Probleme zu ergründen, ihre Lösung zu fördern geeignet ist.
Dabei kann es im Rahmen dieses bloßen Versuchs nicht unsere Aufgabe
sein, ein ganzes System der Ökonomik als Prüfstein vorzuführen, viel-
mehr beschränken wir uns auf die wesentlichen Berührungspunkte ın
demjenigen Teil der Theorie, in dessen engeren Rahmen nach unserer
Fassung zunächst der Wertbegriff gehört, der Lehre von der im
weiteren Sinne verstandenen Produktion. Die Tausch- und Preislehre
könnte erst nach einer geldtheoretischen Verständigung zur Behandlung
gelangen.
Im Rahmen seiner soeben von uns verlassenen werttheoretischen
Erwägungen sagt Dictzel, die Klassiker hätten sich mit vollem Rechte
Die sozialGhonomische Kategorie des Wertes. 251
der Arbeitsstunde als Gencralnenner bedient und gesagt, daß m diesem
Falie die Wertgrößen der Güter sich verhielten wie die Arbeitszeitmengen,
welche ihre Reprodukticn kosten würde. Die Klassiker hätten diesen Satz
gewonnen, indem sie einen Zustand supponierten, welcher der Anhäufung
von Kapita! und der Ancignung von Land vorausging — wo Arbeit das
alleinige Kaufgeld war, welches das Subjekt für die Dinge zu zahlen hatte.
Er gelte aber nur, wenn weiter ncch supponiert werde — was bei ihnen
stillschweigend geschehe — daß alle Dinge durch Arbeit gleicher Art von
der Natur gekauft werden können. Unter dieser doppelten Voraussetzung,
die, wie wir gesehen haben, von Dietzel in einer bestimmten Weise auf-
gelöst, Lezichungsweise ihrer verengenden Bedeutung beraubt wird, sei
der Satz unbestreitbar und aurchaus in ‘Einklang mit dem Satzs, daß
die Momente Nützlichkeit und Begrenztheit das Maß des Wertes regulierten.
Je größer die Arbeitsmenge, welche cin Gut kosten würde, desto größer
das Maß der Nutzeneinbuße im Verlustfalle und desto grödr das Maß
ciner Begrenztheit. Wenn Zuckerkandl sage, entstehe der Wert aus der
Scltenheit, so sei das seltenere Gut das wertvollere, entstehe er aus der
Arbeit, dann steige der Wert mit der im Gute vergegenständlichten Arbeit,
so sei dieser Zwiespalt zwischen dem Selterheits- und dem Arbeitsmoment
nur ein scheinbarer. Die Seltenheit eines Gutes sei um so größer, Je größer
dic Menge der in dieses Gut zu vergegenständlichenden — nicht „vergegen-
ständlichten‘“ — Arbeit.#5)
Dieser Versuch zur Synthese im Streite um den sozialikono-
mischen Wertbegriff beruht, wie die Kontroverse zwischen Dietzel und
Böhm-Bawerk erkennen läßt, auf der Prämisse, daß in der Regel giciche
Arbeitsmenge gleich Arbeitszeit erfordere, diesbezügliche „Ausnahmefälle“
lie3en sich leicht „erledigen“. Diese Voraussetzung mußte uns als durchaus
unrichtig erscheinen. Der Regulator aller Ökenomik ist kuncewegs die
„objektive“ Idec einer Arbeitszeit oder einer Unlust, mit weicher gespart,
beziehungsweise die vermieden werden müsse, sondern ergibt sich aus
einer einen Begriffe der Wirtschaft folgerichtig entsprechenden Deutung
des wirtschaftlichen Prinzips als eines Postulats des aweekgerichteten
IIendelns, und eines entsprechenden Begriffes des Gutes als Ziel dieses
Ifandclns, des Wertes als des eigentlich ökonomischen Begriffes dieses
Ziels, und der Arbeit, in deren Wesen jede proportionale, beengende Ver-
€) A. a. 0.8. 246. Wir wollen hier nicht prüfen, wieweit die Dietzelsche Ane
sicht auf Ri ardo wirklich zutrifft.
252 Hero Moeller.
knüpfung zu äußeren quantitativen (konkret-quantitativen) Erscheinungen
keinen Platz haben kann.
Ebenso wie Dietzel haben wir es jedoch zu tun. mit dem Ver-
such einer Auflösung der Frage nach der subjektiven oder objektiven
Begründung des ökonomischen Wertes mit einer Synthese, die sich in
ihrer einfachsten Form vielleicht in dem Begriffe der „Zweckgestaltung“,
beziehungsweise der „Zweckgerichtetheit‘“ konzentriert. Dieser Begriff
enthält sowohl die Vorstellung eines ganz allgemein umschrichenen ,,objek-
tiven“ Tuns des Menschen, wie die „subjektive“ Zielsetzung und Orien-
tierung an einer Kategorie des Nutzens. Seine Verwertung ist möglich,
weil die Entstehung des wirtschaftlichen Gutes von vornherein an die
Voraussetzung eines solchen zielgerichteten Tuns, wenn dieses auch in
seiner äußeren Erscheinung, seinem Umfange nach, in keinem bestimmien
Verhältnis zum Resultat steht, geknüpft wird. Das Zielstreben ist als
eine zunächst intellektuelle Bewegung erfaßt worden, die sich an äußere
Vorgänge nicht bindet. Gegenüber der objektiven Wertlehre kann der
vorliegende Versuch als eine Fortentwicklung aufsefaßt werden. Dem
immer wiederkehrenden Gedanken, daß die Entstehung .der wirtschaft-
lichen Güter als solcher nur auf „Arbeit“ zurückzuführen sei, ist durch
eine bestimmtere formale und eine freiere inhaltliche Fassung des Arbeits-
begriffes eine größere Weite und Klarheit verliehen worden. Im Verhältnis
zur subjektiven Wertlehre in allen ihren Erscheinungsformen wird man
einen engeren Kontakt, wie er hier etwa mit der alten Produktionskosten-
lehre herzustellen versucht wurde, vermissen ; einmal ist hier dasProblem der
„Menge“ in ihrer Bedeutung für den „Wert“ noch keiner ausführlicheren
Untersuchung unterzogen worden, ferner hat die Verschiedenheit des
Wertes gleicher Güter nach MaBeabe des zeitlich verschiedenen Bedürf-
nisses des gleichen Subjekts oder der verschiedenen elsichzeitiren Bedürfnis-
urteile verschiedener Suhjekte eine eingehendere Berücksichtigung bisher
nicht erfahren. Allerdines ist die Antwort auf die Fragen der subjek-
tivistischen Werttheorie, soweit von diesem Versuch eine Antwort erwartet
werden kann, in dem gegebenen beerifflichen Aufbau ihren Voraussetzun ven
nach schon enthalten. Bezüglich der Grenznutzenthecrie im besonderen
darf Verfasser auf seine früher erwähnte ältere theoretische Untersuchung
verweisen, Ferner muß hervorgehcben werden,daß das Gesagte im wesent-
lichen nur als eine Erörterung zum Problem der „einfachen“ Wirtschaft,
(wenn wir diesen Begriff im Sinse von Wiesers echrauchen, nach dessen
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 273
Ansicht diese allerdings gerade auf dem Gebiete der letzten Werterklärung
bereits alle problematischen Schwierigkeiten in sich birgt)®*) aufgefaßt
werden darf.
Das Problem der Menge ist in dem „Gesetz“ von Angebot und Nach-
free verkörpert, besteht aber auch in der einfachen Wirtschaft, und zwar
indem Sinne, daß einem bestimmten Subjekt gegenüber eine Veränderung
der materiellen Quantität des hinsichtlich seines „ Wertes“ zu beurteilenden
Objekts stattfindet, wohei das Objekt durch einen Gattungsbegriff be-
zeichnet sein muß. Eine naive“ Produktionstheorie würde von der An-
nahme ausgehen, es entfalle auf gleiche Teilquanta des Objekts ein gleicher
Aufwand von Kosten im Sinne der Produktionsfaktorenlehre, müßte also,
sobald eine rein objektive Werttheorie angenommen werden würde, fulgern,
daß der Wert der verschiedenen Teilquanta gleich sei. Da nun dieser Schluß
durch die Erfahrung auf dem Gebiete der Preisbildung widerlegt wird,
half man sieh vor allem mit einer prinzipiellen Trennung der Wert- und
der Preiserklärung und unterwarf den Preis besonderen ökonomischen
Gesetzen, vor allem den Bedingungen von Angebot und Nachfrage,
differenziert nach Maßgabe der verschiedenen Arten von Preisen. Das
Problem wurde so das einer einheitlichen Erklärung des Wertes und des
Preises. Die Theorie mußte sich vielfach mit einer mehr oder weniger losen
Zusammenstellung empirischer Tatsachenverknüpfungen beenügen.s?)
Da für unsere Betrachtungsweise die Annahme gleicher Kosten für gleiche
materielle Stoffmengen von vornherein nicht Ausgangspunkt der Analyse
sein kann, sondern der „Gegenstand“ in seiner räumlichen und zeitlichen
Existenz in seiner subjektiven Beziehung betrachtet wird, so tritt das
Problem selbst in den Hintergrund. Anders liegt es gegenüber der
Lehre von den Bedürfnisskalen als Grundlage des ökonomischen Wert-
urteils. In ihr wird das ökonomische Objekt sogleich in ein sub-
jektivee Zweckverhältnis bestimmter, differenzierter Art gebracht,
ehne daß sie im allsemeinen außer acht ließe, daß jenes Objekt notwendig
einer menschlichen Tätigkeit seine Entstehung verdankt. Da sich das
„Psychologische“ Bedürfnis in seinen Graden und Arten auch im Sinne der
subjektiven Werttheorie auf Befriedigung dureh Objekte irgendwelcher
86) A. a. O. S. 189.
“) Vel. K. Diehl, a. a. O. S. 5 bis 29, außerdem kann die Lehre von Gossen
in Anbetracht ihrer wenigstens system tischen Unvollkommenheit als Beispiel heran-
gezogen werden, ` :
4 Hero Moeller.
Art richtet, so reiht sich die Kategorie des Bediirfnisses in den hier dar-
gelegten Gedanken der Zweckform ein. Die verschiedene Bedeutung
physisch gleicher Gegenstände nach Maßgabe der Bedürfnisverhältnisse
bei den verschiedenen Subjekten entspricht dem Gedanken der räum-
lichen und zeitlichen Bestimmtheit des Objekts, des wirtschaftlichen Gutes,
die verschiedenen verwandten Teilquanten (Menger) sind verschiedene
ökonomische Objekte, das Faktum der Arbeit reicht begrifflich notwendig
heran bis an den Moment, in welchem das wirtschaftliche Gut als solches
verschwindet. Die Kategorien von Gütern verschiedener ökonomischer
„Ordnung“ stellen sich hinein in den wirtschaftlichen Gesamtvorgang,
als dessen Bild (Idcal) die räumlich und zeitlich unbegrenzte und durch
den Begriff einer solchen Unendlichkeit zugleich im logischen Sinne
begrenzte Wirtschaft gedacht werden muß.
Schwieriger erscheint die Klarstellung des Verhältnisses zwischen dem
hier formulierten Wertbegriff und demjenigen Teil der auf dem subjek-
tiven Wert aufgebauten Theorie, welcher den Vorgang der Wertentstehung
bis zum Tausch im Auge hat und einen Ersatz darstellen will für die ,,objck-
tivistische“ Produktionslehre, beziehungsweise eine Antwort auf die Frage
geben soll, welche rationalen oder psychologischen Motive oder realen
Beweggründe die Produktion selbst leiten. Stehen diese Versuche im Wider-
spruch zu einer Theorie der Arbeit im hier gegebenen Sinne als Voraus-
setzung der Wertbildung? Dennoch kann diese Frage ohne näheres Ein-
gehen auf die einzelnen Lehren selbst, wie sie bei Böhm-Bawerk, von Wieser,
Walras, Marshall und anderen vorliegen, beantwortet werden. Es handelt
sich hiebei grundsätzlich um die Verlegung einer die letzten Bedürfnis-
verhältnisse berücksichtigenden Berechnung in die Gedankengiinge der
einzelnen Produzentenarten, also einen Vorgang, der in den hier gebrauchten
Begriff der Arbeit als notwendiger, ja wesentlicher, wenn auch allerdings
nicht ausmachender Bestandteil hineingehört, so sehr die Bedeutung der
Arbeit auch gerade hier nicht aus ihr selbst oder dem Grade ihrer Bewußt-
heit, sondern erst aus ihrem letzten gegenständlichen Resultate ermessen
werden kann. Ferner sind die Untersuchungen derjenigen Subjcktivisten,
die sich den Vorwurf, nur die „zweite Hälfte‘ des wirtschaftlichen Prozesses
zur Analyse gebracht zu haben, das heißt von gegebenen Mengen von
Gütern auszugehen, angelegen sein ließen, doch wesentlich aus dem Inter-
esse an der Verteilungslehre bestimmt und erst aus deren engerem Rahmen
heraus verständlich und erklärbar, Im Rahmen der vorliegenden Unter-
Die sozialökonvmische Kategorie des Wertes. 255
suchungen wird das Wichtigste hiezu aus den theoretischen Darlegungen, ©
die noch folgen, erkennbar werden. Der Zweck dieser Untersuchungen alles
in allem ist ausschließlich der einer genaueren Orientierung über Möglichkeit
und Bedeutung eines allgemeinen ökonomischen Wertbegriffes.
Zunächst wenden wir uns den werttheoretischen Anschauungen
G. Cassels und R. Liefmanns zu.
Es ist eine auffallende Erscheinung, daß in der theoretischen Sozial-
ökonomik zur „Erklärung“ positiver Erscheinungen vielfach Begriffe als
Kategorien der Ursache verwertet werden, denen sclbst eine positive Be-
deutung nicht innewohnt, das heißt, welche als Ursache eines Zustandes
oder eines bestimmten Erkenntnisurteiles nicht einen vorherigen Zustand,
eine vorausgehende Empfindung, oder als Bestimmungsgrund einer
Bewegungserscheinung nicht eine gewollte Handlung oder wirkende Kraft
bezeichnen, sondern die den zu erklärenden Tatbestand durch das Nicht-
vorhandensein eines bestimmten Umstandes, durch die Abstandnahme
von einer Tätigkeit, durch den Wunsch der Vermeidung einer bestimmten
Empfindung deuten wollen. Die Ursache dieses Verhaltens liegt in der
Schwierigkeit, zu einer allgemeinen Klarheit über das Wesen ökonomischer
Kausalitätsverhältnisse zu gelangen. Die eigentliche Dynamik der Ent-
stehung der Bedürfnisbefriedigungsmittel liegt in ihrer außermenschlichen
Seite — gar nicht im Bereich der wirtschaftlichen sondern in dem der
technischen Wissenschaften im weitesten Sinne des Wortes. Die Wirtschaft
richtet sich nicht auf den äußeren Vorgang der Entstehung und Entwick-
lung, sondern betrachtet die Gegenstände ihrem Zwecke nach, sieht sie
an in bezug auf die Tatsache ihrer Existenz überhaupt und kann, sofern
sie nicht die positive Bedeutung festzustellen vermag, aus der Negation
und ihren möglichen Konsequenzen das Phänomen sich begreiflich zu
machen versuchen. Aus solchen Erwägungen lassen sich die Theorien über
die Seltenheit, Knappheit, Mühe und Unlust, das Sparen, Warten usw.
in gewissem Sinne erklären, ohne daß der große Nachteil, welcher sich mit
solchen, einer unmittelbaren inneren Anschauung schwer zugänglichen
Begriffen verbindet, damit entschuldigt werden könnte.
Die Schwierigkeit einer unmittelbaren klaren Erfassung solcher Be-
griffe liegt allerdings nicht nur in der in ihnen enthaltenen Negation,
sondern in ihrer Natur als Beziehungsgebilde. Was ist die Seltenheit eines
Objektes? Die Behauptung, daß das Objekt seiner Menge nach im Ver-
256 Hero Moeller.
hältnis zu dem ,,Bedarf‘ nicht ausreiche. Dieser Satz enthält in sich
eine Anzahl komplexer Vorstellungen, ohne deren vertiefte Analyse er
nicht in seiner Bedeutung klar wird. Der Begriff der Seltenheit involviert
einen quantitativen und einen teleologischen Gesichtspunkt. Der
„Zweck“ bezieht sich auf Objekte der „Menge“, ohne daß mit einer be-
stimmten Menge des bestimmten Objekts zugleich ein bestimmter Zweck
gegeben wäre. Vielmehr ist die „Menge“ selbst nur im Verhältnis zu anderen
Mengen des gleichen Objekts — schließlich auch Mengen anderer Objekte —
von Bedeutung, und selbst ceteris paribus ist das zwecksetzende Subjekt
durch subjektive Verhältnisse frei bestimmt. Wenn man unter solchen Um-
ständen irgendein ökonomisches Phänomen auf ‚Seltenheit‘ zurückführt,
so ist damit keine „Erklärung“ im wahren Wortsinne gegeben, ja man
befindet sich in der Gefahr, im Grunde nur sich in einem Kreise zu bewegen,
dessen Peripherie bestenfalls durch einen vorausgefaßten Begriff von
vornherein fest bestimmt wurde.
In seiner bereits erwähnten ,,Theoretischen Sozialökonomie“ ver-
sucht es G. Cassel, die Erscheinungen der reinen Ökonomik unter Ab-
lehnung der Existenz eines wirtschaftlichen ‚Wertes‘ durch den Begriff
der Knappheit zu erklären, das heißt durch das Mißverhältnis zwischen
den in der Regel nur in begrenzter Menge zur Verfügung stehenden Mitteln
der Bedürfnisbefriedigung und den ‚unersättlichen‘‘ Bedürfnissen der
zivilisierten Menschheit in ihrer Gesamtheit.*°) Aus der vorangegangenen
Problemstellung heraus wird man sogleich nach der Art und Weise fragen,
in welcher die „Knappheit“ sich auswirken und den Tatsachen, welche
sie zur Folge haben soll. Cassels Knappheitslehre beruht in der Haupt-
sache auf dem Gedanken, daß die Tatsache der Knappheit eines Gegen-
standes denjenigen, der die Verfügung über diesen Gegenstand hat, veran
laßt, ihn nur unter Forderung einer der Knappheit entsprechenden
Gegenleistung an einen anderen zu iiberlassen.**) Dies ist die von Cassel
.—
es) A. a. O. S. 3. Der Begriff der Knappheit ist alles andere als neu; das
Besondere liegt hier bestenfalls in seiner zentralen Stellung für das — vielleicht aller-
dings recht unvollkommene -- System.
6") Vgl. den Satz (a. a. O. S. 231): „Die Existenz der Rente ist einfach durch
die Notwendigkeit, die Nachfrage der knappen Bodennutzung zu beschränken, bedingt.‘
Ferner die Ausführungen auf S. 72 ff. Die Hauptformulierung lautet wie folgt: ,,Das
Prinzip der Knappheit besteht für die Tauschwirtschaft in der Notwendigkeit, die
Konsumtion durch den Druck der Preisbildung in Übereinstimmung mit einer knappen
Güterversorgung zu bringen.“ (S. 62.)
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 257
selbst allerdings nicht klar zum Ausdruck gebrachte wesentliche Gedanken-
verbindung; der Satz selbst ist bereits die Grundlage der Casselschen Preis-
theorie und die Preistheorie ist für Cassel der alleinige Gegenstand einer richtig
verstandenen theoretischen Sozialökonomik. Die Produktionsfaktoren- und
die Verteilungslehre verengen sich für ihn in das einheitliche Problem der
Untersuchung der Preise der Produktionsmittel in ihrer Wirkung auf
deren Angebot und Nachfrage, während die allgemeine Preislehre, durch
welche die Preise der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung gemäß dem
Prinzip der Knappheit erklärt werden sollen, als deren Bestimmungs-
gründe die Nachfrage der Konsumenten, die Technik der Produktion und
das Angebot der Produktionsmittel ansieht,:*) und sich demgemäß in der
Hauptsache als eine verfeinerte Theorie der Lehre vom Angebot und der
Nachfrage kennzeichnet. Der Preis wird im wesentlichen aus Angebot
und Nachfrage der Produktionsniittel erklärt.
Der Grund, aus dem heraus Cassel im Rahmen einer solchen Theorie
den ökonomischen Wertbegriff ablehnt, ist einmal die Ansicht, daß sowohl
eine objektive, wie eine subjektive Wertlehre deshalb eine Unmöglichkeit
darstelle, weil die Preise auf objektive und subjektive Bestimmungs-
gründe zugleich zurückgeführt werden müßten. Cassel versteht dabei als
objektiven Bestimmungsgrund, wie schon aus obiger Darlegung: hervorgeht,
außer der Produktionstechnik vor allem die „Mengen der Produktions-
mittel‘ und als subjektiven die Art, in welcher die Nachfragefunktionen
von den Preisen der Produktionsmittel, die die Nachfrage im ganzen schon
bestimmen, abhängt, so daß die Knappheit der Produktionsmittel in objek-
tiver und die Beschaffenheit der Nachfrage nach ihnen in subjektiver Hin-
sicht als die schließlich letzten, der theoretischen Erfassung zu-
Hiebei schwebt augenscheinlich als Handelnder nicht der Besitzer eines Monopols
der Individualwirtschaft vor, sondern ein gedachtes Subjekt einer ganzen Volks-
wirtschaft, welches auf solche Weise sozusagen die Verschleuderung der Produktion
verhütet. Das sozialökonomische Problem, welches sich hier insofern auftut, als
das Recht des Individualwirtschaftlers auf den Preis (welches doch aus dem
Gedanken der ökonomischen Produktenverteilung auf die Bedürfnisse nicht ohne
weiteres gefolgert werden kann) untersucht werden müßte, schaltet Cassel aus.
70) Vgl. a. a. O. S. 136 ff. Unter Produktionsmitteln versteht Cassel Roh-
materialien, Grund und Boden, Realkapital, Sparwille und menschliche Arbeits-
kräfte (a. a. O. S. 13 ff). Später faßte er diese Mittel in die „hauptsächlichen“
Produktionsmittel oder ,,Produktionsfaktoren‘‘ Grund und Boden nebst Natur-
materialien, Kapital und Arbeit zusammen und begeht damit eine der inkonsequenten
Konzessionen. an denen die Schrift nicht arm ist.
228 Hero Moell r.
gänglichen Preisbestimmungsgründe sich darstellen.°') Man sieht. dab
Cassel deswegen die Wertlehre ablehnt, weil er von vornherein deren
Fragestellung als außerhalb der theoretischen Ökonomik stehend betrachtet.
Er verharrt bei dem Begriff der Knappheit (nämlich der Knappheit der
Produktionsmittel) als letztem Erklarungsgrunde.7*) Cassel, so kann man
sagen, erklärt die Preise aus den Preisen der Produktionsmittel und diese
aus ihrer Knappheit und erfaßt in diesem Begriff zugleich objektive und
subjektive Momente.
Der zweite Grund für die Ablehnung der Werttheorie ist die Ansicht
Cassels, jede Wertlehre bedürfe eines gemeinsamen Nenners für die Wert-
urteile, dieser aber würde stets im Gelde zu suchen sein. Im Rahmen des
geldlichen Wirtschaftens würden aber die Werte durch Preise, die Wert-
schätzungen durch Schätzungen in Geld umgesetzt, so daß statt der Wert-
lehre stets eine Preislchre entstehen müsse.?:) Betrifft der erste Grund die
Wertlchre und ruht auf einem bestimmten Begriff des Gegenstandes der
theoretischen Ökonomik, so richtet sich dieser auf die Kritik des Wert-
begriffs und stützt sich auf die Vorstellung, daß der Begriff des Wertes
überhaupt nicht klar gedacht werden könne. Der Wertbegriff würde stets
die Aufgabe haben müssen, Größenverhältnisse bestimmbar zu machen.
Werde nun der Wert etwa in der relativen wirtschaftlichen Bedeutung
der Güter gesehen, so trete ihm sogleich die Tatsache entgegen, daß es,
auch bei Zugrundelegung der Lehre von den Graden der Bedürfnisinten-
sität, an jedem „arithmetischen“ Maß dieser Bedeutung fehle.
Bezüglich der Frage nach den Grenzen einer theoretischen Sozial-
ökonomik, deren Erörterung in extenso den Rahmen der vorliegenden Unter-
suchung sprengen würde, wird man sich hier dahin entscheiden, daß die
Theorie den wirtschaftlichen Prozeß in seiner Gesamtheit umfassen sollte,
71) A. a. O. S. 117. Wir lesen dort u. a.: „Eine „objektive“ oder ‚subjektive‘
Wertlehre, im Sinne einer Theorie, die die Preise auf objektive oder subjektive Be-
stimmungsgründe allein zurückführen will, ist deshalb Unsinn, und der ganze Streit
zwischen diesen Wertlehren, der in der Literatur einen so unverhältnismäßig großen
Platz eingenommen hat, ist nur verlorene Mühe.“ Man kann nicht sagen, daß der
Verfasser der Schärfe dieses, den Sachverhalt nicht richtig erkennenden Urteils eine
entsprechend scharfsinnige Begründung zur Seite gestellt hätte.
72) Vgl. S. 62: „In dem Prinzip der Knappheit, in welchem die sozialökononiische
Notwendigkeit der Preisbildung hervortritt, liegt zugleich der allgemeine und wesent-
liche Bestimmungsgrund der Preisbildung“.
73) A. a. 0.8. 41.
Die sozialökonomische Natezorie des Wertes. 259
und trotz der Gegengriinde Cassels der Ansicht F. Eulenburgs”*) zu-
stimmen, daß Cassel nur einen Teilvorgang behandelt, nur eine einzelne
Stufe der sukzessiven Erscheinungsreihe zu klären versucht hat. Sowohl
die Fragen der ökonomischen Parallelerscheinungen wie diejenigen der
witlich ersten und letzten Vorgänge im Prozeß der Produktion werden
von ihm nicht in ihrer vollen theoretischen Bedeutung erfaßt. |
Die übrigen Einwände Cassels gegen den ökonomischen Wertbegriff
beruhen letzten Endes auf dem Postulat seiner Einheit als Begriff. Die
Berechtigung dieser Forderung ist gerade auch in den hier dargelegten
Anschauungen erkannt worden. Das Streben nach Einheit gründet
sich auf dia Vorstellung eines bestimmten Erscheinungskomplexes,
als einer zunächst nur formalen Gleichartigkeit, die man mit einer
ktzten, allen Teilerscheinungen in gleicher Weise innewohnenden attri-
butiven oder kausalen Bestimmung des Inhalts zu erfassen wünscht.
Der Wertbegriff hat, wie wir bereits darlegten, einen Sinn nur dann,
wenn durch ihn für die theoretische Ökonomik insbesondere ein
gemeinsamer Unterbau geschaffen wird. Dazu gehört, daß er selbst eine
inheillich erfaßbare, letzte Gegebenheit repräsentiert. Wie die Chemie
m Vorstellungen von Elementen als artlich letzten Erscheinungen vor-
schreitet, und darüber hinaus das Wesen der Materie überhaupt einer
einheitlich inhaltlichen Bestimmung zuführen will, wie die Physik alle
Erscheinungen auf Bewegungen und alle Bewegungserscheinungen auf
cin letztes Urphinomen des Bewegens zu reduzieren versucht, wie die
Philosophie zur Vorstellung eines einheitlich gewollten Weltbildes, eines
einheitlichen Bildes vom Wesen oder vom Seinsgrunde hindrängt, so
trachtet die Sozialökonomik notwendig nach einer zentralen Kategorie,
die sich nicht wieder in ökonomischer Hinsicht als ein Gemisch verschie-
dener Erscheinungen, als ein Resultat verschiedener Ursachen darstellt.
Ob dieses Bestreben aus der Sache selbst notwendig folgt, oder nur dem
Verstande als ein logisches Ideal aufgegeben wird, diese Frage überschreitet
die Grenzen unserer Zuständigkeit.
Die geforderte Einheit ist nach Cassel im Begriff des Wertes nicht
höglich. Der Wert wird, so würde in diesem Sinne der erstgenannte Ein-
4) A. a. O. passim. Vgl. auch unter andern A. Voigt in Pohles Zeitschrift für
Sozialwissenschaft N. F. X. Jahrg. (1919), S. 594 ff., und E. Salin, Die deutsche
‘olkswirtschaftliche Theorie im 20. Jahrhundert. Zeitschrift für schweizerische
Statistik und Volkswirtschaft, 57. Jahrg. (1921), S. 112 f.
260 Hero Moeller.
wand lauten, von objektiven und subjektiven Voraussetzungen gleich-
zeitig bestimmt; der zweite Einwand würde besagen, die Einheit dessen,
was in jedem früheren Wertbegriff enthalten war, verdankte die Wert-
theorie dem Begriff des Geldes als des gemeinsamen Nenners für die Wert-
urteile und damit nicht sich selbst, sondern einem Phänomen, das in den
Rahmen der Preislehre hineingehört. Zweifellos sind auch in dem Begriffe
der Knappheit bei Cassel objektive und subjektive Momente schon ent-
halten. Die oben wiedergegebene Casselsche Definition und unsere Er-
örterungen über das Wesen der Seltenheit als eines verwandten Begriffes
lassen die Tatsachen genugsam erkennen. Das, was Cassel vom Wertbegriff
verlangt, leistet auch seine eigene Theorie nicht, ja die von ihm entwickelte
Lehre vom Preise kennzeichnet sich mehr als eine Auseinanderlegung, denn
als eine zusammenfassende Erklärung der Preiserscheinungen. Seine Dar-
legungen über die Bestimmungsgründe der Preise lassen schon in der hier
vorgetragenen äußersten Verkürzung Viclspiltigkeiten ahnen, wie sie kaum
eine Werttheorie in größerem Umfange aufgewiesen hat. Es fehlt gerade
bei Cassel an einem unbedingt klaren letzten Kausalbegriff; die objektiven
und subjektiven Momente sind in dem Begriffe der Knappheit, der einer
unmittelbaren einheitlichen Anschauung nicht teilhaft ist, nur mehr in
loser Verknüpfung enthalten, während etwa der hier vorgetragene Begriff
der „Arbeit“ beide Problemseiten so berücksichtigt, daß er selbst als das
Ursprüngliche, Letzte angesehen werden kann, aus dem jene doppelten
Probleme sich erst herauslösen. Das menschliche Verstandesvermögen,
auf Objekte angewandt, ist das Urphänomen, mit welchem alle Wirt-
schaft ihren Anfang erlebt; Arbeit im Sinne von Tätigkeit zur Befrie-
digung seiner Bedürfnisse leistet auch das animalische Wesen, es stellt
auch „Mittel“ zu diesem Behufe her, aber es hat nicht teil an einer nach
Prinzipien rationaler Berechnung aufgebauten Zweckgemeinsamkeit.
Wenn Cassel fordert, daß eine Werttheorie auf einen bestimmten
„arithmetisch“ erfabbaren Einheitsbegriff aufgebaut sein müsse, um
Existenzberechtigung zu besitzen, so meint er, dab es sich um eine begriff-
liche Vorstellung handeln müsse, mit der man in den bekannten algebrai-
schen Rechnungsarten zu rechnen imstande wäre. Diese Forderung erklärt
sich bei ihm nicht aus erkenntnistheoretischen Erwägungen, sondern aus
der Erfahrungstatsache des Geldes, mit dessen Einheiten man derartige
Operationen vollführen kann, und zu dessen notwendigen Eigenschafter:
es gehören muß, Gegenstand des Rechnens zu sein. In bezug auf das
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 261
Wesen des Geldes besteht nun zwischen seiner und der vom Verfasser
zu vertretenden Ansicht ein fundamentaler Unterschied. Beide stimmen
darin überein, daß alles Geld Gegenstand arithmetischer Überlegungen
ist. Während Cassel aber die übrigen zwei „Funktionen“ des Geldes, die
jenige, als „Generalnenner aller Werte oder „Rechnungsskala“, und die,
als allgemein anerkanntes Tauschmittel zu dienen, voneinander trennt
und die hier allein wichtige erstere, gewöhnlich und auch von Cassel als
Wertmaßfunktion bezeichnete Bedeutung des Geldes darin sieht, daß das
Geld selbst und nur dieses der Maßstab der wirtschaftlichen „Schätzungen“
sei.75) sicht der Verfasser einen ökonomischen Wertmaßstab außerhalb
des „Geldes“, welcher allgemeineren Charakters ist, als das Geld, und
welcher die Voraussetzung für die Möglichkeit des Geldes darstellt. Cassel
erlaubt, Maßstab und Geld, schließlich also Maßstabeinheit und Geld-
einheit identifizieren zu sollen. Fine tiefere rein gedankliche Überlegung
zeist, daß die Maßstabeinheitsgröße nicht schon Geld, Münze oder dergl. .
selbst sein kann, denn sie ist eben nur eine Gedankengröße, gedacht pro-
portional der Größe und der Schätzung“®) eines Gutes durch den Menschen.
Die Vorstellung der Skala weist hin auf die quantitative Form dieses
Schätzungsresultats, beweist, daß die Einheit der „Gedankengröße“
ebenfalls ein Quantum von irgend etwas ist. Das ,,Geld“ ist selbst nicht
diese Gedankengröße, wohl aber ist es ihr Repräsentant, ist die konkrete
Erscheinung, Konkretisierung jener abstrakten Werteinheit. Die abstrakt-
quantitative Werteinheit als Gedankengröße ist also etwas Anderes
als das Geld in seiner realen Erscheinung. Jene Gedankengröße kann sich
nicht nur in Gelde ausdrücken, sondern in jedem Objekt, welches in wirt-
schaftlicher Hinsicht geschätzt, wir sagen, bewertet wird. Das Geld hat
ihr gegenüber nur die Besonderheit, daß es in irgend einer technischen
Form die Einheit jener Gedankengröße konkret kennzeichnet. ?°) Der „Wert“,
denn dieser ist theoretisch identisch mit jenen Schätzungsresultat, ist also
75) A. a. 0. S. 38 ff.
78) Sogar Cassel bedient sich des Begriffes der Schätzung und damit des Wert-
begriffes seinem Wesen nach, auch hat er in der Vorstellung der Skala und des arith-
metisch verwendbaren Geldes die richtige Erkenntnis des quantitativen Wesens
des Schätzungsresultats. Vgl. Salin, a. a. O. S. 113.
77) Die genaue Ableitung des hier vertretenen geldthcorctischen Gedankens
wird eine Aufgabe für sich sein. Insbesondere muß die speziell von F. Bendixen
betonte Vorstellung des ,,Generalnenners aller Werte‘, die an der hier gekennzeichneten
Irreführung wesentlich schuld hat, scharf durchleuchtet werden.
Zeilschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1. Band. 18
262 Hero Moeller.
die Voraussetzung des Geldes und damit der Wertlegriff die Grund-
lage jeder Geldtheorie. Also liegt auch in dieser Hinsicht ein Beweis für
die Überflüssigkeit oder Schadlichkeit einer Wertthcorie nicht vor, im
Gegenteil ist diese für alle Geldlehre und damit auch im Sinne Cassels
für alle Theorie der Preise die notwendige Voraussetzung. —
Jenes Prinzip der ursächlichen Zurückführung der ökonomischen
Erscheinungen auf einen einheitlichen, letzten Erklärungsbegriff, wie es
bei Cassel in der Begründung seiner ablehnenden Stellung gegenüher jeder
Werttheorie und zugleich in seiner Zugrundelegung des Begrilfes der Knapp-
heit in Erscheinung tritt, und wie es in den vorliegenden Untersuchungen
in der Bildung eines einheitlichen Wertbegriffs wirksam gewesen ist, hat
‘in der ökonomischen Theorie R. Liefmanns dem „Ertragsgedanken“
zur zentralen Stellung verholfen. Das leitende Prinzip des Wirtschaftens
ist für Liefmann die Erscheinung eines Ertrages, der in dem Erfolge be-
‘steht, welcher übrig bleibt, wenn man von den Nutzen einer der mensch-
lichen Bedürfnisbefriedigung dienenden Tätigkeit deren „Kosten“ abzicht.
Die Theorie des Ertrages mit ihrer Idee des Grenzertrages im Gegensatz
zum bloßen Grenznutzen und mit ihrem Gesetz des Ausgleichs der Grenz-
erträge, wonach die Grenze, bei der die weitere Befriedigung eines Bedürf-
nisses aufhört, nicht bestimmt wird durch den Nutzen, auch nieht durch
die Kosten, sondern durch den Ertrag, der bei allen Bedürfnissen für die
letzte befriedigte Einheit gleich hoch sein müsse, ?®) beruht auf dem dogmen-
kritischen Gedanken, daß eine bloß subjektivistische oder bloß objek-
78) A. a. O. I, S. 415 f. Der Grundgedanke dieser Vorstellung ist wohl der
folgende: Gegenüber verschiedenartigen, mit verschiedenen Kosten erzielbaren
Bedürfnisbefriedigungen entscheide ich mich nach dem Ertrage; bei allen diesen
Bedürfnisbefriedigungen sinkt der Ertrag gemäß der „Sättigung“ in verschiedenem
Grade. Dennoch werde ich einen für alle überhaupt möglichen Bedürfnisbefriedigungen
geltenden gleichen Mindestertrag als unterste Grenze vor Augen haben. Denn wenn
ich bei einem einzelnen Bedürfnis diese unterste Grenze des zu erzielenden Ertrages
überschritte (oder besser gesagt unterschritte), könnte ich sie bei allen andern Be-
dürfnisbefriedigungen mit dem gleichen Rechte miBachten. (Wir glauben, daß auch
der Urheber des Gesetzes vom Ausgleich der Grenzerträge mit dieser Formulierung,
die uns ein unmittelbares Verständnis für den zweifellos logisch richtigen — übrigens
isoliert gesehen nicht neuen — Grundgedanken, auf welchem das Gesetz beruht,
zu ermöglichen erscheint, trotz seiner etwas anderen Ableitung einverstanden sein
kann.) Vgl. auch a. a. O. I. S. 302. Vgl. K. Engliš, Das Liefmannsche Gesetz des
Ausgleichs der Grenzerträge in der Konsumwirtschaft. (Jahrb. f. Nationalök. u.
Stat. III. F. 54. Bd. [1917], S. 385 ff.)
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 263
tivistische Erklärung der ökonomischen Erscheinungen der Doppelscitig¢keit
der Wirtschaft und der Einheit in dieser Doppelscitigkeit nicht Rechnung
tragt. Wie derCasselsche Begriff der Knappheit, so enthält derLiefinannsche
Begriff des Ertrages Motive von der objektiven sowohl wie von der sub-
jektiven Seite, ?»)
(regenüber der Casselschen Fundamentierung hat jedoch diejenige
Liefmanns vom Gesichtspunkte der von uns dargetanen Anschauungen
zweierlei Vorzüge. Zunächst läßt sich mit dem Begriffe des Ertrages eine
unmittelbar klarere Vorstellung verbinden als mit dem der Knappheit.
Im Begriffe des Ertrages ist diejenige Abstraktion vom Realen vor-
senommen, welche zu einer richtigen Erfassung des Wesens der Wirt-
schaft die logische Voraussetzung bildet. Es ist geradezu die Abstand-
nahme von der Vorstellung des tatsächlichen Entstehens und Vergehens
der wirklichen Güter zugunsten eines allgemein-ökonomischen Erfolges,
der nur seinem Grade nach erfaßt wird, worauf sich die Licfmannsche
Theorie aufbaut. Der Frtraesbegrilf an sich ist aus der modernen Geld-
wirtschaft sogleich verständlich und dem Urheber blieb nur die Aufgabe,
ihn bei der von ihm vorgenommenen Scheidung von Erwerbs- und Konsum-
wirtschaften auch in den letzteren als vorhanden nachzuweisen.
Ein weiterer Vorzug des Licfmannschen Systems liegt darin, daß
entsprechend dem Gedanken des Ertrages das Wirtschaften im ganzen
Umfange des Begriffs entschlossen in das Subjekt des Wirtschaftens —
zu unterscheiden von dem Subjekt des Bedürfnisses oder Nutzens — ver-
lest und als eine Funktion, und zwar eine intellektuc!le Funktion des Wirt-
schafters erfaßt wird. Die von dem Wirtschafter ausgeübte Tätigkeit
beschränkt sich allerdings für Liefmann auf ein Vergleichen von Nutzen
und Kosten in allen ihren Erscheinungsformen und damit auf die Wahl
der speziellen Ziele und der Mittel des Wirtschaftens: das Wirtschaften
erscheint ihm als „etwas Psychisches“.
Trotz dieser gradweisen Annäherungen ist jedoch Liefmann em ent-
schiedener Bekämpfer der Verwendung des „Wertes“ zu einem Grund-
begriff der theoretischen Ökonomik. Der Kampf, der von ihm gegen diesen
Begriff in Wiederholungen und Ergänzungen an verschiedensten Stellen
seines Werkes geführt wird, läßt sich in äußerster Knappheit in folgendem
Satz zusammenfassen: Der Wert ist ein Attribut von Objekten: die Sozial-
79) Es ist in diesem Sinne nicht von Bedeutung. daß Liefmann selbst seine
Theorie als subjektiv, und zwar als allein vollkommen subjektiv bezeichnet.
264 Hero Moeller.
ökononik hat es nicht mit „Objekten“ zu tun, also auch nicht mit ihrem
Wertc.*°) Hiegegen würde man einwenden können, daß sich die Sozial-
ökonomik nicht mit den Objekten als solchen, wohl aber gerade mit ihrem
Werte beschäftige. Eine solche Beschäftigung ist augenscheinlich nur
dann als Gegenstand einer selbständigen Wissenschaft möglich, wenn
dieser Wert eine allgemeine, vom einzelnen Objekt unabhängige Be-
deutung besitzt. Dies ist es nun, was von Liefmann geleugnet wird. Es gibt
für ihn keinen allgemeinen Wert, kein allgemeines „Maß des Güterwertes“ ;**)
denn das Geld, das typische allgemeine Wertmaß, hat für ihn in seinen
Einheiten für die einzelnen Wirtschafter in jedem konkreten Falle eine
sich insbesondere aus den Einkommensverhältnissen, aus dem subjektiven
Wirtschaftsplan ergebende verschiedene Bedeutung.*:) Man würde also
weiter zu folgern haben, für Liefmann ist der Wert ein Begriff, der einer
bestimmten Anschauung ermangelt, über den sich niemals zwei Individuen
in identischer Weise orientieren können, er erscheint bestenfalls als eine
unfaßbare Gegebenheit.
80) Vgl. zum Beispiel a. a. O. I, S. 27: Der Wert könne sich immer nur an Gütern,
Objekten feststellen oder messen lassen und werde dadurch zum Grundbegriff einer
objektiven Wirtschaftstheorie, die zugunsten der einzigen wirklich rein subjektiven
Theorie, der (Liefmannschen) psychischen Wirtschaftstheorie abgelehnt werden
müsse.
81) A. a. O. S. 27. Da der Wertbegriff ja abgelehnt wird, so würde man besser
sagen: kein allgemeines Wertmaß der Güter.
82) Liefmann sagt zum Problem des Aquivalententausches, auch die Vertreter
der bisherigen subjektiven Werttheorie seien immer darin einig, daß, wenn
jemand einen Rock für 50 M kaufe, er ihn gleich 50 M schätze, 50 M also
ein objektiver Ausdruck eines subjektiven (iüterwertes seien (a. a. O. I, S. 74).
Objektiv könne man den Preis als einen Maßausdruck bezeichnen, doch
könne nicht durch die objektive Konstatierung von Preisen und Preisver-
hältnissen der tauschwirtschaftliche Prozeß erklärt werden, sondern nur durch
die Untersuchung der subjektiven Kosten- und Nutzenschätzungen gemäß den psychi-
schen Empfindungen der Unlust oder Lust. Wertempfindungen könne man ebenso-
wenig einen äußeren Ausdruck in einem objektiven Maßstab geben, wie der Empfindung
der Wärme. Ein Preis von 10 M bedeute nicht nur für verschiedene Menschen etwas
anderes, sondern auch bezogen auf die einzelnen Menschen. Selbst wenn man gleich-
zeitig zwei Güter für je 10 M kaufte, so könnten die eigenen Wertschätzungen für sie
sehr verschieden sein. Für das eine könne ich bereit sein, 100 M oder noch mehr
zu geben, wenn ich es nicht billiger erhalten könnte, auf das andere würde ich schon
bei einem Preise von 11 M verzichten (a. a. O. 1I, S. 203 f., passim). Es genügt, auf
die Ausführungen C. Mengers (a. a. O. S. 172 ff.) hinzuweisen, um zu zeigen, daß
der Liefmannsche Vorwurf sich höchstens gegen die Vulgärökonomik wenden kann.
Die sozialékonomische Kategurie des Wertes. 20D
In der Tat ist es unmöglich, den Wert, bezichunysweise cine bestimmte
Wertmenge in der Weise erkennbar zu machen, daß ein bestimmtes körper-
liches Quantum vorliegt, an welchem mittels menschlicher Sinnesvor-
stellungen Erscheinungen sich bilden, von denen man vermuten kann,
daß alle menschlichen Wesen sie in der gleichen Weise eindrucksmäßig
apperzipieren. Es würde dies der Fall sein, wenn der Wert mit chemisch-
physikalischen Erscheinungen, mit Gewicht, Länge, Härte, Farbe, Volumen,
Kraft, Geschwindigkeit oder wenn er mit der vielleicht genan feststellbaren,
aufdie Herstellung des Gegenstandes verwandten oder zu seiner Herstellung
sesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit (beziehungsweise mit der Arbeits-
zeit, die zur Produktion der Arbeitskraft notwendig ist) oder mit einem
ähnlichen realen Tatbestande identisch wäre, beziehungsweise zu ihm in
einer festen Proportion stände. Nach unseren Darlegungen, die jedenfalls
ein Höchstmaß der Ablehnung gegenüber einem derartigen, nur auf
Vorstufen wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnis vertretbaren Stand-
punkt aufweisen, ist für das Phänomen Wert sowohl eine quantitative und
qualitative, sowie räumliche und zeitliche Bestimmtheit des Objekts wie
eine entsprechende Identifikation des Subjekts erforderlich. Liefmann
scht vielleicht noch einen Schritt weiter. indem er die Möglichkeit einer
durch belicbige Momente bewirkten zufälligen Orientiertheit des bewertenden
Subjekts in seine Überlegung einschließt.
Eine exakte Vorstellung eines bestimmten Grades an ökonvınischem
Wert läßt sich zweifellos nicht darstellen. Wenn die Einheit einer Währung
der Repräsentant einer gedachten Wertmenge sein sell, wie etwa von
uns vorher dargelegt, so ist diese Wertmenge, um uns eines Liefmannschen
Vergleichs zu bedienen, nicht entfernt so allgemein fest bestimmt, wie
etwa die Einheit eines allgemein angenommenen Längenmaßes. Die Bc-
summtheit: einer solchen Wertmenge liegt in einer, in dem Bezirk der
betreffenden Währung vorhandenen Durchschnittsiiberzeugung, wonach
bestimmte Mengen, beziehungsweise Teilmengen realer Gegenstände zu
bestimmten Zeiten an bestimmten Orten und gegenüber einer bestimmten,
möglichst umfassenden Gruppe von Subjekten als einer solchen Einheits-
vorstellung entsprechend angeschen werden. Wenn diese realen Gegen-
stände überhaupt mit einer Währungseinheit in arithmetische Vergleichung
gesetzt werden können, so beruht dies auf der, beiden als ökonomischen
Övjektsbegriffen innewobnenden logischen Voraussetzung, wonach sie als
Teilmengen cincr einheitlichen, mengenhaft gedachten Vorstellung gelten,
266 | Hero Moeller.
die wir „Wert“ in einem von uns genau definierten Sinne nennen, und der
in gewissem Sinne entsprechend von Liefmann die Begriffe Lust (im
positiven) oder Unlust (im negativen Sinne), also (allgemein) Grade
energetischer Empfindung gebildet, nämlich von ihm auch quantitativ
gedacht werden. Die Vorstellung des Wertes als eines Quantums, einer
Gedankengröße, deren reale Entsprechung in dem Grade von zweck-
gestaltender Leistung liegt, wie er aus Gegenständen, die als Mittel zur
Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen, herausgelesen werden kann,
ist allerdings als Quantum konkret gar nicht erfaßbar, stellt eine in diesem
Sinne durchaus irrationale Größe dar, deren Bedeutung für die wirkliche
Preisbildung sich einer „exakten“ Nachweisung entzieht, allerdings nicht
mehr entzieht, als etwa ein Begriff der Knappheit oder derjenige der Unlust
und Lust, und welcher. der wirklichen Preisbildung an sich nicht ferner
steht, als der an das Quantitative der Zeit scheinbar fest geknüpfte Arbeits-
begriff einer rein objektivistischen Werttheorie oder umgekehrt der an
die Skala physiologischer Bedürfnisse eng angeschlossene Nutzenbegriff der
im eigentlichen Wortsinne subjektivistischen Werttheoretiker. Die Bezic-
hung zwischen den realen (technischen, ‚materialistischen‘“, ,,objek-
tivistischen“ oder dergl.) Vorgängen der Bedürfnisbefriedigung und dem
rationalen, gedanklichen „Wirtschaften“ gemäß der allgemeinen Norm
des ökonomischen Zweekgedankens ist trotz der Alltäglichkeit des Objekts
logisch ein komplizierter Vorgang, der durch das, was bisher hier und von
andern gesagt werden konnte, noch nicht seinem Wesen nach zur Genüge
analysiert worden ist.
Einer derartigen Konzession an das nicht mehr „Exakte“ und auf
der anderen Seite doch nicht ausschließlich „Subjektive“ steht im übrigen
auch Liefmann nicht so fern, als es beim ersten Überlegen erscheinen
könnte. Nur muß der Begriff des Subjektiven sehr scharf gefaßt werden.
Das Subjektive ist entweder im Rahmen der theoretischen Ökonomik
der Zweck, der Gegenständen in Beziehung zu Menschen (bestimmten
Subjekten) beiwohnt, oder es ist damit der Grad der Empfindungen ge-
meint, die bei dem Wirtschafter als Subjekt bei einer Beziehung zu Gegen-
ständen, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen, sei es bei ihrer
Beschaffung,*sei es bei ihrer Nutzung, auftreten. Wenn man der ersteren
Ansicht zuneigt, wie es hier geschehen ist, so läßt sich sogar die Grenze
zwischen Subjektivem und Objektivem so ziehen, daß die menschlichen
Empfindungen als reale psychologische Erscheinung zur objektiven Seite
Die sozialékonomische Kategorie des Wertes. 267
eehören, während der Zweck, als bloße Idee, das Subjektive genannt
werden könnte. Diese Unterscheidung ist unzweckmäßig, aber sie zeigt,
daß augenscheinlich alle ökonomische Wert- und Preistheorie mittels
irgend eines für sie zentralen Begriffes an die Welt des ,, Realen“ sich knüpft
und dazu notwendig gezwungen ist. Innerhalb der bloß ökonomischen
Größenverhältnisse wird mit Zahlen gerechnet; sobald diese Grenze über-
schritten und das Band zwischen ökonomischer Größenbestimmung und
realem Vorgang gezogen werden muß, hört diese Möglichkeit auf. Die
Durchführung des ökonomischen Prinzips ist, so sehr die Privatwirtschaft
eine Nachweisung zu geben scheint, in der Universalwirtschaft, in der
Wirtschaft allgemein nicht einer exakten Feststellung zugänglich. Aus
der subjektiven Unbestimmtheit des Wertbegriffs läßt sich deshalb ein
bestimmter Beweis für die Unmöglichkeit einer solchen ökonomischen
Kategorie nicht führen. |
Sind cs aber die Begriffe von Lust und Unlust, worauf die ökonomische
Theorie Liefmanns aufbaut, oder ist es nicht, wie es zuerst schien, der
Begriff des Ertrages, aus dem heraus ven ihm alle ökonomische Dynamik
erklärt wird, so daß hier doch eine mehr vom Realen befreite und damit
vielleicht in ihrer Sonderstellung überlegene Theorie geschaffen wäre? Ist
also die Vorstellung des ökonomischen Ertrazes ein mittelbarer Ersatz
für eine Kategorie des Wertes, beziehungsweise wie verhält sich der
Begriff des Ertrages zu dem des Wertes?
Der Ertrag ist für Liefmann, sei es in der Konsum-, sei es in der
Erwerbswirtschaft der Überschuß des Nutzens über die Kosten, absolut
feststellbar als diese Differrenz, relativ in seinem Verhältnis zu den Kosten
oder auch dem Nutzen.*3) Die Höhe von Kosten und Nutzen werden durch
die Stärke der Unlust-, beziehungsweise Lustgeftihle bestimmt, 84) das heißt
es handelt sich für Liefmann in dieser Bildung der Vorstellungen Kosten
63) A. a. O. I, S. 304.
64) Vgl. besonders a. a. O. I, S. 397 ff. Es kommt bei Liefmann nicht klar
zum Ausdruck, daß bei seinen Begriffen von Lust und Unlust, beziehungsweise Nutzen
und Kosten in ihrem Verhältnis zueinander der eine nur die Negation des andern
darstellt, und den negativen Begriffen mit logischer Notwendigkeit gar keine andere
inhaltliche Bedeutung zukommen kann als den positiven und umzekehrt. L. hat
ganz recht, wenn er die Notwendigkeit eines tertium comnarationis ablehnt (a. a. O. I,
S. 399), das Übereinstimm’nde, wodurch alle „arithmetische“ Vergleichung des
jeweiligen Inhalts dieser Begriffe sich ermöglicht, ist ihre Form als Grüßenvorstel-
lungen.
268 Hero Moeller.
und Nutzen um nichts als jene abstrakt-quantitative Umdeutung der
Empfindungen zu gedanklichen Größen, die in den Untersuchungen des
Verfassers von jeher als die notwendige Voraussetzung für die Entstehung
ökonomischer Kategorien bezeichnet worden ist. Kosten und Nutzen sind
abstrakt-quantitative Vorstellungen, desgleichen muß es ex definitione
der Ertrag sein. In der Tat werden Kosten, Nutzen und Ertrag von Lief-
mann als „Größen“ angesehen, deren richtige Erfassung als solche ein
„fein entwickeltes Gefühl‘ voraussetze.®5) Diese Mengenvorstellungen
(denken wir sie uns als Linien) haben für Liefmann auch „Einheiten“,
die also logisch notwendig ebenfalls Größen sind, und deren typische Form
die der „abstrakten Rechnungseinheit‘ ist, in der nach Liefmann Kosten,
Nutzen und Erträge aller Erwerbs-, beziehungsweise Konsumwirtschaften
veranschlagt werden. **) Liefmann kennt auch den Fall der Umrechnung von
regelmäßigen Erträgen in einmalige Vermégensmengen im Sinne der
Kapitalisierung und nennt das — naturgemäß auch quantitativ vor-
zustellende — Resultat sogar Ertragswert.®”) Wenn man, wie wir, den
Wertbegriff einheitlich auf solehe Größenvorstellungen zum Zwecke ihrer
logischen Charakterisierung anwendet, liegt in dieser Hinsicht eine sach-
liche Differenz nicht vor.
Allerdings wird von Liefmann selbst nicht durchgängig anerkannt oder
klar erfaßt, daß es sich hier überall um Größenvorstellungen handeln muß.
Vor allem liegt eine solche Erkenntnis nicht durcligängig vor gegenüber
dem Begriff der „abstrakten Rechnungseinheit“, die wir abstrakte Wert-
einheit nennen würden, und von der Liefmann — im Gegensatz zu Cassel
und der herrschenden Meinung — durchaus erkennt, daß sie allem kon-
kreten Gelde vorangeht.**) Das ökonomische Phänomen Preis ist für ihn nicht,
H. Oswalt in Pohles Zeitschrift f. Soz. N. F. VIII. Bd. S. 434 ff., ferner von O. v.
Zwiedineck-Südenhorst (Zeitschrift f. d. ges. Staatsw., 75. Jhrgg. [1921], S.519).
86) A. a. O. II, S. 130.
87) A. a. O. I, S. 603. Liefmann spricht an einzelnen Stellen doch auch vom
Werte allgemein, so Il, S. 141, wo von „wertgeschätzten Stoffen‘ die Rede ist, ähnlich
II, S. 143. Vgl. die Kritiken durch A. Amonn im Archiv für Sozialwiss. u. Sozial-
politik (insbesondere 46. Bd., S. 411), ferner Replik und Schlußwort im 47. Band.
Ferner hiezu E. Salin, a. a. O. S. 109, außerdem G. A. Kleene, Liefmanns Grund-
sätze der Volkswirtschaftslehre (Quarterly Journal of Economics XXXV. Bd.
[1921], S. 464).
es) A. a. O. II, 136 ff. Von unseren Gesichtspunkten aus kommt es indessen
weniger auf die historische, als auf die logische Priorität an. Leider unterscheidet
Die sozialökonumische Kategorie des Werten. 269
wie die heutige „materialistische“ Theorie charakteristischerweise immer
definiere, eine Güter- oder Geldmenge, sondern ein „Abstraktum, mit dem
von allen in den Tauschverkehr Verflochtenen auch gerechnet wird, wenn
es gar nicht zu Tauschvorgängen kommt“.®®») Wenn das Wesen dieses Ab-
straktums das Quantitative ist — Liefmann selbst nennt im gleichen
Zusammenhang das Wirtschaften ein Rechnen mit zahlenmäßigen Größen,
zu denen Preise, Kosten und abstrakte Rechnungseinheit gehörten?) —
so verringert sich das Streitobjekt zwischen Liefmann und seinen Gegnern
von unserer Perspektive aus wesentlich. Jedenfalls liegt in den Lief-
mannschen Feststellungen über Wesen und Zusanımensetzung von Kosten,
Nutzen und Ertrag eher eine Bekräftigung, als eine Widerlegung des hier
vorgestellten abstrakt-quantitativen Wertbegriffs als logischer Grund-
lage sozialökonomischer Kategorien.
Anders mag der Sachverhalt liegen gegenüber dem Inhaltlichen des
Wertbegriffs. Allerdings identifiziert Liefmann die Kosten letzten Endes
mit Arbeitsmühe und lehnt auf jeden Fall andere Zurückführungen des
ökonomischen Gutsbegriffes als auf den einer dementsprechend ver-
standenen Arbeit ab. Das Konkrete, was für ihn hinter dem , Geld-
schleier‘‘-Begriffee:) der Kosten steht, ist die „psychisch“ empfundene
Unlust, die sich im letzten Grunde mit der Arbeitsmühe®:) decke, wobei
für Liefmann selbstverständlich eine Identifizierung der Arbeit als Quantum
mit einem konkreten Quantum (etwa der Arbeitszeit) nicht in Frage
kommt.) Diese Arbeitsmühe ist ein Begriff, der weniger als der von uns
auch Liefmann, wohl noch in einem gewissen Anklingen an die übliche Konstruktion
des Geldes als Wertmaß und als Tauschmittel, zwei Arten von Geldbegriffen, wovon
die abstrakte Rechnungseinheit die eine Art sein solle, eine Vorstellung, die man
durch Verselbständigung des abstrakten Einheitsbegriffes wesentlich verfeinern und
klären kann.
s) A. a. O. II, S. 147.
”) A. a. O. II, S. 138. Vgl. auch I, S. 322.
91) Für Liefmann ist die Sozialökonomik auf diejenigen Erscheinungen beschränkt
die im Sinne des „‚Geldschleiers‘‘ gesehen werden, er hält also jede theoretische Fort-
nahme oder Fortdenkung dieses Geldschleiers für sinnwidrig. Es ist dieser Gedanke
letzten Endes identisch mit der Erkenntnis der abstrakt-quantitativen Natur ökono-
mischer Kategorien als deren wesentlichen Merkmales; denn Liefmann versteht hier
Geld im Sinne des abstrakten Einheitsbegriffes. Vgl. a. a. O. II, S. 100.
8) A. a. O. I, S. 323 f.
3) A. a. O. I, S. 501 ff. Richtigerweise lehnt Liefmann hier auch die Zurück-
führung der Arbeit auf bestimmte geldliche Kosten (Ausbildungs- oder Unterhalts-
mittel) der Arbeitskraft ab. Er folgert hieraus allerdings, daß für ihn die Versuche,
270 Hero Moeller.
gewählte Begriff zweckgestaltender Arbeit die doppelseitige Bestimntheit
ökonomischer Objekte in cine einzige, zentrale Vorstellung als letzte
untrennbare Einheit verdichtet. Der Begriff enthält eine Negation, ist
erst aus seinem Gegensatz zu verstehen, ganz abgeschen davon, daß,
wie auch Liefmann selbst nicht verkennt, der Sachverhalt der Mühe so
‚wenig wie der der Unlust gerade bei derjenigen Arbeit tatsächlich das
Maßgebende sein wird, die er selber, der er Wirtschaften als gedankliches
Vergleichen von Nutzen und Kosten bezeichnet, als das Wesentliche ansehen
muß. Auch Liefmann verknüpft richtigcrweise das Abstrakt- Quantitative
der Wirtschaft an einer bestimmten Stelle mit dem Konkreten der Wirk-
lichkeit. Dieses Konkrete ist bei ihm die Realität psychologischer, dem
„innern Sinn“ offenbarer Sachverhalte. Es ist nicht einzuschen, weshalb
gerade Wirtschaft, als Gedankliches erfaßt, nur auf dieser Seite der Wirk-
lichkeit seine Anknüpfung finden soll. Man sucht notwendig auch eine
Verbindung mit den Erscheinungen der „äußeren“ Sinneswelt, ohne doch
darum über die Grenze des Geistig-Gedanklichen als des in der Tat wahren
Wesens des Wirtschaftens in irgendwelchem Grade (beziehungsweise in
irgendwie stärkerem Maße) hinausgehen zu wollen, zumal psychisches und
äußeres Scin in einer notwendigen Wechselwirkung stehen. Von einem
solehen Standpunkte zus erklärt sich der bei Liefmann so bedeutsame und
bei ihm doch an sich unergründet gebliebene Tatbestand des Ertrazes,
der als ein Mehr des Nutzens für ihn übrig bleibt, im Sinne des abstrakt-
quantitativen Resultats der zweckgestaltenden (gegebenenfalls „dis
ponierenden“) Arbeit des einzelnen Wirtschafters selbst. Die- Differenz
von Lust und Unlust ist ein bei Liefmann im Grunde noch nicht hinreichend
aufgeklärtes, aber doch auch vom Gesichtspunkte seines „psychischen“
Systems aus der Aufklärung bedürftiges Phänomen, das für unsere Auf-
fassung in diesem Sinne überhaupt fortgelacht werden muß.
die Arbeitsmühe auf Quantitätsbegriffe zurückzuführen, bedeutungslos seien, weil
er das Ziel der Wirtschaft nicht in Quantitäten, Produkten, sondern in Nutzen,
Lustgefühlen erkenne, und diesen die Kosten auch nur — ein an und für sich richtiger
Schlu8 — psychisch aufgefaßt gegenübergestellt werden könnten. Da Liefmann
aber selbst den Nutzen als Größenvorstellung bezeichnet und behandelt, also als
‘Quantitätsbegriff im abstrakten Sinne, so muß geradezu eine Zurückführung der
Arbeitsmühe auf eine im gleichen Sinne quantitative Vorstellung gefordert werden.
wie sie ja Liefmann in seinem, ebenfalls als Größenvorstellung gedachten Kosten-
begriff gibt, oder wie wir sie in dem hier formulierten Arbeitsbegriff besitzen. Vgl.
Liefmann a. a. O. J, S. 676 (Schlußsatz des Auszuges über den Exkurs über die
„Versuche, die Arbeitsmühe auf andere Kosten zurückzuführen‘),
Die sozialékonomisehe Kategorie des Wertes. 271
Folgerungen und Ausblicke.
Die formale sowohl wie die inhaltliche Seite des ökonomischen Wert-
begriffes hat sich gerade durch die Angriffe Cassels und Licfmanns für
uns wesentlich schärfer herausgearbeitet. In jenen Systemgebäuden, die
beide — das kann trotz mannigfacher Bedenken auch von dem viel-
kritisierten Liefmannschen Versuche gesagt werden — eine Vertiefung des
theoretischen Erkennens auf dem Gebiete der Sozialökonomik herbei-
geführt haben, sind die Voraussetzungen einer werttheoretischen Grund-
legung in dem hier dargelegten Sinne geradezu enthalten. Dennoch liegt
das Kriterium theoretischer Grundauffassungen nicht allein schon in der
logischen Konsequenz weniger Hauptbegriffe oder der Befriedigung des
erxenntnistheoretischen Bedürfnisses nach einer für sich besonderen Denk-
kategorie, sondarn auch und vor allem in ihrer Bewährung im Rahmen
des ganzen Systems. Der in den von uns gegebenen Definitionen zutage
tretende enge Zusammenhang der Begriffe der Wirtschaft, des wirtschaft-
lichen Gutes, des Wertes und der Arbeit, damit auch der Produktion,
zurleich die besondere Einfachheit, womit der Begriff des Wertes dem
Inhalte nach und damit die Wertentstehung in ihren Voraussetzungen
erklärt ist, diese Umstände mögen gegenüber den mannigfachen Wider-
sprüchen und Komplizierungen der gewöhnlichen ökonomischen Theorie
außerordentlich verlockend erscheinen. Die Schwierigkeit scheint ganz
in das richtige Erdenken jener für die Ökonomik typischen und singulären
Kategorie des Wertes verlegt zu sein. Statt der, beziehungsweise vor
den ihrem begrifflichen Wesen nach heterogenen Faktoren des Bodens
als einer in der „Statik“ gesehenen realen Sache, des Kapitals als eines
ebenfalls statischen, aber mit dem Index des Zwecks versehenen
Menschenwerks, der Arbeit als eines dynamischen, an sich nicht not-
wendig den Begriff des Zwecks enthaltenden Objekts, und diesen Vor-
stellungen gegenüberzestellt einer mehr oder weniger kempliziert und
differenziert gedachten Kategorie des Nutzens «der des Bedürfnisses,
finden wir den, durch den Begriff der Wirtschaft an sich schen gegebenen,
das wirtschaftliche Gut konstituierenden, vermöge des ökonomischen
Wertes als abstrakt-quantitativer Größenvorstellung denkbar gemachten
Begriff der Arbeit als zweckzestaltender, durch die Vorstellung des wirt-
schaftlichen Gutes der Anschauung zugänglich gemachter menschlicher
Tätigkeit. Das Gebäude der Okonomik ergibt sich dadurch als Neben-
einander- und Nacheinanderwirken verschiedener Arten von Arbeit in
272 Hero Moeller.
verschiedenen Graden, erkennbar aus dem richtigen Durchschauen ihrer
Resultate. Soziale Probleme reichen hiedurch wieder — im Gegensatz
zu den Lehren von Cassel und Liefmann — in die theoretische
Ökonomik hinein. Es entsteht die Frage nach dem Sichentsprechen von
Arbeit und Arbeitsresultat in der sozialen Wirtschaft, bei welcher, im
Gegensatz zur Einzel- oder Universalökonomik, das Arbeitsresultat in
seiner technischen und sonstigen Bestimmtheit nicht in einem einzigen
Wirtschaftskreise, das heißt im Rahmen der Wirtschaft eines einzelnen
Subjekts, verbleibt. Es muß untersucht werden, inwieweit das Gesetz,
welches die Wirtschaft als Ganzes überspannt, die Norm der Äquivalenz
zwischen ökonomischem Resultat und wahrcm ökonomischen Aufwand,
sich in der nationalen oder der individualistischen Einzelwirtschaft realisiert.
Weit entfernt, eine irgendwie „arithmetische“ Erkenntnis zu vermitteln,
ist das ökonomische Prinzip ein Wegweiser, an Hand dessen ein Urteil
über die wahre Ökonomie einer personellen Wirtschaft — im Gegensatz
zur Ökonomie cines technischen Vorgangs — gewonnen werden kann.
Überdeckt man das Bild der positiven Wirtschaft in ihren Resultaten
mit den uns vorschwebenden Begriffen des Wertes und der Arbeit, so
ist das, was man nunmehr vor Augen hat, etwas anderes. Wir sehen nicht
mehr die Gegenstände, die Mittel der Bedürfnisbefriedigung für bestimmte
Subjekte sind, in ihrem realen Sein, sondern wir schen in ihnen allen
Resultate einer sich in unendlichen, räumlichen und zeitlichen Ver-
schlingungen auswirkenden Vielheit zweckgerichteter, gestaltender, ver-
nunftbestimmter Tätigkeiten. Ebenso, wie wir das Ganze in seiner räum-
lichen und zeitlichen Unendlichkeit als rationale Gesamtleistung aller
vernunftbegabten Wesen erfassen, so vermögen wir die Wirtschaft eines
einzelnen Subjekts in räumlicher und zeitlicher Begrenztheit in ihrem.
der Bedürfnisbefriedigung dienenden Resultat zu erkennen und suchen,
wie in jenem Falle, in dem Resultat die Auswirkung rationaler Kräfte
zu schen und den Subjekten nachzuspüren, auf welche die geschaffene
„Form“ sich zurückführen läßt. Bei dieser Untersuchung werden wir
Tätigkeiten bemerken, deren Ziel die Herstellung eines Mittels der Be-
diirfnisbefricdigung war, die aber dieses Ziel nicht erreicht haben, sei es
überhaupt nicht, sei es nicht für das Subjekt jener Tätigkeiten. Aus
letzterem Falle ergibt sich das allgemeine scziale Problem der reinen
Ökonomik, sofern das, was für das Ganze ex definitione vorliegt, für den
Teil als Regel, als eina Regel oder vielmehr bloß als Richtschnur der Er-
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 273
kenntnis, als Grundlage eines Urteils gelten kann. Alle diese Erkenntnisse
haben zur Voraussetzung die logische Möglichkeit, die einzelnen Resultate
zu vergleichen; diese Möglichkeit ist dadurch gegeben, daß die Resultate
nicht in ihrer qualitativen Besonderheit erfaßt werden, sondern vor unserem
Auge erstehen als Gedankengrößen, deren Quantität bestimmt wird durch
den Grad subjektiver zweckgestaltender Kraft, den das reale Objekt
repräsentiert. Diese Abstrahierung vom Realen zur Gedankengröße und
damit die Kategorie des Wertes darf man vielleicht als das Apriori ökono-
mischer Erkenntnis bezeichnen.
Das hiemit Ausgesprochene erscheint kompliziert, ist aber im Grunde
nichts als die gedankliche Voraussetzung für jede schon vorhandene ökono-
mische Erkenntnis und leistet im wesentlichen nur den Dienst, jede weitere
Erkenntnis als solche bewußter und damit gegen sich selbst kritischer zu
machen. Das praktisch Neuartige ist die Auffassung der Wirtschaft als
eines Sichauswirkens des menschlichen verstandesmäßigen Überlegens,
gerichtet auf Gestaltung von Mitteln zur Befriedigung menschlicher Be-
dürfnisse und damit die Bildung eines inhaltlich weiten und doch fest-
umrissenen Begriffes der wirtschaftlichen Arbeit, der vielleicht einzigen
Fassung, in welcher die sogenannte Handarbeit sowohl wie die kompli-
zierte Tätigkeit eines „Wirtschaftsführers“ und damit alle subjektiven
Arten des Produzierens, Wirtschaftens, ihre ebenmäßige Aufnahme finden
und in welchem objektivistischer und subjektivistischer Wirtschafts-
theorie in ihren beiderseitigen Problemen hinreichend Rechnung getragen
ist. Aber selbst dieser Begriff der Arbeit liegt, wenn auch nicht in cinem
aufgebauten ökonomischen System, als Erkenntnis schon vor; denn so-
bald überhaupt Arveit im Rahmen ökonomischer Betrachtung nicht aus
ihrem physischen (oder psychischen) Tatbestande, sondern aus ihrem
Resultate, und dieses nieht in seiner physischen Erscheinung, sondern
gemäß dem Grade seiner Zweekmäßigkeit für ein Subjekt, zur Beurteilung
gelangt, ist sie bereits durch ihren rationalen Gehalt bestimmt.
Durch einen Überblick über die Hauptprobleme der theoretischen
Ökonomik unter der schon begründeten Beschränkung auf die Produktions-
theorie (im weitesten Sinne) versuchen wir festzustellen, ob eine solche
Auffassung im Rahmen eines theoretischen Systems sich zu bewähren Aus-
sicht hat, oder ob nicht unsere bestenfalls widerspruchslose Erklärung des
ökonomischen Wertes als „eeronnener“ rationaler Arbeit von vornherein
den Rahmen zu eng macht.
274 Hero Moeller.
Die viclumstrittene Zurechnungslehre hat ihre eigentliche Aufgabe
darin, die in der Wirtschaft nebeneinander wirkenden Kräfte in ihren
Arten zu erkennen und zu prüfen, in welchem Grade in der arbeitsteiligen
Wirtschaft für die einzelnen Arten der an der Wirtschaft Beteiligten ein
Resultat zustande kommt, das seinem Grade nach demjenigen Resultat
entspricht, welches durch diese Arten von Wirtschaftern selbst erzeugt
wurde. Der Sinn jeder Zurechnungslehre steht und fällt mit der Frage,
ob es ein einheitliches Prinzip gibt, nach welchem alle Arten von Wirt-
schaftern in gleicher Weise in ihrer Leistung beurteilt werden können,
mit denen man allen irgendwie als ökonomische Leistungen anzu-
sprechenden menschlichen Tätigkeiten mindestens theoretisch gerecht
werden kann, ist aber deshalb unabhängig von der Möglichkeit einer
„exakten“, etwa zahlenmäßigen Identifikation der empirischen Er-
scheinungen, weil jede tatsächliche Schätzung wirtschaftlicher Güter
durch ein Subjekt nur auf einer ungefähren, oft zufälligen Beurteilung
und Entschließung beruht.
Die Herknersche Forderung nach einer gründlicheren Untersuchung
von Wesen und Arten wirtschaftlicher Arbeit als Einheitserscheinung des
wirtschaftlichen Geschehens zu erfüllen, würde die nächstliegende Aufgabe
sein. Für unsere perspektivische Betrachtung, die nur auf die Bedeutung
des Grundbegriffes an sich gehen will, genügt ein Blick auf jene Kausal-
begriffe wirtschaftlichen Geschehens, die in der herrschenden Produktions-
faktorenlehre vorliegen, und soweit die sich ergebenden Probleme nicht
schon in den vorausgegangenen Untersuchungen über das Wesen des Arbeits-
begriffes geklärt werden konnten. Es handelt sich einmal um die Grund-
frage, inwiefern kann an die Stelle jedes der Produktionsfaktorenbegriffe
der Begriff der Arbeit in der hier definierten Bedeutung gesetzt werden —
ein Geschäft, das nach Lage der herrschenden Ansichten gegenüber der
Arbeit selbst und vor allem dem Kapital nur verhältnismäßig geringe
Schwierigkeiten bereiten kann — ferner um die Frage, ob auf Grund
einer solchen Umdeutung Veränderungen, und zwar klärender Art in
der Erkenntnis des Wesens der aus diesen „Faktoren“ sich ergebenden
Resultate eintreten müssen.
Wie bereits angedeutet, ist die Kombination der Begriffe Boden,
Kapital und Arbeit zur Erklärung einheitlicher Erscheinungen vom
Gesichtspunkte der Logik aus unbrauchbar. Dieser Umstand ist auch der
Grund, weshalb heute die Produktionsfaktorenlehre zumeist in keiner festen
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 275
inneren Bezichung zur übrigen Okonomik steht. Der Casselsche Versuch,
welcher an sich gerade von dem richtigen Bestreben nach einheitlicher
Begriffsbildung erfüllt ist, weist, wie wir sahen, und worauf auch von
Eulenburg in der erwähnten kritischen Auseinandersetzung hingewiesen
wird, infolge des bloßen Sichwiederanklammerns an die überkommene
Begriffswelt einen Riß auf, der das Werk in systematischer Hinsicht außer-
ordentlich entwerten mußte. An Versuchen, den zunächst gegenüber der
landläufig gegebenen Vorsteliung des Wirtschaftens heterogenen „Boden“
aus dem Rahmen der Produktionslehre zu eliminieren, hat cs nicht gefehlt.
Ricardos System ist allerdings wesentlich bestimmt durch das Problem
der Verteilung, das Wesen der Produktion brachte er in Gestalt seiner
Theorie des Arbeitswertes aus diesem Grunde auf eine einfache Formel.
Immerhin steht fest, daß seine Differentialrententheorie notwendig cine
Produktionstheorie voraussetzt, die den Boden als ,,wertbildenden‘
Produktionsfaktor ablehnt. Dieselbe Voraussetzung liegt überall da vor,
wo, wie es von den neueren Subjektivisten ziemlich allgemein gesagt werden
kann, an die Stelle eigentlicher Produktionstheorien Rententheorien
ireten.**) Gibt es aber eine Theorie des Bodens, welche sich dennoch ein-
einheitlich in eine allgemeine Produktionstheorie eingeordnet hätte? Die
Lehre Thünens ist im Sinne dieses Problems derjenigen Ricardos gleich,
die Einwendungen Careys sind ebenfalls für das Prinzip der Rente irre-
levant.*s) Seither gehen die verschiedenen Lehrmeinungen in Bezug auf
Boden und Bodenrente mehr dahin, den ersteren als Kapital, die letztere
als Kapitalzins aufzufassen, oder jedenfalls aus beiden wesentliche Elemente
herauszulösen, denen der kapitalsmäßige Charakter zukommt, wobei unter
Kapital das produzierte Produktionsmittel zu verstehen sein würde. Diese
Kapitalelemente sind gegeben einmal in der, eine immer wesentlichere
Voraussetzung des Bodenertrages bildenden Bodenbearbeitung, durch
94) Vgl. die treffende Bemerkung von O. Spann, Ilaupttheorien der Volks-
wirtschaftslehre, 4. Aufl., Leipzig 1918, S. 133: Die Grundrente im besonderen erscheint
jetzt nur als Sonderfall in der allgemeinen Preisbildung: nicht nur das letzte noch
in Anspruch zu nehmende Grundstück, auch der qualitativ letzte Arbeiter, die letzte
noch in Anspruch zu nehmende Maschine, das letzte Verfahren, die letzte Unter-
nehmung usf. bestimmt den Preis; überall entstehen Renten, nur sind sie viel kurz-
lebiger, beweglicher als die Grundrente.
»5) Vgl. K. v. Inama-Sternegg, Theorie des Grundbesitzes und der Grund-
lente in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. (Festschrift für Schmoller,
l. Teil, Nr. IV). Leipzig 1908, S. 25. nes
276 Hero Moeller.
Urbarmachung, Be- und. Entwässerung, Düngung, Ebnung, Wegebau,
beschaffte Werkzeuge und Maschinen usw. nach Maßgabe der neueren
agrikulturchemischen und agrikulturtechnischen Fortschritte, wobei ein
Teil dieser Maßnahmen auch dem Kostenfaktor Arbeit unmittelbar zu-
geschrieben werden kann, sodann durch die Analogie des Bodens als
Handelsobjekt oder Ursache eines regelmäßigen finanziellen Erfolges mit
dem Kapital im Sinne des Geldkapitals, durch welche Vorstellung allerdings
grundsätzlich nichts Neues hinzutritt, weil das Nominalkapital stets durch
Realkapital „erklärt“ werden muß. Es bleiben hienach im allgemeinen.
unter Berücksichtigung aller bedeutenderen neuern Grundrententhcorien.
drei scharf unterscheidbare Gesichtspunkte übrig, aus denen heraus ein
besonderer Produktionsfaktor Boden — von dem weiteren Begriff „Natur“
zunächst abgesehen — und ein spezieller Einkommenzweig Rente im Sinne
eines arbeitslosen Einkommens abgeleitet zu werden pflegt.%*) Zunächst
kann man annehmen, daß immer noch ein Rest der Mitwirkung der natür-
lichen Bodenkräfte als eines ‚freien Geschenkes der Natur“ nachweisbar
ist, wobei der Erlös dem Eigentümer zufällt. Oder aber, ein freies Geschenk
der Natur liegt nicht überall vor, sondern nur dort, wo relativ günstige
natürliche Produktionsumstände (Fruchtbarkeit und geographische Lage)
gegeben sind, wobei ein erhöhter Erlös allen, nur nicht den am ungünstigsten
produzierenden Eigentümern als eine nicht durch einen Produktions-
faktor, sondern durch die marktmäßige Preisbildung der Tauschwirt-
schaft erklärte Differentialrente zufällt. Schließlich aber ist die Annahme
möglich, daß auch eine relative, aber als solche noch reguläre Mitwirkung
der Natur nicht vorliegt, wohl aber eine vereinzelte, weniger durch natür-
liche als durch kultürliche Verhältnisse bedingte, die Natur als Produk-
tionsfaktor ausschließende Bevorzugung denkbar ist, wie sie beispielsweise
durch die Ausdehnung der Städte entsteht. Für die hier vorschwebende Er-
klärung der Produktion ist zunächst nur der allerdings selten vollständig auf-
gegebene Gesichtspunkt der freien Mitwirkung der Natur im ökonomischen
Resultat von Belang. Der reinste Fall der Grundrente ist nicht schon auf
Arbeit mittelbar reduziert, indem man den Boden ‘als freies Tauschgut
C
38) Als die wichtigsten der hier in Frage kommenden Theorien dürfen wohl
diejenigen von M. Wirth, G. Schmoller, Ad. Wagner, W. Lexis angesehen werden.
In dem Lehrbuche von E. v. Philippovich entbehrt die Grundrententheorie des ein-
heitlichen Aufbaues. Vgl. auch J. Esslen, Das Gesetz des abnehmenden Boden-
ertrages, München 1905.
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 277
behandelt und die geldmäßigen Kosten des Bodenerwerbes sonstigem
Kapital gleichstellt, da der ursprüngliche Eigentümer auf diese Weise
die etwaige Grundrente nur in anderer Form erhält. Auch ist der viel-
fache empirische Nachweis der arbeits- oder kapitalsmäßigen Aufwendungen
der Landwirtschaft theoretisch nicht so zwingend, wie eine reine Theorie
der Arbeit es erfordert. Dagegen ist augenscheinlich umgekchrt die anders-
artige Fassung des Begriffes der Arbeit imstande, von dem Produktions-
vorgange einmal nach rückwärts mehr zu erfassen, als es durch die herr-
schende Vorstellung von dem Inhalte dieses Begriffes möglich ist, andrer-
seits durch die Unabhangigkeit von dem bloßen, konkreten, äußeren Vor-
gange auch solche Tätigkeiten in sich aufzunehmen, deren subjektiver
Zweckgesichtspunkt nicht unmittelbar oder bewußt die Beschaffung von
Mitteln zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse war. Die Leistung
etwa, welche den Grundrentenempfanger des gewöhnlichen curcpäischen
Stils als solchen entstehen ließ, war — im reinsten Falle — vielleicht nicht
eine wirtschaftliche im gewöhnlichen Sprachgebrauch, sondern cine
politische, gemäß staatsrechtlichen (lehnsrechtlichen) Vorbedingungen
oder ständigen machtpolitischen Verpflichtungen. Nimmt man aber den
Fall der freien Bodenokkupation, so ist diese Okkupation selbst Arbeit
im wirtschaftlichen Sinne, eine Arbeit vor allem der Disposition, die mit
mehr oder weniger großem tatsächlichen Geschick vollführt, mehr oder
weniger erhebliche,. mehr oder weniger dauernde ökonomische Erfolge
nach sich zieht. Das Element des zufälligen, das heißt nicht nur unbewußt
erzielten, sondern normalerweise nicht berechenbaren Resultates,wird hiebei
in keiner grundsätzlich andern Weise vorliegen, als bei sonstigen Erschei-
nungen der Produktion. Das Seltenheitsproblem haut sich im Sinne der
Umwandlung des negativen Begriffes der Seltenheit in den positiven ihrer
Überwindung durch „Arbeit“ — die Okkupation des, wenn auch nur in
gewissem Sinne mehr als andere Objekte „beschränkt verfügbaren‘ Bodens,
enthält, zumal sie oft Generationen umspannt, ein bestimmtes Maß
richtigen, zweckmäßigen Tuns*?) — und zwar Arbeit aller Art, in die hier
gegebenen Begriffe ein, wie denn ja „Seltenlieit‘“ sowohl wie „Arbeit“
den Index des Zwecks, das teleologische Moment, in sich tragen. Nun liest
es allerdings nahe, daß auf dem Gebiete des Wirtschaftens mit „Boden“
das Zufallsmäßige seinem Grade nach eine größere Bedcutung gewinnt.
Es ist ja nicht notwendig, nicht zwingend so, daß das größere Maß des
”) Vel. die schon erwähnten Bemerkungen von H. Dietzel a. a. O. S. 246.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neuc Folge, 1. Band. 19
278 Hero Moeller.
Irrationalen im Objekt ein entsprechend gesteigertes Maß des Rationalen
in Subjekt zur Tat aufruft. Aber gerade hier darf der Begriff der Arbeit
sich nicht zu enge Grenzen setzen, wenn er nicht von vornherein das Ge-
samtbild des Wirtschaftens als einer quantitativen und qualitativen,
räumlichen und schließlich auch, und in sehr bedeutsamer Weise, zeit-
lichen Erstellung von Bedürfnisbefriedigungsmitteln verstümmeln soll.
Das spekulative Tun ist, ohne auf eine privatwirtschaftlich organisierte
Wirtschaft beschränkt zu sein, in dieser von konstitutiver Bedeutung.
Selbst etwa gegenüber den engeren Problemen der ‚„Bodenreform‘‘ muß
zunächst in der Theorie von diesem Gesichf&punkte ausgegangen werden,
sofern die rein theoretische Analyse nicht durch ein Überwiegen politischer
Zweckvorstellungen sogleich gestört und die eigentümliche ökonomische
Bedingtheit der Entstehung spekulativer privatwirtschaftlicher Erfolge
nicht mit dem umfassenden Blick, dessen die Theorie sich bedient oder
bedienen muß, verkannt werden soll. Ist hier das ökonomische Handeln
als cine Disposition gegenüber außerordentlich in ihrer relativen Bedeutung
schwankenden Objekten des Nutzens in die Hand beschränkt orientierter
Einzelwirtschafter gelegt, so muß der „Zufall“ eine außerordentliche Rolle
spielen und die ihm gegenüberstehende Überlegung in Intuition, bezic-
hungsweise in „Spekulation“ im Sinne der „Sorge“, des ,,Risikos‘* zer-
gleiten. Die Spekulationen des vorstädtischen Terrainbesitzers sind dem
Durchschnitte nach schwierige. Gerade dann, wenn ein Festhalten an
„billig“ erworbenem Besitz riesige Gewinne in kurzer Zeit erbrachte, mußte
die Versuchung eines vorzeitigen Verkaufs in jedem vorhergehenden Zeit-
punkte umso größer sein. Die obere Grenze des ,, Wertzuwachses“ entzieht
sich der Berechnung, zumal staatliche Eingriffe aus ökonomischen oder
sozialpolitischen Gründen, durch Enteignungen, Käufe und Verkäufe,
Steuern, Bauordnungen, oder hypothekarrechtliche Maßnahmen sowie
verkehrstechnischen Umwälzungen, ferner Konjunkturwandlungen, ,,Bau-
krisen“ usw. hier eine ganz besonders einschneidende Rolle spielen können,
und tatsächlich gespielt haben, so daß den riesigen Gewinnen riesenhafte
Verluste gegenüberstehen. Damit ist aber selbstverständlich ebensowenig
über die „Rechtmäßigkeit“ solcher Verteilungstatsachen (der juristischen
oder der ökononuschen Rechtmäßigkeit) gesagt, wie überhaupt das typisch
soziale Problem, wic es sich mit der Theorie des Bodens und der Grund-
rente überhaupt aufs engste verknüpft, in irgendeiner Richtung ent-
schieden, vielnicur nur angedeutet wird, daß nach Maßgabe eines richtig
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 279
verstandenen Begriffs des Wirtschaftens nur eine weitgefaßte Vorstellung
vom Wesen der Arbeit eine richtige, einheitliche Analyse der tatsächlichen
Vorgänge ermöglicht und daß universalwirtschaftlich sowohl wie einzel-
wirtschaftlich eine „Zurechnung‘“ irgendeines ökonomischen Erfolgsteiles
auf die Kräfte des Bodens als widersinnig erscheinen muß. Die natürlichen -
Kräfte des Bodens verlangen in der Okonomik grundsätzlich keine |
andere Erklärung, als etwa die mechanischen Kräfte der Natur überhaupt,
deren sich das Gewerbe, die Elektrizitätswirtschaft, die Wasserwirtschaft
usw. bedient, und nur das methodisch nicht richtige Ausgchen vom Inter-
essean Problemen der Verteilung kann den Blick für diese Grundtatsache,
die nicht durchweg, aber doch häufig verkannt, bezichungsweise deren
Erkenntnis in der praktischen Analyse nicht hinreichend realisiert wird,
trüben.
Die Theorie des Bodens dürfte in ihren hier noch nicht diskutierten
Teilen grundsätzlich mit derjenigen des Kapitals zusammenfallen. Da
das Kapital als Resultat wirtschaftlicher Tätigkeit seiner Entstehung nach
wiederum selbst durch die allgemeine Theorie der Produktion erklärt werden
muß, so ist diese Seite der Kapitalstheorie hier an sich nur von mittelbarem
Belang. Vielmehr liegt alles Gewicht bei der Erklärung des Kapitalertrages,
das heißt bei der Frage, in welchem Ausmaße der Kapitalertrag ein Arheits-
resultat darstellt oder darstellen kann. Hiebei muß für unsere Betrachtung
das Kapital als die Gesamtheit derjenigen Gegenstände angesehen werden,
die auf einer wirtschaftlichen Tätigkeit beruhen, aber im gegebenen Augen-
blicke den Zwcek haben, nicht se!bst als Mittel der menschlichen Bedürfnis-
befriedigung zu dienen, sondern bei der Herstellung solcher Mittel mit-
wwirken. Das Wesen der in diesen Gegenständen liegenden Arbeit, nach
lirer Wirkungsart und Bestimmung, ist demgemäß die Grundlage der
Erkenntnis einer reinen ökonomischen ‘Theorie des Kapitals. Der Ertrag muß
zunächst grundsätzlich ein Äquivalent in dieser Auswirkung des Kapitals
besitzen; es bedarf überall vorab der Feststellung, welehes Subjekt arbeits- |
mäbig übeıhaupt die Voraussetzung für die Möglichkeit des regelmäßigen
Kapitalertrages ist oder sein kann, und zwar dann ist, wenn bei dem-
jenigen, welcher das Kapital in einer Individualwirtschaft inne hat,
von aller nicht notwendig mit dieser Inhaberschaft verbundenen Tätigkeit
als Unternehmer oder dergl. abstrahiert wird. Es handelt sich für uns also
um die Wirkung des Kapitals an sich, weder um diejenige Leistung, durch
welche die richtige Auswahl der Produktionsmittel getroffen wird, noch um
280 : Hero Moeller.
die einmalige Tat der Zurverfügungstellung (Kapitaldispusition), eben-
sowenig kann die rein subjektivistische Erklärungsweise durch den
„dringenden“ Konsumbedarf und die Höherschätzung der Gegenwarts-
güter hier als befriedigende Erklärung in Frage kommen. Aber auch Sparen
und Warten als durch Negation bestimmte Kategorien, werden für die
„Produktivität“ des Kapitals, in welche das Problem kulminiert, nicht
als hinreichend, etwa mittelbare Ursache aufgefaßt werden können.**) Die
tiefste Einsicht in das ökonomische Wesen des Kapitals — unabhängig
davon, ob man, wie fast allgemein geschieht, die zugehörige Kapitalzins-
theorie ablehnen muß — ist unseres Erachtens bisher von Böhm-Bawerk
durch seine Theorie der Produktionsumwege vermittelt worden. Nach
dieser ist der größere Ertrag einer mit Kapitalgütern vor sich gehenden
Arbeit darauf zurückzuführen, daß es mehr Erfolg bringt, Gebrauchsgüter
auf Umwegen als unmittelbar zu erzielen. Daß Böhm-Bawerk diesen Satz,
den er selbst als eine der wichtigsten und grundlegenden Lehren der
gesamten Produktionstheorie bezeichnet hat, für seine Kapitalzinstheorie in
98) Die hier gezeichnete Fragstellung ist eine eng begrenzte und ergibt sich aus
dem inhaltlichen Problem des gegebenen Wertbegriffes. Auch darf hier nicht eine
besondere Kapitalstheorie gesucht werden wollen, vielmehr ist die Aufgabe beschränkt
auf die Deutung des vorhandenen Problems des Kapitals auf Grund der hier vor-
gelegten Begriffe. Die Darlegungen dieses Kapitels tragen, wie bereits erwähnt, nur
perspektivischen Charakter. E. v. Philippovich (a. a. O. I, 1918, S. 351—360) gibt
eine Darstellung, in der die wesentlichsten Gesichtspunkte der herrschenden Meinung
verarbeitet worden sind. Er bezeichnet seine eigene Lehre als Produktivitätstheorie
(S. 359), erklärt aber den Kapitalgewinn aus der Unternehmereigenschaft des Kapital-
besitzers (S. 358). Der Kapitalbesitz gebe erst die Möglichkeit zu einer Unternehmer-
stellung, zur Wahl der Produktionsrichtung und Produktionsmethode, zur Aus-
nutzung neuer Ideen technischer oder wirtschaftsorganisatorischer Natur. Für die
Eröffnung dieser Gelegenheit werde ein Preis gezahlt an denjenigen, der das Kapital
zur Ausnützung überläßt (S. 356). Die Steigerung der Genußgüterproduktion durch
Anwendung von Kapitalgütern über den Aufwand an Genußgütern für die Herstellung
der Kapitalgüter zeige die reelle Produktivität des Kapitals. Eine ökonomische
Erklärung für diese Produktivität gibt Philippovich nicht, er beschränkt sich vielmehr
darauf, sie als empirisch nachgewiesen zu bezeichnen (S. 355). Der in dem Philippovich-
schen Werke der gewöhnlichen Systematisierung entsprechende äußere Abstand
zwischen Produktions- und Verteilungstheorie ist auch ein innerer; bei ihm, wie viel-
fach, steht die letztere isoliert da. Jener Preis für die Eröffnung der Gelegenheit zur
Kapitalverwendung ist in seiner Höhe und regelmäßigen Wiederkehr doch eine recht
unbefriedigende Erklärung. Allerdings fußt Philippovich hier auf der gewöhnlichen
objektivistischen Vorstellung vom Wesen der Arbeit, worauf anläßlich der Erörterungen
zum Unternehmergewinn zurückzukommen ist.
a m m i es
[oe nn
In
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 281
der Weise verwertet, daß er den Proauktionsumweg zeitlich auffaßt und
nun dem Faktor der Zeit eine Bedeutung beimißt, die ihm vielleicht schon
aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht zukommen kann, ist für uns
von geringer Bedeutung; denn Böhm-Bawerk gibt der Lehre von den Produk-
timsumwegen auch eine ausdrückliche genetische, arbeitstheoretische
Begründung durch seine Ansicht, jeder Umweg bedeute die Anwerbung
einer Hilfskraft aus der Natur, die stärker und geschickter sei als die
Menschenhand, jede Verlängerung des Umweges sei eine Vermehrung der
Hilfskräfte, die in den Dienst des Menschen treten, eine Abwälzung eines
Teiles der Produktionslast von der sparsamen und kostspieligen Menschen-
arbeit auf die verschwenderisch dargebotenen Kräfte der Natur. Selbst-
verständlich wird die Arbeit der Herstellung des Kapitalgutes von Böhm-
Bawerk als Bestandteil des Produktionsvorganges angesehen.®») Wenn man
diese Vorstellung der Indienstnahme weiterer Naturkräfte durch den
Menschen als Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise schärfer
ins Auge faßt, so wird offensichtlich, daß der Benutzung immer feinerer,
immer weniger unmittelbar gegebener Naturkräfte eine um so feinere,
differenziertere menschliche Leistung korrespondiert. In der Böhm-
Bawerkschen Beweisführung, die in den hier genannten Sätzen logisch
vollständig wiedergegeben ist. liegt insofern ein Widerspruch, als auf der
einen Seite die Notwendigkeit einer wachsenden Anspannung menschlicher
Kräfte gegenüber der Natur vorausgesetzt, auf der andern Seite
augenomnien wird, die Natur biete ihre Kräfte verschwenderisch dar.
Das letztere ist zweifellos das nicht Richtige. Die Kräfte der Natur mögen
in Fülle „da“ sein, aber sie sind es nicht für den Menschen. Dieser muß
vielmehr seinen Verstand in langsamer, Jahrtausende umspannender
Schulung dahin bilden, diese Kräfte zu erkennen und im wachsenden Maße
m nutzen. Das gilt gegenüber der Kraft des Windes oder der Wärme des
Feuers grundsätzlich nicht anders als etwa gegenüber der elektrischen
Energie. Der Verstand ist es, der sich der Natur bemächtigt. Böhm-
Bawerk sagt: „Mit dem gleichen Aufwand an originären Produktivkräften
(Arbeit und wertvollen Naturkräften) kann man auf einem kluggewählten
(!) kapitalistischen Umwege mehr oder bessere Güter erzeugen, als man
auf dem Wege der direkten kapitallosen Produktion hätte erzeugen können.“
Dieser Satz steht der richtigen Erkenntnis des Sachverhaltes am nächsten:
99) A. a. O. S. 18 ff., S.88 und S. 86. Vgl. F. v. Wieser, Theorie d. ges. W.,
aa. O. S. 180,
22 Hero Moeller.
in ihm ist der Mensch in den Mittelpunkt gerückt und die geistige Leistung
zur Berücksichtigung gelangt. Aber der Autor hat diese Erkenntnis in
den logischen Konnex nicht aufgenommen, die „geistige“ Arbeit ist weder
als solche in seinem System hinreichend erfaßt, noch: von ihm in ihrer
unendlichen Differenziertheit beachtet worden. Im Begriffe der Arbeit
enthält jener Satz einen Widerspruch: jene „kluge“ Wahl, die nicht als
cin so einfacher Prozeß gelten kann, wie der Ausdruck ., Wahl“ es erscheinen
läßt, bedeutet selbst Arbeit, also originäre Produktivkraft, so daß die
gestellte Voraussetzung des gleichen Aufwandes im Satze selbst auf-
- gehoben wird.
Vergegenwärtigen wir uns zum richtigen Verständnis dieses augen-
scheinlich für die Kapitalstheorie höchst bedeutsamen Sachverhaltes das
Objekt der Wirtschaft in der zu Anfang dieses Kapitels vorgeführten
Abstraktion. Versuchen wir ein Produkt moderner kapitalistischer Wirtschaft
in gedanklicher Perspektive im weitesten Ausmaße auf menschliche zweck-
gerichtete Leistung zurückzuführen. Wir werden bemerken, daß seine Ent-
stehung nicht nur eine außerordentlich differenzierte gleichzeitige, sondern
- eine noch weit kompliziertere sukzessiv zeitliche Arbeitsteilung
. voraussetzt. Diese zeitliche ist nicht identisch mit der vertikalen ,,Arbeits-
teilung“ nach besonderen Erwerbszweigen, selbständigen Unternehmungen
oder technisch verschiedenen Prozessen, setzt vielmehr einen anderen
Arbeitsbegriff voraus, als den bei den gegebenen Theorien der Arheits-
teilung herkömmlicherweise benutzten.!ee) Unter zeitlicher Arbeitsteilung
verstehen wir die Tatsache, daß jedes kapitalistisch produzierte Gut bei
seiner Produktion der Mitwirkung einer Arbeitsleistung unterliegt, welche
dureh die Zweckform des produzierten Produktionsmittels zur Auswirkung
kommt. 101) Hiebei ist es gleichgültig, welche „Arbeitszeit“ auf die technische
Herstellung der Zweckform verwandt worden ist. Die Arbeitszeit ist eine
zweckmäßige Form der Entlohnungstechnik und dadurch ein bloß schein-
barer ökonomischer Bestimmungsgrund der Zweekbildung. 102) Die frühere
wc) Außer Ad. Smith vgl. K. Bücher (Entstehung) und B. Harms, W. d. V.
a. a. O. S. 124 ff., Hdw. d. St. III. Aufl., 1. Bd. S. 572 ff.
101) Wir lassen im Rahmen dieser Untersuchung offen, ob der Begriff der zeit-
lichen über den der kapitalistischen Produktion hinaus ausgedehnt werden sollte.
Es ist dies eine der Aufgaben einer reinen Theorie der Arbeit. Ebensowenig interessiert
uns hier das Problem des Erbrechtes. ale ops
102) Über den umgekehrten Standpunkt bei Marx vgl. F. Tönnies, Marx’
Leben und Lehre, Jena 1921. S. 91.
on
OT ge ge ee = e
ae eee
Die sozialdkonomische Kategorie des Wertes. 285
Leistung besteht nicht nur in der Herstellung des einzelnen Produktions-
mittels, sondern hat eine Idee oder eine Mannigfaltigkeit von menschlichen
- verstandesmäßig erzielten Erkenntnissen zur Voraussetzung, durch welche
eine Gedankenform entsteht, die in unendlicher räumlicher und in unend-
licher zeitlicher Verviclfachung ökonomische Resultate nach sich ziehen
kann. Die geistige Leistung ist in ihrer Bedeutung, wie wir schon darlegten,
nicht an ein Gesetz technischer Äquivalenz von Ursache und Wirkung gebun-
den, sie kann weder aus der ihr entsprechenden äußeren Mühe, noch aus ein-
zelnen ihrer unmittelbaren Resultate, sondern nur aus ihrer gesamten räum-
lichen und zeitlichen Auswirkung beurteilt, beziehungsweise vergleichend
als Leistung gemessen werden. Das Urbild ökonomischer Leistung ist nicht
die auf einem Mindestmaß von Uberlegung und methodischer Ausbildung
beruaende, sondern jene Arbeit, durch welche eine für Jahre, Jahrzehnte
oder Jahrhunderte brauchbare Zwcekform oder Zweckkombination kon-
struiert wurde. Der (wenigstens theoretisch vorstellbare) Erfinder eines
ganzen Werkzeuges wirkt bei jedem neuproduzierten gleichen Werkzeuge,
beziehungsweise bei jedem Erfolge vermöge jedes derartigen Werkzeuges
eleichzeitig mit.'es)Ähnliches gilt vom Organisator einerlangebestehenden
Arbeitskombination und von der Gesamtheit aller jener wirtschaftlich
Schaffenden, die im größeren oder geringeren Grade nicht einmalige,
sondern in Wiederholung sich auswirkende einmalig entstandene Leistungen
vollbringen. Die Zahl solcher Menschen ist in der modernen Wirtschaft
außerordentlich groß. Die Vervielfältigung der. Mitwirkung und die nur
schrittweise Entstehung jeder Zweckform vermindert jedoch diese Mit-
wirkung für das einzelne, konkrete Produktionsmittel und danach für das
einzelne mit diesem produzierte Mittel der Bedürfnisbefriedigung gegebenen-
falls bis zu einem Minimum. |
Hiedurch ist zugleich der Boden für eine entsprechende ökonomische
Kapitalertragstheoric geschaffen, wenigstens, soweit es sich um die all-
gemeine Erklärung des Kapitalertrages in der Wirtschaft handelt. Die
Kapitalertrags’keorien können von unserem Gesichtspunkte aus an-
gesehen werden als Versuche zur Lösung der Frage, welche ökonomischen
Umstände bewirken, daß in einem gesamten, abgeschlossenen Produktions-
verfahren diejenige Produktion, welche sich nicht direkt auf die Herstellung
von Mitteln zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse richtet, sondern
zunächst Hilfsmittel erstellt, vermögen deren solche Befriedigungsmitte]
ee ee
103) Vgl. O. Spann, Fundament, S. 94.
284 Hero Moeller.
geschaffen werden, alles in allem für den gleichen Effekt weniger Arbeit
(diesen Ausdruck im gewöhnlichen Sinne verstanden) erfordert oder um-
gekehrt mit der gleichen Arbeit ein größeres Resultat erzielt. Alle sozialen
Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Ursache
und dem Wesen des Kapitalertrages ergeben, 1°) bauen sich auf jenes Grund-
problem auf und versuchen, entweder eine Leistung des Kapitals an sich
anzunehmen, indem in ihm zum Beispiel eine Bändigung und Bereithaltung
sonst unbenutzter Naturkräfte lieve (Produktivitätstheorie, Lauderdale,
Böhm-Bawerk), oder sie erklären die Mehrschöpfung durch eine besondere,
neben der eigentlichen Arbeit einhergehende Leistung der Menschen, welche
das Kapital herstellen (Enthaltsamkeits- oder Abstinenztheorie gemäß
dem Genußaufschub, Senior!®>), Bastiat, Marshall), beziehungsweise als eine
Leistung derselben oder anderer Menschen während der Kapitalnutzung
(und dementsprechend während des Zinsgenusses), die die Menschen als
Besitzer des Kapitals vollführen (Kapitaldispositionstheorie, Say, Cassel;
Nichtverzehrungslehre, Courcelle-Séneuil) oder die die Menschen als Arbeiter
mittels des Kapitals leisten (Ausbeutungstheorie, Rodbertus, Marx 1°). Die
Agiotheorie Böhm-Bawerks ist selbst nicht als eine „ursächliche‘‘ Erklärung,
sondern als Versuch einer logisch und psychologisch vertieften Durch-
denkung (Veranschaulichung) des Sachverhaltes zu bezeichnen. Kon-
104) Vgl. dogmengeschichtlich außer der Darstellung durch Böhm-Bawerk all-
gemein besonders Gelesnoff (a. a. O. S. 524—548), Cassel (a. a. O. S. 153—165),
daneben auch Philippovich (a. a O. S. 359 f.), ferner speziell R. Wuttke, Die
Lehre vom Zins (aus Leihkapital) (Festschrift für Schmoller, 1. Teil, Nr. X), Leipzig
1908, welche Schrift allerdings schon an der Problemstellung krankt. Böhm-Bawerk stellt
die verschiedenen Arten von Theorien nebeneinander, ohne klar umrissene große
Gruppen zu bilden. Es mußte für ihn bei der Systematisierung nachteilig werden,
daß er infolge großer Peinlichkeit Anschauungen als Kapitalzinstheorien behandelte,
die den Namen einer Theorie nicht verdienen. Die obigen Unterschiede werden von
Böhm-Bawerk in der Darstellung nicht scharf hervorgehoben; vgl. u. a. dieschwankende
Definition der „Arbeitstheorien‘‘ (Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien.
2. Aufl., Innsbruck 1900, S. 354). Bei Oswalt scheint uns eine eigentliche Erklärung
des Kapitalertrages nicht vorzuliegen.
105) Vgl. Böhm-Bawerk, Geschichte, a. a. O. S. 329 f. Die Theorie von Courcelle-
Séneuil legt das Schwergewicht auf die Enthaltung des Kapitalbesitzers und ist
deshalb wohl nicht mit Böhm-Bawerk als eine etwas abweichend eingekleidcte Variante
der Seniorschen Enthaltungstheorie anzusehen (a. a. O. S. 360).
106) Vgl. neuerdings unter andern auch M. Hainisch, Eugen v. Böhm-Bawerk
und Emil Sax über den Kapitalzins(Zeitschr. f. Volksw.,Sozialpol. u. Verw., XXVI. Bd.,
S, 265).
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 285
zentriert gefaßt, liegt das Problem des Kapital: rtrages in folgender Gegen-
sätzlichkeit: den kontinuierlichen Erfolg kann man nicht aus einer ein-
maligen Leistung erklären, versucht man aber, ihn aus einer kontinuierlichen
Leistung zu erklären, so ergibt sich, daß diese kontinuierliche Leistung
auf der vorausgegangenen einmaligen beruht. Die Produktion mit Kapital
setzt voraus eine Produktion durch Kapital und diese eine Produktion
von Kapital; nach welchem einheitlichen Prinzip verteilt sich wirtschaft-
licherweise theoretisch der Erfolg? Jede Theorie, die nur die Produktion
mit Kapital oder die Produktion mit und durch Kapital erklärt, ist unvoll-
ständig; jede Kapitalertragstheorie bedarf einer ihr entsprechenden Kapitals-
theorie, das heißt einer Kapitalstheorie, in welcher das Kapital selbst nicht
eine technische, sondern eine ökonomische Kategorie darstellt.
In dieser Problemlinie kann gegenwärtig von einer „herrschenden“
Meinung nicht gesprochen werden. Am nächsten kommt der allgemeinen
Auffassung, soweit sie sich der Ausbeutungstheorie widersetzt, die Lehre
G. Cassels, zumal durch den Begriff der Abstinenz oder des Wartens
sowohl die Schaffung wie die Zurverfügungstellung, beziehungsweise Ver-
wertung des Kapitals, zwei an sich auch außerhalb der Tauschwirtschaft
von einander zu scheidende ökonomische Funktionen, bis zu einem gewissen
Grade erklärt werden könnten oder sollten. Unter Kapitaldisposition ver-
steht Cassel'e?) die durch Verzicht auf Konsumtion eines vorhandenen
Kapitals ermöglichte positive Verfügung über dieses Kapital auf Zeit. Die
Kapitaldisposition im Sinne der Zurverfügungstellung (im Sinne des
Angebots) bezeichnet Casscl als eine persönliche Leistung ganz besonderer
Art, die nicht wieder in andere Leistungen aufgelöst werden könne, sondern
„elementar“ sei und einen selbständigen Produktionsfaktor darstelle, der
der Arbeit ebenbürtig an die Seite gestellt werden müsse. Der Zins ist der
sich aus der Knappheit der Kapitaldisposition erklärende Preis für diese. t08)
„Die Kapitalisten beziehen einen Zins in der tatsächlichen Höhe, nicht
weil sie sich durch irgendwelche Machtmittel diesen Zins erzwingen, ja
nicht einmal, weil sie es wollen, sondern einfach deshalb, weil es cine wirt-
schaftliche Notwendigkeit ist, die Nachfrage nach Kapitaldisposition zu
beschränken, und weil diese Beschränkung nach den allgemeinen Prinzipien
der Preisbildung der Tauschwirtschaft nur dadurch durchgeführt werden
kann, daß auf die Kapitaldisposition ein hinreichend hoher Preis gesetzt
107) A. a. 0. S. 167.
108) A. a. 0. S. 171, 174,
ORG Hero Moeller.
- wird.“ 100) ` Die Casselsche Theorie gibt, wie aus diesen Sätzen bereits
- ersichtlich ist, auf unsere Problemstellung keine Antwort. Die von
uns gewählte Klassifizierung der Theorien läßt vermuten, daß Marshall
die Produktion von Kapital in der Lehre von der Ursache des Ertrages
mitberücksichtigt. Allerdings geht seine Theorie wesentlich von dem
Begriff des ,,Wartens“ aus, der, wie Cassel richtig erkennt, 110) eine bloß
negative Kategorie darstellt, welcher er selbst die positive der ., Kapital-
disposition“ entgegensetzt. Das,, waiting geht, wieangedeutet, aber inhaltlich
weiter, indem in ihm auch die Kapitalentstehung ihre Erklärung finden soll.
"Da aber nur der „warten“ kann, der schon Kapital, zum mindesten
„umlaufendes“, vom gesamtwirtschaftlichen Standpunkte aus betrachtet,
besitzt, so ist eine letzte Zurückführung auf diesem Wege kaum möglich.
Doch sieht Marshall die grundlegenden Ursachen des Kapitalertrages in
Wahrheit nicht schon in der negativen Funktion des Wartens, sondern
in der ,,prospectiveness und „productiveness“ des Kapitals, wovon der
letztere Begriff eine technische, der erstere insofern eine ökonomische
- Kategorie darstellt, als dadurch derjenige „Akt der Voraussicht“ bezeichnet
werden soll, welcher nötig ist, um Kapital zu bilden. 1:) Marshall sagt:
‘Men must act prospectively, und charakterisiert damit eine Funktion, die
nach unserer Begriffsbestimmung als Arbeit im gewöhnlichen wirtschaft-
lichen Sinne bezeichnet werden muß.'':) Diese Funktion muß, mehr als cs
bei Marshall bereits geschehen ist, zur richtigen Erklärung des Kapital-
-zinses — nicht nur zur Erklärung der Kanitalsbildung — schärfer ins
' Auge gefaßt werden. Der kontinuierliche Kapitalzins kann nicht restlos
auf die gleichzeitige Kapitaldisposition zurückgeführt werden, sondern
beruht zugleich zu einem gewissen Teile auf der Eigentümlichkeit der
kapitalschaffenden wirtschaftlichen Arbeit selbst.
Zum Behufe dieser Erkenntnis ist es selbstredend notwendig, sich von der
Vorstellung einer Abhängigkeit des Produktwertes von der Arbeit als be-
stimmt erfaßbarer äußerer Tätigkeit oder als selbständigem Werte zu be-
freien. Arbeit bedeutet nichts als die aus dem Resultat ableitbare, auf Sub-
jekte bezogene Funktion, vermöge welcher etwas Zweckmäßiges geschaffen
wird. Nun kann von vornherein die rationale Überlegung darauf gerichtet sein.
109) A. a. O. S. 210 £.
110) A. a. O. S. 167.
111) Vgl. Böhm-Bawerk, Geschichte, a. a. O. S. 621.
2) A. a. O. S. 117, 127. Das englische Original lag uns leider nicht vor,
we ~ = 7 - r
ee ee ren, Le
-7-a
Die sozialökonomisehe Kategorie des Wertes. 281
nicht ein, in einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort (das heißt
für ein bestimmtes Subjekt) veıfügbares Objekt zu erstellen, sie kann
vielmehr — für die marktmäßige Produktion — auf den bestimmten
einzelnen „Ort“ verzichten, sie vermag darüber hinaus — in der typisch
kapitalistischen Produktion — eine bestimmte einzelne Zeit auszuschalten
und darauf auszugehen, viele Gegenstände der gleichen Art für verschiedene
Zeiten, für eine Zeitfolge, einen Zeitraum, zu schaffen, oder, bei engerer
Beorenzung des Ziels, ein Mittel herzustellen, vermöge dessen für einen
eewisson Zeitraum eine Schaffung vieler, ein Bedürfnis innerhalb dieses
Zeitraumes befriedigender Gegenstände stattfinden kann. Die ökonomische
Überlerung ist hier von vornherein eine weit umfassendere, sie muß ein
frrnlierendes Bedürfnis ahnen, sie muß ein großes Maß derartiger Bedürf-
nisse in Rechnung ziehen. Die Erstellung von Kapital — dieser Begriff
in der vorher skizzierten weiteren Fassung — ist also nicht, etwa mit
Cassel, durch die Arbeit im gewöhnlichen Sinne, welche zur Herstellung
des zu produzierenden Produktionsnüttels erforderlich ist, bereits erklärt,
sondern das „Kapital“ ist selbst erst, seinem Werte nach, durch den Grad
simer Zweckgerichtctheit bestimmt, und dieser Grad setzt eine weit
unfassendere rationale Tätiekeit voraus. Da diese Tätigkeit jede Möglich-
keit der. Nutzung des produzierten Produktionsmittels thsoretisch in
Erwägung ziehen und hiehei „richtig“ verfahren muß, so liegt in jedem
vermöge dieses Produktionsinittels erzielten einzelnen Erfolg ein Stück
jener wirtschaftlichen Arbeit objektiv verbergen. Dieser Gehalt ist dem-
scmäß grundsätzlich ven der Funktion der Kapitaldispositicn zu scheiden.
Der theoretische Kapitalzins erfordert seine Sondierung und Auflösung in
die hieraus zu fulgernden Bestandteile. Dabei ist der Anteil der hier
skizzierten kapitalistisch-rationalen Arbeit augenscheinlich der alleinige
„eigentliche“ Kapitalertrag,‘ die Disposition als gleichzeitige Funktion
stellt an sich eine Abart der normalen gleichzeitigen Arbeit dar, deren
Begriff in der hier gewählten Fassung die Disposition als typische,
zweckgerichtete ökonomische Tätigkeit notwendig einschließt. Auf dieser
Grundlage ist ein umfassenderer ökonomischer Aufbau einer Kapitalzins-
theorie jedenfalls möglich.
Es folet bereits aus dem hier Dargelesten, daß e eine klare Scheidung
zwischen den Erträgen aus Kapital und Arbeit auf der einen und der Funk-
tion des Unternehmens auf der andern Seite stattfinden muß. Die öko-
nomische Theorie weist in wenigen Begriffen eine solche Verschwommen-
288 Hero Moeller.
heit auf, wie in demjenigen des Unternehmergewinnes und Unternehner-
einkommens. 113) Entweder wird das Unternehmercinkommen als notwendig
mit dem Kapitalbesitz verknüpft angesehen, so daß der Unternehmer als
Subjekt Kapitalzins bezieht; dann ist er in dieser Hinsicht nicht Unter-
nchmer, sondern Kapitalist (Smith, Ricardo, Rodbertus, Pierstorff).
Oder der Unternchmer leistet eine Arbeit besonderer Art, für welche er
cinen Lohn erhält, wenn auch dieser Lohn nicht in der gewöhnlichen Form
der Entlohnung zur Vergütung komnit; dann ist der Unternehmer insofern
eine Art von Arbeiter im weiteren Sinne und der Unternehmergewin
wesentlich eine Form des Arbeitslohnes, besser Arbeitserlöses (Say,
Roscher, Hildebrandt, Brentano). Schließlich aber ist Unternehmer-
gewinn denkbar, welcher weder als Zins noch als Lohn angesprochen werden
kann, sondern eine selbständige Kategorie darstellt (Thünen, v. Man-
goldt, Groß, Mataja, Ad. Wagner).!'*) Da die hier gewählten Begriffe
der Arbeit und des Kapitals die gegebenenfalls für den Unternehmer als
Kapitalist oder Arbeiter in Anspruch genommenen Funktionen einschließen,
und zwar in dem Sinne, daß der sogenannte Unternehmer cine bestimmte
typisch ökonomische Leistung vollbringt (Unternchmerarbeit), welcher
theoretisch ein Arbeitsresultat gegenüberstehen muß, so bleibt nur zu
113) Charakteristisch hiefür sind die widerspruchsvollen Darlegungen von
Philippovich (Grundriß I, S. 142f. und 343 ff.), von H. Oswalt, Vorträge über
wirtschaftliche Grundbegriffe, 3. Aufl., Jena 1920, S. 133 ff. und von Wirminghaus
(Artikel Unternehmen, Unternehmergewinn im Wörterbuch der Volkswirtschaft.
3. Aufl., 2. Bd., S. 1109f.). Das Auseinanderklaffen von Produktions- und Ver-
teilungslehre ist hier besonders auffällig.
11%) Die kombinierten Theorien (Rau) können hier unbeachtet bleiben. Böhm-
Bawerk (Geschichte und Kritik, S. 9 ff.), lehnt das Problem für sich ab, da es seine
eigene Fragstellung zu sehr kompliziere und nicht von großer tatsächlicher Bedeutung
für die Kapitalzinstheorie sei. In seiner Positiven Theorie (3. Aufl., S. 502) entscheidet
er sich dahin, daB Unternehmer diejenigen seien, die Güter entfernterer Ordnung
(Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Bodennutzungen) und Arbeitsleistungen ein-
kaufen und in Güter erster Ordnung, in genußreife Produkte ‚„umsetzen‘‘. Dabei
falle für sie abgesehen von einer eventuellen Arbeitsvergütung als Produktionsleiter
usw. ein im Verhältnis zur Größe des ,,investierten Geschäftskapitals stehender
Wertgewinn‘ ab, der.,,urspriinglicher Kapitalzins‘‘ oder „Profit“ genannt werde. Wir
haben hier den Fall einer kombinierten Auffassung, die im übrigen aber im System
Böhm-Bawerks isoliert dasteht und unter den verschwommenen Begriff des „Um-
setzens sowie der Ungeklärtheit des Grundes des „dabei abfallenden Profits”
leidet. Die allzu enge problematische Einstellung Böhm-Bawerks läßt bier cine
Lücke seines Systems offenkundig werden,
Die sozialdkonomisehe Kategorie des Wertes. 289
prüfen, ob aus der Lehre eines Unternehmergewinnes im engeren Sinne
sieh ein Widerspruch ergibt, das heißt ob typische Unternehmerfunktionen
nachgewiesen werden können, deren Einordnung auch unter einen weit-
gefaßten Begriff der Arbeit nicht möglich ist. Im allgemeinen werden als
Voraussetzungen des reinen Unternehmergewinnes die leitende und organi-
sierende Tätigkeit und die Übernahme des „Risikos“ angesehen.'') Man-
goldt analysiert eine Reihe von „Funktionen“ des Untcrnchmers, kommt
aber doch zu dem Schluß, daß der Unternehmergewinn weder auf Nutzungen,
die zum Zwecke der Produktion dargebracht seien, noch auf Arbeiten beruhe,
sondern auf „Unannehmlichkeiten und Sorgen“, und daher keine Abart des
Zinscs oder des Lohnes sei, sondern eine eigene Hauptart des Einkommens.
darstelle.11*) Demgegenüber ist nicht schwer zu erweisen, daß jenen Emp-
findungen der „Unlust“ ebenso wie der schon früher erwähnten Übernahme
des Risikos — also negativen Funktionen — positive Tätigkeiten der Über-
leeung melır oder weniger ,,bewuBter Art entsprechen, für die jene
Empfindungen der Verantwortung oder Gefahr nur das Widerspiel sind.
Die extremste Ansicht ist diejenige von A. Körner '!”), wonach das Unter-
nchnen das Veimittlungsamt zwischen den erzeugenden Kräften unter-
einander, zwischen den erzeugenden Kräften und der Güterverzehrung,
das Bindeglied zwischen Produktion und Konsumtion, und der Unter-
nchmergewinn der „Sold“ für dieses volkswirtschaftliche Vermittlungs-
amt sei, während Gefahrersatz, Versicherungsprämie, Talentrente, Leiter-
besoldung usw. auf das Konto der drei Einkommensteile Zins, Rente und
Lohn gesetzt werden müßten. Körner meint. der Unternehmer brauche
in keiner Weise, weder physisch noch geistig, tätig zu sein, nur hielten scin
Name und seine Person das Unternehmen zusammen.'!*) Dieser Versuch,
115) Vgl. v. Mangoldt. Die Lehre vom Unternehmergewinn, Leipzig 1855. —
Derseibe, Volkswirtschaftslehre, Berlin 1868, L. Pohle, der Unternehmerstand
(Vorträge der Gelie-Stiftung, Bd. 3), Leipzig 1911, auch J. Pierstorff, Artikel Unter-
nehmer und Unternehmergewinn im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 3. Aufl.,
8. Bd., S. 96 ff., sowie die Dogmengeschichte von Chr. Eekert, Unternehmcrein-
kommen (Festschrift für Schmoller, 1. Teil, Nr. 9), Leipzig 1908.
118) Volkswirtschaftsichre, S. 448.
11?) Unternehmen wnd Unternehmergewinn, Wien 1893, S. 50, 66 ff. Körner
stützt sich vielfach auf V. Mataja. Bei allen anderen Auffassungen läßt sich der
reine Unternehmergewinn als Erlös einer höheren Art von Arbeit im ‚weiteren Sinne -
bestimmen. Mit Entechiedenheit hat sich auch C. Menger zu dieser Ansioht bekannt
(a. a. 0. S. 149). i
118) A. a. 0. S. 38,
290 ` Hero Moeller.
schließlich alles Dynamische vom Unternehmer loszulösen, scheitert indessen
selbst bei Körner an der Tatsache, daß der Unternehmer stets durgh seine
Funktionen als solcher bestimmt sein muß. '°) Nun werden allerdings die:e |
Versuche, ein besonderes Unternehmereinkommen festzustellen, vielfach
nicht durch die verfeinerte Analyse ökonomischer Funktionen hervor-'
gerufen, sondern durch das Bestreben, das ‚Mehr‘ des wirtschaftlichen
Ertrages gegenüber dem Aufwand auf einen Faktor zurückzuführen, den
Überschuß des Einkommens einer Kategorie von Wirtschaftern zuzu-
schreiben, bei welchen Unabhängigkeit von einer bestimmten Leistung
gegeben ist. Das Räsonnement lautet im allgemeinen so, daß nach Ver-
gütung der Löhne und Zinsen im weitesten Sinne doch noch ein „Rest“
übrig bleibe, der, wenigstens in der Individualwirtschaft, dem Unter-
nehmer schlechthin zufalle.':°) Nun ist die Idee der Vergleichung eines für
sich bestehenden Aufwands mit einem Resultat, -in der Art, wie sie dieser
Vorstellung (und auch der marxistischen Arbeitstheorie) zugrunde liegt,
nach unserer Auffassung sinnwidrig, die Gleichheit beruht vielmehr nur
auf der inhaltlich logischen Identität in den Begriffen von Arbeit und
Wert, so daß die Notwendigkeit, ein Überschußeinkommen anzunehmen,
oder einen „Überschuß an Werten“ zu erklären, entfällt. Das allgemein-
wirtschaftliche Mehr der Produktion über die Konsumtion ist jedenfalls durch
das Wesen der Arbeit, durch ihre Freiheit von dem bloßen Quantum an
Materie und von derZahl derMenschen von vornherein bedingt, beziehungs-
weise insofern möglich.
Wenn wir sagen, aller ökonomischer Wert, alles ökonomische Resultat hat
als alleinigen, umfassenden Bestimmungsgrund die Arbeit, sofern nur der Be-
griff der Arbeit genügend weit gefaßt und nicht technisch, sondern ökono-
misch begrenzt.wird, und sofern der Begriff des Ökunomischen, der Wirtschaft,
in einem Sinne gefaßt wird, welcher der hier formulierten Definition ent-
spricht, so ist damit die äußerste Grundlage, wenn auch nur diese, für eine
119) Die hier für das Problem des Unlemnehmerzewinnes als einer Art von Arbeits-
erlös angenommene Auffassung hat ihr Widerspiel in der Ansicht L. Brentanos |
(Der Unternehmer, Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 225, Berlin 1907), der auch
den gewöhnlichen Arbeiter als Unternehmer bezeichnet, indem der Arbeiter über seine
Körperkraft disponiere, so daß nur ein gradweiser, nicht ein artlicher Unterschied .
‘zwischen ihm und dem Unternehmer übrig bleibe.
120) Zum Beispiel Philippovich, a. a. O. S. 346, v. Wieser, Theorie,.S.373 ff.,
Ad. Wagner, Theoretische Sozialikonomik, Leipzig 1907, S. 355. Der privatwirt-
schaftliche Gesichtspunkt der Bilanzierung bewirkt vielfach diese Behandlungsart.
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 291
theoretische Bestimmung des Arbeitsertrages in der Individualwirt-
schaft bereits gegeben. Dieses Prinzip enthält in sich jedoch zweierlei,
aus ihm selbst nicht erklärte, aus dem Verhältnis zur Erfahrung sich er-
gebende Probleme. Wenn man sagt, daß aller Wert auf Arbeit be-.
ruhe, so bleibt die Frage übrig, wodurch die Arbeit überhaupt und.
damit zugleich für den einzelnen selbst bedingt wird. Erklärt man,
daß aus der Arbeit der ökonomische Wert erwachse, so kann man fragen, .
ob dieses Resultat den Tatsachen nach in Verknüpfung mit demjenigen
Subjekt verbleibt, welches die Arbeit leistet. Eine ökonomische Theorie
kann nicht existieren, ohne daß das Gedankengebäude der reinen Ökonomik
rückwärtig mit der Gesamtheit der äußeren, physischen und kulturellen
Erscheinungen als Voraussetzung für die Existenz einer Wirtschaft ver-.
knüpft wird. Es ist damit nicht gesagt, daß jene unbedingte Beziehung,
welehe wir für das Verhältnis von ökonomischer Arbeit und ökenoniischem
Resultat aus einer freien Begriffsbilaung, aus der Erfassung eines einheit-
lichen Wesens aller Wirtschaft heraus, festgestellt haben, sich rückwärtig
fortführen läßt. Wir verlassen vielmehr das Gebiet einer in solchem Sinne .
„exakten“ Erkenntnis, wenn wir etwa erklären, daß alle ökonomische
Arbeit einerseits die Existenz von Menschen, andrerseits diejenige von `
Gegenständen, welche außerhalb der Welt der Wirtschaft stehen, zur
Voraussetzung habe. Selbst dann, wenn wir diese Voraussetzungen auf
Qualität und Quantität genauer definieren, wenn wir sagen, daß in einem
sewissen Zeitpunkte Menschen einer bestimmten intellektuellen und körper-
lichen Verfassung Objekten einer bestimmten Art und Menge gegenüber-
stehen, so ist damit das Quantum möglicher ökonomischer Leistungen
nicht bestimmt. Wir können mit Smith, wenn auch in einem etwas anderen
Sinne, Arbeit als die alleinige Quelle alles Reichtums bezeichnen, und
Bedingungen aufführen, auf Grund deren diese Quelle zu fließen in der
Lage ist, ohne doch aus diesen Bedingungen die Arbeit als notwendiges
Resultat abzuleiten. Statt cincr Lehre von den Produktionsfaktoren
brauchen wir also eigentlich eine ausgebaute Lehre von den Entwicklungs- —
bedingungen ökonomischer Arbeit, bei welcher diese Arbeit nicht selbst Teil
der Betrachtung ist, welche aber in der Fülle und Differenziertheit der von
ihr behandelten Erscheinungen die Produktionsfaktorenlehre wesentlich
übertrifft.'2')
121) Der Gedanke, daß es zwei „Schichten“ von Erscheinungen geben muß, .
aus denen das ökonomische Resultat zu erklären ist, scheint bei Philippovich zugrunde _
999 Hero Moeller.
In den kultureilen Teil der Lehre von den Voraussetzungen der
Ökonomik gehört naturgemäß eine Lehre von den Bedürfnissen hinein. +?)
Die Wirtschaft, die es, wie auch Spann in unwiderleglicher Weise dargetan
hat, mit den „Mitteln“ zu tun hat, tritt: mitten in das Gebilde von Natur
und Kultur und formt das Bestehende vermöge der „Arbeit“ nach den
sich aus.den Bedürfnissen ergebenden gegenständlichen Zielen um. Dieses
Bestehende liegt also zum Teil außerhalb des engeren wirtschaftlichen
Bereiches, so daß über die Beschränktheit einer Möglichkeit, zu arbeiten
und Arbeitsresultate zu erlangen, in der ökonomischen Theorie im engeren
Sinne selbst niehts ausgesagt werden kann; sie ist wesentlich durch die
außerökonomischen Voraussetzungen der Wirtschaft bedingt und damit
zwingenden ökonomischen Begriffsbildungen nicht unterworfen. 124) Zugleich
zu liegen, der, wie schon erwähnt, Produktionselemente (Natur, Arbeit) und Pro-
duktionsfaktoren (Boden, Kapital, Arbeit) zu scheiden versucht. Beide Arten von
Voraussetzungen sind jedoch von ihm weder an sich in ihrer Bedeutung einheitlich
bestimmt, noch in ihrem Verhältnis zueinander klar erkannt worden. Philippovich
sendet seiner Lehre über die Produktion eine solche über die Entwicklungsbedingungen
der Volkswirtschaft voraus, die jedoch gewisse zentrale Probleme der eigentlichen
Ökonomik, wie die Arbeitsteilung schon behandelt, während sie wesentliche kulturelle
Voraussetzungen politischer, rechtlicher und sozialer Art unberücksichtigt läßt.
122) Deren Erkenntnisse können heute in keiner ökonomischen Theorie vermißt
werden. Problematisch ist nur die Position, die ihnen im Rahmen einer solchen
Theorie einger&umt werden muß.
123) Die materialistische Geschichtsauffassung arbeitet selbst auch mit in diesem
Sinne außerökonomischen Voraussetzungen der Wirtschaft als letzten Bestimmungs-
gründen des kulturellen Geschehens, vermischt damit aber vielfach Beziehungsgesetze
aus dem Gebiet der Ökonomik, die in der formulierten begrifflichen Notwendigkeit
eine empirisch-allgemeine Folgerung gar nicht ergeben können. Im Verhältnis zur
marxistischen Lohntheorie, die durch Darlegungen im 3. Bande des „Kapitals“ in
Richtung auf einen unserer Definition entsprechenden Arbeitsbegriff ergänzt erscheint,
ist hier nur zu wiederholen, daß der ‚„‚Wert‘‘ der Arbeit, beziehungsweise der Arbeits-
kraft für uns nicht aus den Kosten ihrer Hervorbringung, sondern aus ihrem letzten
Resultat erkannt wird, das heißt, daB Tätigkeit überhaupt nur soweit Arbeit darstellt.
wie eine Wirkung auf die letzten ökonomischen Zwecke gegeben ist ; daß sich aus einem
derartigen Grundsatz eine bestimmte Lohnhöhe im einzelnen konkreten Fall nicht
feststellen läßt, versteht sich für diese, aber auch für fast jede andere Lohntheorie von
selbst. Vgl. L. Bernhard, Der Arbeitslohn (Festschrift für Schmoller, 1. Bd., Nr. 11,
passim). Bezüglich der Idee einer Begrenzung der volkswirtschaftlich insgesamt
möglichen Lohnmenge im Sinne einer mehr oder weniger strengen Lohnfondstheorie ist
die Unmöglichkeit einer isolierten Betrachtung der Handarbeit von Bedeutung.
Die Grenzen des Arbeitserlöses sind durch diejenigen der Arbeitsmöglichkeit und
Die sozialökonomische Kategorie des Werter. 293
enthält das Problem der Vermehrung der „Werte“, der Produktivität der
Wirtschaft nichts Verwunderliches. Das ökonomische Geschehen ist ein
Sichauswirken der Menschen an Objekten, sie nach Zweckgesichtspunkten
wandelnd, fortwährend umgestaltend. das heißt dauernd auf die selbst
immer sich wandelnden Bedürfnisse hin verändernd. Die ökonomische
Wirksamkeit ist nur in Bezug auf einzelne Voraussetzungen an physische
Fesseln gebunden.
Das für uns bedeutsamere Problem des Arbeitsertrages ist erst durch die
gekennzeichnete zweite Frage gegeben. Inwiefern wird der dem Arbeits-
produkt in natura oder seinem ökonoinischen Werte entsprechende ,,natiir-
liche‘ Arbeitslohn, welcher für die Universalwirtschaft so selbstverstandlich
ist, wie für einen Robinson, und der für alle Ökonomie, für alle Arbeit
gleichmäßig Geltung haben kann, tatsächlich erzielt, bezichungsweise durch
welche Einflüsse wird der Arbeitsertrag dem, der die Arbeit geleistet hat,
nieht zugeführt? Für die hier vorliegenden Untersuchungen ergibt sich
hieraus nur die Aufgabe, das bisher noch nicht hinreichend gekennzeichnete
Verhältnis des Gesagten zur Erfahrung theoretisch festzustellen.
Es dürften sich zwei Mögliehkeiten für die Bestimmung der Bedeutung
emer in dem hier dargelegten Sinne auszubauenden „Arbeitswerttheorie“
diese durch die umfassendsten Bedingungen aller Wirtschaft gegeben. Unter ihnen
ist die beschränkte Schnelligkeit jeder geistigen (zum Beispiel technisch-wissen-
schaftlichen) Entwicklung von besonderer, relativ weniger beachteter Bedeutung.
In sozialer Hinsicht bedarf es vielleicht. der genaueren Betrachtung der Tatsache, daß
der sogenannte Handarbeitende, sobald eine zweckgerichtete Fachausbildung durch
Schule oder Übung vorliegt, selbst Disposition über vorgetane Arbeit hat. Wenn end-
lich Böhm-Bawerk sagt, daß der Arbeitslohn hinter dem Betrage des zukünftigen
Arbeitsproduktes zurückbleibe, und diese Tatsache aus dem Mehrwert der Gegenwarts-
güter infolge der Produktivität des Kapitals ableitet (Pos. Theorie, S. 617 ff.), so läßt
sich umgekehrt der Tatbestand rein theoretisch auch so erklären, daß der Arbeitslohn
dem Arbeitsprodukt entspricht, jedoch das dort ins Auge gefaßte Resultat nicht das
ausschließliche Produkt der Leistung derjenigen Arbeiter darstellt, welche den ge-
dachten Lohn erhielten. Es versteht sich nach der Problemstellung für diese Unter-
suchungen von selbst, daß hier die Aufstellung einer neuen Lohntheorie nicht in
Frage kommen kann. Deshalb unterbleibt für uns auch eine eingehendere Ausein-
andersetzung mit marxistischen Theorien. Auch die hier nicht unbedeutsamen
Äußerungen von Schumpeter in seinem „Wesen und Hauptinhalt‘ verlangen eine
detailliertere Auseinandersetzung. Trotz einer verfeinerten Auffassung vom Wesen
der Arbeit klammert sich noch R. Wilbrandt (Ökonomie, Tübingen 1920, S. 46
passim) an die Begriffe einer „Produktivität“ der Arbeit und die Vorstellung von
„Arbeitsmengen‘“, um die Leistung zu erklären und zu errechnen.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 2)
294 Hero Moeller. .
ergeben. Entweder sagt man, jede tatsächliche, letzte „Bewertung“ eines
Bedürfnisbefriedigungsmittels, das heißt seine Erfassung als ökonomisches
Objekt, als „Gut“, ist ex definitione als die Bestimmung des Maßes der in
ihm enthaltenen zweckgerichteten Arbeit zu bezeichnen; die tatsächliche
Schätzung, unabhängig von ihrem Grunde, ist als positive Feststellung
des ökonomischen Resultats das Entscheidende. Jede tatsächliche, in
einem vorhergehenden, nicht ökonomisch letzten, unfertigen Stadium
vorgenommene Schätzung gäbe sogar das bestimmende Urteil über die
geleistete Arbeit. Der Empfänger der gemäß diesem ökonomischen Wert-
urteil, ganz gleich, ob es auf beiderseitiger Entschlicbungsfreiheit oder auf
Zwang beruht, festgesetzten tauschwirtschaftlichen Entgeltung empfängt
damit das entscheidende Urteil über das Maß der von ihm dargebrachten
Leistung usf. Die Theorie ist dann keine solche des Sollens, keine Norm,
wonach gehandelt, oder keine Richtlinie, im Verhältnis zu welcher ein
ökonomisches Urteil gebildet werden kann, sondern eine begriffliche
Bestimmung einer empirischen Erscheinung. Ist soleh eine reichlich
souveräne Beeriffsbildung möglich und ferner, ist sie zweckmäßig? Möglich
ist sie dann, wenn die extremsten, einem beliebigen Wirtschaftssystem
entnommenen Fälle nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht arbeits-
mäßig erworbener ökonomischer Resultate durch eine bestimmte
neue Fassung des Arbeitsbegriffes als arbeitsmäßig entstanden be-
zeichnet werden können. Der Fall der vorstädtischen Bodenspekulatien
wurde von uns schou angedeutet, gewöhnlich führt man dem hier vor
schwebenden Problem gegenüber außerdem die Fälle des Lotteriegewinnes,
der Schenkung, des ausschließlich zufälligen Geldfundes, schließlich auch
des allgemeinen Monopolgewinnes usw. an.12+) Wenn man den Begriff der
Arbeit nicht technisch beengt, und ihn auch nicht auf die „bewußte‘“ zweck-
gerichtete Einstellung beschränkt, so lassen sich, wie zum Teil erörtert
werden konnte, ein großes Maß derartiger Vorgänge als objektive Arbeits-
leistungen bezeichnen. Darüber hinau: ließe sich theoretisch sagen, dab
125) Viele derjenigen, die alles ökonomische Resultat als auf Arbeit beruhend
bezeichnet haben, und diese Meinung ist, wie wir geschen haben, verbreiteter. als
man zunächst vermuten möchte, sind bei Behandlung des Problems innerhalb der
Verteilungslehre diesen Fragen ausgewichen. Der Grund dafür mag darin
gesucht werden, daB es hier nicht mehr auf spezialwissenschaftliche, sondern auf
eigentlich erkenntnistheoretische Entscheidungen ankommt. Die Theorie des
Arbeitslohnes befindet sich zumeist in keinem, einem bestimmten Gesamtbegriff
des Wirtschaftens überhaupt gemäßen Verhältnis zu derjenigen des Arbeitsertrages.
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 29D
Arbeit — dem Resultat nach gegeben — möglich ist, bei welcher die ihr
entsprechende äußere Leistung von Menschen sich auf ein Minimum,
schlicblich auf eine unendlich kleine Größe reduziert. Vom Gesichtspunkt
praktischer Zweckmäßigkeit ist eine solche Formulierung insofern nicht so
künstlich-konstruktiv, wie es zunächst erscheinen möchte, als vielleicht gerade
die extremsten Fälle auch die seltensten sind; der relativ weniger extreme
monopolistische „Gewinn“ setzt bereits in der Regel ein erhebliches Maß
ständiger zweckgerichteter ökonomischer Überlegung, daraus resultierender
Verkandlungen, Verträgsschließungen usw. voraus. Das Streben nach einer
gewissen Monopolstellung ist an sich nahezu jeder sozialékonomischen
Tätigkeit eigen. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß gerade durch eine,
den Grad wirklicher äußerer Leistung berücksichtigende Lehre von den
verschiedenen Arbeitsarten, die im Ganzen eine Einheit bilden würde,
welche in das Gebäude der theoretischen Okonomik eine außerordentliche
Einfachheit brächte und die im einzelnen ohne Schaden für das Ganze
einer beliebigen Differenziertheit fähig wäre, sich ein Vorteil erzielen ließe.
Das ethische Urteil würde man auf diese Weise vielleicht am klarsten aus
dem Problemaufbau der Okonomik herauslösen können, und erst ads für
sich bestehender Maßstab an die analytisch gefundenen Itesultate anlegen.
Es wäre Sache einer dementsprechenden Durchführung einer solchen
Theorie, ihr den Vorwurf zu ersparen, sie wolle das „arbeitslose“ Einkommen
und den „unberechtigten‘“ ökonomischen Erfolg hinwegdichten.
Oder aber einer derartigen, eine abstrakt-quantitative, allgemeine
Kategorie des Wertes benutzenden, auf einen bestimmten Arbeitsbegriff
gerichteten Werttheorie kann eine empirische Bedeutung nur in dem Sinne
eingeräumt werden, daß die aus einem allgemeinen Begriff der Wirtschaft
gefolgerte Äquivalenz von Arbeit und Wert für den empirischen Einzelfall
nur eine allgemeine Richtlinie darbietet, nach welcher gehandelt werden
kann, beziehungsweise, der vollzogenen Handlung gegenüber, ein allgemeiner
Grundsatz, an weichem eine Beurteilung des tatsächlichen Vorgangs sich
zu orientieren vermag. Das Motiv, aus dem heraus ein solches Prinzip
angewandt oder angelegt wird, liest dann entweder außerhalb seiner selbst,
beruht etwa auf allgemeinen, ethischen, beziehungsweise sozialethischen
Grundsätzen, oder aber es ist in dem Tatbereiche, um den es sich handelt,
als notwendige Konsequenz der seine Voraussetzung bildenden speziellen
Willensentschließung enthalten. Uns erscheint insofern die letztere Annahme
als die richtige, als wir das Prinzip der Äquivalenz von Arbeit und Wert
296 Hero Moeller.
von vornherein als eine Folgerung aus dem „richtigen“ Begriffe des ökonn-
mischen Prinzips und dieses als den zwingenden Grundsatz für jedes Wirt-
schaften, aber nur für dieses. erklärt haben. Dabei bleibt dann die Möglich-
keit offen, daß in den Bereich der Wirtschaft in diesem strengen Sinne ihr
heterogene Prinzipien praktisch hineinragen; diese fremden Einwirkungen
müssen, weil der gefaßte Begriff der Wirtschaft — aus dieser letzten „Will-
kürlichkeit“ dürften erkenntnistheoretische Einwendungen nicht ableitbar
sein, sofern alle Begriffsbildung als subjektiv bedingt erkannt wird — der
Natur gegenüber eine feste Grenze zieht, in der Tat fremde Prinzipien,
Grundsätze menschlichen Handelns sein, so daß nur die Aufgabe bleibt,
welche Grundsätze es sind, die das Gebilde der Wirtschaft durch ihre tat-
sächliche Auswirkung verändern, wo die Grenzen einer solchen Veränderung
liegen, und wie sich infolgedessen das anscheinend ökonomische Resultat
in ein rein ökonomisches und ein außerökonomisches aufteilt. Die krasseste
Möglichkeit einer scheinbaren Mitwirkung der Natur in der Wirtschaft
eines Menschen würde wohl in dem Beispiel eines Grundbesitzers gegeben
sein, auf dessen Gebiet ein goldener Meteorit niedergeht. Ist der Empfänger
ein „isolierter“ Wirtschafter, so sind ihm die Mittel der Bedürfnis-
befriedigung, die ihm das Gold liefert, theoretisch soviel „wert“, wie der
Grad zweckgerichteter Arbeit aller Art beträgt, welche insgesamt von ihm
zu diesem Behufe aufgewandt wurde. Wenn nun der Tauschwirtschaftler
eine in keinem Verhältnis zu seiner äußeren Leistung stehende tatsächliche
Bewertung des Gegenstandes „erfährt“, so beruht dies augenscheinlich
nicht notwendig auf der „Natur“, sondern kann aus der rechtlichen
Organisation der Wirtschaft, in Sonderheit aus einem herrschenden Eigen-
tumsbegriff, erklärt werden. Dabei entsprechen die letzten Prinzipien des
Rechts, die sich vielleicht in möglichster Genauigkeit dem rationalen
Prinzip der Ökonomie anpassen, aus technischen und rechtspolitischen
Gründen nicht notwendig in allen Fällen der Normierung oder den tat-
sächlichen Entscheidungen.
Das Recht also, als Quelle von Normen, welehes an und für
sich das Eigentum an den rechtmäßigen Bigentumserwerb knüpft,
welches die ,,ungerechtfertigte Bereicherung verpünt usw., kann
als fremdes Prinzip betrachtet werden. Neben dieser Wirkung
des Rechts als einer Auswirkung einer, das betreffende ökonomische
Phänomen wumschlieBenden, sieh Geltung verschaffenden allgemeinen
Willensbildung, wird auch eine Gesamtheit individueller oder doch relativ
Die sozialökonomische Kategorie des Wertes. 297
individualistischer Handlungen denkbar sein, die einen scheinbar öko-
nomischen Erfolg nach sich ziehen, ihn vielleicht auch beabsichtigen, aber
dennoch einer Kategorie der „Arbeit“ sich nicht vollkommen ebenmäßig
zuordnen lassen. Dahin gehören der Erwerb durch Schenkung, durch Dieb-
stahl, durch rechtlich erfaßbaren oder rechtlich nicht erfaßharen Betrug,
die Bereicherung durch Verheimlichung, die Entscheidung durch „Zu-
fall“ usw., alles in allem eine Fülle von Vorgängen, die die Wirtschafts-
theorie wenig beschäftigen, zum Teil aber für die Erklärung einzelner
Resultatserscheinungen von maßgebender Bedeutung sind. Man mag sie
alles in allem als Auswirkungen der ‚Macht‘ bezeichnen. In diesem Sinne
würde also eine theoretische Ökonomik die Aufgabe haben, solche Prin-
zipien des Rechtes, der Macht usw., welche dem Grundprinzip ökonomischen
Geschehens in mehr oder minder erheblichem Maße zuwider laufen, syste-
matisch auf Wesen und Bedeutung zu prüfen. Auf diesem Wege ließe sich
eine völlige innere Übereinstimmung in der Erfassung von Produktion und
Verteilung erzielen.
Bei jeder der hier gekennzeichneten zwei Möglichkeiten, die theoretische
Geltung der von uns dargestellten Grundlagen der Ökonomik zu bestimmen
— an dieser Stelle wollen wir uns über keinen der beiden logisch möglichen
Fälle letztlich entscheiden — ist also die Aufstellung eines genaueren,
spezialisierten lohntheoretischen Prinzips unmöglich. Die Grundmaxime ist
die der Ertragszurechnung als einer Feststellung; ob mit der Zurechnung
ein Recht der Verfügung sich verbindet oder gar sich verbinden solle,
geht uns nicht an. Mit dieser Ablehnung einer eigentlichen Lohntheorie
— ihr Gegenstand muß sich notwendig zu einer Grundfrage alles Wirt-
schaftens überhaupt erweitern — stimmen diese Untersuchungen mit der
herrschenden Meinung überein.
Die zuvor ausgesprochene allgemeine Einschränkung scheint für die
hier niedergelegten Gedankengänge verhängnisvoll zu sein, scheint schließ-
lich doch dem Relativismus das Feld wieder einzuräumen. Denn, wenn
hier versucht worden ist, die Möglichkeit einer werttheorctischen Funda-
mentierung zu erweisen, durch welche die bisher in positiver Entscheidung
noch nicht überwundene, die Weiterentwicklung der Theorie behindernde
Kluft zwischen , bjektivistischer“ und ,,subjektivistischer“ Theorie überbaut
werden könnte, so wird dieser Versuch vielleicht als mißglückt gelten
müssen, wenn es durch die in seinem Rahmen gegebene Beeriffsbildung
298 Hero Moeller.
nicht möglich ist, die Theorie in ein bestimmtes, nahes Verhältnis zur
Erfahrung zu bringen. Was nützt es, eine Lehre von der Arbeit (diese in
einein bestimmten „leistungsmäßigen“ Sinne definiert) als dem ausschließ-
lichen Inhalte der ökonomischen Kategorie des Wertes aufzustellen und
vielleieht einmal aufs feinste zu differenzieren, wenn der tatsächliche Urteils-
vorgang in der Ökonomie im Rahmen eines jeden geschlossenen Wirtschafts-
kreises sich in wesentlichen Punkten von einem derartigen Satze nicht
leiten läßt. So schr bei den Ökonomisten in merkwürdigem Gegensatz zur
Auffassung von der Natur als einem Produktionsfaktor die Anschauung
verbreitet ist, daß der Natur gegenüber alle Wirtschaft eigentlich auf
Arbeit beruhe, so wenig hat man im allgemeinen zu behaupten gewagt,
im wirtschaftlichen Verhältnis der Menschen zueinander gestalte sich für
den einzelnen das Geschehen so, daß ein wirtschaftlicher Erfolg seiner
Arbeit entspreche. Dem allerersten Einwande, daß das ökonomische
Bestreben gerade darauf gerichtet sei, mit wenig Arbeit viel zu erreichen,
begegnen wir allerdings mit der Erkenntnis, daß auch dies so gerichtete
Bestreben selbst Arbeit ist; das Bedenken, die Natur wirke in irgend einer
Form, in Sonderheit in derjenigen des Kapitals als einer Bindung natür-
licher Kräfte dauernd mit, ließ sich durch eine Durchdenkung des wahren
ökonomischen Wesens des Kapitals, des Bodens usw. wohl zerstreuen. Daß
aber im sozialen Leben selbst Tendenzen vorliegen, die ökonomische
Resultate durch ein menschliches Handeln entstehen lassen, welches mit
einem wenn auch sehr weit gefaBten Begriffe der „Arbeit“ sich nach Art
oder Umfang schlecht verträzt, konnte nicht geleuzuet werden. Ist aber
nicht gerade diese engere zuletzt angeschoittene Frage und damit die der
eigentlichen Verteilungslehre und der durch sie bedingten Preistheorie der-
jenige Gegenstand, bei welchem das ökonomische Problem erst arhebt?
Wir haben uns einer Lehre vom Ertrage, sei es des Bodens, sei es des Kapitals,
sei es der leitenden und ausführenden Arbeit gewidmet und versucht zu
zeigen, wie in ihnen eine einheitliche ökonomische Kategorie des Wertes eine
Vereinheitlichung und vielleicht mannigfache Klärung zu bewirken imstande
sein dürfte. Bewußt haben wir die hier umschriebene Problemgruppe als
die Basis einer reinen Okonomik aufgefaßt, aber allerdings schon angedeutet,
daß ein endgiiltiges Urteil nicht ausgesprochen werden kann, daß in der
Linie der vorgetragenen Gedankengänge nur eine Richtung liegt, welche
man in Zergliederung der ökonomischen Phänomene, in Erdenkung des in
aller Ökonomie zu vermutenden Urbildes zu verfolgen die Möglichkeit und
Die sozialikonomisehe Kategorie des Wertes. 299
das Recht hat. Wir besitzen nichts als das „innere Bild“ eines Wesens dea
reinen Okonomik, wie es in einem bestimmten logischen Verhältnisse der
Begriffe der Wirtschaft, des wirtschaftlichen Prinzips, des Gutes, des
Wertes und der Arbeit sich darstellt. Ist dieses Bild als solches vielleicht
klar und deutlich in uns gegeben, so bleibt doch seine ,,Hineindenkune“ in
die Welt der positiven Erscheinungen eine viel größere Arbeit, als die
Gewinnung dieser abstrakten Vorstellung selbst. Wir sahen bei Vergleichung
der von uns gedachten mit der wirklichen Arbeit und ihren Resultats-
erscheinungen sogleich, daß das Schwergewicht auf der Frage der Geltungs-
grenzen des gedachten „Grundsätzlichen“ liegt, zumal das Gedachte selbst
in seinem erkenntnistheoretischen Wesen noch nicht einwandfrei, noch nicht
mit vol!kommener Entschiedenheit bestimmt worden ist. So may vielleicht
empfunden werden müssen, daß das Gesaste mehr Probleme aufwirft als
löst, Probleme, die sowohl auf Seiten der Methodenlehre liegen, und das
Verhältnis von Idce und Erfahrung, Sein und Sollen, Freiheit und Ge-
bundenheit betreffen, als auch durch die einzelnen Erscheinungen der
Wirklichkeit, betrachtete und vor allem nicht betrachtete, gegeben sind.
Der Gegenstand dieser Untersuchungen ist ein weit gefabter, indem sich
die Gedanken leicht auf ein weites Feld von Problemen zerstreuen und
dafür Bedeutung gewinnen, das erkenntnismäßig Gefestigte in ihnen ist
seinem Wesen und seiner Geltung nach eng begrenzt.
Allerdings vermögen wir die Ansicht, wonach die sozialékonomische
Theorie die Lehre von den Gesetzen oder der allgemeinen Erscheinungen
der Preisbildung (in einem naturgenäß nicht zu eng gefaßten Sinne) set,
insoweit zurückzuweisen, als dadurch die Frage nach den Gründen der
tauschwirtschaftlichen Preisgestaltung zum Zentralproblem der Okonomik
gemacht werden soll. Das Phänomen der Wirtschaft muß auf jeden Fall
in einen weiteren Rahmen gestellt werden. Die Theorie kann sieh nicht
darauf beschränken, die Preisbildung in die Wirtschaft einzusetzen. sondern
sie muß die Wirtschaft in Beziehung zum allgemeinen natürlich-kultürlichen
Geschehen bringen und sich an dem Bilde der „Universalökonomik“ ihre
erste Orientierung schaffen. Sie sollte das Werden des Preises als solches
erkennen, nicht aber aus der Tatsache des Preises Erklärungen seiner Ent-
stehung rückwärtig zu konstruieren suchen. Das wirtschaftliche Geschehen
muß als ein mehr oder weniger von außen beeinflubtes Sichauswirken ziel-
bewußten menschlichen Geistes begriffen werden, bei welehem der Tausch
nur Etappen darstellt, Momente kennzeichnet, in denen zwei für sich
300 Hero Moeller.
wirkende Wirtschaftsbeteiligte in organischen Konnex treten. Dabei wird
es sich allerdings herausstellen, daß die ökonomischen Überlegungen,
welche den Tausch begleiten, von ganz besonderer Kompliziertheit sind,
weil der Tausch eine Art empirischer Realisierung aller Arten ökonomischer
Erwägungen darstellt. Die zentrale Aufgabe der Theorie ist es aber nicht,
diese Komplizierungen zu zergliedern, vielmehr müssen deren Voraus-
setzungen schon deutlich sein, bevor das Phänomen des Tausches seine
theoretische Behandlung erfährt. Das grundlegende Problem der Theorie
liegt in einer scharfen und vertieften Erkenntnis des begrifflichen Wesens
der Wirtschaft in ihrer Besonderheit, des wirtschaftlichen Wertes, der
Arheit, des Kapitals usw. Erst auf solcher Grundlage kann unseres Er-
achtens der logisch schwierige Begriff des Angebots, der Nachfrage usw.
richtig erfaßt werden und die, die Lehre vom Preise wesentlich bestimmende
Vorstellung der Güterknappheit in ihren Formen der Unvermehrbarkeit,
der nicht beliebigen Vermehrbarkeit, des Monopols usw., ihre Zergliederung
nach Maßgabe des ökonomischen Gesichtspunkts erfahren. 125) Die Grenz-
nutzenlehre, welche ihr Schwergewicht ja gerade in der Erklärung des
Tauschwertes (durch den Gebrauchswert) hat, und ihre Ergänzungen
haben in diesem Rahmen eine eingeengte, ihren Schranken nach vom Ver-
fasser an anderer Stelle gekennzeichnete Aufgabe. Die bloße Relativität
der Tauschlehre ist am klarsten charakterisiert, wenn man sich den logi-
schen Unterschied in den Begriffen des Wertes auf der einen und des
= hiedurch erst denkbar gemachten Geldes und Preises auf der andern Seite
vor Augen hält. Der sozialökonomische Wertbegriff erscheint uns als eine
ihrer Form und ihrem Ivhalte nach aufs äußerste komplizierte und eigen-
tümliche Kategorie; ihr richtiges „Verstehen“ stellt der Angelpunkt wirt-
schaftstheoretischer Erkenntnis dar, in ihrer richtigen Erfassung ist die
wichtigste gedankliche Voraussetzung für alle sonstigen theoretischen
Erwägungen enthalten.
Die vorliegenden Untersuchungen sehen, wie aus der nrsprünglichen
Problemstellung folgt, ihren bescheidenen Zweck schon als erfüllt an, wenn
diese fundamentale Bedeutung des Wertbegriffes durch sie aufs neue ihre
Bestätigung erfahren haben sollte. Allerdings war dazu, wie vorher eine
formale, so hier eine bestimmte inhaltliche Deutung des Wertbegriffes
erforderlich, und es konnte nicht fehlen, daß man, um zu einer inhaltlichen
Einheitsvorstellung im Begriff des Wertes zu gelangen, begriffliche Kon-
|—m (2
125) Vgl. 0. Spann, Vom Geist der Volkswirtschaftslehre, Jena 1919, S. 42,
Die suzialékonomische Kategorie des Wertes. 301
struktionen vornehmen mußte, die zu einer gewissen „Umdenkung™ einiger
anderer Kategorien zwangen. Man sollte sich nicht wundern, daß die
Ökonomik immer wieder von neuen Urvorstellungen auszugehen versucht,
zu neuen Urvorstellungen hindrängt, für die Philosophie liegt dies, vor
allem in der Logik, in der Ethik, nicht anders, und. die Rechtswissenschaft
ist nur deswegen günstiger gestellt, weil die Notwendigkeit und die Tat-
sache der ‘Formulierung, beziehungsweise der Existenz positiven, ge-
schriebenen Rechts sie ständig mit dem Empirischen verknüpft. Die theo-
retische Okonomik ist darauf angewiesen, sich ihre Grundbegriffe selbst zu
bilden; daß sie sie in der Erfahrung nicht so findet, wie sie dem logischen
Drange entsprechen könnten, liegt im Wesen der Sache. In der Souveränität,
mit welcher die theoretische Okonomik den Begriff ihrer selbst bildet und
ihr letztes, einziges Gesetz ausspricht, liegt ihre Größe, allerdings auch ihre
Gefahr. ce
Die „praktischen“ Ergebnisse unseres Versuchs mögen sich zusammen-
fassend dahin charakterisieren lassen, daß zunächst eine, die „Arbeit“ ihrer
Art nach in der zweckgerichteten Tätigkeit, ihrem Grade nach am Resultat
erkennende, sie als teleologischen Leistungsbegriff erfassende und so den
n formaler Hinsicht ,,abstrakt-quantitativ’’ verstandenen Wertbecriff
inhaltlich ausfüllende, objektivistische und subjektivistische Auffassungen
in sich vereinigende abstrakt-quantitative Arbeitswertthcorie in ihren
besrifflichen Grundvoraussetzungen umrissen wurde, wobei ein von vorn-
herein „willkürlich“ gefaßter, sich im wesentlichen der herrschenden
Meinung anpassender Begriff der Wirtschaft und des wirtschaftlichen
Prinzips den Leitgedanken abgab. Sodann wurde geprüft, ob eine solche,
nur auf einem wenn auch weitgefaßten Begriff der Arbeit beruhende Wert-
theorie Aussicht habe, die Theorien des Bodens, des Kapitals, der Arbeit
im engeren Sinne, und die sich aus ihnen ergebenden Ertragslehren in einem
hinreichenden Grade in sich, als Theorien verschiedenartiger „Arbeit“ und
verschiedenartigen Arbeitserlöses, aufzunehmen, und so ein gesamtes
Gebäude der Wirtschaft zu konstituieren.
Die ganze Untersuchung beruhte auf der Annahme, daß die Ent-
scheidung im Kampfe um das ökonomische Wertproblem abhängig sei von
der Erkenntnis, ob es eine Kategorie des Wertes geben könne, welche in
der Lage sei, eine gesamte, nicht auf das Preisproblem beschränkte, sondern
auf dessen weiteste Voraussetzungen gerichtete theoretische Ökonomik zu
fundamentieren. Wir sprechen abschließend nichts mehr als die Vermutung
302 Hero Moeller. Die sozialökonomisehe Kategorie des Wertes.
aus, daß diese letztere Frage zu bejaher sei. Das endgültige Urteil kaun,
der Natur der Sache gemäß, nur durch eine, auf solcher Grundlage tatsäch-
lich ausgeführte, das Produktions-, Verteilungs-, Geld- und Preisproblem
in allen Feinheiten zergliedernde ökonomische Theorie vermittelt werden.
Für eine solche erscheint es uns praktisch als wesentlich, die Lehre von
den Einkommenszweigen äußerlich und innerlich nicht von der Lehre von
den Arten der Produktion zu trennen, den Begriff der Produktion sehr
weit zu fassen und die in ihm zu gebende Lehre vom Wesen und von den
Arten der Arbeit, ihrem Zusammenwirken und ihren Grenzen nacli außen,
erheblich auszubauen. Inwieweit das gesellschaftstheoretische Grund-
problem hier von vornherein gestaltend einwirken muß, blieb von uns
absichtlich unerörtert.
Wirtschaftspolitische Forderungen lassen sich aus diesen Gedanken-
gängen nicht folgern. Wenn alle Wirtschaft eine quantitative Identität
von „Arbeit“ und Arbeitsresultat in sich schließt und das ökonomische
Prinzip Tätigkeit nur insofern als Arbeit gelten läßt, als sie dem öko-
nomischen Zweck entspricht, und wenn die Erfahrung zu lehren scheint,
daß sie diesem Gesetz mehr, als man zunächst glauben möchte, folgt, so
ist damit nicht gesagt, daß das Geschehen sich auch danach richten solle.
Wenn die Ökonomik für ihren Bereich gesprochen hat, wird sie der
„Politik“ und der Ethik Platz machen zu denjenigen Korrekturen, die
diese für gut halten. Ihre Norm unterliegt als solehe dem Urteil der Ethik
nicht, kann sich aher auch als solche deren Prinzipien nicht entgegen-
stellen; denn sie hat nicht den Geltungscharakter eines letzten, kategorischen
Imperativs.
Stabilisierung oder Valutahebung ‘als Ziel
der Währungsreform.
Von Emanuel Hugo Vogel.
I. Valutahebung und Wiederaufbau in Österreich.
Die Krankheit unserer Volkswirtschaft ist heute weniger eine solche
der mangelnden Rohstoffe, Lebensmittel usf. als unseres Wertmessers, des
Geldes, weleher es uns nicht ermöglicht, Kohle, Baumwolle, Nahrungs-
mittel usf., obwohl abgabebereite UberschuBgebiete vorhanden sind, zu
einem für Industrie und Einzelwirtschaft ertraglichen Preise einzukaufen.
Wir sind vom Tauschverkehr der Weltwirtschaft insolange so gut wie
ausgeschaltet, als wir des geeigneten Tauschmittels entbehren. Liegt auch
die Ursache dieses Zustandes gewiß nicht bloß auf währungspolitischem
(rebiete, in der Inflation, sondern in erster Linie sogar auf der Produktions-
seite, indem Raubbau an dem Gütervorrate in der vorangegangenen Kriegs-
wirtschaft und in der ZerreiBung des früher bestandenen, auf wechselseitiger
Komplettierung aufgebauten einheitlichen Wirtschaftsgebietes, so müssen
doch die schädlichen Folgen in erster Linie auf währungspolitischem
Gebiete durch geeignete Sanierungsmaßnahmen bekämpft werden. Hier
liegt der Ausgangspunkt zur Lösung des Problems, aber alle Sanierungs-
versuche der Währung können nur dann Erfolg haben, wenn zu gleicher
Zeit auch die Hebung des Gesamtergebnisses der Volkswirtschaft durch
Intensivierung der Arbeitsleistung in Landwirtschaft und Industrie auf
Grund eines umfassenden Wiederaufbauprogranımes in Angriff genommen
wird. |
Zunächst erscheint es meines Erachtens nach notwendig, eine all-
mähliche, jedenfalls aber namhafte Hebung des Kronenkurses, und
zwar vor Einführung einer neuen Währung, welche erst den Anschluß einer
solchen Sanierungsaktion zu bilden hätte, herbeizuführen. Das erreichte
Niveau wäre dann der Festsetzung der neuen Relation zugrundezulegen,
304 Emanuel Hugo Vogel.
Aus taktischen Gründen anzustreben und demgemäß als Ziel des Finanz-
programmes sowie als Grundlage für die Höhe der anzufordernden Aus-
landskredite aufzustellen wäre die Hebung des Kronenkurses etwa bis auf
ein paritätisches Verhältnis mit derMark auf dem Weltmarkte
(also nach dem Züricher Kursstande der letzten Zeit 8 bis 10 Centimes)
im Sinne einer Maximalgrenze. Faktisch wird man sich im Verlaufe der
Aktion mit einer Hebung auf etwa 4 bis 5 als mittleres Niveau, welches dann
mit allen zweckdienlichen Mitteln festzuhalten, das heißt nach Möglichkeit
zu „stabilisieren“ wäre, im Sinne einer Minimalgrundlage für die Über-
leitung in eine neue Währung begnügen können. Dies wäre jedoch nur als
jene Untergrenze anzusehen, welche immerhin eine Rettung und bei
weiterer Fortsetzung eine spätere durchgreifende Sanierung vorzubereiten
vermag. Vollständige Klarheit müßte aber der Öffentlichkeit sowohl als
namentlich den ausländischen Faktoren darüber gegeben werden, daß jedes
Zurückbleiben unter diesem Niveau eine finanzpolitische Unmöglichkeit
bedeutet, eine auf solcher Grundlage unternommene Währungsaktion ein
Schlag ins Wasser, die hierauf verwendeten Ententekredite ein nutzloses
Opfer darstellen. Denn wenn auch vorübergehend auf dieser Grundlage
eine neue Währungsparität hergestellt würde, so würde sie zwar eine Fort-
setzung des heutigen Zustandes durch vielleicht eine gewisse Zeit ermög-
lichen, ja sogar eine mit Hebung der Valuta notwendig verbundene Senkung
der Exportgewinne vermeiden lassen, — aber dafür aus später zu er-
örternden Gründen jeden Wiederaufbau der gesamten Volkswirtschaft
Österreichs für die Zukunft ausschließen und das heute zu beobachtende
unrettbare Herabgleiten unserer Wirtschaft für nur ganz kurze Zeit auf-
halten.
Eine Hebung bis zu einem Maximalniveau von 8 bis 10 auf Grund
der ausländischen Finanzhilfe, welches gegenüber dem heutigen Kurs-
verhältnisse eine Wertsteigerung auf das 7'/: bis 10fache bedeuten würde,
erscheint keineswegs außer dem Bereiche der Möglichkeiten, wenn der
Ententekredit in solchem Ausmaße angefordert und gewährt wird, daß er
nicht nur eine für die Außenwelt berechnete Scheinmaßnahme bedeutet,
sondern eine von ernstlichem Willen getragene Sanierung unseres Staats-
wesens darstellt. Aufgabe unserer Finanzpolitik wäre es, dieses Ziel einer
ausreichenden Hebung der Kronenwährung schon jetzt gegenüber den
Anträgen des Völkerbundkomitees als unumgängliche Voraussetzung jeder
wirklichen Sanierung mit allem Nachdruck in den Vordergrund zu rücken,
Stabilisierung oder Valutahebung als Ziel der Währungsreform. 305
soll nicht der gewährte Kredit als nutzloses Opfer seine Wirkung verfehlen
und schließlich den Auflösungsprozeß unserer Volkswirtschaft nur zeitlich
verschieben, statt ihn endgültig zum Stillstand zu bringen und die ent-
scheidende Wendung zum Wiederaufbau herbeizuführen. Daß die gegen-
wärtig in Aussicht genommene Kredithilfe sowie das von der Finanz-
kommission des Völkerbundes im Einvernehmen mit der Regierung auf-
gestellte Finanzprogramm keine Besserung des Kronenkurses, welcher kurz
nach Ankündigung der Finanzaktion wieder zurückging,') herbeizuführen
vermochte, ist nur ein Beweis dafür, daß das Vertrauen des Weltmarktes
und der Öffentlichkeit überhaupt in Umfang und Ernst der Kredithilfe
sowie den möglichen Erfolg des ganzen Finanzprogrammes kein allzu-
großes ist. Ä
Bei jeder Valutareform muß man sich natürlich klar sein, daß die
Erreichung dieser oder einer anderen Relation nie eine starre Grenze
bedeuten soll und kann, auf welcher dann die Kurse gleichsam „stabilisiert“
bleiben werden, da es eine solche „Stabilisierung“ selbstverständlich über-
haupt nicht gibt. Daher sind auch jene im Irrtum, welche da glauben, daß
man den Kronenkurs auf dem heutigen oder einem diesen nahe-
kommenden Niveau „stabilisieren“ und dann dieses für zahlreiche Glücks-
gewinner und Valutaschieber bisher so günstige Niveau für alle Zukunft
festhalten könne. Auch das gibt es nicht, wobei allerdings die Möglichkeit
neuerlichen und weiteren Sinkens die Chancen des’ spekulativen Valuten-
und Devisenhandels nur noch zu verbessern geeignet ist. Die Hebung
des Kronenkurses auf ein bestimmtes Niveau kann richtig verstanden
eigentlich nur bedeuten, Hebung der gesamten Volkswirtschaft bei
gleichzeitiger Fundierung der Währung auf Grund ausländischer
Valutakredite und unter Einschränkung, der zirkulierenden Notenmenge
derart, daß die durch Währungsmaßnahmen eingeleitete und auf volks-
wirtschaftlichem wie staatsfinanziellem Gebiete gestützte Besserung des
Geldwertes im In- und Auslande eine automatische Folgeerscheinung
der gestiegenen volkswirtschaftlichen Kraft und ihrer geld-
wirtschaftlichenAnerkennung darstellt. Unter dieser Voraussetzung
wird die Kurswerthebung der Krone kein kurzlebiges Kunstprodukt,
sondern das organische Ergebnis finanzieller und wirtschaftlicher
1) Zunichst stieg der Kurs der österreichischen Kronenwährung in Zürich auf
1-70 Centimes (16. April 1921), um darauf andanernd weit unter das frühere Niveau
bis auf 0-67 Centimes (27. Juli 1921) herabzusinken.
306 Emanuel Hugo Vogel.
Sanierung sein. Nur in diesem Sinne wollen wir hinsichtlich unseres Vor-
schlages verstanden sein. Daher ist auch die Aufgabe weder des Völker-
bundes noch unseres Sanierungsprogrammes mit der Kredithilfe und
Schaffung einer Notenbank zu Ende, sondern müßte das Erreichte durch
eine energische Wirtschafts- und Finanzpolitik (insbesondere Abbau der
Ausgaben, Preisabbau nach Maßgabe der (ieldwertsteigerung) für die
Zukunft festgehalten werden.
Eine Hebung des Kronenkurses auf das oben genannte Niveau
hätte vor allem den gegenüber dem Völkerbundkoniitee nachdrück-
lichst zu vertretenden Zweck, unsere volle Tauschfahigkeit ohne
Kursverluste beim Importe nicht nur im Verhältnis zu Deutschland,
sondern auch zu den übrigen Nationalstaaten herzustellen, uns womöglich
über einige derselben (Polen, Ungarn, Jugoslawien), sei es dauernd oder
je nach deren finanzieller Erholung wenigstens zeitweise, herauszuheben
und zu starken Käufern zu machen. Dadurch erst würde auch die zweite
produktionspolitische Aufgabe des Wiederaufbauproblemes erleichtert und
in ihrem Erfolge gesichert. Auf diesen Umstand müßte die Auslandshilfe,
der zu gewährende Valutakredit sowie die Fundierung der neuen Notenbank
in erster Linie abgestellt sein. Er müßte seiner Höhe nach wie nach Art
seiner Flüssigmachung (in mehreren angemessenen Etappen) in festen
Konnex gebracht werden mit der durch geeignete Stützungsaktionen
(eventuell auch Interventionskäufe) auf den maBgebencen Geldhandels-
plätzen gesicherten Hebung des Kronenkurses auf das angedeutete, den
verlustlosen Handel mit den Nachbarstaaten ermöglichende Niveau. Tine
ernstlich und großzügig unternomniene Kreditaktion müßte übrigens selbst
bereits wie eine Intervention auf den Kronenmärkten wirken. Die all-
gemeine Verbesserung der finanziellen Situation würde dann stabilisierenden
Einfluß üben. Bei dieser Aktion zur Steigerung des Kronenkurses müßte
jedes sprunghafte Vorgehen unterlassen werden, ebenso wie gewaltsame
Deflationsmaßnahmen nicht im Ernste in Betracht kommen. Auf
diese Art werden Produktionskrisen oder sonstige schwerere Er-
schütterungen des Wirtschaftslebens vermieden werden, da inzwischen
die Erleichterungen des Importes und der Produktionsbedingungen zur
Auswirkung kommen können. Nur wenn es gelingt, uns unter den übrigen
Staaten mit stark entwerteter Valuta, Deutschland eingeschlossen, zu
einem gleichwertigen, vielleicht gegenüber manchem (Ungarn, Polen, Jugo-
slawien) zu einem allerdings mit fremder Hilfe und wahrscheinlich nur zeit-
Stabilisierung oder Valutahebung als Ziel der Währungsrefurm. 30%
weise überlegenen Partner zu machen, kann uns überhaupt als „selb-
ständigem Staatswesen‘‘ emporgeholfen werden, nur dann können die alten
Fäden des Wirtschaftsverkehres zwischen den verschiedenen Länder-
gebieten der ehemaligen Monarchie wieder angeknüpft, die Verbindung
wirtschaftlich voll hergestellt werden. Ist dies nicht möglich oder will
man es nicht, dann hat alles, was der Völkerbund unternehmen mag, nur
dilatorische Bedeutung, verlängert nur Leben und Leiden eines Schwer-
kranken, ohne seine Heilung bewirken zu können. Sind zu einer solchen
Hebung des Kronenkurses aber wirklich so große Auslandskredite erforder-
lich, daß sie anzustreben ein aussichtsloses Beginnen wäre? Keinesfalls.
Ganz abgesehen davon, daß eine Relation von 8 bis 10 (eventuell Minimum
4 bis 5) gegenüber der Friedensparität noch in weitem Abstande zurück-
bleibt,*) kommt es zu ihrer Erreichung nicht so sehr auf den ziffermäßigen
Betrag der gewährten Hilfe als auf ihre richtige Organisation und Ver-
teilung in einem entsprechend gewählten, nicht zu langem Zeitraume
an, wobei vorweg die Fundierung der neuen Währung durch ausländische
Goldwerte auf Basis der schließlich erreichten Relation (im Verhältnis
zum Schweizer Franken) als vorläufiges Endziel der gegenwärtigen
Währungsaktion in Aussicht genommen werden müßte.
Im Zusammenhange mit der Hebung des Kronenkurses wird an den
gleichzeitigen entsprechenden Abbau der Devisenkurse in Wien zu
schreiten, ferner die inzwischen nach Freigabe des Kronenimportes ohnehin
eingetretene Ausgleichung der Bewertung von Inlands- und Auslands-
kronen durch Aufhebung dieser überflüssig gewordenen Unterscheidung
beizubehalten sein, um die auf der Institution der ,,Auslandskonti‘' auf-
gebaute, vielfach betrügerische Valutaspekulation endlich unmöglich zu
.2) So stand die Devise Zürich — Auszahlung Wien (100 ö.K. in Centimes,
sogenannte „Auslandskrone‘‘) kurz vor dem Umsturz Ende Oktober 1918: 42-50
Centimes. nach demselben Ende November 1918: 32-75, Ende Dezember 1918: 30-50.
Erst durch die gewaltsamen Trennungsaktionen (Jugoslawien, Abstempelung 8. Jänner
1919, Tschecho-Slowakei 25. Februar 1919) wurde der Sturz der erst in einem späteren
Zeitpunkte auch in Österreich abgestcmoelten Krenennoten besiegelt. Die Devise
stand: Ende Februar .1919: 23-40, Ende Juni 1919: 18-50, Ende August 1919: 11-75.
Ende September 1919: 9-00, Ende Oktober 1919: 5-25, Fnde Dezcmber 1919: 3-25.
Im Jahre 1920 sank sie allmählich ven 2-05 (Ende Jänner) bis 1-55 (Ende Dezember).
Im Jahre 1921 folgte eine kleine Erholung im Jänner auf 1:7712, dann nocl mal im
April auf 1-70, worauf der weitere Sturz bis vorläufig auf 0-67 (27. Juli 1921) als Ti f-
stand kam.
308 Emanuel Hugo Vogel.
machen. Denn dann wird auch die Zeit gekommen sein, die noch vor-
handenen Beschränkungen im Kronenverkehr, insbesondere das vielfach
umgangene Verbot der Kronenausfuhr, endgültig zu beseitigen.
Diese mit ausländischer Hilfe unternommene Währungsreform müßte
aber allerdings auch von einer planmäßigen finanziellen und produktions-
politischen Sanierung im Innern begleitet sein, ja würde sie direkt zur
Voraussetzung haben. Ebenso wäre die Beseitigung der Ausfuhrhindernisse
und der Abschluß günstiger Handels- und Zollverträge Bedingung des
Gelingens. Hievon soll später gesprochen werden. Zunächst erscheint es
notwendig, die in der Öffentlichkeit gegen eine Hebung des Kronenwertes
überhaupt erhobenen, vielfach allerdings von einseitigen Interessenstand-
punkten ausgehenden Bedenken zu erörtern.
Die Einwendungen gegen eine Hebung des Kronenkurses gründen
sich vor allem auf die in einer depretiierenden Valuta stets gelegene Export-
prämie, auf die angebliche Gefahr, daß namentlich die Exportindustrie
und der am Export interessierte Handel die in der Valutadifferenz gegen-
über dem Auslande stets gelegene Gewinnmöglichkeit durch eine Hebung
unseres Geldwertes ganz oder teilweise verlieren müßte. So stehe denn
die vollständige Stillegung der Exportindustrie oder doch eine schwere
Krise derselben in Gefahr. Jede Hebung des Kronenwertes sei für die
Volkswirtschaft im selben Maße durch Verringerung der Produktpreise mit
fortgesetzten Krisen oder Produktionsstörungen verbunden, während das
Herabgehen des Kronenwertes stets eine Erleichterung für den Handel und
eine Belebung der Produktion bedeutete. Daraus wird gefolgert, daß man
zumindest den jetzigen niedrigen Geldwert „stabilisieren“ und ihn der
neuen Relation zugrundelegen müsse,?) um die daraus gezogenen Valuta-
3) Siehe mit interessanter Begründung die kürzlich erschienene Schrift Dr. Ernst
Ruzickas: ‚Das Ende der Kronenwährung — durch Devalvierung zur Konsolidierung.“
Verlag Konegen Wien, 1921. Der Verfasser schlägt als Relation 100 K = 1 österr.
Franken vor und führt hiefür außer produktions- und lohnpolitischen Erwägungen auch
staatsfinanzielle ins Treffen, da jede günstigere Verhältniszahl neue Vermögensabgaben
fordert. Eine solche gerechte Vermögensbesteuerung, insbesondere im Verhältnis von
Stadt und Land sei aber nicht möglich. Ist jedoch nicht eine solche Relation an sich
schon die schwerste Abgabe für viele Vermögensbesitzer? Die Francswahrung soll durch
einen Dollarkredit derart gedeckt sein, daß dem Präsentanten von 100österr. Franken
seitens des ausländischen Kreditsyndikates jederzeit eine 20 Dollardevise ausgefulgt
wird. Dadurch könne der Kurs der österreichischen Fünf-Franken-Scheine nie unter die
Parität des Dollars sinken.
Stabilisierung oder Valutahebung als Ziel der Währungsreform. 309
bewinne auch für die Zukunft festzuhalten. Ja, man verstieg sich in der
öffentlichen Diskussion dieser Frage sogar zu der Forderung, daß eine
Hebung des Kronenkurses, selbst wenn sie aus einer erfolgreichen und
raschen Durchführung der ausländischen Sanierungsaktion sich organisch
ergeben sollte, mit künstlichen Mitteln hintangehalten oder doch in gewissen
Grenzen gehalten werden solle. Hiczu ist folgendes zu bemerken:
„„Stabilisierung‘“ auf dem heutigen Niveau bedeutet Verzicht auf eine
Änderung des heutigen Zustandes und seiner für die Allzemeinheit
zweifellos außerordentlich schädlichen Folgen und Beschränkung auf Maß-
nahmen, durch welche lediglich eine weitere Verschlechterung des Geld-
wertes hintangehalten werden soll. Die staatliche Finanzpolitik aber müßte
sich darauf beschränken, bloß die Voraussetzungen für die Wertbeständig-
keit der neuen, auf einer Basis von 1 bis 2 Centimes im Verhältnis zu den
Goldwährungsländern konstituierten Währung zu sichern. Dazu gehört
ebenfalls Beseitigung des Budgetdefizites und Abbau oder Deckung des
außerordentlichen Ausgabenetats. Beides könnte nur, und zwar in der
vollen Wucht dieser Milliardenposten aus der einzigen durch Valuta-
gewinne vorläufir aktiv erhaltenen volkswirtschaftlichen Finnahmsquelle
gerade der Exportindustrie erfolgen, müßte sich also in schwerster, diese
Gewinnmöglichkeit künftig doch wieder ausschließender Steuererhöhung
äußern — weil der andere Weg des Preisabbaues durch Kursbesserung
der Krone bei den staatlichen und volkswirtschaftlichen Importen (siche
„Kursverluste“‘ im Budget) und des späteren Lohn- und Gehaltsabbaues
endgültig verschüttet wäre. Die Steuerkraft der übrigen Bevölkerung
kommt für weitere Erhöhungen im Ernste nicht mehr in Frage. An einen
allgemeinen Wiederaufbau der anderen nicht auf Export abgestellten
Produktionszweige aber wäre ebenfalls nicht zu denken. Das müßten
speziell auch jene Interessentenkreise, für welche der heutige Zustand
abnorm niedrigen Kronenwertes, sei es eine hohe Gewinstchance oder doch
die Möglichkeit relativ schr rentabler Produktion beziehungsweise Handels-
tätigkeit eröffnet, ernstlichst bedenken. Auch sie werden nicht die dauernden
NutznieBer des niedrigen Kronenkurses in aller Zukunft bleiben können,
abgesehen davon, daß es eine „Stabilisierung“ im Sinne unabänderlicher
Fixierung volkswirtschaftlich nicht gibt. Gleitet unser Staat auf der ab-
schüssigen Bahn von der erstrebten Grenze. von 1 bis 2 nur um w eniges
nach abwärts, dann ist das Ende für alle, auch die heute noch ven der
„ Konjunktur“ Begünstigten, gekommen. Ist aber unsere Währung einmal
Zeilschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1. Band. 21
310 Emanuel Hugo Vogel.
zusammengebrochen, dann bliebe für den Verkehr nur Auslandsvaluta oder
Metall, es wäre die tatsächliche Devalvation auf den Nullpunkt, die denkbar
furchtbarste Katastrophe, in der es bis zur Schaffung einer völlig neuen
Währung überhaupt kein zu Tauschzwecken verwendbares deutschöster-
reichisches Geld gäbe. Sind sich die Währungstheoretiker, welche unter
Hinweis auf Länder mit Naturaltausch selbst einen solchen Zustand noch
nicht als der Übel ärgstes erklären, seiner Bedeutung für die Gesamt-
bevölkerung auch wirklich bewußt? Bedenken sie, daß unter solchen
Umständen überhaupt nur mehr die Ausländer leben, die heimische Be-
völkerung aber vollständiger Absatzkrise und dem Hungertode preis-
gegeben wäre?
Was aber speziell die Wirkungen einer Valutahebung für die Zukunft
der österreichischen Exportindustrie anbelangt, so ist folgendes zu
bedenken:
Hohe Warenpreise sind nur ein relativer Begriff; sie erhalten erst mit
der Preisgestaltung der Produktionskosten bei fortgesetzter Produktion
ihre eigentliche Bedeutung für die weitere Rentabilität der Unternehmungen.
Bei einer Preisänderung infolge Steigerung des Kronenkurses handelt es sich
zunächst um zeitliche Inkongruenzen zwischen dem rückläufigen Pro-
duktpreis (beziehungsweise verminderten Valutagewinn) und den noch
höheren, das heißt aus der Zeit des niedrigeren Geldwertes stammenden
Herstellungskosten. (Insbesondere Importpreise der Rohmaterialien, Pro-
duktionsmittel.) Solche Inkongruenzen sind bei jeder Veränderung des Geld-
wertes nach oben unvermeidlich und ebenso natürlich, wie der umgekehrte
Prozeß noch weiter steigender Gewinnaussichten in der Periode weiterer
Verschlechterung des Geldwertes und steigender Preise für die unter
niedrigeren Produktionskosten und Löhnen hergestellten Waren. Das kann
aber kein Grund dafür sein, deshalb den Niedrigstand des Kronenkurses
dauernd festhalten oder gar eine weitere Verschlechterung desselben etwa
für „volkswirtschaftlich günstig“ im Interesse des Wiederaufbaues anzu-
sehen. Denn eine bloß auf die „Exportprämie‘‘ abgestellte Preispolitik
übersieht völlig die imminent drohende (Gefahr schließlich völliger Ent-
wertung auch der auf solchem Tiefstand ‚stabilisierten‘‘ Valuta, welche
ohne fortgesetzte Opfer und Stützungsmaßnahmen nicht aufzuhalten wäre,
sofern nicht Defizit und Ausgabenhöhe beseitigt werden können, was.
wieder ohne vorherige ausgiebige Valutahebung ganz unmöglich ist. Dazu
kommt von der Produktionsseite her die Gefahr einer wirklichen Anpassung
Stabilisierung oder Valutahebung als Ziel der Währungsreform. 311
der Löhne und Inlandspreise an die „Weltmarktparität‘‘ der Krone, von
welcher wir teilweise bereits nicht mehr weit entfernt sind, was von selber
zur Stillegung der Exportarbeit auch bei ,,stabilisierter Valuta‘“ führen
müßte. Mit anderen Worten: eine bloße a la baisse des Zahlungsmittels und
der Volkswirtschaft abgestellte Produktion ist ja doch auf die Dauer eine _
innere Unmöglichkeit. Gegenüber der dann unvermeidbar drohenden Gefahr
völligen Unterganges von Valuta und Produktionsmöglichkeit tritt die
Wahrscheinlichkeit vorübergehender Gewinneinbußen durch Hebung
des Kronenkurses an Bedeutung völlig zurück. Auch die Stabilisierung
auf dem gegenwärtigen Niveau würde weder die künftige Auf-
rechthaltung der gegenwärtigen Preisbildung und Export-
prämie noch überhaupt die Möglichkeit eines künftigen geord-
neten Wiederaufbaues oder auch nur einer dauernden Fort-
setzung der heutigen Exportarbeit gestatten. |
Dies läßt sich übrigens schon aus dem Bilde erkennen, welches die
Ziffern des auswärtigen Handels im Jahre 1920 im I. und II. Halbjahre
und im Vergleiche mit 1919 liefern. Die Handelsbilanz hat sich trotz des
anfänglich hemmungslos geübten „Ausverkaufes‘‘ durch das Ausland, dann
trotz Wirkung der „Exportprämie‘‘ zusehends verschlechtert (Zunahme
der Einfuhr pro 1920 um 46%, der Ausfuhr nur um 32%). Die Kapital-
erschöpfung ist gestiegen, der Konsumbedarf ebenfalls, die Ausfuhr ver-
mochte infolge der über ihre Gewinne weit hinausgehenden und nur auf
die Geldentwertung zurückzuführenden Verluste beim Import hiefür
kein genügendes Gegengewicht zu bieten. Der alljährliche Verlust der
Volkswirtschaft aus dem Tiefstande des Geldes ist weitaus größer als der
obendrein nur einzelnen Schichten und Produktionszweigen zufließende
Exportgewinn. Im Jahre 1921 hat sich die Situation weiter verschlechtert
infolge Hinzutreten der weltwirtschaftlichen Krisenzustände und dadurch
bedingten Preisrückgänge. Die,,Stabilisierung“ der Valuta auf einem den Im-
port zur schweren Verlustquelle machenden Tiefstande ist mit nur zeitweisem
Auf- und Ab im Jahre 1920 durch Monate von selbst eingetreten, ohne
Dauer zu haben, da trotz der in Aussicht stehenden ‚‚Völkerbundhilfe‘‘ der
Kronenwert weiterhin bedeutend rückläufig ist. Aber die Produktionsbedin-
gungen verschlechtern sich durch sprunghafte Lohnerhöhungen, erhöhte
Kohlenpreise usf. zusehends, da sich die Folgen dieser Geldentwertung immer
allgemeiner durchsetzen, sosehr, daßschließlich infolge der niederen inneren
und äußeren Kaufkraft unserer Krone auch die bisherige Wirkung der
312: | Emanuel Hugo Vogel.
Exportprämie nach und nach verloren geht. So ist also auch vom Trefstand `
der Krone keine dauernde Aufrechterhaltung der Exportkonjunktur ar
erwarten, während zugleich Wiederaufbau und Konsumkraft der Bexölken
rung völlig aller Zukunftshoffnungen beraubt werden,
7 Ubrigens wird, wie ebenfalls die Außenhandelsstatistik zeigt, künftig
nicht der nur Export, sondern insbesondere der Transithandel für unsere:
Zahlungsbilanz mit ein entscheidender Faktor werden. (1920: 17 Millionen
Meterzentner und: 3-8 Millionen Stück.) Er vermag dem Handel reiche‘
Zwischengewinne zuzuführen, namentlich aber die Devisentransaktionen.
in Wien zu konzentrieren, was wieder dadurch erleichtert würde, wenn
mit Sanierung der Währung die lästigen Beschränkungen des Devisen-
verkehres aufgehoben werden können. Die Hebung des Kronenniveaus-
müßte in höheren Verdiensten des Eisenbahn- und Frachtenverkehrs für
ausländische Rechnung unmittelbar zugunsten unserer Fmanzen gute
prone tragen.
-< Die mit Hebung des Kronenkurses emde Verminderung der
Aion: und die hieraus folgende zeitliche Inkongruenz der neuen
Warenpreise mit den bisherigen Herstellungskosten kann vielmehr nur im
Wege des gleichsam inneren Ausgleiches in den betreffenden Produk-
tionszweigen unwirksam oder doch erträglich gemacht werden. Das setzt
abet eine Vollwirkung der Valutahebung eben auf der Produk:
tionsseite durch verbilligte Kohlen- und Rohstofflieferungen, in einem:
späteren Zeitpunkte auch durch Lohnabbau; in ders künftigen Produktions-
périoden ‘bei gleichzeitiger Erleichterung des Handels- und Zahlungs
verkehres mit dem Ausland voraus. Es zeigt sich also, daß gerade kardinale
Voraussetzung einer’erfolgreiehen Währungssanierung die Hand in Hand:
damit unternommene Wiederaufbauaktion auf Grund der Auslands-
kredite ist, eine Aufbauaktion; welche Verkehrswesen, Rohstoff- und
Nahrtmgsmittelbelieferung ebenso wie Intensivierung von Landwirtschaft.
Bergbau und Industrie zur mögliehen Höchstleistung zum Gegenstand
haben müßte. Der Ausgangspunkt der Besserung aber liegt in der Ver- `
bilheung der Einfuhr, besonders hei Annäherurig an das oben angedeutete,
den Verkehr mit den gesamten Nachbarstaaten mit ebenfalls entwerteter
Valuta erleichternde Niveau. Während sich heute die umgebenden Staaten.
mit relativ besserer Valuta mit einem intensiven System des Zoll sc huttes
umgeben und so unserem Exporte zugunsten ihrer Finanzen sehwere
Nachteile zufügen werden — eine unmittelbare Folge unserer ' Geld»
Stabilisierung oder Valutahebung als Ziel der Währungsreform. .319
entwertung und Valutaverschiedenheit. gegen welche auch die Anhänger
der ‚‚Stabilisierung‘' kein Mittel wissen —, wird bei Hebung der Kronen-
valuta.und Verminderung der „Exportprämie‘‘ Osterreich.zu einem gleich-
wertigen Vertragspartner werden, gegen den man sich nicht abzuschließen
nötig hat. Für die künftigen Handelsvertragsverhandlungen ist also die
Hebung der Valuta auf das von uns gedachte Niveau cder selbst nur ein
Durehschnittsniveau im Vergleich mit den übrigen Nationa!staaten eine
der wichtigsten Voraussetzungen eines guten Erfolges. Erst dann ist an
Stelle wechselseitiger Abschließung und des heutigen verkchrehinderlichen
Systems staatlicher „Ein- und Ausfuhrbewilligungen‘“ ein freundnachbar-
licher. Verkehr auf wirtschaftsparitätischer Basis möglich, |
‘Kann auch der systematische Lohnabbau nicht gleich in den ersten
Stadien der Währungsbesserung, sondern erst nach Rückbilaung der Freise
‚durchgeführt werden, so ist doch sofort die gesteigerte Konsumkraft
der heimischen Bevölkerung, die verbreiterte Absatzfähigkeit der Industrie
im Inlande als günstiger Faktor und als Gegengewicht gegen die anfänglich
nachteiligen Folgen einer Geldwertbesserung für den Auslandsabsatz m
Rechnung zu stellen. Kommt auch diese Hebung der Konsumkrait nicht
allen Produktionszweigen und speziell nicht der Exportindustrie unmittel-
bar. gugute, sa wirkt doch die Erleichterung des Importes. die Verbesserung
der.staatsfinangiellen Situation, der allgemeinen Produktionsbedingungen
auch auf letztere günstig.zurück, ebenso wie die allgemeine Erleichterung
der Lebenshaltung in den breiten Massen der Bevölkerung. Jedenfalls
muß die Valutabesserung als eine. planmäßige, sukzessive
Rickgangigmachung der Geldentwertung (bis zu der unter den
angegebenen Verhältnissen erreichbaren Grenze) und der von ihr aus-
gehenden: Warenpreisteuerung verstanden . und behandelt
werden. Unter dieser Voraussetzung kann sie keine schädlichen, sondern
im i nur BunSHES eee üben, ER
EN lh Die Gefahren der „Stabilisierung“.
+t
~ Von: den Anhängern bloBer Stabilisierung, das heißt Konservierung
a des heutigen Kursniveaus,*) wird namentlich auch ins Treffen
Selbe daß. durch eine Hebung des: Kronenkurses jene. Schiehten der
4 Siche unter ‘anderen Ernst Ruzicka (früher erwähnte Schrift), Mises (siehe
den in der Politischen Gesellschaft gehaltenen- Vortrag, Neue Freie Presse yom 3. Juni
1921, Nr. 20388) und andere, z
314 Emanuel Hugo Vogel.
Bevölkerung, welche als Kapitalsbesitzer oder Gläubiger durch das Sinken
der Kurse benachteiligt wurden, infolge des seither eingetretenen Besitz-
: wechsels ja doch nicht entschädigt würden. Darum handelt es sich aber
auch gar nicht. Nicht die Wiederherstellung der Besitz- und Wertverhält-
nisse in der Vorzeit, sondern die alle Wirtschaftssubjekte, gleichgültig ob
Kapitalsbesitzer, Arbeiter oder Unternehmer, aufs tiefste interessierende
Herstellung eines tauglichen Zahlungsmittels und Wertmessers überhaupt
ist die entscheidende Frage. Wenn zum Beispiel Mises insbesondere betont,
es sei zweifellos zu erwarten, daß sich die „öffentliche Meinung“ auf die
Dauer mit einer steigenden Tendenz des Kronenkurses nicht abfinden
werde, denn solange letztere andauere, fördere sie den Import und hemme
den Export; die Behinderung der Ausfuhr aber müßte bald eine Bewegung
auslösen, die sich aufs schärfste gegen das Steigen des Kronenkurses
richtet:*) so wird hier wohl ein allgemeines wirtschaftliches Problem ganz
ausschließlich nur vom Gesichtspunkte der momentanen Exportkonjunktur,
nicht aber vom Standpunkt der oben erörterten allgemeinen Zusammen-
hänge, namentlich nicht der konsumpolitischen Interessen der Bevölkerung
aus, beurteilt. Abgesehen davon, daß die Hebung des Geldwertes durch
Verbilligung des Importes auch der auf fremde Rohstoffe angewiesenen
Exportindustrie zugute kommt, also gar nicht auf die Dauer die befürch-
teten Wirkungen der Stillegung haben kann, ist eben die heutige Art des
Geldverdienens wie der Produktionstätigkeit nur auf einzelne Schichten
und industrielle Zweige beschränkt, dagegen kein Aufschwung für das
gesamte Wirtschaftsleben denkbar. Mit elementarer Gewalt wird sich im
Gegenteile früher oder später die wahre „öffentliche Meinung“ gegen diese
durch die Valutamisere erzeugte ungleiche Art der Verteilung von Glücks-
gütern, sowie Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in der Volkswirtschaft
wenden. Richtig ist zweifellos, daß selbst schon die „Stabilisierung“ des
Kronenkurses eine Reihe von Exportchancen vernichten müßte, deren
Exportgeschäft nur auf die Scheingewinne aus dem Sinken des Kronen-
kurses abgestellt war, welches selbst sonst unrentable Geschäfte rentabel er-
scheinen licB*). Doch ist hiczu za bemerken, daß eben dieses reinigende
Gewitter der Währungsreform unserer Volkswirtschaft unbedingt nötig ist,
daß es auch gar kein Volksunglück bedeutet, wenn eine Anzahl unreeller, auf
Scheingewinne aufgebauter Existenzen aus ihrer wirtschaftlichen Schaukel-
3) Siehe den vorzitierten Vortragsbericht,
‘) Siehe vorige Anmerkung,
Stabilisierung oder Valutahebung als Ziel der Währungsreform. 8315
stellung geworfen wird. Denn um die reelle Exportindustrie als solche
handelt es sich in diesen Fällen ja gar nicht — sie würde durch einen in
früher erörterten Sinne durchgeführten umfassenden Sanierungsplan nur
vorübergehend in ihren Gewinnaussichten gestört, dagegen. auf anderen
Wegen gerade aus der Sanierung ihre Rekompensationen finden — sondern
in erster Linie um so manche der lediglich auf Valutaspekulation auf-
gebauten, dem Handel mit allen möglichen Objekten dienenden Import-
und Exporthäuser und andere ähnliche Schöpfungen unserer so glücklichen
„Exportkonjunktur‘‘. Die Zeit dieses und des sonstigen Schiebertums, des
parasitären, à la baisse der Volkswirtschaft und der gesamten übrigen
Bevölkerung spekulierenden Glücksrittertums unserer Tage würde mit
einer zielbewußten Valutareform im vorbezeichneten Sinne allerdings end-
sültig vorbei sein. Auch die in die Milliarden gehenden Augenblicksgewinne
aus dem Kettenhandel mit Waren und die Auswüchse einer ungezügelten,
auf den Wertverschiedenheiten der Krone aufgebauten Valuten- und
Devisenspekulation sowie des Arbitragegeschäftes würden ohne sonderlichen
Schaden für Volkswirtschaft und Allgemeinheit schwieriger und seltener
werden, ohne daß deshalb der legitime Valuten- und Devisenhandel, für
den Wien als Zentrum in erhöhtem Maße in Betracht kommt, im Verkehre
mit den Nationalstaaten an Boden verlieren müßte.
Jene, bisher noch anerschépfliche, die ungesunde Gestaltung des
„Geldgeschäftes“ aller Art in wunaufhörlichem Reichtum speisende,
papierene Quelle der Notenvermehrung könnte mit Hebung des Geld-
wertes und wenigstens teilweiser Sanierung der Staatsfinarz’n allmählich
zım Versiegen gebracht werden. All.dies scheint wohl kein Unglück, sondern
ein Glück für unsere Volkswirtschaft, jedenfalls aber kein Grund dafür, in
den zuerst von Interessentenkreisen ausgestoßenen Ruf nach _,,Stabilt-
sierung“ einz ıstimnıen, um kein .,AbreiBen der Konjunktur“, deren Weg-
z:ichen deutlich zim Abgrund der österreichischen Volkswirtschaft weisen,
eintreten zı lassen. i
Verworren und schwierig wird die Frage der Valutareform allerdings
dadurch, daß gerade durch die ungleiche Wirkung des Valutatiefstandes
für die Erfolgsaussichten der cir z2Inen Erwerbszweige und Berufsschichten
auch die Interessengegensätze außerordentlich gewachsen sind und die
in ihren Gewinnaussichten durch eine ernstliche Reform bedrohten Schichten
ihre Meinung vielfach als die „öffentliche“ oder als verineintliches Gesamt-
interesse auszugeben gencigt sind, Gerade manche dieser Interessenkreise
3 Lb Emanuel Hugo Vogel.
aber sind es, deren Vertrauen bezeichnenderweise auch in eine ,,stabilisierte”
Kronenwährung so gering ist, daß sie einstweilen Vermögensrücklagen für
alle Eventualitäten — in ausländischen Valuten, Guthaben, Vermögens-
objekten usf. oder in Realitäten aufsammeln, um bei einem dennoch ein-
tretenden völligen Ruin der österreichischen Valuta, von dem ja auch die
„stabilisierte Krone‘ (zu 1 «der 2) nicht weit entfernt wäre, nicht etwa
im Trockenen zu sitzen. Vielfach ist auch die Deckung der rapid
angestiegenen Sachkosten und Personalauslagen gerade der großen Kredit-
institute, Banken usf. notwendigerweise mit auf den durch den Niedrig-
stand der Krone bedingten Gewinnmöglichkeiten aus dem Geldgeschäfte
aufgebaut worden, was naturgemäß die Sachlage nicht wenig kompliziert.
All dies ist aber ein durchaus ungesunder, auf die Dauer un-
erträglicher Zustand,.der auf keinen Fall aufrechterhalten werden
kann. | N
Die Forderung, das heutige Niveau zu konservieren und den Aufbau
der neuen Währung gesetzlich auf einer Relation von 1, höchstens 2 zu
100 aufzubauen, würde einer Devalvation furchtbarster Art eleichkommen
und bekanntlich noch immer höhere Kaufkraft der Krone in den Ländern
sofort auf das angenommene Mindestmaß herabdrücken, die schwersten, gar
nicht auszudenkenden wirtschaftlichen Konsequenzen für die Zukunft des
Gros der Bevölkerung in Stadt und Land haben, da heute die Kaufkraft der
Krone bekanntlich ganz und gar nicht nach dem Züricher Niveau einheitlich,
sondern je nach der größeren oder geringeren Entfernung von den spekula-
tiven Zentren des Geldverkehrs, sowie nach Ländern, Bezirken, ja sugar
Gemeinden, verschieden ist. Beruht dies auch gewiß mit auf zahlreichen
anderen Faktoren (größeres Angebot insbesondere in Nahrungsmitteln,
größere Kaufkraft des Geldes infolge anders gearteter Marktlage), so ist
doch ein gut Teil der Verschiedenheit auf die unmittelbareren Wirkungen
des Geldhandels und Auslandsgeschäftes in den städtischen Zentren
gerenüber den hievon entfernten Gebieten zurückzuführen. Erst muß
sohin die Hebung und damit (soweit es sich hiebei um Geldwertver-
schiedenheiten handelt) eine gewisse Ausgleichung, die wirtschaftliche
Wertstabilität eines Mindeststandards, erreicht sein. Dies bedarf wohlüber-
legter, energischer und, wenn mit genügender ausländischer Vollvaluta
gestützt, auch hinsichtlich der möglichen Wirkung ziemlich berechenbarer
Finanzoperationen. Dann erst kann an eine „Stabilisierung“, richtiger
Verankerung des erreichten Niveaus in der Relation einer neuen Währung
Stahilisierung oder Valutahebung als Ziel der Währungsreform. S14
und im volkswirtschaftlichen und staatsfinanziellen Kıäfteverhältnisse
gedacht werden. Alle anderen Schritte sind vorweg ein Schlag ins Wasser.
Die „Stabilisierung“ auf unserem heutigen Währungs- und Wirtschafts-
niveau, die ja in Wahrheit gar keine solche wäre, sondern nur ein vorüber-
gehendes Haltmachen vor dem nahen Abgrund, um beim nächsten wirt-
schaftlichen oder staatsfinanziellen Unglück in ihn heratzustüzen ist
nichts als eine Phrase, aber eine gefährliche Phrase, welche die Öffentlich-
keit, die Stimme der wahren „öffentlichen Meinung“ zu betäuben geeignet
ist. Sie würde bedeuten, daß die Übergewinne einer Zeit der Geldentwertung
füreinzelne Zweige der Industrie (lange nicht für alle und auch für erstere
unmöglich dauernd), vor allem aber für das gesamte in Effekten oder Geld-
spekulierende Händlertum noch weiterhin künstlich festgehalten werden
sollen. Diese unnatürliche Ver:ängerung des Krankheitsprozesses unserer
Volkswirtschaft kann ernstlich und mit Verantwortungsbewußtsein nicht
weiterhin in Frage kommen. Eine Stabilisierung zum heutigen oder
einem anderen unverhältnismäßig niedrigen Kurse wäre auch
eine Stabilisierung der latenten Wirtschaft: u für den
Großteil der erwerbenden Bevölkerung. —
IH. Valutareform und Finanzpregramm. |
Allerdings darf die geplante Sanierungsaktien nicht gleichzeitig‘ ven
innen her durch ein den Wiederaufbau hemmendes Finarz- wnd Steuer-
programm eine neue Teuerungswelle in Bewegung setzen. Dies würde die
rünstige Wirkung einer Valutabesserung völlig zu paralysieren geeignet
sein. Der bisherige Sanierungsantrag des Finanzkomitees des Völkerbundes,
wie insbesondere das hiemit verbundene innere Finarzprogramni, läßt leider
befüfchten, daB'zu gleicher Zeit mit der Auslandskredithilfe ‘und der
Hebüng des Kronenkurses nicht nur eine innere Anleihe und'der Abbau der
staatlichen Lebensmittelzuschüsse sowie senstiger restringierbarer: Staats-
ausgaben, wie selbstverständlich, — sondern auch die weitere’ Erhühüng
der Eisenbahntarife, Postgebühren und Konsumaheaben, 'beziehurgsweise
Steuern erfolgen soll. Die hiedurch bewirkte Belastung der Verbrauehs-
und Erwerbswirtschaft müßte wieder weitere Lohnerhéhungen,'Verteterung
der Regie und Preissteigerungen nach sich ziehen. Schon der vtivermeidbare
Abbau der staatlichen Lebensmittelzuschüsse wiid Lehn-"und Gchalts-
steigerungen der staatlichen Angestellten zur Folge haben, insolange nicht
318 Emanuel Hugo Vogel.
der allgemeine Preisriickgang infolge gehobener Kaufkraft der Kronen-
währung sich durchsetzt, aber die Steuererhöhung würde der letzteren
günstigen Folge der Valutasanierung direkt entgegenwirken. Selbst auf die
Gefahr eines noch eine Zeit fortdauernden, wenn auch reduzierten, im
Kreditwege zu deckenden Defizites müßte vorläufig auf weitere
Steigerung der Fahr- und Frachtpreise sowie Steuern ver-
zichtet und lediglich die Aktion der Ausgabenminderung
energisch durchgeführt werden, welche übrigens durch die Erspar-
nisse beim Importe in der Post der „Kursverluste‘“ infolge des auf das
hier empfohlene Niveau gestiegenen Kronenwertes die denkbar stärkste
Förderung erfahren würde. Daß hiebei auch eine bessere sachliche Arbeits-
organisation in der Staatsverwaltung und eine richtige Verteilung und
Verwendung des vorhandenen Personals bei Sperre von Neuaufnahmen
sehr viel Kosten sparen würde, ist klar. Aber eine solche Verwaltungs-
reform stößt leider nicht nur auf vielfach unüberwindliche Schwierigkeiten
in Österreich, sondern sie braucht vor allenı Zeit, sogar lange Zeit und
geordnete politische Verhältnisse zır Durchführung. Zunächst muß alles
getan werden, um den Wiederaufbau und den allgemeinen Preisabbau im
Gefolge der Valutasanierung in Erscheinung treten zu lassen.
Über die Unmöglichkeit und Gefahren weiterer Tarif- und Steuer-
erhöhungen in einem Zeitpunkte, wo unter Herabminderung der bisherigen
Exportprämie im Gefolge der Valutareform alle Kraft auf die Erleichterung
der Produktionsbedingungen und den Preisabbau im Wirtschaftsleben
gerichtet werden muß, braucht wohl kein Wort verloren zu werden. Im
Gegenteile, man wird manche unserer direkten Steuern wieder ganz er-
heblich abbauen müssen, willman den Wiederaufbau nicht vorweg hindern.
Insbesondere hat es gar keinen Sinn, immer und ewig die Industrie zur
hauptsächlichen Trägerin der unausgesetzt steigenden Staatslasten zı
machen, insolange es nicht möglich ist, ihr den Spielraum zur Erweiterung
der Produktion und ihrer Anlagen, zur umfangreichen und hemmungslosen
Arbeit zı eröffnen. In dieser Hinsicht stimme ich Mises,’) allerdings mit
einigen sachlichen Einschränkungen ebenso wie in der Richtung bei, daß
es gar keinen Sinn habe, „Inflationsgewinne‘“ als wirkliche Gewinne
wegzısteuern, insoweit sie in bloß nominellen Werterhöhungen schon
vorhandener werbend angelegter Kapitalien bestehen. Die Wertsteigerungen
” `) Siehe den oben zitierten Vortrag,
Stabilisierung oder Valutahebung als Ziel der Währungsreform. 319
infolge der Geldentwertung sind kein steuerfähiger Wertzuwachs, be-
ziehungsweise „Veräußerungsgewinn‘‘, da sie bloB Wertveränderungen sind,
die bei steigendem Geldwert ebenso wieder sich ins Gegenteil kehren können.
Auf der anderen Seite sollte allerdings das Moment der Geldentwertung
auch bei der Steuerleistung nicht übersehen und beachtet werden, daß auch
die Vorkriegssteuerleistung in einem dementsprechenden Umfang sich ver-
vielfachen müßte, sofern dieses Multiplum auch auf der Einnahmenseite
eingetreten ist. Gerade diese Relation der Geldentwertung wird aber sowohl
bei Beurteilung der Bemessungsgrundlage als des hierauf angewendeten
Steuerfußes völlig vernachlässigt, wie überhaupt die Ungleichmäßigkeit
der Steuerbelastung durch die Verschiedenheit, in welcher die Geldent-
wertung in Besitz und Einkommensstand faktisch Ausdruck gefunden hat,
nur noch potenziert wurde. Dagegen bleiben die wirklichen Valutengewinne,
die eine Folge der Inflationserscheinung und Geldentwertung sind und wohl
die würdigste Quelle einer selbst bis zur teilweisen Konfiskation vor-
schreitenden Steuererfassung wären, tatsächlich ungenutzt, weil sie sich
trotz Valutenumsatzsteuer und Bestimmungen über Besteuerung von Ver-
äußerungsgewinnen zumindest für die Einkommen- und Vermögens-
besteuerung nicht mit den bisherigen Mitteln allgemeiner Bekenntnis- und
Veranlagungsvorschriften lückenlos erfassen lassen.
Mit Steuern allein kann übrigens eine moderne Finanzwirtschaft heute
überhaupt nicht mehr arbeiten, sie bedarf anderer neuer Mittel und Wege
der Einnahmenbeschaffung. Dies kann und wird zwar nicht im Wege der
„Sozialisierung‘‘ des privaten Unternehmertums geschehen — für derartige
Experimente ist unsere Zeit zu ernst —, aber der Staat als Repräsentant
der Gemeinschaft wird in erweitertem Umfange sich wenigstens jener Wirt-
schaftszweige versichern müssen, an genen ein hohes öffentliches Interesse
dafür spricht, die bisherigen Gewinstmöglichkeiten der Gesamtheit zuzu-
führen. Gelöst von dem Drucke der Geldentwertung und fortgesetzter
Steigerung der Personalkosten wird bei gehobenem Geldwerte später auch
vielleicht eine rationellere Betriebsführung öffentlicher Unternehmungen
durch den Staat möglich werden. In erster Linie handelt es sich um den
Ausbau und die Einrichtung weiterer ertragsfähiger Fiskalmonopole, viel-
leicht auch die Übernahme oder Beteiligung an einzelnen größeren Zweigen
der Erwerbswirtschaft (insbesondere Wasserkräfte und Elektrizitätswirt-
schaft, Kohlenwirtschaft in späterem Zeitpunkte), wogegen die sonstige
| private Wirtschaftstätigkeit von den hindernden Fesseln des staatlichen
820 Er oo. Euranuel Hugo: Vogel.
Reglementierungswesens und der Zentralenwirtschaft befreit werden
könnte) . 3
Auch in der Frage, ob ‘zuerst die Sanierung der Staatsfinanzen, die
Beseitigung des Defizites und dann erst die Währungsreform oder zuerst
letztere und dann oder mit ihr im Zusammenhange die Herstellung des
Gleichgewichtes in der Staatswirtschaft in Angriff genommen werden soll,
kann ich der Anschauung jener nicht beipflichten, welche die garze
Währungsreform verschieben wollen, bis die Sanierung der Finanzen und
des Defizites erreicht ist. Letztere Meinung wird insbesondere von jenen
‘vertreten, welche die Stabilisierung auf dem heutigen Kursniveau emp-
fehlen. Ganz abgesehen davon, daß wir gar nicht so lange warten können,
‚weil die Sanierung desStaatshaushaltes eine Aufgabe ist, die erst in
‚einer Reihe von Jahren sich lösen läßt, kann auch letztere in finanzpolitisch-
'zweckmäßiger Weise überhaupt nur zu gleicher Zeit mitderWährungs-
reform durchgeführt werden, ja-muB zwischen beiden Aktionen ein natur-
gemäß enger Konnex bestehen. Vor allem ist jede Währungsreform, das
heißt jede Besserung des Geldwertes gerade einer der wichtigsten Faktoren
zur Besserung des Staatshaushaltes, zur Herstellung des Gleichgewichtes.
Ein Großteil des Defizites, wie der Staatsausgaben überhaupt, beruht ja
einzig und allein auf der Geldentwertung, welche nicht nur zu kolossalen
Kursverlusten bei Beschaffung von Kohle, Lebensmitteln und den für die
staatlichen Unternehmungen erforderlichen Sachgütern nötigt, sondern
ebenso auch den Personal- und Pensionsaufwand ‘zu gigantischen Ziffern
anschwellen läßt. Weist doch das jüngst für das 2. Halbjahr 1921. vor-
velegte Budget Kursverluste an Sachgütern- und Lebensmitteln von 189
Milliarden Kronen (hievon bei der Lebensmittelfürsorge 10-28 Milliarden,
bei Staatsmonopolen 2: 18, im Eisenbahnbetrieb 1-75, im Schuldendienste
Bali Au ne -- Lat
4) Jn ersterer Hinsicht befinde ich mich im Gnatt zu den Rayenaauagen
Wises, der, auf dem Boden des individualistisch-wirtschaftsliberalen Ideenkreises der
englischen Schule der Nationalökonomie fußend, umgekehrt die AbstoBung aller öffent-
lichen Betriebe des Staates; der Länder und Gemeinden wünscht. Dies geht meiner
Meinung nach zu weit. Wir können heute nicht mehr auf die Gemeinwirtschaft völlig
verzichten, weil die Maße des. Wirtschaftslebens weit über die engeren, noch. ew-
facheren Formen der älteren Zeit hinausgewac bsen sind, weil ein allgemeines schrapken-
loses Wettrennen um den Gewinn einen Kampf aller gegen alle entfesseln müßte und
große weite Volksschichten auf den Schutz des Gemeinwesens angewiesen sind. die
sonst bei schrankenloser und ausschließlicher PENAUS ehe: BD. an die
Wand gedrückt würden. BE Se Sg i ag Wa
4 - at a
— Pra
zo
Stabilisierung oder Vahitahebung als Ziel der Währungsreform. 321.
234 Milliarden Kronen) und einen Personal- und: Pensionsaufwand von
14 Miliardeh Kronen auf. Von der auf 49-5 Milliarden veranschlagten:
Auseaben, beziehungsweise von dem auf 25 Milliarden pro Halbjahr prä-
limierten IJefizit entfallen also nicht weniger als 19 Milliarden (das ist:
38°, beziehungsweise 74°) auf Kursverluste. Fin nicht unerheblicher
Teil hievon würde nach Steigerung des Geldwertes auf das frikher
besprochene Niveau von selbst verschwinden. Bei Berechnung dieser ,, Kurs-
verluste‘‘ im Staatsvoranschlage wurde ein Kursstand von 100 6. K =
=] schweiz. Franken zugrundegelegt. Bei dem faktischen Kursstande
von Ende Juli 1921 pro 0-70 erhöhen sich die Differentialverluste noch
vant bedeutend, dagegen würden sie sich bei einen: Kursstand von’ }'/2'
bereits auf 12-6 Milliarden, bei einem solchen von 2 auf: 9-5 Milliarden
reduzieren, bei einer Hebung auf 4 bis 5 aber bis auf einen kleinen Bruch-
teil verschwinden. Die „Stabilisierungstheorie‘‘ sowohl als die wirtschafts-
pohtischen Interessenten der andauernden Geldentwertung übersehen m’
ihrer Beweisfültrung stets vollkonmen, daß gerade dieser schwerste Ballast
unseres heutigen Budgets ja überhaupt nur durch Besserung der Währung
und sohn in um so sicherem und größerem Maße zu beseitigen: ist, als
diese Hebung der Währung gelingt. Jedenfalls geht es nicht an, äu:gkeicher
Zeit eine'entscheidende’ Hebung der Währung behufs' Vermeidung jedwoder
Möglichkeit einer Produktionsstörung grümdsätztich abzulehnen,. unter
emem aber zu fordern, daß das Staatadefizit beseitigt, die Ausgaben
vermindert, jedoch keine mn werden
sollen. 2) S i Be ee ges a ae ge
. I
Fassen wir das Gesagte zusammen’ so éreibt sieh: a
Die erste Aufgabe der Sanierungsaktion wäre die schrittw eise Hebung”
des Kronenkurses auf das von uns ‚angedeutete Ni ivean (8 his. 10), mindestéhis
aber auf ein Niveau (4 bis 5), welches unseren “Handel hit den Nachbar-
staaten, insbesondere Tschecho- Slowakei, ' Jugoslawien, Deifschländ,
wesentlich erleichtert, hiedurch auch das Budget Bezüglich der’ „Ruf
verluste‘‘ und Ausgabenziffern erheblich ` entlastet ‘und ‘den’ Preisabbali
einleitet. Es kann keinem Zweifel begegnen, daß diese zugleich‘ von einer
inneren Wiederanfbauaktion begleitete, auf‘ die ausländischen Kre ‘dite
gestützte Wahrungssanierung Nicht s prünghaf t, sondern nur in ein er
Reihe von auf Jahre verteilten Etappen dürchgeführt iverden Kania’
ae day ete an
ab
eee
) Siehe die ‘Ausführungen Mises in dem frühe? erwähnten Vottrage: ! oe
32? Emanuel Huge Vogel. -
und darf, damit die mit der Valutahebung fiir die Exportindustrie ver-
bundenen zeitweisen Absatzschwierigkeiten durch die im Gefolge der
ersteren eintretende Erleichterung und Verbilligung des Imports, wie
überhaupt der Produktionskosten, ihren Ausgleich finden können. Erst
nach Erreichung dieses für unseren Außenhandel günstigen Niveaus der
alten Kronenwährung könnte an die Festsetzung der neuen Relation und
die Überführung der alten in die neue Währung gedacht werden. Wird die
neue Notenbank schon jetzt zu Beginn der Sanierungsaktion errichtet, wie
dies das Elaborat des Finanzkomitees des Völkerbundes plant, dann hätte
sie sich auf Grund der erteilten Valutakredite in den Dienst der Valuta-
hebung zu stellen und die oben besprochenen vorbereitenden Schritte zur
späteren Einführung der neuen Währung durchzuführen: Unter einem
müßte das innere Finanz- und Wiederaufbauprogramm unter Vermeidung
weiterer allgemeiner Steuer- und Tariferhöhungen energisch weiter ver-
folgt werden, wobei noch für die nächste Zeit, vielleicht eine Reihe
von Jahren, mit einem im Kreditwege zu deckenden Defizit zu rechnen
sein wird. i
Keinem Zweifel kann es begegnen, daß auch nach Erreichung eines
erträglichen Niveaus, auf dem die „Stabilisierung“ im wohlverstandenen
Sinne des Wortes und die Überleitung in eine neue Währung stattzufinden
vermag, die Kreditaktion fortgesetzt werden müßte, schon um die Auf-
rechthaltung des erreichten Niveaus zu sichern, die weitere Sanierung des
Staatshaushaltes durchzuführen und die-Konsolidierung des gesamten Wirt-
schaftslebens zu ermöglichen. Infolgedessen erscheint auch die vom Völker-
bundkomitee in Aussicht genommene Frist von 20 Jahren für die Suspen-
dierung des Generalpfandrechtes viel zu kurz, da diese sich weiter fort-
setzende Kreditgewährung sowie die Prolongierung der vorangegangenen
und in diesem Zeitpunkte noch aushaftenden Kredite eine weitere Frei-
stellung der österreichischen Besitz- und Einnahmsquellen von den durch
den Friedensvertrag vorgesehenen Prioritätsrechten notwendig machen.
Eines aber ist vollkommen klar, daß die Völkerbundhilfe mit kleinlichen
Mitteln oder bei ungünstigen Bedingungen der gewährten Kredite (zum
Beispiel einer etwa wie es heißt, hohen Zinsverpflichtung) ganz vergebliche
Opfer verrichtet, ohne Österreich zum Leben zu verhelfen. Auch die Hebung
der Kronenwährung auf ein unzureichendes Niveau wäre eine für die Dauer
unmögliche Grundlage der Stabilisierung, die zeitweise Aufrechthaltung
der heutigen „Exportarbeit‘‘ und Wirtschaftstätigkeit aber ein sehr
Stabilisierung oder Valutahcbung als Ziel der Währungsreform. 325
yweifelhafter Scheinerfolg, der nicht neues Leben, sondern langsames
Absterben bedeutet. Wie immer aber auch die gegenwärtige Finanz- und
Währungsreform gestaltet sein mag, die unser Zukunftsschicksal bestimmen
wird, eineinnere Voraussetzung muß sie vor allem in Österreich selber
haben: Den Mut und den ernstlichen Willen aller am Wieder-
aufbauwerk beteiligten Faktoren und Bevölkerungskreise,
jegliche Sonderinteressen zurückzustellen gegenüber den
höheren Interessen des Volks- und Staatsganzen.
Vorstehende Abhandlung wurde abgeschlossen am 31. Juli 1921.
4
Die Bedeutung der Warenbörsen `
für den wirtschaftlichen Wiederaufbau
Österreichs.
Von Rudolf Brichta.
Die Fragen, welche den Gegenstand dieser Darstellung bilden, sind
` mehr als Probleme der Weiterbildung der Technik von Handelsgeschäften;
in ihrem Zusammenhange mit den Geschehnissen des Krieges und des
wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruches gestalteten sie sich zu
einer Rückschau über die vielen krausen Wege, welche unsere Wirtschaft,
seit dem sie in den Krieg getreten ist, zurückgelegt hat. stellen sie uns vor
das Problem, in welchen Formen sich der Wiederaufbau unserer
Wirtschaft, speziell des Handels, nach dem Kriege vollziehen soll. Will
man die Bedeutung der Fragen ermessen, muß man kurz die Entwicklung
an sieh vorüberziehen lassen, die die Organisation unserer Wirtschaft
während des Krieges genommen hat.
In dem alten Österreich ist der Bürger immer gewohnt gewesen, in
allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen, die das Leben in der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gemeinschaft aufwarf, die Staats-
gewalt anzurufen. Ein naiver Glaube an die Unendlichkeit der staat-
lichen Gewalt, gepaart mit dem gegenseitigen Mißtrauen der einzelnen
Wirtschaftenden gegeneinander, hat speziell das Bürgertum seit jeher —
zum Unterschied von der Arbeiterschaft, teilweise auch von den Bauern
— dem Gedanken der organisierten Selbsthilfe entfremdet und die
Lösung aller Streitigkeiten, aller Probleme der wirtschaftlichen Weiter-
entwicklung nicht im eigenen Zusammenwirken, in gegenseitiger Aus-
sprache und Verständigung, sondern in der Anrufung der Entscheidung
der Staatsgewalt gesehen, die sich in letzter Linie in der staatlichen
Bureaukratie verkörperte; so ist es gekommen, daß die einzelnen großen
Erwerbszweige, insbesondere aber des Handels, als die große Katastrophe
Die Bedeutung der Warenbörsen f. d. wirtschaft!. Wiederaufbau Österreichs. 325
des Krieges hereinbrach. über eine nach Branchen gegliederte Zu-
sammenfassung nahezu gar nicht verfügten, daß sie die wertvollen
organisatorischen Zentren, welche sie für die Lösung humanitärer, all-
gemein kommerzieller und staatlicher Aufgaben besaßen, nicht auswerteten,
zar Durchbildung einer branchenmiaBigen Organisation, welehe die Technik
des Handelslebens hätte unter Mitwirkune aller weiter ausbilden, einen
Zusammenhalt der Branchen in allen jenen Fragen hätte schaffen können,
deren Lösung nicht der Einzelne, sondern nur eine organisierte
Gesamtheit finden kann. Besonders in den Kreisen des Handels überwog
das gegenseitige Mißtrauen alle jene Antriebe, die sich aus der fort-
währenden Komplizierung des Wirtschaftslebens ergaben und eine Zu-
sammenarbeit der einzelnen Branchen auf das eindrinelichste schon längst
erfordert hätten.
Hat dieser Zustand schon vor dem Kriege dazu geführt, daß in letzter
Linie alle wirtschaftlichen Fragen entweder nach politischen oder nach
den Anschauungen der Bureaukratie. jedenfalls aber nach auBerwirt-
schaftlichen Gesichtspunkten gelöst wurden, daß die Wirtschaftenden,
die immer den Staat anriefen, zum Schlusse immer entsetzt waren über die
Lösung, die der Staat und seine Organe wirtschaftlichen Problemen gab,
su wurde er mit dem Ausbruch des Krieges zum Ausgangspunkt der ver-
hängnisvollsten Entwicklung des Handels und mit ihm der Gesamt-
wirtschaft. Den Handelskreisen fehlte jede Organisation, die in der Lage
gewesen wäre, aus sich selbst heraus den Übergang in die Kriegs-
wirtschaft zu gewinnen und dieser Mangel, verbunden mit dem naiven
Glauben der staatlichen Bureaukratie, daß sie in der Lage sei, das Wirt-
schaftsleben in seinen tausendfältigen gegenseitigen Beziehungen und Ver-
ästelungen zu beherrschen, daß sie das Zusammenwirken der hundertfachen
wirtschaftlichen Erwägungen der einzelnen Wirtschaftenden, das kunstvolle
und sich immer wieder fast ausgleichende Geeenspiel der egoistischen
Antriebe und Interessen der einzelnen ersetzen könne durch die über der
Wirtschaft thronende burcaukratisehe Entscheidung schuf eine voll-
kommen neue Organisation der Wirtschaft, vor der wir gegenwärtig
stehen; eine Wirtschaft, aufgebaut auf dem Prinzip der Deckung des
Bedarfes und durchgeführt nach den der Burcaukratie immanenten
Grundsätzen, vollendet mit den äußeren Machtmitteln der Staatsgewalt,
mit Verordnungen, Verboten, Überwachungsorganen und Gefängnissen —
also nicht auf dem Wege des positiven Eingreifens in die Wirtschaft.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 9,
326 Rudolf Briehta.
sondern auf Wegen der negativen Behinderung des Wirtschaftens der
anderen. Man fing mit den Höchstpreisen an und endete mit einem System,
das wenigstens in der Theorie jeden Wirtschafisakt zam Gegenstand der
Entscheidung des Beamten machen sollte.
Die Bodenfrucht, die [Ergebnisse der Viehwirtschaft wurden den
Produz:nten zu einem bestimmten Preise abgenommen, in staatlich über-
wachte Magazine gebracht, sie durften nur gegen Bewilligung transportiert
werden, wurden dort an die Weiterverarbeiter zur Eızeugung bestimniter
Waren unter bestimmtem Mischungsverhältnis weitergegeben. Diese Pro-
duzenten hatten sodann die Waren mit bestimmten Zuschlägen an den
Großhandel, von da an den Detailhandel weiterzugeben, der sie dann
teilweise zu ganz bestimmten Preisen, oft auch an bestimmte Personen und
in festeesetzter Menge zu verteilen hatte. Kam Ware aus dem Auslande,
so erteilte der Staat die Bewilligung zum Einkauf, zum Transport,
schrieb vor, zu welchen Preisen die Ware gekauft, ob und in welcher
Währung gezahlt werden dürfe, teilte die ins Land kommende Ware unter
Weiterverarbeiter, Händler, vielfach auch Konsumenten auf, und da doch
so alles nach einem Plane geschafft, erzeugt und verteilt wurde, regelte
die Bureaukratie konsequent die Preisbildung auf die Art, daß jeder nur
die effektiven Auslagen seines Betriebes und eine vom Staate an-
erkannte oder wenigstens nicht als übermäßig befundene Nutzensquote
hinzuschlagen dürfe. Jede kaufmännische Qualifizierung wurde zum Delikt.
jeder Versuch, Ware dorthin zu schaffen, wo sie zeitlich und örtlich am
dringendsten war, zum Kettenhandel, es war alles planmäßig durch den
Staat auf das beste geordnet.
Aber der Planwirtschaftler — so nannte man mit einem neugefundenen
wissenschaftlichen Ausdruck dieses bureaukratisch-etatistische System —
denkt und der Schleichhandler lenkt! So folgerichtig nämlich dieses
System der Verbeamtung des ganzen Wirtschaftslebens war — denn
auch da, wo Kaufleute in diesen komplizierten Apparat eingestellt wurden,
traten sie nicht als Kaufleute im wirtschaftlichen Sinne, sondern im besten
Fall als fachlich geschulte Beamte auf —, so litt es dach an einem
kleinen Fehler. Es war nämlich vom Anfang an undurchführbar.
Statt von den immanenten Gesetzen des Wirtschaftslebens, die in ihrer
Art so wirken wie die Naturgesetze, auszugehen und das wirtschaftliche
Leben mit wirtschaftlichen Mitteln zu beeinflussen, Auswüchse mit den
technischen Behelfen, die eine jahrhunderielange Praxis ausgebildet hatte,
Die Bedeutung der Warenhörsen f. d. wirtschaftl. Wiederaufbau Österreichs. 327
zu bekämpfen, suchte man mit den formalen Mitteln der Staats-
gewalt die Wirtschaft unter die formalen Gesichtspunkte einer bureau-
kratischen Geschäftsführung zu zwingen. Und erreicht konnte nur eines
werden: Durch den plumpen groben Zugriff hat man das fein abgestimmte
Instrument zerschmettert und die Gesetze des wirtschaftlichen Geschehens
haben sich mit anderen viel derberen Mitteln ihre Geltung eızwungen. An
die Stelle des Kaufmannes trat der Schleichhändler und der
Schmuggler. Der Kaufmann, der nach alten Traditionen sein Geschäft
führt, der Bücher und ordnungsmäßige Aufzeichnungen führt, der mit
Angestellten arbeitet und aus all diesen Gründen verhältnismäßig leicht
kontrolliert werden kann, wurde naturgemäß ausgeschaltet, aber nicht
allein durch die Zentralen und durch das Beamtentum, sondern dureh
jene, welche außerhalb dieses kunstvellen Gebildes in Wirklichkeit einen
Großteil der Versorgung der Produktion und der Bevölkerung übernahmen.
In den Betrieben jener Kaufleute, die sich an die Vorschriften der Preis-
treibereiverordnung und anderer ähnlicher Vorschriften hielten, wurden
die Waren aufgekauft von den eigenen Angestellten und deren Ange-
hörigen, die sie dem Schleichhandel in den kühnsten Formen wieder
zuführten. Die fein ausgeklügelten Dokumente aller Art, vom Transport-
schein angefangen über die verschiedenen Verarbeitungsscheine bis zur
Ein- und Ausfuhrbewilligung erhielten Marktpreise, weil der Staat und
seine Zentralen in immer größerem Umfang gezwungen waren, die Aus-
fertigung dieser Dokumente in die Hände von untergeordneten und schlecht
entlohnten Organen zu legen. In den Ämtern sowohl wie in den kauf-
männischen Betrieben breitete sich immer mehr die Korruption aus, die
zusammen mit der Willkür, die naturgemäß bei den Entscheidungen wirt-
schaftsunkundiger Beamter herrschen mußte, zu einer wirtschaftlichen
Anarchie führte, gegen die sich das Wirtschaftsleben selbst auf die ihm
eigene Weise zu schützen suchte. Neben der staatlichen Organisation, die
sich nieht durchsetzen konnte und nur in völlirer Veıkennung ihrer Auf-
gaben an die Stelle eines lebendigen Wirtschaftskörpers einen blutleeren
papiernen Apparat schuf, der nur hinderte und nicht befruchtete, entstand
eine ganz andere wirtschaftliche Welt. DieVersorgung des Konsums
und der Bevölkerung übernahmen Personen, die ohne formale Berechtigung
vielfach aber auch ohne jede wirtschaftliche Schulung — die bei der
„Planwirtschaft‘‘ auch nicht nötig war — den Verkehr zwischen den
einzelnen Stufen der Wirtschaft vermittelten. Nur wurden die Preise
328 Rudolf Brichta.
etwas teurer, denn einmal mußten ja die Kosten zugeschlagen werden,
die dadurch entstanden, daß man die Ware meist nicht in großen
Ladungen beziehen konnte, sondern sie als Personengut in Rucksäcken
und auf Schleichwegen beschaffen mußte, daß man Aufsichtsorgane
bestechen mußte usw. und andernteils mußte das Risiko des Verbotes
einkalkuliert und mit einer entsprechenden Risikoprämie bezahlt werden.
Merkwürdig! Die wirtschaftlichen Tendenz :n, die ınan so verleugnen wollte,
waren so stark, daß neben den offiziellen Preisen ganz bestimmte Schleich-
handelspreise entstanden, an Stelle der geschlossenen Börse aller Orten
Börsen auftauchten, ja, daß Staat und Wirtschaft direkt unter die
Herrschaft dieser Nebenorganisation gerieten, die sie weder
bekämpfen konnten, noch zum Schluß wollten; denn, da man sich innerlich
darüber klar war, daß der eigene Apparat die Versorgung nicht übernehmen
könne, so warte man diese wilden Auswüchse, die man zum Großteil durch
die eigene Tätigkeit geschaffen hatte, nicht mehr zu beheben, weil in ihnen
die einzige Gewähr für die Weiterführung der Wirtschaft überhaupt
gelegen war. Den Abbau dieser ‚„Planwirtschaft‘, die so ganz anders aus-
gegangen war, als man geplant hatte, konnte und wollte man nicht vor-
nehmen. Einesteils konnte man sich nicht entschließen, die Irrtümer ein-
zugestehen und andernteils waren an diesem System wichtige Inter-
essenten entstanden, die ihren ganzen politischen und wirtschaftlichen
Einfluß für die Aufrechterhaltung eines Systems einsetzten, von dem sie
lebten. Mit dem Zusammenbruch des alten Staates, mit der plötzlichen
Vernichtung der zentralen Autorität, die so ins ungemessene überspannt
worden war, kamen auch die Interessenten der Länder, der Bezirke und
der Gemeinden auf den Gedanken der Planwirtschaft, richteten eigene
Organe mit eigenen Beamten dafür ein. Überall ward jetzt „planmäßig“
gewirtschaftet. Nur wirtschaftete jeder nach seinem eigenen Plan. Die
Länder sperrten sich gegenseitig ah, die einzelnen Gemeinden bewirtschafte-
ten das ihre, einzelne große Industriebetriebe, Konsumentenvereinigungen
tauschten gegenseitig, ja sogar mit dem Ausland aus — und über all dem
thronte der Schleichhandel, der allein die Aufrechterhaltung dieses
Systems ermöglichte und, so schrecklich das auch klingt, in Wirklichkeit
allein den notwendigsten Ausgleich zwischen den verschiedenen planmäßig
Wirtschaftenden verbürgte.
Zu spät haben insbesondere die Kaufleute erkannt, wohin sie der
Mangel einer geschlossenen Organisation, wohin sie das gegenseitige M:B-
Die Bedeutung der Warenbörsen f. d. wirtschaftl. Wiederaufbau Österreiehs. 929
trauen, das ihnen verbot, zu geschäftlichen Zwecken zusanımer zukommen
und ihre geschäftlichen Erfahrungen untereinander zu verwerten, geführt
hat. Erst im Krieg und in dem Maße, in dem diese eigentümliche Organi-
sation sich ausbaute, haben auch die Kaufleute daran gedacht, sich zunächst
sezusagen zum Zwecke der Verteidigung in ihren Branchenorganisationen
zusanımenzufinden. Es bleibt c'n dauerndes Verdienst der gesetzlichen
Vertretung der Wiener Kaufmannschaft, daß sie den Gedanken der
Zusammenfassung nach Branchen in Erkenntnis der abwegigen Ent-
wicklung. die das ganze Wirtschaftsleben genommen hat, erfaßt und trotz
der großen äußeren und inneren Schwierigkeiten und Hindernisse zu einem
guten Teil zur Durchführung gebracht hat. Unter der organisatorischen
Mithilfe des Greminms der Wiener Kaufmannschaft und unter seiner steten
Führung sind eine große Anzahl von Organisationen und Verein’'gungen
des Handels der einzelnen Branchen in den verschiedensten Formen ent-
standen; teils freie Vereine, teils Fachsektionen der Gremiums, teils Aus-
schüsse zur Besorgung bestimmter Aufgaben der Überganeswirtschaft
wurden err chtet, die zunächst bestrebt sein mußten, die Kaufleute in diese
planlose Planwirtschaft einzuschalten, Schritt für Schritt die ärgsten Fehler
und Mängel des herrschenden Systems zu bekämpfen und die vor allem die
Aufgabe hatten, den Handel für die Zeit zu erhalten. in der eine
bessere Erkenntnis die sukzessive Aufhebung der Bindungen des Verkehres
als elementare Voraussehung des Wiederaufbaues der Wirtschaft erkennen
werde. So haben diese Branchenorganisationen an der Preisbestimmung,
an der Verteilung von Waren, an der Erwirkung der Einfuhrbewilligungen,
Ein- und Ausfuhrkontingenten und ihre Verteilung unter die Kaufleute,
an der Verteilung von Sachdeniobilisierungsgüter teilgenemmen, haben
mitgewirkt an der Behebung oder wenigstens Linderung so mancher der
vielen Schwierigkeiten, die dem Geschäftsverkehr in den verschiedensten
Formen gemacht wurden. Aber nunmehr ausgebildet, obliegt ihnen eine
weit höhere Aufgabe. Sie müssen versuchen. unter den vollständig ver-
änderten Verhältnissen und unter Berücksichtigung derselben den Waren-
verkehr neu zu organisieren.
Überall da. wo unübersichtliche Verhältnisse im Warenverkehr vor-
lagen, wo es galt, in den Ablauf des Wirtschaftsverkehres Ordnung zu
bringen, haben sich die Kaufleute zu einem Markt oder zu einer Börse
zusammengefunden. Diese Zusammenkünfte ermöglichten und ermöglichen
auch heute noch mehr als eine bloße Übersicht über die jeweilige Markt-
330 Rudolf Brichta.
lage und über die Preisgestaltung. Auf dem Markte tauchen in warenarmen
Zeiten seit jeher die Vorräte auf, die sich jedem staatlichen Zugriff ver-
schlossen. Er wurde zum Mittler für die Beschaffung von Hilfsstoffen
die die Produktion und der Verkehr benötigten, auf dem Markte konnte
ein Austausch von Waren erfolgen, die für jeden der Austauschenden
von Bedeutung waren und die umso wichtiger sind, wenn ein Staat,
auf den Export von Waren, d'e über die ganze Wirtschaft zerstreut sind.
angewiesen ist. Der Markt vermittelt den Austausch geschäftlicher Er-
fahrungen, er informiert über die Erzeugung und deren Absatzmöglich-
keiten, er schuf immer dem Kaufmann Gewißheit über die Möglichkeit und
die Art der Bezahlung und des Kredites. Die Konzentration auf dem Markte
schuf geldsparende und transportsparende Methoden, erweiterte die Kennt-
nis des einzelnen Kaufmannes von dem für das Geschäft maßgebenden
Verhältnissen. Mit einem Wort, der Markt vereinigte seit jeher alle jene
Elemente des Verkehres, die sich der Erfassung des einzelnen ent-
ziehen — aber niit der individuellen Arbeitskraft nnd dem indi-
viduellen Können des einzelnen Wirtschaftenden. Noch eine ganz
andere Bedeutung gewinnt jedoch das Zusammentreten der Kaufleute zur
gegenseitigen Information und zum gegenseitigen Geschäftsabschluß in
Zeiten einer so katastrophalen Krise wie jetzt, wo wir einem wirtschaftlichen
Chaos gegenüberstehen, dessen Ordnung mit den Mitteln, die der Staats-
gewalt zur Verfiigung stehen, von vornherein unmöglich ist. Unser
Geschäftsleben ist durch das Überwuchern des Schleiehhändler- und
Schiebertums, durch das Eindringen der unlauteren Elemente in den
Handel durch die Tatsache. daß heute nahezu alles handelt, auf das äreste
korrumpiert. Geschaftsmethoden haben sich eingebürgert, die den reellen
Wettbewerb auf das ärgste gefährden, die unnatürlichen Bindungen, die
geschaffen wurden und die dem Handel jede Elastizität nehmen, haben
gerade diesen Elementen, die sich jeder Kontrolle entziehen. geradezu die
Herrschaft über das Geschäftsleben in immer steigerndem und
bedrohlicherem Maße gewonnen. Den Ausschluß dieser Elemente herbei-
zuführen ist ein ebensolches Bedürfnis der Volksgemeinschaft wie des
Kaufmannsstandes. Aber der Staat mit dem ihm zur Verfügung stehenden
Mitteln kann, wie wir bereits aus Erfahrung wissen, das Übel nicht ver-
Tingern, sondern nur vergrößern. Geleitet von vielfach außerwirtschaft-
lichen Gesichtspunkten, von konfessionellen, nationalen und burcaukra-
tischen Ideen beherrscht, ist er von vornherein nicht in der Lage, diese
Die Bedeutung der Warenbörsen f. d. wirt chaftl. Wiederaufbau Österreichs. 331
Elemente von der Beherrschung des Wirtschaftslebens zurückzudrängen.
Auf einem freien organisierten Markte hingegen, zu dem doch nur Kauf-
leute zugelassen werden, die sich der allgemeinen Achtung erfreuen, die ihr
Geschäft nach den im kaufmännischen Leben durch Jahrzehnte über-
kommenen Gesichtspunkten führen, wird — freilich nicht auf einmal,
sondern durch sukzessive, schwere Reinigungsarbeit — die Ausschaltung
dieser Elemente wenigstens von ihrer überwierenden Geltung für die Preis-
bestimmung und Versorgung erreicht werden können. Das Schiebertum
kann nicht durch Verordnungen bekämpft werden, nicht durch Ver-
sammlungen, Pres cangriffe und Beschlüsse von gesetzgebenden Körper-
schaften beseitigt werden, sondern nur dort getroffen werden, wo es seinen
Sitz hat, auf dem wirtschaftlichen Markte und nur durch die Personen,
die ihm mit dem dem Geschaftsleben eignenden Waffen auf dem wirt-
schaftlichen Kampfplatz entgegentreten können.
Unsere Geschäftsmethoden haben sich vielfach auf die ärgste Weise
verschlechtert. Die übereilten Verfügungen der Regierung über die Kon-
trolle, über die Geschäftspapiere usw. haben im Zusammenhang mit
den Preistreiberei- und Höchstpreisvorschriften dazu geführt, daß vielfach
keine Rechnungen mehr erstellt. daß die Buchführung, die Korre-
spondenz mangelhaft und unübersichtlich geworden ist, daß „Konditionen“
entstanden sind, die man mit diesem Namen früher nie bezeichnet hätte.
Auch hier ist jedes Gesetz, jede Vorschrift machtlos gegenüber dem
drängenden Bedarfe einerseits und der Erfindungszabe des Schiebertums
anderseits. Nur der Markt der eirz'Inen Branchen, der sul zessive eine
wirtschaftliche Macht werden kann, kann hier Hilfe schaffen. Er kann im
Verein aller Wirtschaftenden aus dem Verkehr sich ergebende Notwendig-
keiten in seinen Usancen zusammenfassen, zur Erleichterung des Ver-
kehres wirkliche Konditionen schaffen, die nach und nach das Geschäfts-
leben wieder in die altzewohnten geordneten Bahnen führen, die ja gewiß
nicht mehr die alten sein werden, weil sich die Verhältnisse ganz geändert
haben, die aber eine Ordnung im wirtschaftlichen Ablaufe gewährleisten
werden. Es sind die Rechtsbegriffe im Handelsverl:chr durch die
plumpen Maßnahmen unserer Burcaukratie während des Krieges auf das
schwerste erschüttert worden. Vielfach ohne nähere Prüfung hat man
Geschäftsabschlüsse für unwirksam erklärt und wasso einmal an
Rechtsbegriffen erschüttert war, ist durch‘die Technik des Schleichhandels
noch weiter verwüstet worden. Jeder Mari.t hat sich bisher sein eigenes
332 Rudolf Brichta.
Recht dureh seine Schiedsgerichte, seine Bräuche und Handelsusancen
geschaffen, hat unter dem Zusanımenwirken aller Beteiligten da noch
Einigungen hervorgebracht, wo das staatliche Recht den Verhältnissen
nicht mehr genügte und, wie immer seine Entscheidung ausfiel, Unrecht
schaffen mußte — ein Unrecht, das sich naturgemäß wieder in wirtschaft-
liche Tatbestände der verschiedensten Art, in wirtschaftliche Hindernisse
umsetzen mußte. Und was noch wichtiger ist: jeder organisierte Börsen-
verkehr hat in freier Selbstverwaltung durch die selbstgeschaffenen
Disziplinarinstanzen und Ehrengerichte auch die Einhaltung dieser
Rechtsnormen in viel sachlicherer aber auch viel wirksamerer Weise ge-
sichert, als dies durch staatliche Normen je möglich gewesen ist.
| Die Zwangswirtschaft hat aber auch aus dem Wirtschaftsleben, wie wir
vielfach sehen konnten, im weiten Umfang den Geist des Rationalen aus-
getrieben. Wie die Bureaukratie, insbesondere inÖsterreich aus Gründen, die
hier darzustellen zu weit führen würde, für rationale Geschäftsführung
überhaupt nie Verständnis gehabt hat, so hat sie diesen Geist leider vielfach
auch auf die wirtschaftlichen Betriebe verbreitet, die von ihr abhängig
wurden. Es ist vielfach unter diesem Einflusse sogar bei den Kaufleuten
die ganze Mentalität eine andere geworden. Die sinnlos gewährten pro-
zentuellen Zuschläge haben vielfach direkt ein Interesse an hohen Grund-
preisen erzeugt, um den Verteilergewinn selbst zu erhöhen, die Monopol-
stellung, welche die Zwangswirtschaft einzelnen Privilegierten oder ganzen
Gruppen mitunter gewährte, den Wunsch nach Aufrechterhaltung dieses
Systems, so unkaufmännisch es sein mochte, sogar bei Kaufleuten geschaffen.
Um die Wirtschaftlichkeit unserer Wirtschaft zu sichern, müssen wir den
Markt, das preisausgleichendeund preiserniedrigende Element,
heranziehen, um auch auf diesem Gebiete gesunden kaufmännischen
Erwägungen wieder Eingang zu verschaffen. Damit sind wir zum Kern-
punkt der zur Diskussion stehenden wirtschaftlichen Fragen angelangt: Zur
Bildung des Preises. Es würde zu weit führen, hier all das darzulegen, was
immer und immer wieder von Volkswirten ebenso wie von der Kaufmann-
schaft und immer vergeblich über die furchtbaren Schäden gesprochen und
geschrieben worden ist, welche die Grundsätze über die Preisbildung, wie sie
der Staat seit Kriegsbeginn bis zum heutigen Tage geschaffen und ins-
besondere wie er sie gehandhabt hat, für die Kaufleute sowohl wie für die
gesamte Wirtschaft nach sich gezogen haben. Daß sich die Preise einfach
nach den individuellen Gestehungskosten der einzelnen Waren ohne
Die Bedeutung der Warenbörsen f. d. wirtschaftl. Wiederaufbau Österreichs. 333
Rücksicht auf die Weltmarktpreise, ohne Rücksicht auf die Kosten der
Wiederanschaffung, des Valutarisikos, der Gefahren der Preisrückgänge
richten sollen, daß die Ware ebenso wie einAktenstück einen bestimm-
ten vorgeschriebenen Weg vom Produzenten bis zum Konsumenten nehmen
müsse, diese echt bureaukratischenGedanken haben inerster Liniedas
Geschäft in die Hände des Schiebertums und der Schleichhandler hinüber-
gespielt. Sie sind es auch, die denn Warenimport die allergrößten Hinder-
nisse in den Weg leven und diesen für den Wiederaufbau unserer Wirtschaft
so ungeheuer wichtigen Faktor dem unkontrollierbaren aus allen möglichen
Schichten der Bevölkerung sich resultierenden Schiebertum zuzuführen
drohen. Denn welcher Kaufmann kann die Gefahren des Importes auf sich
nehmen, wenn er zudem noch fürchten muß, bei einer richtigen kauf-
männischen Kalkulation des ungeheuren Valutarisikos, der Gefahren des
Transportes und der Beraubung, den unklaren gesetzlichen Bestimmungen
über Kettenhandel und Preistreiberei zu verfallen und entweder alles, was
er noch besitzt, zu riskieren oder seine Ehre und Freiheit einzubüßen. Der °
Denuntiation Wirtschaftsunkundiger und Böswilliger preisgegeben, der
Beurteilung durch wirtschaftsfremde Richter überantwortet, von denen
man gar nicht verlangen kann, daß sie, noch dazu unter den gegenwärtigen
Verhältnissen, eine kaufmännische Kalkulation wirklich verstehen und
würdigen können, der Gefahr überantwortet, daß sich die Sensationslust,
die Demagogie. der Straße in die sachliche Erörterung des Straffalles ein-
mengt, kann ein Kaufmann (reschäfte mit einigem Risiko nicht abschließen
— und welche Geschäfte beinhalten heute kein Risiko in der Zeit der
sprunghaften Änderung der Valutenwerte, in einer Zeit der größten poli-
tischen Gährung, die das Wirtschaftsleben unausgesetzt in seinen Grund-
festen erschüttert. Wollen wir überhaupt zu einem geordneten Verkehr mit
dem Auslande gelangen, das heißt, wollen wir überhaupt wirtschaftlich
leben, so muß für die Preisbildung und für die Verfolgung von Preis-
exzessen, für die ja jeder Kaufmann immer eintreten wird, eine andere und
sichere Rechtsbasis gefunden werden. Und diese Rechtsbasis kann nicht
darin bestehen, daß irgend eine Kommission Preise festsetzt nach einem
möglichst umständlichen Verfahren, in dem alle Erwägungen, nur nicht
kaufmännische, maßgebend werden, Preise, die am Tage der Publikation
gewöhnlich schon überholt sind, sondern für die Preisbemessung können
nur die Marktverhältnisse maßgebend sein. Heute liegen die Verhält-
nisse so, daß die staatlich festgesetzten Preise — wo sie noch bestehen —
334 Rudolf Briehta.
nur auf dem Papier stehen und der wirkliche Verkehr beherrscht ist von
den Preisen, welehe auf dem Schleichhandelsmarkte ohne Zentral-Pre’s-
prüfungskommission und ohne Ger:chte festgesetzt werden. Die Konsti-
tuierung eines Marktes für eine Reihe von Artikeln hätte nun dic auBer-
ordentliche Bedeutung, daß dieser Preis, der auf einem öffentlichen kon-
trollierbaren z:ntralen Markte entstanden ist, in Zusammenkünften der
wirklichen Kaufleute, maßgebend würde, gegenüber dem heutigen Zu-
stande, in dem in Wirklichkeit die Winkelbörsen, die durch noch so
drakonische Gesetze und noch so viele Strafverfolgungen und Razz en n cht
abzuschaffen s'nd, die Preise der Wirtschaft diktieren.
Nichts aber beweist die Notwend'ekeit der Schaffung ven Märkten
für die Preisbildung mehr, als daß der vollkommen unorganisierte aus allen
möglichen Elementen sich zusammensetzende Schle‘chhandel sich immer
mehr und immer deutl'cher zu Winkelmärkten vere'nigt, daß in jeder
Branche die Preisbildung sich trotz aller Verfolgung marktmäßig vollzieht,
weil es eben ein Gesetz des ökonomischen Wirkens ist, daß Preise nicht
von Ämtern erstellt werden können, sondern nur in dem lebendigen
Zusammenwirken der Wirtschaftenden auf dem Markte.
Die Organisierung von Märkten, die als wirksames Gegenmittel gegen
die Winkelbörsen auftreten würden, hätte nicht nur für die sol’de Kauf-
mannschaft den Vorteil, daß sie wieder Herr auf dem Markte wird, dab
die auf den öffentlichen Märkten unter der Kontrolle der Regierung fest-
gesetzten Preise eine sichere Grundlage für die Kalkulation bilden könnten
und damit überhaupt erst die Kaufmannschaft von dem unertraglichen
Drucke befreien würden, die die gegenwärtice Geschäftsunsicherheit aus-
übt: sie hätte auch die große Bedeutung für den Staat, daß eine organische
Überleitung des gegenwärtigen- vollkommen anarchischen Zustandes des
Marktes und der Preisbildung zu einer den Bedürfnissen der Zeit ent-
sprechenden freien Preisgestaltung gefunden wäre.
Ähnlich liegen die Verhältnisse beim sogenannten Kompensations-
verkehr. Wo immer man Waren bisher gegeneinander austauschen wollte,
hat man za diesem Zwecke Märkte oder Börsen errichtet. Auf ihnen finden
sich die Kaufleute zusammen, tauschen Nachrichten, Erfahrungen und dann
auch Waren aus und wenn dieser Markt ausgestattet ist mit einer Hilfs-
stelle, welche das Formale und Amtliche der Kompensation besorgt, also
die Ein-, Aus- und Durehfuhrbewilligung, die Valutabewilligung, soweit sic
notwendig ist usw., so wird wenigstens für viele Waren ein klagloser Aus-
Die Bedeutung der Warenbörsen f. d. wirtschaft. Wiederaufbau Österreichs. 335
tauschverkehr möglich sein. Als das Bedürfnis nach einem Kompensations-
verkehr auftrat, hat man bei uns nicht einen Markt für diese Kompen-
sation geschaffen, sondern für dieselbe ein Amt, das Warenverkehrsbur: au,
bestellt, das, abgesehen davon, daB es naturgemäß sofort bestrebt war, sich
an die Stelle der Kaufleute zu setzen, wie jede derartige Einrichtung
schon infolge der Unmöglichkeit seiner Konstruktion, sich zu einem Amte
zır Verhinderung des Verkehres ausgebildet hat, dessen Behebung von der
Kaufmannschaft seit seiner Errichtung im Interesse des Verkehrs immer
stürmischer verlangt wurde. Auch da ware die Organisierung eines
Marktes für Kompensationszwecke unter staatlicher Mitwirkung und staat-
licher Aufsicht der Weg gewesen, der den Bedürfnissen des Kompensations-
verkehres hinsichtlich vieler Waren hätte entsprechen könner, ohne der Be-
weeungsfreiheit der Kaufmannschaft unerträgliche Hindernisse zu bereiten.
Mit der Preisbildung und dem Kompensationsverkehr hängt der wirt-
schaftliche Nachrichtendienst zusammen. Er kann zweckmäßiger-
weise nur im Zusammenhang mit einem wirklichen Markt organisiert
werden. Welche Bedeutung die Berichte über die Bedürfnisse und über
die Preisgestaltung für alle Kaufleute und Interessenten haben, die sich
leicht und zwanglos aus Zusammenkünften der Kaufleute auf dem Markte
ergeben, braucht wohl nicht näher erörtert zu werden und darliber hinaus
gewinnt jeder Markt eine erhöhte Bedeutung durch Einrichtungen zur
gemeinsamen Feststellung der Qualität der Ware, durch sachverständiee
Prüfung des für den Markt maßgebenden Materials, die sich von selbst bei
einer derartigen Organisation ergeben und die für die Sicherheit der Preis-
bildung von außerordentlicher Bedeutung sind, den Verkehr erleichtern,
seine Reellität gewährleisten und darum auch für den Staat von aller-
höchster Bedeutung werden.
Diese Erwägungen führen auch auf die Bedeutung der marktmäßigen
Organisation für den Staat. Paßt sich die Staatsgewalt den immanenten
Bedürfnissen des kaufmännischen Verkehres an und beschränkt sich auf
die Mitwirkung bei der Organisierung von Märkten und auf deren
Überwachung. so wird sie vor allem den Vorteil haben, daß sich der
Warenverkehr und seine Entwicklung unter ihrer steten kontrollieren-
den Mitwirkung vollziehen, während beim gegenteiligen Verfahren, so
groB auf dem Papiere der Einfluß des Staates auf die Preisbildung,
auf den Verkehr mit dem Auslande auch sein mag, in Wirklichkeit eine
wirksame Kontrolle überhaupt nicht stattfinden kann. Die Zusammen-
336 Rudolf Brielıta.
künfte der Kaufleute dieser Art machen es dem Staate auch möglich, nicht
auf dem vielfach sehr unwirksamen und immer wieder umgehbaren Weg
der Verordnung. sondern durch wirtschaftliche Maßnahmen, durch Inter-
vention auf dem Markte selbst auf die Entwicklung der Verhältnisse
einen gewissen, freilich nicht zu überschätzenden Einfluß zu gewinnen. wie
er gerade in den Zeiten krisenhafter Entwicklung im Interesse der Gesamt-
heit oft vielleicht wünschenswert sein kann. An die Stelle der formalen
Beherrschung des Marktes tritt eben die organisatorische materielle Beein-
flussung, die den Entwicklungen des Wirtschaftslebens folgt, mit dessen
Mitteln staatliche Zwecke zu fördern sucht.
Damit gewinnt der Markt eine außerordentliche Bedeutung für die
gesamte Wirtschaft. Er selbst und auf ihm der Staat und die öffentlichen
Körper können gerade in Zeiten von Krisen ausgleichend auf das Angebot
und die Nachfrage wirken; es können mit den Mitteln der kaufmännischen
Technik Katastrophen verhindert oder wenigstens abgeschwächt werden.
die durch Gesetze nie behoben werden können. Aber jeder Markt wirkt
darüber hinaus auch arbeit- und geldsparend. Er erleichtert die Übersicht
über die gesamte wirtschaftliche Situation. Er organisiert Hilfsinstitutionen
und Hilfsgeschäfte des Verkehrs. Wie wertvoll wäre es für uns in manchen
Zeiten gewesen und wie wertvoll wird es für uns noch in späteren Zeiten
sein, wenn gerade bei der Lage Wiens hier ein Markt auf dem Gebiete
des Transportgeschäftes, ein Markt des Versicherungsgeschäftes
entstünde. Und wenn die Kaufleute in freier Selbstverwaltung ihre Märkte
organisieren werden, dann werden sich auf dem Markte selbst Einrich-
tungen für die Zwischenlagerung, die für die Zukunft Wiens als
Zwischenhandelsplatz von außerordentlicher Bedeutung ist, und damit
im Zusammenhange Verbesserungen unserer Zolleinrichtungen für den
Transitverkehr organisch ergeben.
Jeder Markt wirkt handelsfördernd. Er zieht sowohl Waren wie
Menschen an. Die Beruhigung, welche die Konzentrierung von Angebot
und Nachfrage für jeden Kaufmann schafft, daß er eine volle Übersicht
über die jeweilige Situation gewinnen könne, veranlaßt auch den fremden
Kaufmann den Markt aufzusuchen, nach seinen Regeln vorzusehen und
schafft für den heimischen Kaufmann die Möglichkeit, daß die Instanzen
dieses Marktes seine Einrichtungen, seine Usancen, nicht zuletzt seine
Schiedssprüche noch da Anerkennung finden, wo staatliche Normen
und staatliche Gerichte sich diese Anerkennung nicht mehr erringen
Die Bedeutung der Warenbörsen f. d. wirtschaft!. Wiederaufhau Österreichs. 337
können. Dem Spruche eines kaufmännischen Schiedsgerichtes, einer Börse
oder eines Marktes werden sich auch Ausländer unterwerfen.
Wien ist, wie es seinerzeit ohne Zutun seiner Verwaltung gur Groß-
stadt geworden ist, jetzt direkt gegen den Willen seiner Regierung und
leider ohne Verständnis und ohne Mitwirkung weiter Kreise seiner Ein-
wohnerschaft zu einem Handelsplatz geworden seiner zentralen Ver-
kehrsstellung wegen, dank seiner bankmäßigen Organisation und vor
allem dank der Beziehungen seiner Kaufmannschaft in den verschiedenen
Nationalstaaten und zu vielen Gebieten außerhalb des früheren Österreich,
vor allem zum Balkan. Wir können trotz aller Schwierigkeiten, welche teils
die heutigen schweren wirtschaftlichen Verhältnisse, teils aber nicht weniger
unsere Regierung und unsere Bureaukratie hauft, feststellen, daßdernationale
Haß die Notwendigkeiten der Wirtschaft auf vielen Gebieten nicht über-
winden Kann, daß sich die Kaufleute aus den verschiedensten Gebieten nach
Wien wenden. um sich der wirtschaftlichen Verbindungen und Erfahrungen
der Wiener Kaufmannschaft, um sich der zentralen Einrichtungen sowohl
für ihre Bezüge, als für ihre Zwischengeschäfte zu bedienen. Welche Förde-
rung könnten diese Tendenzen in einer kaufmännischen Organisierung
des Wiener Marktes finden, wie notwendig ist es, diese Beziehungen zu
pfleren, diese ideellen Güter, die für unseren Wiederaufbau einen nicht
abzıschätzanden Wert haben zu nützen durch eine ERIAPIECHENGE
Handelsorganisation.
Welche Wege sind nun einzuschlagen, um einen solchen Markt zu
schaffen und die vorhandenen Ansätze zu vertiefen ? Zwei Voraussetzungen
sind es, die heute vorhanden sind und an die man wird anknüpfen müssen.
Die erste ist der Bestand wertvoller Einrichtungen dieser Art in der
Wiener Warenbörse und in derBörse für landwirtschaftliche Produkte.
In diesen Börsenorganisationen mit ihren Schiedsgerichten und Se-
kretariaten, mit ihren dem Wiener Verkehr angepaßten Einrichtungen
leben die Traditionen, in welchen sich die Erfahrungen von Jahrzehnten
verkörpern, fort. Dazu kommt, daß diese Institutionen auch über die
äußeren Voraussetzungen verfügen, die für die Etablierung von Märkten
oder börsenmäßigen Zusammenkünften unerläßlich sind, daß sie weithin
bekannt und geschätzt sind. Die zweite Voraussetzung, die ebenso unerläß-
lich ist, ist unser gegenwärtiger Besitzstand an einer großen Zahl kz.uf-
männischer nach Branchen gegliederter Organisationen und die
nun kooperieren können mit den branchenmäßigen Vereinigungen, die seit
5358 | tudolf Brichta.
langem die österreichische Industrie der einzelnen Branchen geschaffen
hat. Und wenn wir die Entwicklung speziell in den kaufmännischen Organi-
sationen verfolgen, welche vielfach erst die persönliche Bekanntschaft der
Konkurrenten vermitteln mußten, so können wir schen, wie bei einer
großen Zahl derselben das Bedürfnis nach einer derartigen Organisation
in den verschiedensten Formen zutage getrcten ist. Von den seit langer
Zeit bestehenden Zusammenkünften der Edelsteinhändler an, die in
ihrem Klub eine wirkliche Börse besitzen mit bestimmten Stunden und
Verkaufsformen bis zu den jungen Organisationen, taucht immer wieder
dieses Bedürfnis in den verschieden gestalteten Formen auf, Einzelne
Organisationen haben beschlossen durch Zirkulare die einzelnen Mitglieder
von Angebot von Waren und von der Nachfrage nach Waren zu informieren,
um einen Austausch zu ermöglichen. Andere beschränken sich auf perio-
dische Mitteilungen, von Einkaufsmöglichkeiten, von Informationen der
verschiedensten Art. Immer und immer wieder aber taucht bei den ver-
schiedensten Organisationen der Wunsch auf, außer zu Beratungen, die
gemeinsame Angelegenheiten der Branche besprechen und erledigen sollen,
Zusammsnkünfte zu veranstalten zur zwanglosen Erörterung geschäftlicher
Verhältnisse, zum Austausch gegenseitiger Erfahrungen, zur gegenseitigen
Unterstützung in einzelnen Geschäften; Einzelne Organisationen sind daran,
dieses Bedürfnis durch klubmaéBige Zusammenkiinfte zu bifriedigen. In
letzter Linie gehören hieher auch jene Bestrebungen, welche für Gruppen
von Branchen die Einführung von Messen, insbesondere nach dem Vor-
bilde der Leipziger Messe erstreben, die vom kaufmännischen Standpunkte
aus nichts anderes als die Verwirklichung des alten Gedankens sind, organi-
satorische Einrichtungen zu schaffen, die dem einzelnen die Möglichkeit
geben, mit Hilf» der Gesamtheit seine kaufmännische Betätigung zu
erweitern, leichter und wirksamer zu gestalten. Und da es an diesen organi-
satorischen Einrichtungen vielfach fehlte, versammelten sich die Kauf-
leute, soweit sic über Spozialorganisationen nicht verfügen, an anderen
Orten, nur daß dort mangels jeder zweckmäßigen Regelung sich nach und
nach das Schiebertum der Führung bemächtiet und Winkelbörsen veschaffen
hat, von denen sich die reellen Kaufleute wieder zurückziehen müssen. Tat-
sächlich bestehen in Wien für alles Börsen. nur dab sie nicht organisiert
sind, bekämpft werden und darum statt zur Konzentraticr und Förderung
des Handels zur Ausschaltung des reellen Wettbewerbes führen müssen;
vielleicht am besten illustrieren sie die Notwendigkeit, solcher Einrich-
Die Bedeutung der Warenbörsen f. d. wirtschaftl. Wiederaufbau Österreichs. 339
tungen in dem zerrütteten Wirtschaftsleben Wiens, die eine gut unter-
richtete, den Tendenzen der Wirtschaft folgende Regierung und Kaufmann-
schait organisieren, veredlen und zweckmäßiger gestalten müßte.
Es ist nun Aufgabe der bestehenden Börseneinrichtungen, der Organi-
tionen der Kaufmannschaft und der Industrie, diese Ansätze weiter aus-
zubilden. Dabei darf aber wohl nicht engherzig vorgegangen werden. Wenn
während der ganzen Darlezungen bisher nicht von Börsen, sondern ven
Märkten gesprochen wurde, so geschah es darum, weil die herrschende
streagere Theorie unter Börsen lediglich Zusammenkünfte von Kaufleuten
verstehen will, die den Verkehr mit vertretharen Waren in typischen
Geschaftsformen pflegen. Bei einer Reihe von Artikeln des Waren-
handels wird nun auch diese vollendete Form des Marktes zu erreichen
sein. Bei vielen anderen aber wird man sich zunächst beschränken müssen
darauf, daß die Kaufleute der einzelnen Branchen regelmäßig zu bestimmten
Zeiten zum Austausch geschäftlicher Erfahrungen, zur Entgegennahme von
Informationen, zur Feststellung einheitlicher Kinkaufs-, Verkaufs- und
Abwicklungsbedingungen zusammenkommen und daß sie gelegentlich dieser
Zusemmenkiinfte sich in der Durchführung ihrer individuellen Geschäfte
gegenseitig unterstützen, sei es durch Austausch von Waren und Auf-
trägen, sei es bei der Durchführung von Kompensationsgeschaften. Diese
/Zusammenkünfte werden, wenn sie von den Branchenorganisationen je
nach den speziellen Bedürfnissen der Branche und nach den Erfahrungen
eingerichtet werden, sich ihre Technik von selbst bilden und branchenweise
werden sich nach und nach neue Formen des börsemäßigen Verkehrs aus-
bilden. Von der sogenannten Treffbörse, von börsenähnlichen Zusammen-
künften, bis zur vollendeten Börse mit ihrem fein abgestimmten Apparet,
ihren eigenartigen Geschäftsformen und Organisationen führen zahllose
Zwischenstufen, die wir aus Erfehrungen des Auslandes teilweise kennen
und die sich noch im Verkehr der einzelnen Branchen und Waren ergeben
werden. Es wäre ein Fehler, wollte man von vornherein erklären, daß alle
diese marktmaBigen Zusammenkünfte sich mechanisch jenen Regeln und
Gewohnheiten anpassen müssen, die für die Bedürfnisse vor dem Kriege
für ganz bestimmte Artikelgruppen eine jahrzehntelauge Technik des
Rorselebens ausgebildet hat.
Jede Zeit und jede Einrichtung schafft sich ihre eigenen Normen und
wenn für einen weiteren Kreis von Handelsbranchen, wie wohl nicht zu
bezweifeln ist, ein wirkliches Bedürfnis besteht, das befriedigt werden soll,
340 Rudolf Briehta.
wenn weiters mit der gegenwärtigen Möglichkeit, wie dies bei allen Verkehrs-
einrichtungen der Fall ist, sich auch der Bedarf und die Inanspruchnahme
steigern wird, so wird eine Technik sich von selbst herausbilden, die den
verschiedenen wechselnden Bedürfnissen genügen kann. Es muß Erörte-
rungen der Kaufleute, denen nicht vorgegriffen werden soll, weil es ja nur
Aufgabe dieser Darlegungen ist das Börsenproblem im Zusammenhang
mit der Wiedergewinnung wirtschaftlicher Formen in unserem
Erwerbsleben zu beleuchten, überlassen bleiben, die Frage zu be-
antworten, ob und für welche Handelszweige Spezialzusammenkünfte
(Spezialbörsen) geschaffen werden sollen oder ob für andere Branchen all-
gemeine Zusammenkünfte, die einen weiten Kreis von Kaufleuten um-
fassen, zweckmäßiger sind. Es muß auch diesen Erörterungen vorbehalten
bleiben, den Kreis der zuzulassenden, die Organisierung der Marktleitung
unter der steten Mitwirkung der in Betracht kommenden Branchenorgani-
sationen des näheren zu besprechen, es muß dort beraten werden, in welcher
Weise diePreisbildung und Regulierung organisiert werden soll, wie der Nach-
richten- und Informationsdienst eingerichtet und unter welchen Vorsichts-
maBregeln die Geschäfte durchgeführt und abgewickelt werden sollen. Auch
da darf man nicht ängstlich sein, nicht am Überkommenen festhalten, weil
ja so vieles, was bisher war, anders und höher ausgebildet werden muß, als
es bisher gewesen ist. Die Zeiten, in denen der Einzelne ohne Zusammen-
wirken mit seinen Branchezenossen und dem weiteren Kreise seiner Berufs-
angehörigen, ohne Inanspruchnahme der Organisation, die immer das Werk
von vielen und nicht von einzelnen sein kann, sich geschäftlich betätigen
kann, sind wahrscheinlich auf lange hinaus, wenn nicht überhaupt für immer.
vorüber. Andere und höhere Wirtschaftsformen drängen zur Entfaltung.
in letzter Linie bedingt, durch die Ausweitung des für die Befriedigung der
Bedürfnisse des einzelnen notwendigen Wirtschaftsgebietes, das über die
engen Staatsgrenzen hinaus sich erstreckt über weite Gebiete der Kultur-
welt. Und speziell in diesem engen, kleinen Staat, der nur vom Export
und vom Zwischenverkehr, von der Ausnutzung seiner Lage im Herzen
Europas an der Stelle, wo sich Orient und Okzident berühren, leben kann.
muß diese Wahrheit in ihrer vollen Größe erfaßt werden. Für den Kaufmann
gilt es, jene Form der Organisation zu finden, die ihm die Vorteile des
organisierten Zusammenwirkens sichert, ohne der individuellen
Betätigung, der Einsetzung persönlicher Kraft und Erfahrung
Eintrag zu tun. Und diese eigenartige Form scheint in einer börsen-
bie Bedeutung der Warenbörsen f. d. wirtschafil. Wiederaufban Österreichs. 341
mäßigen Organisation gegeben zu sein, die anknüpft an die alten
Erfahrungen und Formen, sich aber erhebt über diese zu neuen, uns in
den Details noch gar nicht bekannten Einrichtungen. Sie hat eine spezielle
Bedeutung gerade in der Jetztzeit, in der es vor allem gilt, das Wirtschafts-
leben von Unberufenen zu reinigen, die anarchische Preisbildung zu sanieren
und auch dem Staat und der Volksgemeinschaft eine Organisation zur Ver-
fügung zu stellen, welche wichtige Aufgaben der Wirtschaftsgemeinschaft
sukzessive übernehmen und regeln kann, bei deren Lösung die Staatsgewalt
bisher immer versagt hat und die anderseits dem Staate die Möglichkeit
bietet, seinen berechtigten wirtschaftlichen Einfluß auf das Geschäftsleben
auszuüben. Alle diese Forderungen sind in den Formen der Börse gleichfalls
der Verwirklichung fähig. Jede börsenmäßige Zusammenkunft. mag sie sich
in den einfachsten Formen vollziehen, kann vor allem diesen dringenden
Aufgaben der Jetztzeit entsprechen, sie kann die Zulassung regeln, sie kann
die Formen des Geschäftsverkehres und damit nach und nach auch seine
Mentalität ändern und sukzessive unter steter Berücksiehtigung des Wirt-
schaftslebens und seiner Erfordernisse in festere und strengere Formen
kleiden, sie kann durch ihre Einrichtungen, Schiedsgerichte, Qualitäts-
prüfungsstellen für Waren, durch die technische Regelung der Abwicklung der
Geschäfte, sie kann durch ihre Disziplinarsenate und ihre Gerichte Recht
und Brauch sichern, fortbilden und veredeln und sie bietet schließlich
dadurch, daß die Geschäfte börsenmäßig zentralisiert werden, die Möglich-
keit staatlicher Überwachung und Kontrolle, die selbstverständlich im Ein-
vernehmen mit der Leitung und den Kaufleuten gehandhabt werden muB
und nach den verschiedensten Gesichtspunkten und zu den verschieden-
artiesten Intensitäten, je nach den Erfordernissen und Verhältnissen ab-
gestuft werden kann. So eingerichtet, können derartige Institutionen auch
dem Staate die Möglichkeit des Abbaues jener unbedachten Ver-
füruneen und Einrichtungen gewähren. die als Vorschriften über
die Preisbildung. über den Kompensationsverkehr und über ähn-
liche Dinge, die das Geschäftsleben schwer belasten, und doch, wie wohl
jetzt überzeugend dargetan ist, ihren Zweck nicht erreichen können.
Die Durchführung dieses Gedankens muß allerdings von der Kauf-
mannschaftselbstausechen. Wie die Härte der Zeit die Kaufmannschaft
zusammeneeführt hat, so muß sie in Erkenntnis der Notwendigkeit des
organisierten Zusammenwirkens nieht nur auf den Gebieten. wo die Kauf-
leute gegenüber anderen Berufsständen stehen, sondern auch wo sie unter-
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik Nouo Folge, 1. Band. 2
342 Rudolf Brichta. Die Bedeutung der Warenbörsen ete.
einander geschäftlich tätig sind zur Weiterbildung und Vertiefung des
Organisationsgedankens führen. Nur wenn die Kaufleute selbst sich ihren
Markt schaffen, wird er nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gestaltet
sein und frei sein von politischen und bureaukratischenTendenzen, von außer-
wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Was vom Staate verlangt werden kann,
ist lediglich, daß er einesteils die nötigen nicht sehr zahlreichen gesetzlichen
Unterlagen schaffe und daß er andernteils im Einvernehmen mit der Kaui-
mannschaft die Aufsicht organisiere, die für die Kaufleute ebenso wichtig
ist, wie für ihn selbst. Wertvolle Anfänge sind in Wien von einzelnen
Branchen bereits gemacht worden: Der Holz-, der Schuh-, der Chemikalien-,
teilweise auch der Leder- und Lebensmittelhandel haben sich an der Wiener
Warenbörse vereinigt und den Branchebedürfnissen entsprechende Formen
für den Börsenverkehr geschaffen: es wird sowohl der Börsen wie der Ver-
tretungen der Gesamtkaufmannschaft wie jener der einzelnen Branchen
Aufgabe sein, die Erfahrungen dieser jungen Spezialbörsen zu nutzen zur
Vertiefung und Anpassung des Gedankens des börsenmäßigen Verkehres
an die Bedürfnisse der Kaufleute der einzelnen Branchen.
Berichte und Sammelbesprechungen.
Zur Systematik der Finanzwissenschaft
in der neuesten Literatur.
Von Emanuel Hugo Vogel.
Besprochene Werke:
1. Carl v. Tyszka, Grundzüge der Finanzwissenschaft (mit besonderer Be-
rücksichtigung der Reichsfinanzreform von 1919/20). 8°. Jena 1920. Gustav Fischer.
VII und 347 S.
2. Bela Földes, Finanzwissenschaft. 8°. Jena 1920. Gustav Fischer. XIV und
686 S.
3. K. Th. v. Eheberg, Finanzwissenschaft. 16. u. 17. Auflage. Leipzig-Erlangen
1921. A. Deichertsche Verlagshandlung Dr. Werner Scholl. VIII und 716 S.
4. J. Conrad, Finanzwissenschaft (III. Teil des Grundrisses zum Studium
der politischen Ökonomie). achte erweiterte und ergänzte Auflage, bearbeitet von
Prof. Dr. H. Köppe. Jena 1921. Gustav Fischer. VIII und 515 S.
Es muß in unserer, der systematischen Zusammenfassung und ordnenden
Sammeltätigkeit des Forschers so abholden Zeit mit Freude erfüllen, daß doch,
zumal in deutschen Landen auch in schwerster Not nicht der Mut und der Sinn
für wissenschaftliche Systematik im Chaos des Geschehens fehlt. Sie tut uns
außerordentlich not, Jenn kaleidoskopartig wechseln die Bilder, welche Volks-
wirtschaft und Gesetzgebung in wahnsinniger Hast, getrieben von den kiisenhaften
Zuständen der Nachkriegszeit, vor unseren Augen abrollen. Unter den Schwierig-
keiten der Gegenwart für Buchverfassung und Buchherausgabe muß selbst ein
schlechteres Gelingen mit Nachsicht beurteilt werden, ist doch die Schöpfung
an sich ein Verdienst und muß aus jedem Werke das herausgeholt werden, was
es zu bieten vermag. Allerdings, hier wird bereits eine Scheidung der Bediuf-
nisse vorzunehmen sein und wird die objektive Kritik, schon um mißverständ-
lieher Benützung vorzubeugen, jedes Werk danach zu werten haben, welchen
der verschiedenartigen Zwecke (systematisches, erschöpfendes Sammelwerk für
344 Emanuel Hugo Vogel.
die wissenschaftliche Erforschung der betreffenden Disziplin; Lehr- und Hand-
buch, geeignet für den Gebrauch der Hochschule; Orientierungsbehelf und Nach-
schlagewerk für das weitere Publikum; bloße Einführung in die Grundlagen
des Gegenstandes usf.) es besonders zu dienen vermag.
Tyszkas Buch stellt sich als „Lehr- und Handbuch für Studierende und
Verwaltungsbeamte“ vor, ist aber sowohl seinem Umfang als namentlich seiner
inhaltlichen Ausstattung nach in den meisten Partien zu knapp gefaßt, um mehr
als eine ganz oberflächliche, auch vielfach von Irrtümern nicht freie, Orientierung
über das Wesen der finanzwissenschaftlichen Grundlehren und die hauptsäch-
lichen gesetzlichen Erscheinungen zu bieten. Zur Einführung in das Fach und
allgemeinen Orientierung mag es immerhin ganz gute Dienste, namentlich für
Verwaltunesbeamte, Kaufleute usf. bieten, als ..Lehrbuch“ für die Universitäten
dagegen geht es, von dem Mangel einer übersichtlichen Darstellung der viel-
gestaltigen positiven Abgabengesetzgebung ganz abgesehen, in den theoretischen
und allgemeinen Grundfragen viel zu wenig auf die systematischen Fundamente
des finanzwissenschaftlichen Lehrgebäudes ein, um dem Studierenden eine ge-
nügende Wissensgrundlage zu bieten. Übrigens verzichtet es auch vorweg darauf,
das in und nach dem Kriege Neugewordene wissenschaftlich zu verarbeiten
oder irgend die neuen, bisher erkennbaren Richtlinien der Entwicklung auf-
zuzeigen. Es fußt durchweg nur auf den aus der Vorkriegszeit stammenden, teil-
weise überholten Lehren und Erfahrungssätzen, ohne sich die gewaltigen Erkennt-
nisreichtümer der Kriegs- und Nachkriegszeit irgend zunutze zu machen.
So werden in dem Werke die künftig wohl in keiner Finanzwissenschaft
weder in den allgemein ökonomisch-theoretischen Grundlagen, noch in ihrem
positiven gesetzlich-beschreibenden Teile überschbaren Ansätze zur Bildung
einer ganz neuen Art von staatlichen Einnahmsquellen dureh Beteiligung des
Staates an gewissen Zweigen der Erwerbs- und Produktionswirtschaft, in den
verschiedenen möglichen Formen der „Gemeinwirtschaft‘‘, der ..gemeinwirt-
schaftlichen Anstalten“, der „gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen“ usf..
wie sie unter dem Schlagworte von ,,Sozialisierung“ in des Wortes verschiedenster
Bedeutung, teils theoretisch verfochten, teils praktisch verwirklicht worden
sind (siehe die einschlägigen Gesetze und Erscheinungsformen in Deutschland
und Österreich) vollkommen ienoriert.!) Vielmehr beschränkt sich das Buch auf
1) Siehe das Kapitel von den „Arten der öffentlichen Einnahmen‘ § 10, als
Beispiel für die den realen Wirklichkeitsverhältnissen der Gegenwart völlig fern-
stehende Behandlung der einschlägigen Fragen, ferner die Einwände gegen den staat-
lichen Erwerbsbetrieb auf S. 42/43, insbesonders jenen vom Standpunkte der , Demo-
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 949
eine knappe und nicht immer auch nur in den „Grundzügen‘ vollständige Dar-
stellung des schon bestehenden, geht also in keiner Richtung über den Rak: mcn
und Inhalt der schon vor dem Kricge bestandenen Systemwerke hinaus.
Im einzenen sei folgendes bemerkt:
Tyszka wählt für die Einteilung der Steuern und damit der ganzen weiteren
Kapitel seines Buches die vom administrativ-technischen Gesichtspunkte aus-
gehende Unterscheidung zwischen ,,veranlagten (sogenannten diickten) Steuern“
und „tarifierten oder Gelegenheits- (ecgenannten indirckten) Steuern‘, eine
Unterscheidung, die bekanntlich auch von Neumann vrd Lotz argewerdet
wird, aber weder systematisch noch steuertheoretisch begiürdet ist, da sie von
tein äußerlichen Tatsachen bestimmt wiid, chre auf cas Wesen der eirzeinen
Steuer im Verhältnis zum Subjekt und der Erfassung ceirer Leistvrgsfähigkeit
und die darauf beruhenden inneren Zusemmenhärge einzrgeten. Info'gedessen
werden Steuern zu Gruppen zusammengefaßt, we:che zwar ärßerlich dasselbe
Bild der formalen Erhebung aufweisen, innerlich vrd rach der von ihren später
genommenen Entwicklung aber ganz anders wiken.
Zu den „veranlagten oder katastrierten‘ Stevern (nach dauernden
Tatsachen zu festen, an bestimmten Terminen zahlbaren Raten, meist auf Grund
tines Katasters erhoben) zählt er: die Ertragssteuern, die Personalstevern, die
„veranlagten Aufwandsteuern‘“ (direkte Luxussteuern). Zur zweiten Gruppe
der „tarifierten oder Gelegenheitssteuern “rechnet er: Steuern auf Ver-
kehrshandlungen, und zwar Vermégensverkehr (Exbschafts-Schenkungsstcuer,
Umsatzsteuer), Verkehrssteuern im engeren Sinne (Frachtstemprel, Fahıkarten-
steuer usf.), ferner innere Veibrauchssteuern, Zölle, Meropo!e. An dieser Ein-
teilung falit vor allem auf, daß sie überhaupt für die Gebühren im eigentlichen
finanzwissenschaftlichen Sinne keinen Raum läßt. Stellt man sie völlig auLer-
halb des eigentlichen Steueibegriffes, der dann durch das Mcment der generellen
Entgeltlichkeit im Gegensatze zu jenem der speziellen bei den Gebühren
charakterisiert wäre, so ist dagegen nichts einzuwerden. Nur müssen die Gebühren
dann wenigstens in einer separaten Gruppe zusammergefaßt urd behandelt
werden. Das ist aber im ganzen Lehrbuch nicht der Fall, so daß diese Abgaben
(zum Bei:piel Gerichtsgebühren) in seinem System überhaupt feh'en. Der Ver-
fasser beschränkt sich darauf, den an sich richtigen Gegensatz von Stcvern vrd
kratie'‘ als eines Grundes gegen ein Vorwiegen von Erwerbseinkünften. Die Be-
handlung der Sozialisierungsfrage, überhaupt der gemeinschaftlichen Betriebsformen
erfolgt bloß durch Verweis auf eine Schrift des Verfassers in Anmerkung 3, S. 65,
u. dgl. mehr.
rs) » `
940 Emanuel Hugo Vogel.
Gebühren (S. 40) begrifflich darzustellen. Das Fehlen dieser wichtigen Abgaben-
form ist ein entschiedener Mangel, da hiedurch auch der theoretisch so wichtige
Gegensatz von Verkehrssteuern und Gebühren vollkommen verschwimmt, auch
vom Verfasser gar nicht zu erfassen versucht wird. Nur jene Abgabenformen
werden behandelt, die aus Gebühren bereits etwas anderes, nämlich Verkehrs-
oder Umsatzsteuern (Steuern auf Verkehrshandlungen‘‘) geworden sind, das
läßt natürlich die eigentlichen Gebührenfälle völlig unerörtert. Daß unter diesen
Umständen die Erbschafts- und Schenkungssteuer einfach als ,,tarifierte (in-
direkte) Vermögenssteuer‘ (S. 181 f.) behandelt wird, nimmt nicht wunder. ob-
wohl gerade hier theoretische, steuerpolitische und steuertechnische Gründe für
den Charakter einer direkten Vermogenssteuerform im Falle der Erhebung nach
Maßgabe des reinen Erbanfalles sprechen und nur auf diesen Wege eine theore-
tische Scheidung gegenüber der häufig parallel gehenden .‚Nachlaßsteuer“, ..Ver-
lassenschaftsgebühr‘‘ als gebühren-, beziehungsweise verkehrssteuerartiger Abgabe
oder gegenüber der nebenbei (zum Beispiel von übertragenen Grundstücken)
erhobenen Immobiliargebühr als echter Verkehrssteuer zu gewinnen ist. Ähn-
liche Bedenken muß es erregen, wenn die „Wertzuwachssteuer‘“ schlechtweg
unter die tarifierten indirekten Abgaben gerechnet wird.
Viel zu kurz kommt für ein Lehrbuch, wenn es für Hochschulen bestimmt
sein soll, die eigentliche Steuertheorie. Auf zirka 16 Seiten werden die Grund-
sätze der Steuergerechtigkeit ziemlich allgemein behandelt, alle anderen theore-
tischen Fragen aber ebenso wie die finanzpolitischen Besteuerungsprinzipien
(Beweglichkeit der Steuer), Verhältnis von Steuer und Steuerquelle (volkswirt-
schaftliche Prinzipien) bis auf einiges aus der Überwälzungsichre überhaupt ver-
nachlässigt. Besseres bietet das Buch immerhin in der positiven Steuerlehre.
Aber auch hier ließe sich vieles bemerken. Nur beispielsweise auf die Behandlung
der Grundsteuer verwiesen. Für die Erörterung ihrer steuerpolitischen Zweck-
mäßigkeit, die Frage ihrer Überlassung an die Gemeinden, wird in erster Linie
die Grundsteuer instädtischen Gemeinden zum Ausgang genommen, statt, wie
dies ihrem Hauptcharakter entspräche, ihre Bedeutung als: Vorbelastung des
landwirtschaftlichen Ertrages in Analogie der Vorbelastung gewerblicher, indu-
strieller Erträge oder der Kapitalrente. Das verschiebt das Bild dieser Steuer in
vollkommen einseitiger Weise und verleitet zu Trugschlüssen. Die Mangelhaftig-
keit der staatlichen Grundsteuer, wie sie aber nur in ihrer bisherigen Gestalt
als Katastersteuer begründet ist, dann der finanzpolitische Gedanke, um den
städtischen Gemeinden und Großstädten eine sichere finanzielle Basis zu geben
(S. 89), als Grund für die Notwendigkeit ihrer Überlassung an die Gemeinden
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 347
aufzuführen, erscheint völlig haltlos, wenn man unter Grundsteuer, wie Verfasser
dies tut, nur die eigentliche ländliche Grundsteuer (einschließlich Baustellensteuer)
dagegen nicht etwa auch die separat behandelte Gebäudesteuer versteht.
Richtigerweise ist eben die Grundsteuer die einzige und hauptsächliche Vor-
belastung des landwirtschaftlichen Ertrages neben einer Einkommen- und
eventuellen Vermögensbesteuerung und könnte ebensogut behauptet werden,
daß eben dann diese Grundsteuer als die eigentliche Steuerform des landwirt-
schaftlichen Produktionszweiges staatlicherseits ebenso ausgestaltet werden
müßte, wie dies hinsichtlich der gewerblichen und industriellen Besteuerung
vielfach längst der Fall. In ihrer heutigen Mangelhaftigkeit und Unzulänglich-
keit an sich liegt jedenfalls noch kein Grund für die Überlassung dieser oder
anderer Ertragssteuern an die Gemeinden, nur finanzpolitische Gründe (Schaffung
eigener Einnahmsquellen speziell für die städtischen Gemeinden) können hier
maßgebend sein.
Diese stimmen aber in erster Linie nur für die Gebäudesteuer einschließlich
der. Baustellen- und Wertzuwachssteuer von städtischen Gebäuden, allenfalls
für die Gewerbesteuer in städtischen Gemeinwesen, auf keinen Fall für die Grund
steuer des flachen Landes, beziehungsweise in Landgemeinden. Jm übrigen
müßte man sich bei Beurteilung dieser Fragen nicht bloß auf spezifisch reichs-
deutsche Verhältnisse beschränken, sondern auch jene in anderen Staaten
(übriges Ausland, Österreich) in Betracht ziehen.
Bemerkt mag noch werden, daß außer der Steuergesetzgebung Deutsch-
lands jene der übrigen Staaten mit alleiniger Ausnahme der ausführlicheren
Darstellung der englischen und italienischen Einkommensteuer fast gänzlich
vernachlässigt ist und auch nicht die verwandten Steuerformen des österreichi-
schen Abgabenrechtes wenigstens vergleichsweise zur Darstellung gelangt sind.
Budget- und Kreditwesen werden in knappster, geradezu nur aphoristischer
Form behandelt (zusammen 17 Seiten). Den Ab:chluß des Buches bildet eine
übersichtliche Darstellung der deutschen Reichsfinanzreform von 1919/1920 im
Anhange.
Im Unterschiede von dem soeben besprochenen Werke ist Földes „Finanz-
wissenschaft“ vorweg darauf bedacht, die für Theorie und Praxis wichtigen neuen
finanziellen Probleme eingehend zu behandeln, neue Richtlinien der Entwicklung
aus der Menge finanziellen Geschehens zu finden. Dieses Unternehmen ist auf jeden
Fall verdienstvoll, ist der einzig richtige Weg zu neuer Erkenntnis, — allerdings
darunter muß notwendig die lehrbuchmäßige Darstellung des gegebenen posi-
tiven Details, insbesondere der vielgestaltigen Finanzgesetzgebung leiden, wie
348 .manuel Huge Vogel,
auch die Darstellung vielfach eire für ein Lehibuch minder zweckmaBige svb-
jektive Note erhalten. Für die theoretische Fortentwicklung ist aber nicht bloß
die Lehrbuch-Systematik, sondern gerade die gedankenmäßige Verarbeitung
einzelner durch die Jüngste Geschichte besonders interessant gewordener Partien
von Wert, eine gleichmäßige Vertiefung der Arbeit auf allen Zweigen des
weit ausgedehnten finanzwissenschaftlichen Bereiches ist unter diesen Umständen
weder mözlich noch zu fordern.
Mit diesen Vorbehalten muß man an das Studium des Földesschen Werkes
herantreten, namentlich der Nichtfachmann und der Studierende wird beachten
müssen, daß es seiner Anlage entsprechend, vielfach nicht allgemein anerkannte
Lehren und Meinungen, sondern den rein subjektiven Standpunkt des Verfassers
zum Ausdruck bringt. In den Vordergrund stellt Földes ganz richtig den Ge-
danken, daß der Staat, dem ohnehin für eine lange Zeit die Führung im volks-
wirtschaftlichen Leben überlassen sein wird, an den Resultaten der Produktion
sich einen Anteil vorbehalten wird, wie er schon bisher bei der Tabakfabrikation,
der Bier- oder Zuckererzeugung, also ganzen Industriezweigen oder bei der
Zettelbank dies vielfach getan hat. Es handle sich darum, dem Staate einen
wachsenden Anteil am Nativnaleinkommen zur Verfügung zu stellen. Auf dem
Gebiete der Steuern soll hiezu nach Ansicht des Verfassers der Ausbau der Ein-
kommen- und Vermögenssteuer, und zwar durch Verstärkung und Hinzufügung
dynamischer Elemente, Sunianojsog der Einkommens- und Vermögens-
vermehrungen, Wertzuwachsbesteuerung usf. beitragen.
Von vornherein faßt Földes das Ziel der Finanzwissenschaft und damit
auch die Aufgabe seines Buches in einem weiteren Sinne, er wendet daher hie-
für den Ausdruck ,,Staatshaushaltlehre“ im Sinne von „Staatswirtschaftslehre"
an, eine Bezeichnung, welche bekanntlich einst (siehe Justi, Sonnenfels, Harl,
Krug, Loden, Schmalz, Lotz d.Ält. u. a.) allgemein in Gebrauch war, dann
aber außer Übung kam.2) Sehr interessant und wichtig sind hiebei seine Aus-
führungen, daB die Finanzwissenschaft nicht schlechtweg als ein, wenn auch
selbständig gestalteter Teil der politischen Ökonomie zu betrachten ist, da sie
in engsten Zusammenhängen mit dem Verwaltungsrecht, Staatsrecht und der
Politik stehe und sich insbesondere mit den „Erscheinungen einer juristisch
organisierten, innerhalb juristischer Normen sich vewegender, über juristische
Zwangsmittel verfügenden Gesamtwirtschaft, die den Charakter einer Zwangs-
2) Als ein technischer Mangel des vorliegenden Werkes muß leider bemerkt
werden, daß die Namen zitierter Schriftsteller nicht durch Sperrdruck im Texte hervor-
gehoben wurden, was den Gebrauch als Handbuch wesentlich erschwert.
Zur Systematik der Finanzw issensehaft in der neuesten Literatur. 349
gemeinschaft, eines Machtorganismus an sich trägt“. befaßt (S. 31). Die Staats-
haushaltslehre sei daher nicht ein „Teil“ der Sozialökonomie mehr oder weniger
unselbständiger Art, wie dies die heute längst überholte englische Schule der
Nationalökonomie und ihr nachfolgend viele mehr von mechanischen Gesichts-
punkten beherrschte Systematiker lehrten, sondern eine Wissenschaft selb-
ständigen Charakters. die ihren Platz innerhalb jener engeren Gıuppe der Sozial-
wissenschaften einnimmt. zu denen die sogenannten Staatswissenschaften ge-
hören. Diese Erkenntnis deckt sich mit der Lehre Steins, des genialen Begründers
der Finanzwissenschaft als Staatswissenschaft. Zweifellos stellt die Finanz-
wissenschaft heute als Staatswirtschaftslehre eine völlig selbständig gewordene
Wissenschaft dar, welche nicht nur eine eigene sehr umfangreiche Literatur
besitzt, sondern kraft ihres besonderen Charakters als der Wirtschaftslehre öffent-
licher Zwangsverbände und ihres dadurch gegebenen Zusammenhanges mit
Gesetzgebung und Verwaltung, beziehungsweise den übrigen Staatswissenschaften
auch gesonderte theoretische Grundlegung erfordert. Nur in ihrer geschicht-
lichen Entwicklung, in ihren Ausgangspunkten und Grundlagen, in der Art ihrer
Untersuchungsmethoden ist sie eine ökonomisch fundierte Disziplin, eine
Wirtschaftswissenschaft, jedoch eine solche sui generis, scharf geschieden
und gesondert — trotz aller in fachlich nicht informierten Kreisen so häufigen
Verwechslungen — auch vom ,,Finanzrecht", als der rein juristischen Schwester-
disziplin auf dem Gebiete des Verwaltungsrechtes mit ıhren ganz andersartigen
Bildungsgrundlagen und Methoden.
Die Einteilung des Systemwerkes Földes folgt dem bisherigen Gebrauche.
Er stellt richtig nach Erörterung der einleitenden Grundbegriffe die Lehre von
der verfassungsmäßigen Ordnung des Budgets an die Spitze, läßt dem die Lehre
von den Staatsausgaben folgen, dann die Staatseinnahmen (privatwirtschaft-
liche Einnahmen, nutzbringende Hoheitsrechte, Gebühren, Steuern), hieran
schließt sich ein allerdings an Umfang stark zurücktretendes Kapitel über den
Staatskredit und ejn kurzer Abschnitt über die „Verwaltung des Staatshaus-
haltes“, welche nur allgemeine finanzpolitische Ausführungen enthält.
In der sehr interessanten, aber allzusehr bloß vom verfassurgsrechtlichen
statt vom finanzwissenschaftlichen Standpunkte behandelten Lehre vem Budget
fehlt die systematische Darstellung der formalen Gliederung (Filiation) des
Budgets und der hiefür gebräuchlichen drei Systeme (Realsystem, Formal- oder
Ressortsystem, Territorial-[Féderativ|systcm). Auch die materielle Gliederung
nach Einnahmen —Ausgaben (Bedeckung — Erfordernis), die Unterscheidung
zwischen ordentlichem und außerordentlichem Budget, zwischen Einheits- und
350 Emanuel Hugo Vogel.
Spezialbudgets usf. entbehrt leider der gerade hier wichtigen klaren systema-
tischen Darstellung. Nebenbei bemerkt, wird im ganzen Werke viel zu wenig
vom Sperrdruck Gebrauch gemacht, zur Hervorhebung des jeweils behandelten
Gegenstandes, auch sollten bei späterer Durchsicht des Werkes alle jene Partien,
die infolge des Umsturzes bloß den Charakter von historischen Beispielen ange-
nommen haben (zum Beispiel S. 66 über die drei für den ungarischen Staats-
haushalt maBgebenden Budgets), auch äußerlich diese Gestalt erhalten, nicht
aber noch als gegenwärtig geltendes Recht dargestellt werden (auch S. 84 f.).
Die strittige Frage, inwieweit die Lehre von den Staatsausgaben über-
haubt in den Rahmen der Finanzwissenschaft gehört, entscheidet der Verfasser
richtig dahin, daß sich unsere Wissenschaft nicht mit dem Ob und der Art ihrer
Verwendung, sondern nur mit ihrer finanziellen Seite, mit ihrem Verhältnis zu
den Staatseinnahmen und der zweckmäßigsten Befriedigung des Staatsbedarfes
zu befassen hat. Nach Stein sind die Staatsausgaben das in Geld ausgedrückte
System der Bedürfnisse des Staates, ein Spiegelbild der jeweiligen Verwaltungs-
zwecke und der Art ihrer Erfüllung. Ihre richtigste Behandlung ist meiner Ansicht
nach wohl jene in unmittelbarem Zusammenhange mit der Lehre vom Budget.
dem Staatshaushalte selber, mit welcher ja auch ihre hauptsächliche Gliederung
(ordentliche, außerordentliche) in unmittelbarer Verbindung steht. An Stelle
der gewohnten, auch bei Földes wiederkehrenden Ausführungen über ,,Spar-
samkeit“ in den Staatsausgaben, der Unterscheidung von „geringen, mäßigen,
bedeutenden und übermäßigen Staatsausgaben“, von „produktiven und unpro-
duktiven‘, was alles nur mehr oder weniger die Bedeutung von Schulbegriffen
hat, wäre meiner Meinung nach wohl überhaupt wünschenswerter, der rela-
tiven Ausgabenhöhe im Verhältnis zu der an gewissen Irdexziffern und
Ziffern der Außenhandels- und Produktionsstatistik, der Konsum- und Preis-
statistik gemessenen Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, sowie zum Stande
des gesamten Volksvermögens und Volkseinkommens nachzugehen und so dem
Grundproblem aller Staatswirtschaft nachzuspüren, in welchem Verhältnis bei
jeweils gegebener sozialer Verfassung der durch die Staatseinnahmen aufzu-
bringende Ausgabenstand — zumal in unserer heutigen neumerkantilistischen
Zeit der Staatstätigkeit — zu dem Gesamteffekt der Staatswirtschaft steht. Es
ist dies jener Gedanke, der bisher in mehr oder weniger äußerlicher Unterscheidung
mit den haufig ganz mißverstandenen Worten ‚produktiv‘ und „unproduktiv“
zum Ausdruck gebracht wurde. Erst wenn wir überhaupt imstande sein werden,
den jeweiligen Stand von Volksvermögen und Volkseinkommen und den in
gewissen meBbaren Größen des jährlichen Wirtschaftprozesses zum Ausdruck
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 351
eckommenen äußeren Leistungseffekt einer Volkswirtschaft mit der Ausgaben-
leistung der Staatswirtschaft in Beziehung zu bringen, werden wir imstande sein,
die „Staatswirtschaftslehre‘ selbst zu vertiefen und Gesetze und Beziehungen da
aufzudecken, wo solche heute nur vermutet werden können. Allerdings, hier hätte
die Finanzwissenschaft eigentlich zur Voraussetzung eine mit einem statistisch
feinfühligen Apparate ausgestattete Volkswirtschaft, die alle wichtigen Vor-
vänge und Änderungen, nicht nur ahnen, schätzen, sondern auch erkennen läßt.
Erst wenn dieser Apparat (in erster Linie eine gut funktionierende Preis-,
Handels- und Konsumstatistik) existiert, müßte der Zusanımenhang mit dem
staatlichen Verwaltungs- und Wirtschaftsorganismus, seiner Ausgabenleistung,
gesucht werden, kann dann auch ein weiterer Ausbau dieser heute noch völlig
brachliegenden Teile der Staatswirtschaftslehre mit Erfolg in Angriff genommen
werden. Dies wird von umso größerer Bedeutung sein. je mehr der Staat selbst
zum unmittelbar mitwirkenden Faktor in der Produktions- und Erwerbstätigkeit
der Volkswirtschaft wird, je mehr er im Sinne der heutigen Entwicklung als
Allein- oder Mitunternehmer oder Beteiligter an privatwirtschaftlichen Er-
werbszweigen auftritt. Die Ausgabenleistung des Staates im Falle solchen ,,Mit-
bewerbes‘‘ wird dann ganz besonders noch verglichen werden müssen mit dem
Reinergebnis der „gemeinwirtschaftlich“ geführten Betriebe sowohl als mit
ihrem Reinergeb:is, solange dieser Mitbewerb oder die vollstaatliche Betriebs-
führung nicht stattfand, und abermals werden daraus die zugleich staats- und
wirtschaftspolitisch wichtigsten Konklusionen über Berechtigung und Wert
‘
solcher „staatlich organisierter‘’ Mitarbeit oder überhaupt des Staats-
betriebes an Stelle des freien, individualistischen, privatunternehmungsweisen
Betriebes und seiner Verwertung als staatlicher Steuerquelle zu ziehen sein.
Ein intensiverer Ausbau der Kapitel über „Staatsvermögen“ in den heutigen
Systemwerken der Finanzwissenschaft wird dann ebenso unentbehrlich sein,
wie die primäre Veraussetzung hiefür und überhaupt jedes staatlichen Wirt-
schaftsbetriebes: eine ordentliche Inventarisierung des Staatsvermögens
und eine geregelte moderne Buchführung in der öffentlichen Verwaltung
sowohl als — so selbstverständlich dies auch sonst scheinen mag — in der Finanz-
gebarung und jedem staatlichen Wirtschaftsbetriebe selber.
Zu diesen und ähnlichen Gedankengängen gibt das Werk Földes vielfache
Anregung, wenn es auch leider gerade in diesen bisher eben nur gedankenmäßig
ohne positives Untersuchungsmaterial zu erfassenden Fragen wenig neues bietet,
auch schließlich im Rahmen eines zur erschöpfenden Darstellung des bestehenden
Lehrgebäudes genötigten Werkes nicht zu bieten vermag. Hier müßte erst die
Emmanuel Hugo Vogel.
monographische Bearbeitung die nötigen Grundlagen schaffen. Zur Behand!ung
der einzelnen Ausgabszweige sei nur bemerkt, daß die noch den Zustand vor
dem Kriegsende vorführende Darstellung für die früher bestandenen Staaten
und Staatengruppierungen in eine historische Skizze umgewandelt und dafür
durch die heutigen tatsächlichen Finanzverhältnisse des neu entstandenen
Deutschland und der Nationalstaaten ergänzt werden müßte. Eine zusammen-
stellende Übersicht über die Höhe der Kriegslasten hier oder im Kapitel über
den Staatskredit als des hauptsächlichen Belastungskoeffizienten der neuen
Staatswirtschaften sollte heute in keinem Lehrbuch der Finanzwissenschaft
fehlen (siehe S. 631, nur sehr unvollkommen).
In ähnlicher Weise erscheinen die Partien von der Einnahmenwirtschaft
des in den positiven Teilen vor Kriegsende bereits abgeschlossenen Werkes er-
gänzungsbedürftig (siehe S. 167—171). Die neue Entwicklung auf dem Gebiete
der „Gemeinwirtschaft‘‘ unter Beteiligung des Staates oder sonstiger öffent-
licher Verbände als ‚„Mitunternehmer“, Kapitalsteilhaber (siehe zum Beispiel das
gar nicht erwähnte Österreichische Gesetz über gemeinwirtschaftliche Anstalten),
durch Ausbau und Neuschaffung von Monopolen bedarf eigener Untersuchung
und Behandlung in jedem neuen Werke der Finanzwissenschaft. Trotz der weit-
gehenden Absichten in der Einleitung und den allgemeinen Teilen blicben hier
die Erscheinungen der neuesten Zeit unberücksichtigt.
Zum Kapitel der „Gebühren‘ sei nur einer Auffassung widersprochen.
die mir entschieden irrig zu sein scheint, nämlich jener, daß sich im Wesen der
Gebühren das privatwirtschaftliche mit dem gemeinwirtschaftlichen Moment
begegnen. Sic seien Einnahmen gemischter Natur. Das ..piivatwirtschaft-
liche“ liege darin, daß „es eine Privatperson ist, die in dem gegebenen Falle die
Funktion des staatlichen Organes verursacht“, das ,,staatswirtschaftliche™
aber darin, daß ‚der Staat hier Dienstleistungen tut, die aus der Natur des
Staates folgen,.... Ausfluß seiner Hoheitsrechte sind“. Wie bei den privat wirt-
schaftlichen Einnahmen fördere der Staat auch hier das Privatinteresse. wo-
für eine Gegenleistung gerechtfertigt ist. (S. 183.) Hier wird offensichtlich das
Wort privatwirtschaftlich oder privatrechtlich in einer irreführenden. mib-
verständlichen Weise gebraucht. Daß eine Privatperson der Beteiligte ist, ist
weder entscheidend, noch liegt darin ein „privatwirtschaftliches‘‘ Moment. denn
beteiligt ist auch an jeder Steuer eine besteuerte Privatperson als der Empfänger
der in der ganzen Staatsverwaltung liegenden generellen staatlichen Leistung.
Das Unterscheidende ist ja nur, daß hier die Staatstätigkeit und damit der An-
laß der Gebührenerhebung freiwillig und faliweise von dem Abgabensubjckte
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 353
selbst ausgelöst wird. Dies hat mit einer „privatwirtschaftlichen‘‘ Eigenschaft
der Abgabe wie der Staatstätigkeit nichts zu tun.
In der Steuerlehre kommt die Dogmengeschichte der Steuertheorie wohl
für ein umfassender angelegtes System der Finanzwissenschaft zu kurz. Was
der Verfasser im Anschluß an die Lehre von den Besteuerungsprinzipien als
„Sozialtheorie‘ des Steuerwesens anführt, geht im wesentlichen über eine Dar-
stellung der Auffassungen Steins und Wagners nicht hinaus, hätte sich aber
vielleicht im Sinne eines ,,Sozialprinzips in der Besteuerung“ als Zusammenfassung
der aus der Klassen- und Berufsschichtung des gesellschaftlichen Zusammenlebens
hergeleiteten soziologischen und sozialpolitischen Momente aufstellen lassen. Als
interessant mag noch Földes Unterscheidung der „vollständigen“ und „un-
vollständigen" Steuerkraft angeführt werden: unvollständige, das heißt geminderte
oder aufgehobene Steuerkraft, anerkannt durch Existenzminimum und degressiven
Steuerfuß. Die Unterscheidung deckt sich etwa mit jener der vollen. der ge-
minderten oder der fehlenden steuerlichen Leistungsfähigkeit, wozu aber heute
auch noch die praktisch wichtige Anerkennung einer übernormalen oder „ver-
stärkten‘, das heißt über einer als Durchschnittsma8 angenommenen Leistungs-
fähigkeit kommt (siehe die Fälle der „Junggesellensteuer‘‘, der Steuerzuschläge
nach Besitzdauer, nach Größe des Gesamtvermögens im Falle von Vermögens-
zuwachssteuern, mitunter der Erbsteuer je nach Größe des Stammvermögens usf.).
In der systematischen Gruppierung seiner Steuerlehre schließt sich Földes
an die Einteilung Gustav Cohns an und behandelt infolgedessen den Stoff in
folgenden Gruppen:
1. Steuern derentstehenden Steuerquellen (Grund-, Kapitalrentensteuer,
Besteuerung des Arbeitsverdienstes, des Unternehmergewinnes, Verkehrs-
steuern).
2. Steuern auf bestehende Steuerquellen (Einkommens-, Vermögens-
steuern, Wertzuwachssteuer, Erbschaftssteuer).
3. Steuern auf verbrauchte (verwendete) Steuerquellen (Verzehrungs-
steuern, Luxus- und Aufwandsteuern).
4. Sonstige Steuerarten (Gebäudesteuer, Haussteuer, Wehrsteuer, Wehr-
beitrag, Kriegssteuern).
Diese Einteilung hat den einen großen Vorteil, endlich von der über-
kommenen, aber gänzlich unzulänglichen, weil vielfach nichtssagenden Einteilung
in direkte und indirekte Steuern abzugehen, sie gestattet viel richtiger die ein-
zelnen Steuerarten dorthin zu reihen, wohin sie sachlich, das heißt nach ihrer
volkswirtschaftlichen Funktion und ihrem begrifflichem Wesen gehören. Sie
354 Emanuel Hugo Vogel.
nähert sich der Einteilung Heckels nach Besteuerung der Erwerbs-, das heißt
Einnahmenwirtschaft einerseits, der Aufwandwirtschaft andrerseits, wobei inner-
halb ersterer wieder Steuern, die im Zuge des Erwerbs- und Produktionsprozesses
eingreifen (wie Verkehrssteuern), von jenen, welche das fertige Einkommen und
Vermögen belasten, unterschieden werden.
Daß natürlich auch hiermit keine scharfen Grenzen gezogen erscheinen,und
auch das Wesen der einzelnen Steuerformen nicht erschöpft ist, geht schon
daraus hervor, daß beispielsweise die Verkehrssteuern ohne weiteres auch die
Funktion haben können, eine Steuer auf die Verwendung von Einkommens-
teilen zu sein (zum Beispiel Verkehrsakt behufs Ankauf einer Villa, eines Parkes,
eines Luxus- oder Konsumobjektes). In dieser Hinsicht ist im vorliegenden
Werke viel zu wenig die schon vorhandene monographische Vorbearbeitung der ein-
zelnen finanzwissenschaftlichen Partien, System- und Streitfragen verwertet
worden,:) wodurch teils raumfüllende Ausführungen erspart, teils feststehende
Resultate der Forschung hätten übernommen werden können. Völlig
unbegreiflich muß es aber erscheinen, warum die ‚„Gebäude-‘ oder ‚.Haussteuer“
als zweifellose Belastung einer „bestehenden“ oder „entstehenden“ Steuerquelle
nicht in Gruppe 1 oder 2 je nach ihrem vorwiegenden Charakter als Vermögens-
oder Ertragssteuer einbezogen, sondern ganz unsystematisch außerhalb gestellt
wird. Der Grund, daß sie eine „Vereinigung von Grund- und Kapitalsteuer“
ist, leuchtet nicht ein. Denn auch diese beiden Steuerformen sind ja selbst wieder
Belastungen ‚‚entstehender‘‘ Steuerquellen nach Földes. In ihrer hauptsäch-
lichen Funktion ist übrigens die Haussteuer einfach eine Vorbelastung des Ge-
bäudeertrages, wie die Grundsteuer eine solche des Grundertrages, die Kapital-
steuer eine solche des Rentenertrages. Die Zölle werden im besonderen, die ein-
zelnen Steuerarten behandelnden Teile überhaupt nicht dargestellt, so daß
hierüber ebenso wie bezüglich der „Steuermonopole‘ nur die wenigen begriff-
lichen und geschichtlichen Ausführungen (S. 372 f.) erübrigen. Dies, sowie die
allzuwenig präzise Darstellung der positiven Gestalt der einzelnen Steuer-
arten in den hauptsächlichen staatlichen Steuersystemen ist allerdings ein
bedauerlicher Mangel des sonst ziemlich weit ausgreifenden Werkes. So enthält
letzteres auch eigentlich sonst der juristischen Disziplin des „Finanzrechtes“
vorbehaltene, allerdings hier schr knappe Ausführungen über Steuerverwaltung,
3) Siehe u. a. zum Beispiel meine Abhandlung über „Stellung und Aufgabe
der Verkehrssteuern im Systeme der Finanzwissenschaft‘‘ in der Zeitschrift für die
gesamte Staatswissenschaft 1912, 68. Jahrg. S. 482.
= e x . u. 3 A 357
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 999
begrüßenden Versuch, neben dem ,,Steuerwesen der Staatenveibände‘ auch das
„internationale Steuerwesen‘‘ darzustellen. Aber auch diese Partie ist noch viel
zu dürftig, auch wiederum eher in ein finanzrechtliches Weik gehörig, welches
dann die Partien des internationalen Finanzrechtes in systematischer Zusammen-
fassung darzustellen vermag, während hier in dem Rahmen der Finanzwissen-
schaft besser nur die wirtschafts- und steuerpolitische Seite dieser Zusammen-
hänge zur Darstellung gelangen sollte.
Gegenüber den soeben besprochenen beiden Werken tat die bikannte
„Finanzwissenschaft‘‘ K. Th. Ehebergs ihre für Studium wie Lehrbetrieb an-
erkannten besonderen Vorzüge auch in der neuesten, nunmehr bereits 17. Auf-
lage beibehalten. Allerdings, dieses Buch unternimmt es nicht, theoretisch neue
Wege zu suchen, hat auch nicht zum Zwecke, in einzelnen Teilgebieten zugleich
eine Art monographischer Forscherarbeit zu leisten, sucht aber dafür, eine mög-
liehst übersichtliche und durch Verwendung von Kleindruck auch auf dem Ge-
biete der Finanzgesetzgebung möglichst erschöpfende Belehrung ohne allzu-
großes Anschwellen des Gesamtumfanges zu geben. Ohne Neuerungen der
Systematik zu versuchen, besitzt das Werk vor allem für Lehrer wie Studierende
den Vorzug, nicht bloß mehr oder weniger subjektive Lehrmeinungen des Ver-
fassers, sondern die allgemein anerkannten Resultate der Forschung nach dem
neuesten Stand mit kurzer dogmengeschichtlicher Erläuterung zu bieten. Dies
ist auch tatsächlich die Hauptaufgabe eines finanzwissenschaftlichen System-
werkes, welches für den Handgebrauch des Studierenden und des nach wissen-
schaftlicher Belehrung in einem bestimmten Teilgebiete des weitverzweigten
Faches suchenden Interessenten zu dienen bestimmt ist. Allerdings weitergehenden
wissenschaftlich-theoretischen wie fachlichen Wünschen wird es nicht gerecht
und kann es auch in dem für ein Handbuch einzuhaltenden Rahmen nicht werden,
aber deshalb scheint mir doch gerade das Bestehen eines finanzwissenschaftlichen
Lehrbuches in dieser, der Aufnahmsfähigkeit des Studierenden einer Hoch-
schule gerecht werdenden Gestalt ein unabweisbares Bedürfnis, auf dessen Be-
friedigung die weite Verbreitung dieses Buches zurückzuführen ist. Ein einziger
Einwand kann derzeit gegenüber dem systematischen Ausbau des Werkes nicht
unterdrückt werden: die inhaltliche Ungleichmäßigkeit der Ausarbeitung der
die Ausgabenlehre, Budget- und Staatsschuldenlehre betreffenden Abschnitte
gegenüber den Partien der eigentlichen Steuerlehre. Vielleicht ließe sich, um den
reichen positiven Inhalt des Werkes, welches vor allem den Wissensstoff der
Finanzwissenschaft und ihrer Gesetzgebung möglichst vollständig, übersichtlich
und nach dem neuesten Stande darstellen soll, — eine Aufgabe, die eben duich
356 Emanuel Hugo Vogel.
die übrigen Lehrbücher durchwegs nicht genügend erfüllt wird —, künftig noch
zu vermehren, unter noch stärkerer Verwendung des Kleindrucks für das positive
Material innerhalb des Gesamtbandes eine Unterteilung in zwei Bücher durch-
führen, von welchen das’ eine die Einnahmenwirtschaft behandelt, das
andere aber, — und zwar womöglich in weitaus eingehenderer, den anderen
Teil äquiparierender Art — die Ausgabenwirtschaft, Budget, Staatsschulden-
wesen, autonome Finanzen, Finanzen von Staatenverbänden enthalten würde.
In der Darstellung der Einnahmenwirtschaft müßte hiebei auch den erwerbs-
wirtschaftlichen Einnahmen des Staates, den neuen Erscheinungen und gesetz-
lichen Formen der staatlichen Anteilhaberschaft, der .„gemischtwirtschaft
lichen“ Unternehmungen usf. entsprechender Raum und größere Sorgfalt
zugewendet werden.
Zu den einzelnen Abschnitten des Werkes ist folgendes zu bemerken: Das
meist auf dem Zustande vor Ausbruch des Weltkrieges beruhende Bild der Staats-
ausgaben müßte durch die geänderten Ausgabenverhältnisse der Nachkriegs-
zeit ergänzt und so durch die Gegenüberstellung der letzten Vorkriegsjahre erst
eigentlich für die Gegenwart instruktiv gemacht werden. Die Ziffernangaben
S. 62/64 sind in dieser Hinsicht sehr unvollkommen, scheinen mit dem Stande
1918/1919 abgeschlossen. Im übrigen ist zum Beispiel nicht einmal der Gesamt-
ausgabenstand des Deutschen Reiches zu entnehmen, sondern werden nur Bei-
spiele einzelner Staaten (Bayern, Preußen) vorgeführt, während einiges, zweifellos
bereits vorliegendes Ziffernmaterial zur vergleichenden Darstellung des Standes
der Staatsfinanzen in den wichtigsten kontinentalen Staaten (siehe die Publi-
kationen O. Schwarz im Finanzarchiv) für den Handgebrauch außerordentlich
wünschenswert wäre. Hier sei sofort auch bemerkt, daß dieses Lehrbuch, welches
ja auch in Österreich vielfach als Studienquelle benutzt wird, in viel größerem
Maße österreichische Finanzverhältnisse beriicksichtigen und in knapperÜber-
sicht zur Darstellung bringen sollte, was aus verschiedenen Gründen und schon
um des geistig möglichst festzuhaltenden engen Zusammenschlusses des öster-
reichischen und des deutschen Kulturlebens übrigens nicht nur auf dem Gebiete
der Finanzwissenschaft, sondern auch in allen anderen Wissenszweigen außer-
ordentlich erwünscht wäre.
Systematisch anfechtbar ist wohl, daß die neue Warenumsatzsteuer des
Deutschen Reiches unter den „indirekten Aufwandsteuern‘ behandelt wird,
statt wie dies ihrer hauptsächlichen Funktion und vor aller: ihrem begritflichen
Wesen entspricht, als Schlußstein einer umfassenden Verkehrs besteucrung.
Als ein theoretischer Mangel muß es auch bezeichnet werden, daß die in Form
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 357
von Stempelabgaben (also in Gebührenform) von den Transportbegleitpapieren
erhobenen Transportabgaben (Eisenbahn- und Schiffahrtsabgaben) ohne zu-
mindest nähere theoretische Erklärung und begriffliche Klarstellung zusammen
mit Börsensteuer, Wechselsteuer, Besitzwechselabgaben, also zweifellos echten
Verkehrssteuern in des Wortes eigentlicher wissenschaftlicher Bedeutung in
einer Gruppe von Steuern behandelt werden (S. 388), wogegen wieder zum
Beispiel die Fahrkartensteuer, wie überhaupt die Besteuerung des Personen-
und Güterverkehres (zum Beispiel R. G. vom 8. April 1917, S. 499), ohne jeden
Grund unter die Aufwandsteuern gerechnet wird (S. 489). Die scharfe wissen-
schaftliche Trennung des rechtsgeschäftlichen Verkehres und der diesen
treffenden eigentlichen „Verkehrssteuern‘, welche das zugrundeliegende Rechts-
geschäft nach der Höhe der durch dasselbe übertragenen Gütermengen (in Öster-
reich nach Skalen- oder Prozentualgebühren) erfassen, von der Besteuerung des
ohne Zurückgehen auf irgendeinen rechtsgeschäftlichen Akt mit bloßen Ge-
bühren, gewöhnlich im Anschluß an Frachtbrief, Begleitpapier usf., erfaßten
lokalen Personen- und Gütertransportes, ist so in die Augen springend, daß
das gemeinsam angewendete vieldeutige Wort „Verkehr‘‘ doch nicht mehr als
wissenschaftliches Bindemittel dieser ganz verschiedenartigen Abgabenformen
ausreicht.
Jedenfalls gehört aber auch die sonstige Besteuerung des lokalen Personen-
und Güterverkehres im Anschluß an den Fahrpreis, Gepäcks- oder Güterfracht-
tarif nicht schlechtweg unter die Aufwandbesteuerung, so wenig als die allgemeine
Warenumsatzsteuer, wenn auch letztere mit speziellen Aufwandsteuerzwecken
(so die Luxusumsatzsteuer, die Beherbergungssteuer, teilweise die Inseraten-
steuer) in Deutschland und Österreich verbunden wurde. Der Hauptsache
nach handelt es sich sowohl bei den Transportabgaben als bei der Warenumsatz-
steuer zunächst nicht um Besteuerungen der Konsumtion, sondern des gesamten
Geschafts- und Erwerbslebens, wenn auch diese Steuern als Kostenfaktor des
letzteren schließlich im Warenpreise überwälzt werden und so jede Art von
Konsuntion, die persönliche sowohl als die sogenannte technische (Verwendung,
beziehungsweise Kauf von Produktionsmitteln aller Art), belasten. Nicht das
schließliche, vielfach auch gar nicht übersehbare Überwälzungsresultat kann für
die systematische (Gliederung und Einreihung maßgebend sein, sondern nur das
aus Erhebungsart, Bemessungsgrundlage usf. hervorgehende Wesen der be-
treffenden Steuer. Da zeigt aber die nähere Untersuchung bei den neuen Umsatz-
steuern (Steuer auf Warenumsätze, Valuten und Entgelte für Leistungen)
deutlich den Charakter der echten, auf die gesamten Umsätze des rechtsgeschäft-
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Noue Folge, 1. Band. 94
358 Emanuel Hugo Vogel.
lichen Güterverkehres ohne weitere formale Voraussetzung gelegten Verkehrs-
steuer, bei den Transportabgaben eine an den staatlichen Unternehmerpreis
der Eisenbahn- und Postbeförderung anschließenden Gebühr, die hier gerade
heute vor allem wieder das Kostenelement für die abnoım gestiegenen Her-
stellungskosten der staatlicherseits gebotenen Leistungen mit enthält. (Sicke die
Rechtfertigung nicht nur der Fahr- und Frachtpreise selbst, sondern der im An-
schlusse hieran erhobenen Abgabenformen.)
. Auch die allerdings schwierige Abgrenzung zwischen „indirekten“ Auf-
wandsteuern (S. 489) und „direkten“ Aufwandsteuern (S. 501) scheint mir
nicht einwandfrei gelungen. Denn zu den „direkten“ soll außer Wohnungs-.
Miet- und Möbelsteuern auch die Besteuerung von Fahrrädern, Automobilen.
Pferden, Wagen, Hunden, der Besitz von Gold- und Silbergeschirr gehören,
während zu den ‚indirekten‘ u. a. die Steuern vom Gebrauch oder Verbrauch
gewisser Gegenstände gerechnet werden, welche als Zeichen eines gewissen Ein-
kommens angesehen werden, so: „Zündhölzchen, Seife, Zichorie, Papier, Gas.
Elektrizität, Essig, Pulver, Heizstoffe, Spielkarten, Theaterbillette, Fahrkarten.
Kalender, Zeitungen, Inserate, Luxuswaren (Gold- und Silberwaren, Perlen.
Juwelen)“ (S. 489). Tatsächlich werden hier als „indirekte“ Aufwandsteuern
nebeneinander behandelt: Die deutsche Umsatzsteuer mit ihren Annexen (Luxus-
steuer, Inseratensteuer, Beherbergungssteuer), ähnliche Luxusumsatzsteuern
auf den Verkauf gewisser Luxusgegenstände in anderen Staaten, dann die
deutsche Kohlensteuer, Leuchtmittelsteuer, Zündwarensteuer, Mineralwasser-
steuer, kleinere Verbrauchssteuern einzelner Staaten (Essig-, Seifen-, Zichorien-
steuern usf), Spielkartensteuer, Zeitungs- und Kalenderstempel, Fahrkarten-
steuer, die Besteuerung des Eisenbahn- und Dampfschiffpersonen- und Güter-
verkehres, die Vergnügungssteuern (auf Theaterkarten, Billette aller Art). Sehen
wir von den Abgaben von lokalem Personen- und Gütertransport einerseits, von
den Umsatzsteuern als Verkehrssteuern andrerseits ab, die wie oben bemerkt,
überhaupt in eine andere Kategorie gehören, so bleibt für die übrigen als eigent-
lich trennendes Moment nur der Umstand, ob die Abgabe „direkt“ den Besitz
des „Luxusgegenstandes‘ beim Besitzer erfaßt, oder aber allgemein den Verkauf
solcher Gegenstände, also „indirekt“ beim Verkäufer oder Erzeuger. Nicht die
Art des Gebrauchs- oder Verbrauchs gegenstandes ist also entscheidend,
sondern die Art der Erhebung der Abgabe, so daß derselbe Gegenstand ent-
weder ,,direkt oder „indirekt‘‘ mit einer Aufwandsteuer getroffen werden kann.
Diese Unterscheidungsmerkmale müßten unter Bereinigung der „indirekten
Aufwandsteuern‘ (Abschnitt 6, § 190, S. 489 f.) von den nicht hieher gehörigen
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 399
Abzabenformen zur Klarstellung noch ausdrücklich schärfer auch in der Ein-
leitung zu diesem Abschnitt betont werden.
Dankbarst hervorzuheben ist, daß das Werk bemüht ist, an Hand der
neuesten statistischen Daten einen in-truktiven Überblick über die finanzielle
Wirkung der unter dem Einflusse der Kriegsfolgen namentlich im Deutschen
Reiche erfolgten Steuermaßnahmen zu bieten. (Steuereinnahmen des Deutschen
Reiches in der Nachkriegszeit S. 622 ff., insbesondere eine vergleichende Über-
sicht für die Jahre 1872, 1881, 1888, 1907, 1913, Schuldenwesen S. 636 f. und
a. a. O.) Mögen auch diese Ziffern rasch dem Veralten ausgesetzt sein, so bieten
sie doch wenigstens für einen gewissen Zeitabschnitt einen genauen Anhalts-
punkt und sind für das Studium von nicht zu unterschätzendem Werte. Sehr
dankenswert ist auch die erstmalige übersichtliche und mit interessantem, aller-
dings vorwiegend auf das Deutsche Reich beschränkten statistischen Beleg-
material versehene Darstellung des Gemeindefinanzwesens (5. 639—696), welche
inbesondere durch die Vergleiche mit den englischen und französischen Einrich-
tungen eine wertvolle Bereicherung des Werkes bildet. In der Ausstattung des
Werkes Ehebergs mit vergleichenden statistischen Material sowohl als in der
übersichtlichen Darstellung der geltenden staatlichen Finanzgesetzgebung liegen
seine besonderen Vorzüge und kann nur der Wunsch ausgesprochen werden,
daß dieses verdienstvolle Deutsche Hand- und Lehrbuch der Finanzwissenschaft
in künftigen Auflagen gerade auf diesen Gebieten, insbcsondere auch für Öster-
reich (vielleicht mit kurzer Bezugnalime auf das Steuerrecht der übrigen National-
staaten) noch weiter ausgebaut werde, um zur verläblichen al'gemeinen Quelle
der finanzwissenschaftlich verarbeiteten Gesetzgebung und ihrer systematischen
und volkswirtschaftlichen Zusammenhänge zu werden. Aber auch das schon
heute Gebotene muß als Hilfsbuch der Belehrung für Studierende, wie
als Hand- und Nachschlagewerk für die Fachwelt aufs dankbarste begrüßt
werden.
In den engeren Kreis der hier besprochenen Werke gehört sowohl nach An-
laze als dem vorwiegenden Zwecke, als Lehr- und Handbuch für Studiengebrauch
und Verwaltung zu dienen, inbesondere auch noch Conrads bekannter „Grund-
ri“ der Finanzwissenschaft (111. Teil des „Grundrisses zum Studium der poli-
tischen Ökonomie“). Dieses in den letzten Jahren von H. Köppe bearbeitete
Werk ist soeben in achter erweiterter Auflage erschienen und wurde entsprechend
den tiefgreifenden Veränderungen des Finanzwesens im Deutschen Reiche sowohl als
in den übrigen Staaten, wenigstens was ersteres anbelangt, durchweg auf den
neuesten Stand gebracht. Als letzterschienenes Systemwerk reicht es natur-
360 Emanuel Hugo Vogel.
gemäß am weitesten in die Gegenwart herauf. Was seine systematische An-
ordnung anbelangt, so nimmt in ihm die Darstellung der positiven
Steuerlehre (ausschließlich der ganz unzulänglichen Steuertheorie) den ganz
überwiegenden Teil (260 Seiten) des Buches ein, während die „Einkünfte
aus Staatsbesitz und Staatsbetrieb‘‘ (24 Seiten) ebenso wie das Staats-
schuldenwesen (17 Seiten) und die Staatsausgaben (8 Seiten) schon rein
äußerlich vollständig zurücktreten. Die Steuertheorie sowie die letzterwähnten
Partien kommen sohin für ein zu Studienzwecken bestimmtes Buch von
vornherein viel zu kurz weg.
In technischer Hinsicht ist Conrads Grundriß zweifellos außerordentlich
praktisch und übersichtlich angeordnet, was seinen Gebrauchswert zu rascher
Orientierung erhöht. Hieher gehört einmal die zweckmäßig und auch für andere
Handbücher empfehlenswerte Anführung der hauptsächlichen einschlägigen
Literatur an der Spitze jedes Paragraphen. Allerdings müßten diese namentlich
für die seminaristische Weiterarbeit zweckdienlichen Literaturübersichten noch
wesentlich ergänzt werden, um wirklich zu den behandelten Fragen einen Über-
blick der wichtigeren Spezialliteratur zu bieten. Ferner erhöht es die Lesbarkeit
und Gebrauchsfähigkeit sehr, daß alle rein steuergeschichtlichen Ausführungen
in einem nach Staaten gegliederten, in Kleindruck gehaltenen „historischen
Rückblick“ am Schlusse des ganzen Werkes zusammengefaßt wurden. Das allzu-
starke Zurücktreten der Steuertheorie gegenüber der beschreibenden Darstellung
der positiven Finanzgesetzgebung bewirkt, daB letztere einer über Begriffe und
Einteilungen hinausreichenden theoretischen Grundlegung entbehrt, sich also
mehr für praktische Verwaltungszwecke als für das Hochschulstudium eignet. Um
so größere Vorzüge weist dafür die Art der Behandlung der einzelnen
Steuern auf, deren positive Gestalt übersichtlich und instruktiv herausgearbeitet
wurde. Nur muß hier mehr noch als bei den übrigen reichsdeutschen Lehrbüchern
der Finanzwissenschaft mit Bedauern vermerkt werden, daß noch immer Steuern
und Finanzen Österreichs viel zu geringe Berücksichtigung zuteil wird, soweit
aber hierauf überhaupt eingegangen wird, die neueste gesetzliche Entwicklung
im Unterschiede von jener Deutschlands noch nicht zur Aufnahme gelangt ist.
Grundsätzlich sollte endlich der geistige „Anschluß“ wenigstens so weit hergestellt
werden, daß auf dem Gebiete der Staatswissenschaften in erster Linie die Finanz-
verhältnisse und Gesetzgebung des einzigen außerhalb Deutschlands bestehenden
rein deutschen Staatsgebietes zur eingehenden Verarbeitung gelangen, schon um
auf diese Weise die deutschen wissenschaftlichen Systemwerke in höherem Mabe
verwendungsfähig für Lehr- und Studienzwecke österreichischer Universitäten
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 361
zu gestalten, zumal solange es kein von österreichischer Seite stammendes
finanzwissenschaftliches Werk gibt.
In Conrads Grundriß werden ,,Personalsteuern’, „Ertragsteuern‘“, ,,In-
direkte Steuern“ (auf notwendige Lebensmittel, auf entbehrliche Güter), endlich
„Ergänzungs- insbesondere Verkehrssteuern‘ unterschieden. Ohne daß in der
allgemein einleitenden begrifflichen Umschreibung dieser Steuergruppen (S.23 ff.)
gesagt würde, welche Steuern sohin zu den einzelnen Gruppen zu zählen sind
und warum, werden diese dann tatsächlich wie folgt zusammengesetzt. Als „Per-
sonalsteuern‘‘ werden nebeneinander behandelt: Einkommensteuer, Reichs-
körperschaftssteuer, Vermiögenssteuer, Besitzsteuer, Besteuerung der Kriegs-
gewinne, Erbschafts- und Nachlaßsteuer. Hiegegen ist nichts einzuwenden, da die
Erbschafts- und Schenkungssteuer tatsächlich theoretisch anı richtigsten zu den
direkten, das Vermögen im Zeitpunkt des Erb- oder Schenkungsanfalles be-
lastenden, den hiedurch bewirkten Zuwachs an Leistungsfähigkeit unmittelbar
erfassenden Steuern gerechnet werden können. Nur der Ausdruck ,.Personal-
steuern‘, noch dazu in Gegeniiberstellung zu den „Ertragsteuern“
ist hiefür ungebräuchlich, auch sachlich nicht zutreffend, da vom Ver-
wandtschaftsgrade im Verhältnisse zum Erblasser abgesehen, sonstige persönliche
Verhältnisse des Erben oder Legatars, beziehungsweise Geschenknehmers nicht
zur Berücksichtigung kommen. Da die Einteilung der direkten und indirekten
Steuern danach abgestellt wird, ob im Besteuerungsfalle von Einnalımen oder
Besitz unmittelbar auf die Leistungsfähigkeit (direkte) oder ob von den Aus-
gaben auf die Einnahmen und dadurch mittelbar auf die Leistungsfähigkeit
geschlossen wird (indirekte), so werden folgerichtig Mietsteuern und „Luxus-
steuern‘ unter die „indirekten“ gezählt. (S. 23, 28, 232.) Das Moment der tech-
nischen Erhebung unmittelbar beim endgültigen Steuerträger oder zunächst bei
einer Mittelperson tritt infolgedessen vollständig zurück. Als „ergänzende“
Steuerformen werden nun außerhalb der direkten und indirekten separat
behandelt: Einregistrierungs- und Stempelsteuern, Umsatzsteuer, Börsensteuer,
die Besteuerung des Personen- und Güterverkehres (Transportabgaben), Wert-
zuwachs- und Immobiliarverkehrssteuern, Luxussteuern (und zwar die direkt
beim Besitzer des Gegenstandes erhobene Steuer exklusive Mietsteuer), die Wehr-
steuer und die Inseratensteuer. Durch die Zusammenfassung in einer Sammel-
position entfällt allerdings die Schwierigkeit der begrifflichen Auseinander-
haltung und Einreihung, aber anderseits finden wir hier völlig Ungleichartiges
systematisch zusammengefaßt, überdies aber die auch theoretisch zu sondernde
wichtige Gruppe der eigentlichen „Verkehrssteuern‘ vom rechtsgeschäf-
302 Emanuel Hugo Vogel.
lichen Verkehr mit Transportabgaben (vom rein lokalen Personen- und Güter-
transport) zusammengespannt, ganz abgesehen von der ganz anderen Charakter
besitzenden Wehrsteuer (Militärersatzpflichtsteuer), welche ebenso wie Tantiemen-
steuer, Brotauflage eine besandere Form zusätzlicher Einkommenbesteuerung dar-
stellt. Hier mangelt eben ein genügend allgemeines Gruppierungskriterium der
Besteuerung überhaupt, welches wie zum Beispiel Besteuerung der Einnahmen-
wirtschaft einerseits, der Ausgabenwirtschaft anderseits (Heckel), oder Be-
steuerung bestehender und entstehender Steuerquellen, beziehungsweise zum
Verbrauche verwendeter Quellen gelegentlich dieses Verbrauches (Földes) so
ziemlich alle Steuerformen, wenigstens nach ihrer hauptsächlichen Funktion
unterzubringen gestattet. Dann wird den .‚Verkehrssteuern“ (für rechtsgeschäft-
lichen Verkehr) der ihnen gebührende selbständige Platz unter der Besteuerung
der Produktions- und Erwerbswirtschaft im Zuge der Bildung von Ertrag und
Einkommen eingeräumt werden können. Da übrigens der Verfasser in
konsequenter Anwendung seiner Definition der direkten und indirekten Steuern
die Mietsteuer unter die indirekten Abgaben zählt, so hätte er dies ebenso bezüglich
der Luxussteuer ($ 73) tun und diese aus der Sammelposition des Kapitel V in
Kapitel IV sub B einbeziehen können. Richtig ist es. die „Gebühren“ von den
Steuern völlig getrennt in einem separaten Abschnitt zu behandeln, nur
daß hiebei aus dem Gebiete der Finanzgebühren ohne nähere theoretische Be-
gründung vorweg unter andern die gesamten Stempelabgaben, Transportabgaben
usf. ausgeschieden wurden, so daß hier eigentlich nur Verwaltungsgebühren und
von den Finanzgebühren die Gerichtsgebühren erübrigen.
Unzureichend ist wohl für die heutigen Anforderungen die Darstellung der
„Einkünfte aus Staatsbesitz und Staat‘betrieb“. welche in keiner Weise die
neuen Entwiecklungsmomente berücksichtigt, sondern einen knappen, übrigens
der staatsfinanziellen und staatswirtschaftlichen Bedeutung dieser Staatsbetricbe
schon äußerlich nicht gerecht werdenden, überwiegend nur statistischen Über-
blick über die Postverwaltung, die Stsatseisenbahnen und Wasserstraßen, das
Lotterieregal, Domanialgiiter und Forste, Berg- und Hüttenwerke des Staates,
gewerbliche Unternehmungen in Staatsbetrieb mit kurzer Erwähnung der Zwangs-
syndizierung im Kohlenbergbau im Rahmen des Reichrgesetzes vom 23. März 1919
darbietet. Die Kapitel über Staatsschuldenwesen, Staatsausgaben und Etatwesen
beschränken sich der Hauptsache nach auf eine statistische Darstellung der
einschlägigen Verhältnisse, in der, wie schon erwähnt, die Stärke dieses Buches
liegt, während die eigentlichen finanzwissenschaftlichen Ausführungen zu diesen
Partien nur eine ganz dürftige Einführung bieten, die für Studienzwecke in keiner
Zur Systematik der Finanzwissenschaft in der neuesten Literatur. 363
Richtung ausreicht. Dieser Mangel sollte bei künftigen Auflagen dieses sonst
verdienstvollen Werkes behoben werden. Gut und im Verhältnisse zu den vor-
angegangenen finanzwissenschaftlich-theoretisch eigentlich wichtigeren Teilen
ziemlich ausführlich ist das kommunale Finanzwesen behandelt.
Zusammenfassend läßt sich sagen: In statistischer Hinsicht, teilweise
auch hinsichtlich des verarbeiteten Gesetzesmateriales ist dieses Systemwerk
unter allen am meisten bemüht, den neuesten Stand und auch die durch die Ver-
änderung des Weltkrieges und seiner Folgen gegebene heutige finanzielle Situation
zur Darstellung zu bringen. Allerdings geschieht dies überwiegend nur für das
Deutsche Reich unter bedauerlicher Vernachlässigung, insbesondere wieder der
österreichischen Verhältnisse, von den übrigen neu entstandenen Nationalstaaten
überhaupt nicht zu reden. Dagegen versagt es in theoretischer Beziehung und
in der allgemein finanzwissenschaftlichen Grundlegung. Die finanzielle Neu-
ordnung des Deutschen Reiches auf Grund der Verfassung vom 11. August 1919
ist noch zusammenfassend am Schlusse des beigegebenen „historischen Rück-
blickes‘* zur Darstellung gebracht. wobei auch ein interessantes ziffernmäßiges
Bild der Gesamtbelastung des Deutschen Reiches (Schuldlast auf Grund des
Friedensschlusses für Oktober 1920 bereits rund 415 Milliarden Papiermark ohne
den Papiergeldumlauf von damals 75°4 Milliarden und die noch nicht feststehenden
Wiedergutmachungsschulden) geboten wird.
Uberblicken wir die nunmehr vorhandenen neueren Systemwerke der
Finanzwissenschaft, an deren Spitze wohl das umfassendste, das je geschaffen
wurde, steht, jenes- Adolf Wagners, und denen sich das zweibändige Werk
Max v. Heckels (1907). endlich aus der jürgeren Zeit jenes von Walther Lotz
(1917) anreiht, so können wir wohl sagen, daß jedes gewissen besonderen wissen-
wissenschaftlichen wie praktischen Bedürfnissen und Anforderungen gerecht
wird, d'e eben nur durch die besondere Richtung jedes dieser Werke befriedigt
werden können. Das Systemwerk Wagners als Bestandteil seines monumen-
talen „Lehr- und Handbuches der politischen Ökonomie‘ ragt durch seine tief-
gründigen, weniger theoretischen als wirtschafts- und namentlich sozialpolitischen
Untersuchungen hervor, das Werk Heckels, welches info!ge des frühzeitigen
Todes seines Herausgebers leider keine weiteren Auflagen erlebt hat, ist gekenn-
zeichnet durch seine ausgezeichnete Systematik und die feine, von gründlicher
dogmengeschichtlicher Bearbeitung getragene theoretische Darstellung der
finanzwissenschaftlichen Probleme, insbesondere in der Steuerlehre, während
Lotz wieder der allerdings mitunter etwas zu sehr in die Breite geratenen Be-
handlung einzelner, praktisch wichtiger Gebiete der positiven Abgabengesetz-
864 Emanuel Hugo Vogel. Zur Systematik der Finanzwissensehaft ete.
gebung und der Kommunalfinanzen sich widmet. Wir müssen es als ein Zeichen
des trotz allen äußeren Unglückes und politisch wie wirtschaftlich schwerster
Bedrängnis im Deutschen Volke nie erlahmenden wissenschaftlichen Arbeits-
mutes und seines Sinnes für Ordnung und Zusammenfassung wissenschaftlicher
Einzelarbeit sowie des in zahllosen Monographien zerstreuten Forschungsmateriales
mit Genugtuung empfinden, daß die wissenschaftliche Systematik gerade
auf dem Gebiete der Nationalökonomie und speziell der Finanzwissenschaft eine
Reihe Zukunft und Erfolg verheißender Werke gezeitigt hat.
Einzelbesprechungen.
I. Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie,
theoretische Volkswirtschaftslehre.
Siegfried Budge, Der Kapitalprofit. Eine kritische Untersuchung unter
besonderer Berücksichtigung Franz Oppenheimers. 8°. Jena 1920. G. Fischer.
XI und 155 S.
Die bedeutenden Verdienste dieses Buches liegen in seiner Kritik, welche
sich in der Hauptsache gegen Oppenheimer richtet. Der Kritiker Budge versteht
es nicht nur die einzelnen Systeme in ihren wesentlichen Punkten kurz zu fassen,
es gelingt ihm auch weitgehend, ihren Beweegründen gerecht zu werden. Hier
wieder natürlich mehr gegenüber den Anhängern der objektiven Werttheorie, zu
welcher auch der Verfasser zählt, als gegenüber den Subjektivisten.
„Das Problem der Sozialökonomik ist — nach Budge (S. 1) — nicht ein
Problem der Nachfrage, sondern ein solches des Angebots‘, und zwar das Problem
der Beschränktheit dieses Angebots, deren Ursachen durchaus objektiver Natur
seien. Budge stellt aber selbst gelegentlich fest, daß die Umrechnung der ver-
schiedenen Arbeitsleistungen auf eine Normalarbeitsstunde unmöglich ist (S. 106).
Wie soll dann aber eine objektive Zurechnung vonstatten gehen ? Es ist unter
diesem Gesichtspunkte auch nicht klar, weshalb das ‚Gemeinsame‘ der Waren,
auf dem die arbeitsteilige Produktion ruht, Arbeit sein soll und Gebrauchswert
nicht sein kann (S. 21).
Budge gibt einen kurzen Überblick über die Lösungsversuche vor Oppen-
heimer, der im allgemeinen sehr wertvolle Gesichtspunkte enthält, besonders in
den Kritiken von Marx und Böhm-Bawerk. Leider geht aber der Verfasser auch
hier nicht auf die noch offene Frage der Differenzierung des Profites in Kapitalzins
und Unternehmergewinn ein. Von Interesse ist ein Punkt seiner Kritik der Agio-
theorie Böhm-Bawerks. Budge weist nämlich darauf hin, daß eine größere
Dinglichkeit der Nachfrage nach Gegenwartsgütern nur in einem Falle andauernd
möglich sei, nämlich im Falle einer bevorzugten Marktstellung der Anbieter dieser
Güter. Mit anderen Worten: „Die angebliche Agiotheorie Böhm-Bawerks läuft auf
nichts anderes hinaus, als daß die glücklichen Anbieter von Gegenwartsgütern ...
in der Lage sind ... einen Zuschlag auf den Preis ... zu erheben, den die Anbieter
von Zukunftsgütern zu tragen gezwungen sind. In dieser Gestalt ist die Lehre
Böhm-Bawerks lediglich eine neue Variante der Ausbeutungstheorie“‘ (S. 16).
Die Ausbeutungstheorie selbst wird, wie erwähnt, vornehmlich in der neuesten
366 Einzelbesprechungen.
Spielart. die ihr Oppenheimer gegeben, erörtert. Der Verfasser sicht ith igen:
Oppenheimer, wie schon aus dem bereits Gesagten hervorgeht, in manchen
Punkten recht nahe, so seinem weiten ,,Monopol-" und seinem engen „Konkurrenz-
begriff“, — wenngleich er Oppenheimers spezifischen Konkurrenzbegriff ( Kon-
kurrenz nur wo gleiche Produktionsfähigkeit) ablehnt; — Budge hält im alge-
meinen auch gleich Oppenheimer an der strengen Scheidung von Statik und
Dynamik fest, was allerdings an späterer Stelle (S. 124) wieder eingeschränkt wird. Die
Kritik Budges geht von der Feststellung aus, daB es ein Bodenmonopol auch im
Sinne Oppenheimers nicht gäbe. Die „Bodenkraft” an sich genommen sei auch
noch heute ein freies Gut, denn es rufe jede Steigerung der Nachfrage nach Boden-
kraft eine entsprechende Angebotsvermehrung hervor. Dieser Irrtum Budges
geht darauf zurück, daß er gleich Oppenheimer nur die zwei extremen
Güterklassen kennt, „die beliebig vermehrbaren‘t und in der höchsten Ordnung
„freien“ Güter und die „nicht vermehrbaren‘‘ Güter, die große Mittelgruppe der
klassischen Einteilung aber, die der ‚nur mit steigenden Kosten gewinn-
baren Güter“ vernachlässigt. Infolgedessen stehen auch seine Ausführungen
über die Differentialrenten außerhalb des Zusammenhanges seiner übrigen Dar-
legungen; denn diese verdanken ausschließlich dieser dritten Klasse von Gütern
ihr Entstehen. Man könnte diese daher auch — um die entsprechenden Güter
höchster Ordnung besser einzugliedern — geradezu als „Klasse der Differenzial-
renten bildenden Güter" bezeichnen. Richtig, und zwar gerade wegen des eben
Gesagten richtig ist die Darlegung Budges, daß ein gemäß der Lehre Oppen-
heimers auf ein Bodenmonopol gegründeter Profit durch die Konkurrenz der
Randbödenbesitzer aufgehoben werden müßte. Gegen die zweite Spielform der
Lehre Oppenheimers, daß die Bodenbesitzer außer über den Boden noch die
geseilschaftlichen Beschaffungsgüter (produzierten Produktionsmittel) besäßen.
wendet Budge ein, daß hier die Konkurrenz der übrigen Besitzer von gesellschaft-
lichen Beschaffungsgütern den Profit abbauen würde, niemals aber eine auch in
der Statik vorhandene Durchschnittsrate sich ergeben könnte. Überhaupt seien
die Kapitalsbesitzer nicht vergesellschaftet miteinander, sondern stünden unter-
einander im Konkurrenzkamiple; ihr Profit könne daher kein dividendenartiger
Anteil am „Klassenmonopol“ sein.
Budge baut demgegenüber seine eigene Lehre wesentlich auf der Lohnfonds-
theorie auf. Der Profit sei der Preis der zeitlichen Bindung des Kapitals in der
Produktion; als solcher müsse er auch ein „Mehrwert“ (im Sinne der objektiven
Wertlehre) sein, — ein Wert über den „Wert des stofflichen Substrates des Kapitals.
der Güter in welchen das Kapital jeweils konkretisiert ist“, hinaus. Daraus ergibt
sich für Budge eine verschiedene Stellung der Arbeit im Produktions- und im
PreisbildungsprozeB; die Güter werden erzeugt durch Arbeit: dennoch aber ist
diese Erzeugung nur teilweise dem „Dienste“ des Arbeiters zu verdanken und zum
zweiten Teile eben der Bindung des Kapitals, welche der Kapitalist gewährt. Budges
Nutzungstheorie sucht also den Konflikt, der jeder Mehrwertlehre innewohnt.
dahin zu lösen, daß er eine, auf Grund seines doppelten Arbeitsbegriffes gerecht-
fertigte Mehrarbeit des Arbeiters (aber letztlich doch im Sinne Marxs) annimmt,
Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie. theoret. Volkswirtschaftslehre. 36%
Ja. der Verfasser sucht auf diese Weise die Höhe des statischen Profites exakt
zu bestimmen: „als den Wert des physischen Produktes, welcher in dem Grenz-
betriebe der mabeebenden Produktionssphäre infolge der Mehrarbeit über den zur
Erzeugung des naturalen Arbeitslohnes erforderlichen Arbeitsaufwand bei An-
nahme eines optimalen Gesamtarbeitstages erzielt wird". Doch hier ergibt sich die
Frage: welches ist die „Form des Zwanges zur Mehrarbeit‘ (S. 154), ohne welchen
duch kein Arbeiter eine solche Mehrarbeit leisten wird. Die Antwort der Aus-
beutungstheorie lehnt Budge ab und gibt dennoch keine eigene Antwort. Trotz
seines Versuches einen zweifachen Arbeitsbeeriff zu konstruieren. klafft hier eine
Lücke in seinem System. Was, wenn nicht Ausbeutung. kann überhaupt den Arbeiter
zur Mehrarbeit zwingen ? — Diese Frage kann unseres Erachtens von niemandem,
der die Arbeit als allein produktiv ansieht, beantwortet werden. Hinterher aber
durch jenen doppelten Arbeitsbegriff die Ergibigkeit des Kapitals annehmen,
wie das Budge tut, bedeutet eine Verletzung des selbstgestellten Untersuchungs-
prinzips. Die Frage heißt hier aut-aut, entweder ist die Arbeit allein ergiebig,
dann gebührt auch ihr allein der gesamte Ertrag, oder das Kapital ist gleichfalls
ergiebig, dann ist sein Anteil ihm eigen und kein aus einer „Mehrarbeit“ abge-
leiteter. — Müssen wir demnach Budges positive Theorie als nicht minder ver-
fehlt ansprechen als die Theorie Oppenheimers, so soll dadurch der bereits
hervorgehobene Wert der kritischen Teile seiner Schrift nicht vermindert werden;
denn besonders in diesem Gebiete unserer Disziplin tut sichtende Kritik not.
Wien. Oskar Zaglits.
Kaulla, Rudolf, Die Grundlagen des Geldwerts. 8°. Stuttgart und
Berlin 1920. Deutsche Verlagsanstalt. $6 5.
Eine Schrift. die eine aufmerksame Beobachtung des Geldwesens und insbe-
sondere der Einflüsse des Krieges auf dasselbe zeigt: leider ergibt aber auch manche
Stelle das Fehlen einer gründlichen wissenschaftlichen Begriffsbildung, so wenn
der Verfasser S. 68 die Geldzeichen als Kapitalsanlage für sozusagen alle Welt
anspricht. — Kaulla sucht im ersten Abschnitte seiner Schrift die Entstehung
des Geldes. und zwar insbesondere die Entstehung der ‚„Wertgleichungen“ aus dem
„Begriffe der durchsehnittlichen Güte“ zu entwickeln, womit er in die sich u.a. auch
bei Cassel fndende — aber gänzlich geschichtswidrige Annahme verfällt, die
Wilden hätten bereits Spielarten und Qualitäten zum Beispiel des Viehes unter-
schieden, eine Annahme gegen welche unter anderem schon die bekannte Tacitus-
stelle spricht: ne armentis quidem suus honor aut gloria frontis; numero gaudent
(Germania 5). Die weiteren Ableitungen dieses \bschnittes kommen in Wesen
nur zu dem altbekannten Ergebnis, dab- die Tauschmittel fungibel sein müssen.
Der zweite Abschnitt behandelt das Geld „als öffentliche Schuld“ und schließt
sich zunächst in der allgemeinen Lehre vom Staatseinflu8 Knapps an; dann sucht
aber Kaulla den Begriff des Geldes aus der Idee der Kompensation zu entwickeln,
die er auf alle Zahlungen auszudehnen sucht. Diese an sich nicht neue Idee, dab Ware
nur mit Ware gezahlt wird, wird aber mit einer Theorie des Geldes ‚als öffentlich
Schuld“ verknüpft; S. 56ff. sprechen vom Pfandcharakter des Münzmetalls;
368 Einzelbesprechungen.
der Verfasser scheint hier seine Theorien für neu zu halten und die älteren Varianten
überhaupt nicht zu kennen. — Wenigstens gewinnt man aus der Art der Darstellung
diesen Eindruck. Auch vergucht er keinen der alten Einwände zu widerlegen. —
S. 74 ff. wendet sich der Verfasser mit einigem Recht gegen die übertriebene Aus-
dehnung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, die von mancher Seite als Ideal an-
gesehen wird. Derartige gelegentliche Beobachtungen sind überhaupt, wie schon
erwähnt, das wertvolle an dieser Schrift Kaullas, so z. B. auch S. 76 die Be-
merkung über das „Brachliegen des Geldes“ und S. 28f. über die Bedeutung
der Eigenwirtschaft für die Entstehung des Geldes. Damit verbindet der Verfasser
eine einfache und doch lebendige Darstellung.
Wien. | Oskar Zaglits.
Adolf Günther, Krisis der Wirtschaft und der Wirtschaftswissen-
schaft. 8°. Dresden 1921. Sibyllen-Verlag. 160 S.
Professor Adolf Günther, Erlangen, will mit der vorliegenden Schrift einen
Überblick „über den gegenwärtigen Stand der sozialökonomischen Theorie“ geben
und dabei vor allem weiteren Kreisen „das Bild der Wissenschaft nach Möglich-
keit etwas persönlicher‘ gestalten (S. 7, 8).
Der Verfasser geht von einer Untersuchung der Krisis unserer Wissenschaft
aus und weist auf verschiedene Anzeichen für ihr Vorhandensein. So z. B. auf
die große Uneinigkeit der einzelnen Schulen, die einander nicht einmal ernst
nehmen wollen und dadurch jede Verständigung fast unmöglich machen. Der
alte Streit Mengers gegen die historische Schule konnte gar nicht sachlich
gelöst werden, vielmehr wurde sein Gegenstand nur verschoben und verdunkelt.
Auch die wissenschaftlichen Fehden: Schmoller-Treitschke, Brentano-
Sering, Pohle wider den Kathedersozialismus, vor allem Max Weber gegen
die Werturteile in unserer Wissenschaft zeugen von bedeutenden Gegensätz-
lichkeiten auf wichtigen Gebieten. Die mangelhafte Systematik der Wirtschafts-
wissenschaften (ein Beispiel: „Das Monstrum der praktischen oder speziellen
Nationalökonomie“, S.59) mache ebenfalls einen krisenhaften Eindruck. Andere
Erscheinungen, so die zahlreichen sozialen Utopien (Ballod und Rathenau,
Popper-Lynkeus usf.) erhöhen ihn noch. Endlich habe der politische Umsturz,
alle Umschichtungen der Kriegszeit noch überbietend, gewaltig in Wirtschaft
und Wirtschaftswissenschaft eingegriffen. Die beiden großen Körperschaften,
die Deutschlands Volkswirte vereinigen, nämlich der „Verein für Sozialpolitik“
und die „Gesellschaft für soziale Reform‘ seien in erster Linie mit dazu berufen,
die Entwicklung wieder in ruhigere Bahnen zu leiten. Der Verfasser untersucht,
wie jede der beiden, ihren Überlieferungen entsprechend, die Mitarbeit an dieser
Aufgabe am besten durchführte.
Im Ganzen ist der Zweck des Buches nicht erreicht. Für den Fachgenossen
ist es zu allgemein gehalten, es geht auf die angeschnittenen Probleme nicht näher
ein. Für den Fernerstehenden bringt es zu viel Einzelheiten, verwirrt mehr, als
es belehrt. Das Persönliche im Bilde der Wissenschaft bleibt für alle die ohne
Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie, theoret. Volkswirtschaftslehre. 369
rechte Bedeutung, die die sachlichen Zusammenhänge nicht schon vollkommen
beherrschen.
Des Verfassers Urteil, daß „die Entscheidung über die theoretische Grund-
lerung unserer Wissenschaft, am sichersten ihre Krisis beseitigen würde‘ (S. 56),
ist setbstverstandlich wahr. Jedoch hätte erst hier die Untersuchung einzusetzen:
Erkenntnisziel und -wege der Volkswirtschaftslehre, ihr Gegenstand wie die
Art seiner begrifflichen Erfassung müßten gezeigt werden, ihre Einordnung in
die Gesamtheit der Gesellschaftswissenschaften sowie ihre Bedingtheit durch die
Einheitstheorie der Gesellschaft (Universalismus — Individualismus) müßte klar-
gestellt werden; dann schiede sich auf sicherer Grundlage das Gesunde vom
Krisenhaften; dann schlichtete sich ebenso der vielbesprochene Streit um die
„Werturteilsfreiheit‘“ in unserer Wissenschaft: Die reine theoretische Zergliede-
rung volkswirtschaftlicher Vorgänge darf, so lange die Wahrheit heilig bleibt,
durch keine persönliche Vorliebe oder Abneigung getrübt werden. Allein die
Wissenschaft, die immer und überall zur Führerin berufen ist, darf auch nicht
das Werturteil vermeiden, sobald sie die Voraussetzung dazu, nämlich die Wesens-
erkenntnis ihres Gegenstandes, erlangt hat. Auf dem Boden der Gesellschaftslehre,
dem Mutterboden der Wirtschaftswissenschaft, wird es zur Pflicht des Forschers,
das, was dem Wesen der Gesellschaft entspricht, gut zu nennen, was dawiderläuft
zu verwerfen. In solch höherem Sinn mag man auch eine gemeinsame Wurzel für
die Krisis der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft zugeben: eine Krisis
nämlich des innersten gesellschaftlichen Geistes unserer Zeit, der sich in der
Wissenschaft wie im Leben auswirkt. Seine Gesundung und Festigung ist das
Allheilmittel für beide Krisen. Und so pflichten wir dem Verfasser überzeugt bei,
wenn er zum Abschlusse seiner Schrift dem deutschen Volke die Losung zuruft:
„Vaterland und Menschheit“, im Sinn unseres großen Friedrich List.
Wien. G. Seidler-Schmid.
Dr. Otto Heyn, Über Geldschöpfung und Inflation. Finanz- und
volkswirtschaftliche Zeitfragen. Herausgegeben von Geh. Rat Prof. Dr. Georg
Schwarz und Geh. Rat Prof. Dr. Julius Wolf. Heft 73. 8°. Stuttgart 1921.
Ferdinand Enke. 79 S.
Auch diese letzte Schrift des jüngst verstorbenen Nürnberger Geldtheoretikers
ist ausgezeichnet durch die aufbauende Kraft seiner Kritik.
Heyn wendet sich in den vorliegenden Aufsätzen unter Ausbau der Gedanken
seiner Schrift „Unser Geldwesen nach dem Kriege‘‘t) gegen die Geldschöpfungs-
und Inflationstheorien des ihm im Tode vorangegangenen Bendixen. — Heyn
ist der erste, der Bendixens anweisungstheoretischen Geldschöpfungslehre eine
warentheoretische — wenn auch nicht ausgeführt, so doch in Grundzügen ent-
gegenstellt. Als Ausgangspunkt nimmt er eine Kritik der Anweisungstheorie, die
er in drei Punkten angreift: 1. fehle der Anweisende dort, wo Privateigentum
und freie Konkurrenz herrsche ; 2. fehle der Angewiesene, denn nur in den Sonder-
t) Finanz- und volkswirtschaftliche Zeitfragen. Heft 28. Stuttgart 1916.
370 Einzelbesprechungen.
fällen der Steuer- und Schuldenzahlungen müsse das Geld (mit vorbestimmtem
Erfolge) angenommen werden; 3. endlich fehle das angewiesene Objekt. Denn
„eine Anweisung: gib — was ihr vereinbart (he. was ihr vereinbaren werdtt)
wäre ein Monstrum“ (S. 18). Anderseits sei nicht nur das Geld, sondern ,,jedes
Tauschgut ... ebenso eine Legitimation zur Gegenleistung‘. Auch gäbe Bendixen?)
weiter zu, daß das Geld früher ein Tauschgut gewesen ist, sowie daß, ob er biete.
beim Konsumenten die Subjektivität entscheide, also: der subjektive Wert des
Geldes „Mit diesem Zugeständnis bricht aber seine (Bendixens) ganze Beweis-
führung ... zusammen“. Ist nun aber das Geld Tauschgut und nicht
Anweisung, so könne vom Gelde auch keineswegs mehr oder eine
andere Wertkonstanz gefordert werden als die anderer Tausch-
güter. Daraus folgt für die Geldschöpfung, daß sich diese nur und stets dann
rechtfertigen lasse, „wenn das neugeschaffene Geld entweder selbst vollen Waren-
wert besitzt. oder für andere Waren, die ihrerseits vom Tausche zurückgehalten
werden, eintritt; denn sonst würde ja die Menge der Tauschgüter unzulässig
vermehrt werden‘. (5. 26.) „Das Metallgeld scheine dem ersten Falle zu ent-
sprechen, allein auch das treffe nicht zu, denn das Gold, aus welchem das Gold-
geld besteht, würde als reine Ware niemals in der gleichen Menge und zu dem
gleichen Preise Absatz finden wie das Geld.“ (l. c.) Als Fall gerechtfertigter
Geldschöpfung bleibe daher nur „der zweite Fall, daß das neugeschaffene Geld
für andere Tauschgüter eintritt ... in den Kulturstaaten der Gegenwart bei
der Kreiierung von Papiergeld und Giralgeld gegeben“. (l. ¢.) Doch auch diese
Geldschöpfung werde verfälscht, da dieselbe nicht proportional dem Werte der
‚Deckungsgüter erfolge, was besonders für die Geldschöpfung zu Staatszwecken
gelte. In diesen Fällen werde eben „zusätzliche“ Kaufkraft geschafien. Trotzdem
ist aber nach Heyn eine solche Geldschöpfung berechtigt, wenn ein entsprechender
Grund vorliege (zum Beispiel Finanzierung des Krieges, Blankokredit an intelli-
gente Unternehmer). Heyns Grundsatz scheint durch diese Auslegung auf den
ersten Blick durchbrochen; allein gerade in dieser Auslegung liegt der innere
Gegensatz zu Bendixens Theorie von der klassischen Geldschöpfung beschlossen.
Bendixen will die Geldschöpfung auf Grund der erfolgten Produktion zur
Ermöglichung des Absatzes durchführen, — Heyn auf Grund des Teilbesitzes
von Produktionselementen, zur Ingangsetzung der Produktion. — Die grund-
sätzliche Entscheidung zwischen diesen zwei in jeder Hinsicht diametralen
Lösungen des Geldschöpfungsproblems kann an dieser Stelle nicht unternommen
werden, nur auf folgendes mag daher hingewiesen werden: Beide Geldschöpfungs-
theorien sind „‚Sollsätze‘ der Bankpolitik und jeder von ihnen beinhaltet einen
bedeutungsvollen Grundsatz für dieselbe; die Theorie Bendixens, der Grund-
satz „Festigung der Kaufkraft‘, dessen Bedeutung auch von warentheoretischer
Seite wegen der zentralen Stellung des Geldes am Markte nicht zu leugnen ist,
bildet er doch die Voraussetzung jener stetigen Entwicklung, für deren Not-
wendigkeit gerade Heyn (S. 35) sehr schöne Worte findet. Die Lehre Hey ns
2) Z. B. in den Jahrbüchern für Statik und Statistik. „Vom theoretischen
Nominalismus‘“. III. Folge. Bd. 57. S. 519. |
Enzyklopädien, Dogmengeschichte. Soziologie, theoret. Volkswirtsehaftslehre. 37]
wieder gründet sich auf den Grundsatz der Ergiebigkeit der Erzeugung und zielt
auf die Förderung der aussichtsreichsten Produktionsarten und -gelegenheiten
hin. Sieht man auf die Praxis der Bankpolitik, so finden wir beide Normen zur
relativen Geltung vereinigt und sehen die Praxis auf diesem Wege der Mitte stets
besser fahren als in der exzessiven Verfolgung eines Extremes. Der Praxis genügten
bisher übrigens nicht einmal diese beiden Sollrätze; denn beide entbehren einer
Vorsorge für Krisen — ein Mangel, dessen sich übrigens nur Hey n bewußt wurde.
Bendixen übersieht nämlich, daß (abgesehen von der von ihm geleugneten
Möglichkeit mehrfacher Ziehungen auf eine Ware) gegen Akzept leichter Ware
umgesetzt wird als gegen bar und insbesondere in Haussezeiten, wenn sich die
vergrößerten Engagements als — zunächst vorteilhafte — Festlegungen erweisen.
Heyn aber will die Wirkungen der konjunkturalen Möglichkeiten durch seinen
alten Vorschlag der Goldkernwährung bekämpfen, der sich in den Rahmen seiner
Geldschöpfungstheorie wohl einfiiyt (S. 72-79).
Der Raum gestattet uns leider nur mehr mit einigen Worten auf Heyns
Ausführungen über die Inflation im besonderen hinzuweisen. Dieselben gelten
vornehmlich dem Beweise des Streitsatzes, daß eine Finanzierung unproduktiver
Staatsausgaben letztlich zur gleichen Preissteigerung führen müsse, wie die
Banknotenausgabe. Außergewöhnliche und neue Steuern von bedeutender Höhe
würden nämlich, wie die Gegenwart zeige, zumeist abgewälzt und riefen überdies
eine Tendenz zur Konsumausdehnung hervor, um derart drohenden weiteren
Steuern zu entgehen. Gelinge aber die Abwälzung nicht, so sei eine Produktions-
einschränkung die Folge und als deren Ergebnis durch die Angebotsverminderung
wieder Preissteigerung. Diese Preisbewegung werde nun zu einer andauernden und
beschleunigten, wenn der Staat die Steuern (oder die vermehrten Banknoten-
mengen) zum Beispiel im Wege von Gehalten usw. zumeist dem Konsum zuführe.
Heyn erkennt das Wesen der Inflation in der andauernden Verknappung
des Angebotes gegenüber dem ständigen und abnormen Wachsen der Nachfrage.
Aufgaben der Gegenaktion seien daher: 1. Eindämmung der konsumtiven Aus-
gaben des Staates; 2. Ersetzung der Steuern und der Notenpresse durch frei-
wilbge Anleihen, womit sich Heyn zu der verbreiteten und u. a. von Dalberg
vertretenen Theorie von der Schuldabbürdung — Kreditdeflation — in bewußten
Gegensatz stellt. Ja, neben valutarischen Gründen führt Heyn geradezu für diese
Forderungen die Lombardierbarkeit der Anleihen ins Treffen, durch welche
bedeutende Beträge der Produktion zurückzugewinnen wären. Und darin sicht
Heyn das Heilmittel gegenüber der krisenhaften Verschiebung des Kräftever-
hältnisses von Angebot und Nachfrage zugunsten letzterer. Die ideelle Richtigkeit
der Inflationstheorie Heyns, die übrigens in der Einebbnungslehre Rathenaus
einen Vorläufer hat, ist nicht zu leugnen. Dem Weg zur Umkehr aber, welchen
Heyn vertritt, stehen heute noch manche Schwierigkeiten gegenüber, und zwar
nicht zuletzt auch politische und soziale. Doch dieselben liegen außerhalb der
Wirtschaftstheorie. Diese aber findet eine Fülle von Anregungen in dieser kleinen
Schrift. Heyn hat uns in ihr ein kostbares Vermächtnis hinterlassen.
Wien. Oskar Zaglits.
372 | Einzelbespreehungen.
Georg Friedrieh Knapp, Staatliche Theorie des Geldes. Dritte Auflage,
durchgesehen und vermehrt. München und Leipzig 1921, Duncker und Humblot.
XVI und 461 S. |
Herbert Döring, Die Geldtheorien seit Knapp. Greifswalder staatswissen-
schaftliche Abhandlungen, herausgegeben von Biermann und Kahler. Nr. 7.
Greifswald 1921, Ratsbuchhandlung L. Bamberg. VIII und 239 S.
Die dritte Auflage der „Staatlichen Theorie des Geldes‘ enthält einen neuen
-— früher im Bankarchiv veröffentlichten — Abschnitt über die Dritteldeckung
im Deutschen Reich, der zwar leider an Aktualität verloren hat, aber sowohl
inhaltlich wie in der glänzenden Form der Darstellung für das Werk Knapps
charakteristisch ist.
Der Abschnitt über den Geldwert ($ 20) ist ausführlicher gestaltet worden,
ohne daß jedoch Knapp den berechtigten Einwendungen der Kritik Rechnung
getragen hätte. Die Vernachlässigung des Geldwertproblems, dessen Behandlung
für die Beurteilung jeder Geldtheorie entscheidend ist, bildet nach wie vor einen
schweren Mangel im System Knapps. Der Standpunkt, den der Referent zu
dieser Frage vor mehr als einen Jahrzehnt in der früheren Folge dieser Zeit-
schrift eingenommen hatt), ist unverändert geblieben und soll mit Rücksicht auf
die nachhaltige Wirkung, die das Werk Knapps bis auf den heutigen Tag ausübt,
gegenüber seiner jüngsten Fassung des Problems nochmals kurz gekennzeichnet
werden.
Knapp beklagt die Unklarheit des Ausdruckes Geldwert, „mit dem sich gar
nichts anfangen läßt“. (S. 436.) Nun ist wohl nicht zu verkennen, daß zwar „der
Wissenschaft unter dem Worte ‚Wert‘ kein Singularobjekt im strengsten Sinne
des Wortes vorgesetzt ist, (aber) doch eine zusammenhängende Reihe von Pro-
blemen" (S. 502), unter denen das der Kaufkraft im Vordergrunde steht. Es ist
Knapp sicher darin zuzustimmen, daß das Maß der Veränderungen der Kauf-
kraft des Geldes schwer festzustellen ist; daß aber solche Veränderungen tat-
sächlich eintreten, ist doch ebenso sicher! Knapp meint, es sei unrichtig, diese
Änderungen ,,der Preise eines Güterkomplexes“ als Änderungen des Geldwertes
zu bezeichnen. „Die richtige Ausdrucksweise‘‘, meint er, „wäre offenbar: die
Preisänderung des gewählten Komplexes hat sich so vollzogen, als wenn der
Wert des Geldes (richtiger: die Geltung des Stückes) sich so und so verändert
hätte... Der Leser aber hat vergessen, ... daß die Geltung als eine juristische
Vorstellung, ganz unabhängig ist davon, was man mit dem Gelde kaufen kann.
Indexzahlen können also über die juristische Eigenschaft des Geldes nichts aus-
sagen, gehören daher nicht in die Staatliche Theorie des Geldes.“ (S. 441.) Soweit
mit diesen Worten eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit aufgeworfen
wird, sei hierauf nicht weiter eingegangen. Der Feststellung aber, daß die Be-
trachtung der Änderungen des Geldwertes, da sie keine juristische Aussage
-
1) Vgl. meine Abhandlung: Die moderne Tendenz in der Lehre vom Geldwert,
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, 19. Bd., 1910, S. 502 ff.
(Die kursiv gedruckten Seitenzahlen im Texte beziehen sich auf diese Abhandlung.)
Enzyklopädien, Dogmengeachichte, Soziologie, theoret. Volkswirtschaftslehre. 373
enthält, nicht in die Staatliche Theorie des Geldes, sondern in die Wirtschafts-
lehre gehört, werden die meisten Kritiker dieser Theorie ihre Zustimmung nicht
versagen. Daß jedoch jene, die vom Geldwert sprechen, wie Knapp zu behaupten
scheint, die Schwankungen des Kurswertes, die Preisänderungen eines Gutes,
die Änderungen des allgemeinen Preisniveaus und gar noch die Veränderungen
des Zinsfußes konfundieren, ist gewiß unrichtig. Knapp fragt weiters: „Was
soll man endlich sagen, wenn man lesen muß: daß eine befriedigende Geldver-
fassung unter anderem gewähren soll: Unveränderlichkeit des Geldwertes. Was
meint man damit?“ (S. 445.) — Weiß Knapp tatsächlich nicht, daß damit
gemeint ist, die Geldverfassung solle so geordnet sein, daB der „Geldwert‘‘ (das
allgemeine Preisniveau) nach Möglichkeit nicht durch Bestimmgründe verändert
werde, die alıf seiten des Geldes liegen, daß also der „innere Tauschwert des
Geldes“ möglichst stabil bleibe? (wobei die Frage der Zweckmäßigkeit des
gewählten Ausdruckes wohl Nebensache ist). Desgleichen meinen jene, die den
„festen Wert“ des Goldes preisen, damit diese Stabilität des „inneren“ Gold-
wertes und sind keineswegs so „töricht‘, wie Knapp glaubt (S. 81), den festen
Preis, den das Gold selbstverständlich in den Ländern der Goldwährung hat,
als besonderen Vorzug dieses Metalls anzusehen.
Die verständigen Kritiker der Staatlichen Theorie sind sich dessen bewußt,
daß der Ausdruck ((ield)wert verschiedene miteinander zusammenhängende
Begriffe bezeichnet. Hingegen ist, wie im folgenden gezeigt werden soll, gerade
der Wertbegriff der Staatlichen Theorie, wenn die oben angeführten Worte
Knapps gebraucht werden dürfen, „ein völlig unklarer Begriff, mit dem sich
gar nichts anfangen läßt".
Von der Staatlichen Theorie kann ihrem Wesen nach, wie Knapp mit vollem
Recht hervorhebt, der Staat nur aufgefaßt werden „als Obrigkeit, welche das
Zahlungswesen nach der juristischen Seite ordnet‘ (S. 447). Das Geld ist demnach
für den Bereich dieser Theorie nur Schuldenzahlungsmittel, nicht Tauschmittel.
Es ist ganz richtig, daß „die Geltung als eine juristische Vorstellung ganz unab-
hängig ist davon, was man mit dem Gelde kaufen kann“. (S. 441.) Knapp
bezeichnet daher sehr folgerichtig die Werteinheit „als die Einheit ‚in welcher
man die Größe der Zahlungen ausdrückt“ (S. 6), das heißt als Maßeinheit der
Geldschulden. Das Geld ist nach der bekannten Definition Knapps ein chartales
Zahlungsmittel (S. 31). Das Wesen des Zahlungsmittels besteht in der zirkula-
torischen Verwendung (S. 5), das heißt in seiner Hingabe, um Waren
anzuschaffen (S. 4). Das Zahlungsmittel wird von Knapp auch bezeichnet
als „eine bewegliche Sache, die von der Rechtsordnung aufgefaBt wird als Trägerin
von Werteinheiten“. (S. 6.)
Hiezu wäre zweierlei zu bemerken. Erstens: Knapp lelınt zwar den Ausdruck
„Geldwert‘‘ ab, doch spricht er vom ,,lytrischen Wert der Güter‘, der in der
„Werteinheit‘‘ ausgedrückt wird. (S. 7, 13.) Sieht Knapp nicht, daß das Wort
„Werteinheit‘‘ von ihm in zwei disparaten Bedeutungen gebraucht wird; einer-
seits im Sinne von „Maßeinheit der Schulden‘ und anderseits als „Maßeinheit
des Tauschwertes‘‘? Knapp setzt damit, ohne es in seinem System zum Ausdruck
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpnlitik. Neue Folge, 1. Band. 25
=
374 Einzelbesprechungen.
zu bringen, den „Geldwert‘‘ voraus, das heißt, er setzt voraus, daß das Geld
„wertvoll“ ist, „daß es höher beachtet wird als freie Güter, als ‚coelum et coenum‘
als ‚Morgenrot und Gassenkot‘ und daß es deshalb anderen Gütern gegenüber
eine Kaufkraft aufweist“. (S. 557.) — Zweitens: Schon aus dem früher Gesagten
geht hervor, daß es vom Standpunkt der Staatlichen Theorie aus, für deren
Bereich das Geld nur als Solutionsmittel in Betracht kommt, inkonsequent ist,
das Wesen des Zahlungsmittels in seiner Fähigkeit „Waren anzuschaffen“, also
in der Tauschmittelfunktion zu erblicken. Wie ist es nun, wenn der Staat eine
„„Werteinheit‘‘ „proklamiert‘‘, die als Tauschmittel unverwendbar ist, entweder weil
sie sich technisch hiezu nicht eignet (Immobilien), oder weil ihr der (Tausch-)wert
fehlt? (Kieselsteine, vollkommen entwertetes Papiergeld.) — Hiemit soll keines-
wegs das Papiergeld abgelehnt werden. Doch muß der Theoretiker auch solche
Fälle berücksichtigen. „Denn eine Theorie“, sagt Knapp, „muß auf die Spitze
getrieben werden, sonst ist sie ganz wertlos“. (S. VI.) Sicherlich liegt in der
Hervorhebung der Tauschmittelfunktion nur ein Versehen Knapps vor, der an
anderen Stellen (zum Beispiel S. 9) ganz richtig die ,.zirkulatorische Verwendung“
als Verwendung zur Schuldenzahlung bezeichnet. Allein dieses Versehen ist
ungemein charakteristisch, da es zeigt. daß Knapp selbst sich der Voraussetzungen
seiner Theorie nicht immer bewußt ist. Dort, wo er an diesen Voraussetzungen
festhält, betont er, daß der Staat gar keine Veränderungen „des Geldwertes“
kenne. „In dem Augenblicke, in dem der Staat die Begültigung der Stücke aus-
spricht, sagt er, daß bestehende Schulden mit diesen Stücken getilgt werden
können; neue Schulden auch, und es wird für neue Schulden angenommen, daß
die vertragschließenden Parteien ihren Vorteil wahren.“ (S. 439.) Wenn aber der
Staat „neue Stücke“ begültigt, die sich aus einem der früher angeführten Gründe
nicht als Tauschmittel einbürgern, werden zwar vielleicht die bestehenden
Schulden mit diesem Gelde getilgt werden; von da ab wird dieses jedoch nur in der
rechtlichen Norm existieren, nicht mehr im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Sein. Und daß dem so ist, kann die Staatliche Theorie des Geldes. wenn sie, wie
es sich gehört, „auf die Spitze getrieben‘ wird, nicht zum Ausdruck bringen.
Allerdings hebt Knapp hervor, daß es nicht auf den staatsrechtlichen
Charakter der Norm, sondern auf ihre faktische Wirksamkeit ankomme (zum
Beispiel S. 84). Bezüglich des valutarischen (des vom Staate für seine Zahlungen
bereit gehaltenen und als aufdrängbar behandelten) Geldes gibt er sogar zu, daß
nicht die Rechtsordnung, „sondern die Machtverhaltnisse dies Zahlungsmittel
bestimmen, denen sich sodann die Rechtsordnung anpasse. (S. 99.) „Die Bereit-
haltung (dieses Geldes) durch den Staat ist nichts Juristisches, sondern etwas
Politisches; sie hängt auch nicht ab vom bloßen Wollen des Staates, sondern
sehr häufig vom Können. Die Bereithaltung ist eine Machtfrage, welche auf die
Politik einwirkt und daher auch bestimmend wird für die Rechtsordnung.“ (S. 9.)
— Dieses Zugeständnis der „Staatlichen Theorie’ an die ökonomische Wirklich-
keit ist widerspruclisvoll, überflüssig und unzureichend. Widerspruchsvoll:
denn es wird zugegeben, daß das Geld nicht, wie diese Theorie sonst immer
behauptet, ein Geschöpf der Rechtsordnung, sondern der gesellschaftlichen und
Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie, theoret. Volkswirtschaftslehre. 31
wirtschaftiichen Verhältnisse ist, deren Änderung zwangsläufig eine Änderung
der Rechtsordnung herbeiführt. Überflüssig: denn das Geld im Rechtssinne,
das doch — wie wirsahen — allein Gegenstand der Staatlichen Theorie sein kann,
b'eibt doch daven unbciithit, daß via facti an seiner Stelle ein anderes Zahlungs-
mittel „aufgedhärgt‘‘ wird. Unzureichend: auch wenn das tatsächliche Ver-
halten des Staates als Inhalt der Rechtsordnung angesehen wird, bleibt die
Theorie auf das Geld als Mittel zur Tilgung bestehender Schulden beschränkt.
‚Darüber, ob das vom Staate jeweils „tatsächlich“ „aufgedrängte“ Geld auch
zum Gegenstande neuer Schuldverträge gemacht, ob es als Tauschmittel ver-
wendet wild, weiß die Staatliche Theorie des Geldes ihrem Wesen nach nichts
zu sagen. Unbewubt will Knapp jedoch stets — und hierin liegt der logische
Fehler seines Systems — eine Theorie des ökonomischen, tatsächlich im Verkehr
gebrauchten (ie!des geben. So meint er, Banknoten und Reichskassenscheine
„würden nach ihrer Benennung weiter benutzt werden. trotz aufgehobener Ein-
lösbarkeit — aber freilich immer nur dann, wenn der Staat den Satz aufrecht
erhält. daß jene Stücke bei den öffentlichen Kassen nach ihrer Benennung an-
genommen werden!“ (S. 160 f.) Jedweder, der den Wert des Geldes aus dessen
allgemeiner Annahme als Tauschmittel, also als Funktionswert erklärt, wird
zugeben, daß der Staat durch seine Annahmewilligkeit sehr wesentlichen Einfluß
auf das Geld nimmt (vgl. S. 557), doch gilt das gleiche von allen Marktparteien,
je nach dem Maße der Zahlungen, die sie zu empfangen haben. Dort wo sich
fremde ,,Geld‘‘zeichen contra oder praeter legem im Verkehre einbürgern, kommt
dies am deutlichsten zum Ausdruck. Knapp spricht in einem konkreten Falle
von dem ,,Unfug(!).., daß die Begültigung gewohnheitsrechtlich entstand und dab
der Staat nachträglich seinen Segen dazu gab“. (S. 66.) Auch dies gilt nur vom
(selde als Solutionsmittel für bestehende Schulden. Immer und immer wieder
findet sich in der Staatlichen Theorie des Geldes die hier nur durch einige Beispiele
beleuchtete Subintelligierung der Tauschmittelfunktion und des Tauschwertes des
Geldes, wo sie ‚von dem Solutionsmittel und seiner Zahlkraft zur Tilgung
bestehender Schulden spricht. Der Schöpfer der Theorie „gleicht hiebei einem
Geometer, der die Planimetrie erschöpfend darstelit und von der dritten Dimension
nichts wissen will, seine Konstruktionen aber doch immer auf den dreidimensionalen
Raum bezieht“. (S. 559.)
Auch hier sei betont, daß die gegen Knapp erhobenen Einwände nicht
währungspolitischer, „publizistischer‘ Natur sind. Die Nutzwertlehre, die den
Tauschwert des Geldes aus seiner Verwendung als Tauschmittel herleitet, sieht,
ebenso wie die Staatliche Theorie des Geldes, das unterwertige Geld nicht etwa
als eine Schuld des Staates an, sondern stellt es dem vollwertigen als gleichartig
an die Seite. (Vgl. S. 528, 554.) Knapp hat in gewissem Sinne Recht, wenn
er es eine merkwürdige Beschränktheit nennt, nur das Papiergeld an den Um-
wälzungen der Wirtschaft und dem Steigen aller Preise „anzuklagen‘“. (S. 448.)
Die Inflation ist sicherlich oft eine unvermeidliche Maßnahme. Aber ist darum die
Papiergeldvermehrung nicht die Ursache der Teuerung? Daß die „Staatliche
Theorie‘, wie Knapp selbst zugibt, den „Tauschwert‘‘ des Geldes nicht berück-
3716 Einzelbesprechungen.
sichtigen kann, wurde schon oben als ihr Mangel bezeichnet. Daß sie dies aber
trotzdem immer wieder versucht, ist ein Zeichen der Inkonsequenz und zugleich
davon, daß sie sich dieses Mangels bewußt ist. Trotzdem ist der Erfolg verständlich,
der dem Werke Knapps beschieden war, das Max Weber ungeachtet der von
ihm richtig hervorgehobenen „Unvollständigkeit‘‘ mit vielleicht doch ein wenig
zu ekstatischen Worten „formal und inhaltlich eines der größten Meisterstücke
deutscher schriftstellerischer Kunst und wissenschaftlicher Denkschärfe‘‘ genannt
hat. Daß Knapp nicht zu befriedigenden positiven Ergebnissen gelangen konnte,
ist nicht zu verwundern. Auch ein genialer Baumeister kann auf schwankem
Grunde, ohne geeignetes Werkzeug keinen festen Bau aufführen. Eine Geldtheorie.
die nicht auf einer ausgebildeten Wert- und Verteilungslehre basiert, wird das
Wesen des Geldes nie erkennen können. Um so größer ist das Verdienst Knapps,
durch seine glänzende Kritik des „Metallismus‘‘ die Aufmerksamkeit weiter, der
Beschäftigung mit theoretischen Fragen sonst nieht sonderlich geneigter Kreise
auf die Geldproblenie gelenkt zu haben. Hiedurch hat er in hervorragender Weise
an der Durchsetzung der modernen Tendenz in der Lehre vom Geldwert, die in
der Anwendung der Nutzwertlehre auf das Geld besteht, mitgewirkt.
Eine gute Übersicht über die Entwicklung der Geldtheorie seit Knapp
gewinnen wir aus dem an zweiter Stelle genannten Buche. Dr. Döring beschränkt
sich in seinem durchaus gelungenen „dogmenhistorischen Versuch“ nicht auf
eine referierende Wiedergabe aneinandergereihter Buchauszüge; er gibt uns viel-
mehr eine wirkliche Dogmengeschichte der Geldtheorie, die er beherrscht und
durchdringt. Im ersten Teile seiner Arbeit behandelt er die Frage nach dem
Wesen und der Wertgrundlage des Geldes; im zweiten die Bestimmgründe des
Geldwertes. Döring unterscheidet zwei Grundformen der Anschauungen vom
Wesen des Geldes: Warentheorie und Anweisungstheorie. Die Waren-
theorie, die das Geld als Gut auffaßt, ist entweder Stoffwerttheorie (,,Metallis-
mus“) oder Funktionswerttheorie. Die Stoffwertlehre sieht nur im voll-
wertigen Geld das wahre Geld und meint, daß sein Wert durch den Gebrauchs-
wert des Geldstoffes bestimmt sei. Nach der Funktionswerttheorie wird der Wert
des Gutes „Geld“ durch seine Tauschmittelfunktion bestimmt, ebenso wie der
Wert der Gebrauchsgüter durch ihre Gebrauchsfunktionen. Zu den Anweisungs-
theorien rechnet Döring alle Auffassungen des Geldes „als eines bloßen Zeichens,
einer Anweisung, eines Symbols, eines Rechenmittels oder einer Zahl‘. In jeder
der beiden Theoriengruppen werden demnach recht heterogene Anschauungen
zusammengefaßt, von denen einzelne mit manchen Auffassungen der anderen
Gruppe große Ähnlichkeit aufweisen. So hat die Anweisungstheorie Schum-
peters mit der „Anweisungstheorie‘‘ Knapps herzlich wenig gemeinsam und
unterscheidet sich fast nur terminologisch von der „Funktionswerttheorie“, wie
sie von Wieser, dem Referenten, und von Mises vertreten wurde, durch dessen
treffliches Buch!) Döring stark beeinflußt ist. — Die Behauptung des Verfassers,
„daß bei der Auffassung des Geldes als einer Anweisung auf die Güter der Volks-
1) Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, München und Leipzig, 1912.
Enzyklopädien, Dogumengeschichte, Soziologie, theoret. Volkswirtschaftsichre. 377
wirtschaft auch die Ware im Grunde nichts anderes ist als eine Anweisung‘ ist
nur vom Standpunkte der Einzelwirtschaft aus richtig. Für die ,,volkswirtschaft-
liche“, „universalistische‘‘ Auffassung besteht ein fundamentaler Unterschied
zwischen den Gebrauchsgütern (also auch allen Waren) einerseits und den Tausch-
mitteln (Geld und Kreditumlaufsmitteln aller Art) andrerseits, die von diesem
Standpunkte aus in gewissem Sinne als „Anweisungen“ gelten können, während
die Einzelwirtschaft wiederum die Anweisung als Gut betrachten kann, das den
allgemeinen Wertgesetzen unterliegt.
Der Kritiker ist genötigt hervorzuheben, daß die Darstellung Dörings
einige Lücken aufweist. In der ein wenig fiüchtigen Wiedergabe der Geldlehre
von Schumpeters „Wesen und Hauptinhalt der theoretischen National- `
ökonomie‘‘ (1908) ist Wesentliches — der Beweis der Notwendigkeit des Geldes
— fortgelassen. Die bereits erwähnte Abhandlung des Referenten „Die moderne
Tendenz in der Lehre vom Geldwert‘‘ (1910), die sich unter anderem auch mit
Schumpeter auseinandersetzt, wird zwar im Literaturverzeichnis erwähnt, ist
aber dem Autor anscheinend nicht weiter bekannt. Um so erfreulicher ist die fast
völlige Übereinstimmung im Ergebnis, die angesichts des gemeinsamen theo-
retischen Ausgangspunktes nicht verwunderlich ist. Auch Spanns „Theorie der
Preisverschiebung‘‘ (1913) und K. Schlesingers „Theorie der Geld- und Kredit-
wirtschaft‘‘ (1914) werden zwar namentlich angeführt, aber nicht weiter berück-
sichtigt, während der Verfasser auf manche nicht besonders wertvolle Arbeiten,
die ihm offenbar leichter zugänglich waren, ziemlich ausführlich eingeht.
Dem Buche Dörings, das zu den erfreulichen Erscheinungen der Geld-
literatur der letzten Zeit zählt, ist weite Verbreitung zu wünschen, denn es ist,
abgesehen von seinem literarhistorischen Wert, geeignet, zu der leider noch
immer sehr notwendigen Klärung der Problemstellung auf dem Gebiete der
Geldtheorie erheblich beizutragen.
Wien. Franz X. Weiß.
Karl Eugen Niekel, Normative Wirtschaftswissenschaft. Wissen-
schaftliche Wirtschaftsphilosophie. Systematische Darstellung, Erklärung und
Kritik des neuesten Streites über „Politik als Wissenschaft“ oder die ,,Wert-
urteile in der deutschen Volkswirtschaftslehre sowie selbständige Entscheidung
der Frage: Normative Wirtschaftswissenschaft oder keine. Berlin 1920, Ferd.
Dümlers Verlagsbuchhandlung. 172 S.
Der Verfasser stellt fest, daß die moderne Wirtschaftswissenschaft sich
damit begnügt, den Verlauf der menschlichen Wirtschaft bei gegebenen Zielen
zu betrachten, Wesen und Wert dieser Ziele aber nicht näher untersucht.
Diesen zweiten „normativen“ Teil der Wirtschaftswissenschaft sucht der Ver-
fasser nun neu zu beleben und vor alleın gegen die Angriffe der Anhänger der
„Wertfreiheit‘‘ zu verteidigen, welche die Gültigkeit objektiver Zielerkenntnis
überhaupt leugnen. Er beantwortet die Frage nach der Möglichkeit normativer
Wirtschaftswissenschaft dahin, daß diese Wissenschaft — ebenso wie jede andere
— einem psycho-physiologisch-naturgesetzlichen Erkenntnistriebe entspringe
ais Kinzelbesprechungen.
und aus diesem Grunde berechtigt sei (S. 42, 105—161). Der Verfasser beweist
dies mit Hilfe eines 40 Seiten langen Auszuges (S. 111—151) aus zwei Werken des
Kopenhagener Psychophysiologen Lehmann, deren Richtigkeit wohl kaum von
einem Wirtschaftswissenschaftler beurteilt werden kann, aber auch gar nichts
zur Sache tut. Denn die — bewußte — Gleichsetzung von Naturgesetz und Gebot
(S. 108) macht die Frage nach der Berechtigung irgendeines wissenschaftlichen
oder sonstigen Strebens ohnedies überflüssig; wenn menschliches Streben schon
darum allein geboten ist, weil es einem Naturtrieb entspringt, dann ist es eben
stets berechtigt: es gibt doch wohl keines, das nicht auf irgendeinen Trieb
zurückzuführen wäre. Diese Folge wird vom Verfasser unter Berufung auf
-das menschliche Irren abgelehnt, aber mit Unrecht: auch das irrige Streben
entspricht Naturgesetzen. Ebenso bedenklich ist die Gleichstellung des subjek-
tiven wirtschaftlichen Wertes mit den objektiven Werten im Sinne von höchsten
Zielen (S. 53—58, 161 —163), eine Verwechslung, welcher der Verfasser bereits
in früheren Arbeiten gehuldigt hat: wenn aber auch ein Ziel, zum Beispiel die
Gesundheit (S. 98), als „objektiver Wert“ anerkannt wird, so können doch die
Mittel, die der Erreichung dieses Zieles dienen, zum Beispiel eine bestiimmte
Menge eines Nahrungsmittels, für verschiedene Personen ganz verschiedenen
wirtschaftlichen Wert haben. Daß dieser ‚subjektive Wert“ nicht auf Willkür,
sondern auf allgemein gültigen Normen beruht, wird von den Anhängern der
subjektiven Werttheorie gar nicht bestritten. Trotz diesen grundlegenden Irr-
tümern ist das vorliegende Werk aber jedenfalls ein Schritt über den herkömm-
lichen Streit der Meinungen hinaus, wenn es auch der Wirtschaftswissenschaft
nıchr Anregung als dauernde Bereicherung bieten dürfte.
Wien. Josef Herbert Fürth.
II. Praktische Volkswirtschaftslehre, Wirtschafts-
beschreibung, Wirtschaftsgeschichte.
Dr. Henry Behrsen und Dr. Werner Genzmer, Valutaelend und Friedens
vertrag. 8° 2. neubearbeitete Aufl. Leipzig. Felix Meiner. 96 S.
Alles ist gut, was einen ehrlichen Versuch darstellt, dem Volke die Tragweit®
politischer Ereignisse näher zu bringen, den einzelnen aus der Gleichgültigkei
gegenüber der Zukunft des Volksganzen herauszureißen und auch die Neutralen
über den wahren Stand der Dinge aufzuklären. Und dieses ehrliche Bestreben
muß den Verfassern vorliegender Schrift zugebilligt werden. Deshalb ist auch
die Verbreitung der vorliegenden Schrift, trotzdem sie den wissenschaftlichen
Anforderungen nicht durchgehend entspricht, zu wünschen. Die Art ihrer Zu-
samımenstellungen ist eine glückliche und eindrucksvolle; sie gibt die Einwirkungen
der Gebietsverluste und der Zwangslieferungen auf die Handelsbilanz sowie die
Änderung der Zahlungsbilanz durch die Verluste an Auslandswerten und der
Handelsflotte sowie durch die Forderungen des Friedensvertrages und andere
Prakt. Volkswirtschaftslelire, Wirtschaftsbeschreibung, Wirtachaftsgeschiehte. 379
Punkte zur Beurteilung der Kaufkraft der Mark. Mag auch die Forderung selbst,
in die sie ausklingt, die Forderung nach Revision des Vertrages von Versailles
heute noch verfrüht sein, ihre Gründe können nicht früh genug dargelegt und
nicht oft genug wiederholt werden.
Wien. Oskar Zaglits.
Einleitende Denksehrift zur Erhebung über die Produktion (Internationales
Arbeitsamt. Genf 1921).
Die Leitung des vom Völkerbund errichteten Internationalen Arbeitsamtes
hat durch ihren Beschluß, eine internationale Erhebung über die Produktions-
verhältnisse einzuleiten, mit entschlossenem Griffe das für das Wirtschaftsleben
der Gegenwart entscheidende Problem zum Gegenstand einer groBangelegten
Untersuchung gemacht. Dieses auf den ersten Blick uferlose Thema gewinnt
eine schärfere Formulierung und die unerläßliche Begrenzung seines Umfanges
durch den deutlich umschriebenen Zweck, dem die Erhebung dienen soll. Die
Entstehungsgeschichte des Planes ist sehr lehrreich: im Verwaltungsrate des
Arbeitsamtes, in dem neben den Vertretern der Regierungen auch Vertretern
der Unternehmer und der Arbeiterschaft Sitz und Stimme 'eingeräumt ist, wurde
zunächst (im Juni 1920) von der Unternehmergruppe der Antrag gestellt, eine
„Erhebung über die gewerbliche Produktion in den verschiedenen Ländern der
Welt im Hinblick auf ihre Beziehungen zu den Arbeitsbedingungen und den
Lebenskosten“ zu veranstalten. Die Begründung des Antrags läßt vermuten,
daß er zunächst von dem Gedanken inspiriert war, die schwere wirtschaftliche
Krise, deren Ursache unmittelbar in den Folgen des Weltkrieges zu finden ist,
habe eine Verschärfung durch die Zuspitzung der sozialen Gegensätze erfahren;
es sei zu befürchten daß eine weitgehende sozialpolitische Gesetzgebung vor
allem eine Verkürzung der Arbeitszeit, auf die Leistungsfähigkeit der Produktion
ebenfalls ungünstige Wirkungen übe. „Die Lebenskosten“, so führte der Antrag-
steller aus, .,sind in allen Ländern, und zwar in recht schwerwiegendem Umfang
gestiegen. Diese Tatsache ist die Folge von mancherlei Ursachen, aber eine der-
selben ist sicherlich in dem Ausfall der Produktion zu suchen. Dieser Ausfall
der Produktion seinerseits ist die Folge mehrerer Umstände . . ., es ist interessant,
zu untersuchen, ob und in welchem Umfange die Arbeitsbedingungen, wie die
Durchführung des Achtstundentages, die Häufigkeit der Streiks, und, wenn Sie
wollen, auch die Aussperrungen, der Widerstand gegen individueller oder kollek-
tiver Produktion entsprechende Lohnsysteme usw. einen Einfluß auf die Produktion
gehabt haben. Das ist um so interessanter, als Grund zu der Annahme besteht,
daß, abgesehen von einigen Ausnahmen, die in den Ursprungsländern zur Ver-
fügung stehenden Rohstoffmengen unter den jetzigen Arbeitsbedingungen die
Aufnahmefähigkeit der heimischen Industrien übersteigen, und daß anderseits
der zur Verfügung stehende Frachtraum stetig zunimmt." Der Antrag wurde
auch von den Vertretern der Arbeiterschaft unterstützt, die freilich, um einer
einseitigen, dem Ausbau der Sozialpolitik gefährlichen Behandlung des Themas
vorzubeugen, ihn dahin erweiterten, daß, abgesehen von den Arbeitsbedingungen.
380 Einzelbesprechungen.
auch die anderen für die Produktionsverhältnisse maßgebenden Umstände
in die Erhebung einzubeziehen seien. So wurde nach kurzer Erörterung cer
Zweck der Erhebung dahin formuliert, daß festzustellen wäre, welche Bedeutung
den einzelnen Faktoren bei der Erhöhung der Lebenskosten und bei der Ver-
minderung der Produktion zukomme; auch die Beschränkung auf die gewerbliche
Produktion wurde grundsätzlich fallen gelassen. So ergab sich als Aufgabe für
das Amt ein dreifaches Problem: Die tatsächlichen Produktionsverhältnisse
und die Gestaltung der Preise zu ermitteln; die Umstände zu bestimmen, die
nach beiden Richtungen einen wesentlichen Einfluß üben; Vorschläge zu erstatten.
von deren Verwirklichung eine Hebung der Produktion zu erwarten wäre.
Die in deutscher Übersetzung vorliegende Denkschrift, die von dem Genfer
Universitätsprofessor Milhaud ausgearbeitet wurde, ist bestimmt, die leitenden
Gedanken der Erhebung zu skizzieren. zu zeigen. wie das Material im Dienste
der gestellten Aufgabe zu verwerten wäre, und derart einen erläuternden Vor-
bericht zu den umfassenden und keineswegs leicht zu beantwortenden Frage-
bogen zu liefern, die in alle Welt versendet wurden, um ein möglichst zutreffendes,
zahlenmäßig begründetes Bild der Produktionsverhältnisse, Arbeitsbedingungen,
Lebenskosten, der Riickwirkungen des Krieges auf die Volkswirtschaft zu ge-
winnen. Die Denkschrift versucht schließlich, die Richtung anzudeuten, in der
sich die zur Hebung der Produktion zweckdienlichen Reformen zu bewegen
hätten. In ihrer Art ist diese einleitende Denkschrift eine vortreffliche Leistung.
Der spröde Stoff wird mit ungewöhnlichem Geschiek zu einer Gesamtdarstellung
verarbeitet, das einerseits überreiche, andrerseits völlig unzulängliche Material
wird mit kluger Auswahl derart verwertet, daß es gewisse, besonders bezeichnende
Erscheinungen des Wirtschaftslebens anschaulich vor Augen führt. Gründliche
deutliche Kritiker mögen vielleicht einwenden, daB die Systematik des Buches
sie nicht befriedigt, daß wichtige Fragen nur andentungsweise behandelt werden.
daß insbesondere das Problem mit Stillschweigen übergangen wird, wie es, um
dem maßgebenden Ziele der Erhebung Rechnung zv tragen, gelingen mas, den
Einfluß der einzelnen, an der Krise mitwirkenden Faktoren auf die Gestaltung
der Produktionsverhältnisse zu bestimmen. Aber diese Bedenken fallen wenig
ins Gewicht angesichts der Aufgabe der Denkschrift, dem breiten, volkswirt-
schaftlich vielfach nur mangelhaft geschulten Kreise, an den sich die Erhebung
wendet, in möglichst klarer, plastischer und leicht verständlicher Form ihre
wesentlichen Zwecke zu schildern und das Interesse für den Gegenstand zu
wecken. Diesen Anforderungen wird die Denkschrift in vollendetem Maße
gerecht.
Dem oben erwähnten Plane der Untersuchung entsprechend zerfällt die
Denkschrift in drei Teile; ein vierter skizziert das Arbeitsprogramm in seinen
Einzelheiten und gibt die versendeten Fragebogen wieder. Der erste Abschnitt
ist den ökonomischen Tatsachen gewidmet, die durch die Erhebung klar
gestellt werden sollen. An den verfügbaren Daten der Produktionsstatistik (Er-
zeugung von Kohle, Gußeisen, Rohstahl, Schiffbau), die zu Diagrammen ver-
arbeitet sind, wird eine vergleichende Übersicht über die Gestaltung der Erzeugung
Prakt. Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsbesehreibung, Wirtschaftsgeschichte. 381
geboten, die eine für den Rückgang der Produktion sehr lehrreiche Ergänzung
erfährt durch Angaben über die tägliche und jährliche Kohlenförderung des
einzelnen Arbeiters. Daran schließen sich tabellarische Überschriften über die
Indexzahlen von Kleinhandelspreisen für Lebensmittel. Im zweiten Abschnitte
werden die Ursachen der Wirtschaftskrise behandelt; Rohstoffkrise,
Kohlenmangel, Verkehrskrise, Werkzeugkrise finden nur eine knappe Erörterung.
Eine eingehendere Behandlung erfährt die Valutakrise; besonderes Interesse
beanspruchen hier die Diagramme welche die Bewegung der Preise vergleichend
mit den Veränderungen im Stande der Valuta zusammenstellen: sie lassen deutlich
den Zusammenhang erkennen, der zwischen der Gestaltung der Preise und der
Höhe der Banknotenemission in den einzelnen Ländern besteht. Der Einfluß
der Papiergeldinflation wird hier augenfällig versinnlicht. Über die Kredit-
krise geht die Denkschrift mit wenigen Worten hinweg; es fehlt ihr anscheinend
an jedem Material. Einen breiten Raun nimmt dagegen, entsprechend dem
Ziele der Erhebung. die Behandlung der „auf die Arbeit bezüglichen Faktoren“
ein. Gerade hier wird vor allem die Richtung charakterisiert, in der sich die
Erhebung bewegen soll. Es handelt sich zunächst um die Bestimmung der Ver-
luste an Arbeitskräften durch den Krieg, der nicht nur den Stand an Arbeitern
dezimierte, sondern gerade eine große Zahl von hochqualifizierten Arbeitern
hinwegraffte, ihren Ersatz durch minderwertige erzwang. Die Leistungsfähigkeit
wurde durch die ungünstigen Ernährungsverhältnisse überdies herabgesetzt.
In der den Wirkungen der Verkürzung der Arbeitszeit gewidmeten Erörterung
wird an Hand mannigfacher Belegstellen und Beispiele der schon oft versuchte
Nachweis wiederholt, daß in der Großindustrie die Herabsetzung der Arbeits-
dauer, statt die Produktivität zu vermindern, sie zu steigern geeignet ist. An
Hand statistischer Nachweisungen werden ferner mancherlei Aufschlüsse über
die wirtschaftlichen Folgen der Streiks und Aussperrungen einerseits, der Arbeits-
losigkeit andrerseits geboten. Einige Bemerkungen über die Widerstände der
Arbeiterschaft gegen gewisse Lohnformen und über die heute die Arbeitsleistung
beeinträchtigenden psychologischen und moralischen Momente beschließen
dieses Kapitel.
Der dritte Abschnitt der Denkschrift ist den „Lösungen“ gewidmet. Er
besprieht zunächst die heute so lebhaft diskutierten Vorschläge zur ,,Demo-
kratisierung‘‘ der Industrie durch Einführung von Betriebsräten, Vertrauens-
männern der Arbeiterschaft, „gemischten“ Bezirks- und Landesausschüssen,
die nach Industriezweigen aus Vertretern der Unternehmer und der Arbeiter-
Schaft zusammengesetzt sind, durch Schaffung von Einigungsämtern und Schieds-
gerichten; die Beispiele, die hier angeführt werden, sind in erster Linie dem
englischen und amerikanischen Wirtschaftsleben entnommen, wie die Denk-
schrift überhaupt, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, ihr Material
durchaus den Ländern der Ententemächte entnimmt. Daran reiht sich eine
Besprechung der Akkordarbeit und der Mittel, ihre für die Arbeiter bedenklichen
Wirkungen zu beseitigen. Weniger Aussicht auf Erfolg verspricht wohl der
dritte Vorschlag einer „Stabilisierung“ der Arbeit durch ihre möglichst gleich-
382 Einzelbespreehungen.
mäßige Verteilung, sei es innerhalb der Betriebe, sei es innerhalb der Volks-
wirtschaft. Die Grenzen für eine derartige Planmäßigkeit sind verhältnismäßig
sehr enge gezogen. Der vierte Lösungsversuch, der eine Verbesserung der tech-
nischen Hilfsmittel anregt, steht in einem gewissen Zusammenhange mit den
Methoden des Taylor-Systems. Als fünfter Vorschlag zur Verbesserung der
Produktionsverhältnisse wird die Bekämpfung der Valuta- und der Rohstoff-
krise genannt: hier wird kurz der Pläne gedacht, die darauf abzielen, durch
internationale Vereinbarungen eine „wirtschaftliche Zusammenarbeit aller Völker
und die richtige Arbeitsverteilung unter ihnen“ vorzubereiten. Daß derartige
Pläne heute, in einer Zeit aufs höchste gespannter internationaler wirtschaft-
-~ licher Rivalität, für ernsthaft diskutabel gehalten werden, ist jedenfalls sehr
beachtenswert.
Der Erfolg der Erhebung hängt davon ab, daß die umfassenden an die
Regierungen die Verbände der Unternehmer und der Arbeiter und an die Ge-
nossenschaften versendeten Fragebogen verständnisvolle Aufnahmen und ge-
_wissenhafte Beantwortung finden. Gelingt dies, dann wird sie ein Material von
großem Werte für die Beurteilung der Wirtschaftskrise liefern und man darf
daher das Ergebnis ihrer Verarbeitung mit großem Interesse erwarten.
Wien. Karl Pribram.
W. von Geldern: Erwerbslosenfürsorge. 5. Heft. Wege der Volks-
wohlfahrt. Kleine Schriften zur Volkswohlfahrtspflege. Herausgegeben im
preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt. 8°. Vereinigung wissenschaftlicher
Verleger. Berlin und Leipzig 1920. 36 S.
Die Schrift stellt sich die Darstellung der preußischen Verordnungen, ins-
besondere derjenigen vom 6. Mai 1920, zur Aufgabe und kommt damit gewiß
einem Bedürfnisse entgegen. Die reichsdeutsche Erwerbslosenfürsorge entspricht
der österreichischen Arbeitslosenunterstützung, vermehrt um die Fürsorge für
die nicht dem Arbeiterstande angehörigen Personen. Wie schon ihr Name sagt,
wird sie als Fürsorge und nicht als Sozialpolitik aufgefaßt, welcher Standpunkt
allerdings nicht zu billigen ist. Nach der Darstellung aller Bestimmungen werden
einige Zahlen über das Ausmaß der Fürsorge angeführt. So waren zum Beispiel
am 1. März 1920 Erwerbslose: im Reich 368.011, in Preußen 173.355, für
welch letztere 602.627 M täglich von Reich und Staat bezahlt wurden, wozu
noch !/,, der Gemeindeanteil kommt. Diese erschreckend hohen Ziffern führen
den. Verfasser zur Besprechung von Maßnahmen der Arbeitsvermittlung
und Arbeitsbeschaffung. welch’ letztere durch Zuschüsse an die Unternehmen.
welche Erwerbslose aufnehmen, zu fördern wäre.
Wien. Otto Berdach.
Dr. Karl Kumpmann, Die Arbeitslosigkeit und ihre Bekämpfung.
Mit besonderer Rücksicht auf Arbeitsnachweis und Arbeitslosenversicherung im
Deutschen Reich. 8° Tübingen 1920. I.C. B. Mohr. VI und 209 S,
Prakt. Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsbeschreibung, Wirtschaftsgeschichte. 383
Toni Morgenstern, Arbeitslosenversicherung und deutsche Er-
werbslosenfürsorge unter Berücksichtigung der Frage des Arbeitsnachweises.
Leipzig. Verlag von Felix Meiner. XVI und 66 S.
Kumpmanns Buch ist eine Neuauflage seines im Jahre 1913 erschienenen
Buches „Die Reichsarbeitslosenversicherung‘, allerdings in gründlicher Um-
arbeitung, wesentlicher Erweiterung und Fortführung bis zur Gegenwart. Bei
der großen Bedeutung, die das Problem der Arbeitslosenversicherung seit dem
Ende des Krieges zumal in den Ländern der Mittelmächte gewonnen hat. ist es
von besonderem Wert, einen knappen, systematischen, möglichst erschöpfenden
Überblick über den Stand der gesamten Fragen in Theorie und Praxis zu erlangen.
Man kann sagen, daB dem Verfasser diese Aufgabe gelungen ist. Die darstellenden
Teile seines Buches, namentlich soweit sie auswärtige Verhältnisse schildern,
sind stets sowohl zu den allgemeinen großen Fragen wie zu den speziellen
deutschen Zuständen in Beziehung gesetzt. Das Buch gibt darum demjenigen,
der sich über die Probleme der Arbeitslosigkeit wie über die in Frage kommenden
Mittel zur Bekämpfung dieses Übels orientieren will, eine treffliche Einführung,
die ebenso die großen Gesichtspunkte und die maßgebenden Erwägungen wie
eine Übersicht der bestehenden Einrichtungen und Reformbestrebungen bringt.
Die Arbeit zerfällt in vier Hauptabschnitte. Der erste erörtert das Problem
der Arbeitslosigkeit und befaßt sich hauptsächlich mit einer kritischen Unter-
suchung der Arten der Arbeitslosigkeit wie mit den Methoden der Feststellung
des Umfanges der Arbeitslosigkeit. Der zweite Abschnitt befaßt sich mit der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und ihrer Folgen; er behandelt hauptsächlich
den Arbeitsnachweis und die Methoden der Arbeitsbeschaffung.
Im dritten Abschnitt wird die Arbeitslosenversicherung behandelt. Auch hier
wird neben eine historische Darstellung der bisherigen Versuche und ihrer Ergeb-
nisse eine Erörterung der grundsätzlichen Fragen gestellt. Als Grundfrage behandelt
der Verfasser, ob es möglich sei, die bloß subjektive Arbeitslosigkeit von der
objektiven zu trennen oder, was auf dasselbe hinauskomnit, ob es möglich ist,
Garantien zu schaffen, die eine mißbräuchliche Ausnutzung der Arbeitslosen-
versicherung ausschließen. Die Erörterung führt zu dem Ergebnis, daß eine
direkte Kontrolle trotz mancher Hilfsmittel, wie der Wartezeit, der Karrenzzeit
und der zeitlichen Begrenzung der Unterstützung für eine Versicherung großen
Stils nicht brauchbar ist. Auch gegen den Gedanken von Schanz, die Arbeits-
losenversicherung durch ein System individuellen Sparzwanges zu ersetzen,
werden ernste Bedenken erhoben. und dem Grundgedanken des englischen
Systems, der Verbindung der Arbeitslosenversicherung mit dem Arbeitsnachweis,
der Vorzug gegeben.
Der Verfasser erörtert sodann eingehend seine Gedanken über die praktische
Ausgestaltung der Reichsarbeitslosenversicherung, namentlich über ihren organi-
satorischen Ausbau, über den Umkreis der zu versichernden Personen, über die
Gefahrenklassen, über die Erhebung der Beiträge und über die finanzielie Be-
deutung der Versicherung, deren Gesamtkosten er auf 500 Millionen Mark jährlich
veranschlagt. An diese Erörterung knüpft er eine Kritik des deutschen Entwurfes in
384 Einzelbesprechungen.
der: Gestalt, in der er im Mai 1920 dem Reichsrat übergeben wurde. Er erklärt ihn
versicherungsrechtlich gut durchgearbeitet, aber wirtschaftlich und sozial nicht sehr
befriedigend, namentlich wird an ihm der Anschlu8 der neuen Versicherung an
die Krankenkassen und das Fehlen einer gesunden Risikoverteilung bemängelt.
Die Trennung der Versicherung von dem Arbeitsnachweis wird sehr getadelt
und die Einreihung der Arbeitslosenversicherung in die Arbeitsämter gefordert.
Hinsichtlich der Risikoverteilung wird die Bildung von Fachabteilungen wie
in den Arbeitsnachweisen gefordert, die Gefahrengemeinschaften bilden sollen.
Wenn man Arbeiter mit der verschiedensten Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu
werden, one Sonderung in gemeinsame Kassen brächte, so wäre das nach der
Meinung des Verfassers das sicherste Mittel, der Arbeitslosenversicherung jeden
Kredit zu nehmen.
Den letzten Teil der ausgezeichneten Arbeit, die auch dem österreichischen
Gesetz vom 24. März 1920 Worte der Anerkennung zollt (trefflich durchgearbeitet),
bildet eine weitausschauende Würdigung der Arbeitslosenversicherung als eines
Mittels der Geltendmachung des Rechtes auf Existenz. Die Stellung der Parteien
zum Problem, die Haupteinwände gegen diese Versicherungsform, die wirt-
schaftliche, politische und ethische Bedeutung der Arbeitslosenversicherung
werden kurz erörtert und mit einer warmen Befürwortung der Arbeitslosen-
versicherung abgeschlossen.
Weit weniger Bedeutung kommt der zweiten der angezeigten Schriften zu.
Sie ist die typische Dissertations- oder Seminararbeit, nützlich für den Verfasser
(oder die Verfasserin? — die in der Wissenschaft wenig übliche Verwendung der
Koseform des Vornamens ist ein Unfug und eine Geschmacklosigkeit), vielleicht
auch für seine Studienkollegen, aber sonst für kaum jemanden. Es ist hier viel
Material zusammengetragen, aber wenig verarbeitet, als Materialsammlung ist
das Schriftchen aber auch nicht brauchbar, weil nicht vollständig; so fehlt jeder
Hinweis auf die doch in mancher Hinsicht vorangehende Arbeit Österreichs. An
eigenen Gedanken, Ansichten und Meinungen enthält die Arbeit so gut wie
nichts.
Wien. Robert Bartsch.
Dr. jur. Friedrich Steiner, Die Währungsgesetzgebung der Suk-
zessionsstaaten Österreich-Ungarns. Wien 1921. Verlag des Verbandes
österreichischer Banken und Bankiers. 8°. I. Bd. XL und 366, II. Bd. im Er-
scheinen.
Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie hat jahr-
hundertelang gemeinsame Wirtschaftsgebiete zerrissen und dadurch selbst in
den assozlierten Staaten ein arges wirtschaftliches Chaos gezeigt. Diese durch
die Notwendigkeit des staatlichen Zerfalles an sich gegebene Störung des Wirt-
schaftslebens wurde noch durch den Umstand erhöht, daß die neuerrichteten
slawischen Staaten sich in größter Hast bemühten, alle Bande, die den früheren
Zentralstaat zusammengehalten hatten oder Rücksicht auf die daraus sich
ergebenden Folgen zu zerreissen, War nun schon zu Zeiten der ungarischen
Prakt. Volkewirtschaftslehre, Wirtschaftsbesehreibung, Wirtsehaftsgeschichte, 385
Unabhängigkeitsbestrebungen den Ungarn die gemeinsame Währung ein Dorn
im Auge, so darf es nicht Wunder nehmen, wenn auch die Nationalisierung der
Währung eine der ersten Handlungen der neuen Staaten war. Maßgebend für
dieses Vorgehen war zu dem noch ein zweiter Grund, daß sich die assoziierten
Staaten als wirtschaftlich stärker fühlten, denn die „besiegten Restgebiete
Deutschösterreichs und Ungarns“ und daher die Warnungen, daß eine über-
stürzende Aufrichtung nationaler Währungen auch für ihre Volkswirtschaften
nur schädliche Erschütterungen die Folge sein müßten, kein Gehör schenkten.
Das sich ergebende und heute noch lange nicht gelöste Währungschaos wurde
aber tatsächlich für alle Sukzessionsstaaten eine Quelle der mannigfaltigsten
Hemmnisse und Schwierigkeiten. Diese in der Tatsache an sich gelegenen
Schwierigkeiten wurden aber noch dadurch verstärkt, daB die Fülle der ein-
ander widersprechenden Vorschriften der verschiedenen Staaten mangels einer
geeigneten Sammlung nicht überblickt werden konnten.
Es ist daher ein insbesonders für die Praxis höchst dringendes Bedürfnis,
dem die vorliegende Sammlung zu entsprechen sucht. Man muß selbst in der
Praxis gestanden sein und die Schwierigkeiten des Bankers und des Kaufmanns
bei Zahlungen zwischen den Sukzessionsstaaten miterlebt haben, um dies voll
ermessen zu können. Einer solehen Sammlung standen aber auch eine große
Zahl von Hindernissen entgegen. Die Gesetze und Verordnungen der verschiedenen
Staaten erschienen in nicht weniger als sieben Sprachen. Zwar haben einige
Staaten deutsche Publikationen zu ihren Gesetzen eingeführt, doch erscheinen
diese teils mit monatelangen Verspätungen, teils sind gerade diese offiziellen
Übersetzungen durch eine ganz besondere Unkorrektheit ausgezeichnet. Die
Mühe der Zusammenstellung, welche dem Herausgeber oblag, muß demnach
als eine ganz außerordentliche bezeichnet werden. Die Sammlung kann als,
trotz dieser Schwierigkeiten, gut gelungen bezeichnet werden, es ist vor allem
zu begrüssen, daß sich Dr. Steiner nicht auf die Sammlung der Gesetze der
Nachkriegszeit beschränkt hat, sondern von dem Beginne der Kronenwährung
(1892) an bis zum Ende 1920 eine nahezu erschöpfende Sammlung aller Gesetze,
Verordnungen und behördlichen Verfügungen in übersichtlicher Weise gegliedert
gibt. Dieser Sammlung ist auch eine knappe und doch gut unterrichtende Ein-
leitung vorangestellt, welche die geschichtlichen Grundlagen der Währungs-
nationalisierung skiziert. Alles in Allem kann diese Sammlung als ein unent-
bebrliches Handbuch für den Praktiker bezeichnet werden. Doch auch für die
Theoretiker ist dieselbe schon im Hinblick auf die große theoretische Bedeutung,
insbesondere des Raschinschen Experimentes, wichtig und es ist daher zu hoffen,
daß die Sammlung eine ganz außerordentliche Verbreitung erfahren werde.
Wien. Oskar Zaglits.
H. K. Zeßner-Spitzenberg, Einführung in die Landarbeiterfrage.
I. Bd. der Sammlung: „Landarbeiterfrage und Landarbeitsrecht, ein Wegweiser
zur Lösung des Landarbeiterproblems“. KI.-8°. Wien 1919. Verlag „Austria“,
Fr. Doll. XI und 172 S.
386 Einzelbespreelungen.
Das Büchlein geht von der gesunden Überzeugung aus, daß für die Beur-
teilung der Landarbeiterfragen die individualisierende Kenntnis der landwirt-
schaftlichen Arbeitsverhältnisse besonders wichtig, ja unentbehrlich ist. Denn
diese gestalten sich nach Gegenden und Wirtschaftsweisen so verschieden, ‚‚daß
eine Beherrschung des Problems neben dem Studium der gemeinsamen ...
betriebstechnischen, sozialen und wirtschaftspolitischen Grundelemente gerade
die Vertiefung in die wechselvollen örtlichen Mannigfaltigkeiten zur Voraus-
setzung hat". — ZeBner behandelt zuerst die Landarbeiterfrage im allgemeinen,
und zwar vom Arbeiterstandpunkte, Unternehnierstandpunkte und vom Stand-
punkte des Sozialpolitikers. Das 2. Kapitel behandelt die organisatorischen
Probleme (Verteilung des Arbeitsbedarfes, Zeit, Lohn, Wohnung); das dritte
die Arbeitsverfassung, das vierte die typischen Arbeiterarten, das fünfte die
Aufgaben eines Landarbeitsrechtes. Die Behandlung ist elementar, aber gut ein-
führend. |
Der Wert des Büchleins liegt gegenüber den Arbeiten von Wygodzinski
(1917) und Aereboe (1918), denen er hauptsächlich folgt, in der Berücksichti-
gung der Verhältnisse Deutschösterreichs und der Nachfolgestaaten des alten
Österreich neben jener des Reiches. — Für eine nene Auflage wäre eine einfachere,
weniger wiederholende Sprache (zum Beispiel „individualisierende Kennt-
nis der ... Verhältnisse im einzelnen“) wünschenswert. Auch Entgleisungen
wie „Die Landarbeiterfrage als Problem“ (zu deutsch: die Landarbeiterfrage als
Frage) wären zu vermeiden. Ebenso wäre für die Benutzung durch Arbeiter-
organisationen u. dgl., die wir mit dem Verfasser dem Büchlein wünschen, ein
Sachverzeichnis von Vorteil. |
Wien. Othmar Spann.
Ill. Statistik und Bevölkerungslehre.
L. v. Bortkiewiez, Bevölkeruneswesen. Aus Natur und Geisteswelt.
670. Bd. 8°. B. G. Teubner, Leipzig-Berlin 1919. 112 S.
Einer der ersten Götter des hohen mathematisch-statistischen Olympos hat
die schimmernde algebraische Rüstung, hat die Strahlenkrone der Schwerständ-
lichkeit abgelegt und naht ohne Integralblitze und Formeldonner den niedrigen
Sterblichen im leichten Hauswanis einer volkstümlichen Darstellung. Es ist ein
solches Herabsteigen bisweilen auch den Göttern bekömmlich und der Menge
von Nutzen.
In zwei Teile zerfällt das neue Werkchen, das uns v. Bortkiewiez solcherart
schenkt; einen ersten, der sich mit Bevölkerungsstatistik befaßt, und einen
zweiten, der die Bevölkerungslehre geschichtlich darstellt.
Was nun den ersten bevölkerungsstatistischen Teil anlangt, so werden darin
Größe und Wachstum der Bevölkerung, Bevölkerungsdichte und -anhäufung,
Gliederung der Bevölkerung nach Geschlecht. Alter und Familienstand, die
Geburten (im Zusammenhang mit den Eheschließungen), die Sterbefälle und die
Wanderungen sowohl nach Methode als auch nach Ergebnissen behandelt.
Statistik und Bevölkerungslehre. 381
In anıegendem Erzählerton wird der Leser ahnungslos in die schwierigen Pro-
bleme der Vermehrungsrate, der Verdupplungsperiode, der Geburten- und Sterbe-
messung usw. eingeführt. Bei der Besprechung der Geburten- und Heiratsziffer
sieht der Verfasser, offenbar im Hinblick auf den voraussichtlichen Leserkreis,
von Kritik ab. Nieht zu unterlassen vermag er das auf dem Gebiete der Sterbe-
ziffer, die ja auch das Hauptgebiet der v. Bortkiewiezschen bevölkerungs-
statistischen Forschungen darstellt. Er legt hier näher die Ergebnisse auseinander,
zu denen er in seiner Schrift „Die Sterbeziffer und der Frauenüberschuß in der
stationären und in der progressiven Bevölkerung“ t) gelangt ist und die geeignet
zu sein scheinen, den dem deutschen entgegengesetzten englischen Standpunkt
zu begründen, daß eine steigende Gebuitenziffer nicht zu einer Hinaufsetzung,
sondern zu einer Herabdrückung der Sterbeziffer führen müsse. Diese Anschauung
und besonders auch v. Bortkiewicz’ Beweisführung scheint uns auf irrigen
Grundlagen zu beruhen, ein schwieriger und umstrittener Gegenstand, auf den
hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann. Festgehalten sei bloß, daß
sich in v. Bortkiewiez Auffassung der Sterblichkeitsmessung seit seinem im
Jahre 1893 erschienenen Werke .,Die mittlere Lebensdauer‘‘?2) ein bemerkens-
werter Wandel vollzogen hat. In dieser Schrift stellt v. Bortkiewicz die Messung
der Sterblichkeit durch die Sterbeziffern und durch die mittlere Lebensdauer
der Sterbetafeln (oder was das gleiche ist, durch ihren reziproken Wert, die
Sterbetafelziffer) als zwei verschiedene, selbständige Messungsarten nebeneinander:
die erstere messe die Intensität des Sterbens, die zweite beinhalte eine bio-
metrische Betrachtung des Sterbens und ergebe gleichfalls einen ‚in einem
gewissen Sinne als ein Maß der Sterblichkeit verwendbaren Wert“ (S. 22). Von
diesem Standpunkt ist v. Bortkiewiez schon in dem dritten Artikel der
„Kritischen Betrachtungen zur theoretischen Statistik‘‘3) und in seiner Unter-
suchung „Über die Methode der Standardpopulation‘‘*) merklich abgerückt. Nun
lesen wir in diesem volkstümlichen Schriftchen auf S. 36: ,,... die Sterbeziffern
würden sonach, wenn man es mit stationären Bevölkerungen zu tun hätte, ein
einwandfreies Maß der Sterblichkeit vorstellen; denn sie würden sich hier genau
umgekehrt proportional zu den Werten der mittleren Lebensdauer verhalten.“
Womit zugegeben ist, daß als einzig einwandfreies Maß der Sterbehäufigkeit
die mittlere Lebensdauer (oder die Sterbetafelziffer) zu betrachten ist, die rohe
Sterbeziffer dagegen im allgemeinen kein einwandfreies Maß abgibt (wie das der
englischen Statistik schon seit langem bewußt ist).
Im zweiten Teile der Schrift bildet naturgemäß die Darstellung der Malthus-
schen Lehre und ihres Für und Wider den Kernpunkt des Interesses. Man kann
-— a mao
1t) Bulletin des Internationalen Statistischen Institutes, Bd. XIX, 1. Lieferung,
Seite 110.
2) Fischer, Jena.
3) Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 1896, S. 691.
4) In den Berichten an die 9. Tagung des Internationalen Statistischen
Institutes, S. 24, Punkt 3, Berlin 1903.
388 Einzelbesprechungen.
Bortkiewicz’ Stellungnahme dazu als beaingte Anerkennung der Malthusschen
Lehre bezeichnen. ‚Erhöhte Ansprüche bedeuten aber bei gleichbleibendem oder
auch bei verhältnismäßig schwächer steigendem Realeinkommen — wenn man
diesen Sachverhalt aus der Sphäre des Privathaushalts in die der Volkswirtschaft
überträgt — eine entsprechende Verengerung des Nahrungsspielraumes. So
brauchte man denn nur in dem Wortlaut des zweiten Malthusschen Lehrsatzes
das ‚Anwachsen der Unterhaltsmittel‘ durch eine ‚Ausdehnung des Nahrungs-
spielraumes‘ zu ersetzen, somit zu einer Formulierung zu greifen, die bei den
deutschen Malthusianern häufig genug anzutreffen ist, um wenigstens in einer
Reihe von Fällen die Möglichkeit zu haben, diesen Lehrsatz mit der Tatsache
der sinkenden Fruchtbarkeit, beziehungsweise der aufhörenden Bevélkerung:-
vermehrung bei steigendem Wohlstand in Einklang zu bringen.“ (S. 92.) Wie
ersichtlich, macht sich v. Bortkiewicz den unter anderen von Mombert ver-
tretenen Begriff des „subjektiven Nahrungsspielraumes‘‘ zu eigen. Wir haben
‚uns in dieser Zeitschrift’) über diese unseres Erachtens unrichtige Begriffs-
bildung eingehend genug geäußert, so daß sich hier eine weitere Stellungnahme
erübrigt.
Auch dieser zweite Teil bietet dem Verfasser Gelegenheit zu Ausflügen in
sein eigentlichstes Forschungsgebiet (vgl. zum Beispiel die Bemerkungen zur Ver-
mehrung in geometrischer Progression auf S. 177). Er gibt ebenso wie der erste
Teil eine Fülle von Anregungen und es wird überhaupt die ganze kleine Schrift
auch vom Fachmanne mit Vergnügen und Nutzen gelesen werden.
Wien. Wilhelm Winkler.
Le Bureau Municipal de Statistique de la ville D’Amsterdam, 10. octobre
1894—1919. Imprimerie Municipale D’Amsterdam. Lex.-8°. 60 S.
Aus Anlaß seines 25jährigen Bestandes hat das städtische statistische Amt
von Amsterdam seinen zahlreichen Freunden eine Festgabe überreicht, in der
der geschichtliche Werdegang des Amtes und das reiche Ergebnis seiner Arbeiten
dargelegt wird. Ein besonderes Prunkstück der Festgabe bildet der Abdruck
einer Reihe von Diagrammen (Ausstellungsstücken), die, mit auserwählten
Geschmack hergerichtet, schlechthin mustergültig erscheinen. Die wichtigsten
Zahlen aus der Gemeindestatistik für den Anfangs- und Endpunkt des 25 jährigen
Abschnittes, ein Verzeichnis der Veröffentlichungen des Amtes und eine Liste
der Stellen, mit denen das Amt im Austauschverkehr steht, vervollständigen
das Bild.
Als willkommene Beigabe ist ein Überblick der Lebenskostensteigerung
ni Amsterdam in den Jahren 1917/1920, bezogen auf die Lebenskosten im
Jahre 1911, beigelegt. Es ergeben sich darnach die Kosten der Lebenshaltung
einer Arbeiterfamilie im September 1920 als das 2°22fache der gleichen von 1911.
Wien. Wilhelm Winkler.
5) „Nahrungsspielraum und Volkswachstum‘“, Jahrgang 1917, Heft 1-3.
l
Statistik und Bevölkerungsiehre. 380
Dr. W. Schiff, Die amtliche Statistik und die neuen Erfordernisse
der Zeit. Statistische Monatsschrift, III. Folge, 1. Jahrg., Heft 5—8, Wien
1919, Druck und Verlag der ös erreichischen Staatsdruckerei, S. 111 bis 145.
Auch als Sonderabdruck erschienen.
Unter den aus dem zerschlagenen alten Österreich hervorgegangenen neuen
Staaten hat Deutschösterreich den Vorteil, den staatlichen Zentralapparat und
damit auch die wichtigsten Einrichtungen für die Herstellung der amtlichen
Statistik als Erbteil übernommen zu haben. Es ergibt sich nun für die Statistik
ebenso wie für die anderen übernommenen Einrichtungen die Aufgabe, sich in
dem hinsichtlich des Umfangs und der Menschenzahl, der wirtschaftlichen Kraft
und der sozialen Machtverhältnisse vollständig neu gestalteten Wirkungskreise
zurecht zu finden und einzurichten. Dieser Aufgabe dienen die Ausführungen
und Vorschläge, die der Vizepräsident der Statistischen Zentralkommission Prof.
Dr. Walter Schiff in der vorliegenden Arbeit erstattet.
Der Verfasser geht von den Schwierigkeiten aus, mit denen die Statistik
auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten zu kämpfen hat: von der Gesctzheit
bestimmter Grenzen für die statistische Forschungstätigkeit, von den Schwierig-
keiten, die in der statistischen Methode liegen und bei fachunkundigen Benützern
so leicht zu falschen Schlüssen führen, von der Langwierigkeit statistischer Auf-
arbeitung, die mit der Rechtzeitigkeit der Ergebnisse im Widerspruch steht, und
von den Schwierigkeiten, die im mangelnden Verständnis der Ober- und Unter-
behörden und der befragten Bevölkerung liegen. Zu diesen allgemeinen kommt
noch die (allerdings nicht für Österreich allein bestehende) besondere Schwierigkeit
der Zersplitterung der Statistik hinzu: außer in der Statistischen Zentral-
kommission wird in Österreich Statistik in fast allen Zentralämtern, bei politischen
Landesstellen, in den statistischen Landes- und Stadtämtern, in 6ffentlich-recht-
lichen Körperschaften, Vereinen usw. ohne gegenseitigen Zusammenhang betrieben.
Der Verfasser legt den Wirkungskreis aller dieser statistischen Stellen ausführlich
dar und weiß lehrreiche Beispiele über die aus dem herrschenden anarchischen
Zustand folgenden Unzukömmlichkeiten anzuführen.
An die vorausgehenden Tatsachen knüpft W. Schiff folgende Reform-
vorschläge:
1. Die Schaffung eines Ermächtigungsgesetzes, in dem die Pflicht zur Aus-
kunfterteilung und Einblickgestattung — natürlich unter entsprechendem Sehutz
vor Mißbrauch — bestimmt würde.
2. Obsorge dafür, daB gewisse Ausweise, die andere Stellen nur für
Verwaltungszwecke einsammeln (sekundärstatistische Ausweise), auch der
Statistik nutzbar gemacht werden.
3. Organisierung der Statistik in Österreich in der Weise, daß die Statistische
Zentralkommission, verwandelt in ein dem Staatskanzler unterstelltes statistisches
Zentralanıt, das Recht erhielte, den gesamten amtlichen statistischen Betrieb zu
überwachen und planmäßig zu regeln sowie alle diejenigen Statistiken selbst zu
besorgen, die nicht aus wesentlichen Gründen einer anderen Stelle zu überlassen
wären.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Fo'ge. I Band 26,
390 Einzelbespreehtingen.
In dieser letzteren Forderung ist das Streben nach Zentralisierung det
Statistik ausgesprochen, für und gegen das seit langem der Kampf entbrennt.
Schiff hebt in seiner Begründung alle Beweistatsachen dafür und dagegen
objektiv hervor und gelangt auch in seinem Vorschlage zu einem maßvollen
Auswege, der von den betroffenen Staats- und anderen Ämtern wohl wird
angenommen werden können.
Den Abschluß der Ausführungen bildet ein Überblick über die nächsten
Aufgaben der amtlichen Statistik in Deutschösterreich.
Die Schrift, welche Klarheit und Schärfe des Ausdrucks mit einer glänzenden
Darstellung vereinigt, bietet eine vorzügliche Einführung nicht nur in die
besonderen Verhältnisse der österreichischen Statistik, sondern in die Schwierig-
keiten und Klippen der Statistik überhaupt und ist aus diesem Grunde wohl
geeignet, das Veistindnis für Statistik auch in fernerstehenden Kreisen zu heben.
Es ist ihr aus diesem Grunde wärmstens eine recht weite Verbreitung zu wünschen.
Wien. Wilhelm Winkler.
Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Herausgegeben vom Statisti-
schen Reichsamt. 41. Jahrg. 8°. Berlin 1920. Verlag von Puttkammer & Mühl-
brecht. SS. XXXVI—281—-46*—33 und 2 Zeichnungsbeilagen.
Das neue statistische Handbuch für das Deutsche Reich liegt in der gewohnten
netten und zweckmäßigen Gestalt vor. Wir beschränken uns hier darauf, aus
seinem reichen Inhalt einige Zahlen über die Neugestaltung des Peutsehen Reiches
durch den Vertrag von Versailles anzuführen.
Das Gebiet des Deutschen Reiches betrug unter Einbeziehung aller Ab-
stimmungsgebiete (außer der Zone 1 von Schleswig-Holstein) 474.303°9 kin?, aut
welchen gezählt wurden:
davon
Insgesamt Bewohner männlich - weiblich
am 1. Dezember 1910 ......... 59 407.005 29.304.776 30,102.229
am 8. Oktober 1919 ........... 60,898.584 29,011.216 31,887.368
Die gleichen Zahlen für den Gesamtumfang von 1910 hatten betragen:
540.857°5 km2, 64,925.993 Bewohner, davon männlich 32,040.166, weiblich
32,885.827.
Die bis zum 31. Dezember 1920 abgetretene Fläche betrug 67.275°11 km?
(= 12-44% der Fläche von 1910), die darauf lebende Bevölkerung (nach de:
Zählung von 1910) 5,579.912 (= 8:59% der damaligen Gesamtbevölkerung). Von
diesen Bewohnern waren 3,217.053 (= 57°65 %,) deutscher, 1,730.457 (= 31°01°,)
polnischer, 204.496 (= 3°67° ) französischer, der Rest anderer Muttersprache.
Nach dem Glaubensbekenntnisse gliederte sich die abzutretende Bevölkerung in:
1,817.979 (= 32°58°,) Personen evangelischen, 3,669.049 (= 65°75°,) katho-
lischen, 67.590 (= 1'21°%,,) israelitischen, der Rest anderen Bekenntnisses. Auf
die einzelnen Glaubensbekenntnisse als Stammasse bezogen, betrugen diese Ein-
bußen: evangelisches Bekenntnis: 455%, katholisches 15°40°%, israelitisches
10:99°/. Die Abtretung betraf also am härtesten die Katholiken des Reiches.
Geschichte, Rechtswissensehatt, Philosophie und andere Hilfswissenschaften. 301
Diese Tatsache ist geeignet, einen gegen den Anschluß des katholischen Öster-
reich an Deutschland häufig vorgebrachten Einwand, daß nämlich hiedurch der
bisherige Gleichgewichtszustand der Bekenntnisse in Deutschland gestört werden
könnte, abzuschwächen, insbesondere wenn man bedenkt, daß die abgetretenen
Katholiken meist anderssprachig waren, die aufzunehmenden dagegen Stammes-
brüder sind.
Nach Berufen (bezogen auf die Berufszählung vom Jahre 1907) gliederte
sich die Bevölkerung in dem bis zum 31. Dezember 1920 tatsächlich abgetretenen
Gebiete wie folgt:
Bis zum 31. XII. 1920 tatsächlich
abgotretene Gebiete
Berufsabteilungen Y Zz and Personen u en ad
Dienende überbaupt Reich ermittelten
Zahlen
A. Land- und Forstwirtschaft ..... A) ae 1,211.591 12:3
D) aaisa 1,197.818 15:3
B. Industrie, Bergbau ............ A): satan 655.742 5°8
D) sander 896.942 5'9
C. Handel und Verkehr, Gastwirt- a) ..... 221.563 6'4
SCHA A ne ers D) oisi 326.175 6'8
D. Lohnarbeit wechselnder Art, a) ..... 36.062 © 76
persönliche Dienste ........... D iess 33.394 10:4
E. Freie Berufe, öffentlicher Dienst.a) ..... 215.106 12°4
D): ated 140.871 8.4
F. Berufslose ........22222....... a) iess 263.067 77
DI zais 147.608 83
Aus diesen Zahlen geht der überwiegend landwirtschaftliche Charakter der
abzutretenden Gebiete hervor; der industrielle Charakter Deutschlands ist daher
jetzt noch stärker ausgeprägt als bisher.
Außer den Abtretungen sind 31.9644 km? (= 675%% des Deutschen Reiches
zu Ende 1920) mit 6,457.513 Bewohnern (10°88°%) zu Friedensschluß besetzt
worden, wovon ungefähr die Hälfte erst nach 15 Jahren zu räumen sind.
Die vorausgeschickten Zahlen sind nur für einen ganz flüchtigen Überblick
. bestimmt; der interessierte Leser wird im Abschnitt I A des Jahrbuches reich-
haltige Einzelheiten dazu finden.
Wien. Wilhelm Winkler.
IV. Geschichte, Rechtswissenschaft, Philosophie und
andere Hilfswissenschaften.
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Welt-
geschichte. (Werke Bd. V111). Vollständig neue, auf Grund des aufbehaltenen
Landschriftlichen Materials besorgte, Ausgabe von Georg Lasson. I. Bd.: Die
Vernunft in der Geschichte. 8°. Leipzig 1917. Verlag Felix Meiner (Philosophische
Bibliothek). X und 264 S. — II. Bd.: Die orientalische Welt. 1919. XV und
392 Einzelbesprechungen.
260 5. — III. Bd.: Die griechische und römische Welt. 1920. V IH und 525—753 S. —
IV. Bd.: Die germanische Welt. 1920 VIII und 755—942 S. — Hierzu als
Einleitung des Herausgebers: V. Bd.: Hegel als Geschichtsphilosoph. Von
Georg Lasson. 192‘. VI und 180 S.
Von Hegels Philosophie der Geschichte (die schon in den Sämtlichen Werken
auf Vorlesungshefte, nicht auf eine Buchausgabe Hegels selbst zurückgeht) gab
es bisher eine gute, von Brunstädt besorgte Ausgabe bei Reclam. Hier er-
scheinen nun Hegels Vorlesungen in neuer Gestalt und mit einer glänzenden Ein-
führung versehen, die als eigener kleiner Band von 180 Seiten dem Werke bei-
gefügt ist. Georg Lasson ist es, dem das deutsche Volk diese aufopferungsvolle,
bewundernswerte Herausgeberarbeit verdankt. Lasson ist auf den gesamten
uns noch erhaltenen handschriftlichen Stoff zurückgegangen, nämlich auf die
Vorlesungshefte Hegels und die Nachschriften von Hörern aus drei Jahrgängen,
darunter bisher ganz unbenutzte Nachschriften der Universitätsbücherei zu Jena.
Lasson hat diese Unterlagen nach anderen Grundsätzen benutzt als die früheren
Herausgeber der Sämtlichen Werke, Ed. Gans und Karl Hegel. Lasson wollte
uns möglichst den sprechenden Hegel selbst geben, während die früheren
Herausgeber den Stil’abschliffen und glätteten, kurz aus den „Vorlesungen“
ein Buch zu, machen sich bemühten. Lasson sind seine Bemühungen gut ge-
lungen, man kann denn auch aus diesem Buche wie aus keinem andern den
lebendigen Hegel kennen iernen! Bei ihm wechselt die größte, lauterste Ab-
gezogenheit mit den buntesten, gewaltigsten Bildern und man spürt überall die
Glut unter dem Vulkan, das Genie hinter der Gelehrsamkeit heraus.
Die Bedeutung der Hegelischen Geschichtsphilosophie, die uns in der
vorliegenden Ausgabe aufs neue nahe gebracht wird, liegt für uns Gesellschafts-
wissenschaftier darin, daß sie das erste und beste Mittel ist, über die.materia-
listische Geschichtsphilosophie Marxens, die heute alle gefangen hält, endgültig
und sicher hinauszuführen. Noch bis vor kurzem feierte diese materialistische
Geschichtslehre ihre Triumphe. Man glaubte, im Besitze so glanzender neuer
Wahrheiten, wie sie sie bot, die alten Meister überwunden und verschmähte,
auf sie zurückzugehen. Heute ist die Vorstellung, als wären wirtschaftliche Dinge
irgendwie primäre Kräfte im Geschichtsverlaufe, leider zwar auch noch überall!
rege, aber cs wird doch schon in weiten Kreisen klar, daß die Geschichtslehre `
Marxens einfach auf einer ganz unzulänglichen philosophischen (wie, nebenbe!
gesagt, auch volkswirtschaftlichen !) Bildung beruhte, und auf einem äußerst
ärmlichen, ja innerlich verdorbenen (eben weil materiellen) Art, den Fortschrei-
tungsgang der Geschichte nachzuerleben. Gegenüber soleher Nichtigkeit und
Barbarei der Marxischen Lehre wirkt die Geschichtsauffassung Hegels so
befreiend, so groß und echt, daß kein Wirtschaftslehrer, Gesellschaftslehrer,
StaatsIchrer, Geschichtslehrer versäumen sollte, seine Schüler nachdrücklich
auf das Studium des neu zugänglich gemachten Werkes hinzuweisen. (Es genügt
der oben als I. bezeichnete Band, der Hegels „Einleitung“ in seine Vorlesungen,
das Systematische seiner Geschichtsphilosophie, enthält.) Hegel sieht die Welt-
geschichte als geistiges Geschehen an, in der Weltgeschichte feiert der Geist
|
Geschiehte, Reehtswisseuschaft, Philosophie und andere Hilfswissenschaften. 393
einen Hervorgang. oder wie Hegel sclbst an andere: Stelic (in der Geschichte
der Philosophie) es ausdrückt: „Die Philosophie ist das Innerste der Welt-
geschichte.“
Noch unter einem anderen Gesichtspunkte ist die vorliegende Ausgabe wichtig.
Hegels Buchwerke sind alle sehr schwierig und beim ersten Studium nicht zu
bewältigen. Anders seine Vörlesungen, die sicher führen und zum Studium der
Bücher den Grund legen. Auch als Einführung in Hegel überhaupt ist daher
der I. Band der vorliegenden Ausgabe zu empfehlen. Zum Schlusse sei hier
noch mitgeteilt, was G. Lasson zum Beginn seiner Einführung über das
Verhältnis von Hegels Geschichtsphilosophie zum Ganzen seines Systemes
sagt,: „Wie verschieden auch die Urteile über Hegels Philosophie als Ganzes
lauten mögen, in einem Punkte pflegt seinem Werke die Anerkennung
nicht versagt zu werden: man gesteht ihm... zu, daß er für das Verständnis
des geschichtlichen Lebens Epoche gemacht habe. Woher ihm aber dazu die
Fähigkeit gekommen isf, das bleibt meistens ... ganz im unklaren. Man be-
schränkt sich gewöhnlich darauf, seine Theorie vom Staate ... und von der Ge-
schichte für sich allein darzustellen und ... das hervorzuheben, was man für
berechtigt und irrig hält. Den Zusammenhang aber, in dem diese einzelnen Er-
kenntnisse zu dem Ganzen der Hegelschen Philosophie selbst und zu dem Geist
der Zeit stehen, aus dem heraus sie geboren ist, beachtet man nur zu wenig und
vermag dann auch weder in Zustimmung noch in Ablehnung den eigentlichen
Nerv des Hegelschen Geschichtsverständnisses recht zu treffen.“
Wien. Othmar Spann.
Kurt Wolzendorff, Geist des Staatsrechts. Gr.-8°. Leipzig 1920. Verlag
der neue Geist (Dr. Peter Reinhold). 76 S.
Die Schrift ist ein eindringlicher Mahnruf an die deutsche Staatsrechts-
lehre, neben der Arbeit in Studierstube und Hörsaal die Arbeit in der Öffentlich-
keit des Volkslebens nicht zu verabsäumen. Im 18. Jahrhundert sei das ganze
deutsche Kulturleben unter dem Zeichen des Naturrechtes gestanden. Mit seiner
Beseitigung in der Epoche der Restauration und Reaktion habe die Staatsrechts-
wissenschaft den Boden im Volke verloren, sehr zum Nachteil des gesamten
Volks- und Staatslebens. Der Geist des gegenwärtigen deutschen Staatsrechtes,
wie es sich geschichtlich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt habe, wurzle
indem Satze, daß der Staat nichts anderes sei, als die Genossenschaft des ganzen
Volkes. Es sei staatsbürgerliche Pflicht der Vertreter der Staatsrechtswissenschaft,
von diesem Satze ausgehend, das natürliche Rechtsdenken des Volkes zu führen
und insbesondere bei der politischen Programmarbeit läuternd und bestimmend
mitzuwirken. ‚Machen die Künstler des Rechtes nicht das Plakat, so macht es
der demagogische Anstreicher.‘‘ Die zu leistende Arbeit sei staatsrechtliche Psycho-
legie unter steter Bedachtnahme auf die positive Rechtslehre.
Wien. Gustav Seidler.
Einlauf von Büchern
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Hendef, Maximilian, Die Verfügung des Eigentümers über die Hypo-
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Langhoft, Lukas, Staatsbürgerschaft und Heimatrecht in Österreich.
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Ruckhaber, Erich, Die richtige Bewertung der Körper- und Geistes-
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Verächtern. 8°. München 1921. Drei Masken-Verlag. 94 9.
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während der Jahre 1914—1919. Teil I: Bücher. Teil II: Beiträge und Aufsätze in den
Zeitschriften, Sammlungen, Lehr- und Handbüchern. 8°. Jena 1920. Gustav Fischer.
81 und 227 S.
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Herder. VI und 363 S. M 15:80.
B. Periodische Veröffentlichungen.
Bollettino di statistica e di legislazione comparata. 8°. Roma. Tipografia co-
operativa sociale. Anno XVIII. Fascicolo II. 1917/18 e 1918/19.
Parte I. Statistica. Riscossioni di luglio, agosto e settembre 1919, comprese
le tasae di pubblieo insegnamento confrontate con quelle del corrispondente periodo
dell’ esercizio 1918/19. Riseossioni di ottobre, novembre e dicembre 1919, comprese
le tasse di pubblico insegnamento e riscossioni del 1° semestre dell’ esercizio 1919 (20,
confrontate con quelle del corrispondente periodo dell’ esercizio degli anni 1918 /19.
Parte II. Legislazione italiana, notizie estere. Italia: Provvedimenti
tributari. Belgio: Tasse sugli avvisi al publico — Tasse di successione — Tasse di
registro e di trascrizione — Riforme al Codice civile — Tasse di bollo — Licenze di
porto d’armi e di caccia — Tasse di registro — Tasse ipotecarie — Conservatori delle
ipoteche. Francia: Registro e bollo; Anticipazioni su titeli — Le operazioni della
stanza di compensazione dei banchiere di Parigi — Citta di Parigi; il prodotto dei
pubbliei spettacoli negli anni 1917 e 1918. Germania: Tassa sulle operazioni com-
merciali e sulle vendite di oggetti di lusso — Bollo sugli effetti di commercio — Modi-
ficazioni alla legge sul bollo imperiale — Imposta sulle successioni — Imposta sul-
. F acquisto di terreni. Inghilterra: I bilanci del 1920/21 e 1921/22 e il progetto di nuove
i te.
Anno XVIII. Fascicolo III. 1917/18 e 1918/19.
Parte I. Statistica. Riscossioni fatte nei mesi di Gennaio, Febbraio e Marzo
1920 e riscossioni del primi 3 trimestri dell’ esercizio J 919 /20 confrontate rispettivamente
con le riscossioni dei corrispondenti periodi dell’ esercizio 1918/19. Riscossioni fatte nei
mesi di aprile, maggio e giugno 1920 e riscossioni fatte nell’intero esereizio 1919 /2U
cosfrontate rispettivamente col corrispondente trimestre e con l'intero periodo del-
l’ esercizio 1918/19.
Einlauf von Büchern und periodiselien Veröffentlichungen. 399
Parte IJ. Legislazione italiana, notizie estere. Italia: Provvedimenti
tributari. Francia: Personale dell’ Amministrazione del Registro — Provvedimentli—
Riforme tributarie introdotte con la legge 25 giugno 1920 — Decreto di class ficazicne
degli oggetti di lusso — Regolamento per l esecuzione della legge nella par.e relativa
all imposta sulla cifra di attari. Inghilterra: Tasse di successione — ae sugli spetta-
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Österreichische Staatsdruckerei. 565321
Das Ziel der Währungspolitik.
Von Alfred Amonn.
1.
Die Bestrebungen und Maßnahmen der Währungspolitik der euro-
päischen Staaten in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege waren vor-
nehmlich auf Erhaltung eines bestimmten Wertverhältnisses zwischen
der inländischen und den ausländischen Geldeinheiten gerichtet. Ihr
Ziel war der feste intervalutarische Kurs, ein festes Austausch-
verhältnis zwischen der inländischen und den ausländischen Geldein-
heiten (Valutenkurs), beziehungsweise ein fester Preis der auf ausländische
Geldeinheiten lautenden Wechsel (Devisenkurs). Es wurde dadurch
erreicht, daß man die Einheit überall auf Gold basierte, das heißt, se
als eine bestimmte (roldmenge definierte und als Geld entweder diese
Goldmenge selbst in Münzform oder jederzeit in diese Goldmenge ver-
wandelbare Scheine (Noten) umlaufen ließ, Sowie umgekehrt die beliebige
Verwandlung jeder Goldmenge in eine dem Münzfuß entsprechende Zahl
von Geldeinheiten und die freie Goldein- und -ausfuhr zuließ. Die Gold-
form des Geldes, beziehungsweise die beliebige Verwandelbarkeit des
Geldes in Gold und des Goldes in Geld, verbunden mit dem freien Gold-
verkehr von Staat zu Staat bedingte, daß das Wertverhältnis zwischen
den Geldeinheiten der verschiedenen Staaten nur wenig um einen festen
Punkt herum (dem Goldmengenverhältnis der Einheiten) schwankte,
innerhalb ganz bestimmter Grenzen, die man als ,,Goldpunkte‘ bezeichnete
und die durch die Kosten, welche aus der Versendung (und eventuellen
Prägung oder Umprägung;) des Goldes oder der Münzen erwuchsen, gegeben
waren. Diesen Zustand nannte man „Goldwährung‘.')
1) Das ideelle Wertverhältnis zwischen Krone, Mark, Frank, Pfund usw. war
also gegeben durch die Goldmenge, welche jede dieser Einheiten darstellte. Diese
Goldmenge war für die Krone = 1/,.30 kg, für die Mark = !/2,90 kg, für den
Frank = 1/3, kg. Das ideclle Wertverhältnis zwischen Krone, Mark und Frank
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik Neue Folge, 1. Band. 2
DP
402 Alfred Amonn.
Damit ist das aktuelle Ziel der währungspolitischen Praxis der Vo-
kriegszeit erschöpfend gekennzeichnet; denn das von den währungs-
politischen Instanzen neben jenem häufig in den Vordergrund gerückte
Ziel der Erhaltung und Mehrung des Goldbestandes war damals in Wirk-
lichkeit ein Mittel zu jenem Ziel, ein Mittel zur unbedingten Sicherung
der Erhaltung der Goldwährung und des festen intervalutarischen Kurses.
Erst in der Kriegszeit wurde es vielfach zu einem eigenen, selbständigen
Ziel erhoben und damit jenes erste aus dem Auge verloren, wie sich gezeigt
hat, völlig nutzlos, indem, während das eine aufgegeben worden war,
das andere keineswegs erreicht wurde, und so heute viele Staaten nicht
nur ohne Goldwährung, sondern zugleich ohne praktisch in Betracht
fallende Goldreserve dastehen (wogegen die Erhaltung einer solchen in
der Form von umlaufenden Münzen bei Freilassung des Goldverkehrs
und der Goldwertbildung sehr wahrscheinlich gewesen wäre).
Für die wirtschaftspolitische Theorie ist damit das eigentliche, letzte
Ziel der Währungspolitik aber noch nicht erfaßt. Auch der währungs-
politischen Praxis jener Zeit hat offenbar noch ein anderes, wenn auch
größtenteils unbewußt, vorgeschwebt; denn sonst wäre die allgemeine
Einführung der Goldwährung nicht zu verstehen. Jenes Ziel des festen
intervalutarischen Kurses hätte nämlich ebenso gut erreicht werden können,
wenn an Stelle der Goldwährung überall die Silberwährung eingeführt
worden wäre. Für uns ist es heute vollkommen klar, daß dies einen weit
weniger zweckmäßigen Zustand zur Folge gehabt hätte, und die währungs-
politische Praxis jener Zeit hat dies offenbar, wenn sie sich auch darüber
nicht völlig im Klaren war, doch ziemlich deutlich gefühlt. Aus dem
bloßen Streben nach einem festen intervalutarischen Kurs wäre nicht
zu verstehen, weshalb gerade die viel zahlreicheren Silberwährungsländer
zur Goldwährung übergegangen sind und nicht umgekehrt die wenigen
Länder mit Goldwährung zur Silberwährung.
Der Grund der Zweckmäßigkeit der Goldwährung, das heißt ihr
eigentliches, letztes Ziel muß daher in etwas Anderem gesehen werden
als in der Festigung des intervalutarischen Kurses. Der äußere Grund,
das wirksame Motiv der Silberwährungsländer für den Übergang zur
war demnach 3280: 2790: 3444 oder (rund) 1: 0,85: 1,05, bzw. 1,18:1:1,23, bzw.
0,95: 0,81:1. Das faktische Austauschverhältnis (der Kurs) schwankte um diesen
Punkt innerhalb der Grenzen, welche durch die Kosten der Versendung der betref-
fenden Goldmengen nach oben und nach unten gegeben waren.
Das Ziel der Währungspolitik. 403
Goldwährung war offenbar die Entwertung des Silbers gegenüber dem
Golde, welche jenes nun als ‚‚minderwertig‘‘ erscheinen ließ. Der innere,
tiefere Grund, wenn auch im Bewußtsein der Praxis nicht klar erkannt,
war aber die Entwertung des Silbers gegenüber den anderen Waren,
welche seine Beibehaltung als Währungsbasis unpraktisch erscheinen
ließ, ganz abgesehen vom Verlust des festen, intervalutarischen Kurses
serenüber den Goldwährungsländern. Jenes Andere, in dem der Grund
der Zweckmäßigkeit der Goldwährung für jene Zeit lag, bestand demnach
in dern verhältnismäßig festen Wertverhältnis zwischen dem Gold
und den anderen Waren (und nicht in der leichteren Möglichkeit der Auf-
rechterhaltung eines festen intervalutarischen Kurses). Für die theoretische
Betrachtung liegt demnach das Ziel der Währungspolitik in erster Linie
nicht in dem festen intervalutarischen Kurs, sondern in dem festen Wert-
verhältnis zwischen dem Geld und den Gütern, das heißt in der Stabilität
der Kaufkraft des Geldes oder in der Aufrechterhaltung eines bestehenden
Preisniveaus. Nur auf Grund dieser Eigenschaft kann etwas die Funktionen
des Geldes als Tauschmittel und Wertmaß in befriedigender Weise erfüllen.
Nun ist das Preisniveau, bez chungsweise das Wertverhältnis zwischen
dem Geld und den Gütern oder die Kaufkraft des Geldes, wie man weiß,
nicht nur durch Umstände, die auf der Geldseite liegen, sondern auch
durch Umstände, die auf Seite der Güter liegen, bedingt, nämlich, wenn
wir den Bedarf — was wir praktisch tun können — als konstant annehmen,
von der Menge der produzierten und umgesetzten Güter. Wenn
auf der Geldseite alles gleich bleibt, so steigt oder sinkt das Preisniveau
beziehungsweise sinkt oder steigt die Kaufkraft des Geldes, wenn die
Menge der produzierten und umgesetzten Güter in der Volkswirtschaft
sinkt oder steigt; mit einer einzigen später noch zu erwähnenden Aus-
nahme. (Kapitalbildnng und Kapitalumsatz.) Aber in normalen Zeiten,
bei ruhiger Entwicklung kann man auch die produzierten und umgesetzten
Gütermengen als konstant oder als gleichmäßig allmählig wachsend
ansehen, so daß auch durch diesen Faktor die Betrachtung nicht wesent-
lich kompliziert wird. Wenn also auf der Geldseite alles gleich bliebe,
so müßte das Preisniveau im Laufe der Zeit ebenfalls gleich bleiben
oder — bei fortschreitender Entwicklung — allmählig und gleichmäßig
sinken, die Kaufkraft des Geldes demgemäß gleich bleiben oder allmählig
und gleichmäßig steigen. Wenn in der letzten Zeit vor dem Kriege ein
Steigen des Preisniveaus und ein Sinken der Kaufkraft des Geldes in Er-
404 Alfred Amonn.
scheinung trat, so ist dies, da man nicht annehmen kann, daß die produ-
zierte und umgesetzte Gütermenge abgenommen hat, und auch keine
Anzeichen von eingetretenen Änderungen in der Richtung von Kapital-
bildung und Kapitalumsatz vorliegen, offenbar darauf zurückzuführen,
daß auf der Geldseite Veränderungen eingetreten sind, welche diese
Veränderung des Wertverhältnisses zwischen dem Geld und den Gütern
verursacht haben.
Auf der Geldseite kommen nun folgende Faktoren als für dieses
Wertverhältnis bestimmend in Betracht: Erstens die Geldmenge und
ihre Umlaufgeschwindigkeit und zweitens der ungedeckte, das heißt der.
nicht auf Geldguthaben basierte Kredit.')
Wir können die Geldmenge multipliziert mit der Umlaufsgeschwindig-
keit und die Verwendung von ungedeckten Krediten zusammen die
„nominale Kaufkraft‘ nennen, die Menge der produz’erten und umge-
setzten, beziehungsweise der gekauften Güter als die „gesamte reelle
Kaufkraft“ der Volkswirtschaft bezeichnen. Die reelle Kaufkraft der
- Geldeinheit ist dann gleich dem Quotienten aus der Gesamtheit der
reellen Kaufkraft durch die gesamte nominelle Kaufkraft. Wenn die
nominelle Kaufkraft wächst, während die gesamte reelle Kaufkraft gleich
bleibt, dann sinkt notwendig die reelle Kaufkraft, das heißt der „Wert“
der Geldeinheit. Die nominelle Kaufkraft aber wächst, wenn die
Geldmenge vermehrt wird, die Umlaufsgeschwindigkeit steigt oder der
Kredit „angespannt“ wird — die Inanspruchnahme von gedecktem Kredit
im obigen Sinne bedeutet eine Vergrößerung der Umlaufsgeschwindigkeit —
und zwar wenn einer oder mehrere von diesen drei Umständen eintreten,
ohne daß eine kompensierende Gegenwirkung von Seite eines anderen
der dreien stattfindet. Es ist vom Standpunkte der Theorie aus (hypothe-
tisch) anzunehmen — statistische Erhebungen würden dies höchstwahr-
scheinlich bestätigen —, daß die „Teuerung“ vor dem Kriege zurück-
zuführen ist auf eine Vergrößerung der gesamten nominalen Kaufkraft
bei Gleichbleiben der gesamten realen Kaufkraft oder auf eine über die
Steigerung der gesamten realen Kaufkraft (produzierten und umgesetzten
Gütermenge) hinausgehende Steigerung der nominellen Kaufkraft, die
1) Soweit es sich um kreditierte Geldsummen oder um durch solche Geldsummen
gedeckte Kredite handelt, kommen sie natürlich nicht neben den Geldsummen und
ihrer Umlaufsgeschwindigkeit selbständig in Betracht.
~ P T
-
Das Ziel der Währungspolitik. 405
wahrscheinlich durch eine gleichgerichtete Veränderung aller jener drei
Faktoren: Geldmenge, Umlaufsgeschwindigkeit und Kreditanspannung
bedingt war.')
t) Daß der Tauschwert oder die Kaufkraft des Geldes abhängig ist von der
umlaufenden Geldmenge, wird von keinem ernsten Theoretiker bezweifelt, daß er
ausschließlich bedingt ist durch die Geldmenge (der Standpunkt der ursprünglichen,
naiven Quantitätstheorie) wird von keinem ernstlich behauptet. Schon die Klassiker
(siehe John Stuart Mill) kombinierten die Geldmenge mit der Umlaufsgeschwindig-
keit und dem Kredit und erfaßten damit alle den Geldwert bestimmenden Faktoren.
Die Quantitätstheorie in diesem modernen, wenn auch keineswegs neuen Sinn, ist
tatsächlich zwar ebenfalls angefochten, aber niemals wirklich widerlegt worden.
Der Haupteinwand gegen sie ist der, daß die Annahme des ceteris paribus hier nicht
zulässig sei, das heißt, daß mit der Veränderung eines jener drei Faktoren in der
Regel oder notwendig sich auch die anderen, und zwar keineswegs mit gleich-
gerichteter Wirksamkeit sich ändern, daß also zum Beispiel mit einer Vermehrung
der Geldmenge in der Regel oder notwendig die Umlaufsgeschwindigkeit sinke oder
insbesondere mit der Anspannung des Kredites in der Regel oder notwendig die Pro-
duktion und der Umsatz zunehme. Soweit dies „für die Regel‘‘ behauptet wird, ist
es gar kein Einwand gegen die Theorie, sowenig wie die Tatsache, daß beim Fall in
in der Regel der Luftwiderstand eine die Wirkung nach dem Fallgesetz teilweise
kompensierende Gegenwirkung auslöst, oder gar, daß man in gewissen Fällen (Luft-
auftrieb) eine entgegengesetzte Wirkung beobachtet, ein Einwand gegen das Gesetz
des freien Falles ist. Soweit es sich um die Behauptung eines notwendigen der-
artigen Zusammenhanges handelt, ist diese in keiner Weise begründet oder er-
wiesen. Eine Vermehrung der Geldmenge oder eine stärkere Anspannung des Kre-
dites kann wohl eine Verringerung der Umlaufsgeschwindigkeit oder eine Steigerung .
der Produktion — durch Finanzierung neuer Unternehmungen — in der Volkswirt-
schaft auslösen, muß dies aber keineswegs. Sie kann ebenso gut — das ist ja auch
durch Tatsachen bestätigt — von einer Steigerung der Umlaufsgeschwindigkeit und
einer Verringerung der Produktion begleitet sein. Es kommt da ganz darauf
an, auf welche Weise die Geldvermehrung erfolgt. Auch eine Einschränkung des
Kredites muß keineswegs eine erhöhte Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes im Gefolge
haben, wenn sie dies auch häufig im Gefolge hat, oder man annehmen will, — was
in der Wirklichkeit gar nicht zutrifft, — daß sie es in der Regel im Gefolge haben
wird. Alle anderen Einwände gegen die Quantitätstheorie gehen entweder auf ein
mangelhaftes Verständnis ihres Wesens oder eine mangelhafte Formulierung ihres
Sinnes, der allerdings noch recht klärungsbedürftig ist, hinaus. Vor allem empfiehlt
es sich für jene weitläufige Kombination von Geldmenge, Umlaufgeschwindigkeit
und Kredit den Begriff der „nominalen Kaufkraft“ einzuführen und diesen streng
von dem Begriff der „reellen“ Kaufkraft zu trennen. Es ist offenbar — mit einer
allerdings wichtigen Einschränkung —, daß die gesamte nominelle Kaufkraft
.sich mit der gesamten reellen Kaufkraft decken muß, und ebenso klar ist
dann, daß die reelle Kaufkraft der Einheit gleich ist dem Quotienten aus
`
406 | Bu Alfred Amonn.
Aus diesen Zusammenhängen geht hervor, daß durch eine blosse, den
voraussehbaren Veränderungen auf der Güterseite angepaßte Re-
gulierung des Geldumlaufes. und der Kreditgewährung die
Kaufkraft des Geldes bis zu einem hohen, praktisch ausreichenden Grade
‚stabil erhalten werden kann und hier liegt die hauptsächliche Aufgabe
der Währungspolitik.
- der gesamten nominellen Kaufkraft und der gesamten reellen Kaufkraft. Daraus
‚folgt nun die Notwendigkeit, daB mit dem Steigen der nominellen Kaufkraft bei
Gleichbleiben der gesamten reellen Kaufkraft die reelle Kaufkraft der Einheit ent-
sprechend, das heißt genau proportional sinken, das Preisniveau demnach sich
entsprechend erhöhen muß. Aber auch die einzelnen Preise müssen mit der Ver-
mehrung der gesamten nominellen Kaufkraft in einem ganz bestimmten, wenn auch
-nicht gleichmäßigen Verhältnis steigen. In dieser Beziehung kommt es darauf an,
wie die zusätzliche nominelle Kaufkraft verwendet wird, ob mit ihr vorwiegend Arbeit
oder Arbeitsprodukte, oder Boden, beziehungsweise Bodenprodukte gekauft werden.
Wenn zum Beispiel die durch die zusätzliche nominelle Kaufkraft hervorgerufene
neue Nachfrage sich vorwiegend oder ausschließlich auf Arbeit (Dienstleistungen)
oder Ardeitsprodukte richtet, dann wird die gesamte Steigerung des Preisniveaus
eben vorwiegend oder ausschließlich eine Steigerung der Preise für Arbeitsleistungen
oder Arbeitsprodukte bedeuten. Wenn die zusätzliche nominelle Kaufkraft vor-
wiegend oder ausschließlich zum Ankauf von Boden oder Bodenprodukten verwendet
wird, dann wird die Preissteigerung vorwiegend oder ausschließlich diese Güter
betreffen. Die Preissteigerung dieser Güterkategorien wird dann überproportional
sein. Je nachdem also die neue Nachfrage mehr nach Boden oder Arbeit geht, wird
der Preis der Boden- und Arbeitsprodukte im verschiedenen Maße steigen und der
Preis der Produkte, welche zugleich Boden- und Arbeitsprodukte sind, wird in einem
dem Verhältnis, welches die Boden- und Arbeitskosten bei ihnen einnehmen, ent-
sprechend verschiedenem Grade steigen. In der Praxis wird hier wohl meist ein Aus-
- gleich sich vollziehen, so daß eine Veränderung zwischen Bodenwert und Arbeits-
wert nicht festzustellen und somit eine gleichmäßige und dann annähernd propor-
tionale Steigerung aller Preise zu konstatieren sein wird. Die erwähnte Einschränkung
bezieht sich nun darauf — und das ist die oben erwähnte Ausnahme — daß ein Teil
der nominellen Kaufkraft nicht zum Umsatz von Gütern, sondern zum Umsatz von
Schuldverschreibungen und fremden Geldsorten (,‚Effekten‘ und ‚„Valuten‘‘) — auch
der Umsatz von Anteilscheinen von Unternehmungen und von Grund und Boden
spielt eine hier nicht näher zu beschreibende Rolle — dient, die entweder überhaupt
nicht oder nicht streng unter jenem Begriff der realen Kaufkraft gedacht werden
können, und dieser Teil der nominellen Kaufkraft ist heute unverhältnismäßig groß.
Vgl. Wiesers Unterscheidung von Nominal- und Realeinkommen in dem der Wiener
Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik im Jahre 1909 erstatteten Bericht
über den Geldwert. Siehe Schriften des Vereins für Sozialpolitik. Bd. 132, 1910,
S. 516 ff.
Das Ziel der Währungspolitik. 407
2.
Das Ziel der Erhaltung der Stabilität der Kaufkraft des Geldes als
oberstes Ziel der Währungspolitik ist natürlich nichts Selbständiges, in
sich selbst Begründetes, sondern findet selbst seine Begründung in einem
höheren, allgemeineren volkswirtschaftspolitischen Ziel, als Mittel zu
ihm. Dieses höhere, allgemeinere volkswirtschaftspolitische Ziel ist die
Aufrechterhaltung eines ungestörten Gleichgewichtes, beziehungsweise
einer ungestörten Entwicklung der Volkswirtschaft (dieses wieder als
Mittel zum höchsten, weiter nicht mehr begründbaren, sondern nur vor-
ausgesetztem Ziel der Volkswirtschaftspolitik, der größtmöglichen
wirtschaftlichen Wohlfahrt der Wirtschaftenden).:)
Jede Veränderung der Kaufkraft des Geldes, beziehungsweise des
Preisniveaus zieht weitgreifende wirtschaftliche und soziale Veränderungen .
der verschiedensten Art nach sich. S’e macht vor allem jede genaue Kosten-
und Ertragsberechnung unmöglich und verhindert dadurch die wirt-
schaftlichste Gestaltung der Produktion. Sie verändert ferner die realen
Erträge und Einkommen der einzelnen Privatwirtschaften, führt dadurch
zu Gehalt- und Lohnkämpfen, zu Streiks und Aussperrungen, stört so den
ruhigen Fortgang der Produktion, verursacht Kapitalszerstörungen,
veranlaßt zu Kapitalsverbrauch und vermindert auf diese Weise für die
Gegenwart und Zukunft die Produktivität der Gesamtwirtschaft und
de Konsunt’onsmögl'chkeiten des größten Teiles der Privatwirtschaften.
S'e kann in weiterer Folge zu schweren sozialen Kämpfen, zu Ausschreitungen
und zum Umsturz und schließlich zur Vernichtung nicht nur der wirt-
schaftlichen, sondern auch der polit'schen Existenz eines Gemeinwesens
führen.
Es macht hiebei im Wesen keinen Unterschied, ob es sich um ein
Steigen oder um ein Sinken der Kaufkraft des Geldes handelt. Ja, ein
1) Volkswirtschaftspolitik ist ein System von Mitteln und Zielen. Ein
solches setzt ein oberstes Ziel voraus, von dem alle anderen abhängen und dem
gegenüber alle anderen Mittel sind. Dieses oberste Ziel ist selbst nicht erkenntnis-
mäßig begründbar, es wird vom Willen gesetzt und von unserem Erkenntnisstreben
lediglich vorausgesetzt, wohl aber sind unter Voraussetzung eines solchen obersten
Ziels alle anderen als Mittel begründbar. Aufgabe der Wissenscha't von der Volks-
wirtschaftspolitik ist, dieses System der Ziele und Mittel unter Voraussetzung jenes
obersten Ziels auf Grund der Erkenntnis der allgemeinen Kausalzusammenhänge
der wirtschaftlichen Tatsachen (Wirtschaftstheorie) in widerspruchsloser Weise zu
entwickeln.
408 Alfred Amonn.
andauerndes Steigen des Geldwertes kann insofern noch verderblicher
wirken als ein Sinken, weil jenes eine Zerstörung des Unternehmerkapitals,
während dieses nur eine Zerstörung des Rentnerkapitals nach sich zieht.
Es kann höchstens die Frage entstehen, ob bei normaler fortschreitender
Entwicklung der Volkswirtschaft ein dem Fortschritt entsprechendes
Steigen des Geldwertes und Sinken des Preisniveaus nicht für die Volks-
wirtschaft besser ist als eine mit der Entwicklung der Produktion Hand
in Hand gehende Vergrößerung der nominalen Kaufkraft, die bei gleich-
bleibenden Preisen zu höheren Geldeinkommen und damit auch Real-
einkommen führt. (Für jenes spricht die Erwägung, daß dadurch Lohn-
bewegungen, die immer mit Produktionsstörungen verbunden sind, .ver-
mieden werden können.) Dies ist jedoch eine Frage von untergeordneter
Bedeutung. Abgesehen von diesem Fall unterliegt die verderbliche
Wirkung von Geldwertsteigerungen, insbesondere künstlich herbeige-
führten Geldwertsteigerungen keinem Zweifel.
Die Entwicklung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts
vollzog sich, was den Geldumlauf anbetrifft, in den Goldwährungsländern
in der Weise, daß diese: in einer dem Fortschritt der Wirtschaft ent-
sprechenden Weise sich vergrößerte, so daß das Preisniveau zu Ende
des vorigen Jahrhunderts dasselbe war wie um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts. Der Fortschritt kam nicht in einer „Verbilligung‘‘ der Güter,
sondern in einer Vergrößerung der Geldeinkommen bei gleichbleibenden
Preisen (was ebenfalls eine Vergrößerung der Realeinkommen bedeutet)
zum Ausdruck. In der letzten Zeit vor dem Kriege ist dann die nominelle
Kaufkraft anscheinend stärker gestiegen als die Produktivität der Volks-
wirtschaft und dies hat zur damals viel beklagten ‚Teuerung‘ geführt, soweit
diese nicht aus der normalen Konjunkturbewegung, deren Wirkung auf
die Preise zum Teil gewiß ebenfalls in einer Vergrößerung der nominellen
Kaufkraft, insbesondere durch Kreditanspannung ihre Ursache hat,
erklärt werden kann.') |
1) „Teuerung“ bedeutet an sich nichts anderes als Sinken der reellen Kauf-
kraft der Geldeinheit. Damit muß keineswegs eine Erschwerung der Lebenshaltung
oder ein Sinken des Lebensniveaus verbunden sein. Der Lebensstandard kann voll-
stindig derselbe bleiben, wenn die ‚Teuerung‘ lediglich aus einer Vergrößerung
der nominellen Kaufkraft (bei Gleichbleiben der reellen Gesamtkaufkraft) entspringt.
Ja, es kann mit einer „Teuerung“ in dem gewöhnlich verstandenen Sinn einer all-
gemeinen Preissteigerung sehr wohl auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen
Hand in Hand gehen. Dies ist der Fall, wenn die reelle Gegamtkaufkraft ebenfalls
Das Ziel der Währungspolitik. 409
Jene, mit der Steigerung der Produktivität parallelgehende Steigerung
der nominellen Kaufkraft war aber nicht das Ergebnis einer bewußt
darauf abzielenden Währungspolitik, sondern die Folge des zufälligen
Umstandes, daß die Goldproduktion in demselben Grade stieg wie die
Produktion der übrigen Güter. Dadurch blieb das Austauschverhältnis
zwischen Gold und den übrigen Gütern — da sich auch eine Verschiebung
im Bedarfsverhältnis nicht vollzog, — unverändert und, da die Geldeinheit
auf Gold basierte und jedes Goldquantum beliebig in eine dem Münzfuß
entsprechende Zahl von Geldeinheiten verwandelt werden konnte, sowie
umgekehrt praktisch jede beliebige Zahl von Geldeinheiten in Gold, be-
deutete die Steigerung der Goldproduktion in einem gleichen Grade eine
Steigerung der gesamten nominellen Kaufkraft. Die Steigerung der nomi-
nellen Gesamtkaufkraft fand so in einem gleichen Verhältnis statt wie
die Steigerung der gesamten reellen Kaufkraft und die reelle Kaufkraft
der Geldeinheit mußte so dieselbe bleiben.
3.
Wenn wir das Ziel der Erhaltung der Stabilität der Kaufkraft: des
Geldes als das oberste Ziel der Währungspolitik bezeichnen, so soll damit
jenem anderen Ziel der Erhaltung eines festen intervalutarischen Kurses
die Bedeutung keineswegs abgesprochen werden. Auch die Erhaltung
eines festen intervalutarischen Kurses kann und muß ein Ziel der Wäh ungs-
politik sein, aber dieses Ziel kann immer erst in zweiter Linie in Betracht
kommen.
Die Bedeutung eines festen intervalutarischen Kurses liegt darin,
daß Schwankungen im Austauschverhältnis zwischen den Geldeinheiten
verschiedener Staaten Störungen des Gleichgewichtes im internationalen
Handel und damit in der internationalen Arbeitsteilung und schließlich
auch in der nationalen Produktion aller Länder, welche unter solchen
Schwankungen leiden, verursachen und auf diese Weise die. Produktivität
der Gesamtwirtschaft mindern und die wirtschaftliche Lage der Privat-
wirtschaften notwendig verschlechtern. Ein Steigen der Kurse der aus-
ländischen Zahlungsmittel, das heißt ein Sinken des Wertes des heimischen
steigt, aber die Vergrößerung der nominellen Kaufkraft stärker ist, als die der ge-
samten reellen Kaufkraft. In diesen Fällen sinkt zwar die reelle Kaufkraft der Geld-
einheit, aber es steigen die nominellen Einkommen in gleichem oder in noch stärkeren
Verhältnis.
410 Alfred Amonn.
Geldes gegenüber dem Gelde anderer Länder steigert die Ausfuhr und
hemmt die Einfuhr, fördert die Exportindustrien auf Kosten der für den
inländischen Absatz arbeitenden Industrien, führt zu Kapitalverschiebungen
und Kapitalverlusten. Ein Sinken des Kurses der ausländischen Zahlungs-
mittel, das heißt ein Steigen des Wertes des heimischen Geldes gegenüber
dem Gelde anderer Länder hemmt die Ausfuhr und fördert die Einfuhr,
führt zu Krisen in den Exportindustr:en durch Einschränkung der Absatz-
möglichkeiten und auch in den für den Inlandabsatz arbeitenden Industrien
durch die verstärkte Konkurrenz des Auslandes. Die Wirkungen von
Veränderungen des intervalutarıschen Kurses sind also dem Wesen
nach nicht verschieden von denen von Veränderungen der
nationalen Kaufkraft des Geldes, nur dem Grade nach. Deshalb ist das
Ziel der Erhaltung eines festen intervalutarischen Kurses auch nicht
von geringerer Wicht'gkeit, wenn es seiner Natur nach auch erst an zweiter
Stelle in Betracht kommen kann.
Dem Ziel der Erhaltung der Stabilität der Kaufkraft des Geldes muß
aus verschiedenen theoretischen und praktischen Gründen vor dem
der Erhaltung eines festen intervalutar.schen Kurses der Vorrang ein-
geräumt werden. Vor allem ist die Verfolgung dieses Zeles durch die
nationale Währungspolitik eines einzelnen Staates praktisch überhaupt
nicht möglich, sondern hängt seine Erreichung durchaus von dem währungs-
politischen Verhalten aller der verschiedenen Staaten ab, denen gegenüber
der intervalutarische Kurs stabilisiert werden soll. Die Währungspolitik
eines Staates kann sich nur dann auf die Erhaltung eines festen inter-
valutarischen Kurses als Ziel einstellen, wenn die Währungspolitik der
anderen in Betracht kommenden Staaten dies erlaubt. Ferner würde
durch eine Stabilisierung des intervalutarischen Kurses ohne Stabilisierung
der Kaufkraft wohl zwar eine Störung des internat‘onalen Handels mit
seinen Folgen vermieden werden, aber es würden jene noch schlimmeren
Folgen der Zerrüttung der ganzen Wirtschaft und eines schließlichen
Zusammenbruches, die fortwährende Veränderungen der Kaufkraft nach
sich ziehen, nicht hintangchalten werden können. Wenn wir uns eine
internationale Währungsorganisation denken, welche das Geldwesen in
allen sie umfassenden Ländern nach den Grundsätzen, welche gegenwärtig
in Deutschland oder Österreich oder in Polen und in SowjetruBland in
Anwendung stehen, verwalten würde, so würde zwar leicht ein fester
intervalutarischer Kurs in allen diesen Ländern hergestellt werden können,
ee ee Oe a aa
Das Ziel der Währungspolitik. 411
aber die Folgen einer derartigen Verwaltung des (reldwesens würden
natürlich in allen diesen Ländern genau dieselben sein, wie sic es in Rußland
oder Polen oder in Österreich und in Deutschland sind oder sein werden.
Umgekehrt kann ein Land, welches nicht gerade in einem au8ergewohn-
lichen Masse in wirtschaftlicher Beziehung vom Auslande abhängig ist,
bei Erhaltung der Stabilität der nationalen Kaufkraft des Geldes seine
Volkswirtschaft wenigstens vor dem Äußersten, einer vollkommenen
Zerrüttung und dem Zusammenbruch bewahren. Endlich schließt die
Erreichung des Zieles de: Stabilisierung der Kaufkraft des Geldes in den
verschiedenen Ländern die Erreichung jenes anderen Zieles der Stabili-
sierung des intervalutarischen Kurses zugleich in sich, das heißt diese
würde sich gleichzeitig von selbst einstellen, wenn die nationale Kaufkraft
des Geldes in den verschiedenen Ländern stabilisiert wäre, und zwar in
einem Verhältn's, welches eben dem Verhältnis der Kaufkraft der ver-
schiedenen Geldeinheiten in den verschiedenen Ländern entspricht (Kauf-
kıaftparität).
Nichtsdestoweniger wird doch das Ziel der Erhaltung eines festen
intervalutarischen Kurses in der Praxis in der Regel eine gewisse selb-
ständige Rolle neben jenem der Erhaltung einer festen Kaufkraft des
Geldes spielen und spielen müssen und zwar aus folgendem Grund: Das
Problem der Stabilisierung der Kaufkraft des Geldes ist nämlich praktisch
in absolut vollkommener Weise nicht lösbar. Wenn sich auch eine diesem
Ziele noch besser genügende Geldorganisation denken läßt, als es die
Goldwahrung der Vorkriegszeit war, so läßt sich doch ke’ne so vollkommene
Geldorganisation denken, durch welche die Bewegung des Geldumlaufes
. In vollkommener Parallellität (oder Proportionalität) zur Bewegung der
Giterproduktion und des Güterumsatzes gehalten werden könnte. Auch
wäre dies aus kredit- und produktionspolitischen Gründen n’cht immer
zweckmäßig. Es werden deshalb immer gewisse Schwankungen der Kauf-
kraft des Geldes stattfinden, und diese Schwankungen würden sich in
den verschiedenen Ländern in verschiedener Weise und in verschiedenem
Grade vollziehen, wenn nicht durch besondere währungspolitische Vor-
kehrungen ein fester intervalutarischer Kurs zwischen ihnen hergestellt
wird, vermittelst dessen ein Ausgleich in diesen Schwankungen der Kauf-
kraft der Geldeinheiten in den verschiedenen Ländern nach der Richtung
hin stattfindet, daß sich diese nun überall in derselben Richtung und in
ungefähr gleichem Grade vollziehen. Dies wurde zum Beispiel durch die
412 ‚Alfred Amonn.
Gioldwahrungen in den verschiedenen Ländern in Verbindung mit der
Diskont- und Devisenpolitik der Zentralnotenbanken in der Vorkriegszeit
erreicht. Die Erhaltung eines festen intervalutarischen Kurses hat somit
einen doppelten Sinn: Erstens den der Verhinderung von Störungen im
internationalen Handelsverkehr und zweitens den der Bewirkung eines
Ausgleiches in den unvermeidlichen Schwankungen der Kaufkraft der
Geldeinheiten in den verschiedenen Ländern.
Von da aus wird es nun verständlich, daB die währungspolitischen
Maßnahmen und Bestrebungen der Vorkriegszeit scheinbar im Gegensatz
zur primären Bedeutung, die der Stabilisierung der Kaufkraft des Geldes
zukommt, ausschließlich die Erhaltung der Stabilität des intervalutarischen
Kurses zum Ziele hatten. Durch die Goldwährung war nämlich zufolge
der gleichen Schritt mit der Steigerung der Produktion und des Umsatzes
‘von Gütern haltenden Goldvermehrung die Stabilität der Kaufkraft
in einem praktisch ausreichenden Grade von selbst gesichert. Die Währungs-
politik hatte also weiter keine Veranlassung sich mit dieser Aufgabe in
besonderer Weise zu befassen. Sie konnte ihr Streben ausschließlich auf
die Erhaltung des festen intervalutarischen Kurses richten. Soweit
Schwankungen in der Kaufkraft des Geldes vorkamen, standen sie im
Zusammenhange mit im Interesse der Entwicklung der Produktion ge-
legenen kreditpolitischen Maßnahmen.
Ja, es zeigt sich hier sogar, daß das Ziel der Stabilisierung der Kauf-
kraft bis zu einem gewissen — natürlich sehr beschränktem — Grade,
im Interesse solcher kredit- und produktionspolitischer Ziele gegenüber
dem Ziele der Stabilisierung des intervalutarischen Kurses vernachlässigt
werden kann und muß. Die Entwicklung der Volkswirtschaft setzt nämlich
- vielfach die Finanzierung neuer Unternehmungen durch ungedeckten
‘Kredit, das ist also durch neugeschaffene nominelle Kaufkraft, beziehungs-
weise Vermehrung der gesamten nominellen Kaufkraft bei vorläufig
sleichbleibender reeller Gesamtkaufkraft voraus. Diese Vermehrung
der nominellen Kaufkraft bei gleichbleibender reeller Gesamtkaufkraft
muß notwendig eine Preissteigerung zur Folge haben, bis durch die auf
diesem Wege bewirkte Steigerung der Produktion, durch die gesteigerte
Menge der produzierten und umgesetzten Güter die neugeschaffene Kauf-
kraft wieder absorbiert und dadurch die frühere reelle Kaufkraft der Geld-
einheit wieder hergestellt wird.
ke OEE ENGE
Das Ziel der Währungspolitik. 413
4.
Es ist für jeden wirklichen Fachgelehrten natürlich überflüssig, aber
im Hinblick auf den in unserer Wissenschaft so verbreiteten und sich.
gerade auf dem (rebiete der Währungspolitik so gerne auslebenden fach-
wissenschaftlichen Dilettantismus leider notwendig, ausdrücklich hervor-
zuheben, daß es für die Wirtschaft völlig gleichgültig ist, welches der
dauernde Stand der Kaufkraft der Geldeinheit und des intervalutarischen
Kurses ist, ob die Kaufkraft der Geldeinheit 1m absoluten Sinne groß
oder klein und der Kurs der ausländischen Geldeinheiten hoch oder niedrig
ist. Es hat überhaupt nur einen relativen Sinn, zu sagen, der Kurs der
ausländischen Geldeinheiten ist „hoch“ oder „niedrig“, beziehungsweise der
Kurs der inländischen Geldeinheit im Auslande ist „niedrig“ oder „hoch“,
nämlich im Hinblick auf einen früheren Stand und auf den Kurs
einer anderen Einheit. Ebenso hat es auch nur relative Bedeutung, zu
sagen, die Kaufkraft der Einheit, zum Beispiel der Krone oder der Mark
ist „groß“ oder „klein“, nämlich wieder im Hinblick auf einen früheren
Stand oder gegenüber der Kaufkraft einer anderen Einheit. So ist zum
Beispiel der intervalutarische Kurs der Mark gegenüber dem Vorkriegs-
stande und den Geldeinheiten der neutralen Staaten ‚niedrig‘, dagegen
gegenüber dem Kurs der österreichischen Krone der Gegenwart „hoch“
und die Kaufkraft der Mark und der Krone gegenüber dem Stande der
Vorkriegszeit sowie gegenüber der der Einheiten der neutralen Staaten
gering, gegenüber der der Einheiten Polens oder Rußlands aber wieder
außerordentlich hoch. Es besagen aber diese Ausdrücke nicht das Geringste
weder in Bezug auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes über-
haupt, noch auch in Bezug auf die Währungsverhältnisse im Besonderen.
Es macht an sich zum Beispiel für die Wirtschaft eines Landes, noch auch
für die wirtschaftliche Lage seiner Bewohner nicht den geringsten Unter-
schied, ob ein bestimmtes Normalbudget mit hundert Geldeinheiten (Kronen
oder Mark) oder mit tausend Geldeinheiten (Kronen oder Mark) bestritten
werden kann, oder ob dazu 10.000 oder 100.000 Geldeinheiten (Kronen oder
Mark) oder sogar eine Million Geldeinheiten (Kronen oder Mark) notwendig
sind und ob das Verhältnis beispielsweise zwischen der inländischen Geld-
einheit (Krone) und dem Frank 1 : 1-05 oder 1 : 0-05 oder gar 1 : 0-005 ist.
Was von Bedeutung ist, ist lediglich die Bewegung, das Steigen oder
Fallen, nicht der Stand. Das wirtschaftliche Leben kann sich durch-
aus in der gleichen Weise abspielen und die wirtschaftlichen Ver-
414 Alfred Amonn.
hältnisse können sich durchaus in der gleichen Weise gestalten, welches
immer der Stand der Kaufkraft der Geldeinheit und ihres inter-
valutarischen Kurses ist. Es kommt lediglich darauf an, daß dieser Stand
ein dauernder ist. Es ist eine durchaus la'enhafte Anschauung, daß eine
Hebung der Kaufkraft der Geldeinheit und ihres intervalutarischen Kurses
auf ein höheres Niveau an sich für die Wirtschaft als Ganzes oder für die
Wirtschaftsubjekte als Gesamtheit irgendeine Verbesserung bedeuten
würde, wenn es auch selbstverständlich ist, daß sie für gewisse Klassen
von Wirtschaftssubjekten eine solche in einem sehr beschränkten Sinn
bedeuten kann. Denn es kann natürlich in einer Volkswirtschaft niemals
mehr konsumiert werden als produziert wird, beziehungsweise mit dem
Produzierten von anderen Volkswirtschaften eingetauscht wird und es
kann bei jedem Stande der Kaufkraft der Geldeinheit und des intervaluta-
rischen Kurses das gesamte Produkt der Volkswirtschaft, beziehungsweise,
was damit von anderen Volkswirtschaften gekauft wird, konsumiert
werden. Es kann natürlich auch von anderen Volkswirtschaften, ab-
gesehen von der Ausnützung von Krediten oder Kapitalsanlagen, einerseits —
zumindest auf die Dauer — nie mehr gekauft werden, als dem inter-
nationalen Wert des Produktes entspricht, welches nıan zum Austausche
bestimmt hat, und anderseits kann bei jedem Stande des intervalutarischen
Kurses soviel vom Auslande gekauft werden. Es ist also — ganz abge-
sehen davon, daß eine währungspolitische Hebung der Kaufkraft der Geld-
einheit und ihres intervalutarischen Kurses auf ein höheres Niveau
Störungen im Außenhandelsverkehr und in der Produktion nach sich
ziehen würde, welche eine Verringerung des Gesamtproduktes und damit
notwendig eine Senkung der Realeinkommen zur weiteren Folge haben
würden, — ganz unmöglich, daß eine blosse Hebung der Kaufkraft der
Geldeinheit und ihres intervalutarischen Kurses durch währungspolitische
Maßnahmen irgendeine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse
eines Landes und der wirtschaftlichen Lage seiner Bewohner mit sich
bringen könnte. Zu jener Klasse von Wirtschaftssubjekten, welche tat-
sächlich davon einen Vorteil haben würden, würde auch in keinem Falle
die breite Masse der Bevölkerung oder der „Arbeiter“ gehören, sondern
nur eine ganz dünne Schichte von Geldkapitalisten und Rentnern. Es
ist sogar klar, daß das, was die geldbesitzenden, beziehungsweise unver-
änderliche Ansprüche auf feste Geldeinkommen besitzenden Klassen der
Wirtschaftssubjekte an realem Einkommen durch eine rein währungs-
Das Ziel der Währungspolitik. 415
politische Hebung des Geldwertes gewinnen würden, die anderen Schichten
der Bevölkerung — und dazu würde insbesondere die große Masse der
Arbeiter gehören — auf dem Wege einer Reduzierung ihrer Nominal-
einkommen verlieren müßten; denn es kann, wenn von einem gleich-
gebliebenen Realprodukt der Volkswirtschaft ein größerer Teil als Z'ns-
und Rente an die geldbesitzenden oder unveränderliche Ansprüche auf
festeGeldeinkommen besitzenden Klassen fließt, natürlich nur ein geringerer
Teil für die anderen Klassen, insbesondere für die Arbeiter übrig
bleiben. Eine währungspolitische Hebung der realen Kaufkraft
der Geldeinheit kann sich nur im Wege einer entsprechenden Ver- |
minderung der nominalen Kaufkraft vollziehen und diese müßte nowendig
einemindestens entsprechende Verminderung der nicht feststehenden
Nominaleinkommen zur Folge haben.
Das sind alles längst bekannte, bereits in den Schriften der Klassiker
enthaltene elementare Wahrheiten der theoretischen und angewandten
Volkswirtschaftslehre und keine in irgend welcher Beziehung neue Er-
kenntnisse oder Einsichten. Ein Fachgelehrter sollte daher heutigen
Tages nicht behaupten!) daß
„unser Wertmesser oder Geld es uns nicht ermöglicht, Kohle, Baum-
wolle, Nahrungsmittel usf., obwohl abgabebereite Überschußgebiete
vorhanden sind, zu einem für Industrie und Einzelwirtschaft erträg-
lichen Preise einzukaufen‘,
oder daß
„wir vom Tauschverkehr der Weltwirtschaft insolange so gut wie
ausgeschaltet sind, als wir des geeigneten Tauschmittels entbehren“,
wobei unter „geeignetes Tauschmittel‘ ein höherwertiges Geld verstanden
werden soll; ferner daß
ohne eine Hebung der Krone auf das Niveau von 4—5 Schweizer
Centimes eine Rettung der österreichischen Volkswirtschaft ausge-
schlossen sei,
daß
„jedes Zurückbleiben unter diesem Niveau eine finanzpolitische Un-
möglichkeit bedeutet, eine auf solcher Grundlage unternommene
Währungsaktion ein Schlag ins Wasser, d'e hierauf verwendeten
1) Vgl. Emanuel Hugo Vogel, Stabilisierung oder Valutahebung als Ziel der
Währungsreform, auf S. 303 ff dieses Bandes.
416 Altred Amonn.
Ententekredite ein nutzloses Opfer darstellen ...... jeden Wieder-
aufbau der gesamten Volkswirtschaft Österreichs für die Zukunft
ausschließen und das heute zu beobachtende unrettbare Herab-
gleiten unserer Wirtschaft für nur ganz kurze Zeit aufhalten würde“;
daß weiter insbesondere
„die Stabilisierung auf dem gegenwärtigen Niveau die Möglichkeit
eines künftigen, geordneten Wiederaufbaues nicht gestatten würde“,
daß |
eine solche „Stabilisierung zum heutigen oder einem anderen
-unverhaltnismaBig niedrigen Kurse eine Stabilisierung der latenten
Wirtschaftskrise für den Großteil der erwerbenden Bevölkerung wäre“
und daß
durch einen fortdauernden derartigen ,,Tiefstand der Krone zugleich
Wiederaufbau und Konsumkraft der Bevölkerung völlig aller
Zukunftshoffnungen beraubt werden‘.
Man sollte weiter nicht behaupten, daß erst
„das genannte Niveau den verlustlosen Handel mit den Nachbar-
staaten ermögliche, ..... unsere volle Tauschfähigkeit ohne Kurs-
verluste beim Importe nicht nur im Verhältnis zu Deutschland,
sondern auch zu den übrigen Nationalstaaten herstelle und uns zu
einem, unter den übrigen Staaten mit stark entwerteter Valuta
gleichwertigen Partner mache und nur dann die alten Fäden des
Wirtschaftsverkehres zwischen den verschiedenen Ländergebieten
der ehemaligen Monarchie wiederangeknüpft, die Verbindung wirt-
schaftlich voll wiederhergestellt werden kann“.
Ferner: daß
durch eine Hebung des Geldwertes, beziehungsweise ,,Riickbildung
der Preise die Konsumkraft der heimischen Bevölkerung sofort
gesteigert, die Absatzfahigkeit der Industrie im Inlande verbreitert“
und so eine „allgemeine Erleichterung der Lebenshaltung in den
breiten Massen der Bevölkerung‘ herbeigeführt würde.
Man sollte schließlich auch nicht behaupten, daß
„die Beseitigung des Defizits und der Ausgabenhöhe (im Staats-
haushalt) ohne vorherige ausgiebigeValutahebung ganz unmöglich ist“
und am allerwenigsten, daß
Das Ziel der Währungspolitik. 41%
es sich bei der Frage der „Hebung des Kronenkurses“ um die Frage
der „Herstellung eines tauglichen Zahlunesmittels und Wert-
messers‘‘ handle. 1)
Das sind alles Vorstellungen, wie sie sich wohl der gemeine Mann
aus dem Volke und der provinzielle Journalismus machen kann, die aber
nicht als wissenschaftliche Erkenntnisse vorgetragen werden sollen.
Einem Fachgelehrten sollte doch bekannt sein, daß man Kohle, Baumwolle.
Nahrungsmittel usf. aus dem Auslande nicht mit dem heimischen Gelde
(am allerwenigsten in seiner Eigenschaft als ,, Wertmesser‘‘) kaufen kann,
sondern nur mit Produkten und Leistungen der einheimischen Volkswirt-
schaft oder mit den Erträgnissen ausländischer Kapitalsanlagen oder mit
in ausländischen Valuten gewährten Krediten, beziehungsweise m't den
in ausländischer Währung erstehenden Guthaben aus diesen wichtigsten
Aktivposten der Zahlungsbilanz und daß für alle diese Posten die Höhe
des intervalutarischen Kurses an sich gar keine Rolle spielt, daß als ge-
eignetes Tauschmittel für den Tauschverkehr der Weltwirtschaft niemals
das einheimische Geld mit einem auf einem bestimmten Niveau stehenden
Kurs, sondern nur weltmarktgangige Exportgüter in Frage kommen
1) Auch in anderer Beziehung müssen gegen den Aufsatz, dem die angeführten
Stellen entnommen sind, schwere Bedenken erhoben werden. Vor allem wird die
Stabilisierung des gegenwärtigen Kronenkurses mit einer Stabilisierung des „heutigen
Zustandes (der Volkswirtschaft) und seiner, für die Allgemeinheit schädlichen Folgen“
verwechselt. Bei niemand sollte ein Zweifel darüber bestehen, daß das Charakteristische
des heutigen Zustandes des Geldwesens und die Ursache des heutigen Zustandes
der Volkswirtschaft mit seinen für die Allgemeinheit schädlichen Folgen, soweit sie
das Gelwdesen betreffen, nicht der ‚niedrige‘ Kurs oder Wert des Geldes, sondern
das fortgesetzte Sinken desselben ist. Es ist daher vollkommen unbegründet von
„Nutznießern des niedrigen Kronenkurses“ zu sprechen, oder vom „alljährlichen
Verlust der Volkswirtschaft aus dem Tiefstande des Geldes“ oder von einer
„Stabilisierung der Valuta auf einem den Import zur schweren Verlustquelle
machenden Tiefstande‘“. Ebenso unbegründet ist es, davon zu sprechen, daß „die
Produktionsbedingungen sich verschlechtern‘, wenn die Geldentwertung ,,sprunghafte
Lohnerhöhungen, erhöhte Kohlenpreise und so fort‘‘ im Gefolge hat, oder von „konsum-
politischen Interessen der Bevölkerung‘ im Gegensatz zu produktionspolitischen oder
von einer ,,ungleichen Wirkung des Valutatiefstandes für die Erfolg aussichten
der einzelnen Berufszweige und Erwerbsschichten‘‘ usw. Auch die Ausdrucksweise
Vogels erinnert eher an die eines politischen Agitators als an die eines ernsten wissen-
schaftlichen Forschers. Vgl. oben und a. a. O. S. 315: ,, Die Zeit dieses und des sonstigen
Schiebertums, des parasitären, a la baisse der Volkswirtschaft und der gesamten
übrigen Bevölkerung spekulierenden Glücksrittertums‘“ usw.
Zeitschrift für Volkswirtschafl und Sozialpolilik Neue Folge, 1. Bane 99
418 Allred Amonn.
können, daß ferner zur Rettung der österreichischen Volkswirtschaft
und zu deren Wiederaufbau nichts anderes notwendig ist als die Her-
stellung des Gleichgewichtes im Staatshaushalt, Verzicht auf Ausnützung
der Geldhoheit zu finanziellen Zwecken und ein genügend großer aus-
ländischer Kredit, um das während der Kriegs- und Nachkriegszeit zer-
störte, zugrundegegangene und weggenommene Kapital zu ersetzen; daß
ferner nicht das bestehende Kursniveau der Krone für die Spekulation
vuleo „Glücksgewinner und Valutaschieber™ günstig ist, sondern die
fortwährenden Schwankungen und daß man durch eine ‚allmähliche,
beträchtliche Hebung“ bis zum angeführten Stande dieser Spekulation
nur eine neue höchst erfreuliche Chance geben würde; daß die Gewinn-
möglichkeiten aus dem Geldgeschäfte nicht durch den „niedrigen Stand“,
sondern eben durch die steten Schwankungen bedingt sind und daß ebenso
nicht der „Zustand abnorm niedrigen Kronenwertes‘‘ sondern wiederum
das fortwährende Sinken für gewisse Interessentenkreise eine hohe Ge-
winnstchance und die Möglichkeit rentabler Produktion und Handels-
tätigkeit eröffnet. Es darf ferner keine Schwierigkeiten machen, einzu-
sehen, daß, um ,,den verlustlosen Handel mit den Nachbarstaaten zu
ermöglichen, und unsere volle Tauschfähigkeit ohne Kursverluste beim
Importe herzustellen, und uns zu einem unter den übrigen Staaten gleich-
wertigen Partner zu machen, soweit dies durch eine Reform des Geld-
wesens überhaupt bewirkt werden kann, nichts weiter nötig ist, als eine
Stabilisierung des Geldweıtes. Damit die alten Fäden des Wirt-
schaftsverkehres zwischen den verschiedenen Ländergebieten der ehe-
maligen Monarchie wieder angeknüpft, die Verbindung wirtschaftlich
voll hergestellt werden kann, ist überhaupt nichts weiter nötig als die
Beseitigung der handels- und -verkehrspolitischen Beschränkungen und
Paß- und Zollschikanen. Als Selbstverständlichkeit in Fachkre'sen sollte
ferner gelten, daß durch e’'ne blosse Hebung des Geldwertes, bez chungs-
weise „ Rückbildung der Pre‘se‘ die Konsumkraft „der Bevölkerung‘ nicht
im geringsten geste gert werden kann, die Absatzfah'gkeit der Industrie
im Inlande ke neswegs verbreitert, sondern im Gegenteil durch die ver-
stärkte Konkurrenz des Auslandes nur verringert wird, die Lebens-
haltung der Massen durch die daraus erstehenden Krisenzustände cher
verschlechtert als erleichtert werden muß usw.
Kine wirklich ernste Frage kann höchstens sein, ob cine „Bese t'gune
des Defizits und der Ausgabenhéhe im Staatshaushalt tatsächlich ohne
Das Ziel der Währungspolitik. 419
vorherige ausgiebige Valutahebung ganz unmöglich ist“. Jedoch ist es
ganz hoffnungslos, über diese Frage Klarheit zu gewinnen, wenn man
lediglich die ziffernmäßige Größe der Budgetposten sieht, ohne ihre wirt-
schaftliche Bedeutung zu begreifen. Denn selbstverständlich bedeutet
dieselbe ziffernmäßige Einnahmen- oder Ausgabensumme wirtschaftlich
etwas ganz verschiedenes, je nachdem die Geldeinheit in welcher sie aus-
gedrückt ist 1 oder 5 Centimes darstellt. Wenn man daher annimmt,
wie Vogel tut, daß die bei einem Kronenwerte von 1 Centimes bestehende
ziffernmäßige Steuerbelastung das Höchstmaß darstellt, das bei diesem
Kronenwerte möglich ist, so ist es selbstverständlich ganz ausgeschlossen,
daß dieselbe ziffernmäßige Steuerbelastung bei einem Kronenwerte von
ð Centimes aufrechterhalten und das Defizit einfach durch Reduktion
der ziffernmäßigen Ausgabensumme beseitigt werden könnte.
Damit ist die Frage, ob in der gegenwärt'gen Lage die blosse Stabili-
sierung des Kronenkurses auf dem gegenwärtigen Niveau oder seine Hebung
auf ein beträchtlich höheres Niveau zweckmäßiger ist, gewiß noch keines-
wegs erledigt, aber in keinem Falle ist diese Frage eine Frage der ,,Her-
stellung eines tauglichen Zahlungsmittels und Wertmessers“. Die Taug-
lichkeit eines Zahlungsmittels und Wertmessers ist durchaus keine Frage
eines ziffernmäßig bestimmten Austauschverhältnisses zwischen ihm
und einem ausländischen Zahlungsmittel und Wertmesser, sondern ledig-
lich eine Frage der Stabilität des Austauschverhältnisses zwischen ihm
und den Gütern. Ein Wertmesser und Zahlungsmittel wird seinen Dienst
unter dieser Voraussetzung in vollkommen gleicher Weise erfüllen, ob
sein Austauschverhältnis zum Schwe'zer Franken gleich ist 1 : 1-05 oder
1: 0-05 oder 1 : 0-005. |
Verfehlt ist auch die Vorstellung, daß ein Kurs von 0-01 bis 0°02
Schweizer Franken schon so tief sei, daß eine ,,imminent drohende Gefahr
schließlich völliger Entwertung der auf solchen Tiefstand stabilisierten
Valuta‘‘ immer bestehen bleibe, daß, wenn der „Staat von dieser Grenze
nur um Weniges nach Abwärts gleite, dann das Ende für Alle gekommen
sei“ und daher die Stabilisierung auf einem solchen Niveau ‚nur ein vor-
übergehendes Haltmachen vor dem nahen Abgrund wäre, um beim nächsten
wirtschaftlichen oder staatsfinanziellen Unglück in ihn herabzustürzen‘“,
daß mit einem Wort dieses Niveau dem Nullpunkte schon so nahe se‘,
daß die Gefahr des Herabgleitens auf diesen beständig gegeben wäre.
Es ist dies deshalb eine ganz verfehlte Vorstellung, weil es einen zahlen-
420 Alfred Amonn.
mäßigen Nullpunkt für das Kurswertverhältnis zweier Geldeinheiten
(wie überhaupt für ein „Verhältnis‘‘) nicht gibt. Das Aufhören der Be-
wertung eines Tauschmittels kann in jedem Stadium eines ziffernmäßig
dargestellten Entwertungspi ozesses eintreten. Das ist keine Frage irgend-
eines ziffernmäßigen Verhältnisses zwischen ihm und einem ausländischen
Tauschmittel, sondern ausschließlich eine Frage, wie weit die durch den
Entwertungsprozeß des Tauschmittels verursachte Zerrüttung und Auf-
lösung der Volkswirtschaft gediehen ist. Die Möglichkeit des Aufhörens
der Bewertung ist bei einem Kurse von 1 : 0-05 an sich genau so gegeben
wie bei einem Kurse von 1 : 0-005 und sie kann bei einem Kurse von
1: 0-005 genau so ferne sein — wenn nämlich dieses Wertverhältnis
stabilisiert worden ist und sich ein neues Gleichgewicht in der Volkswirt-
schaft gebildet hat — wie bei einem Kurs von 1 : 1-05. Im übrigen kann
(theoretisch) die ziffernmäßige Entwertung beliebig weit fortschreiten,
ohne daß überhaupt ein ,,Ende mit Notwendigkeit eintreten muß.
Nach 0-001 kommt ebensowenig 0 wie nach 0-01, und nach 0-0001 kommt
erst wieder 0-00009, 0-00008 usw. in infinitum.
5.
Wenn man die Frage nach dem aktuellen Ziel der Währungspolitik
im Hinblick auf den gegenwärt'gen Zustand des Geldwesens und der Wirt-
schaft in Österreich stellen und beantworten will, so muß man sich zunächst
gründlich von der unbegründeten (ebenfalls bei Vogel sich findenden) Vor-
stellung befreien, daB die Tatsache, daß der Kurs der Krone vor dem
Kriege 1-05 Frank war, irgendetwas dafür bedeuten könnte. Gewöhnlich
wird die Wiederherstellung dieses Kursverhältnisses als ein währungs-
politisches Ideal angesehen, dem möglichst anzunähern das aktuelle Ziel
der Währungspolitik se'n müßte. (Das ist auch bei Vogel der Fall.) Der
Grund für diese Auffassung liegt darin, daß man glaubt, mit einer ,, Riick-
gingigmachung der Entwertung des Geldes auch die Folgen dieses
Entwertungsprozesses rückgängig machen zu können. Daß dies ein Irrtum
ist, ist oft genug dargelegt worden und bedarf hier keiner weiteren Aus-
einandersetzung.
Um die Frage nach dem aktuellen Ziel der Währungspolitik im gegen-
wärtigen Österreich beantworten zu können, muß man sich vorher über
die besonderen Merkmale klar werden, welche die gegenwärtigen Zustände
des Geldwesens charakterisieren. Dieser Zustand wird vorwiegend durch
Das Ziel der Währungspolitik. 421
zwei Umstände charakterisiert: Erstens durch die stetig sinkende
Bewegung der Kaufkraft des Geldes im Innern sowie durch die
gleichfalls stetig sinkende Bewegung seines intervalutarischen Kurses
im Verhältnis zu Ländern mit einer eine verhältnismäßig stabilere Kauf-
kraft aufweisenden Geldeinheit, und zweitens durch die unverhältnis-
mäßig große Disparität zwischen dem intervalutarischen Kurs
der Krone und ihrer realen Kaufkraft im Lande. (Wie schon
hervorgehoben, hat der ziffernmäßige ‚Tiefstand‘‘ der Krone im Verhältnis
zum Schweizer Franken oder einer anderen ‚hochwertigen‘ ausländischen
Einheit gar keine Bedeutung.) |
Diese merkwürdige Erscheinung der Disparität zwischen inländischer
Kaufkraft und intervalutarischem Kurs der Krone bedarf einer besonderen
Aufmerksamkeit und Erklärung. Die Kaufkraft der Krone im Inlande
ist beträchtlich größer als die eines ihrem Kurswerte entsprechenden
Betrages von Schweizer Franken in der Schweiz, das heißt, daß die öster-
reichische Krone in der Schweiz unter ihrer und der Schweizer Franken
in Österreich über seiner Kaufkraftparität bewertet wird. Diese Tatsache
hat verschiedentliche Ursachen. Vor allem kommen natürlich die zwischen-
staatlichen Verkehrs- und Handelsbeschränkungen in Betracht, durch
welche die Geltendmachung, beziehungsweise volle Ausnützung der in
die Hände von Ausländern gelangenden Kronenbeträge erschwert, be-
ziehungsweise verhindert wird. Die Bewertung des Geldes eines Landes,
das die Ausfuhr seiner Produkte in wesentlichem Masse beschränkt, muB
im Auslande notwendig geringer sein, als seiner Kaufkraft im Inlande
entspricht, weil der Ausländer diese Kaufkraft eben schwer geltend machen,
beziehungsweise nicht voll ausnützen kann. In zweiter Linie kommt als
Ursache für diese Disparität zwischen inländischer Kaufkraft und inter-
valutarischem Kurs der Krone der Umstand in Betracht, daß ein nicht
unerheblicher Teil der durch die fortgesetzte Inflation ständig neu-
erstehenden nominalen Kaufkraft nicht auf den inneren Warenmarkt,
sondern auf den ausländischen Valutenmarkt kommt und dort von der
Valutenspekulation aufgenommen wird. Dadurch wirkt sich der Prozeß
der Entwertung im Verhältnis zum ausländischen Gelde schneller aus,
als im Verhältnis zu den Gütern im Inlande. Während die Wirkung der
neuen Kaufkraftschaffung auf dem ausländischen Geld-, beziehungsweise
Valutenmarkt sofort in Erscheinung tritt, braucht sie auf dem inländischen
Gütermarkt einen gewissen Zeitraum, um voll zu Geltung zu kommen.
422 Alfred Amonn.
Das Preisniveau paßt sich in diesem Falle — unter gewissen Umständen,
bei weitgehender wirtschaftlicher Unabhängigkeit vom Auslande könnte
es auch umgekehrt sein — der Inflation langsamer an als das Kursniveau.
Diese von der Valutenspekulation im Auslande aufgenommenen Kronen-
betrage oder -guthaben bedeuten dann zugleich auf Grund der ze'tweise
stattfindenden Realisationsverkäufe einen beständigen weiteren Druck
auf das Kursniveau, ganz unabhängig davon, ob sich die Kaufkraft der
Krone im Inlande ändert oder nicht. Eine weitere Ursache für die Dis-
parität zwischen innerer Kaufkraft und ausländischem Kurs muß in den
Umstande erblickt werden, daß im Inlande eine Reihe von Preisen ge-
setzlich gebunden sind und eine Reihe von Gütern, und zwar unter den
Haushaltungskosten eine überaus groBe Bedeutung einnehmenden Gütern
wie zum Beispiel Brot und Wohnung zu Preisen umgesetzt werden, die
weit unter dem natürlichen, durch das Verhältnis von Angebot und Nach-
frage bestimmten Gleichgewichtspreisen liegen. D.es müßte, auf den
ersten Blick gesehen, allerdings scheinbar zur Folge haben, daß die Preise
anderer Güter, die nicht gebunden sind, auf ein umsohöheres Niveau
steigen und das Preisniveau im Allgemeinen dadurch nicht berührt würde.
Hier tritt nun aber der, komplizierende Umstand hinzu, daß die stets zu-
wachsende nominale Kaufkraft, soweit sie nicht durch entsprechende
Erhöhung jener Preise absorbiert w'rd, nicht zu produktiven Kapitals-
anlagen und damit zu anderweitigem Güterkauf, sondern zum Ankaufe
von ausländischen Effekten und Valuten verwendet wird. Auf diese Weise
findet der Ausgleich nicht innerhalb des Güterpreisniveaus, sondern auf
dem ausländischen Effekten- und Valutenpreisniveau statt, deren Kurse
im Inlande nun über die Parität mit ihren Preisen im Auslande steigen.
Bei dieser Sachlage entsteht nun die alternative Frage, ob die gegen-
wartige Kaufkraft der Krone oder ihr gegenwärtiger intervaluta-
rischer Kurs zu irgendeiner ausländischen Einheit mit verhältnismäßiger
Stabilität der Kaufkraft stabilis’ert werden soll. Wird diese Frage im Sinne
der Stabilisierung der Kaufkraft beantwortet, dann bedeutet dies zu-
gleich aber notwendig auch, daß eine Hebung des intervalutarischen
Kurses bis auf die Kaufkraftparität angestrebt werden muß. Wird sie
umgekehrt aber im S'nne einer Stabil'sierung des intervalutarischen
Kurses beantwortet, dann würde dics bedeuten, daß die Kaufkraft not-
wendig noch eine we'tere Verschlechterung bis auf die Kursparität er-
leiden müßte.
Das Ziel der Währungspolitik. 423
Man ist im allgemeinen geneigt, die Frage im Sinne einer Stabili-
verung der gegenwärtigen Kaufkraft zu beantworten, und dies steht
scheinbar auch zu unseren grundsätzlichen Feststellungen über das Ver-
hältnis der beiden Ziele der Währungspolitik, dem der Erhaltung de
Stabilität der Kaufkraft und dem det Erhaltung der Stabilität des inter-
valutarischen Kurses zueinander und dem Vorrang jenes vor diesem in
Übereinstimmung. Allen die Stabilis’erung der gegenwärtigen Kauf-
kraft ist in diesem besonderen Falle theoretisch und praktisch unmöglich,
und zwar aus dem einfachen Grunde, weil diese Kaufkraft nicht das natür-
liche Ergebnis einer durch das tatsächliche Verhältnis von Angebot und
Nachfrage bedingten Gleichgewichtslage, sondern das künstliche Produkt
von wirtschaftspolit'schen Bindungen und Maßnahmen, die unmöglich auf
d'e Dauer aufrecht erhalten bleiben können, ist. Einmal, früher oder
später, muß der Augenbl ek kommen, wo sich die natürlichen, auf em
neues Glechgew cht hindrängenden wirtschaftlichen Kräfte stärker er-
wesen werden als die durch augenbl:ckl;che Interessen. wenn auch noch
so bre'ter Bevölkerungsschichten or‘entierte wirtschaftspolitische Macht
des Staates. Auf vielen Gebieten, wie dem der Versorgung mit Fleisch,
Fett, Milch und dergle‘chen ist d’eser Augenblick schon eingetreten, auf
anderen, wie dem der Brot- und Mehlversorgung steht er unmittelbar
bevor und schließlich w:rd er auch auf dem Gebiete der Wohnungsver-
sorgung in absehbarer Zeit eintreten. Es ist klar, daß ein künst-
liches Halten der Preise unter ihrem natürlichen, durch das Verhältnis
von Angebot und Nachfrage bestimmten Gleichgewichtsstand zu einer
fortzesetzten Verminderung des Angebotes und damit zu einer Gefährdung
der dauernden Befriedigung der Nachfrage führen muß.
Ebenso wird sich auch die Aufrechterhaltung der meisten Ausfuhr-
verbote und -beschränkungen auf die Dauer nicht als möglich erweisen
und wird deren Aufhebung ebenfalls eine Veränderung des gegen-
wärtigen Preisniveaus, beziehungsweise der gegenwärtigen Kaufkraft des
Geldes in der Richtung einer Ausgleichung zwischen Inland- und Aus-
landpreis im Gefolge haben. Schließlich kommt auch die große Summe
derzeit latenter Kaufkraft in Betracht, die sich in der Form vun Kronen-
noten und -guthaben in den Händen der ausländischen Valutenspekulation
befinden und jederzeit als aktuelle Kaufkraft auf dem Gütermarkt er-
scheinen und dadurch die reelle Kaufkraft der Einheit weiter herunter-
drücken können, in Betracht. Ferner muß weiter auch noch der Umstand
424 Alfred Amonn.
in Betracht gezogen werden, daß in jedem Augenblick des fortdauernden
Inflationsprozesses die jeweilige tatsächliche Kaufkraft des Geldes größer
ist, als dem jeweiligen Inflationszustande der Volkswirtschaft entspricht,
weil die im letzten Augenblick neu hinzugekommmene Kaufkraft immer
eine geraume Zeit braucht, um sich voll auswirken zu können.
Aus diesen Gründen wäre es bei der bestehenden Sachlage durchaus
unzweckmäßig, die Stabilisierung der gegeuwärtigen, augenblicklichen
Kaufkraft der Krone in der Währungspolitik anzustreben. In gleicher Weise
unzweckmäßig wäre es aber natürlich auch, die Stabilisierung des gegen-
wärtigen Kursverhältnisses zwischen der Krone und dem Schweizer Franken
oder einer anderen ausländischen Einheit anzustreben. Dies schon aus
dem Grunde allein, weil damit sehr wenig gewonnen wäre, wenn für
unsere Geldeinheit ein festes Wertverhältnis zur Gelde:nheit eines einzelnen
anderen Staates, insbesondere wenn dieser Staat ein su kleines Wirtschafts-
gebiet, wie es die Schweiz ist, darstellt, hergestellt werden würde. Die
Herstellung eines festen intervalutarischen Kurses zu den Geldeinheiten
verschiedener anderer Staaten, steht aber nicht in der Macht
der Währungspolitik eines einzelnen Staates.) Aber abgesehen davon
würde man bei der Stabilisierung eines augenblicklich gegebenen inter-
valutarischen Kurses Gefahr laufen, die Kaufkraft unter ihr natürliches,
durch das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage bedingtes Gleich-
«ewichtsniveau herabzudrücken.
Es scheint somit, als ob wir auf der Grundlage unserer grundsatz-
lichen Feststellungen über die Ziele der Währungspolitik überhaupt zu
keinem Ergebnis für diesen besonderen Fall kommen können, daß jene
Grundsätze für die Lösung dieses aktuellen Problems der Wahrungspolitik
für sich allein unzureichend sind. Hier tritt dann der Gedanke auf, zu
ener Lösung auf einem anderen Wege, von einem anderen außerwährungs-
politischen Gesichtspunkte aus zu gelangen. Ein solcher Gesichtspunkt
ist der finanzpolitische der Beseitigung des staatlichen Defizits. Die
Inflation hat ihre Ursache im Defizit des Staatshaushaltes und dieses Defizit
t) Wenn man schon die Herstellung eines festen intervalutarischen Kurses
zur Geldeinheit eines bestimmten anderen Staates in Betracht ziehen würde, so
kime dafür nur die Valuta jenes Staates in Betracht, mit welchen die dichtesten
und regsten wirtschaftlichen Beziehungen bestehen, also für die österreichische Krone
die deutsche Mark. Dies wäre jedoch wieder im Hinblick auf den stark veränderlichen
Wert der Mark selbst äußerst unzweckmäßig.
eo.
——— as nei
Das Ziel der Wihrungspolitik. 425
wächst wieder fortdauernd mit dem durch die Inflation hervorgerufenen
Sinken der Kaufkraft und des 'ntervalutarischen Kurses der Krone. Die
Beseitigung des staatlichen Defizits ist eine Voraussetzung für das Auf-
hören der Inflation und die Stabilisierung der Kaufkraft und des inter-
valutarıschen Kurses der Krone. Wie kann man aber dieses Defizit be-
seitiren? Grundsätzlich stehen zwei Wege offen: Die Einnahmen so zu
erhöhen, daß sie ausreichen, die Ausgaben zu decken oder die Ausgaben
so weit zu reduzieren, daß ihre Höhe innerhalb des Rahmens der gegebenen
Einnahmen bleibt. Wenn man wie Vogel von der Anschauung ausgeht,
daß die gegenwärtigen Einnahmen bereits das wirtschaftlich mögliche
Höchstmaß von Steuerbelastung darstellen, dann kann natürlich das
Gleichgew'cht im Staatshaushalt nur auf dem zweiten Wege, dem der
Reduktion der Ausgaben gefunden werden. Da nun unter den Ausgaben
ein erheblicher Posten sich findet, der durch sogenannte ,,Kursverluste*'
beim Einkauf von staatlichen und staatlich bewirtschafteten Bedarfs-
artikeln (Kohle, Lebensmittel) aus dem Auslande gebildet wird, so glaubt
man, die Beseitigung des Defizits einfach dadurch erreichen zu können,
daß nıan den intervalutarischen Stand der Krone auf ein solches Niveau
erhöht, daß diese Kursverluste verschwinden. So meint auch Vogel,
daß ‚gerade dieser schwerste Ballast unseres heutigen Budgets überhaupt
nur durch Besserung der Währung und sohin in um so sichererem und
größerem Masse zu beseitigen ist, als diese Hebung der Währung gelingt“.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß es sich hier um eine ober-
flächliche Täuschung handelt, indem ganz übersehen wird, — was von
einen der wirtschaftlich denken kann, nie übersehen werden darf, — daß
unter jener Voraussetzung des bereits erreichten Maximums steucrlicher
Belastung die ziffernmäßige Einnahmensumme des Staatsbudgets um so
weniger aufrecht erhalten werden kann, auf einen je höheren Stand die
Krone gehoben wird und damit die wirtschaftliche Bedeutung und der
wirtschaftliche Druck einer gleichen nominellen Steuerlast steigt. Wenn
wir davon abschen, daß die Kaufkraft der Krone im Inlande größer ist,
als dem intervalutarischen Kurse entsprechen würde, — wodurch allerdings
die Betrachtung eine gewisse Modifikation erfahren müßte, die aber nicht
das Wesen der Sache, sondern lediglich die Größenunterschiede betrifft,
— so müßte unter jener Voraussetzung des bereits erreichten Höchst-
maßes wirtschaftlich möglicher Besteuerung die nominelle Einnahmen-
summe bei einer Hebung des Kurses auf das Fünffache unbedingt auf
426 Alfred Amonn.
ein Fünftel reduz’ert werden. Oder will man umgekehrt annehmen, dab
bei einem Kronenkurs von 5 Centimes dieselbe Steuersumme aufgebracht
werden kann, als bei einem Kronenkurs von 1 Centimes aufgebracht wird,
dann folgt daraus, daß bei e'nem Kronenkurs von 1 Centimes auch das
Fünffache dieser Summe aufgebracht werden kann. Es ble'bt sich also
wirtschaftlich vollkommen gleich. ob die steigenden Kursveiluste durch
e'ne Hebung des Kronenkurses be! gleichzeitiger Aufrechterhaltung der
bestehenden nom'nellen Gesamtbesteuerung beseitigt werden oder ob
sie durch entsprechende Erhöhung der nominellen Steuersumnie gedeckt
werden. (Es gibt allerdings noch einen dritten Weg, näml'ch den ihrer
Überwälzung auf die Konsumenten und auch in diesem Falle kommt
es vom Standpunkte der Gesamtwirtschaft auf dasselbe hinaus, ob ene
solche Überwälzung stattfindet oder ob ein Verschwinden der Kurs-
verluste durch Hebung des Kronenkurses bewirkt wird.) Die Beseitigung
der Kursverluste durch Hebung des Kronenkurses bedeutet gar nicht
eine Reduktion der Ausgaben, sondern umgekehrt der (möglichen)
effektiven Einnahmen. Die Hebung des Kronenkurses würde aber
weiter auch sogar eine sehr erhebliche Erhöhung der effektiven
Ausgaben im Gefolge haben, inden alle nicht reduzierbaren Ausgabe-
posten, wie die für Verzinsung und Amortisterung der Staatsschulden
in ihrer reellen wirtschaftlichen Bedeutung zu einem Vielfachen von dem
anwachsen würden, was sie beim „Tiefstande‘‘ der Krone bedeuten. Es
wäre also gerade vom Standpunkte der staatlichen Finanz-
politik aus unzweck mäßig, eine beträchliche Hebung des
Kronenkurses anzustreben.
Das staatliche Defizit und die Ursache der fortgesetzten Inflation
durch eine Hebung des Kronenkurses beseitigen wollen, heißt ‚das Pferd
beim Schwanz aufziumen“ oder anstatt die Folge durch Beseitigung der
Ursache aufheben, die Ursache durch Aufhebung der Folge beseitigen
wollen; denn die ursprüngliche Ursache der Inflation und ihrer Folge-
erscheinungen ist eben das Defizit und nicht das Defizit die Folge der
Inflation. Die Beseitigung des Defizits ist daher die Voraus-
setzung für die Beseitigung der Inflation und ihrer Folgen, der
sinkenden Kaufkraft und des sinkenden Kurses der Krone und nicht
die Hebung des Kurses d'e Voraussetzung der Bese't'gung des Defizites,
wie es wohl dem oberflächlichen an bloßen Zahlen haftenden Blick des
La:en und fachwissenschaftlichen Dilettanten scheinen mag.
Das Ziel der Währungspolitik. 427
Die Ursache des steigenden Defizits im Staatshaushalt Feet darin,
daß sich die Staatsausgaben viel schneller und leichter dem jeweiligen
Inflationsstande und der dadurch hervorgerufenen Verminderung der
Kaufkraft des Geldes anpassen als die Staatseinnahmen, weil eben dank
dem Umstande, daß der Regierung die Notenpresse zur Verfügung steht,
die Ausgaben jederzeit beliebig gesteigert werden können, ohne daß eine
Deckung durch neue Einnahmen vorhanden ist. Wenn so die effektiven
Staatsausgaben sich schließlich doch nur gleich bleiben, so wird die effek-
tive Steuerleistung mit fortschreitender Inflation stets geringer, da die
immer noch eine gewisse Zeit hindurch in gleicher Höhe erhobene nominelle
Steuersumme einen sich fortdauernd verringernden Wert darstellt. Daraus
folgt aber, daß das Maximum der Steuerbelastung, auch wenn es zu einem
gewien Zeitpunkt — zur Zeit des Inkrafttretens der letzten Steuerge-
setze — tatsächlich erreicht wäre, in der Praxis sofort wieder verschwindet. ')
Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß auch die Inanspruch-
nahme der Notenpresse zur Deckung der nicht durch die normalen staats-
wirtschaftlichen Einnahmen gedeckten Ausgaben im Wesen nichts anderes
als eine primitive und bequeme Art der Besteuerung, und zwar eine Be-
steuerung gerade vielfach der ärmsten und schwächsten Wirtschafts-
subjekte, der Festbesoldeten, Pensionisten und Rentner darstellt und
insofern zur effektiven finanziellen Gesamtbelastung der Volkswirtschaft
und der Bevölkerung hinzugerechnet werden muß. Das durch vermehrte
Notenausgabe gedeckte Defizit ist gar kein wirkliches, sondern nur ein
budgetmaBiges oder rechnungsmäßiges Defizit. In Wirklichkeit werden
natürlich die gesamten Staatsausgaben von den Privatwirtschaften, sei
es durch positive Leistungen oder durch Entbehrungen gezahlt und auf-
gebracht und von der Volkswirtschaft getragen und es ist nur eine finanz-
und steuertechnische und keine wirtschaftliche Frage, wie jener Teil
') Es könnte natürlich auch der Fall sein, daß die nominelle Steuerbelastung
zur Zeit des Inkrafttretens der letzten Steuergesetze für die Wirtschaft zu hoch ist
und nur dadurch erträglich wird, daß ihr effektiver Druck infolge der fo-tdauernden
Inflation und Geldwertverminderung bald wieder vermindert wird. Die effektive
Geamtbelastung durch öffentliche Abgaben in Österreich ist derzeit sicherlich keines-
wegs übermäßig hoch, die vielfach als drückend empfundene Wirkung ist im Wesent-
lichen nur der einseitigen Verteilung dieser Last zuzuschreiben. Die Steuerbelastung
der Landwirtschaft treibenden Bevölkerung ist zum Beispiel ganz minimal und steht
sicher in gar keinem Verhältnis zu ihrer gegenwärtigen steuerlichen Leistungs-
fähigkeit.
428 Alfred Amonn.
der Staatsausgaben, der tatsächlich durch die vom Staate getriebene
Inflationspolitik gedeckt wird, durch die normalen finanzwirtschaft-
lichen Mittel (Besteuerung und Kredit) gedeckt werden kann. 1)
Was ist somit das Ergebnis? Erstens: Daß die währungspolitische
Frage zunächst überhaupt nicht gelöst werden kann, solange nicht die
finanzpolitische Frage der Bilanzierung der Einnahmen und Ausgaben
im Staatshaushalt ohne Zuhilfenahme der Notenpresse gelöst ist; zweitens:
daB weiter bevor die Lösung der währungspolitischen Frage in Angriff
genommen werden kann, die Auswirkung des letzten Stadiums der In-
flation auf das Preisniveau abgewartet werden muß, wobei allerdings
zugleich der Versuch unternommen werden könnte, die noch nicht in
Wirksamkeit getretene, insbesondere in den Händen der ausländischen
Kronenspekulation angesammelte latente Kaufkraft durch eine Anleihe
aufzusaugen; und drittens: daß schließlich auch noch vorher alle wirt-
schaftspolitischen Beschränkungen und Maßnahmen, durch welche das
natürliche, dem Gleichgewichtszustande zwischen realem Angebot und
Nachfrage entsprechende Kaufkraftniveau verändert und verfälscht wird,
beseitigt werden müssen und die Bildung eines neuen, durch Nachfrage
und Angebot bedingten Gleichgewichtes und diesem entsprechenden
Preisniveau ermöglicht werden muß. Erst nach wirklicher Bildung
eines solchen neuen natürlichen, auf der Grundlage. von An-
1) Es ist deshalb auch eine lediglich zur Irreführung der Öffentlichkeit be-
stimmte Phrase, daß das Defizit der Staatswirtschaft eine notwendige Folge der so-
genannten „Passivität‘‘ der Volkswirtschaft, das heißt des Umstandes sei, daß in der
Volkswirtschaft nicht so viel erzeugt werden kann, als zum Minimalverbrauch der
Bevölkerung notwendig sei. Es ist doch klar, daß dieser Mehrverbrauch nicht ledig-
lich ein Verbrauch von Banknoten, sondern ein Verbrauch von wirklichen Gütern
ist, die mit diesen Noten gekauft werden, also doch in der Volkswirtschaft da sein
müssen. Soweit wirklich von einer Passivität der Volkswirtschaft in obigem Sinne
gesprochen werden kann, oder in den letzten Jahren gesprochen werden konnte,
wurde das Defizit nicht durch Banknoten, sondern durch vom Auslande kreditierte
oder mit ausländischen Krediten oder mit ins Ausland ausgeführten Kapital-
anlagen gekaufte reale Güter gedeckt. Nur in einem sehr engbegrenztem
Grade kann von einer Deckung dieses Defizits durch Banknotenausgabe
gesprochen werden, nämlich insofern, als österreichische Kronen an ausländische
Spekulanten gegen Devisen verkauft werden, mit welchen dann vom Aus-
lande die fehlenden Güter gekauft werden. Aber diese zu Spekulationszwecken
erworbenen Kronenbeträge spielen im Inflationsprozesse derzeit noch keine Rolle,
da sie nicht auf den Gütermarkt kommen und die Kaufkraft der Krone nicht be-
einflussen. :
Das Ziel der Währungspolitik. 429
gebot und Nachfrage beruhenden wirtschaftlichen Gleich-
gewichtes und Preisniveaus kann wieder eigentliche Währungs-
politik getrieben werden. Und ihr erstes und wichtigstes Ziel kann dann
nur sein: die Erhaltung des so gebildeten neuen Kaufkraft-
niveaus der Krone.
Die Verfolgung dieser Politik ist gewiß nicht so einfach und leicht
wie die gegenwärtig betriebene Inflationspolitik oder die von Laien und
fachwissenschaftlichen Dilettanten empfohlene Politik der „Hebung“
oder „Stabilisierung des Kronenkurses‘‘, sie ist aber die einzige, die zu
normalen, geordneten Wirtschaftszuständen zurückführen kann. Ihr
stehen gewiß außerordentlich schwerwiegende sozialpolitische und klassen-
politische Interessen entgegen, es stehen der Wirtschaftspolitik auf der
anderen Seite aber genug Mittel zu Gebote, um die wirklich schutzbedürftigen
Interessen vor Gefährdung zu bewahren. Es muß sich hiebei nur immer
um die richtige Beeinflussung des Angebotes und der Nachfrage und nicht,
wie es bisher geschieht, um den Versuch einer Verhinderung der durch
das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bedingten Folgen handeln.:)
Noch schwieriger zu verwirklichen werden die Voraussetzungen für
die Verwirklichung des anderen Zieles der Währungspolitik, dem der
Stabilisierung des intervalutarischen Kurses sein, denn dieser stehen nicht
nur wirtschaftliche und politische, sondern auch wirtschaftstechnische
Schwierigkeiten sehr ernster Art entgegen. Es ist nämlich äußerst frag-
lich, ob die Stabilisierung der intervalutarischen Kurse auf demselben
Wege wie in der Vorkriegszeit, nämlich durch die allgemeine Rückkehr
der Staaten zur Goldwährung möglich sein wird; denn die allgemeine
Einführung der Goldwährung würde wahrscheinlich eine derartige Wert-
steigerung des Goldes und damit der realen Kaufkraft der wieder auf
Gold basierten Geldeinheit zur Folge haben, daß dadurch gerade die Er-
reichung jenes Hauptzieles der Währungspolitik vereitelt würde, ohne dessen
S'cherung die Stabilisierung der intervalutar:schen Kurse nur von problem-
atischem Wert wäre.2) Die allgemeine Einführung der Goldwährung oder
1) Die Wohnungsfrage zum Beispiel wird insolange nicht gelöst werden können,
als die hiezu ergriffenen Maßnahmen darauf hinauslaufen, die tatsächliche Nachfrage
zu steigern und ein neues Angebot überhaupt zu verhindern.
*) Der Wert de’ Goldes ist nämlich durch die während des Krie;es in allen euro-
päischen Staaten erfolgte Demonetisierung fast aufein Drittel seines früheren Standes
gesunken. Die allgemeine Wiedereinführung der Goldwéhrung müßte natürlich eine
rückläufige Goldwertbewegung in ungefihr demselben Ausmaß zur Folge haben.
430 Alfred Amonn. Das Ziel der Währungspolitik.
einer anderen Metallwährung wäre aber der einz've Weg, auf welchem das Ziel
der Stabilisierung der intervalutarischen Kurse ohne internationale wirt-
schaftspolitische Bindungen der Staaten erreicht werden könnte; sonst wäre
dieses Ziel nur noch durch eine internationale Währungsorganisation zu
erreichen, zu deren Herbeiführung auf absehbare Zeit wohl alle Voraus-
setzungen fehlen.
Untersuchung zu dem Grundgesetz der
wirtschaftlichen Wertrechnung.
Von Hans Mayer.
Unter den verschiedenen Streitfragen, die innerhalb der modernen
Wirtschaftstheorie bestehen, ist wohl die tiefstgehende die Frage nach
dem Gesetze der Bewertung von Gütervorräten. Zwei Wertformeln stehen
hier einander gegenüber, die eine von Wieser, die andere von Böhm-
Bawerk vertreten, jede für sich empirische Geltung beanspruchend, aber
von solchem inhaltlichen Gegensatz, daB sie scheinbar einander notwendig
ausschließen.
Vergegenwärtigt man sich, daß das ganze Gebäude der modernen
Theorie auf der Wertlehre ruht, daß insbesondere aus den Gesetzen des
Wertes die Gesetze von Angebot und Nachfrage und damit die der Preis-
bildung und in weiterer Folge der Einkommensbildung abgeleitet werden:
so ergibt sich mit Notwendigkeit, daß jeder inhaltliche Gegensatz in den
grundlegenden Wertgesetzen schwerwiegende inhaltliche Gegensätze in
allen Problemlösungen zur Folge haben muß. Als grundlegendes Wert-
gesetz aber und nicht etwa bloß als Regel für einen besonderen kasuistischen
Tatbestand muß das Gesetz der Bewertung von Gütervorräten schon des-
halb angesehen werden, weil im praktischen Wirtschaftshandeln den
Gegenstand der Wertschätzung nur in seltenen Ausnahmsfällen einzelne
Güterexemplare bilden, für deren Bewertung bekanntlich Übereinstimmung
der Autoren besteht, vielmehr fast immer die Wertschätzung sich auf Güter-
vorräte verschiedener Größe bezieht. Alles Wirtschaftshandeln müßte
deinnach anders ablaufen nach den Wertgesetzen Wiesers und nach den
Wertgesetzen Böhm-Bawerks — wenn ich der Kürze wegen die Namen der
beiden führendenAutoren an Stelle der durch sie begründeten „Richtungen“
innerhalb der Theorie setzte. So beständen, sferne die gegensätzlichen
Formeln sich nicht doch irgendwie vereinigen ließen, genau besehen,
trotz des gemeinsamen Ausgangspunktes, des gemeinsamen Grund-
432 Hans Mayer.
gedankens und der gemeinsamen Methode der Begründer zwei inhaltlich
verschiedene ‚österreichische Theorien‘‘ nebeneinander, und wenn die
Gegensätze, durch die abstrakte Darstellungsform überdeckt, auch nicht
in allen folgenden Problemlösungen sofort sichtbar werden, in Wahrheit
müssen sie doch allen immanent sein und sie würden sofort zum Ausdruck
kommen, wenn in alle einzelnen Ableitungen konkrete, ziffermäßige Daten
eingesetzt würden. Am deutlichsten zeigt sich das bei den verschiedenen
Lösungen des „Zurechnungsproblems‘.
Es stände schlecht um die Grundlagen der „Grenznutzenschule“,
wenn man von demselben Grundgedanken aus, nach logisch einwandfreier
Methode vorgehend, zu inhaltlich ganz verschiedenen Resultaten schon
in den Grundproblemen kommen könnte. Es steht aber tatsächlich nicht so.
Aber das ist aus der geschilderten Sachlage klar, daß es derzeit zu den
dringendsten Aufgaben der theoretischen Forschung gehört, jenen tief-
gehenden Gegensatz endlich zu beseitigen. Die Kritik hat sich seit fast
40 Jahren vielfach um die Lösung dieser Streitfrage bemüht. Aber sie hat
das Problem nicht tief genug und in seinem ganzen Umfange erfaßt und so
konnte sie nicht allseits überzeugen: Nach wie vor halten Wieser und Böhm-
Bawerk, ersterer in seiner jüngsten zusammenfassenden Darstellung, der
„Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft“, letzterer in der neuesten Auf-
lage von „Kapital und Kapitalzins‘‘ an ihren ursprünglichen Resultaten
fest. Für einen großen Teil, ja für die überwiegende Mehrzahl der Fach-
genossen gilt die Streitfrage allerdings als zugunsten der Böhm-Bawerkschen
Formel entschieden, Wiesers Formel wird als „absolut falsch‘‘ abgelehnt.
Zu Unrecht, wie ich nachzuweisen hoffe. Ich werde zu zeigen haben, daß
jede der beiden Formeln unter ganz bestimmten Voraussetzungen Geltung
hat und daß gerade die Voraussetzungen, unter denen Wiesers Formel
gilt, diejenigen sind, welche derempirischen Wirtschaft in ihrem regel-
mäßigen Ablauf zugrundeliegen. Ja es wird sich zeigen, daß der Umfang
der Geltung des Wieserschen Wertgesetzes ein so weiter ist, daß er die
Voraussetzungen für die Geltung des „Produktionskostengesetzes —
dessen universelle Bedeutung für die empirische Wirtschaft niemand
auch von denjenigen, welche Wiesers Wertgesetz ablehnen, bestreitet —
in sich schließt. - z
= Den Kritikern, welche Wiesers Gesetz als „unrichtig“ ablehnen.
unterläuft eine merkwürdige Verwechslung: Sie suchen die Begründung.
die Wieser seinem Gesetze gibt, als unhaltbar nachzuweisen und glauben,
Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertrechnung. 433
damit das Gesetz selbst widerlegt zu haben. Sie verwechseln die Frage
nach der Begründung einer Norm — als welche sich die Wertformeln dar-
stellen — mit der Frage nach der tatsächlichen Geltung derselben.
Als ob mit der Widerlegung einer vielleicht unzureichenden Begründung
auch schon die Frage entschieden wäre, ob tatsächlich nach dieser Norm
sehandelt wird oder nicht. Diese erste Aufgabe, die Prüfung der Frage
der tatsächlichen Geltung der beiden Wertformeln, hat die Kritik bisher
ganz außer Acht gelassen. Die zweite zu untersuchende Frage wäre die,
den Geltungsbereich der beiden Wertformeln aufzuzeigen, d. i. die
Voraussetzungen, unter denen tatsächlich so gewertet werden muß und
damit das Verhältnis dieser Wertgesetze zu anderen als feststehend an-
genommenen wirtschaftlichen Gesetzen klarzulegen.
Das nun soll hier versucht werden: Den Geltungsbereich der beiden
scheinbar einander ausschließenden Wertgesetze aufzuzeigen, indem wir
die Voraussetzungen ihrer Geltung untersuchen.
Wieser ist zur Aufstellung seines Wertgesetzes, wie zu allem, was er
gestaltet hat, durch die Beobachtung der Wirklichkeit gekommen. Darin
liegt ja die Stärke seines Systems, daß es — trotz aller ,,isolierenden Ab-
straktion‘‘ — immer in der Wirklichkeit verankert bleibt. Aber es ist ihm
nicht ganz gelungen, den Geltungsbereich seines Gesetzes zutreffend abzu-
grenzen und insbesondere die widerspruchslose Verbindung mit anderen
allgemeinsten Gesetzen des wirtschaftlichen Handelns herzustellen. Die
Hilfskonstruktionen, die er zu diesem Zwecke verwendet, erweisen sich
nicht in allen Teilen als tragfähig. Und obwohl ihm die vollen Voraussetzun-
gen für die Geltung seines Gesetzes immer vorgeschwebt haben — wie
aus zahllosen verstreuten Bemerkungen hervorgeht —, so hat er sie doch
nirgends ausdrücklich formuliert, auch nicht an den entscheidenden Stellen,
wo er für sein Gesetz eine Begründung zu geben sucht. Seine Kritiker
sehen nur das und verwerfen mit der mitunter anfechtbaren Begründung
das auf Grund der Erfahrung unanfechtbare Resultat.
Böhm-Bawerk wieder — und mit ihm, von seltenen Ausnahmen
abgesehen, die gesamte Theorie — hat die Formel für die Bewertung von
Gütervorräten nicht der unmittelbaren Beobachtung der Wirklichkeit
entnommen, er hat sie aus einem noch allgemeineren Satze der Wert-
lehre (dem ,,Gossenschen Gesetz‘‘) deduziert und dabei übersehen, daß die
empirisch gegebenen Voraussetzungen, unter welchen die Bewertung
von Gütervorräten tatsächlich erfolgt, andere, speziellere sind als die-
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 30
454 Hans Mayer.
jenigen, welche bei der Ableitung jenes allgemeinsten Satzes der Wert-
lehre zugrundegeleet werden.
Es läßt sich das Verhältnis der beiden „Gesetze” auch so darstellen:
Logisch ist Böhm-Bawerks Formel die allgemeinere unter einem
Minimum von Voraussetzungen geltende, nach dem praktischen Umfang
der Geltung aber d. i. der Häufigkeit der tatsächlichen Anwendung ist
umgekehrt Wiesers Formel die allgemeinere, d. i. häufiger angewendete,
weil ihre Voraussetzungen die regelmäßigen empirischen Voraussetzungen
. des Wirtschaftens sind und Böhm-Bawerks Formel die speziellere.
Das zu zeigen werden wir auf das innerste Wesen des Wirtschaftens
zurückgreifen müssen. Vorher wollen wir aber die beiden gegensätzlichen
Wertformeln samt den Versuchen ihrer Begründung einander gegenüber-
stellen, uns die Ergebnisse der bisherigen Kritik besehen und, soweit not-
wendig, zu Begründungen und Kritik selbst Stellung nehmen.
I.
Böhm-Bawerk legte — ebenso wie Menger — der Ableitung des
Gesetzes fiir die Bewertung vom Gütervorräten vom Anfang an wenig
Bedeutung bei, er betrachtete diese Frage als erledigt mit der Entwicklung
des allgemeinsten Wertgesetzes für die Bewertung einer Gütereinheit
und nur als einen Anwendungsfall dieses allgemeinsten Wertgesetzes. Erst
durch die von Wieser aufgestellte Formel und durch die Kritik, die diese
gefunden, wurde er zu näherem Eingehen auf diese Frage veranlaßt. Wenn
— so der Gedankengang Böhm-Bawerks — ganz allgemein der Wert eines
Gutes sein Maß durch den von diesem Gut abhängig erachteten Nutzen
erhält, so muß der Wert mehrerer in einem Vorrat vereinigter Güter gleich
sein dem von der Verfügung über diesen Vorrat abhängig erachteten
Nutzen. Soweit läßt sich Böhm-Bawerks Formel mit derjenigen Wiesers
im Einklang bringen und soweit ist sie auch durch die Erfahrung bestätigt.
Da nun aber — wieder nach Böhm-Bawerk — infolge des Gesetzes des ab-
nehmenden Grenznutzens (Gossensches Gesetz der Bedürfnissättigung) nicht
von allen oder mehreren in einem Vorratvereinigten Stücken nur der Grenz-
nutzen abhängig ist, sondern jeweils nur von einem, von den andern gleich-
zeitig vorhandenen Stücken aber höhere Nutzen abhängen müssen, so
ergibt sich, daß der Wert eines Vorrates gleichartiger Güter gleich sein
muß der Summe der ungleichen Teilwerte der einzelnen Stücke. Böhm-
Bawerk formuliert zwar zunächst dieses Gesetz der Bewertung von Güter-
Untersuehung zu dem Grundgesetz der wirtsehaftliehen Wertreehnung. 4835
vorräten vorsichtiger: „Der subjektive Wert eines größeren (rütervorratcs
ist nicht gleich dem (rrenznutzen der Giitereinheit, multipliziert mit der
Zahl der im Vorrat enthaltenen Stücke, sondern er bemißt sich nach dem
zu addierenden Gesamtnutzen der letzteren.“ (S. 256), aber im Verlauf der
späteren gegen Wiesers Wertgesetz gerichteten Ausführungen immer
bestimmter und mit dem Anspruche auf allgemeine Geltung: Wiesers
Meinung ‚ist irrig, weil man mit mehreren Gütern zusammen nicht ein
und denselben Nutzen mehrmals, sondern mehrere verschiedene und in
aller Regel an Bedeutung ungleiche Bedürfnisbefriedigungen sichert‘“
(Exkurs, S. 187)') und verwahrt sich energisch dagegen, daß ihm (von
Schumpeter) eine ,,Hinneigung zu Wiesers Gesamtwertbegriff und zu seiner
Art den Gesamtwert von Vorräten durch Multiplikation der Zahl der vor-
rätigen Stücke mit dem Grenznutzen zu berechnen, imputiert‘‘ werde
(Exkurs V11, S. 216). Die Begründung von Böhm-Bawerks Formel erscheint
so einfach und folgerichtig, daß die Kritiker Wiesers gar nicht begreifen
können, wie man ohne schweren logischen Fehler zu einem andern Resultate
kommen kann.
Nach Wieser dagegen „lautet das Grundgesetz der wirtschaftlichen
Nutzkomputation, daß alle Einheiten (Teilmengen, Stücke) eines Vorrates
gleichmäßig mit dem Grenznutzen komputiert werden“. Dies unter
dir Voraussetzung der „typischen Verhältnisse der Privatwirtschaft, dic
es mit teilbaren Vorräten zu tun hat“. Es wird daher „jeder teil-
bare Vorrat mit einem Vielfachen des Grenznutzens kompt-
tiert, welches der Zahl der Einheiten (Teilmengen, Stücke) entspricht‘
(Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, S. 194). „Ein Vorrat hat einen
Wert, der gleichkommt dem Produkte der Stückanzahl (oder der
Anzahl der Teilmengen) mit dem jeweiligen Grenznutzen“ (,,Na-
türlicher Wert“ S.24). Wieser beschränkt seine Formel ausdrücklich auf
„teilbare Vorräte, d. h. solche, die aus gleichartigen Einheiten (Stücker,
Teilmengen) bestehen, über welche man einzeln verfügen kann“, dagegen
nimmt er ‚die für den regelmäßigen Ablauf des privatwirtschaftlichen
Prozesses kaum in Betracht kommenden Gesamtsachen oder sonstige Ge-
samtheiten, die ein unteilbares Ganzes bilden‘, von ihrer Geltung
aus. (Th. d. g. W., S. 193). Der Erkenntnis, welche in seinem als ,,Grenz-
gesetz" bezeichneten Wertgesetz enthalten ist, legt Wieser fundamentale
t) Ähnlich in der Anmerkung S. 257.
436 Hans Mayer.
Bedeutung bei, sie „gibt den Schlüssel zum Verständnis der praktisch
allgemein geübten Wirtschaftsrechnung‘‘ (Th. d. g. W., S. 194).
Die Begründung, welche Wieser seinem Gesetze zu geben sucht, ist
nicht so einfach wie bei Böhm-Bawerk. Ich muß diesbezüglich auf die
ausführliche Darstellung bei Wieser selbst in der ,, Theorie der gesellschaft-
lichen Wirtschaft“ ') 1914, und in den älteren Werken: ‚Der natürliche
Wert‘‘2) 1889, und ,,Ursprung des Wertes‘‘?) 1884 verweisen und mich hier
nur auf die Hervorhebung alles Grundsätzlichen in der Beweisführung
beschränken. Hiezu erweist es sich als zweckmäßig, alle die verschiedenen,
von Wieser angeführten Gründe in drei Gruppen zu bringen.
Erstens, die einfache Berufung auf das Zeugnis der Erfahrung, und
zwar erfahrungsmäßig gegebener Vorgänge auf dem freien Markte, welche
„erweisen, daß die Konsumenten alle Stücke eines Vorrates, die sie em-
kaufen, nach dem Grenznutzen komputieren, sie bezahlen und komputieren
alle Stücke des Vorrates gleich hoch und bezahlen und komputieren keines
höher als den (irenznutzen; einen höheren Preis für ein Stück zu bezahlen.
wäre ja ganz unwirtschaftlich, es wäre besser auf den Einkauf dieses
Stückes zu verzichten“ (Th. d. g. W., S.192, ähnlich schon im n. W.
S. 43).
Zweitens eine teleologische Rechtfertigung aus dem Zweck des
Wirtschaftens und der Funktion der Wertschätzung: Die wirt-
schaftliche Pflicht erfordert, beider Verwendung der Mittel des Haushaltes
„so vorzugehen, daß der höchste Nutzen im Ganzen und auf die Dauer
gesichert werde. Ein Haushaltungsplan, der dieser Pflicht nachkommen
will, darf überhaupt nur solehe Verwendungen zulassen, die nicht unter
den Grenznutzenherabgehen, und er wird, um dieser Pflicht nachzukommen,
alle Einheiten des zur Konsumtion bestimmten Vorrates ohne Ausnahnie
nach dem Maße des Grenznutzens komputieren, sowohl diejenigen, die bloß
zur Sicherung des Grenznutzens, als auch dieanderen, die zur Sicherung von
solchen Befriedigungen bestimmt sind, welche auf der Bedürfnisskala höher
stehen als der Grenznutzen bis zu den héchsten Graden des Begehrens hin-
auf“. „Der Grenznutzen muß kumultativ für alle Einheiten festgehalten
werden, um zu verhindern, daß die wirtschaftlich gezogene Grenzeanirgend-
einem Punkte unterschritten werde.‘‘ „Der Anschein der Paradoxie ent-
1) Insbesondere S. 188—202. 214—219.
2) S. 23 -36, 42-49.
») 8. 128-189, 1850209,
= * x y CS Yard
Untersuehung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertreehnung. 437
steht nur für den, der sich nicht gegenwärtig hält, welchen Dienst die Nutz-
komputation bei der Konsumtion leistet: Sie hat nicht im mindesten die
Aufgabe, die Konsumtion als solche zu motivieren, die durch das Begehren
unmittelbar motiviert wird, sondern sie hat die Aufgabe einer vorsorglichen
Kontrolle, welche die Konsumtion begleitet und jene Begehrungen ab-
weist, die unter die zulässige Nutzungsgrenze hinabgehen.‘ „Man kommt zu
dem besten Produktionsplan, indem man sich an die Komputation
nach dem Grenznutzen hält“ (Th. d. g. W., S. 196). Der Anschlag nach dem
(irenznutzen entspräche aber auch dem „Prinzipe des geringsten
Kraftmaßes‘“: „Alle wirtschaftlich geforderten Werte sind durch diese
Grenzbestimmung eingeschlossen, alle unzulässigen sind ausgeschlossen‘,
darin liege eine große Entlastung des Interesses, eine große ‚Vereinfachung
in der Einschätzung der wirtschaftlichen Mittel, die man zur Sicherung der
Bedürfniswerte verwendet. Der ganze ‚Übernutzen‘ der Bedürfniswerte,
der über den Grenznutzen hinaus geht, wird vernachlässigt, man braucht
nicht in jedem einzelnen Falle die so schwer faßbare Größe der Eigenwerte
voll abzuwägen, man beschränkt sich auf die Festhaltung des Grenzwertes
und indem man alle zugelassenenWerte auf dieses gemeinsame Maß redu-
ziert, hat man überdies den auBerordentlichen Vorteil, mit ihm als Exten-
sitätsgröße ziffermäßig rechnen zu können.“
Drittens endlich sucht Wieser das ,,Grenzgesetz‘‘ auch auf dem Wege
einerlogischen Deduktion und einer psychologischen Ableitung zu
begründen. Diese Art der Begründung findet sich im „Natürlichen Wert**')
und ist, in der Hauptsache wenigstens, in die „Theorie d. g. W.“ nicht
übernommen worden. Da aber die Kritik sich fast ausschließlich gegen
sie gewendet hat, darf ich sie nicht ganz übergehen. Wieser erläutert, daß
ein beliebiges einzelnes Stück aus einem Vorrat gleichartiger Güter
mit dem Grenznutzen bewertet werden muß und schließt daraus, daß
jedes einzelne Stück des Vorrates mit dem Grenznutzen bewertet werden
muß und daß deshalb der ganze Vorrat einen Wert habe, der gleichkomme
dem Produkte aus Stückzahl und Grenznutzen. Dann müßte sich aber die
paradoxe Erscheinung ergeben, daB bei zunehmender Größe des Vorrates
von einem bestimmten Punkt an der Wert des ganzen Vorrates nicht mehr
größer sondern kleiner wird, da der eine Faktor des obigen Produktes, der
Grenznutzen, bei zunehmender Stückzahl kleiner wird, und schließlich
müßte, wenn die Stückzahl so groß wird, daß der Grenznutzen auf Null
9823-36,
438 Hans Mayer.
sinkt, der Wert des ganzen Vorrates gleich Null werden. Also der größere
Vorrat hätte den kleineren Wert. Wieser sucht die Paradoxie dadurch zu
lösen, daß er eine scharfe Unterscheidung zwischen ,, Wert‘ und,, Nutzen‘‘cin-
führt. Der Nutzen eines Vorrates nehme bei Vermehrung der Stückanzahl
zWar zu, aber der „Wert“ des Vorrates könne trotzdem kleiner werden.
Denn der Güterwert nehme nicht den ganzen Nutzen in sich auf, der Wert
sei eine zusammengesetzte Größe aus einem positiven Element, der Freude
am Giiternutzen, und einem negativen Element, der Gleichgültigkeit
gegen die Güter, dem Widerstreben, das Interesse, das in letzter Linie
nur den inneren Phänomenen gilt, auf die äußeren Dinge zu übertragen.
Je mehr der Vorrat anwachse, desto kleiner werde das positive Element,
desto größer das negative. Solange das positive Element überwiege, bewege
sich der Wert im „aufsteigenden Aste‘‘, der Wert des Vorrates wächst
parallel mit seinem Nutzen; an dem Punkt, an welchem das negative
Element das Übergewicht erlangt, beginnt der ,,abstcigende Ast“ der
Wertbewegung, der Wert des Vorrates wird kleiner, während sein Nutzen
noch weiter wächst. Im Konfliktsfall zwischen Wert und Nutzen entscheide
aber der Nutzen als das oberste Prinzip der Wirtschaft. Denn der Wert
habe nur die Aufgabe, ein bequemes Hilfsmittel für ein abgekürztes Ver-
fahren in der Schätzung der Güter zu sein, aber nur, solange er sich parallel
mit dem Nutzen bewege, d. h. im „aufsteigenden Aste“. Im „absteigenden
Aste“ verliere die Rechnung nach ,, Wert“ ihren Sinn, führe irre, hier müsse
direkt nach dem vollen Nutzen geschätzt werden. Aber dieser letztere Fall
sei die seltene Ausnahme, da die empirische Wirtschaft dem Überfluß
viel zu wenig angenähert sei, als daß man tief herabgesetzte Sättigungs-
punkte („absteigender Ast“) erreichen könne. Die in den letzten Sätzen
liegende Einschränkung der Geltung des „Grenzgesetzes‘‘ hat Wieser auch
in die „Theorie d. g. W.“ übernommen (S. 219).
Soweit die Begründung des Grenzgesetzes durch Wieser. Die Kritik
hat sich nur an diese Begründungen gehalten und sie zuwiderlegen versucht,
ohne selbständig und unbefangen zu untersuchen, wie sich die Sache tat-
sächlich verhält, und hat daraufhin das Grenzgesetz Wiesers als falsch,
die von Böhm-Bawerk vertretene Wertformel für richtig erklärt. Auf die
Wiedergabe der in älteren Arbeiten, wie bei Schäffle, Dietzel, Lexis, Stolz-
mann u. a., erhobenen Einwendungen kann ich um so mehr verzichten,
als genau dieselben Einwendungen nur in schärferer Fassung auch bei den
neuesten Kritikern Wiesers wiederkehren. Deshalb und weil es vor allenı
Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertreehmung. 439
daraufankommt, den gegenwärtigen Stand indieser fundamenalen Streit-
frage darzustellen, sollen hierbloß die Ansichten, wiesiein einer Reihe neuester
theoretischen Arbeiten niedergelegt sind und welche zugleich die derzeit
herrschende Meinung zum Ausdruck bringen — die ganz seltenen Aus-
nahmen sollen später angeführt werden — in Betracht gezogen werden.
‘Es läßt sich auch hier leider nicht vermeiden, manches wörtlich wieder-
zugeben, weil gerade aus der Art der gegen Wiesers Wertgesetze gerichteten
Einwendungen sich ergeben wird, wie sehr änderungsbedürftig die Ein-
stellung der gegenwärtig herrschenden Theorie auf die Wirtschafts-
erscheinungen ist, wenn sie zur Erkenntnis der empirischen Wirtschafts-
vorgänge führen will.
Mit voller Klarheit und Schärfe hat zuerst Oskar Kraus!) die Ein-
wendungen gegen das „Grenzgesetz‘ formuliert. Er setzt seine Kritik
an der tatsächlich schwächsten Stelle der Wieserschen Beeriindung an,
der „Deduktion‘‘, die wir unter „Drittens“ anführten. Wie sollte es möglich
sein — fragt Kraus —, daB der Gesamtnutzen eines Vorrates, zum Beispiel
von drei Stücken mit den Nutzle'stungen 10, 9, 8, gleich sei der Summe
dieser Nutzleistungen, d.1.27 (was Wieser zugibt), während der Gesamtwert
dieses Vorrates eine andere, kleinere Größe, nämlich 3x8 = 24, haben
soll, da doch Gesamtwert nichts anderes bedeuten könne als Gesamt-
nutzen? Kraus findet die Quelle für den Irrtum Wiesers in einer „Äqui-
vokation“. In dem Satze: „Der Wert eines jeden Stückes aus einem
Vorrate ist gleich dem Grenznutzen“, sei der Ausdruck „eines jeden“
doppelsinnig, er könne disjunktiv im Sinne von „jedes beliebige aber
nur eines“ (quilibet) oder konjunktiv, d. i. jedes einzelne ohne Ausnahme
(unusquisque) verstanden werden. Wieser habe sich dureh den Doppel-
sinn dieser Worte irreführen lassen, er habe bei seiner Ableitung (S. 24
des n. W.) „jedes Stück‘ zuerst disjunktiv gemeint und sei dann unver-
merkt zur konjunktiven Bedeutung übergegangen, wodurch das fehler-
hafte Resultat, daß alle Einheiten eines Vorrates nur mit dem Grenz-
nutzen anzuschlagen seien, erreicht worden sei.
Ich kann der Kritik Kraus’, die sich auf diese Ableitung an dieser
Stelle bezieht, nicht widersprechen. Es ist tatsächlich möglich, daß Wieser
sich in dem formellen Gange dieser „Begründung“ durch den Doppelsinn
der Worte hat leiten lassen. Aber was folgt daraus? Doch nur, daß eben
diese Ableitung unhaltbar oder unzureichend Ist. Keinesfalls aber, dab
t) „Zur Theorie des Wertes“, 1901, S. 105—113.
440 Hans Mayer.
damit auch das Grenzgesetz als tatsächlich geltendes widerlegt wäre.
Dazu wäre eben eine Widerlegung aus den Tatsachen erforderlich. Und ab-
gesehen davon hat ja Wieser noch andere Gründe für sein Wertgesetz an-
zuführen.
Wesentlicher als der Nachweis einer ,,Aquivokation“ in der kritisierten
Ableitung scheint mir jedoch, daß der Beispielsfall, den Wieser hier zugrunde '
legt (Wertschätzung einiger Stücke Brot, die ein Armer täglich erhält,
durch diesen) gerade diejenigen tatsächlichen Voraussetzungen, unter
denen das Grenzgesetz empirische Geltung hat, nicht enthält. Dieser Fall
hat mit dem regelmäßigen, d. i. empirisch häufigsten Wirtschaftsablauf
nichts gemein, er ist höchstens geeignet, das .,Gossensche Gesetz“ zu
demonstrieren, nicht mehr. Aber das hängt damit zusammen, daß Wieser
den — gewiß sehr weiten — Geltungsbereich seines Gesetzes nicht ganz
zutreffend, nämlich zu weit, abschätzt und auch noch „extreme“ Tat-
bestände darin eingeschlossen erachtet, für welche tatsächlich das Ergebnis
der Wertschätzung ein anderes ist, als der Inhalt des Grenzgesetzes aussagt.,
Kraus hat sich nun mit der Konstatierung einer „Äquivokation“
zufriedengegeben, ohne auf die Würdigung der materiellen (psychologischen)
Begründung des fraglichen Gesetzes einzugehen, die Wieser wenige Seiten
später — offenbar aus dem Gefühl, daß die rein formale Deduktion nicht
ganz überzeugend sei — zu geben versucht. Und doch wäre gerade hier,
wo es sich um materielle Behauptungen handelt, Gelegenheit zu besseren
Argumenten für oder gegen die tatsächliche Geltung jenes Wertgesetzes
gewesen als die bloße Konstatierung einer Äquivokation.
Den Einwand Kraus’ macht sich, wie die meisten anderen Kritiker
Wiesers, insbesondere auch Böhm-Bawerk zu eigen. Auch er hält durch
die Aufdeckung der „Äquivokation‘‘ das Grenzgesetz für endgültig wider-
legt. Es liege eine Verwechslung von „alternativer“ und „kumulativer‘
Wertschätzung der Teile eines Vorrates vor. Nur ein Stück aus einem
Vorrate, gleichgültig welches, könne das Grenzstück sein und daher den
Grenznutzen haben, nicht mehrere zugleich, „Geradeso, wie von fünf
Mann jeder alternativ als linker Flügelmann gestellt werden kann, aber
niemals alle fünf kumultativ als linke Flügelmänner stehen können‘.
Man darf eben „nicht alternativ gültige Ziffern (Werte) summieren, die
sich in ihrer Realisierbarkeit gegenseitig ausschließen, die nie ‚zusammen‘
realisiert werden können.‘“')
4) „Positive Theorie“, 1912, Exkurs VIJ, S. 183--187.
Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertreehnung. 441
Ganz die gleichen Einwände hat Schumpeter') gegen das Grenzgesetz
vorzubringen: „Wohl kann man jedes Teilchen eines Vorrates als ‚letztes‘
auffassen. Aber das heißt nur, daß man die einzelnen Teilmengen beliebig
anordnen kann. Summiert man jedoch die Werte, so darf man sie nicht
alle gleich anschlagen. Nur einem, allerdings einem beliebigen, kommt
der Grenzwert zu, die anderen haben einen höheren Wert. Solange alle
vorhanden sind, wird jedes einzelne allerdings nur mit dem Werte ange-
schlagen, der dem Verlust der Bedürfnisbefriedigung entspricht, den sein
Fehlen zur Folge haben würde, aber nur sein Fehlen, wobei vorausgesetzt
wird, daß die andern erhalten bleiben.“ „Daß der Gesamtwert größer ist
als der Wert der Teile, ist nur solange ein Paradoxon, als man alle zugleich
nur mit dem Grenznutzen anschlägt.‘ Um den Wert eines Vorrates für
ein Individuum zu finden, dürfe man nicht die Stückzahl mit dem Grenz-
nutzen multiplizieren, sondern man müsse jedes Stück (jede Teilmenge)
„mit der MaßBzahl der Intensität multiplizieren, die der Stelle entspricht,
an der es nach der allerdings beliebigen Anordnung steht und dann die
Summe dieser Produkte ziehen, d. h. man muß integrieren“.
Ich füge zur Vermeidung von Mißverständnissen sofort hinzu, daß ich
diese mit den letzten Worten angeführte ,,Integrationsformel‘‘ — die
übrigens durchaus nicht, wie Schumpeter anzunehmen scheint, neu ist?),
sie ist ja nur in präziserer, mathematischer Ausdrucksweise die Formel
Böhm-Bawerks, nach welchem der Gesamtwert eines Vorrates gleichartiger
Güter gleich ist der Summe der Teilwerte der einzelnen Stücke — für
durchaus zutreffend, ja als selbstverständlich anerkenne, sofern man nur
unter „\Wertintensität'‘ den Grad des abhängigen oder noch genauer des
als abhängig erachteten Nutzens versteht und sich im übrigen jeder Aus-
sage über das Größenverhältnis der Teilwerte der einzelnen Stücke, d. 1.
der Summanden der Integrationsformel zueinander enthält. Und in dieser
allgemeinsten Fassung steht die Formel für die Bewertung von Güter-
vorräten auch durchaus nicht in notwendigem Widerspruch mit Wiesers
') „Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie“
S. 99-111, und in den „Bemerkungen über das Zurechnungsproblem‘‘ in dieser
Zeitschrift, Band 1909.
2) Sie ist bereits bei Jevons entwickelt „Theory of political economy‘, 1879,
S. 50, 51, bei Walras „Mathematische Theorie der Preisbestimmung, vier Denk-
schriften“ (Deutsche Ausgabe) 1881, S. 26 und findet sich bei den meisten Ver-
tretern der mathematischen Wirtschaftstheorie.
442 Hans Mayer.
Grenzgesetz. Nach der Integrationsformel sowohl wie nach dem Grenz-
gesetze Wiesers ist der Wert eines Vorrates gleich der Summe der von den
einzelnen Teilmengen (Stücken) als abhängig erachteten Teilnutzen. Der
fundamentale Unterschied liegt jedoch darin, welcher genauere Inhalt
diesem Schema, das die Integrationsformel darstellt, von beiden Seiten
gegeben wird. Böhm-Bawerk, Schumpeter, wie fast alle Theoretiker
behaupten, daß, entweder notwendig — nämlich auf Grund des ,,Gossen-
schen Gesetzes‘‘, beziehungsweise des „Gesetzes des abnehmenden Grenz-
nutzens‘‘ — oder doch auf Grund der allgemeinsten Erfahrung die von den
einzelnen Stücken eines Vorrates abhängigen Teilnutzen ungleich sind, so
daß auch nicht zwei von ihnen die gleiche Größe haben.') Wieser dagegen
behauptet — und beruft sich auch seinerseits hiefür auf die Erfahrung,
scheinbar in Widerspruch mit dem ,,Gossenschen Gesetze‘ daB die
abhängigen Teilnutzen innerhalb weiter Grenzen, nämlich derjenigen des
‚‚regelmäßigen‘‘ Wirtschaftsablaufes, gleich sind, so daß sich innerhalb
dieser Grenzen eine Reihe gleicher Summanden ergibt. Ist dies so, dann
muß die Integration, da es sich um gleiche Größen handelt, übergehen
in eine einfache Multiplikation und damit in das „Grenzgesetz‘“.
Man sieht, der Gegensatz liegt in der Behauptung gegensätzlicher Tat-
sachen: Daß er fundamental ist, läßt sich gerade mit den Darstellungs-
mitteln der „mathematischen Nationalökonomie‘‘ — als deren modernster
Vertreter sich Schumpeter gibt — zeigen: Die letzten Elemente, die Bau-
steine der mathematischen Wirtschaftstheorie, sind bekanntlich die Wert-
kurven (Wertfunktionen, Nachfragekurven). Diese Kurven, beziehungs-
weise die sie beschreibenden analytischen Gleichungen beruhen ganz und
var auf der Voraussetzung, daß jedem einzelnen Mengenteilchen eines
Gitervorrates eine andere Wertintensität zugeordnet ist, und zwar derart,
daß bei zunehmenden Vorrat jedem hinzukommenden Teilchen eine ge-
ringere Wertintensität entspricht als dem vorhergehenden. Dieses Ver-
hältnis zwischen Mengen und Wertintensitäten gibt den Wertkurven ihren
grundlegenden Formcharakter, der sie erst zu ihrer Verwendung als Dar-
stellungsmittel geeignet macht.*) Auf Grund dieser Wertkurven muß der
1) Man vergleiche die obigen Zitate.
*) „Wir können mit unserer Funktion nichts anfangen, wenn wir nicht einiges
über ihre Gestalt aussagen können.“ „Es zeigt sich nun, daß nur eine Eigenschaft
unserer Kurven nötig ist, und daß sie im übrigen sich verhalten mögen wie sie wollen,
nämlich, daB sie in dem für uns in Betracht kommenden Intervalle überall
Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertrechnung, 443
Wert jedes Vorrates gleich sein einer Summe ungleicher Teilwerte. Hat
nun aber Wieser recht und gilt tatsächlich innerhalb weiter Grenzen des
Wirtschaftens das ,,Grenzgesetz‘‘, so kann dies, wie leicht ersichtlich, nur
dann der Fall sein, wenn in der empirischen Wirklichkeit des Wirtschaftens
die Teilmengen der Gütervorräte anders angeordnet werden, als bei der
Konstruktion der Wertkurven angenommen wird. Dann aber müssen jene
Wertkurven der mathematischen Wirtschaftstheorie für dieses weite Gebiet
des Wirtschaftens ungültig und daher für die Darstellung der wirtschaft-
lichen Vorgänge unbrauchbar werden und es müssen ferner alle mit ihrer
Hilfe gewonnenen Resultate — wie die Beschreibung des wirtschaftlichen
„Gleichgewichtszustandes‘‘, die Ableitung der Preise u. s. w. — unhaltbar
werden. Der Gegensatz reicht also wirklich bis auf die letzten Grundtat-
sachen des Wirtschaftens zurück.
Schumpeter hat aber außer dem Angeführten noch einige andere Ar-
sumente gegen das ‚„‚Grenzgesetz‘‘ vorzubringen. Ich kann sie kurz behan-
deln, weil sie mir durchaus auf Mißverständnissen oder auf Übersehen
einzelner Ausführungen Wiesers, die sich auf die Abgrenzung des von ihm
für seine Formel in Anspruch genommenen Geltungsbereiches beziehen, zu
beruhen scheinen. Schumpeter hält Wieser vor, daß nach dem Grenz-
sesetz der Wert derganzen, im Besitze eines Wirtschaftssubjektes befind-
lichen Menge eines Gutes gleich Null sein müsse, wenn der Grenznutzen
auf Null gesunken sei, was offenbar den Tatsachen widerstreite. Ferner:
Wenn der Grenzwert eines Gutes, zum Beispiel des Wassers, gleich Null sei,
müsse nach Wieser auch der Gesamtwert des ganzen auf der Erde befind-
lichen Wasservorrates Null sein, was wieder offenbar ein falsches Resultat
wäre. Endlich, daß es nach Wieser Fälle geben müsse — die des „absteigen-
den Astes‘‘ — in denen der Gesamtwert einer größeren Quantität kleiner
sei als der e‘ner kleineren, was offenbar unlogisch sei, weil mit dem Verlust
einer größeren Quantität auf vollständigere Bedürfnisbefriedigung ver-
zichtet werden muß, als mit dem einer kleineren. All diese Einwendungen
erledigen sich mit dein Hinweis darauf, daß Wieser selbst an zahlreichen
Stellen seiner Werke ausdrücklich den Geltungsbereich seines Wertgesetzes
derart abgrenzt, daß alle jene — relativ seltenen — Fälle, in welchen ein
Vorrat derart groß ist, daß die Wertbewegung bereits auf den „absteigenden
negativ zur Abszissenachse sind“. Schumpeter, Wesen und Hauptinhalt,
S, 73, 74. Ähnlich in „Über die mathematische Methode in der theoretischen
Ökonomie‘, S. 38 im Band 15 dieser Zeitschrift,
444 Hans Mayer.
Ast‘ übergreift, ferner alle — ebenfalls relativ seltenen — Fälle, in denen
die Bewertung eines Vorrates als „Gesamtsache‘ und nicht bloß als
Summe von Teilvorräten oder die Bewertung des gesamten verfüg-
baren Gütervorrates in Frage steht, nicht der Schätzung nach dem
Grenzgesetz, sondern nach dem „vollen Nutzen“ unterliegen. Inwieweit
diese Abgrenzung sich mit der tatsächlich geübten Wertschätzung deckt.
inwieweit insbesondere ihre Begründng durch Wieser zutreffend ist:), soll
nicht an dieser Stelle untersucht werden, es wird sich aus unseren folgenden
positiven Ausführungen von selbst ergeben.
Auch Mises glaubt das Grenzgesetz aus den angeführten Gründen
ablehnen zu miissen.?) Auch er hält es für unvereinbar mit ‚dem
Grundgedanken der Grenznutzenlehre, daß der Nutzen und mithin auch
der subjektive Gebrauchswert der Gütereinheit bei steigendem Vorrat
abnimmt‘. „Auch bei unverändertem Vorrat ist der Grenznutzen mehrerer
Einheiten zusammengenommen nicht gleich dem Produkte aus der An-
zahl dieser Einheiten mit dem Grenznutzen der Einheit, sondern not-
wendigerweise größer als dieses Produkt. Der Wert zweier Einheiten,
die ich besitze, ist nicht doppelt so groß als der einer solchen Einheit
sondern größer.“ Und auch noch in der allerletzten Zeit) stellt Mises fest:
„Der Grenznutzen stellt keine Werteinheit dar, da bekanntlich der Wert
zweier Einheiten aus einem gegebenen Vorrate nicht doppelt so groß ist
als der einer Einheit, sondern notwendig größer sein muß.“ Auch das
Schumpetersche Argument für die ,‚Unhaltbarkeit‘‘ von Wiesers Auffassung.
nach der sich ergäbe, daß „der Wert des Gesamtvorrateseines freien
Gutes immer Null sein müßte“, nimmt Mises auf. Ich habe bereits ge-
zeigt, daß es gegenstandslos ist.
Wiederum die gleichen Ablehnungsgründe bringt F. X. Weiß?) vor:
„Es ist daran festzuhalten, daß der Wert von zwei Exemplaren derselben
1) Schon Kraus bemerkt,daß er „trotz eifrigsten Bemühens nicht imstande ist,
einen in dieser Hinsicht belangreichen Unterschied zu konstatieren‘‘, er müsse es
„den Vertretern der hier besprochenen Lehre überlassen, das Moment aufzuweisen.
welches das eine Mal verwehrt, was das andere Mal erlaubt ist‘‘. Theorie des Wertes,
S. 110.
2) „Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, 1912, 5. 19 ff.“
3) „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen‘ im Archiv für
Sozialwissenschaft, Band 47, S. 93. i
%) „Die moderne Tendenz in der Lehre vom Geldwert‘‘ im Jahrgang 1910
dieser Zeitschrift, S. 538,
Untersuehung zu dem Grundgesetz der wirtsehaftliehen Wertreehnung. 445
Güterart nicht doppelt so groß ist, wie der eines Exemplares. Vielmehr
ist der Wert zweier Stüeke, die ich besitze, mehr als der doppelte des einen.
Denn das vorletzte Stück befriedigt mir ja ein wichtigeres Bedürfnis als
das letzte‘ u. s. w.
Und wiederum das Gleiche bei Engländer in seinen jüngsten scharf-
sinnigen kritischen Untersuchungen‘): ‚Tatsächlich kann immer nur eine,
wenn auch beliebige Einheit aus einem Vorrate nach dem Grenznutzen
geschätzt, d. i. subjektiv bewertet werden.‘ Denn da in jedem Augenblick
nur ein einziges Gut einesVorrates das Grenzgut sein kann, nur ein einziges
gerade nur mit dem Grenznutzen verbunden vorgestellt werden kann, nie
aber alle Stücke der betreffenden Güterart gleichzeitig, so kann die Wirt-
schaft doch gar nicht annehmen, daß der Vorrat nur ein yrelfaches des
Grenznutzens vorstelle‘‘ u. s. w.
Engländer wendet sich aber auch noch gegen den von Wieser vorge-
brachten Beweis aus der Erfahrung, und was er gegen diese Art der ver-
suchten Begründung vorzuführen hat, ist in der Tat mehr gerechtfertigt
als das vorhin erwähnte allgemein verbreitete Argument: „Die Er-
fahrung zeigt nur, daß sich für Güter gleicher Art für denselben Käufer
gleiche Preise bilden, das aber ist keine Erfahrung der einfachen Wirtschaft,
sondern ist eine Erfahrung der in die verkehrswirtschaftliche Organisation
eingebundenen Wirtschaft, die mit unmittelbaren Wertschätzungen des
Käufers nichts zu tun hat, sondern durch besondere Bedingungen der Ver-
kehrswirtschaft begründet ist.‘‘ An Stelle einer „Werterfahrung‘ sei hier
eine „Preiserfahrung‘‘ gesetzt. Man braucht keineswegs so weit zu gehen,
wie es Schumpeter gelegentlich:) tut, der die ganze Auffassung Wiesers
über den Gesamtwert auf den Wunsch zurückführt, ‚nachzuweisen, daß
die Preise stets der Ausdruck des vollen Wertes eines Gutes sein, und daß
der wirtschaftliche Verkehr nichts an der Bedeutung der Güter ändere.
welche dieselben in der isolierten Wirtschaft hätten‘‘, um die methodolo-
gische Berechtigung von Englanders Einwendung anzuerkennen. Aber
auch daraus folgt wieder nur die Anfechtbarkeit dieser Begründung, keines-
falls die Widerlegung der tatsächlichen Geltung des „Grenzgesetzes“.
Die im Vorstehenden vorgeführte Stellungnahme einer Anzahl gründ-
licher und scharfsinniger Vertreter der modernen Wirtschaftstheorie,
') „Fragen des Preises“ in Schmollers Jahrbuch, 43. Band, S. 192. Ähnlich
auch schon in „Zur Theorie des Produktivkapitalzinses“ 1908, S. 107 ff.
*) Wesen und Hauptinhalt, S. 104.
446 Hans Mayer.
darunter Forscher von international anerkannter Autorität, dürfte zur
tharak terisierung der herrschenden Meinung in der hier zu untersuchenden
Frage und der Gründe ihrer Ablehnung des ‚„Grenzgesetzes‘' ausreichen,
und ich kann wohl auf die Anführung der Vielen, die sich den dargestellten
ablehnenden Argumenten ohne selbständige Begründung einfach an-
schließen sowie derjenigen, die angesichts der Unbestreitbarkeit der durch
das „Sättigungsgesetz‘‘. ausgesagten Tatsache eine weitere Erörterung
dieser Frage für unnötig erachten, verzichten. Nur auf die Stellung der
Vertreter der modernen Theorie in derausländischen Literatur möge noch
kurz hingewiesen werden. Diese bedienen sich bekanntlich zur Darstellung
der Ergebnisse der neueren Forschung fast ausschließlich der mather a-
matischen Methode, und soweit sie dies tun, haben sich alle — von Jevons
und Walras angefangen bis aufPareto — schon bei der Aufstellung ihrer
Kurven, beziehungsweise der sie beschreibenden analytischen Gleichungen
auf die Formel der grundsätzlich ungleichen Werte der einen Vorrat
bildenden Teilchen festgelegt, negieren somit gleichfalls den durch Wiesers
„Grenzgesetz‘' ausgesagten Tatbestand. Bloß die modernen amerikanischen
Theoretiker machen hievon e'ne — gleich zu besprechende — Ausnahme.
Wenden wir uns nun in einem kurzem Überblick den Vertretern der
gegensätzlichen, d.i. der von W:eser aufgestellten Wertformel zu. Da
müssen wir zunächst alle diejenigen ausscheiden, welchen auf Grund einer
materialistischen, d. i. „objektiven“ Werttheorie (Kostentheorie) es sich
als selbstverständlich ergibt, daß der Wert eines Vorrates gleich ist dem
Produkte aus dem \Verte der Einheit und der Stückzahl. Es wäre ein
Irrtum, sie als Vertreter von Wiesers Wertformel anzusehen, für sie ist
schon der Begriff des Wertes ein grundsätzlich anderer, sie schlagen einen
Vorrat nicht mit dem Vielfachen des Grenznutzens, sondern einer verme'nt-
lich „objektiven“ Werteinheit an und diese Bewertungsweise hat für sic
sanz allgemeine Gültigkeit. Als Vertreter einer überwundenen Wertlehre
kommen sie hier nicht weiter in Betracht. Dann aber bleiben als Anhänger
des Grenzgesetzes nur ganz vereinzelte Ausnahmen.
In der gesamten deutschen theoretischen Literatur war es die längste
ZeitZuckerkandlallein, der sich der Erkenntnis der tatsächlichen Geltung
des Wieserschen Grenzgesetzes innerhalb eines weiten Spielraumes nicht
verschloß. Bet der Ableitung der Preisgesetze') führt er aus: „Soll nicht
') Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl.. Band VI, 8. 1134.
Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtsehattlichen Wertreehnung. +41
eine Teilmenge zu einem Vorrate zuerworben werden, sondern ist eine
Anzahl von Teilmengen zu erwerben, so wird, wenn es dem Käufer frei
steht, mehr oder weniger anzuschaffen, der subjektive Wert des Vorrates
derart geschätzt, daß man den Grenznutzen so oft ansetzt, als der Vorrat
bestimmte Teilmengen oder Stücke enthält, die höheren Nutzensziehungen
aus einzelnen Teilmengen sind als durch den Vorrat gesichert bei der Be-
wertung nicht in Anschlag zu bringen. Soll ein Gut nicht zu einem Vorrate
erworben werden, so wird es nach seinem Nutzen geschätzt.‘ In dem Hin-
weis darauf, daß die höheren Nutzleistungen als durch den Vorrat gesicheit
für die Bewertung nicht in Betracht kommen, liegt gewiß ein richtiges --
auch schon von Wieser angeführtes — Element der Begründung, aber eben
nur eines und es bedarf auch noch einer genaueren Formulierung der
Voraussetzungen, wann, d. i. bei welchem Größenverhältnis von bereiis
besessenen und noch hinzuzuerwerbendem Vorrat die höheren Nutz-
leistungen als „gesichert“ gelten.
Häufiger wird von dem Grenzgesetz in der neueren amerikanischen
Literatur, insbesondere innerhalb der von Clark gegründeten Schule
Gebrauch gemacht. Aber seine Verwendung erfolgt hier entweder als selbst-
verständlich, ohne irgendeine Begründung oder, soferne eine Begründung
versucht wird, deckt sie sich im Wesen mit der schon durch Wieser ge-
gebenen, die die Kritik als auf einer „Äquivokation“‘ beruhend, ablehnt.
Ganz deutlich ist dies bei der Ableitung des Wertes von Produktionsmittel-
vorräten bei Clark’) zu ersehen. Aus der Tatsache, daß alle Stücke eines
Vorrates gleichartig sind, wird geschlossen, daß sie alle die gleiche Pro-
duktivität, und zwar die „Grenzproduktivität‘‘ haben und da die Grenz-
produktivität den Wert der Produktivmitteleinheit bestimmt, so ist
der Gesamtwert des Vorrates gleich dem Produkte aus Stückzahl und
Grenzwert. Eine ausführliche Begiündung des Grenzgesetzes versucht
jedoch F. A. Fetter zu geben.*) Auch er lehnt sich teilweise an die von
Wieser verwendeten Begründungen an, geht aber andrerseits wieder über
das von Wieser Behauptete hinaus. Die prägnantesten Stellen seines an
Hand der gebräuchlichen Kurve des abnehmenden Nutzens gegebenen
„Beweises‘‘ seien hier wiedergegeben. ‚Die Grenzeinheit eines gleichartigen
Vorrates kann nicht von größerem Nutzen erachtet werden, als irgend-
eine andere Einheit im selben Augenbliek und deshalb (?) gibt das Produkt
1) J. B. Clark, Distribution of wealth, 1899.
2) F. A. Fetter: The Principles of Economies, 1911, S. 23 ff.
448 | Hans Maver.
aus Grenznutzen und Zahl der Einheiten jeweils das Gesamtausmaß der
Bedeutung des Vorrates und dies ist der Wert. Die Grenzeinheit eines
gegebenen Vorrates, zum Beispiel von 10 Stück, ist nicht eine besondere
Einheit, sondern irgendeine von den 10 Einheiten.“ Die zehnte Einheit
träfe zum Beispiel die verschiedenen Bedürfnisse in einem solchen Grade
der Befriedigung an, daß ihr die Bedeutung 36 zukomme. Da aber diese
letzte oder Grenzeinheit des Vorrates für irgendeine andere der Verwen-
dungen benützt werden könnte, so sei die Bedeutung jeder einzelnen
Einheit gleicherweise durch 36 afisgedriickt. „Jede von den zehn Ein-
heiten ist im logischen Sinne eine Grenzeinheit.‘‘ Die Abhängigkeit des
Wirtschaftssubjektes von denı ganzen Vorrate werde daher ausgedrückt
durch das Produkt aus den Einheiten und dem Grenznutzen. Ferner:
„ Wenn die Zahl der Einheiten zunimmt, sinkt der Grenznutzen solange,
bis er schließlich Null erreicht, und der Gesamtwert würde dann Null
sein.“ (!) Hier geht Fetter tatsächlich so weit, wie es Wieser zu Unrecht
von seinen Kritikern imputiert wird. Ferner: Man dürfe die auf der Skala
der abnehmenden Nutzen verzeichneten verschiedenen Grenznutzen nicht
als im selben Moment existierend annehmen, in jedem Augenblicke sei bei
gegebener Menge nur ein Grenznutzen vorhanden und dieser sei derselbe
für jede Einheit. Daher sei es ganz irrtümlich zu sagen, daß, wenn 30 Ein-
heiten gegeben seien, der Nutzen der zehnten Einheit zum Beispiel 36 sei,
der der zwanziesten 25, der der dreißigsten 19 u. s. w. Ebenso sei es in-
korrekt — hier wendet sich Fetter gegen Wieser —, den Gesamtnutzen
(total utility) durch eine andere, größere Fläche darzustellen als den
Wert, weil eben verschiedene Grenznutzen für die einzelnen Teile des
Vorrates im selben Moment nicht existieren. Die „total utility“ — wenn
sie überhaupt Existenz habe — sei sicherlich nicht berechenbar.
Ich kann in diesen Ausführungen Fetters auch nicht im Entferntesten
eine Ableitung des empirisch geltenden (resetzes der Bewertung von
Gütervorräten finden. Die Verwechslung von „alternativer“ und ,,kumu-
lativer‘‘ Schätzung der Teile eines Vorrates ist hier zu offensichtlich, als
daß es einer weiteren Auseinandersetzung bedürfte. Bloß auf ein Argument
soll hier näher eingegangen werden. Fetter behauptet, daß, solange der
einem Wirtschaftssubjekt verfügbare Vorrat in seiner Größe unverändert
bleibe, für dieses Wirtschaftssubjekt nur ein Nutzen, nämlich der Grenz-
nutzen, Existenz habe — der für alle Stücke derselbe sei — und daß die auf
der Nutzenskala verzeichneten höheren Nutzen gar nicht zur Existenz
en Ze er un nme o rn Vi
Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertreehnung. 449
velangen. Darin mag er recht haben unter einer Voraussetzung: Insoweit
das Wirtschaftssubjekt tatsächlich nur diese eine Gütersituation im
Auge hat, charakterisiert durch diese bestimmte Gütermenge und den ihr
entsprechenden aktuellen Grenznutzen, und gar keine andere Güter-
situation aus der früheren Erfahrung zum Vergleiche heranzieht, existiert
für dieses Wirtschaftssubjekt in seiner Vorstellung wirklich nur der cine
Nutzen, der Grenznutzen, den es aktuell erlebt (den es aber strenge genom-
men mangels eines Vergleiches mit anderen Nutzen gar nicht einmal aus-
drücken könnte) und unter dieser engsten Voraussetzung, d. i. der Annahme
eines in Bezug auf die Wirkung von verschiedenen Gütersituationen er-
fahrungslosen Wirtschaftssubjektes, könnte das Individuum in der Tat
das mechanische Urteil fällen: Da es gleichartige Stücke sind, so müssen
sie auch alle den gleichen Nutzen haben, nämlich diesen einen — dem
Individuum als aktuell allein bekannten — Grenznutzen. Und es würde
in diesem Urteil auch nicht desavouiert werden, solange diese Güter-
situation unverändert weiterbesteht, weil es dann eben an jeder Gelegenheit
zum Desavouiertwerden fehlt, aber ebenso an jeder Gelegenheit zur Be-
währung des Urteils. Aber in dem Augenblick, in welchem es sich ‚mit
seinem — auf einer so schmalen Basis gegründeten — Urteil in die wirt-
schaftliche Wirklichkeit wagte, würde es sofort durch die Tatsachen
widerlegt werden. Kame es nun in eine andere (rütersituation, sel zum
Beispiel der verfügbare Vorrat nunmehr um einige Stücke geringer als
früher, so müßte es nun zu seinem Nachteil konstatieren, daß der Nutz-
entgang größer ist, als seiner Wertformel entspricht, daß von den einigen
Stücken weniger ein größeres Ausmaß von Nutzen abhängig war als das
Vielfache des Grenznutzens. Und da die Menschen gemeinhin aus der Er-
fahrung lernen, so würde es sein früheres Werturteil als falsch erkennen
und korrigieren. Die von Fetter abgeleitete Wertformel ist demnach nur
solange zu halten, als sie praktisch nicht verwendet wird, im Augenblicke,
wo sie praktisch wird, wird sie zugleich unhaltbar. Aber es kommt noch
hinzu, daß ein wirtschaftliches Werturteil überhaupt nur
Sinn hat in Bezug auf zu gewärtigende — seien es bewußt herbei-
zuführende oder ungewollte, ,,von selbst“ eintretende — Veränderungen
in der Gütersituation. Dafür: Welche Veränderungen in den Mengen
der verschiedenen verfügbaren Güterarten vorzunehmen sind und was
bei ungewollten Veränderungen derselben vorzukehren ist, mit anderen
Worten für das Disponieren mit den Gütern in Haushalt und Produktion
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 31
450 Hans Mayer.
soll das Werturteil die Richtlinien geben. Es muß daher sinnlos werden
in Bezug auf einen einzigen isolierten und als unveränderlich ange-
nommenen Zustand. Deshalb ließe sich Fetters Ableitung auch dahin
charakterisieren: Seine Wertformel mag zutreffend sein, soweit über-
haupt nicht gewertet wird, sie ist unzutreffend, soweit tatsächlich ge-
wertet wird. All dies jedoch unter Zugrundelegung jenes Wirtschafts-
ablaufes, welchen Fetter ebenso wie die Kritiker Wiesers als den
selbstverständlichen annehmen, daß nämlich der zu bewertende Vorrat
uno actu, in einem einzigen Konsumabschnitt zur Verwendung
gelangt. Es wird sich aber zeigen, daß diese von allen angeführten Autoren
als selbstverständlich zugrundegelegte Voraussetzung nicht den regel-
mäßigen Voraussetzungen der empirischen Wirtschaft entspricht, daß
sie in der Wirklichkeit nur die seltene Ausnahme ist und daß man,
solange man an dieser unempirischen Vorausetzung festhält,
das Grenzgesetz überhaupt nicht ableiten kann.
Von ganz anderer Seite als Fetter hat sich in neuerer Zeit Broda!)
um die Lösung der Streitfrage und die Aufrechterhaltung von Wiesers
„Gesamtwertformel‘‘ bemüht. Broda sucht eine Lösung dadurch zu finden,
daß er dem Begriffe ‚‚Grenznutzen‘ und dem Begriffe „gegebener Vorrat“
einen ganz eigenartigen Inhalt unterschiebt. Er unterscheidet „Grenz-
teil“, „Grenzteilquotient‘‘ und Grenznutzen. Als Grenzteil bezeichnet
er jene Teilquantität eines Vorrates, deren Verlust im konkreten Fall ın
Frage steht. Das kann je nach den konkreten Umständen ein kleiner Teil
des Vorrates, ein einzelnes Stück, mehrere Stücke oder sogar der ganze
Vorrat sein. Als Grenzteilquotienten jene Größe, welche angibt, wie oft
der so definierte Grenzteil in der (resamtmenge enthalten ist. Und als
Grenznutzen den durch den Ausfall des Grenzteiles entstandenen Nutzen-
ausfall. Mit Hilfe dieser Begriffe gibt er dem ,,Wieserschen Gesamtwert-
gesetz‘ folgende Gestalt: „Gesamtwert = Grenzwert x Grenzteil-
quotient’. Und so, meint er, sei es unanfechtbar. Wenn nun ein Güter-
vorrat in seiner Gesamtheit zu bewerten sei, dann sei eben der Grenz-
teil = Gesamtvorrat, der Grenzteilquotient = 1 und der Gesamtwert =
Grenzwert. Damit sei die Richtigkeit von Wiesers Behauptung erwiesen,
t) „Die Lösungen des Zurechnungsproblemes" in dieser Zeitschrift, 20. Band,
Seite 374 ff.
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Untersuehung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertreehnung. 451
daß der Wert des gesamten verfügbaren Vorrates eines Gutes mit dem
Produkte aus Grenzwert und Anzahl der Teilmengen anzuschlagen sei.
(Was übrigens von Wieser, der die Fälle der Bewertung des ganzen ver-
fürbaren Vorrates eines Gutes als einer unteilbaren Gesamtheit
ausdrücklich von seinem Grenzgesetze ausschließt, gar nicht behauptet
sondern bloß von einzelnen Kritikern ihm zugemutet wird.) Mit dieser
Berechnungsweise käme man keineswegs zu dem unsinnigen Resultate,
daß der Wert der Gesamtmenge eines „freien“ Gutes, zum Beispiel des
sanzen verfügbaren Wasservorrates, gleich Null oder gar negativ sei,
sondern es ergäbe sich dafür eine positive Größe. Broda ist über diese
seine „Lösung‘‘ sehr erfreut, er meint, daß sie „sehr schön und einfach
erkläre“. Ich kann mich dieser Meinung leider nicht anschließen. Es ist
leicht zu erkennen, daß sich aus dieser „Lösung“ gar nichts an Erkenntnis
ergibt, daß sie nichts als ein Spiel mit Worten ist, hinter dem freilich
eine vollkommene Verkennung der methodologischen Funktion des Be-
griffes „Grenznutzen‘ steht. Die obige Formel besagt nichts als die Tau-
tologie: Der Gesamtwert eines Vorrates ist gleich seinem Gesamtwert, nur
daß das eine Mal der Gesamtwert „Grenznutzen‘ genannt wird und
das andere Mal eben derselbe Gesamtwert „Gesamtwert‘‘. Der für die
ganze Grenznutzentheorie so fundamentale Unterschied zwischen Teil
und Ganzem wird hier so vollständig ignoriert, daß der Gesamtvorrat
eines Gutes als sein eigener „‚Grenzteil‘ aufgefaßt wird! Welche Funktion
der Begriff ‚‚Grenznutzen‘ dann noch haben soll, wenn er identisch sein
kann mit dem Begriff ‚Gesamtwert aller Teile eines Ganzen“ — während
doch das Hauptproblem der Grenznutzenlehre (wie der modernen Theorie
überhaupt) darin liegt, das Verhältnis zwischen dem Werte eines aus Teilen
zusammengesetzten Ganzen und den Werten der einzelnen Teile aufzuzeigen
—, das bleibt unerfindlich. Wir erfahren denn auch durch Brodas ‚.Lösung‘“
über das Verhältnis des Wertes des Ganzen zu den Werten der Teile gar
nichts, sondern der Wert des Ganzen wird einfach als bekannt vorausgesetzt
und ,,Grenznutzen“ genannt. Das Sonderbarste aber ist, daß Broda der
Meinung ist, mit dieser den Begriff des Grenznutzens (beziehungsweise des
Grenzteiles) geradezu negierenden Bedeutung, die er dem Worte beilegt,
gerade den Sinn des Begriffes getroffen zu haben, der die neue Wertlehre
zu ihren grundlegenden Erkenntnissen geführt hat. Indem Broda die
Einschränkung des Begriffes ‚Grenznutzen“ durch Schumpeter auf
den Nutzen des letzten unendlich kleinen Teilchen seines Gutes
452 Hans Mayer.
bekampft'), verfällt er selbst in das gegenteilige, methodologisch viel schwerer
zu verurteilende, Extrem, als Grenzteil ganze Vorräte der verschiedensten
Größe und sogar den Gesamtvorrat eines Gutes anzusehen, sofern nur dessen
Verlustim konkreten Falle in Frage steht. Broda übersieht, wie leider sehr
viele Autoren, die mit dem Begriff des Grenznutzens opereriren, daß dieser
Begriff seine Erklärungsfunktion für die empirischen Wirtschaftsvorgänge
nur dann versehen kann, wenn er in dem Sinne genommen wird, den er
im praktischen Wirtschaftshandeln hat, d. h. als der Nutzen einer solchen
kleinsten Teilmenge eines Gutes, die einen dem Wirtschaftssubjekt noch
merkbaren Nutzeffekt zu geben imstande ist. Diesen Teil des Lösungs-
versuches Brodas müssen wir also schon infolge der verfehlten Problem-
stellung, welche Gesamtwert und Grenzwert identifiziert, als grundsätzlich
verfehlt bezeichnen.
Nun sieht sich aber Broda im weiteren Verlauf seiner Untersuchung
doch gezwungen, auch auf die Frage des Verhältnisses des Wertes von
einzelnen echten Teilmengen zu dem Werte des ganzen Vorrates einzugehen
und in seinen darauf bezüglichen Ausführungen ist, trotz mannigfacher
Irrtümer und Widersprüche, doch ein richtiger — wenn auch unausge-
sprochener — (iedanke verborgen. Er konstatiert zunächst, daß, wenn über
einen gegebenen Gesamtvorrat eines Gutes von zum Beispiel 1000 Einheiten
im Ganzen verfügt werden soll, der Gesamtwert desselben zweifellos
(offenbar meint er infolge des Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens) viel
höher angeschlagen wird, als bloß mit dem Tausendfachen des Wertes der
letzten Einheit oder dem Zehnfachen des Wertes der letzten 100 Einheiten.
Wenn nun aber die Umstände so lägen, daß der Vorrat von 1000 Einheiten
sich immer wieder bei jedem Verlust oder bei jeder Entnahme einer Teil-
quantität um dieselbe Teilquantität auf sein ursprüngliches Ausmaß
ergänze (eine gewiß sehr seltsame Voraussetzung!) dann müßte sich als
Wert des zum Beispiel in 10 Raten à 100 Einheiten zu verausgabenden
Vorrates von 1000 Einheiten eine andere Größe ergeben als im ersten
Falle der Verausgabung des ganzen Vorrates auf einmal. Denn dann setze
sich die zu bewertende Menge von 1000 Einheiten aus 10 „‚Grenzteilen‘
à 100 Einheiten zusammen und da der Nutzen des Grenzteiles der ,,Grenz-
nutzen“ ist, so ergibt sich als Wert der Menge von 1000 Einheiten das Pro-
1) Auch ich hatte auf die methodologische Unzulässigkeit dieses Begriffes des
unendlich kleinen Grenzteiles aufmerksam gemacht in „Eine neue Grundlegung der
theoretischen Nationalökonomie“, Jahrgang 1011 dieser Zeitschrift.
Untersuchung zn dem Grundgesetz der wirtsehaftliehen Wertreehnung. 453
S x
dukt aus Grenznutzen und ‚„Grenzteilquotient‘‘ oder, da hiebei der Vorrat
in gleiche Teilmengen à 100 Einheiten zerlegt gedacht wird, Produkt aus
(rrenznutzen und Anzahl der Teilmengen. Und das sei der „Beweis“ für
Wiesers Wertformel!
Jeder Leser der Ausführungen Brodas wird sofort das Gefühl haben,
daß in dieser „Ableitung‘‘ — ganz abgesehen von den bereits erörterten
unzulässigen Begriffsverwendungen und gleichfalls von dem geradezu
phantastischen Charakter der zugrundecelegten Voraussetzungen — etwas
nicht in Ordnung ist. Es ist hier wieder ein Wechselspiel mit einem Begriffe,
mit dem Begriffe des,,gexebenen Vorrates“. Selbstverstandliche Voraus-
setzung jeder Vornahme einer Wertschätzung ist, daß das Objekt der Bewer-
tung eindeutig gegeben ist, d.i.bei einer Menge von gleichartigen Gütern die
Größe des Vorrates. Nun verwendet Broda den Kunstgriff, einen gegebenen
Vorrat während der Vornahme der Wertschätzung sich fortwährend verän-
dern zu lassen durch Wegfall einer Teilmenge und darauffolgenden Nach-
schub einer Teilmenge gleicher Größe und trotzdem die Bewertung aufdenin
seiner Größe unveränderten Vorrat zu beziehen. Was Broda in Wahrheit
zeigt, ist die Selbstverständlichkeit, daß mehrere, in verschiedenen Zeit-
punkten existent werdende gleichgroße Vorräte bei gleichbleibender übriger
wirtschaftlichen Situation des wertenden Wirtschaftssubjektes von diesem
gleich bewertet werden. Das hat aber mit dem Problem — dessen Lösung
Broda damit zu bieten glaubt —, wie eine Mehrheit von Teilmengen ein und
desselben gegebenen Vorrates zu bewerten ist, gar nichts zu tun. Der
Vorrat von 1000 Einheiten, den Broda durch gedankliche Zusammenfassung
der in verschiedenen Zeitpunkten existent werdenden und jeweils sofort
wieder verausgabten 'Teilmengen à 100 Einheiten: konstruiert, existiert
gerade nach seinen Voraussetzungen in Wahrheit in keinem Moment, er
ist inkeinem Moment verfügbar und als Gegenstand der Bewertung vor-
handen, und es fällt daher jeder Schluß auf die Bewertung dieses Vorrates
aus der Bewertung der isolierten Teilmengen à 100 Einheiten, die in Wahr-
heit eben nicht zu diesem Vorrat vereinigt sind, weg.
Muß also auch dieser Versuch Brodas, das Grenzgesetz durch Heran-
ziehung der „Güter mit sukzessivem Verlust und konstantem Nachschub“
— wie er es nennt — zu begründen, als gänzlich mißlungen bezeichnet
werden, möge auch seine Meinung über das tatsächliche Zutreffen eines
streng kontinuierlichen Nachschubes bezüglich der weitaus überwiegenden
Mehrheit aller Güter und insbesondere über die Bedeutung dieser vermeint-
454 Haus Mayer.
lichen Tatsache für die Erklärung der tatsächlich geübten Wertschätzung
von Gütervorräten sich als irrig erweisen, so bleibt es doch sein Verdienst,
in der Reihe aller derjenigen Autoren, welche sich mit Wiesers Grenzgesetz
auseinandergesetzt haben, als Einziger beachtet zu haben, daß die Be-
wertung eines Vorrates anders ausfallen müsse, wenn er nach und nach,
in längerer Zeit als wenn er in einem ununterbrochenen Zuge der Konsumtion
zugeführt wird.‘) Broda konnte zwar diesen Gedanken nirgends klar aus-
drücken, weil er an dem Begriffe des gerebenen Vorrates nicht festhielt,
er hat die gleichmäßige Konsumtion innerhalb eines Zeitraumes (‚Güter
mit sukzessivem Verlust‘‘!) nicht als Ausdruck des Grundprinzipes des
Wirtschaftens, sondern bloß im Zusammenhang mit einem vermeintlich
„konstanten Nachschub‘ gesehen, wobei ihm notwendig der Begriff des
Vorrates ganz ins Wesenlose zerfließen mußte, trotzdem ist bei ihm infolge
der — von ihm zwar nicht beabsichtigten und in ihrer Bedeutung nicht
erkannten, aber notwendigerweise sich ergebenden — Einbeziehung des
Momentes der Zeit eine erste Annäherung an den Weg zu finden, der allein
zur Lösung des Problems führen kann.
Das Ergebnis des gegebenen Überblickes über das Verhältnis einer
Anzahl von Vertretern der modernen Theorie zum Grenzgesetz läßt sich
dahin zusammenfassen: Die weitaus überwiegende Mehrheit lehnt das
Grenzgesetz deshalb ab, weil sie die durch Wieser gegebene Begründung
für unrichtig erachtet. Die Wenigen, welche annehmen, daß das Grenz-
gesetz tatsächlich gilt, haben den bereits von Wieser vorgebrachten Be-
gründungen keine neue selbständige Ableitung hinzuzufügen, mit Ausnahme
Brodas, dessen selbständiger Erklärungsversuch sich aber als unhaltbar
herausstellt.
Es erübrigt nun noch, bevor ich in die Darstellung meines eigenen
Lösungsversuches eingehe, zu begründen, weshalb ich mich der durch
Wieser gegebenen Ableitung nicht in allen Teilen anschließen kann, sondern
die Lösung auf einem anderen Weg zu erreichen suche.
Der Schwerpunkt der von Wieser vorgebrachten Begründungen des
Grenzgesetzes liegt zweifellos inder versuchten psychologischen Ableitung
der gleichen Wertschätzung aller Teile eines Vorrates, wie sie im „Natür-
1) In anderem Zusammenhang und ohne auf die empirischen Voraussetzungen
der Wirtschaft einzugehen, hat bereits Cuhel darauf aufmerksam gemacht (,.Zur Lehre
von den Bedürfnissen‘. 1907, § 268).
Untersuchung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertreehnung. 455
lichem Wert‘) vorgeführt wird und in ihrer Rechtfertigung durch die
wirtschaftliche ZweckmaBigkeit. Die rein formale Deduktion, deren
Resultat die Kritik als auf einer Äquivokation oder der Verwechslung von
alternativer mit kumulativer Bewertung beruhend ablehnt, gibt aus sich
heraus gar keine materielle Begründung, sie steht oder fällt mit dem tat-
sächlichen Zutreffen oder Nichtzutreffen der ihr zugrundegelegten psycho-
logischen Voraussetzungen.. Wieser geht, mit richtigem Gefühl für die
Tatsachen, vom Anfang an von der Überzeugung aus, daß in der empirischen
Wirtschaft innerhalb eines weiten Spielraumes die einzelnen Teile eines
Vorrates tatsächlich gleich angeschlagen werden. Und nun sucht er nach
einer Begründung dieser seiner Überzeugung — die ja in offenbarem Wider-
spruche mit dem Gossenschen Gesetz zu stehen scheint — und glaubt sie
in Folgendem zu finden: Dem positiven Wertbildungselement, dem In-
teresse am (rüternutzen tritt bei zunehmender Gütermenge ein negatives
Wertbildungselement, die Gleichgültiekeit gegen die Güter entgegen und
dieses letztere wächst, je größer die Gütermenge wird, wodurch das Interesse
an den Gütern verringert, teilweise kompensiert wird, so daß als Resultat
dieser beiden Gefühlskomponenten schließlich für jedes Stück des Vor-
rates bloß das Interesse aufgebracht wird, welches dem vom letzten
Teilchen abhängigen Nutzen entspricht. Obwohl die anderen Stücke
höhere Nutzen bewirken, als abhängig gefühlt wird von, jedem
Stück, solange nur der Vorrat unverändert bleibt und dadurch die von
einzelnen Stücken bewirkten höheren Nutzleistungen als ohnehin ge-
sichert kein stärkeres aktuelles Interesse wachrufen, bloß der Grenznutzen.
Zweifellos liegt hier eine feine und durchaus zutreffende Beobachtung
des regelmäßigen Verhaltens der Menschen auf vielen Lebensgebieten
vor. Allzuleicht sind die Menschen geneigt, den Bedingungen ihrer Wohl-
fahrt, sofern sie nur in gewissem Ausmaße für gesichert gehalten werden,
nicht das ganze Interesse entgegenzubringen, das der Größe der von ihnen
tatsächlich, d. i. sachlich abhängigen Wohlfahrt entspricht, sondern nur
jenes geringere Interesse, das der jeweils als aktuell gefühlten Abhängig-
keit entspricht und das Gefühl der aktuellen Abhängigkeit entsteht immer
nur an der Grenze der Wohlfahrtsyedingungen, an dem Punkt, wo eine
weitere Förderung der Wohlfahrt, ein Fortschreiten in der Befriedigung
oder dem Genusse abgebrochen werden muß, weil die Grenze des Verfür-
baren erreicht ist.
~ NSL 27 ff.
456 Hans Mayer.
Für so viele Lebensgebiete auch das von Wieser angenommene Ver-
halten tatsächlich zutrifft, gerade für das Gebiet der Wirtschaft trifft
es nicht zu, kann esdem Wesen des Wirtschaftens nach nicht zutreffen.
Wenn irgend Etwas, so ist das Wirtschaften, das wirtschaftliche Handeln
und Urteilen nicht durch augenblickliche Gefühle, sondern durch rein
rationale, verstandsmäßige Erwägungen beherrscht, durch
nüchternes Abwägen und Vergleichen der Teilnutzen, die durch die ver-
schiedenen Verwendungen jedes einzelnen Teiles der gesamten verfügbaren
Wirtschaftsmittel realisiert werden können, um darauf die Entscheidung
zu gründen, welche Verwendungen zur Erreichung des größten Gesamt-
nutzens realisiert werden müssen. Auch Wieser nimmt selbstverständlich
als letztes Ziel alles Wirtschaftens die Erreichung des bei gegebenen Wirt-
schaftsinitteln größtmöglichen Gesamtnutzens an. Wieser erachtet jedoch
diejenige Schätzung aller Teile eines Vorrates, die sich aus der eben ge-
schilderten psychischen Tendenz ergibt (das Interesse allen einzelnen
Stücken nur in dem Ausmaße zuzuwenden, in welchem es dem aktuellen
Nutzen des Grenzstückes zugewendet wird), innerhalb eines weiten Spiel-
raumes, des „aufsteigenden Astes‘“, für vollkommen ausreichend, die
Disposition mit den Gütern so zu regulieren, daß dadurch der größte Ge-
samtnutzen erreicht wird. Und da diese Art der Komputation des Wertes
eines Vorrates, obwohl sie nicht den vollen Nutzen des Vorrates erfasse,
doch die Funktion der Wertschätzung in der Wirtschaft genau so gut,
nur noch um vieles einfacher erfülle, wie die viel schwierigere und um-
ständlichere Komputation nach dem vollen, tatsächlich abhängigen Nutzen,
so sei sie die praktisch geübte Art der Wertschätzung. In diesem Punkte
aber kann ich mich der Meinung Wiesers nicht anschließen, ich halte es
vielmehr für sicher, daß diese Art der Wertschätzung — immer unter der
von Wieser sowie von allen anderen Autoren bei Behandlung dieser Frage
stillschweigend gemachten Voraussetzung der Verwendung des Vorrates
uno actu -— die praktisch geübte deshalb nicht seinkann, weilsienicht
zu denjenigen Güterdispositionen führt, welche den größten Ge-
samtnutzen ergeben und daß aus dieser Erfahrung heraus jedes Wirt-
schaftssubjekt die zunächst zweifellos vorhandene Neigung, nur nach dem
aktuellen Grenznutzen zu schätzen, durch die Erkenntnis überwindet, daß
der tatsächlich abhängige Nutzen ein größerer ist und jene Schätzung nicht
zur besten Disposition über die Güter führt. Letzteres gibt nun Wieser selbst
au für die Schätzung von unteilbaren Gesamtheiten, über welche im Ganzen
Untersuehung zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Wertrechnung. 457
und nicht in Teilen verfügt werden soll, ebenso aber auch schon für Vorräte
von solcher Größe, daß die Wertbewegung auf den , absteigenden Ast“ über-
geht. Diese Fälle unterstellt er der Schätzung nach dem vollen Nutzen.
Aber schon hier erhebt sich die Frage: Woran erkennt man, daß die Wert-
bewegung auf den ,,absteigenden Ast“ überegreift? Offenbar nur dadurch,
daß man den Gesamtwert des Vorrates der sich nach der Komputation
mit dem Grenznutzen ergibt, mit dem vollen Gesamtnutzen vergleicht.
Man müßte also beide Schätzungen nebeneinander vornehmen, zumindest
mit mehreren verschiedenen Nutzgrößen operieren, ein Umstand, der die
vrößere Einfachheit derSchätzung nach (rrenznutzen sehr in Frage stellt.
Wichtiger aber scheint mir Folgendes: Auch innerhalb des „aufsteigenden
Astes“ könnte die Schätzung nach Grenznutzen offensichtlich nur dann
ein bequemer Ersatz für die Schätzung nach vollem Nutzen sein und mithin
nur so lange zu richtigen Giiterdispositionen führen, soweit die Resultate
beider Schätzungsmethoden streng parallel zueinander gehen, immer
einer höheren Schätzung eines Vorrates nach Grenznutzen auch eine höhere
Schätzung nach Gesamtnutzen entspricht und umgekehrt, ja noch mehr,
solange auch verschieden große Güterzuwächse zu einem Vorrat oder Ab-
gänge von demselben die Resultate der beiden Schätzungsarten nicht nur in
derselben Richtung sondern auch in demselben Verhältnisseändern.
Und dies setzt Wieser auch voraus. Aber dem steht — nebst Anderem —
schon eine Tatsache entgegen, deren Beachtung bei der Ableitung der
empirischen Wertgesetze gerade die Grenznutzentheorie mit Recht große
Bedeutung beilegt, der ungleichmäßige Verlauf der verschiedenen Bedürf-
. nisskalen. Man nehme das Beispiel eines Wirtschaftssubjektes, welches die
harmonische Befriedigung mehrerer Bedürfnisse mit verschieden ver-
laufenden Skalen durch Güteraustausch herbeizuführen sucht und wird
sofort sehen, daß das Verhältnis des Wertes der abzugebenden Güter-
summen zu dem Werte der zu erwerbenden ein anderes ist bei Schätzung
nach Grenznutzen als bei Schätzung nach dem vollen Nutzen. Und analog
bei der Disposition der Güter für Produktion und Konsum. Die Schätzung
nach Grenznutzen würde also irreführen, zu unrichtigen Dispositionen
veranlassen. Deshalb kann die Schätzung nach Grenznutzen nicht die prak-
tisch geübte sein.
Gegenüber dem erörterten Begründungsversuche des (irenzgesetzes
aus psychologischen Voraussetzungen und aus seiner Zweckmäßigkeit
ist der Versuch einer Begründung durch die Berufung auf die Markt-
458 Hans Mayer.
erfahrung nur von sekundärer Bedeutung. Schon methodologisch scheint
es unzulässig, die ursprüngliche, persönliche Wertschätzung eines Wirt-
schaftssubjektes aus den Preisen ablesen zu wollen, die es nach der Markt-
lage zahlen muß, wofern es überhaupt kaufen will, und die es nach seiner
Wertschätzung nicht ändern kann, da sie das gesellschaftliche Ergebnis
zahlloser persönlicher Wertschätzungen sind. Wenn die Proletarierfrau — in
dem Beispiele Wiesers — beim Einkaufe für jedes Stück der gekauften
Menge ein und denselben Preis bezahlt, so läßt dies keinen Rückschluß
darauf zu, daß sie jedes Stück subjektiv gleich hoch schätzt, es bringt nur
die Tatsache zum Ausdruck, daß sie für jedes Stück, wenn sie es kaufen
will, den gleichen Stückpeis zahlen muß, der s‘ch als Konkurrenzpreis
gebildet hat.
Wenn wir uns auch den von Wieser gegebenen Begründungen des
(srenzgesetzes nicht voll anschließen konnten, die für sein ganzes thec-
retisches Systein grundlegende Tatsache, daß im regelmäßigen Verlauf
der empirischen Wirtschaft die Teile von Vorräten innerhalb gewisser
weiter Grenzen — trotz der Geltung des Gossenschen Gesetzes — gleich
bewertet werden, ist unleugbar und wir wollen nun in einem folgenden
Aufsatz zeigen, unter welchen Voraussetzungen diese Tatsache existent
wird, wie sie sich widerspruchslos in das System der feststehenden Satze
der modernen Theorie einfügen läßt und daß erst dadurch die Theorie
zur Beschreibung der empirischen Wirtschaft voll brauchbar wird.
Ein zweiter Aufsatz folgt.
Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen.
Von Ludwig Mises.
1. Die sozialistischen Schriftsteller schildern das sozialistische Gemein-
wesen als ein Schlaraffenland. Fouriers krankhaft erregte Phantasie geht
darin am weitesten. In seinem Zukunftsreich werden die schädlichen
Tiere verschwunden sein; an ihrer statt werden Tiere erstehen, die den
Menschen bei der Arbeit unterstützen oder sie ihm ganz abnehmen. Ein
Anti-Biber wird den Fischfang besorgen, ein Anti-Walfisch die Seeschiffe
in den Windstillen ziehen, ein Anti-Flußpferd die Flußschiffe schleppen.
An Stelle des Löwen wird es einen Anti-Löwen geben, ein Reittier von
wunderbarer Schnelligkeit, auf dessen Rücken der Reiter so weich sitzen
wird wie ın einem Federwagen. „Es wird ein Vergnügen sein, diese Welt
zu bewohnen, wenn man solche Diener haben wird.“ ') Godwin hält es
immerhin für möglich, daß die Menschen nach Abschaffung des Eigentums
unsterblich werden. *) Und Schriftsteller, die solches Zeug vorbrachten,
wurden immer wieder neu aufgelegt, in fremde Sprachen übertragen und
eingehenden dogmengeschichtlichen Studien unterzogen!
Die späteren Sozialisten sind in der Ausdrucksweise vorsichtiger,
vehen aber im Wesen von ähnlichen Annahmen aus. Den marxistischen
Theorien liegt stillschweigend die nebelhafte Vorstellung zu grunde, daß
m't den natürlichen Produktionsfaktoren nicht gewirtschaftet werden muß.
Dieser Schluß muß sich mit zwingender Notwendigkeit für ein System
ergeben, das nur die Arbeit als Kostenelement velten läßt, das Gesetz des
abnehm'nden Ertrages nicht aufgenommen hat, das Malthus’sche Be-
völkerungsgesetz bestreitet und sich in unklaren Phantasien über die
1) Vgl. Fourier, Oeuvres completes, IV. Bd., 2. Aufl., Paris 1841, S. 254 f.
*) Vel. Godwin, Das Eigentum (von Bahrfeld besorgte Übersetzung des das
Kigentumsproblem behandelnden Teiles von Political Justice). Leipzig 1904, S. 73 ff.
460 Ludwig Mises.
erenzenlose Steigerungsfahigkeit der Produktivität der Arbeit ergeht. 1)
Es ist nicht notwendig, auf diese Dinge näher einzugehen. Es genügt |
wohl, festzustellen, daß auch dem sozialistischen Gemeinwesen die natür-
lichen Produktionsfaktoren nur in beschränktem Maße zur Verfügung
stehen werden, so daß es mit ihnen wird wirtschaften müssen.
Das zweite Element, mit dem gewirtschaftet wird, ist die Arbeit.
Arbeit -- wir sehen hier von ihrer Qualitätsverschiedenheit vollkommen
ab — steht nur in beschränktem Maße zur Verfügung, weil der einzelne
Mensch nur ein gewißes Maß von Arbeit zu leisten vermag. Auch wenn
die Arbeit ein reines Vergnügen wäre, müßte mit ihr gewirtschaftet werden.
weil das menschliche Leben zeitlich begrenzt ist und die menschlichen
Kräfte nicht unerschöpflich sind. Auch wer nur seinem Vergnügen lebt
und mit dem Gelde nicht zu sparen braucht, müßte sich seine Zeit ein-
teilen, das heißt unter verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten die Aus-
wahl treffen.
Gewirtschaftet wird, weil gegenüber der Grenzenlosigkeit der Be-
dürfnisse die Summe der von der Natur bereitgestellten Güter erster
Ordnung nicht ausreicht, die Güter höherer Ordnung bei einem gegebenen
Stand der Produktivität der Arbeit nur mit steigendem Arbeitsaufwand
zur Bedürfnisbefriedigung herangezogen werden können und die Ver-
mehrung der Arbeitsmenge ganz abgesehen davon, daß sie nur bis zu
einem bestimmten Maße erfolgen kann, mit steigendem Leid ver-
bunden ist.
Fourier und seine Schule halten das Arbeitsleid für eine Folge der
verkehrten Gesellschaftseinrichtungen. Nur die sind schuld daran, daß
in unserer Vorstellung die Worte ‚Arbeit‘ und „Mühsal“ gleich-
bedeutend seien. Die Arbeit an sich sei nicht widerwärtig. Im Gegenteil.
1) „Heute sind alle ...... Unternehmungen in erster Linie eine Frage der
‚Rentabilität‘ ...... Eine soziaristische Gesellschaft kennt keine andere Frage als
die nach genügenden Arheitskräften, und sind diese da, so wird das Werk ......
vollbracht.“ (Bebel, Die Frau und der Sozialismus, 16. Aufl., Stuttgart 1892, S. 308.)
„Überail sind es die sozialen Einrichtungen und der damit zusammenhängende Er-
zeugungs- und Verteilungsmodus der Produkte. was Mangel und Elend erzeugt.
und nicht die Zahi der Menschen.“ (Ebenda S. 368). „Wir leiden ...... nicht
an Mangel, sondern an Überfluß an Nahrungsmitteln, wie wir Überfluß
an Industrieprodukten haben.‘ (Ebenda S. 368.) „Wir haben nicht zu viel, sondern
eher zu wenig Menschen.“ (Ebenda S. 370.)
Die Arbeit im sozialistischen (Gemeinwesen. 461
alle Menschen hätten das Bedürfnis, tätig zu sein; die Untätigkeit löse
unerträgliche Langeweile aus. Will man die Arbeit anziehend machen,
dann müsse man sie in gesunden, reinlichen Werkstätten verrichten lassen,
müsse durch gesellige Vereinigungen der Arbeiter die Arbeitsfreudigkeit
heben und zwischen den Arbeitern einen fröhlichen Wetteifer entstehen
lassen. Die Hauptursache des Widerwillens, den die Arbeit auslöst, sei
aber ihre Kontinuität. Selbst (renüsse ermüden ja bei allzu langer Dauer.
Man müsse den Arbeiter nach Belieben abwechselnd verschiedene Arbeit
verrichten lassen, dann werde die Arbeit eine Freude werden und keinen
Widerwillen mehr erregen. 1)
Es ist nicht schwer, den Fehler aufzudecken, der in dieser bei den
Sozialisten aller Richtungen sehr beliebten Argumentation enthalten ist.
Der Mensch spürt den Drang, sich zu betätigen. Auch wenn die Bedürf-
nisse ihn nicht zur Arbeit treiben würden, würde er sich nicht immer im
Grase wälzen und von der Sonne bescheinen lassen. Auch junge Tiere
und Kinder, für deren Nahrung die Eltern sorgen, regen ihre Glieder,
tanzen, springen und laufen, um die Kräfte, die noch keine Arbeit in An-
spruch nimmt, spielend zu gebrauchen. Sich zu regen, ist körperliches
und seelisches Bedürfnis. So bereitet im allgemeinen auch die zielstrebige
Arbeit Genuß. Doch nur bis zu einem bestimmten Punkte, über den
hinaus sie zur Mühsal wird. In der nachstehenden Zeichnung scheidet
die Linie ox, auf die wir den Arbeitsertrag auftragen, das Arbeitsleid
1) Vgl. Considerant, Expo.ition abrégée du Système Phalanstérien de Fourier,
4e Tirage de la 3e Edition, Paris 1846, S. 29 ff.
462 Ludwig Mises.
und den Genuß, den die Betätigung der Kraft gewährt, und den wir
unmittelbaren Arbeitsgenuß nennen wollen. Die Kurve abc p stellt
Arbeitsleid und Arbeitsgenuß im Verhältn:s zum Arbeitsertrag dar. Wenn
die Arbeit einsetzt, wird sie als Leid empfunden. Sind die ersten Schwierig-
keiten überwunden und haben sich Körper und Geist besser an sie an-
gepaßt, dann sinkt das Arbeitsleid. Bei b ist weder Arbeitsleid noch unmittel-
barer Arbeitsgenuß vorhanden. Zwischen b und c wird unmittelbarer
Arbeitsgenu8 empfunden. Über c hinaus beginnt wieder das Arbeits-
leid. Bei anderer Arbeit kann die Kurve anders verlaufen, etwa so, wie
0 ¢, p, oder so wie o p,. Das hängt von der Natur der Arbeit und von der
Persönlichkeit des Arbeiters ab. Es ist anders beim Kanalräumen
und beim Rosselenken, es ist anders beim stumpfen und beim feurigen
Menschen. ')
Warum wird die Arbeit fortgesetzt, wenn das Leid, das ihre Fort-
setzung verursacht, den unmittelbaren Arbeitsgenuß überwiegt? Weil
eben noch etwas anderes außer dem unmittelbaren Arbeitsgenuß in. die
Rechnung eingestellt wird, nämlich derjenige Vorteil, der aus dem Genuß
des Arbeitsertrages entspringt; wir wollen ihn mittelbaren Arbeitsgenuß
nennen. Die Arbeit wird so lange fortgesetzt, als das Unlustgefühl, das
sie erweckt, durch das Lustgefühl, das der Arbeitsertrag erweckt, aus-
geglichen wird. Die Arbeit wird erst an dem Punkte abgebrochen, an
dem ihre Fortsetzung mehr Leid als der durch die Fortsetzung zu ge-
winnende Güterzuwachs Lust schaffen würde.
Die Methode, durch die Fourier der Arbeit ihre Wideı wärtigkeit
nehmen will, geht zwar von einer richtigen Beobachtung aus, vergreift
sich aber dabei vollkommen in der Beurteilung der Quantitäten und der
Qualitäten. Fest steht, daß gegenwärtig jene Menge Arbeit, die noch
unmittelbaren Arbeitsgenuß gewährt, nicht mehr als einen verschwindenden
Bruchteil jener Bedürfnisse deckt, die die Menschen für so wichtig halten,
daß sie um ihrer willen die Mühsal der Verrichtung leiderzeugender
Arbeit auf sich nehmen. Doch es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß man
daran irgend eine ins Gewicht fallende Änderung vornehmen könnte,
wenn man die Arbeiter nach kurzer Zeit ihre Tätigkeit wechseln läßt. Einmal
würdedabei infolge der geringeren Geschicklichkeit, die sich der einzelnewegen
m ————
t) Vgl. Jevons, The Theory of Political Economy, Third Edition, London
1888, S. 169, 172 ff.
e e . e . e e t
Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen. 463
verminderter Übung für jeden Zweig, in dem er tätig sein soll, nur erwerben
könnte, infolge des Zeitverlustes, der bei jedesmaligem Schichtwechsel ein-
treten müßte, und infolge des Arbeitsaufwandes, den das Hin- und Her-
schieben der Arbeiter erforderte, der Ertrag der Arbeit geschmälert werden.
Zweitens ist zu beachten, daß das Überwiegen des Arbeitsle’des über den
unmittelbaren Arbeitsgenuß nur zum geringsten Teil darauf zurückzuführen
ist, daß der Arbeiter gerade der Arbeit, mit der er beschäftigt ist, anfängt
überdrüssig zn werden, ohne daß seine Empfänglichkeit, bei anderer Arbeit
unmittelbaren Arbeitsgenu8 zu empfinden, beeinträchtigt wäre. Der
‚größere Teil des Arbeitsleides ist auf die allgemeine Ermüdung des Or-
ganismus und auf seine Sucht nach Freisein von jedem weiteren Zwang
zurückzuführen. Der Mann, der durch Stunden am Schreibtisch gearbeitet
hat, wird lieber eine Stunde lang Holz spalten, als eine weitere Stunde
am Schreibtisch zubringen. Doch das, was ihm die Arbeit leidbringend
macht, ist nicht nur der Mangel an Abwechslung, sondern mehr noch
ihre Länge. Die Länge des Arbeitstages könnte man aber ohne Schmä-
lerung des Ertrages nur durch Steigerung der Produktivität abkürzen.
Die viel verbreitete Anschauung, als ob es Arbeit gebe, die nur den Geist,
und solche, die nur den Körper ermüdet, ist, wie jedermann an sich selbst
erfahren kann, nicht richtig. Alle Arbeit greift den ganzen Organismus
an. Man täuscht sich darüber, weil man bei Beobachtung fremder Arbeit
nur den unmittelbaren Arbeitsgenuß zu sehen pflegt. Der Schreiber be-
neidet den Kutscher, weil er gerne ein wenig Rosselenker spielen möchte;
doch er möchte es nur solange tun, als die Lust daran die Mühe überwiegt.
So werden Jagd und Fischerei, Bergsteigen, Reiten und Fahren als Sport
betrieben. Doch Sport ist nicht Arbeit im wirtschaftlichen Sinne. Daß
die Menschen mit der geringen Menge Arbeit, die noch unmittelbaren
Arbeitsgenuß auslöst, nicht auskommen können, das eben macht es not-
wendig, das Arbeitsleid auf sich zu nehmen, nicht die schlechte Organi-
sation der Arbeit.
Daß man durch Verbesserung der äußeren Arbeitsbeaingungen den
Ertrag der Arbeit bei gleichbleibendem Arbeitsleid erhöhen oder bei
gleichbleibendem Ertrag das Arbeitsleid mindern kann, ist klar. Doch
die äußeren Arbeitsbedingungen können nur mit Kostenaufwand, das ist
mit Mehrarbeit und Sachgütern über das in der kapitalistischen Gesell-
schaftsordnung gegebene Maß hinaus verbessert werden. Daß gesellig
verrichtete Arbeit die Arbeitsfreude hebt, ist seit uralten Zeiten bekannt,
464 Ludwig Mises.
und die gesellige Arbeit hat darum überall dort ihren Platz, wo sie ohne
Schmälerung des Reinertrages durchgeführt werden kann.
Es gibt freilich Ausnahmenaturen, die über das Gemeine hinaus-
ragen. Die großen schöpferischen Genies, die sich in unsterblichen Werken
und Taten ausleben, kennen die Kategorien Arbeitsleid und Arbeitsgenuß
nicht. Ihnen ist das Schaffen zugleich höchste Freude und bitterste Qual.
vor allent aber innere Notwendigkeit. Sie treibt eine geheimnisvolle innere
Stimme; wie von Furien gepeitscht verzehren sie sich „unersättlich gleich
der Flamme‘. Sie stehen außerhalb der Wirtschaft. Das, was sie schaffen.
hat für sie nicht als Erzeugnis Wert; sie schaffen um des Schaffens willen. .
nicht um des Ertrages willen. Sie selbst kostet das Produkt nichts, weil
sie, indem sie arbeiten, nicht auf etwas verzichten, das ihnen lieber wäre.
Die Gesellschaft Kostet aber ihr Produkt nur das, was sie durch andere
Arbeit erzeugen könnten; im Vergleich zum Wert der Leistung kommt
das kaum in Betracht. So ist das Genie in Wahrheit eine Gabe Gottes.
Jedermann kennt die Lebensgeschichte der großen Männer. So kann
es leicht geschehen, daB der Sozialreformer sich versucht sieht, das, was
er von ihnen gehört hat, als allgemeine Erscheinung anzusehen. Immer
wieder begegnet nıan der Neigung, den Lebenstil des Genies als die typische
Lebensgewohnhe't des einfachsten Genossen eines sozialistischen Gemein-
wesens anzusprechen. Doch nicht jeder ist ein Sophokles oder Shakes-
peare, und hinter der Drehbank stehen ist etwas anderes als Goethesche
redichte machen oder Napoleonsche Weltreiche begi ünden.
Man kann danach ermessen, was es für eine Bewandtnis mit den
Illusionen hat, denen sich der Marxismus über die Stellung der Arbeit
in der Lust- und Leidökonomie der Genossen des sozialistischen Gemein-
wesens hingibt. Der Marxismus bewegt sich auch hier ganz wie in allem
anderen, was er über das sozialistische Gemeinwesen zu sagen weiß, auf
den von den Utopisten gebahnten Wegen. Unter ausdrücklicher Bezug-
nahme auf Fouriers und Owens Ideen, der Arbeit ‚den ihr durch die
Teilung abhanden gekommenen Reiz der Anziehung‘ dadurch wieder-
zugeben, daß in ihr derart abgewechselt wird, daß jeder einzelnen Arbeit
nur eine kurze Dauer gewidmet wird, erblickt Engels im Sozialismus
eine Organisation der Produktion, „in der ...... die produktive Arbeit
statt Mittel der Knechtung, Mittel der Befreiung der Menschen wird,
indem sie jedem einzelnen die Gelegenheit bietet, seine sämtlichen Fahig-
keiten, körperliche und geistige, nach allen Richtungen hin zu bilden und
Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen. 465
zu betätigen, und in der sie so aus einer Last eine Lust wird“, 1) Und
Marx spricht von „einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft,
nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung
der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit
verschwunden ist‘, indem „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern
selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“ sein wird.) Von den Aus-
führungen Fouriers und seiner Schule unterscheiden sich diese Äußerungen
nur dadurch, daß sie nicht einmal den Versuch einer Begründung cnt-
halten.
Fourier und seine Schule wissen aber außer der Abwechslung noch
ein zweites Mittel, um die Arbeit anziehender zu machen: den Wettbewerb.
Die Menschen seien der höchsten Leistung fähig, wenn sie ‚un sentiment
de rivalité joyeuse ou de noble émulation“ beseelt. Hier auf einmal er-
kennen sie die Vorzüge des Wettbewerbes an, den sie sonst als verderb-
lich bezeichnen. Wenn Arbeiter Mangelhaftes leisten, genüge es, sie in
Gruppen zu teilen; sofort werde zwischen den einzelnen Gruppen ein
heißer Wettkampf entbrennen, der die Energie des einzelnen verdoppelt
und bei allen plötzlich „un acharnement passion au travail“ erweckt.“ *)
Die Beobachtung, daß durch den Wettbewerb die Leistungen ge-
steigert werden, ist zwar durchaus richtig, aber sie haftet an der Ober-
fläche der Erscheinungen. Denn der Wettbewerb ist nicht an sich eine
menschliche Leidenschaft. Die Anstrengungen, die die Menschen im Wett-
bewerb machen, machen sie nicht um des Wettbewerbes willen, sondern
um des Zieles, das sie dadurch erreichen wollen. Der Kampf wird wegen
des Preises, der dem Sieger winkt, ausgetragen, nicht unt seiner selbst
willen. Welche Preise aber sollten die Arbeiter im sozialistischen Ge-
meinwesen zum Wetteifer anspornen? Ehrentitel und Ehrenpre‘se werden
erfahrungsgemäß nur wenig geschätzt. Materielle Güter, die ihre Be-
dürfnisbefriedigung verbessern, können nicht als Preise gegeben werden,
da der Verteilungsschlüssel von der individuellen Leistung unabhängig ist
und die Erhöhung der Kopfquote durch erhöhte Anstrengung eines
Arbeiters so unbedeutend ist, daß sie nicht ins Gewicht fällt. Die eigene
— —— ER
1) Vgl. Engels, Herrn Eugen Diihrings Umwälzung der Wissenschaft,
7. Aufl., Stuttgart 1910, S. 317. |
2) Vg. Marx, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programms von Gotha,
herausgegeben von Kreibich, Reichenberg 1920, S. 17.
3) Vgl. Considerant, a. a. 0., S. 33.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 82
466 Ludwig Mises.
Befriedigung ob der getanen Pflicht kann es auch nicht sein; gerade weil
man diesem Antrieb nicht trauen kann, sucht man ja nach anderen An-
trieben. Und wenn es auch das wäre, so wäre die Arbeit damit immer
noch Mühsal. Sie wäre aber nicht an sich anziehend geworden.
Der Fourierismus erblickt den Kernpunkt seiner Lösung des sozialen
Problems darin, daß er die Arbeit aus einer Qual zu einer Freude machen
will. ) Leider sind die Mittel, die er dafür angibt, durchaus unbrauchbar.
Hätte Fourier wirklich den Weg weisen können, auf dem man die Arbeit
-anziehend machen kann, dann hätte er wohl die abgöttische Verehrung
verdient, die ihm seine Schule dargebracht hat.:) Doch seine viel gefeierten
Lehren sind nichts anderes als Phantasien eines Menschen, dem es
nicht gegeben war, die Dinge der Welt zu sehen.
Auch im sozialistischen Gemeinwesen wird die Arbeit Unlustsefiihle
erwecken, nicht Lustgefühle. 3)
—
1) Vgl. Considerant, Studien über einige Fundamentaiprobleme der sozialen
Zukunft (enthalten in „Fouriers System der sozialen Reform‘, übersetzt von Kaatz,
Leipzig 1906), S. 95 ff. — Fourier hat das Verdienst, die Heinzelmännchen in die
Sozialwissenschaft eingeführt zu haben. Inseinem Zukunftsreich werden die Kinder,
in „Petites Hordes‘‘ organisiert, das vollbringen, was die Erwachsenen nicht leisten.
Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem die Erhaltung der Straßen. ‚C'est à leur
amour-propre que I’ Harmonie sera redevable d’avoir, par toute la terre, des chemins
plus somptueux que les allées de nos perterres. Ils seront entretenus d'arbres et
d'arbustes, même des fleurs, et arrosés au trottoir. Les petites Hordes courent fré-
nétiquement au travail, qui est exécuté comme oeuvre pie, acte de charité envers
ia Phalange, service de Dieu et de l'Unité.“ Um 3 Uhr morgens sind sie ımmer schon
auf den Beinen, reinigen die Ställe, warten das Vieh und die Pferde und arbeiten in
den Schlachthäusern, wo sie darauf achten, daß nie ein Tier gequält, sondern stets
auf die sanfteste Weise getötet werde. ,,Elles ont la haute police du règne animal.“
Ist ihre Arbeit getan, so waschen und kleiden sie sich und erscheinen dann im Triumph
beim Frühstück. Vgl. Fourier, a. a. O., V. Bd., 2. Aufl., Paris 1848, S. 149, 159.
2) Vgi. zum Beispiel Fabre des Essarts, Odes Phalansteriennes, Montreuil
Sous-Bois, 1900. Auch Béranger und Victor Hugo haben Fourier verehrt;
jener widmete ihm ein Gedicht, das bei Bebel (Charles Fourier, Stuttgart 1890,
S. 294 f.) abgedruckt ist.
3) Von dieser Erkenntnis sind die sozialistischen Schriftsteiler noch weit ent-
fernt. Kautsky (Die soziale Revolution, 3. AufL, Berlin 1911, TI., S. 16 f.) sieht
es als eine Hauptaufgabe für ein proletarisches Regime an, „die Arbeit, die heute
eine Last ist, zu einer Lust zu machen, so daß es ein Vergnügen wird, zu arbeiten,
daß die Arbeiter mit Vergnügen an die Arbeit gehen“. Er gibt zu, daß ,.das nicht
eine so einfache Sache“ ist und gelangt zum Schlusse: „Es wird kaum geiingen, die
Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen. 467
2. Dem Genossen obliegt es, nach Kräften und Fähigkeiten für das
Gemeinwesen zu arbeiten; dagegen hat er wieder gegen das Gemeinwesen
den Anspruch auf Berücksichtigung bei der Verteilung. Wer sich der
Arbeitspflicht ungerechtfeitigteıweise entziehen will, wird durch die
üblichen Mittel staatlichen Zwanges zum Gehorsam verhalten. Die Gewalt,
die die Wirtschaftsleitung über den einzelnen Genossen haben wird, wird
eine so große sein, daB kaum anzunchmen ist, es könnte sich jemand auf
die Dauer widersetzlich zeigen.
Es genügt aber nicht, daB die Gönnen pünktlich zur Arbeit an-
treten und die vorgeschriebene Anzahl von Stunden dabei ausharıen.
Sie müssen während dieser Zeit auch wirklich arbeiten.
In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung fällt dem one das
Produkt seiner Arbeit zu. Der statische oder natürliche Lohnsatz setzt
sich in einer solchen Höhe fest, daß dem Arbeiter der Ertrag seiner Arbeit,
das heißt alles das, was der Arbeit zugerechnet wird, zukommt.') Der
Arbeiter selbst ist daher daran interessiert, daß die Produktivität der
von ihm geleisteten Arbeit möglichst groß ist. Das gilt nicht nur dort
wo Stücklohn herrscht. Auch die Höhe des Zeitlohnes ist von der Grenz-
produktivität der betreffenden Art von Arbeit abhängig. Die verkehrs-
technische Form der Lohnbildung ändert auf die Dauer nichts an der
Lohnhöhe. Der Lohnsatz hat stets die Tendenz, zum statischen Lohn
zurückzukehren. Auch der Zeitlohn macht davon keine Ausnahme.
Schon der Zeitlohn bietet aber Gelegenheit, Beobachtungen darüber.
anzustellen, wie sich die Arbeitsleistung gestaltet, wenn der Arbeiter die
Empfindung hat, nicht für sich zu arbeiten, weil zwischen seiner Leistung
und der ihm zufallenden Entlohnung kein Zusammenhang besteht. Bei
Zeitlohn ist auch der geschicktere Arbeiter nicht geneigt, mehr als jenes
Mindestmaß zu leisten, das von jedem Arbeiter gefordert wird. Der Stück-
lohn spornt zur Höchstleistung an, der Zeitlohn führt zur Mindestleistung.
In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wird die soziale Rückwirkung
dieser Tendenz des Zeitlohnes dadurch außerordentlich abgeschwächt, daß
die Zeitlohnsätze für die verschiedenen Kategorien von Arbeit stark ab-
gestuft sind. Der Arbeiter hat ein Interesse daran, eine Arbeitsstelle auf-
Arbeit in Fabriken und Bergwerken bald zu einer sehr anziehenden zu machen.“
Doch begreiflicherweise kann er sich nicht dazu entschließen, von der Grundilhision
des Sozialismus ganz Abschied zu nehmen.
1) Vgl. Clark, Distribution of Wealth, New York 1907, S. 157 ff.
468 Ludwig Mises.
zusuchen, wo das geforderte Mindestmaß an Leistung so hoch ist, als er
es nur zu leisten vermag, weil mit der Höhe der geforderten Mindest-
leistung auch der Lohn steigt.
Erst in dem Maße, in demt man von der Abstufung der Zeitlohnsätze
nach der Arbeitsleistung abgeht, beginnt der Zeitlohn produktionshemmend
zu wirken. Das tritt besonders deutlich bei den Angestellten des Staates
und der Gemeinden zutage. Hier wurde in den letzten Jahrzehnten auf
der einen Seite das Mindestmaß, das vom einzelnen Arbeiter verlanet
wird, immer mehr heruntergesetzt und auf der anderen Seite jener Antrieb
zu besserer Leistung, der in der verschiedenen Behandlung der einzelnen
Beamtenklassen und in dem beschleunigten Aufstieg der fleißigeren und
fähigeren Arbeiter in höhere Besoldungsstufen gelegen war, beseitigt. Der
Erfolg dieser Politik hat gezeigt, daß der Arbeiter nur dann ernstliche
Anstrengungen macht, wenn er weiß, daß er davon etwas hat.
In der sozialistischen Gesellschaftsordnung kann zwischen Arbeits-
leistung und Arbeitsentgelt keine wie immer geartete Beziehung bestehen.
An der Unmöglichkeit, rechnerisch die produktiven Beiträge der einzelnen
Produktionsfaktoren zu ermitteln, müßten alle Versuche, den Ertrag der
Arbeit des ‘einzelnen zu ermitteln und danach den Lohnsatz festzustellen,
scheitern.') Das sozialistische Gemeinwesen kann wohl die Verteilung von
gewissen äußerlichen Momenten der Arbeitsleistung abhängig machen;
aber jede deraitige Differenzierung beruht auf Willkür. Nehmen wir an
es wird für jeden Produktionszweig das Mindestmaß der Leistungen fest-
gesetzt. Nehmen wir an, daß das in der Weise geschehe, wie es Rodbertus
als „normalen Werkarbeitstag‘‘ vorschlägt. Für jedes Gewerbe wird die
Zeit, die ein Arbeiter mit mittlerer Kıaft und Anstrengung dauernd arbeiten
kann, und dann die Leistung, die ein mittlerer Arbeiter bei mittlerer
Geschicklichkeit und mittlerem Fleiß während dieser. Zeit vullbringen kann,
festgesetzt.2) Von den technischen Schwierigkeiten, die dann in jedem
einzelnen konkreten Falte der Beurteilung der Frage, ob dieses Mindest-
1) Vgl. meine Abhandlung ‚Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Ge-
meinwesen‘ im Archiv für Sozialwissenschaft, 47. Bd., S. 86 bis 121.
2) Vgl. Rodbertus-Jagetzow, Briefe und sozialpolitische Aufsätze, heraus-
gegeben von R. Meyer, Berlin o. J. (1881), S. 553 f. — Auf die weiteren Vorschläge.
die Rodbertus an die Aufstellung des normalen Werkarbeitstages knüpft. wird hier
nicht eingegangen; sie sind durchaus auf den unhaltbaren Anschauungen, die sich
Rodbertus über das Wertproblem gebildet hat, gegründet.
Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen. 469
maß tatsächlich erreicht wurde oder nicht, entgegenstehen, wollen wir
dabei ganz absehen. Doch es ist klar, daß eine derartige allgemeine Fest-
setzung nicht anders als willkürlich sein kann. Eine Einigung darüber
wird zwischen den Arbeitern der einzelnen Gewerbe nie zu erzielen sein.
Jeder wird behaupten, durch die Festsetzung überbürdet worden zu sein
und nach Herabminderung der ihm auferlegten Aufgaben streben. Mittlere
Qualität des Arbeiters, mittlere Geschicklichkeit, mittlere Kraft, mittlere
Anstrengung, mittlerer Fleiß sind vage Begriffe, die nicht exakt festgestellt
werden können.
Nun aber ist es klar, daß ein Mindestmaß an Leistung, das auf die
Arbe’ter von mittlerer Qualität, mittlerer Geschicklichkeit und mittlerer
Kraft berechnet ist, nur von einem Teil, sagen wir von der Hälfte der
Arbeiter, erreicht werden kann. Die anderen werden weniger leisten. Wie
soll dann geprüft werden, ob einer aus Unfleiß oder aus Unvermögen hinter
der Mindestleistung zurückgeblieben ist? Auch hier muß entweder dem
freien Ermessen der Organe ein weiter Spiehaum eingeräumt werden,
oder man muß sich entschließen, gewisse allgemeine Merkmale festzu-
legen. Zweifellos wird aber der Erfolg der sein, daß die wirklich voll-
brachte Leistung immer mehr und mehr sinkt.
In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist jeder einzelne in 1 der
Wirtschaft Tätige darauf bedacht, daß jeder Arbeit ihr voller Ertrag
zufalle. Der Unternehmer, der einen Arbeiter, der seinen Lohn wert
ist, entläßt, schädigt sich selbst. Der Zwischen\ orgesetzte, der einen guten
Arbeiter entläßt und einen schlechten behält, schädigt das Geschäfts-
ergebnis der ihm anvertrauten Abteilung und damit mittelbar sich
selbst. Hier ist die Aufstellung formaler Merkmale zur Einschränkung des
Ermessens derer, die die Arbeitsleistung zu beurteilen haben, nicht er-
forderlich. In der sozialistischen Gesellschaftsordnung müssen solche auf-
gestellt werden, weil sonst die den Vorgesetzten eingeräumten Rechte
willkürlich mißbraucht werden könnten. Dann aber hat deı Arbeiter
kein Interesse mehr, wirklich etwas zu leisten. Er hat nur noch das Interesse,
die formalen Bedingungen zu erfüllen, die er erfüllen muß, wenn
er nicht straffällig werden will.
Was für Ergebnisse Arbeiter, dieam Ertrag der Arbeit nicht interes-
siert sind, erzielen, lehrt die Erfahrung, die man in Jahrtausenden mit
der unfreien Arbeit gemacht hat. Fin neues Beispiel bieten die Beamten
und Angestellten der staats-und kommunalsozialistischen Betriebe. Manmag
470 Ludwig Mises.
die Beweiskraft dieser Beispiele damit abzuschwächen suchen, daß man
‘darauf hinweist, diese Arbeiter hätten kein Interesse am Erfolg ihrer
Arbeit, weil sie selbst bei der Veiteilung leer ausgehen; im sozialistischen
Gemeinwesen werde jeder wissen, daß er für sich arbeitet, und das werde
ihn zu höchstem Eifer anspornen. Doch darin liest ja gerade das Pro-
blem: Wenn der Arbeiter sich bei der Arbeit mehr anstrengt, dann hat
er um so viel mehr Arbeitsleid zu überwinden. Von dem Erfolg der Mehi-
anstrengung kommt ihm aber nur ein verschwindender Bruchteil zu. Die
Aussicht darauf, ein halbes Milliardstel dessen, was durch seine Mehr-
anstrengung eızielt wurde, auch wirklich für sich behalten zu dürfen,
kann keinen genügenden Anreiz zur Anspannung der Kräfte bilden. ')
Die sozialistischen Schriftsteller pflegen über diese heiklen Fragen
mit Stilischweigen oder mit einigen nichtssagenden Bemerkungen hinweg-
zugleiten. Sie wissen nichts anderes vorzubringen als einige moralisier ende
Sentenzen.*) Der neue Mensch des Soz’alismus werde von niedriger
Selbstsucht frei sein, er werde sittlich unendlich hoch über dem Menschen
der bösen Zeit des Sondereigentums stehen und aus vertiefter Erkenntn's
des Zusammenhanges der Dinge und aus edleı Auffassung seiner Pflicht
seine Kıäfte in den Dienst des allgemeinen Besten stellen. Sieht man
aber näher zu, dann bemerkt man unschwer, daß sich ihre Ausführungen
nur um jene beiden allein denkbaren Alternativen drehen: Freie Befolgung
des Sittengesetzes ohne jeden anderen Zwang als den des eigenen Ge-
wissens und Erzwingung der Leistungen durch ein System von Belohnungen
und Strafen. Keine von beiden kann zum Ziele führen. Jene bietet, auch
wenn es tausendmal öffentlich gepriesen und in allen Schulen und Kirchen
verkündet wird, keinen genügenden Antrieb, immer wieder das Arbeitsleid
zu überwinden; diese kann nur eine formale Erfüllung der Pflicht.
niemals eine Erfüllung mit höchstem Einsatz der eigenen Kraft
erzielen.
Der Schriftsteller, der sich am eingehendsten mit dem Problem
befaßt hat, ist John Stuart Mill. Alle späteren Ausführungen knüpfen an seine
an. Seine Gedanken begegnen uns nicht nur allenthalben in der Literatur
und in der politischen Wechselrede des Alltags; sie sind geradezu volks-
—
1) Vgl. Schäffle, Die Quintessenz des SozialfSmus, 18. Aufl., Gotha 1919,
S. 30 f.
2) Vgl. Degenfeld-Schonburg, Die Motive des volkswirtschaftlichen Handelns
und der deutsche Marxismus, Tübingen 1920, S. 80 ff.
Die Arbeit im sozialistisehen Gemeinwesen. 471
timlich geworden. Jedermann ist mit ihnen vertraut, wenn auch nur
die wenigsten ihren Urheber kennen. 1) Sie sind seit Jahrzehnten eine
Hauptstütze der Idee des Sozialismus und haben zu seiner Beliebtheit
vielleicht mehr beigetragen als die haßerfüllten aber vielfach widerspruchs-
vollen Ausführungen der sozialistischen Schriftsteller.
Ein Haupteinwand, der gegen die Verwirklichung der sozialistischen
Ideen gemacht werde, meint Mill, sei der, daß im sozialistischen Gemein-
wesen jedermann bestrebt sein werde, sich der ihm auferlegten Arbeits-
aufgabe möglichst zu entziehen. Diejenigen, die diesen Einwurf machen,
hätten aber nicht bedacht, in wie hohem Maße die gleichen Schwierig-
keiten schon bei dem System bestehen, in dem neun Zehntel der gesell-
schaftlichen Geschäfte gegenwärtig besorgt werden. Der Einwand nehme
an, daß gute und wirksame Arbeit nur von solchen Arbeitern zu haben
sei, die die Früchte ihrer Bemühungen für sich beziehen können. Dies
sei aber in der gegenwaitigen Gesellschaftsordnung nur bei einem kleinen
Teile aller Arbeit der Fall. Taglohn und feste Bezüge seien die herrschenden
Formen der Vergütung. Die Arbeit werde von Leuten besorgt, die weniger
persönliches Interesse an ihrer Ausführung haben als die Mitglieder eines
sozialistischen Gemeinwesens, da sie nicht wie diese für ein Unternehmen
arbeiten, dessen Teilhaber sie selbst sind. In der Mehrzahl der Fälle werden `
sie nicht einmal unmittelbar von solchen, die ein eigenes Interesse mit
dem Ertrag des Unternehmens verknüpft, überwacht und geleitet. Auch
diese überwachende, leitende und geistige Tätigkeit werde von im Zeit-
lohn stehenden Angestellten besorgt. Man könne zugeben, daß die Arbeit
ergiehiger sei bei einem System, bei dem der ganze Ertrag oder ein großer
Teil des Ertrages der besonderen Überleistung dem Arbeiter zufalle. Aber
hei dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem fehle eben dieser Antrieb. Wenn
die Arbeit in einem sozialistischen Gemeinwesen weniger intensiv sein
werde als die eines auf eigenem Grund wirtschaftenden Bauern oder eines
auf eigene Rechnung arbeitenden Handwerkers, so werde sie wahrschein-
lich ertragreicher sein als die eines Lohnarbeiters, der überhaupt kein
persönliches Interesse an der Sache hat.
1) Vgl. Mill, Principles of Political Economy, People’s edition, London 1867,
S. 126 ff. Inwieweit Mill diese Gedanken von anderen übernommen hat, kann hier
nicht untersucht werden. Das möge den Dogmenhistorikern überlassen bleiben.
Aber zumindest ihre weite Verbreitung verdanken sie der treffiichen Darstellung,
die ihnen Mill in seinem viel geiesenen Werk gegeben hat,
472 Ludwig Mises,
Man erkennt unschwer, wo Mills Irrtümer ihre Wurzel haben. Es
fehlt ihm, dem letzten Vertreter der klassischen Schule der National-
ökonomie, der die Umwälzung der Nationalökonomie durch die Grenz-
nutzentheorie nicht mehr erlebt hat, die Erkenntnis des Zusammenhanges
zwischen Lohnhöhe und Grenzproduktivität der Arbeit. Er sieht nicht,
daß der Arbeiter ein Interesse daran hat, so viel zu leisten, als er kann,
weil sein Einkommen von dem Werte der Leistung abhängt, die er voll-
bringt. Sein noch nicht durch die Denkmethoden der modernen National-
ökonomie geschärfter Blick sieht nur das, was an der Oberfläche vorgeht;
er dringt nicht in die Tiefe der Erscheinungen. Gewiß, der einzelne für
Zeitlohn tätige Arbeiter hat kein Interesse, mehr zu leisten, als das Mindest-
maß das er leisten muß, um die Stelle nicht zu verlieren. Doch
wenn er mehr leisten kann, wenn seine Kenntnisse, Fähigkeiten und Kräfte
dazu ausreichen, dann strebt er eine Stelle an, in der mehr zu leisten ist,
weil er dann sein Einkommen erhöhen kann. Es kann vorkommen, daß
er aus Trägheit darauf verzichtet. Doch daran ist die Gesellschafts-
ordnung ohne Schuld. Sie tut alles, was sie machen kann, um jedermann
zum höchsten Fleiß anzuspornen, indem sie jedermann die Früchte seiner
Arbeit ganz zufallen läßt. Daß die sozialistische Gesellschaftsordnung
. das nicht kann, das wird ihr ja gerade vorgeworfen, das ist der große Unter-
schied, der zwischen ihr und der kapitalistischen Gesellschaftsordnungbe steht.
Im äußersten Falle hartnäckiger Verweigerung der Pflichterfüllung
würde, meint Mill, dem sozialistischen Gemeinwesen dasselbe Mittel zu
Gebote stehen, das die kapitalistische Gesellschaftsordnung für solche
Fälle bereit hat, die Unterbringung des Arbeiters in einer Zwangsanstalt.
Denn die Entlassung, die gegenwärtig das einzige Gegenmittel ist, sei
in Wahrheit gar keines, wenn jeder andere Arbeiter, der an Stelle des
entlassenen angestellt werden kann, nicht besser arbeitet als seın Vor-
gänger. Die Befugnis, den Arbeiter zu entlassen, gebe dem Unternehmer
nur die Möglichkeit, von seinen Arbeitern den üblichen Arbeitsaufwand
(the customary amount of labour) zu erzielen; dieses übliche Maß mag
unter Umständen sehr gering sein. Man sieht hier deutlich, wo die Fehler
in Mill’s Ausführungen liegen. Er verkennt den Umstand, daß der Lohn-
satz eben diesem üblichen Maß der Leistung angepaßt ist, und daß der
Arbeiter, der mehr verdienen will, mehr leisten muß. Es ist ohne weiteres
zuzugeben, daß überall dort, wo Zeitlohn herrscht, der einzelne Arbeiter
dann genötigt ist, sich nach einer Arbeit umzusehen, bei der daß übliche
e . . . . e w . Lord
Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen. 473
Maß der Leistung höher ist, weil es ihm nicht möglich ist, bei Verbleiben in
der Stelle durch Mehrleistung sein Einkommen zu erhöhen. Er muß unter
Umständen zur Akkordarbeit übergehen, einen Berufswechsel vornehmen
oder selbst auswandern. So sind aus jenen europäischen Ländern, in denen
das landesübliche Maß der Arbeitsintensität niedriger ist, Millionen nach
Westeuropa oder nach den Vereinigten Staaten ausgewandert, wo sie
mehr arbeiten müssen, aber auch mehr verdienen. Die schlechteren Arbeiter
blieben zurück und begnügen sich hier beiniedrigerer Leistung mit niedrigeren
Löhnen.
Hält man sich dies vor Augen, dann sieht man gleich, was es für eine
Bewandtnis damit hat, daß in der Gegenwart auch die beaufsichtigende
und leitende Tätigkeit von Angesteliten besorgt wird. Auch diese Kräfte
werden nach dem Wert ihrer Leistungen bezahlt; sie müssen so viel
leisten, als sie nur können, wenn sie ihr Einkommen so hoch als möglich
steigern wollen. Man kann und mu8 ihnen die Befugnis, namens des
Unternehmers die Arbeiter anzustellen und zu entlassen, übertragen, ohne
befürchten zu müssen, daß sie damit einen Mißbrauch treiben. Sie er-
füllen die soziale Aufgabe, die ihnen obliegt, dem Arbeiter nur so viel
Lohn zukommen zu lassen, als seine Leistung wert ist, ohne sich durch
irgendwelche Nebenrücksicht beeinflussen zu lassen.') Über den Erfolg
ihres Handelns kann man sich ja auf Grund der exakten Wirtschafts-
rehnung ein genaues Bild machen. Durch dieses zweite Moment unter-
scheidet sich ihr Tun von jeder Kontrolle, die im sozialistischen Gemein-
wesen geübt werden kann. Sie würden sich selbst schädigen, wenn sie
etwa zur Befriedigung von Rachegelüsten einen Arbeiter schlechter be-
handeln wollten als er es verdient. (Natürlich ist hier „verdienen“ nicht
in irgend einem moralischen Sinne gemeint). Die sozialistische Lehre
sieht in der dem Unternehmer und den von ihm eingesetzten Werkleitern
zustehenden Befugnis, die Arbeiter zu entlassen und ihren: Lohn fest-
zusetzen, eine Macht, die Privaten einzuräumen bedenklich sei. Sie übgr-
sieht, daß der Unternehmer in der Ausübung dieser Befugnis nicht frei
ist, daß er aus Willkür weder entlassen noch schlecht behandeln darf,
weil das Ergebnis ihn schädigen würde. Inden der Unternehmer besticht
ist, die Arbeit möglichst billig einzukaufen, vollbringt er eine der wichtigsten
sozialen Aufgaben. Es ist eine merkwürdige Verwirrung der national-
ı) Dafür, daß der Lohn nicht unter dieses Maß sinkt, sorgt der Wettbewerb
der Unternehmer.
474 Ludwig Mises.
ökonomischen Begriffe, wenn man gerade umgekehrt in den Bestrebungen,
die Erfüllung dieser Aufgabe zu stören, eine „soziale Leistung erblickt.
Daß die als Lohnarbeiter tätigen Angehörigen der niederen Volks-
klassen in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung die übernommenen
Pflichten nachlässig erfüllen, sei, meint Mill, offenkundig. Aber das sei
nur auf den niederen Stand ihrer Bildung zurückzuführen. In der
sozialistischen Gesellschaft, in der die Bildung allgemein sein werde, werden
alle Genossen ihre Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen unzweifelhaft so
eifrig erfüllen, als dies schon jetzt von der Mehrzahl der den höheren und
mittleren Klassen angehörigen Besoldeten geschehe. Man sieht, es ist
immer wieder derselbe Fehler, den das Denken Mills begeht. Er sieht nicht,
daß auch hier Lohn und Leistung sich decken. Aber schließlich gibt auch Mill
zu, daß es keinem Zweifel unterliege, daß iin allgemeinen ,,remuneration by
fixed salaries“ bei keiner Art von Tätigkeit das höchste Maß von Leistung
(„the maximum of zeal“) hervorbringe. Soviel, meint er, könne man
veiniinftigerweise gegen die sozialistische Arbeitsvei fassung einwenden.
Aber selbst daß diese Minderwertigkeit notwendigerweise auch in
einem sozialistischen Gemeinwesen fortbestehen müsse, sei nach Mill nicht
ganz so sicher, wie jene annehmen, die nicht gewöhnt sind, sich in ihrem
Denken von den Verhältnissen der Gegenwart zu befreien. Es sei nicht
ausgeschlossen, daß im sozialistischen Gemeinwesen der Gemeingeist all-
gemein sein werde, daß an Stelle der Selbstsucht uneigennützige Hingabe
an das Gemeinwohl treten werde. Und nun verfällt auch Mill in die
Träumereien der Utopisten, hält es für denkbar, daß die öffentliche Meinung
stark genug sein werde, die einzelnen zu erhöhtem Arbeitseifer anzuspornen,
daß Ehıgeiz und Eitelkeit zu wirksamen Triebfedern werden und dergleichen
mehr. Da ist nur noch einmal darauf hinzuweisen, daß wir keinen Anhalts-
punkt haben, der uns berechtigen würde anzunehmen, die menschliche
Natur werde im sozialistischen Gemeinwesen eine andere sein als sie gegen-
wärtig ist. Und nichts spricht dafür, daß Belohnungen, bestehen sie nun
in Auszeichnungen, materiellen Gaben oder bloß in der ehrenden An-
erkennung durch die Mitbürger, die Arbeiter zu mehr veranlassen können
als zur formalen Erfüllung der an sie geknüpften Bedingnisse. Nichts kann
eben den Antrieb zur Überwindung des Arbeitsleides ersetzen, der in dem
Bezug des vollen Wertes der Arbeit liest.
Viele Soz‘alisten meinen freilich diesem Einwand mit dem Hinweis
auf jene Arbeit, die schon jetzt oder in der Vergangenheit ohne den Anreiz,
Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen. 475
der im Lohn liegt, geleistet wurde, zu begegnen. Sie nennen den Forscher
und den Künstler, die sich unermüdlich mühen, den Arzt, der sich am
Bette des Kranken aufopfert, den Soldaten, der den Heldentod stirbt, den
Politiker, der seinem Ideal alles darbringt. Aber der Künstler und der
Forscher finden ihre Befriedigung in dem Genuß, den ihnen die Arbeit
an sich gewährt, und in der Anerkennung, die sie einmal, wenn auch viel-
leicht erst von der Nachwelt, zu ernten hoffen, auch in dem Falle, wenn
der materielle Erfolg ausbleiben sollte. Mit dem Arzt und mit dem Berufs-
soldaten steht es aber nicht anders als mit den vielen anderen Arbeitern,
deren Arbeit mit Lebensgefahr verbunden ist. Im Angebot von Arbeitern
für diese Berufe gelangt auch ihre mindere Anziehungskraft zum Aus-
druck; dem entsprechend steigt der Lohn. Wer aber einmal trotz dieser
Gefahren mit Rücksicht auf die höhere Entlohnung sich dem Berufe
gewidmet hat, kann nicht mehr der konkreten Gefahr ausweichen, ohne
sich im übrigen selbst auf das schwerste zu schädigen. Der Berufssoldat,
der feig davonläuft, der Arzt, der sich weigert, den Seuchekranken zu
behandeln, gefährden ihre Zukunft in dem erwählten Beruf so sehr, daß
cs für sie kaum ein Schwanken geben kann. Daß es Ärzte gibt, die auch
dort, wo es ihnen niemand übelnehmen würde. sich zu schonen, ihre Pflicht
his zum äußersten tun, daß es Berufssoldaten gibt, die sich auch dort
in Gefahr begeben, wo niemand es ihnen nachtragen würde, wenn sie
es nicht täten, soll nicht geleugnet werden. Aber in diesen seltenen Fällen,
denen man noch den des gesinnungstreuen Politikers, der für seine Über-
zeugung zu sterben bereit ist, zuzählen kann, erhebt sich der einfache
Mensch zum höchsten Menschentum, das nur wenigen gegeben ist, zur
völligen Vereinigung von Wollen und Tat. In ausschließlicher Hingabe
an ein einziges Ziel, die alles andere Wollen, Denken und Fühlen zw tick-
drängt, die den Selbsterhaltungstrieb aufhebt und unempfindlich macht
gegen Schmerz und Leid, versinkt dem, der solcher Selbstentäußerung
fähig ist, die Welt und nichts bleibt übrig als das eine, dem er sich und
sein Leben opfert. Von solchen Menschen pflegte man früher, je nach
der Wertung, die man für ihr Ziel empfand, zu sagen, daß der Geist des
Herrn in sie gefahren sei oder daß sie vom Teufel besessen seien; so un-
verständlich blieben ihre Beweggründe der Masse.
Gewiß ist, daß die Menschheit nicht aus dem tierischen Zustande
emporgestiegen wäre, wenn sie nicht solche Führer gehabt hätte.
‘Aber ebenso sicher ist, daß die Menschheit nicht aus lauter solchen Männern
476 Ludwig Mises. Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen.
besteht. Das soziale Problem liegt eben darin, auch die gemeine Masse
in die gesellschaftliche Arbeitsordnung als brauchbare Glieder einzu-
ordnen.
Die sozialistischen Schriftsteller haben es denn auch schon lange
aufgegeben, ihren Scharfsinn an diesen unlösbaren Problemen weiter
abzumühen. Nichts anderes weiß Kautsky uns darüber zu sagen, als
daß Gewohnheit und Disziplin die Arbeiter auch weiterhin veranlassen
werden zu arbeiten. „Das Kapital hat den modernen Arbeiter daran
gewöhnt, tagaus tagein zu arbeiten, er hält es ohne Arbeit gar nicht mehr
lange aus. Es gibt sogar Leute, die so sehr an ihre Arbeit gewöhnt sind.
daß sie nicht wissen, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollen, die sich
unglücklich fühlen, wenn sie nicht arbeiten können.“ Daß man diese
Gewohnheit leichter ablegen könnte als andere Gewohnheiten, etwa als
die des Ruhens oder des Essens, scheint Kautsky nicht zu befiuchten.
Aber er will sich doch auf diesen Antrieb allein nicht verlassen und gesteht
freimütig zu „er ist der schwächste‘‘. Darum empfiehlt er Disziplin. Natür-
lich nicht die „militärische Disziplin‘, nicht den „blinden Gehorsam gegen
eine von oben eingesetzte Autorität“, sondern die „demokratische Diszi-
plin, die freiwillige Unterwerfung unter eine selbst gewählte Führung“.
Aber dann steigen ihm auch da Bedenken auf, die er damit zu zerstreuen
sucht, daß die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen so anziehend sein
werde, „daß es ein Vergnügen wird zu arbeiten“. Schließlich aber gesteht
er, daß es auch damit zumindest vorerst nicht vehen wird, um endlich
zu dem Geständnis zu kommen, daß neben der Anziehungskraft der Arbeit
noch eine andere Anziehungskraft in Wirkung treten muß: „Die des
Lohnes der Arbeit.“ ')
So muß denn Kautsky selbst, wenn auch unter mannigfachen Ein-
schränkungen und Bedenken zum Ergebnis gelangen: Das Arbeitsleid
wird nur dann überwunden, wenn der Ertrag der Arbeit, und nur der
Ertrag seiner eigenen Arbeit, dem Arbeiter (soweit er nicht auch Eigen-
tümer und Unternehmer ist) zufällt. Damit wird die Möglichkeit einer
sozialistischen Arbeitsordnung verneint. Denn man kann das Sonder-
cigentum an den Produktionsmitteln nicht aufheben, ohne auch die Eint-
lohnung des Arbeiters durch den Ertrag seiner Arbeit aufzuheben.
1) Vgl. Kautsky, a. a. O., II., S. 15 ff.
i ee
Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der
Gesellschaftslehre.
Betrachtung zu einer Gesellschaftswissenschaft-.
lichen Kategorienlehre. ue
Von Othmar Spann.
1. Das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen. S. 478. — 2. Das Verhältnis
des Teilganzen zum Gesamtganzen. S. 480. — 3. Das Verhältnis des Teilganzen
zum Teilganzen; Gliedlichkeit oder Ursächlichkeit. S. 483. — Zusammenfassung.
S. 491. Ä Ä
Die Frage, in welchem Verhältnis der Einzelne zu dem Ganzen und
das Ganze zu dem höheren Ganzen (das Teilganze zu dem Gesamtganzen)
steht, muß mit Mitteln angepackt werden, die unserer jetzigen Zeit fern-
liegen, mit den Mitteln der alten klassischen Logik, wie’ sie Aristoteles
und Platon gehandhabt haben, ja wie sie sich schon mit aller Deutlich-
keit in den Upanischaden finden. Diese Mittel liegen in dem uralten
Satze beschlossen: Das Ganze ist früher als der Teil.
Wenn man heute ein Lehrbuch der Logik daraufhin durchsieht, sei
es das von Sigwart, Geyser, Ziehen, Wundt, so findet man darüber —
gar nichts. Warum? Weil unsere Schullogik, so unglaublich dies klingt,
die Frage gar nicht kennt; weil das einzige Thema der Wissenschaft seit
Bacon und Galilei die Auflösung aller Ganzheiten war, indem die Wissen -
schaft seither sich unausgesetzt bemühte, nur das Verhältnis von Einzelnem
zu Einzelnem (als Stück, als ein ‚Für-sich‘‘ gesehen) zu erforschen.
Der Begriff eines echten Ganzen zerfließt dieser atomisierenden Natur-
wissenschaft unter den Händen, wo Ganzheit auftaucht, behandelt sie
sie als eine Anhäufung von Einzelnen, sie erforschte immer nur getrennte
Einzelne und deren Beziehungen zu einander, niemals aber Ganzheit.
Das mochte bei der Naturwissenschaft vielleicht gelingen; in unsrer
Wissenschaft jedenfalls, wo seit Quesnay, Smith, Ricardo bis heute mit ver-
schwindenden Ausnahmen dasselbe erstrebt, wo Begriff für Begriff und
478 Othmar Spann.
schließlich das ganze Lehrgebäude vollständig atomisiert wurde, richtete
es grausame Verheerung an. Man denke an die Grundvoraussetzungen
der heutigen volkswirtschaftlichen Theorie: Der Einzelne und sein Eigen-
nutz (welcher gleichsam sein Bewegungsgesetz ist); die einzelnen Waren
und ihr substanzieller Wert; zum Beispiel die Arbeitsmenge, die sie
in sich schließen); oder: der einzelne Nutzen der einzelnen Ware, die
einzelne Wertschätzung; den Scheidepunkt bedeutet hier der Grenz-
nutzen, der seinem Sinne nach bereits Zusammenhang, Ganzheit
vieler Nutzungen erforderte, der aber in dieser seiner Natur bis jetzt wenig
erkannt wurde.
Die logische Seite der Frage soll hier nicht weiter erörtert werden. Ich bemerke
nur, daß sie logisch hauptsächlich in dreierlei Gestalt auftritt:
1. Das Verhältnis des Ganzen zum Teil — das Einzelne erscheint hier als Teil
in dem Sinne von Glied der Ganzheit.
2. Das Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen — der Einzelne erscheint
hier als Exemplar seiner Gattung. |
3. Verhältnis der Einheit zur Vielheit — die Vielheit erscheint als das von der
Einheit Bestimmte, die Einheit erscheint als das Bestimmende.
Diesen Gestaltungen der Frage entsprechend gälte dann: Das Ganze ist früher
als der Teil (das Glied); die Be ist früher als das Einzelne; die Einheit ist früher
als die Vielheit.
Noch andere Abarten unserer Frage kämen in Betracht, so insbesondere der
Begriff der Idee im platonischen und aristotelischen Sinne, wie der von Potentialität
und Aktualität (Möglichkeit und Wirklichkeit). Doch erwähne ich dies bloß um des
Zusammenhanges willen, in welchem alles zu betrachten ist. Wir selbst beschäftigen
uns nur mit der Grundform: Ganzes— Teil. Lediglich im Verhältnis zur platonischen
Ideenlehre bemerke ich, daß die Betrachtung der Dinge als Glieder von Ganzheiten
noch nicht die Entscheidung über die Ideenlehre selbst in sich schließt. Es bleibt
nunmehr erst noch zu untersuchen, wie weit die als Glieder der Ganzheiten gefaßten
Dinge Darstellungen der Idee, Exemplare der Gattung sind.
Wenn oben bemerkt wurde, daß die moderne Logik den Begriff der Ganzheit
nicht behandle, so wurde der heute so üblichen Gegenüberstellung von ,,Substanz-
begriff und Funktionsbegriff‘‘ nicht vergessen. Diese ist aber meines Erachtens ein
unklares Gemisch der Kategorien von Kausalität und Ganzheit, mit dem nichts
anzufangen ist. i l
1. Das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen.
Eine Grundtatsache aller gesellschaftlichen Wirklichkeit und eine
Grunderkenntnis aller echten gesellschaftlichen Wissenschaft ist, dab
die Gesellschaft nicht aus der Anhäufung Einzelner besteht, sondern
aus Ganzheit; daß nicht die Einzelnen daher das eigentlich Wirkliche sind,
Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellschaftslehre. 479
sondern das Granze, und daß die Einzelnen nur insoweit Wirklichkeit und
Dasein haben, sofern sie Glieder des Ganzen sind.')
Es verhält sich mithin der Einzelne zum Ganzen nach dem Satze:
Das Ganze ist früher als der Teil.
Bevor wir in unserem Gedankengang weitergehen, ist es nötig, diesen
Satz näher zu erklären. Er heißt, das sei zuerst eindringlich betont, nicht,
wie unser heutiges naturalistisches Denken ihn am liebsten deutet: Das
Ganze verursache, bewirke, erzeuge die Teile als eine eigene Trieb-
kraft, als eine Art von geheimnisvollem Deus ex machina. Das wäre
ja eine ursächliche Betrachtung, aber gerade diese Betrachtungsweise
hat in der Gesellschaft (wo es Ursachen überhaupt nicht gibt, wie sich
unten S. ... noch genau zeigen wird) gar keinen Platz. Wenn das
Ganze die Teile ursächlich erzeugte, so wäre wieder das Ganze als ein
stoffliches Etwas oder als ein Kraftzentrum gefaßt und ebenso die Teile
als (außer ihm) bestimmte Stücke, Einzelne, auf die das Ganze wirkte
und die auf das Ganze zurückwirkten. Durch solche ursächliche Denk-
weise hat aber der Begriff „Ganzes“ oder „Teil“ seinen eigentlichen Sinn
verloren, es bleiben dann in Wahrheit nur Ursachenkomplexe übrig.
Jener Satz hat mit einer Ursachenbeziehung überhaupt nichts zu
tun und heißt lediglich: Das Ganze ist logisch früher als der Teil. Wäre
der Teil logisch früher, so könnte durch Zusammenschneien beliebiger
Einzelner zufällig eine Ganzheit entstehen. Das wäre aber ähnlich, wie
wenn durch Ausschütten von Milliarden von Buchstaben einmal zufällig das
Nibelungenlied entstünde. Das Umgekehrte ist richtig: Damit die Buch-
staben, welche das Nibelungenlied bilden, an ihrem Orte da sein oder
entstehen können, muß das Lied früher da sein — das Ganze! Das Lied
eignet sich die Buchstaben zu, ja, es hat sie als seine organischen Glieder
schon in sich. Das Ganze muß der Idee nach da sein, bevor ein Etwas .
sein Glied, sein Teil werden kann. Dies heißt es „logisch früher“. Und
auf die Gesellschaft angewandt bedeutet dies Folgendes: Niemals
wird ein Mensch dadurch zum Glied eines Gesellschaftsganzen, daß er sich
mit anderen Menschen, gleichsam als mit Stücken gleicher Art, zusammen-
1) Die nähere Entwicklung in den Kapiteln Individualismus und Universalismus
meiner „„Gesellschaftslehre‘‘ (1914, Quelle u. Meyer, Lpz.), S. 233 ff., insbes. 261 f. ;
und in meinem .,Wahren Staat" (1921, ebenda), S.11 ff., insbes. 42 f.
480 Othmar Spann.
stellt, zusammenhäuft, summiert; sondern nur dadurch, daß die Glied-
eigenschaften, die früher in ihm nur geschlummert haben, ver-
wirklicht, aktualisiert werden, wird er Glied der Gesellschaft. Gleich-
wie der Buchstabe erst vom Nibelungenliede her zum Gliede wird (von
der schon innerlich vorhandenen Ganzheit her), so auch wird der Mensch
zum Beispiel erst dadurch Fabrikarbeiter, daß die Fabrik da ist, der er
sich eingliedert. Die Idee der Fabrik kommt nicht von ihm und man kann
nicht behaupten, er trüge seinerseits etwas zu ihrer Entstehung bei; sondern
die Idee, die Ganzheit muß schon da sein, er kann seinerseits nur jenen
Teil aktualisieren (verwirklichen), der in seiner Gliedeigenschaft gelegen
ist. Die Gliedeigenschaft wird nicht von ihm hergeleitet,
sondern von der Ganzheit her; ebenso wie der Sinn jener Buch-
staben nicht von ihnen kommt, sondern von dem Nibelungenliede.
Verhält sich der Einzelne zum Ganzen durchaus nach dem Satze:
das Ganze ist früher als der Teil, so entsteht die bange Frage, ob er, das
Einzelselbst (die Individualität, die Persönlichkeit), überhaupt noch
da ist und in irgend einem Sinne gerettet werden kann ? Denn der Einzelne
ist dann nur noch Organ (Glied) und darüber hinaus hat er keinerlei Wirk-
lichkeit. Als Einzelner gesehen, erscheint er eine bloße Abstraktion,
alle wahre, erste und eigentliche Wirklichkeit liegt stets im Ganzen, denn
alle seine Eigenschaften lösen sich ja in Glied-sein, in Gliedlichkeit auf.
Diese Frage bedürfte einer eigenen weit ausschauenden Untersuchung,
die wir später einmal zu führen hoffen. Wir lassen sie an diesem Orte
ganz aus dem Spiel und knüpfen an unseren früheren Gedankengang
(oben S. 479) wieder an.
2. Das Verhältnis des Teilganzen zum Gesamtganzen.
Wir sagten, die Grundtatsache der Gesellschaft sei Ganzheit und
nicht Einzelheit. Alles Einzelne, das in der Gesellschaft erscheint, sei
nur Glied, nicht Stück, Atom; für alle Einzelnen gelte daher der Satz:
Das Ganze ist früher als der Teil. |
Nun ist es aber eine weitere Grundeigenschaft der Ganzheiten: nicht
aus Einem Mittelpunkt und darum herum gruppierten Gliedern zu bestehen:
denn das erforderte, wenn man es recht zu Ende denkt, Gleichheit der
Glieder. Nur Gleiche können Einen Mittelpunkt haben, um den sie sich
dann wieder in gleicher Weise gruppieren (Grundsatz der Zentralisation).
Gleichheit widerstrebt aber dem auf Abstufung (Differenzierung) und
Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellschaftslchre. 481
Scheidung angelegten Wesen jedes Organismus, jeder echten Ganzheit.
Jede echte Ganzheit stuft sich in Unterganzheiten (mit eigenen Mittel-
punkten) ab und besteht daher in Wahrheit aus einem Stufenbau, einer
Rangordnung (Hierarchie) von Unterganzheiten, so daß man unterscheiden
kann:
1. Das Gesamtganze (zum Beispiel die menschliche Gesellschaft, der
menschliche Organismus); 2. die Unterganzheiten oder Teilganzheiten (zum
Beispiel Staat, Recht, Wirtschaft, etwa zu vergleichen den Organsystemen
im menschlichen Körper, wie Verdauungssystem, Nervensvstem, Muskel-
system); 3. die Einzelnen, die aber selbst wieder nichts Einartiges und
Gestaltloses, Homogenes und Amorphes gleich den Atomen, sein können,
sondern kleinste Mikroorganismen, kleinste Ganzheiten, sozusagen ein
Staat in sich sein müssen, gleich der Zelle.
Die Teilganzen spielen in der Gesellschaftslehre die größte Rolle. Die
Gesellschaft in ihrer Einheit und ihrer Gliederung, das heißt nach ihren
Teilganzen zu erkennen, ist ja die Grundfrage aller inhaltlichen, nicht
mehr bloß formalen, oder im Verfahrenkundlichen stecken bleibenden
Gesellschaftslehre. Solche Teilganze, oder wie ich sie auch genannt habe,
„Objektivationssysteme‘‘, sind beispielsweise: Wirtschaft, Recht, Staat,
Kunst, Wissenschaft, Religion, Politik, Krieg.
Wie verhält sich nun das Teilganze zu dem Gesamtganzen ? Es äh
dafür dasselbe, wie in bezug auf das Verhältnis von Einzelnem und Ganz-
heit überhaupt.
Es verhält sich das Teilganze genau wie das Einzelne nach dem Satze:
Das Ganze ist frither als der Teil.
Dies ist für uns eine entscheidende Erkenntnis.
Da dieser Satz besagt, der Teil sei nur als Bestimmungsstück des
Ganzen da; so ist das herrschende Grundverhältnis zwischen Teilganzem
und Gesamtganzem nun wiederum genau dasselbe, wie wir es oben beim
Individuum fanden: Das Teilganze ist nicht mehr als ein eigenes Selbst,
sondern rein und bloß als Glied des Gesamtganzen vorhanden. Das Teil-
ganze verhält sich zum Gesamtganzen als bloßes Glied.
Da das Glied nur durch seine Verrichtungen bestimmt ist, so folgt
daraus weiter: Der Begriff eines Teilganzen ist einzig undallein
mit seinen Verrichtungen gegeben; nur sofern ein Teilganzes
arteigene Verrichtungen (spezifische Funktionen) hat, kann es als eigenes
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1. Band. eh,
482 Othmar Spann.
Teilganzes Dasein erlangen, „nur sofern“, das heißt nur nach Maßgabe
dieser Arteigenhait. |
Dem entspricht auch der Tatbestand des gesellschaftslehrlichen
Begriffsgebäudes. Der Einfachheit halber wählen wir unsere Beispiele
zuerst aus dem Bereiche des Handelns in der Gesellschaft.
Das Teileanze ‚Gesamtheit des wirtschaftlichen Handelns“ oder
kurz „Wirtschaft“ ist Glied des Gesamtganzen „Gesellschaft“ in seiner
Verrichtung als „System der Mittel“ (für die zu erreichenden Ziele),
wodurch ihm die übrige Gesamtheit der Gesellschaft als Gesamtganzes
von Zielen gegeniibersteht. — Ebenso: Das Teilganze „Staat“ ist
Glied des Gesamtganzen in seiner Verriehtung als ,,Gesamtorganisation
des gesellschaftlichen Lebens“ und als „Einheitserscheinung aller
Organisationen“, wodurch ihm die übrige Gesamtheit der Gesellschaft
als das Nichtorganisierte gegenübersteht. — Ferner: Das Teilganze ‚ Recht“
ist Glied des Gesamtganzen in seiner Eigenschaft als Gebäude von Normen,
das dem Staate, aber auch jeder andern Organisation zugrunde liegt. Zu-
gleich ist es Einheitserscheinung aller andern. dernicht-reehtlichen Normen.')
Und um auch den geistigen Bereich der Gesellschaft nicht ganz un-
berührt zu lassen, hieraus folgende Beispiele: Die Teilganzen ,, Wissenschaft“,
„Kunst“, „Religion“ sind Glieder des Gesamtganzen in ihrer Eigenschaft
als bestimmter Ordnungsweisen der geistigen Inhalte der Gesellschaft
(die Wissenschaft als „logische“ Ordnungsweise, die Kunst als ästhetische
Ordnungsweise, Religion-Philosophie als metaphysische Ordnungsweise),
wodurch alles Übrige des Gesamtganzen als das Nicht-Geistige (wenigstens
nicht unmittelbar Geistige) ihnen gegenübersteht.
Was lehren alle diese Beispiele? „Wissenschaft“ zeigt sich als eine
ganz bestimmte Art der Verrichtung oder Gliedlichkeit eines Geistigen
in der geistigen Ganzheit (das ist der geistigen Gesamt-Gemeinschaft,
welche in der „Gesellschaft“ beschlossen liegt). Und ferner zeigt sich
„Recht“, „Staat“, „Wirtschaft“ als eine bestimmte Gliedlichkeit in der
handelnden Gesamtganzheit, welche in der menschlichen Gesellschaft
beschlossen ist. Nur durch diese Gliedeigenschaft, Gliedlichkeit allein
erscheint jedes Teilganze ‘definiert, und die Gliedeigenschaft . wieder
1) Die weitere Erörterung würde hier auf das Ergebnis der Einheit von Moral
und Recht und auf die Ablehnung des Zwanges als Rechtsmerkmal führen. was aber
hier beiseite zu lassen ist. E; handelt sich hier ja überhaupt nicht um dan Inhalt einer
‘Theorie. sondern nur vm Theorien als Beispiele für das Wesen von Teilganzen.
Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellschaftslehre. 483
durch die Verrichtung im Ganzen. Gliedlichkeit und Verrichtsamkeit,
(Funktionalität) sind gleichbedeutend.
Grundlegend wichtig ist nun die Tatsache, daß das Gesamtganze
als solches keine eigene Bestimmtheit hat, gleichsam keine
konkrete Substanz, keine arteigene Sondersubstanz hat: Das Teilganze
erst hat diese eigene Bestimmtheit, diese konkrete Substanz. Ist es doch
ebenso mit dem menschlichen Organismus bestellt. Dieser kann nicht als
solcher in seiner Substanz bestimmt werden. Denn als ‚Fleisch‘ ist er
eine Bestimmung der Teilganzheit ,,Muskelsystem", als „Blut“ der Teil-
ganzheit ,„Säfte- und Blutkreislauf“, als „Knochen“ der Teilganzheit
Gerippe oder „Knochengerüst‘, als „Nerv“ der Teilganzheit ,,Nerven-
system“ — der Organismus als solcher hat keine arteigene
Sondersubstanz; das macht, er hat als solcher keine individuelle Art,
sondern ist Gattung, er ist Gesamtganzes, und sein reales Dasein ist
ausschließlich in den Bestimmtheiten der Teilganzen niedergelegt.
Ebenso steht es mit den Teilganzen der menschlichen Gesellschaft.
In ihnen allen ruhen die arteigenen Besonderheiten. die konkreten Be-
stimmtheiten, die ein wirkliches Dasein führen; das Gesamtganze als
solches, der Plan und Geist, ist zu abstrakt, als daß er noch eine eigene
stoffliche Bestimmtheit vertrüge und ermöglichte. Die Teilganzen der
Gesellschaft haben bloß Dasein als Glieder des Gesamt-
eanzen, aber in ihnenallein ist diejenige konkrete Bestimmt-
heit (Substanz) niedergelegt, welche die Verwirklichung eines
Gesamtganzen in sich schließt.
Das Ganze wird in den Teilen geboren, außerhalb der Teile,
rein für sich, kann es ein konkretes Dasein nicht führen.
3. Das Verhältnis des Teilganzen zum Teilganzen. Gliedlichkeit oder
Ursäehliehkeit.
Fassen wir nun das Verhältnis der Teilganzen untereinander ins Auge,
also der Wirtschaft zum Staat, der Wirtschaft zum Recht, der Kunst
zur Wissenschaft usw., dann ergibt sich diejenige Einsicht, welche ich als
das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung bezeichnen möchte: Das
Verhältnis der Teilganzen untereinander ist niemalsein
solches vom Teil zum Teil; sondern es wird entweder der andere
Teil selber zum Glied des ersten oder es tritt ein Verhältnis vom Teil zum
Ganzen ein. Kurz ausgedrückt: Das Verhältnis der Teilganzen unter-
484 Othmar Spann.
einander ist niemals ein unmittelbares, sondern nimmt immer den Umweg
über die Ganzheit.
Dies klingt überraschend, aber bei näherem Zusehen findet man, daß
es gar nicht anders sein kann. Wird diese Einsicht nach ihrer Bedeutung
gewürdigt, so lösen sich mancherlei sonst nicht zu klärende Schwierig-
‚keiten der Gesellschaftslehre.
Zuerst machen wir uns dieselbe Tatsache wieder am menschlichen
‘Organismus klar. Für das Blut existieren die Muskeln nur als Gefäßwände,
‚gleichsam als Blutkammern, als Gebiet für den Blutumlauf, als Stätte des
-Blutverbrauches oder der Bluternährung, als mit Blut zu Erfüllendes
-usw. — also.immer als Feld für die Blutfunktion. — Für die Nerven
‘wieder sind die Muskeln nur da als ein zu Kontrahierendes, als ein die
‚Empfindung Vermittelndes — also immer als Nervenarbeitsgebiet, als Ort
der Nervenbetätigung, als eine Art von Nerv selbst. — Für den Muskel
wieder gibt es Blut nicht als Blut (das ja als ein eigenes Organsystem in
‚Gefäßen seinen Umlauf nimmt), sondern nur als Muskelernährung, also
-im letzten Grunde nur sofern es Muskelbestandteil ist, Nerv gibt es für
-ihn nur als eine bestimmte Lebensfunktion, Lebensart des Muskels, nämlich
‚als Kontraktion usw. Vermittelndes. Muskel lebt mit Blut und Nerv nur,
sofern beide selbst Muskelart haben; Nerv lebt mit Blut und Muskel nur,
-sofern beide Nervenart haben; eine andre Berührungsweise, eine andre
-Beziehungsart zwischen beiden ist undenkbar. Das heißt: der Nerv lebt
„nur in seiner Glied- oder Verrichtungseigenschaft im Ganzen, der Muskel
nur in seiner Glied- oder Verrichtungseigenschaft im Ganzen; eine andre
‚Beziehung als die zum Ganzen hat er nicht.
Alles lebt mit allem nur, sofern es etwas ihm Verwandtes hat (und
dieses ,, Verwandte“ entspricht der allgemeinen, abstrakten Substanz des
Ganzen).
Mit womöglich noch vollkommenerer Deutlichkeit tritt uns diese
-Erscheinung ‘auch in der Gesellschaft entgegen. Die Wirtschaft zum Bei-
ıspiel ist mit dem Merkmal „Mittel für Ziele“ in ihrer Glied- und Ver-
-richtungseigenschaft gegeben. Diese Eigenschaft bestimmt also ihre
Beziehung: zu dem gesellschaftlichen Gesamtganzen. Nur in dieser
‚Eigenschaft tritt die Wirtschaft auch den andern Teilganzen
gegenüber; das heißt aber: die Teilganzen, welcher Art immer, sind
fiir sie selber zu ,, Wirtschaft‘‘ geworden — oder sie sind für sie nur „Gesell-
- schaft‘ schlechthin, nichts wie Gesamtganzes schlechthin. Hier die Beispiele.
Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellschaftslehre. 485
Für die Wirtschaft ist der Staat nicht „Staat“ (Organisation, Einheits-
erscheinung usw.); es kann daher auch keinen „Einfluß“ der Wirtschaft
auf den „Staat“ oder des ,,Staates‘‘ auf die Wirtschaft geben; sondern
entweder ist „Staat“ ein Ziel, dem man dienen muß, das heißt aber em
Stück des Gesamtganzen ‚Gesellschaft‘ schlechthin, zu dem sieh das
System „Wirtschaft“ einfach als Mittel verhält (zum Beispiel wenn. der
Monarch, wenn der Staatsbeamte besoldet wird, wenn man Steuer zahlt,
ein Staatsgebäude baut); oder — das, was von andrer Seite her „Staat“
heißt, wird in ihr selbst zur ‚Wirtschaft‘. Der ,,Staat‘‘ wird: Teil der Wirt-
schaft überall dort, wo das wirtschaftliche Handeln: die durch das stäat-
liche Leben geschaffenen Tatsachen als Mittel, als Wirtsehaftsmittel
gebraucht. (Man könnte diese Wirtschaftsmittel „Kapital höherer Ord-
nung“ nennen.) Wenn die Genauigkeit, Strenge, Unbestechlichkeit der
Verwaltung gewertet wird, wenn ein vom Staate abgeschlossener Handels-
vertrag für Tausende von Kaufleuten und Unternehmern das Mittel zur
„Erschließung neuer Absatzquellen‘‘ wird — dann überall wird „Staat“
einfach zum Wirtschaftsmittel.')
Niemals kann daher das Teilganze „Staat“ der Wirt-
schaft als „Staat“ gegenübertreten, sondern entweder nur als ein
dem Gesamtganzen Angehöriges (welches Gesamtganze in diesem Falle
bloß ,,Zielsystem‘ ist); oder als Glied, als Bestandteil der Wirtschaft
selbst. — Ebenso auch allen andern Teilganzen gegenüber: Das Recht
ist für die Wirtschaft Wirtschaftsmittel (z. B. als Kreditrecht, Handelsrecht,
bürgerliches Recht); die Wissenschaft ist für die Wirtschaft ,, Wirtschafts-
mittel“, z. B. die mathematische Formel für den Brückenbauer. Sie ist
ihm nicht mathematische Erkenntnis, nicht „Wissenschaft“ (denn das
wäre eine logisch-mathematische Betrachtung der Formel, die den
brückenbauenden Ingenieur-Unternehmer nichts angeht, ihm unmöglich
ist); sondern Mittel zum Bauen der Brücke, ganz ähnlich wie Stahl
und Eisen. Wir können diese Erkenntnis in folgende Sätze kleiden:
„Staat“ muß sich in Wirtschaft verwandeln, um mit der Wirt-
schaft in Beziehung zu treten; „Recht“ muß sich inWirtschaft
verwandeln, um mit der Wirtschaft in Beziehung zu treten;
„Wissenschaft“ muß sich in Wirtschaft verwandeln, um mit
1) Näher auf den Begriff dieser Art Wirtschaftsmittel, das „Kapital höherer
Ordnung“, einzugehen ist hier nicht am Platze. Vgl. mein .‚Fundament der Volks-
wirtschaftslehre‘“, 2. Aufl., 1921, S.103 ff., 178 ff.
486 | Otlımar Spann.
der Wirtschaft in Beziehung zu treten. Dies geht so durch sämt-
liche Teilganze der Gesellschaft weiter.
Und ebenso umgekehrt. Für den Staat ist die Wirtschaft nur ein
Bestandteil vom Staate selbst. Ob der Staat die Volkswirtschaft oder
die Volksbelustigung oder das wissenschaftliche und religiöse Leben
organisiert — sofern er in seiner Weise organisiert, ist er nur Staat; das
„Was“ dessen, was er organisiert, ist ihm gleichermaßen nah und fern.
Es gilt mithin: Wirtschaft muß sich in Staat verwandeln, um zum
Staate in Beziehung zu treten. Sofern sie dies nicht tut, ist sie nicht
„Wirtschaft“, sondern überhaupt das Nichtstaatliche, ist sie Teil vom
Gesamtganzen.
Das gleiche gilt für die andern Teilganzen. Für das Recht ist Staat, ist
Wirtschaft, ist Wissenschaft, ist Kunst und Religion nicht je ein arteigenes
Teilganzes, sondern unterschiedslos das Gesamtganze, das Nichtrechtliche
der Gesellschaft, daher das rechtlich zu Ordnende schlechthin. Sofern
Wirtschaft, Staat, Wissenschaft aber duch zu ihm in Beziehung treten
sollen, müssen sie sich selbst erst in Recht verwandeln. Das Recht ist
System von Normen; ob der (durch Normen geregelte) Stoff dieses
Systems w.rtschaftlicher Art ist (Wirtschaftsrecht), ob dem Familienleben
angehörig (Familienrecht), ob dem wissenschaftlichen Leben (Rechts-
verhältnis der Hochschulen und Akademien), ob dem staatlichen Leben
(Staatsrecht), ist für das Recht ganz gleichgültig. Es gilt daher wieder:
Wirtschaft muß sich in Recht verwandeln, Wissenschaft muß sich in
Recht verwandeln, Staat muß s:ch in Recht verwandeln, um mit dem
Recht in „Beziehung“ zu treten.
An dem Beispiele des Rechtes zeigt sich vielleicht am deutlichsten die methodo-
logische Bedeutung unserer Betrachtung. Aus dem eben Angeführten ist der Irrtum
Stammlers und der verwandte Kelsens verständlich. Stammler will nur eine
„Regelung‘‘, das Recht, und den ,,Inhalt** des Geregelten, die Wirtschaft, als die Teil-
ganzen des g:sellschaftlichen Gesamtganzen unterscheiden, Kelsen geht zwar nicht
so weit, will aber den Staat auf Recht zurückführen und gelangt so im Grunde
zu demselben Abzielen: das Recht zum Alleinmerkmal des Sozialen zu machen.
Kelsen mittelbar, Stammler ausdrücklich und geradewegs will nicht zugeben,
daß es viele Teilganze in der Gesellschaft gibt, sondern alles in Recht
und dessen Stoff auflösen. Das gelingt ihnen dem Scheine nach insofern, als tat-
sächlich alle gesellschaftlichen Teilganzen im Verhältnis zum Rechte nur als selbst
rechtlicher Art begriffen werden können. Sie sehen eben das Ganze der Gesellschaft
nur von Einem Gesichtspunkte aus an, nur von dem Gesichtspunkt eines einzigen
Teilsystems aus! Aber ebensogut erscheint ja der Wirtschaft alles wirtschaftlich
Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellschaftslehre. 487
(Marxens historischer Materialismus!), der Wissenschaft erscheint alles logisch
(wie unten sogleich näher ausgeführt wird). — Die Aufgabe der Gesellschaftslehre ist
jedoch nicht, die Gesellschaft vom Standpunkte: Eines Teilganzen aus, sondern sie
als das Gesamtganze aller Yeilganzen zu betrachten. Näheres darüber hoffe ich in
einem anderen Zusammenhange später einmal auszuführen.
Nun noch ein letztes Beispiel, die Wissenschaft. Vom Standpunkte
der Wissenschaft aus erscheint das Recht als ein logisches Gebäude
von Begriffen; die. Wirtschaft gleichfalls als ein logisches Gebäude von
Rangordnung der Mittel, wie z. B. besonders die doppelte Buchhaltung
als ein klarer Ausdruck solcher reiner Logik bestimmbar ist; der Staat
ebenso als ein logisches Gebäude jener Begriffe, welche die „Konsequenz“,
„Widerspruchslosigkeit‘, „E'nheit‘‘desstaatlich-organisatorischen Handelns
bestimmen.
Welche Beispiele man auch wähle, wie man das Verhältnis des einen
Teilganzen zu den andern Teilganzen auch darstelle, immer wird man
zu dem Ergebnis kommen: daß das fragliehe Teilganze entweder alle andern
Erscheinungen der Gesellschaft sich selbst zum Gliede macht; oder daß
ihm die andern Erscheinungen schlechthin als Träger des Gesamtganzen
(der Gesellschaft) erscheinen. So macht sich, wenn ein früheres Bei-
spiel zur nochmaligen zusammenfassenden Erläuterung wiederholt
werden darf, die Wirtschaft den Staat und das Recht zum Gliede,
sofern diese als „Wirtschaftsbestandteile“ zu ihr in Bezug kommen;
sofern dies nicht der Fall ist, sind Staat und Recht led'glich „Ziel“, dem
die Wirtschaft ebenso als Mittel dient, wie jedem andern Bestandteil
des Systems der Ziele; alle andern Erscheinungen sind dann der
W:rtschaft gleichermaßen entgegengestellt, gleichermaßen Bestandteile
des Gesamtganzen, niemals arteigene Teilganze. Vom Standpunkte der
Wirtschaft aus ist das Nicht-Wirtschaftliche Ganzheit schlechthin,
vom Standpunkt des Rechtes aus das Nicht-Rechtliche Ganzheit
schlechthin — die Kunde davon, daß solche Ganzheit schlechthin in
verschiedene Teilganze zerfällt, kann uns auf dem jeweiligen wirt-
schaftlichen (rechtlichen) Standpunkte überhaupt nicht kommen! Sic
kommt uns von Betrachtungen her, die von andern Teilganzen aus
erfolgen.
Die über das Teilganze gewonnene Hinsicht kann nun wieder rück-
schauend auf den Einzelnen angewendet werden. In dem Sinne wie wir
oben den Einzelnen Zelle, Mikroorganismus, nannten, verhält er sich genau als ein
Teilganzes. Die innere Einheit und reine Wechselseitigkeit, die darin zum Ausdrucke
188 Othmar Spann.
kommt, daB alle Teilganzen sich in das jeweils betrachtete verwandeln, kommt not-
wendig auch in dem Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen zum Ausdruck: Das
Individuum ist nicht nur Organ des Staates, auch der Staat ist Organ
des Individuums, der Einzelne ist Staatsbürger (Organ des Staates), der Staat
ist wieder, z. B. als Sicherheitsspender, Mittel, Organ oder des Einzelnen. — Dieser
Satz, der hier nur aufgestellt, nicht näher erörtert werden kann, zeugt an seinem
Orte von denselben Eigenschaften der Ganzheit wie das ausführlich behandelte
Verhältnis der Teilganzen untereinander.
Von dem erkannten Verhältnis des Teilganzen zum Teilganzen aus
wird auch auf die uralte Streitfrage ein Licht geworfen: Ob der Staat das
Recht erzeuge oder das Recht den Staat, welche allgemeiner die Streit-
frage ist: Welches Teilganze dem andern gegenüber einen (logischen)
Vorrang habe, welches das logisch Erste sei (logische Priorität, Erstheit.
‘rsthaftigkeit habe).
Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein — gar keines! Die Teilganzen
haben einander gegeniiber keinen wahren Vorrang, keine wahre Erst-
hafti¢keit (obzwar sie eine verschiedene Stellung, eine inhaltlich verschiedene
Gliedlichkeit und Giiltigkeit im Ganzen einnehmen). Sie haben deswegen
keinen Vorrang einander gegenüber, weil sie miteinander niemals in un-
mittelbare Beziehung treten, sondern ihre Beziehung stets nur eine solche
zur Ganzheit ist. Ihre einzige Eigenschaft ist jene der Gliedlichkeit und
diese besteht allein in Bezug auf das Gesamtganze. Der Staat erzeugt
nicht das Recht, das Recht nicht den Staat, die Wirtschaft nicht, wie der
veschichtliche Materialismus Marxens will, den ‚Oberbau‘‘ (von Recht,
Staat usf.), sondern: der Staat ist Glied der Ganzheit; das Recht
ist Glied der Ganzheit, die Wirtschaft ist Glied der Ganzheit. Diese
(iliedlichkeit kann, ja muß allerdings verschiedene Rangstellung im
Ganzen haben, weil die Teilganzen wieder nach einer Rang-
ordnung im Gesamtganzen erscheinen; aber da die Teil-
ganzen nur mit dem Gesamtganzen, nicht mit andern Teilganzen als
solchen im Gliedverhältnis stehen, so kann ihre verschiedene Rang-
stellung nicht in einer logischen Priorität in Bezug aufeinander zum
Ausdruck kommen.
Dieses Ergebnis, daß das Teilganze nur als Glied in Erscheinung tritt
und daß niemals zwei Teilganze in ihren beiden arteigenen Eigenschaften
einander gegenüberzutreten vermögen (wie zwei Weltkörper, die sich an-
ziehen, wie zwei negativ geladene Magnetsteine, die sich abstoßen, über-
Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellschaftslehre. 489
haupt wie zwei getrennte Einzelne, zwei Atome), möchte ich als das wich-
tigste Ergebnis der vorstehenden Untersuchung betrachten. In methodo-
logischer Hinsicht heißt dies: Eine kausale Beziehung, eine
kausale „Wechselwirkung“ zwischen zwei Teilganzen gibt
es nicht. Da die Teilganzen lediglich als Glieder dem Ganzen gegen-
überstehen, so obwaltet allein das Verhältnis Ganzes : Teil in der Gesell-
schaft, nicht aber das Verhältnis der kausalen Wechsel-Wirkung von
Stück gegen Stück. Der Begriff der ‚Beziehung‘ wie der der ,,Wechsel-
wirkung‘, welcher in der heutigen (Gesellschaftslehre grundlegend ist,
ist vollkommen fehl am Ort. Das Verhältnis Ganzes : Teil schließt als
Grundkategorie die Gliedlichkeit in sich, die man auch als Wechsel-
seitigkeit, Gegenseitigkeit, Entsprechung. Korrelation, Verrichtsamkeit,
Rangstellung, Gültigkeit oder als sonstige Abart des Zweckhaften
(Finalen) näher bestimmen kann; dagegen schließt das Verhältnis der
Wechselwirkung (Stück gegen Stück, Atom gegen Atom, Körper gegen
Körper) als Grundkategorie die Ursäehlichkeit in sich. Das sind zwei
verschiedene Welten! Ursächlichkeit und Gliedlichkeit vollkommen zu
trennen, ist das Erste, was der heutige Gesellschaftsforscher gegenüber
dem Naturforscher lernen muß, wodurch er sich von der Naturwissen-
schaft frei machen muß.
Unser Ergebnis, daß niemals zwei Teilganze in ihren arteigenen
Eigenschaften einander unmittelbar gegenüber zu treten vermögen, könnte
man das Prinzip der Einartigkeit der Eigenschaften oder der
Unvermischbarkeit und Unberithrbarkeit des Teilganzen
(nämlich durch andere Teilganze oder durch Kausalität) nennen. Es ist
eine vollkommene Reinheit seines Bereiches, ein unantastbarer Elementar-
kreis, der das Teilganze auszeichnet. Jedes Teilganze oder Glied ist
gleichsam wie ein Strom, der alles andere zu seinen Nebenflüssen macht
und so alles andere sich angleicht. Das macht — jeder Teil ist die Dar-
stellung des gesamten Ganzen — eine Grunderscheinung, die man am
umfassendsten als Ebenbildlichkeit bezeichnet.
Zur Ergänzung noch folgende Anmerkungen:
I. Ich habe in meinem ,,Fundament der Volkswirtschaftslehre“ (Fischer, Jena)
gezeigt, daß sich das Verhältnis Ganzes: Teil in der Volkswirtschaftslehre grundsätz-
lich zur Leistung oder Verrichtung (teleologischen Funktion) gestaltet und damit
die Untersuchung der Rangordnung der Glieder (der wirtschaftlichen Mittel
490 Othmar Spann.
im Sinne von Vor-Zwecken) das sozialwissenschaftliche Verfahren bestimmt. —
Wenn damit die gesamte Gesellschaftswissenschaft vom ursächlichen
Verfahren jeder Art vollkommen losgelöst wird, so will ich anderseits
darüber, in welchem Sinne es Ursächlichkeit überhaupt (auch in der Naturwissenschaft)
gibt, nichts entschieden haben. Mir persönlich steht fest, daß auch die Naturvorgänge
Glieder des kosmischen Ganzen sind, daher im letzten Sinne gleichfalls dem glied-
lichen Verfahren unterliegen
II. Die Ansicht, daß der Teil früher sei als das Ganze und dieses durch Sum-
mierung erst erzeugen — führt zur kausalen Auffassung. Denn ursächlich wirken kann
jedes Ding nur kraft seiner ihm selbst (als einem Für-sich nicht als einem Gliede)
eigenen Eigenschaften. Das selbständige Einzelne wirkt darnach eindeutig kraft seiner
Eigenschaften; die wirkenden Einzelnen bilden, erzeugen erst ein Ganzes. Die ur-
sächliche Betrachtung der Dinge geht überall notwendig nach dem
Satze vor, der einzelne Teil sei früher als das Ganze; dieursächliche
Auffassung ist überall individualistisch.
III. Zu den früheren Beispielen, die den zuletzt erörterten Gegensatz zwischen
Ursächlichkeit und Gliedlichkeit von anderer Seite her schon reichlich klar gestellt
haben, sei es doch noch erlaubt, die folgenden hinzuzufügen.
Was heißt zum Beispiel der Satz: Das Volkstum, die nationale Gesinnung hat
„Einfluß‘ auf die Wirtschaft, „wirkt“ auf die Wirtschaft; oder der Satz: Volks”
‚tum will sich in Volkswirtschaft, will sich in Staat verwandeln ?
Das heißt nicht, daß ‚‚Volkstum‘‘ auf ‚Wirtschaft‘‘ und ‚Staat‘‘ ursächlicher-
weise einwirke! Es heißt: Das Zielsystem, dem die Wirtschaft dient, ist in einem
Falle völkisch anders bestimmt als in einem andern Falle. Wenn es dem deutschen
Michel gleich ist, welche Ware er kauft, der Tscheche aber tschechische Ware lieber als
deutsche, selbst wenn sie teurer ist, so heißt dies nicht. daß Volkstum auf die Wirt-
schaft wirke,es heißt bloß, daß dem Deutschen andere Ziele gelten als dem Tschechen,
daß hier die völkischen Ziele in anderer Weise ‚Glied‘ sind wie dort. — ,,Volkstum
will sich in Staat verwandeln‘‘ heißt ebensowenig, daß beide aufeinander wirkten,
sondern: daß Volkstum seine Gliedlichkeit darin bewähre, daß es (das heißt sein
geistiger Gehalt) Stoff für staatliche Organisation sei. — In den scheinbaren ‚‚Wir-
kungen‘ der Teilganzen liegt mithin nichts Kausales, sondern bloß ihre Gliedeigen-
schaft. Gliedlichkeit vor!
In einem übertragenen Sinne allerdings kann man ja immerhin von einem
„Einfluß des Volkstums, Staates, der Religion auf die Wirtschaft** sprechen. Nämlich
in dem Sinne, daß die Wirtschaft als Mittel, als das schlechthin Fügsame auch den
Wert und Charakter vom Ziele annimmt, daß es auch religiösen, völkischen, staat-
lichen Zielen diene. Aber das Urteil, ob ein unreligiöses, unvölkisches usw. Leben
und daher eine Wirtschaft „ohne Religion“, ‚ohne Volkstum“, das heißt eine Wirt-
schaft, die nicht der Religion, dem Volkstum dient (daher auch Religion und Volkstum
ihrerseits nicht als Wirtschaftsmittel besitzt) verwerflich sei, bleibt gänzlich in dem
Bereiche der Erörterung der Ziele, im Bereiche der religiösen wie völkischen Werte
und Beweismittel, sohin außerhalb der Wirtschaft.
Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellsehattslehre. 491
Zusammenfassung.
Überblicken wir das Wesentlichste unserer Untersuchung.
Um die Gliederung der Gesellschaft in Teilganze zu verstehen, muß
man auf den Satz zurückgehen, das Ganze ist früher als der Teil.
Aus diesem Satze folgt, daß das Teilganze nur in seiner Eigenschaft,
Glied des höheren Ganzen zu sein, bestimmt w'rd. Das Teilganze ist im
Verhältnis zu dem Gesamtganzen nur Verrichtungszweig und nichts anderes.
Aus jenem Satze folgt weiter: Das Teilganze kann zu dem andern
Teilganzen nicht als zu einem Fremden in Verhältnis treten, denn das
ergäbe ein Verhältnis der Wechselwirkung und das wäre Ursächlichkeit;
sondern ein Teilganzes kann das andre Teilganze nur als sein eigenes Glied
in sich befassen. Jede andre Beziehung zwischen beiden verwandelt sich
in die Beziehung eines Teilganzen zum Gesamtganzen. Demgemäß verhält
sich ein Teilganzes (zum Beispiel Wirtschaft) zu einem andern Teilganzen
(zum Beispiel Recht, Staat) nur, indem das andre Teilganze (Recht, Staat)
seine eigene Natur als Teilganzes aufgibt und zum Bestandteil, zum Glied
des andern Teilganzen selber wird: Die Wirtschaft macht sich den Staat
zum Gliede, indem das, was sonst „Staat“ ist, hier Wirtschaftsmittel ist;
der Staat, das Recht macht sich die Wirtschaft zum Gliede, indem,
was sonst „Wirtschaft“ ist, hier Staatsbestandteil (staatlich Organisiertes)
wird. Oder es tritt der andereFall ein, daß das fremde Teilganze zum Träger
von Ganzheit schlechthin wird: „Staat“ und „Recht“ sind bloße
Wirtschaftsziele für die Wirtschaft; ‚Wirtschaft‘ ist zu Ordnendes
schlechthin für den Staat.
Aus diesem Verhältnis der Teilganzen folgt, daß jedes Teilganzes
gleichsam ein dreifaches Dasein führt: als arteigenes Glied, als Bestandteil
eines andern Teilganzen, endlich als Bestandteil des Gesamtganzen schlecht-
hin, als Träger des Gesamtganzen. So ist Recht einmal arteigenes Glied,
vleichsam ein Eigenes, Besondertes, dann Wirtschaftsmittel (Glied der
Wirtschaft), endlich ein Stück vom Gesamtganzen überhaupt, z. B. als
Ziel für Wirtschaft.
Das Glied ist nichts als eine bestimmte Besonderung des Ganzen;
daher ist es zugleich Glied wie auch durch und durch Ganzes, es ist selbst
Ganzes (Kategorie der Ebenbildlichkeit); und wie es Organ (Verrich-
tungszweig) des Ganzen ist, so auch das Ganze sein Verrichtungsmittel
492 Othmar Spann. Das Verhältnis von Ganzem und Teil in der Gesellschaftslehre.
oder Organ (Kategorie der Verrichtsamkeit oder Funktionalität); so
auch endlich besteht das andere Teilganze für es’ nur in seiner Art
als Ganzheit (Einartigkeit des Teilganzen).
Der Vollklang der Glieder ist das Ganze; der Vollklang der Glieder
ist nicht die Summe, nicht der Haufen von Sonderbeziehungen der-
selben; daher ruht jedes Glied sei es als Teilganzheit, sei es als Einzelner, im
Ganzen selber, kennt und weiß nichts als diese Ganzheit.
Produktionsumwege und Kapitalzins.
Von Franz X. Weiß.
Vorbemerkung. S. 493. — I. Der Inhalt der These von der Mehrergiebigkeit
der Produktionsumwege. S. 494. — II. Die Stellung des Gesetzes von der Mehr-
ergiebigkeit im Systeme Böhm-Bawerks. 8.501. — IIT. Die Widerlegung einiger
gegen die These von der Mehrergiebigkeit erhobener Einwände. 8.605. — IV. Kritik
des Gesetzes von der Mehrergiebigkeit. S. 665. — V. Die Leistungsgliederung und
das Wesen der Produktionsumwege. — Endergebnisse. S. 577.
, Vorbemerkung.
Eugen von Böhm-Bawerk hat in seiner monumentalen ‚Geschichte
und Kritik der Kapitalzins-Theorien‘‘ wiederholt darauf hingewiesen,
daß sich die Erklärung des Zinses auf zwei Tatsachenreihen aufstützen
‚müsse: einerseits auf die technische Produktivität des Kapitals, das heißt
auf die Tatsache, daß die Mitwirkung des Kapitals an der Produktion
deren technisches Ergebnis vergrößere; andrerseits auf gewisse psychische
Erscheinungen, die mit der Wirkung des Zeitablaufes — anders ausgedrückt:
des Genußaufschubes — auf die Güterschätzung zusammenhängen. Böhm-
Bawerk selbst hat nachdrücklich hervorgehoben, daß die Verbindung des
Zinses mit jeder der beiden Erscheinungsreihen — von Marshall be-
kanntlich als „productiveness“ und als „prospectiveness‘‘ des Kapitals
bezeichnet — ‚eine einleuchtende und als solche fast jedem Beobachter
sich aufdrängende Sache war‘‘,') während die größte Schwierigkeit des
Zinsproblems darin besteht, ‚darzulegen, in welcher Weise und durch
welche Mittelglieder hindurch jene heterogenen, teils objektiv technischen,
teils höchst subjektiv psychologischen Teilursachen ineinander und zum
Schlußergebnis unseres erfahrungsmäßigen, einheitlichen Kapitalzinses
wirken“.:) Für die Zinstheorie Böhms ist es charakteristisch, daß
1) Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, 3. Aufl., Innsbruck 1914,
S. XX.
2) a a. 0., 5. 412.
494 Franz X. Weiß.
nach ihr die Produktivität des Kapitals, die sich für ihn als die größere
Ergiebigkeit der zeitraubenden Produktionsmethoden dar-
stellt, selbst eine Teilursache dafür bildet, daß gegenwärtige Güter, da
durch sie das Einschlagen solcher Produktionsumwege erst ermöglicht
wird, höher geschätzt werden als künftige. „Nach dieser Auffassung
wirken die produktionstechnischen und die psychologischen Tatsachen
schon zu allem Anfang koordiniert, indem sie ihre Wirksamkeit zunächst
zu dem gemeinsamen Ergebnisse vere'nigen, daB gegenwärtige Güter
höher geschätzt werden als künftige: dieses Ergebnis steht dann allein
als erklärendes Zwischenglied zwischen den Teilursachen, die es selbst
hervorbringen, und dem Kapitalzins, der aus ihm als weitere Folge hervor-
geht.“ 1)
Hiemit ist die große Bedeutung gekennzeichnet, die der von Böhm-
Bawerk aufgestellten und gegen eine Anzahl mehr und minder scharf-
sinniger Kritiken glänzend verteidigten These von der Mehrergiebigkeit
der Produktionsumwege zukommt. Im folgenden soll zunächst der
Inhalt der These und sodann ihre Stellung im Systeme der Zinstheorie
Böhms eine eingehende Darstellung erfahren. Hieran schließt sich eine
Auseinandersetzung mit jenen später erhobenen Einwendungen, denen
Böhm selbst nicht mehr erwidern konnte Sodann folgt unsere Kritik
der These von der Mehrergiebigkeit, worauf schließlich die positive Be
deutung dieser Erscheinung unter Berücksichtigung der kritischen Er-
gebnisse gewürdigt wird.
I. Der Inhalt der These von der Mehrergiebigkeit
der Produktionsumwege.
Die von Böhm-Bawerk aufgestellte These von der Mehreigiebigkeit
der Produktionsumwege besagt, „daß eine klug gewählte Ein-
schlagung oder Verlängerung zeitraubender Produktions-
umwege in aller Regel zu einem technischen Mehrergebnis.
das ist zur Erlangung von mehr oder besseren Produkten
mit dem gleichen Aufwand an originären Produktivkräften
führt.‘*)
1) a. a. O., S. 412.
2) Exkurse zur „Positiven Theorie des Kapitales“, 3. Aufl.. S. 3, vgl. ferner:
Pos. Theorie, 3. Aufl., S. 15 ff, 143 ff.
Produktionsnmwege und Kapitalzins. 495
Jede Produktion .besteht in der Kombination von Bodennutzungen
und Arbeitsleistungen; ihr Endziel ist die Herstellung von Genußgütern.
Die Kombination von Boden und Arbeit kann entweder derart erfolgen,
daß sich hieraus unmittelbar das begehrte Genußgut ergibt: der Mensch,
liest zum Beispiel die an den Strand gespülten Seetiere mit der Hand auf;
oder aber, es wird ein Umweg gewählt: es wird nicht sofort das gewünschte
Genußgut, sondern zunächst ein Zwischenprodukt, ein „Kapitalgut‘
erzeugt und erst aus diesem entweder unmittelbar oder erst auf dem Wege
weiterer Zwischenprodukte das Genußgut zur Entstehung gebracht. Man
begnügt sich nicht mehr mit dem Einsammeln der zufällig an den Strand
gespülten Seetiere, sondern fertigt ein Boot und Netze an und begibt
sich erst mit Hilfe dieser Zwischenprodukte auf den Fischfang.
Die „kapitalistische“ — das heißt die sich der Unterstützung
durch Zwischenprodukte bedienende — Produktion hat nach Böhm zwei
Eigentümlichkeiten. Sie ist einerseits ergiebiger als die kapitallose und
als die weniger kapitalistische: mit dem gleichen Aufwande an originären
Produktivkräften (Boden und Arbeit) kann mehr oder besseres Produkt
erzeugt werden. Andererseits ist sie zeitraubend: sie liefert das größere
oder bessere Produkt erst in einem späteren Zeitpunkte. Das Fischen
mit Boot und Netz gibt pro Arbeitstag — es muß selbstverständlich auch
die „mittelbare“, auf die Erzeugung des Bootes und des Netzes gerichtete
Arbeit in Rechnung gezogen werden — ein größeres Produkt als das Auf-
lesen der an den Strand gespülten Seetiere, führt aber später an das Ziel.
Weitere Verlängerungen des Produktionsweges bringen eine weitere
Steigerung der Ergiebigkeit mit sich, jedoch nur in abnehmendem Maße.
Zur Erhärtung des Satzes von den Produktionsumwegen führt Böhm
noch eine Reihe anderer einfacher Beispiele vor. So die Holzgewinnung.
Direkter Weg: Auflesen der Äste. Kurzer Produktionsumweg: Anfertigung
und Anwendung einer Steinaxt. Längerer Produktionsumweg: Förderung
von Eisenerzen; Gewinnung der zu ihrer Schmelzung notwendigen Roh-
stoffe und Geräte; Verarbeitung des Eisens zu Stahl; Anfertigung und
Verwendung einer Stahlaxt. Ähnlich die Gewinnung von Bausteinen.
Direkter Weg: Brechen der Steine mit unbewaffneten Händen aus der
Felswand. Zweiter Weg: Gewinnung von Eisen zur Anfertigung von
Meißel und Hammer; sodann erst Bearbeitung des Steines mit diesen Werk-
zeugen. Dritter Weg: Bereitung von Sprengmitteln, Anfertigung von Meißel
und Hammer zur Herstellung von Bohrlöchern; Sprengung des Felsens,
496 Franz X. Weiß.
In all diesen Fällen erweist sich der indirekte Weg als der ergiebigere;
das heißt jede Einheit der aufgewendeten Produktivkräfte, zum Beispiel
ein Arbeitstag, wird durch größeres oder besseres Produkt gelohnt. Manche
Gebrauchsgüter lassen sich jedoch überhaupt nur auf indirektem Wege
erzeugen. So benötigt man beispielsweise zur Anfertigung einer Brille
geschliffene Gläser und ein Stahlgeriist. Man kann diese Güter nicht
unmittelbar aus Kieselerde und aus Erz erzeugen, sondern muß vielmehr
Glashütten bauen, aus Kieselerde Glas bereiten, dieses hierauf reinigen,
formen, kühlen und sodann mittelst verschiedener Instrumente, die vorher
erzeugt werden müssen, schleifen. Das Erz muß im Hochofen geschmolzen,
das Roheisen in Stahl verwandelt und aus diesem erst das Stahlgerüst
geformt werden. Der lange Umweg ist in diesem Falle der einzige Weg
zum Ziel.
Die Erklärung der Tatsache der Mehrergiebigkeit erblickt Böhın
in Übereinstimmung mit Rodbertus und C. Menger darin daß wir
durch unmittelbare Kombination unserer Arbeitskraft mit dem Boden
die gewünschte Stoffkombination (das Genußgut) oft nieht — oder nur
in geringer Menge — herstellen können, während wir durch Einschlagung
von Produktionsumwegen Zwischenursachen des Erfolges einschalten,
‚Hilfskräfte heranziehen können, ‚bis wir in der Reihe endlich auf eine
Ursache treffen, die wir mit unseren eigenen, natürlichen Mitteln hequem
bewältigen können. Dies ist die wahre Bedeutung, die dem Beschreiten
von Umwegen in der Produktion zukommt, und dies der Grund der daran
geknüpften Erfolge: jeder Umweg bedeutet die Heranziehung einer Hilfs-
kraft, die stärker oder geschickter ist als Menschenhand, jede Verlängerung
des Umweges eine Vermehrung der Hilfskräfte, die in den Dienst des
Menschen treten, und eine Abwälzung eines Teiles der Produktionslast von
der sparsamen und kostspieligen Menschenarbeit auf die verschwenderisch
dargebotenen Kräfte der Natur‘.:)
Die Produktionsperiode eines Genußgutes dauert, streng genommen,
vom Beginn der Herstellung des ersten Produktionsmittels, das zur Er-
zeugung des Genußgutes verwendet wird, bis zur Herstellung dieses
letzteren selbst. „Der Knabe, der heute mit seinem Taschenmesser
eine Weidenrute abschneidet, ist streng genommen nur der Werkfortsetzer
des Bergmanns, der vor Jahrhunderten den ersten Spatenstich zur Bohrung
1) Pas. Theorie, S. 21.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 497
des Schachtes getan, aus dem das Erz für die Klinge des Taschenmesser:
vefördert wurde.‘‘') Da es jedoch sinngemäß darauf ankommt, nach welcher
Zeitsich sämtliche beiEinschlagung längerer Produktionswegeaufgewende-
ten originären Produktivkräfte (Arbeit und Bodenleistungen) lohnen, so ist
die Länge des Produktionsweges nicht nach jener „absoluten Produktions-
periode“ zu bestimmen, die — wie in obigem Beispiel — zwischen der
Aufwendung des ersten Arbeitsteilchens und der Gewinnung des End-
produktes verstreicht, sondern nach der „durchschnittlichen Produktions-
periode“, nach jenem Zeitraum, der durchschnittlich zwischen der
Investierung der auf dem Produktionsumwege aufgewendeten originären
Produktivkräfte und der Fertigstellung des Schlußproduktes vergeht.
„Kostet zum Beispiel‘, führt Böhm aus,*),,die Herstellung eines Genußgutes
insgesamt 100 Arbeitstage -- von den kooperierenden Bodennutzungen
will ich der Vereinfachung halber absehen — und ist davon ein Arbeitstag
vor 10 Jahren, je ein weiterer vor 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2 und einem Jahre
und alle übrigen 90 Arbeitstage unmittelbar vor der Werkvollendung
aufyewendet worden, so lohnt sich der erste Arbeitstag nach 10, der zweite
nach 9, der dritte nach 8 Jahren u. s.f., während die letzten 90 sich
sofort .lohnen; und durchschnittlich lohnen sich alle 100 Arbeitstage nach
10+9+8+7+6+5+4+3+2+1 55
100 100
das ist schon nach ungefähr einem halben Jahre. Würde die Pro-
duktion eines anderen Gutes ebenfalls insgesanıt 100 Arbeitstage erfordern.
die ebenfalls im Verlaufe einer zehnjährigen Periode aufgewendet werden
müssen, aber so, daß im ersten dieser 10 Jahre 20 Arbeitstage, im zweiten
ebenfalls 20 Arbeitstage, im dritten bis zehnten je 5 und unmittelbar vor
der Werkvollendung die letzten 20 Arbeitstage aufgewendet werden, so
würde sich der Durchschnitt ganz anders und viel höher stellen; er betrüge
= 200 + 180 + 40+ 35 + 30 + 25 + 20 -+ 15 + 10+5 660
100 100
also mehr als fünf und ein halbes Jahr. Höchst wahrscheinlich wird
übrigens in beiden Beispielfällen auch irgend ein Bruchteil eines Arbeits-
tages schon vor Jahrhunderten aufgewendet worden sein: aber wegen
1) a. a. O., S. 156 f.
2) a. a. O., S. 157 ff.
Zeilschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1. Bund. . Ot
498 Franz X. Weib.
seiner Kleinheit vermag er den Durchschnitt kaum zu beeinflussen und
kann daher in den meisten Fällen einfach vernachlässigt werden ...
Nur bei solchen Produktionsmethoden, bei denen sich der Aufwand an
originären Produktivkräften über die ganze Produktionsperiode gleich-
mäßig verteilt, gibt die absolute Länge der Produktionsperiode zugleich
einen angemessenen Maßstab für den Grad des Kapitalismus ab.“
Das von dem einzelnen ProduktionsprozeB Gesagte gilt auch für die
gesamte Volkswirtschaft. Je ‚‚kapitalistischer‘‘ die Volkswirtschaft pro-
duziert, ein desto geringerer Teil der originären Produktivkräfte wird zur
Augenblicksproduktion verwendet, ein desto größerer Teil wird, in lang-
wierigen Produktionsmethoden investiert, erst in späterer Zeit Früchte
tragen, und zwar in desto fernerer Zeit, je höher der Grad des Kapitalismus
ist. Die Zeit, die zwischen dem Einsatze der originären Produktivkräfte
einer Volkswirtschaft und der Gewinnung der Genußfrüchte verstreicht,
ist die durchschnittliche gesellschaftliche Produktionsperiode. 1)
* l *
x
Neben den kapitalistischen Produktionsumwegen gibt es noch eine
zweite Tatsache, die, wie Böhm in der letzten Fassung seiner Theorie
hervorhebt, gleichfalls auf Kosten längerer Wartezeit zu einem Mehr-
erfolg führt. Diese Tatsache, die Böhm als „eine wichtige Parallel-
erscheinung der kapitalistischen Produktionsumwege‘“ be-
zeichnet, besteht nach ihm darin, „daß sehr oft durch eine soli-
dere, dauerhaftere Herstellung ausdauernder Genußgüter die
Dauerhaftigkeit und mit ihr die Gesamtsumme des aus
den betreffenden Gütern zu ziehenden Nutzens sich in
einer stärkeren Proportion steigern läßt als der Erzeugungs-
aufwand.” 2)
Diese ,,Parallelerscheinung wird von Böhm an einer Reihe von
Beispielen erläutert, von denen einige hier angeführt seien: Anfertigung
von Hemden aus Baumwolle und aus Leinen; Erzeugung von Brücken
aus Holz, aus Stein und aus Eisen. Herstellung von Wohngebäuden aus
Schilf und Lehm, aus Holz, aus übereinandergelegten Bruchsteinen, aus
Lehmziegeln, aus behauenen Quadern verschiedener Gesteinsgattungen
1) Vgl. Pos. Theorie, S. 160, 525.
2) Pos. Theorie, S. 162.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 499
mit Zwischenkonstruktionen aus Holzbrettern, massiven Balken, Eisen-
trägern verschiedener Stärke, mit gewöhnlichem Mörtel oder besonders
bindekräftigen Zementen usw. Ein Haus von dreißigjähriger Dauer erfordere
beispielsweise einen Bauaufwand von 30 Arbeitsjahren; wahrscheinlich
werde nun die Herstellung eines Hauses von sechzigjähriger Dauer nicht
die doppelten Kosten; sondern zum Beispiel bloß 50 Arbeitsjahre erfordern:
zur Herstellung eines Hauses von hundertzwanzigjähriger Dauer würde
wahrscheinlich wiederum nur ein verhältnismäßig geringerer Aufwand,
also zum Beispiel bloß 80 Arbeitsjahre benötigt werden. Ein Arbeitsjahr
würde sich daher bei der ersten Bauart mit 1 Jahresnutzung, bei der
zweiten mit 1-2, bei der dritten mit 1-5 Jahresnutzungen lohnen.
Ähnlich wie die kapitalistischen Produktionsumwege zeitigt auch
ihre „‚Parallelerscheinung‘‘ einen produktiven Mehrerfolg. Dort mehr
(oder besseres) Produkt, hier mehr Nutzleistungen. Auch dieser Mehr-
erfolg ist wie bei den Produktionsumwegen mit einer Verlängerung der
Wartezeit verbunden: bei dreißigjähriger Dauer des Hauses muß man
auf den GenuB seiner gesamten Nutzleistungen im Durchschnitt 15 Jahre,
bei sechzigjahriger Dauer im Durchschnitt 30 Jahre warten usw. Während
jedoch die Wartezeit der Produktionsumwege durchschnittlich vom Beginn
bis zum Ende der Produktion dauert und unerwünscht ist, währt die
sich aus der Dauerhaftigkeit des Produktes ergebende ‚Wartezeit‘ durch-
schnittlich vom Beginn bis zum Ende des Gebrauches und ist erwünscht,
da sie der Dauer des Genusses entspricht. In manchen Fällen ist die
Erzielung von Genußgütern hoher Qualität an die Herstellung eines dauer-
haften Typus gebunden, auch wenn auf die längere Dauer wenig oder
gar kein Gewicht gelegt wird. Extrenister Fall: die betreffende Güterart
kann überhaupt nur als Dauergut erzeugt werden (zum Beispiel ein Edel-
steinschmuck). Andere Beispiele: Die Herstellung präziser Uhren,
sicherer Brücken, hequemer, gegen alle Witterungseinflüsse sichernder
Wohnhäuser ist nur möglich, wenn man ihnen eine dauerhafte Konstruktion
verleiht. Diese Fälle entsprechen jener Gruppe der kapitalistischen
Produktionsumwege, in welcher der indirekte Weg der einzige mögliche
ist.1) Ebenso wie eine Brille nur auf langem Umweg erzeugt werden kann,
können jene Qualitätsgüter nur als dauerhafte Typen erzeugt werden,
womit eine gewisse „Warfezeit‘‘ notwendig verbunden ist.
1) S. oben S. 496.
500 Franz X. Weih.
_ Hervorgehoben zu werden verdient, daß die Mehraufwendungen zur Her-
stellung dauerbarerer Genußgüter ihrerseits keineswegs mit einer Verlänge-
rung der Produktionsperiode verbunden sein müssen. Die 80 Arbeitsjahre.,
die in dem früheren Beispiele die Herstellung des hundertzwanzigjährigen
Hauses kostet, brauchen, wie Böhm ausdrücklich betont. keine längere
Produktionsperiode auszufüllen als die 30 Arbeitsjahre, die zum Bau des
dreißigjährigen Hauses erforderlich sind.
Zur Erhärtung der Behauptung von der „Parallelerscheinung‘“ verwe'st
Böhm auf die praktische Erfahrung. Schon das Scherzwort ‚ich bin nieht
reich genug, um billige Sachen kaufen zu können“, zeige, daß tatsächlien
häufig die Nutzdauer von Gebrauchsgütern durch einen verhältnismäßig
kleinen Zusatz an ihren Eirzeugungskosten verhältnismäßig stark verlängert
werden kann.') Es fehle auch nicht an allerlei Stützen naturwissenschaft-
licher oder technologischer Art, welche solche Vorteile wenigstens für
manche Gruppen von Fällen erklärlich und wahrscheinlich erscheinen
lassen. „Ich möchte‘, sagt Böhm,?) „beispielsweise daran erinnern, daß
den Angriffspunkt für die zerstürenden Einflüsse zumeist die Oberflächen-
teile bieten, deren Anteil an der Gesamtmasse desto kleiner, also günstiger
wird, je massiver die Konstruktion ist (unverhältnismäßig rasche Ab-
nützung der allzu dünnen Geldmünzen!). Oder wohl alle zusammengesetzten
Körper haben irgend einen ‚schwächsten Punkt‘, an dem das Versagen
am frühesten eintritt und die Unbrauchbarkeit des Ganzen nach sich zieht,
wiewohl andere Bestandteile noch länger hätten aushalten können. In
solchen Fällen wird eine Verlängerung der (rehrauchsdauer für das Ganze
keineswegs eine paritätische Verstärkung aller Bestandteile und damit
eine ebenmäßige Steigerung des gesamten Kostenaufwandes erfordern,
sondern es kann eine höchst partielle dem ‚schwächsten Punkt‘ allein
zugewendete Kostensteigerung dazu genügen.“
Bemerkenswert ist, daß Böhm in bewuBtem Gegensatze zu Cassel
den Geltungsbereich der „Parallelerscheinung‘ ausdrücklich auf die dauer-
haftere Herstellung von ausdauernden GenuBgiitern einschränkt, während
er die dauerhaftere Herstellung ausdauernder Produktivgüter (zum
Beispiel von Fabriken, Maschinen) nicht als Parallelerscheinung, sondern
als Spezialform — und zwar als den „wichtigsten Teil“ — der Mehr-
1) Pos. Theorie, S. 164.
2) aa. 0., 8. 165, Anmerkung.
— eee; ee G ar
Produktionsumwege und Kapitalzins. 901
ergiebigkeit längerer Produktionswege ansieht.') Die längere Dauer dieser
Produktivgüter bedeute einerseits, daß diese ein Mehr von Produkten
abwerfen und andererseits daß dieses Mehr von Produkten später zur
Entstehung gelange. Daher ‚gleicht dieser Vorgang nicht einer Ver-
lingerung ergiebiger Produktionsumwege, sondern ist eine solche Ver-
längerung.‘ 2)
Il. Die Stellung des Gesetzes von der Mehrergiebigkeit
im Systeme Böhm-Bawerks.
„Gezenwärtige Güter sind in aller Regel mehr wert als künftige Güter
eleicher Art und Zahl.“ Dieser Satz ist nach Böhms eigenen Worten der
„Kern- und Mittelpunkt“ seiner Zinstheorie, die alle Formen des. Kapital-
zinses auf die Wertdifferenz zwischen Gegenwarts- und Zukunftsgütern
zurückführt.’)
Im Darlehenszins kommt dies am klarsten zum Ausdruck. Das
Darlehen ist ein Tausch gegenwärtiger gegen künftige Güter. Wegen
des erwähnten Wertunterschiedes muß ein größeres Quantum Zukunfts-
güter gegen eine geringere Menge von Gegenwartsgiitern hingegeben werden.
Die Differenz zwischen den beiden Gütermengen stellt den Darlehenszins
dar. Ähnlich ist der Mietzins, der für die Verleihung dauerbarer Güter
gegeben wird, zu erklären. Der Wert eines Dauergutes, zum Beispiel
eines Hauses, ist gleich der Summe der darin enthaltenen Nutzleistungen,
1) Vgl. hiezu Cassel, The Nature and Necessity of Interest, London 1903,
S. 122 ff; Theoretische Sozialökonomie, Leipzig 1918, S. 166 ff. Cassel erblickt in der
Tatsache, daß der Gebrauch jedes dauerbaren Gutes, sei es ein Genuß- oder ein
Produktivgut, Zeit in Anspruch nimmt, eine einzige, einheitliche Erscheinung. Es
handelt sich gegenüber der Auffassung Böhns nur um einen Unterschied in der An-
ordnung der Darstellung. Ein sachlicher Gegensatz liegt hier nicht vor.
2) a. a. O. S. 169 f; Exkurse, S. 33 f, Anmerkung. Wie sich aus diesen Stellen
und aus der Darstellung des Textes ergibt, hat Böhm — unter dem Einfluße John
Rae's — in der letzten Fassung seiner Theorie die These von der Mehrergiebigkeit
längerer Produktionsprozesse auch auf die Erzeugung und Verwendung langdauern-
der Produktionsinstrumente gestützt. Es liegt daher ein Irrtum Hainischs vor,
wenn dieser in seiner unten auf S. 543 angeführten Abhandlung Böhm im Gegensatz
zu Rae die Auffassung zuschreibt (S. 276, Anm.), daß nur ,,die Zeit, die die Herstellung
der Maschine kostet“, nicht aber die Lebensdauer der Maschine für die Länge der
Produktionsperiode und ihre Mehrergiebigkeit in Betracht komme.
3) Vgl. zu diesem Abschnitt Pos. Theorie, IV. Buch.
502 Franz X. Weiß.
wobei der in der Gegenwart geschätzte Wert jeder einzelnen künftigen
Nutzleistung einen Abschlag erfährt, der umso größer ist, je später die
Nutzleistung fällig wird. Der Bruttozins für eine Nutzleistungsperiode,
beispielsweise für ein Jahr, entspricht dem Gegenwartswerte der abge-
gebenen Nutzleistung und daher der Wertverminderung, die das Gut
zunächst erfährt. Dieser steht jedoch eine Werterhöhung gegenüber,
da alle übrigen Nutzleistungen der Gegenwart näher rücken und daher
an Wert zunehmen. Der Vermieter des Gutes erhält daher im Bruttozins
einen größeren Betrag als der endgültigen Wertverminderung des Gutes ent-
spricht. Dieser Überschuß ist der reine Mietzins. Der ursprüngliche
Kapitalzins, der Reinertrag des Unternehmerkapitals, erklärt sich schließ-
lich folgendermaßen: Der Wert der Produktivgüter ist gleich dem Werte
ihrer Produkte, und zwar — da diese Produkte erst in der Zukunft nach
Abschluß des Produktionsprozesses verfügbar sind — dem in der Gegen-
wart geschätzten Werte der künftigen Produkte, der geringer ist als der
Wert, der ihnen in der Zukunft nach vollendeter Herstellung beigelegt
wird. Ist aber der Produktionsprozeß beendet, so sind die Produkte zu
Gegenwärtsgütern herangereift; ihr Wert ist daher größer als jener der
Produktionsm'ttel, denen sie entstammen. Die Unternehmer kaufen
daher die Produktionsgüter zu einem niedrigeren Preis ein als dem seiner-
zeitigen Werte der fertigen Produkte entspricht. Der Überschuß, der auf
diese Weise in ihren Händen verbleibt, ist der ursprüngliche Kapitalzins.
Der Wertunterschied zwischen Gegenwarts- und Zukunftsgütern wird
von Böhm auf drei Ursachen zurückgeführt.
Erste Ursache: die Verschiedenheit der Versorgung in Gegenwart
und Zukunft. Eine Anzahl von Personen sind in der Gegenwart schlechter
mit Gütern versorgt, als dies voraussichtlich in der Zukunft der Fall sein
dürfte. Diese Personen werden gegenwärtige Güter höher schätzen als
künftige. Demgegenüber gibt es allerdings auch Leute, die in der Zukunft
voraussichtlich nur ebensogut oder gar schlechter versorgt sein werden
als in der Gegenwart. Doch werden sie deswegen künftige Güter in der
Regel nicht etwa höher schätzen als gegenwärtige. Denn es steht ihnen
ja im allgemeinen frei, die derzeit verfügbaren Güter für den Dienst der
Zukunft aufzusparen. Sie werden daher gegenwärtige Güter eben gleich
den künftigen oder gleichfalls noch etwas höher schätzen. Nur in jenen
sehr seltenen Fällen, in denen Gegenwartsgüter nicht der Zukunft dienstbar
gemacht werden können, haben sie einen geringeren Wert als künftige.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 503
Zweite Ursache: Diese liegt in der systematischen Unterschätzung
unserer künftigen Bedürfnisse und der zu ihrer Befriedigung dienenden
Mittel. Diese Erscheinung beruht ihrerseits wieder auf drei verschiedenen
Ursachen. Erstens: Wir bilden uns von unserem künftigen Bedürfnis-
stande nur lückenhafte Vorstellungen, sodaß wir die künftigen Bedürfnisse
nur unvollständig bedenken. Infolgedessen wird der Wert jener Güter,
die zur Befriedigung dieser künftigen Bedürfnisse bestimmt sind, irrtümlich
zu niedrig angesetzt. Zweitens: Infolge eines Willensfehlers ziehen wir
häufig die Befriedigung eines schwächeren, gegenwärtigen der eines stärkeren
künftigen Bedürfnisses vor, auch wenn wir dieses in seiner ganzen Stärke
richtig erkannt haben. Drittens: Auch mit Rücksicht auf die Kürze und
die Unsicherheit unseres Lebens schätzen wir künftige Güter niedriger
als gegenwärtige, da wir nicht sicher sind, daß wir den Zeitpunkt der Ver-
fügung über diese Güter erleben.
Dritte Ursache: In derselben Richtung wirken nach Böhm schließlich
auch jene Tatsachen, die wir oben als die „Mehrergiebigkeit der Pro-
duktionsumwege‘“ und als deren „Parallelerscheinung‘‘ kennen gelernt
haben. Gemäß der Regel der „Mehrerg'ebigkeit‘‘ können mit der gleichen
Produktionsmittelmenge mehr oder bessere Produkte erzeugt werden,
wenn länger dauernde Produktionsmethoden gewählt werden. Wer daher
zu irgend einer Zeit über eine bestimmte Menge von Produktivgütern
verfügt, kann für jeden beliebigen folgenden Zeitpunkt mehr oder bessere
Produkte herstellen, als wenn er die Verfügung über diese Produktions-
mittel erst zu irgend einer späteren Zeit erlangt. Ergibt beispielsweise')
ein Arbeitsmonat, in unergiebiger Augenblicksproduktion verwendet,
100 Produkteinheiten, in einjähriger Produktion 200 Produkteinheiten,
in dreijähriger 350 Einheiten usw., so konnte jemand, dem dieser Arbeits-
monat zum Beispiel im Jahre 1909 zur Verfügung stand, für jedes beliebige
spätere Jahr mehr Produkteinheiten erzeugen, als wenn dieser Arbeits-
monat erst im Jahre 1910 oder noch später in seine Verfügung gelangt
wäre. Daher werden gegenwärtige Produktivgüter stets höher geschätzt
als künftige. Das gleiche Wertverhältnis muß sich aber auch zwischen
sesenwärtigen und künftigen Genußgütern einstellen. Denn in dem
Maße als in der Gegenwart Genußgüter zur Verfügung stehen, kann man
die vorhandenen Produktivgüter auf zeitlich entferntere Ziele richten,
also mit ihnen längere, das heißt ergiebigere Produktionswege einschlagen.
1) Vgl. Pos. Theorie, S. 455.
504 Franz X. Weiß.
In ähnlicher Weise vollzieht sich die Wirkung der als „Parallel-
erscheinung‘‘ der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege bezeichneten
Tatsache, die, wie oben ausführlicher geschildert'), darin besteht, daß sich
bei Herstellung dauerbarer GenuBgiiter die Dauerhaftigkeit und daher
die Nutzleistungsmenge oft in stärkerem Verhältnis steigern läßt als die
hiezu nötigen Aufwendungen: Ein Wohnhaus von sechzigjähriger Dauer
kann, wie Böhm in Anknüpfung an ein von John Rae gegebenes Beispiel
ausfithrt,z) zwei Wohnhäusern von je dreißigjähriger Dauer gleichge-
halten werden, von denen das eine im Augenblick, das andere erst nach
dreißig Jahren zur Entstehung gelangt. Gesetzt nun, ein Haus von dreiBig-
jähriger Dauer erfordere zu seiner Herstellung einen Aufwand von 30 Arbeits-
jahren, das Haus von sechzigjähriger Dauer aber bloß den verhältnismäßig
geringeren Aufwand von 45 Arbeitsjahren. Es wirkt dies dann so, als ob
das „zweite Haus heute mit den Aufwand von 15 Arbeitsjahren erzeugt
werden könnte; wollte man aber heute ein Haus von dreißigjähriger Dauer
und nach Ablauf dieser Zeit abermals ein solches herstellen, so würde
dieses 30 und nicht 15 Arbeitsjahre kosten. 15 heutige Arbeitsjahre voll-
bringen demnach eine Leistung, zu der nach dreißig Jahren 30 Arbeits-
jahre benötigt werden würden. Daher wiederum: Höherwertigkeit der
gegenwärtigen Produktiv- und — aus dem früher *) angeführten Grunde —
auch der gegenwärtigen Genußgüter.
Aus der hier erfolgten knappen Kennzeichnung des Inhaltes der
These von der Mehrergiebigkeit und ihrer „Parallelerscheinung‘“ erhellt
zur Genüge, welch wichtige Rolle sie in der Zinstheorie Bohms zu spielen
berufen ist, so daß dieser mit Recht diesen Satz als „einen Grundpfeiler“
seiner Theorie bezeichnet.*) ‚Wenn meine These von der Mehrergiebigkeit
der kapitalistischen Produktionsumwege überhaupt richtig ist,“ sagt er
an anderer Stelle’) „so verkündet sie eine Tatsache von fundamentaler
Wichtigkeit für unsere Wissenschaft, eine Tatsache, die für die Gestaltung
und Erklärung der volkswirtschaftlichen Erscheinungen vielleicht von
ähnlicher Bedeutung ist wie das berühmte ‚Gesetz des abnehmenden
Bodenertrages‘. Tatfragen solcher Art dulden keine lange Ungewißheit.
1) Vgl. oben S. 498 f.
2) Pos. Theorie, S. 474.
3) S. oben S. 603.
+) Pos. Theorie, S. 459.
6) Exkurse, S. 1.
ee a
Produktionsumwege und Kapitalzins. DOD
Sind Zweifel ihnen gegenüber überhaupt möglich — und daß`sie möglich
sind, zeigt die jüngste Erfahrung — so sollen sie je eher, je besser aus-
vetragen werden.‘
lll. Die Widerlegung einiger gegen die These von der
Mehrergiebigkeit erhobener Einwände.
In def am Ende des vorigen Abschnittes angeführten Stelle nimmt
Böhm auf die mannigfachen, zum Teil recht seltsamen Anfechtungen
Bezug, die gegen den Satz von der Mehrergiebigkeit erhoben worden
sind. All diese Einwendungen können zumindest im wesentlichen als
durch die glänzende und gründliche Erwiderung Böhms !) erledigt gelten.
Auf die später als im Sommer 1911 erschienenen Veröffentlichungen
konnte Böhm nicht mehr erwidern. Wenn die seither erhobenen Einwürfe
gegen unsere These im folgenden einer eingehenden Erörterung unterzogen
werden, so geschieht dies nicht zuletzt deshalb, weil uns diese Fortführung
der Antikritik Böhms als ein treffliches Mittel zur Klarstellung des uns
beschaftigenden Problems erscheint. Gar mancher Punkt, der in unserer
knappen Darstellung vielleicht nicht deutlich genug hervorgetreten ist,
wird, wenn er zum Gegenstande eingehender Diskussion gemacht wird,
erheblich an Klarheit gewinnen. Drei Autoren sind es, mit deren Einwen-
dungen wir uns zu beschäftigen haben werden: O. Conrad, K. Dich!
und E. Sax.
1. Die Einwendungen Otto Conrads.
In einer im Jahre 1911 in den Jahrbüchern für Nationalökonomie
und Statistik veröffentlichten Abhandlung *) versucht O. Conrad zu
zeigen, „daß die Elemente der von Böhm-Bawerk aufgestellten These
zwar durchaus richtig sind, daß aber bei der Verbindung dieser Elemente
ein logischer Fehler unterlaufen ist“. Diesen Fehler will Conrad durch
ein Beispiel kennzeichnen: Wenn man die Ergiebigkeit zweier Quellen
zu vergleichen hätte und sagte: „Die Quelle A liefert mehr Wasser als
1) Vgl. insbesondere Exkurse I bis V und XII; ferner drei Abhandlungen Böhms
über „Einige strittige Fragen der Kapitalstheorie'‘, Zeitschrift für Volkswirtschaft,
Sozialpolitik und Verwaltung, 8. Bd.; auch als Buch erschienen, Wien 1900.
2) Dr. Otto Conrad, Böhm-Bawerks These von der Mehrergiebigkeit der kapıta-
listischen Produktionsumwege, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik,
III. Folge, 41. Bd., 1911, S. 223 ff.
. 606 Franz X. Weiß.
die Quelle B, aber in längerer Zeit“, so hätte man noch nicht etwas
Positives über das Verhältnis der Ergiebigkeit der beiden
Quellen ausgesagt, weil die Zeit selbst ein Maß der Ergiebigkeit
sei. Liefert nämlich die Quelle A das Einheitsquantum in längerer Zeit
.als die Quelle B, dann ist sie weniger ergiebig. Das Gleiche gelte auch
von der Ergiebigkeit der Produktion. Diese könne auf zweifache Art
gemessen und verglichen werden. Einmal nach der Gütermenge, welche
von der Produktion in einer gegebenen Zeit geliefert wird, das andere
Mal nach der Zeit, in der sie ein gegebenes Güterquantum liefert. Man
dürfe aber nicht beide Maße gleichzeitig anwenden. .,Das ist das Prinzip,
wogegen Böhm-Baweıks These verstößt. Sie wendet, indem s'e die kapita-
listische Produktion in einem Atem ,ergiebiger aber zeitraubend‘ nennt,
beide Maße gleichzeitig an und beraubt sich dadurch jeden Inhalts.“ ')
Das richtige Prinzip, die Ergiebigkeit zweier Produktionsmethoden zu
vergleichen, bestehe vielmehr darin, entweder die Zeit oder.das pro-
duzierte Güterquantum gleichzusetzen. Diejenige Methode sei dann die
ergiebigere, die entweder in gleicher Zeit eine größere Gütermenge oder
eine gleiche Gütermenge in kürzerer Zeit hervorbringt.
. Diese Einwände würden die Böhm’sche These nur dann treffen, wenn
diese etwa lautete: ‚Der längere Produktionsweg A (Fischfang mit
Boot und Netz) ist ergiebiger als der kürzereB (Fischfang mit der Hand).“
Die Inhaltslosigkeit dieses Satzes liegt allerdings auf der Hand. Die Aus-
sage des Gegenteils wäre ebenso richtig. Der Fischfang mit der Hand,
durch eine genug lange Reihe von Jahren fortgeführt, ist ergiebiger als
das Fischen mit Boot und Netz innerhalb weniger Stunden. Ebenso läßt
sich der Satz „Die Quelle A liefert mehr Wasser als die Quelle B aber
in längerer Zeit“ umkehren. Liefert doch sicherlich auch ‚die Quelle B
mehr Wasser als die Quelle A, aber in längerer Zeit‘‘. Ich muß die Quelle B
nur eben eine genug ‚längere Zeit“ hindurch rinnen lassen.
Aber nur, wenn der Satz von der Mehrergiebigkeit einen derartigen
Truismus besagte, wäre der Vergleich mit den beiden Quellen richtig.
In Wahrheit ist dies aber keineswegs der Fall. Dies ergibt sich ja schon
aus der von Conrad selbst zitierten, aber augenscheinlich zu wenig be-
achteten Fassung der These, die besagt, daß ein kluggewählter Produktions-
umweg zur Erlangung von mehr Produkten führt „mit dem gleichen
Aufwand an originären Produktivkräften‘“. Dem hier gesperrt
1) a. a. O., S. 24.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 607
gedruckten Anhang des Satzes hat Conrad offenbar zu wenig Beachtung
geschenkt. Damit ist ihm aber zugleich der ganze Sinn des Satzes und
seine Bedeutung als ein Grundstein der Böhm’schen Zinstheorie entgangen.
Auf unser Beispiel vom Fischfang angewandt, besagt der Satz: Wenn
man auf dem kürzeren Produktionswege (Fischfang mit der Hand) mit
einem bestimmten „Aufwand an originären Produktivkräften‘“ — zum
Beispiel einem Arbeitstag — ein bestimmtes Produktquantum erzeugen
kann, so kann ,,m‘t dem gle'chen Aufwand an or:ginären Produktivkraften“
auf dem längeren Produktionswege (Fischfang mit Boot und Netz) ein
größeres Produktquantum erz elt werden. Böhm hat allerdings die Worte
„mit dem gle’chen Aufwand an originären Produktivkräften‘‘ des öfteren
bei Erwähnung seiner These weggelassen; aber doch unter der selbst-
verständlichen Voraussetzung, daß s'e als selbstverständlich zu ergänzen
sind!
Wenn also Conrad vermeintlich im Gegensatz zu Böhm-
Bawerk die Forderung aufstellt, die Ergiebigkeit zweier Produktions-
perioden so zu messen, daß man entweder beobachtet, welche Produktions-
methode in der gleichen Zeit das größere Produktquantum, oder welche
Methode das gleiche Quantum in kürzerer Zeit liefert, so hat er damit
keineswegs etwas der Böhm’schen TheseWidersprechendes gesagt, sondern
nur die selbstverständliche Anweisung gegeben, die Überlegenheit
einer Produktionsperiode über die andere in bezug auf die ech igkeit
im Sinne Böhm-Bawerks festzustellen.
Daß an dem ziffernmäßigen Beispiele Böhms, das Conrad her-
ausgreift, um „den Unterschied der beiden Anschauungswe'sen am
deutlichsten zutage treten zu lassen“, weit entfernt hievon sich vielmehr
die volle Identität der Thesen Böhms und Conrad ergibt, ist nach denı
Gesagten nicht verwunderlich. Wunderlich ist höchstens, daß Conrad
dies nicht selbst bemerkt hat.
In diesem Beispiel, das Conrad in Tabellenform wiedergibt,') spricht
Böhm-Bawerk von drei verschiedenen Produktionsmethoden mit ver-
schiedener Ergiebigkeit.
Methode Produktionsperiede Ertrag pro Arbeitstag
A 1 Jahr 12 Produkteinheiten
B 2 Jahre 12-3 Produkteinheiten
C 3 Jahre 12-5 Produkteinheiten
1) S. 226.
HOR Franz X. Weiß.
Conrad fragt nun, „wie sich diese Methoden ihrer Ergiebigkeit nach
zu einander verhalten“. (Als ob sich das nicht schon aus den obigen Ziffern
zur Genüge ergäbe!) Er rechnet das Jahr zu 300 Arbeitstagen, nimmt an,
daß immer je 10 Arbeiter beschäftigt sind und gelangt so zu nachstehenden
richtigen Ziffern in bezug auf Arbeitstage und Produkteinheiten:
Methode Arbeitstage Ertrag in Produkteinheiten
A 3000 36.000
B 6000 73.800
C 9000 112.500
Nun vergleicht Conrad die Ergiebigkeit der Methoden A und B.
Einmal durch Gleichsetzung der Zeit. Die Methode A liefert in zwei Jahren
(2 x 36.000 =) 72.000 Einheiten, die Methode B liefert 73.800 Einheiten
und ist demnach um 1800 Einheiten oder, wie Conrad hätte hinzufügen
1800 1 u
= m ergiebiger als die Methode A. MiBt man die
Ergiebigkeit an der „Zeit“') und setzt die Zahl der Produkteinheiten gleich,
so findet man, daß die Methode A, bei der nach unserer ersten Tabelle
auf den Tag 12 Produkteinheiten entfallen, zur Herstellung von 73.800 Ein-
heiten, zu der die Methode B nach der zweiten Tabelle 6000 Arbeitstage
können, um |
12
` istalsoergiebigeralsdieMethode A,undzwarauch nach dieser Berechnungsart,
150 | 1
6000 °
benötigt, ( =| 6150 Arbeitstage brauchen würde. Die Methode B
wie Conrad wieder hätte hinzufügen können, um | 0 )
1) Statt ,,Zeit’ sollte es richtig heißen: „Arbeitsaufwand“. Vgl. die folgende
Anmerkung. .
2) Bei Wiedergabe der Argumentation Conrads wurde eine Korrektur vor-
genommen. Er unterscheidet nicht scharf genug zwischen „Arbeitszeit‘‘ (dem in
Arbeitstagen ausgedrückten Produktionsaufwand) und der Länge der Produktions-
periode. Die Methode B liefert zwar die gleiche Genußgütermenge wie die Methode A
mit geringerem Arbeitsaufwande, nicht aber, wie Conrad meint, „in kürzerer
Zeit“. Denn die Methode A liefert 36.000 Einheiten nach 1 Jahr, das gleiche Quantum
nach einem 2. Jahr, so daß mit dieser Methode 72000 Einheiten nach durchschnittlich
= 11, Jahren gewonnen werden, während die Methode B 73.800 Einheiten nach
erst 2 Jahren ergibt. Wenn wir nun die offensichtlich im Sinne Conrads gelegene
Annahme machen wollen, daß bei der abermaligen Wiederholung der einjährigen
Produktionsumwege nnd Kapitalzins. 509
Wie bereits erwähnt, ist diese Berechnungsart keineswees derjenigen
Böhm-Bawerks entgegengesetzt. Nach seinem Beispiel (in der ersten Ta-
belle) erhalten wir genau dasselbe Resultat. Die Methode B ist pro Arbeits-
tag um 0-3 Produkteinheiten ergiebiger als die Methode A, das ist um
0:3 1 |
- =| 40° Ja noch mehr! Um in der Praxis beim Vergleiche der beiden
Produktionsmethoden A und B zu den in der ersten Tabelle wiederge-
ebenen Ziffern Béhm-Bawerks zu gelangen, muß man ja, wie gleichfalls
von uns bereits angedeutet, auf die. von Conrad in der zweiten Tabelle
dargestellte Weise vorgehen.
Mit Spannung erwartet daher der Leser endlich die klare Mitteilung
Conrads über den Unterschied seiner These gegenüber der Böhm-Bawerks:
„Während wir annehmen, daß der längeren Dauer des Produktionsprozesses
äuch ein erhöhter Arbeitsaufwand entsprechen müsse, betrachtet: Böhm-
Bawerk die Verlängerung der Produktionsperiode unter der Voraussetzung
eines unveränderten Arbeitsaufwandes. Die Verlängerung erfolgt
bei ihm durch blosses Auseinanderrücken der Arbeitstage, durch Ein-
schiebung von „Wartetagen‘‘, an denen die Arbeit nicht vorwärts schreitet.
Und er nimmt an, daß eine solche Verlängerung, wenn sie klug gewählt
ist, regelmäßig zu einer Steigerung des Produktionserfolges führen müsse‘.')
Dies ist nieht die Meinung Böhms. Nirgends, auch nicht an .der von
Conrad als Beleg zitierten Stelle, sagt er, wie dieser meint, daß eine bloBe
„Verlängerung, wenn sie klug gewählt ist’ (das heißt ohne Vermehrung
des absoluten Aufwandes), „zu einer Steigerung des Produktionserfolges
führen müsse“. Die Frage, ob in einem einzelnen Falle eine bloße Ver-
längerung der Produktionsperiode geniigt, um einen Mehrerfolg zu
erzielen, oder ob zu dem in dieser längeren Periode absolut mehr Produktiv-
kräfte, Arbeitstage angewendet werden müssen, läßt sich überhaupt nicht
| | 1800
Methode A (im dritten Jahre) 1800 Einheiten, also 3.000 des Jahresproduktes nach
; 800 È À ; i
36000 Jahr, also nach den ersten 18 Tagen des 3. Jahres, fertiggestellt werden können,
so ergibt sich, daß 73.800 Einheiten mit der Methode A entgegen der Meinung Conrads
in durchschnittlich kürzerer Zeit — allerdings nur unter Aufwendung von mehr
Arbeitstagen — erzeugt werden können als mit der Methode 3. Dieses Ergebnis ist
allerdings, wenn die Annahmen Böhms richtig gewürdigt werden, im vorhinein
selbstverstandlich. |
1) S. 226 f.
510 l Franz X. Weib.
von vornherein entscheiden. Machen wir uns dies — für den Fall, daß
es tatsächlich nötig sein sollte — an.dem früher gebrauchten Beispiele
klar: Wenn der Fischfang mit der Hand mit einem großen Aufwand an
Produktivkräften, zum Beispiel 10.000 Arbeitstagen, betrieben wird, so
genügt sicherlich ein bloes „Auseinanderrücken‘“ dieser Arbeitstage,
um ein größeres Produkt zu erzielen, indem Boote gebaut, Netze gestrickt
werden, und der Rest der 10.000 Arbeitstage zum Betrieb der Fischerei ver-
wendet wird. Wenn aber zum Fischfang ohne Hilfsmittel etwa nur 4Arbeits-
tage aufgewendet wurden, wird es unmöglich sein, durch bloßes „Aus-
einanderrücken‘‘ dieser Arbeitstage den oben beschriebenen zeitraubenden
Umweg einzuschlagen. Allerdings ist als selbstverständlich zuzugeben,
daß die Herstellung eines Gutes auf kürzerem Produktionswege stets in
geringerem Ausmaß und daher mit geringerem absoluten Aufwand erfolgen
kann als auf längerem Wege, da jede Verlängerung der Produktions:
periode einen größereren Minimalumfang der Erzeugung und einen
größeren Minimalaufwand von Produktivkräften mit sich bringt. Zuzu-
geben ist auch, daB eine Verlangerung der volkswirtschaftlichen Produktions-
periode, ein allgemeines Einschlagen längerer Produktionswege, bedeutet,
daß im allgemeinen in den einzelnen Produktionsprozessen mehr Arbeit
aufgewendet wird, als vorher.
Conrad meint, es sei „davon auszugehen, daß die Produktions-
perioden, mögen: sie nun lang oder kurz sein, gleichmäßig mit Arbeit
ausgefüllt sind, woraus sich dann wieder die Folgerung ergibt, daß der
längeren Produktionsperiode ein größerer Arbeitsaufwand entsprechen
muß‘.ı) Daß diese Folgerung unrichtig ist, wurde eben darzutun ver-
sucht. Ebenso unrichtig ist die vorangestellte Behauptung von der notwendig
gleichmäßigen Ausfüllung der kurzen und der langen Produktionsperioden.
Zum Beweise dieser Behauptung verweist Conrad darauf, da8-einfache
Werkzeuge sehr oft länger ihren Dienst versehen, als die kostspieligen
Anlagen großkapitalistischer Betriebe. Es fehle daher die Berechtigung
für die Annahme, daß die Arbeitstage in der längeren Produktions-
periode weiter auseinandergerückt sind.*) Conrad, dem die Tragweite
der Unterscheidung zwischen der absoluten und der durchschnittlichen
1) S. 229. — An anderer Stelle (S.226, Anmerkung) erklärt Conrad ausdrücklich,
im Gegensatze zu Böhm vorauszusetzen, „daß die längere Produktionsperiode auch
eine entsprechend grüßere Zahl von Arbeitstagen einschließt‘.
2) S. 228 f.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 511
Produktionsperiode ') entgangen zu sein scheint, übersieht hiebei,
daß es nicht zuletzt auf das Verhältnis ankommt, in dem gegen-
wärtige und vergangene Arbeit zusammenwirken.
Daß Böhm mit keinem Worte behanptet, daß ein solches ,,Ausein-
anderrücken‘ der Arbeitstage auch mit den geringsten Mengen von Pro-
duktivkräften möglich sei, wurde schen:hervorgehoben. Was er behauptet,
ist nur, daß mit dem gleichen Aufwand an originären Produktivkräften,
also pro Arbeitstag, der klug gewählte Produktionsumweg in der Revel einen
größeren Ertrag verspricht als die kürzere Produktionsperiode. Allerdings
bei seinem von Conrad beanstandeten Beispiel von der Forstwirtsehaft *)
kann die Produktionsperiode immer ohne weiteren Arbeitsaufwand ver-
längert werden, indem man einfach die Forstpflanzen weiter waehsen
läßt. Aber dieses Beispiel, auf das wir übrigens noch in anderem Zu-
sammenhang zurückkommen, ®) hat Böhm ja nur als das „einfachste
und durchsichtigste, auch dem ziffernmäßigen Kalkül zugänglichste Para-
digma einer ergiebigen Verlängerung der Produktionsperiode‘‘ heran-
gezogen, ohne damit nur im entferntesten sagen zu wollen, daß auch
in der Mehrzahl der anderen Fälle eine bloße Verlängerung der: Wärtezeit
ohne Mehraufwand von Arbeitstagen zu einer größeren Ergiebigkeit führe
Aber selbst wenn die Verlängerung der Produktionsumwege erfährungs-
semäß stets mit einem absoluten Mehraufwand an Arbeit verbunden
wäre, so wäre hiemit der Satz von der Mehrergiebigkeit noch nicht wider-
legt. Hiezu bedürfte es noch eines doppelten Nachweises. Es müßte vorerst
dargetan werden, daß die Verlängerung des Produktionsweges not-
wendig eine Vergrößerung des Arbeitsaufwandes voraussetze: Weiters
müßte bewiesen. werden, daß die Vermehrung der Arbeitsmenge auch
ohne Verlängerung des Produktionsweges zur Erörterung der Ergiebigkeit
der Arbeit genüge. Dies ist allerdings die Ansicht Conrads; er meint *) daß die
kapitalistische Produktion nur deshalb zeitraubend sei, „weil. die Vorberei-
tungsarbeiten, dieder Fertigstellungdes ersten genußreifen Produktes voraus-
gehen mehr Arbeit erfordern.‘ Er erläutert dies an Böhms Beispiel -von
der Wasserbeschaffung auf verschieden langen Preduktionswegen: Das
Wasser kann an der Quelle mit der hohlen Hand geschöpft werden; man
kann auch auf einem kleinen Produktionsumweg einen Eimer ‚ieratelien
1) Vgl. 8.230, Anmerkung. — Siehe oben S. 496 f.
2) S. 228 Anmerkung, vgl. Exkurse, S. 26f.
3) Siehe unten S. 667, Anm.
4) S. 232.
12 Franz X. Weib. -
und das Wasser von der Quelle an den Bestimmungsort tragen; endlich
kann man auch eine Röhrenleitung bauen und in dieser das Wasser an
den gewünschten Ort leiten. Je größer der Umweg, desto ergiebiger die
Produktion. Conrad meint nun: „Zugegeben, daß der Bau der Wasser-
leitung dem Landmann sehr vielZeit kostet, so gilt dies doch nur insolange,
als der Landmann diese Arbeit allein zu bewältigen hat. Stünde ihm
aber eine größere Zahl Arbeiter zur Verfügung, dann würde die Wasser-
leitung in kürzester Zeit fertiggestellt sein. Die Zeit, die die Vorbereitungs-
arbeit bis zur Fertigstellung des ersten genußreifen Produktes erfordert,
ist eine Größe, welche beliebig verändert werden kann. Sie hängt ganz
von der Zahl der verwendeten Arbeitskräfte ab.‘ :)
. Dieser am Schluß der Ausführungen zum Ausdruck gebrachte Ge-
dankengang schwebt dem Autor möglicherweise bei seiner ganzen Kritik
vor, ist vielleicht der rote Faden, der sich nach seiner Absicht durch die
gesamte Darstellung hätte hindurchziehen sollen. Da diese Eventualität
nur vermutet werden kann, keineswegs aber klar ausgedrückt ist, so konnte
sie nicht unserer Antikritik von vornherein zugrunde gelegt werden.
Ist aber diese Vermutung richtig, so wird der Einwand erst verständ-
lich, den Conrad gegen die These von der Mehrergiebigkeit mit seiner Be-
hauptung erheben will, daB jeder Verlangerung der Produktionsperiode
eine proportionale Vermehrung der Arbeitsmenge entspricht. Wenn
nämlich die Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege ausschließlich ihre
Ursache in der entsprechend größeren Arbeitsmenge hat, die in ihr ver-
körpert ist, so könnte der gleiche Erfolg auch erzielt werden, wenn in
der kürzeren Produktionsperiode die gleiche Arbeitsmenge zur Verfügung
stünde. Ein längerer Produktionsweg würde daher immer nur eingeschlagen
werden, um die auf dasselbe Ziel gerichtete Arbeitsmenge zu vergrüßern.
Wenn also in dem oben gebrauchten Beispiel mit einem Aufwand von
10.000 Arbeitstagen Boote und Netze verfertigt und damit bestimmte
Mengen von Fischen gefangen werden können, so wäre dies nach Conrad
ganz unabhängig von der Länge der Produktionsperiode, während der
diese. 10.000 Arbeitstage zur Verfügung stehen. Jemand, der über eine
so große Menge Produktivkräfte verfügt, würde demnach immer die
kapitalistischere, ergiebigere Methode einschlagen können. Diese Ansicht
steht allerdings im Gegensatze zu der in der „Positiven Theorie des Ka-
pitales‘‘ ausführlich entwickelten, nach der das Wesen der Produktions-
1) S. 232.
o E u
Produktionsumwege und Kapitalzins. 513
umwege darin besteht, daß man statt direkt oder auf einem kürzeren
Weg auf das Endziel, die Gewinnnng des Genußgutes (Herbeischaffung
des Wassers, beziehungsweise Gewinnung der Fische) loszugehen, zuerst
ein Produktionsmittel erzeugt, mit diesem ein anderes usf., um so durch
Dienstbarmachung verschiedener Naturkräfte ,,entferntere natürliche
Bedingungen oder Ursachen des Produktionserfolges, auf den wir es ab-
gesehen haben, in unsere Gewalt zu bringen“. Es kann in der Tat kein
Zweifel darüber bestehen, daß die verschiedenen Produktionsmittel,
von denen eines das andere erzeugt, diese Zwischenursachen, deren
eine aus der anderen hervorgeht, auch mit Aufwendung noch so
großer Arbeitsmengen nicht gleichzeitig hergestellt werden können. Vor
allem aber ist zu beachten, daß die Verwendungsdauer der Produktions-
mittel einen sehr wesentlichen Teil der Produktionsperioden bildet.
Nach der Meinung Conrads läßt sich unter Verwertung seiner vermeint-
lichen Erkenntnis des Wesens der Mehrergiebigkeit leicht ein bekannter
Meinungsstreit zwischen Böhm und Lexis entscheiden, der dem Gesetze
von der Mehrergiebigkeit gegenüber einwendete, die Tendenz des tech-
nischen Fortschrittes gehe dahin, die Produktionsperioden nicht zu ver-
läneern, sondern vielmehr zu verkiirzen.') Conrad meint hiezu2): ,,Béhm-
Bawerk versteht unter ‚Produktionsperiode‘ den Zeitraum vom Beginn
der ersten Vorbereitungsarbeit an bis zur Fertigstellung des Genußgutes,
ohne Rücksicht auf die Menge der Genußgüter, die bei Anwendung des
betreffenden Verfahrens gewonnen wird. Man hat nun sicherlich allen
‚Grund, sich für diesen Zeitraum zu interessieren und es obwaltet auch
kein Anstand, ihn ‚Produktionsperiode‘ zu nennen.“ Mit dieser Bemerkung
ist Conrad zu den „Quellen‘‘ seines Irrtums zurückgekehrt. Es ist nicht
richtig, daß Böhm keine Rücksicht auf die Menge der gewonnenen Genuß-
güter nimmt. Zum Zwecke des Vergleichs der Ergiebigkeit zweier ver-
schieden langer Produktionsperioden muß, wie wohl nicht bezweifelt
werden kann, sowohl ihre Länge, wie ihre Ergiebigkeit festgestellt werden.
Die Länge jeder Produktionsperiode bestimmt sich nun, wie bereits
erwähnt wurde, im Gegensatz zur Behauptung Conrads, nicht nur nach
dem Zeitraum vom Beginn der ersten Vorbereitungsarbeit an, bis zur
Fertigstellung des Genußgutes, sondern auch nach dem Verhältnis, in
1) Schmollers Jahrbuch, Bd. XIX., S. 332 ff, siehe auch unten S. 521.
2) S. 2291.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 35
i) 14 Franz X. Weiß:
welchem innerhalb dieses Zeitraumes Arbeit (und Bodenleistungen) ver-
schiedenen Datums miteinander kombiniert werden. Hiebei ist die absolute
Menge der verwendeten Produktivkräfte ohne Belang. Wenn in dem auf
Seite 497 wiedergegebenen Zablenbeispiel nicht Arbeitstage, sondern
Arbeitsjahre oder Arbeitssekunden in Betracht gezogen würden, wäre dies.
für das Ergebnis vollkommen gleichgültig. Die Ergiebigkeit jeder Pro-
duktionsperiode wird sodann durch die Produktmenge bestimmt, welche
auf die Einheit der verwendeten Produktivkräfte, zum Beispiel einen
Arbeitstag entfällt. Der absolute Umfang der Produktion kommt für die
Frage der Mehrergiebigkeit, die die Frage nach einem Größenverhältnis
ist, überhaupt nicht in Betracht. Gonrad meint hingegen: „Nicht zulässig
aber ist es meines Erachtens in diesem Sinne von der ‚Produktionsperiode
des Genußgutes‘ zu sprechen. Kein Webstuhl wird zu dem Zwecke erzeugt,
um einen Meter Tuch hervorzubringen. Ist der Webstuhl aufgestellt, dann
werden Hunderte von Metern darauf gewebt. Daher kann auch die Pro-
duktionsperiode nur auf die Gesamtheit der mit Hilfe des betreffenden
Verfahrens gewonnenen Genußgütermenge bezogen werden.“ Böhm spricht
in dem eben erwähnten Zahlenbeispiel von den verschiedenen Produk-
tionsperioden „eines Genußgutes‘“, weil es sich ihm darum handelt,
die Berücksichtigung der Zeitintervalle zwischen dem Einsatze der
verschiedenen Produktivkräfte für die Berechnung der durchschnittlichen
Produktionsperiode zu erläutern. Selbstverständlich muß der Zeitpunkt der
Fertigstellung ‚des Genußgutes“ vorher durch eine analoge Durchschnitts-
berechnung festgestellt sein. Es ist daher nicht zutreffend, wenn Conrad
weiters sagt: „Die Produktionsperiode als solche gibt daher über den
Zeitraum, der auf die Hervorbringung der Mengeneinheit entfällt, — ich
will ihn ‚Produktionsdauer‘ nennen — noch keinen Aufschluß. Um diesen
Zeitraum zu erfahren, muß die Produktionsperiode durch die Gesamt- -
menge des gewonnenen Produktes dividiert werden. Erst dann erhält
man die auf die Produkteinheit entfallende Produktionsdauer.“
Gonrad will die Kontroverse zwischen Böhm und Lexis schlichten,
indem er urteilt, daß Böhm unter Produktionsperiode den durch den
ProduktionsprozeB ausgefüllten Zeitraum verstehe, während Lexis als
Produktionsperiode die auf die Produkteinheit entfallendePro-
duktionsdauer im Auge habe. Hienach hätten beide recht‘ „Nach dem
Gesagten läßt sich dieser Gegensatz dahin ausgleichen, daß mit dem Fort-
schritt der Technik die Produktionsperioden sich allerdings zu verlängern
Produktionsumwege und Kapitalzins. DID
pflegen, daß aber gleichzeitig die auf die Produkteinheit entfallende Pro-
duktionsdauer immer kürzer wird.“ :)
Nach manchen Äußerungen von Lexis ist es nicht unwahrscheinlich,
daß der — vielleicht ihm selbst unbewußte — Ausgangspunkt seiner Kritik
mit diesen Worten Conrads richtig erklärt ist. Die Berechtigung dieser
Kritik wäre hiedurch jedoch nicht im mindesten dargetan. Vor allenı ist
klar, daß für den Beweis der Wertüberlegenheit der Gegenwartsgüter, der
doch letzten Endes einzig und allein in Frage steht, nur die Mehrergichig-
keit der längeren Produktionsperiode (im Sinne Böhms) entscheidend sein
kann. Denn wenn ein Arbeitstag in längerer Produktionsperiode größere
Ergiebigkeit aufweist als in kürzerer, so wird gegenwärtige Arbeit für
irsend einen beliebigen Zeitpunkt mehr oder besseres Produkt ergeben als
künftige und wird daher höher gewertet werden als diese?). Die Lange der
„auf die Produkteinheit entfallenden Produktionsdauer“ ist hiebci ohne
Belang, da sich diese auch bei gleichbleibender Produktionsperiode mit jeder
Veränderung des Produktionsunfanges ändert. Lexis hätte demnach,
wenn Conrads Auslegung zutrifft, der These von der Mehrergiebiekeit
im Tone der Polemik eine irrelevante Behauptung gegenübergestellt.
Wenn man aber, wie Conrad, zugleich die Tatsache der Verlängerung der
Produktionsperioden anerkennt, so bedeutet die Behauptung von der Ver-
kürzung der auf die Produkteinheit entfallenden Produktionsdauer nichts
anderes als in verhüllter Form die These von der Mehrergicbigkeit selbst,
und zwar einer Mehrergiebickeit eines bestimmten Mindestgrades. Denn
diese Behauptung setzt dann voraus, daß mit zunehmender Länge der
Produktionsperiede die Menge der Produkte stärker wachsen müsse als die
Produktionsperiode. Ein Beispiel wird dies leicht verdeutlichen. Wenn in
einjähriser Produktionsperiode 100 Stück einer Güterart erzeugt werden.
so beträgt die „auf die Produkteinheit entfallende Produktionsdauer“
100 Jahr.2) Damit diese Produktionsdauer in zweijihriger Periode unter
diese Größe herabredrückt werde, müssen in dieser Periode mehr als
$
') Conrad, a. a. 0., S. 231.
2) Siehe oben, S. 503. l
3) Nebenbei sei bemerkt, daB der aus der Division der Produktionsperiode durch
die Gesamtproduktmenge gewonnene Begriff der „auf die Produkteinheit entfallenden
Produktionsdauer“ von recht zweifelhaftem Inhalt ist. Was scll die Behauptung, daß,
wenn 365 Produkteinheiten in einem Jahre hergestellt werden, die Herstellung eines
Stückes 1 Tag dauert?! Der Conrad-Lexis‘schen Argumentation liegt eben, wie bereits
516 Franz X. Weiß.
200 Stück erzeugt werden. Nach Conrad wird dies tatsächlich der Fall
sein, da er einerseits die Tatsache der Mehrergiebigkeit zugibt, andrerseits
aber meint, daß die Produktivkräfte (Arbeitstage) in demselben Verhält-
nisse wachsen wie die Produktionsperiode.1) Wenn demnach in der ein-
jährigen Produktionsperiode n Arbeitstage verwendet wurden, so wird
nach der Meinung Conrads das Einschlagen der zweijährigen Produktions-
periode die Verwendung von 2 n Arbeitstagen mit sich bringen. Da nun
die längere Produktionsperiode pro Arbeitstag ergiebiger ist, wird sie mehr
als das doppelte der einjährigen Periode abwerfen; in unserem Beispiel also
mehr als 200 Stück. Diese Behauptung von der proportionellen Veränderung
von Menge der Produktivkräfte und Länge der Produktionsperiode würde
aber, auch wenn sie erwiesen werden könnte, der von Böhm so klar ausee-
sprochenen These von der Mehrergiebigkeit nicht den geringsten Eintrag tun.
Zusammenfassend kann nach Überprüfung der Ausführungen Conrads
festgestellt werden, daß dieser trotz des scheinbar schroff ablehnenden
Standpunktes die These von der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege
anerkennt, jedoch seinerseits die, wie wir sahen, unwesentliche und in ihrer
Allgemeinheit unhaltbare Behauptung aufstellt, daß jede Verlängerung
des Produktionsweges mit einer dieser Verlängerung entsprechenden Ver-
mehrung der investierten Produktivkräfte (Arbeitstage) verbunden sei,
so daß die „auf die Produkteinheit entfallende Produktionsdauer‘‘ mit der
Verlängerung der Produktionsperiode abnehme.
2. Die Einwendungen Karl Diehls.
Der Bohmschen Lehre von den Produktionsumwegen ist als zweiter
in der chronologischen Reihe K. Diehl in einer ausführlichen Abhandlung‘)
mit einer Anzahl von Einwendungen entgegengetreten.?)
Böhm hervorgehoben hat (siehe unten S. 522), und auch wir wahrnehmen konnten, die
Verwechslung von Arbeitsaufwand und Dauer der Produktionsperiode zugrunde.
Wenn die Herstellung von 365 Stück die Arbeit eines Jahres kostet, hat es allerdings
guten Sinn, die Herstellungskosten eines Stückes mit 1 Arbeitstag zu bestimmen.
1) Siehe oben S. 509 f.
2) Kart Diehl, Zur Kritik der Kapitalzinstheorie von Böhm-Bawerk, Jahrbücher
für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, 60. Bd., 1915, S. 584 ff.
3) Vgl. hiezu meine Abhandlung: Prof.Diehls Kritik der Kapitalzinstheone
Böhm-Bawerks, Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. 25. Bd.,
S. 327 ff. Die Darstellung im Texte ist eine auszugsweise, sonst im Wesen unver-
änderte Wiedergabe des 2. und des 4. Abschnittes dieser Abhandlung.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 517
Diehl bestreitet vor allem, daß das „Wesen der kapitalistischen
Produktion“ in den Produktionsumwegen besteht, nämlich darin, daß
sie e'n Opfer an Zeit erfordert, aber einen Vorteil in der Masse oder Qualität
des Produktes bringt. Der Streit hierüber ist seiner Form nach ein Wort-
streit.')
Das, was Diehl gegen Böhm polemisicrend hervorhebt, hat dieser
ührigends selbst ausdrücklich festgestellt: daß nämlich die heutige ver-
kehrswirtschaftliche Volkswirtschaft durch bestimmte Tatsachen charak-
teris’ert ist, die herkömmlicherweise als Kapitalismus bezeichnet werden
und die nicht mit jenen Tatsachen identisch sind, die Böhm Kapitalismus
nennt. „Man pfleet, sagt Böhm ?), „unsere heutige Wirtschaftsordnung
und insbesondere die Organisation unserer wirtschaftlichen Produktion
als eine vorwiegend ‚kapitalistische‘ zu bezeichnen. Man legt hiebei diesem
Worte einen anderen Sinn bei, als wir in unseren bisherigen Auseinander-
setzungen getan haben. Wir nannten bis jetzt jede Produktion ‚kapital!-
stisch‘, in deren Verlauf überhaupt Kapitalgüter verwendet werden.
In dem nunmehr zu erörternden Sinne bezeichnet man dagegen jene Pro-
duktionsweise als ‚kapitalistisch‘, welche unter der Herrschaft und Leitung
der Eigentümer des Kapitals, der Kapitalisten, vor sich geht.“ Für Bohm
handelt es sich in erster Linie darum, die funktionelle Verteilung zu erklären,
die Verteilung auf die Produktionsfaktoren, denen das Produkt seine
Entstehung verdankt; erst in zweiter Linie um die personelle Verteilung,
die Verteilung auf einzelne Personen *). Da Böhm nun der Verwendung
von ,,Zwischenprodukten“, die er in Übereinstimmung mit einem ver-
breiteten Brauch Produktivkapital nennt, eine überaus große Bedeutung
für die Erklärung des Kapitalzinses beimißt, ist es verständlich, daß er
die Produktion mittels solcher Zwischenprodukte, das heißt das Ein-
1) Wenn auch unschwer die diesem Wortstreite zugrunde liegende sachliche
Differenz zutage tritt, ist es doch zu beklagen, daß die Verschiedenheit in der
Definition zum Ausgangspunkte der Kontroverse genommen und die Diskussion, wic
leider oft, so auch hier, auf diese Weise auf ein Nebengeleise verschoben wurde. Jede
Terminologie ist bloß das Symptom einer Lehrmeinung. An dieser, nicht an jenem
hätte die Kritik anzusetzen.
2) Artikel „Kapital‘‘ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, TII. Aufl.»
5. Bd., S. 783; siche auch Pos. Theorie, S. 21, Anmerkung.
3) Vgl. Böhm-Bawerk, „Macht oder ökonomisches Gesetz‘, Zeitschrift für
Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, 23. Ed., S. ZC9 f.
»18 Franz X. Weiß.
schlagen von Produktionsumwegen, als kapitalistische Produktion be-
zeichnet.
Das sachliche Moment, das Diehl zum Angriffe auf die Böhmsche
Terminologie veranlaßt, liegt darin, daB er sowohl die Geltung als auch
die Bedeutung der These von der Mehrergiebigkeit der Produktions-
umwege bestreitet.
Der Meinung Diehls, daß Böhm das Problem in „weitläufiger und
umständlicher Breite“ ı) behandle und daß er die gegen diese These
erhobenen Einwände ‚nicht nur in einer den Leser ermüdenden, sondern
auch nicht glücklichen Weise“ *) zurückweise, kann ich nicht beipflichten.
Böhm-Bawerk hat übrigens die Ausführlichkeit, mit der er sich in den
„Exkursen zur Positiven Theorie des Kapitals“ mit entgegenstehenden
Meinungen auseinandersetzte, begründet und an dieser Stelle*) voraus-
gesagt, mancher werde sie „eher als Belästigung empfinden. Ich scheue
es nicht, es darauf ankommen zu lassen.‘ Nun ist allerdings die Entscheidung
darüber, ob die Darstellung Böhms umständlich und ermüdend ist oder
nicht, in noch höherem Grade Ermessenssache, als die Entscheidung über
Fragen der Terminologie. Es würde daher die Meinungsverschiedenheit
über diesen Punkt mit keinem Worte berührt werden, wenn nicht leider,
wie noch zu zeigem sein wird, Professor Diehl mehrmals Einwände
gegen Böhm vorbrächte, gegen die dieser sich bereits in den genannten
Exkursen in der hervorgehobenen ausführlichen Weise gewendet hat,
ohne daß Diehl es nur der Mühe wert fände, auf diese Argumentation
Böhms überhaupt einzugehen.
Was Diehl gegen die These von der Mehrergiebigkeit einzuwenden
hat, sei im folgenden kurz zusammengefaßt:
1. Böhm überschätze die Bedeutung der technischen Tatsache der
Mehrergiebigkeit und unterschätze die Bedeutung der sozialen Tatsachen
für die Erscheinung des Zinses; *)
2. die von Böhm behauptete RegelmiBigkeit der längeren Dauer der
kapitalistischen Produktion sei gar nicht vorhanden; *)
3. Böhm habe den Geltungsbereich seiner These selbst eingeengt,
aber dadurch auch ihre Bedeutung für die Lehre von Kapital und Zins
1) S. 584.
2) S. 585.
3) Vorwort zur Positiven Theorie, 2. Halbband.
4) S. 584.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 519
eingeschränkt. Insbesondere sei es widerspruchsvoll und unrichtig, wenn
Böhm seine These mit dem Gesetze vom abnehmenden Bodenertrag ver-
gleiche. l
Diese Einwendungen seien der Reihe nach betrachtet.
„Die Erörterung dieses Problems“ (das ist des Problems der Mehr-
ergiebigkeit der Produktionsumwege), sagt Diehl unter anderem, „gehört
meines Erachtens nicht in die grundlegende Lehre von Kapital und Zins,
sondern schlägt in das Grenzgebiet von Technik und Ökonomie, beziehungs-
weise in die Lehre von der kapitalistischen Organisation und Durchführung
der Industrie. Dort ist der Platz, wo die verschiedenen Modalitäten zu
erörtern sind: wie die Produktionsmittel auf den industriellen Prozeß
einwirken, ob und inwieweit sie zu einer Beschleunigung, Verlangsamung
oder Verbesserung der Produktionswege führen.“ +)
Es sei ausdrücklich ausgesprochen, daß diese Einwendung Diehls
nur der Vollständigkeit halber hier angeführt wurde und an dieser Stelle
nicht bekämpft werden soll; denn — wie feststellend und keineswegs
tadelnd hervorgehoben werden soll — Diehl hat sich hier, wie auch an
vielen anderen Stellen seines Aufsatzes, einfach damit begnügt, seinen
eigenen prinzipiellen Standpunkt in der Zinstheorie zu kennzeichnen,
ohne ihn näher zu begründen. Eine solche Begründung wäre auch außerhalb
des Rahmens einer Kritik gelegen. Ebensowenig läge es ihm Rahmen
dieser Abhandlung, auf die positive Ansicht Diehls über das Zinspro-
blem einzugehen. | |
2, Über die tatsächliche Geltung des Gesetzes der Mchrergiebigkeit
bemerkt Diehl auf Seite 584: ,,.... vor allem aber ist die von ihm (Böhm)
behauptete Regelmäßigkeit der längeren Dauer der kapitalistischen Pro-
duktionsumwege nicht vorhanden. Es ist nur ein Zufall, daß die kapitali-
stische Produktion (richtiger: mit Produktionsmitteln ausgestattete Pro-
duktion) zu einer Verlängerung des Produktionsweges führt. Es kommen
Produktionsmethoden vor, wobei der Weg kürzer oder ebenso kurz ist,
wie der kapitallose. Es sei hiebei nur an die vielen ingeniösen Erfindungen
erinnert, die es gestatten, ein größeres Produkt unter gleichzeitiger Ab-
kürzung der Produktionszeit ?) zu erlangen.‘“°)
1) S. 584. | | Ä .
2) Siehe Anmerkung 1 auf S. 522. |
3) Ganz ähnliche Einwendungen bei Hainisch, a. a. O. 8. 319 ff.
D20- Franz X. Weib.
Hier liegt einer jener Fälle vor, in denen Diehl leider bei seiner Aus-
einandersetzung große Partien des von ihm besprochenen Werkes einfach
ignoriert.
Wenn Diehl mit den oben wiedergegebenen Sätzen, in denen er aus-
führt, daß die von Böhm ‚behauptete Regelmäßigkeit der längeren Dauer
der kapitalistischen Produktionsumwege gar nicht vorhanden‘ ist, der
Ansicht Ausdruck geben wollte, daß nach der Meinung Böhms alle, die
Ergiebigkeit der Produktion steigernde Erfindungen notwendigerweise
mit einer Verlängerung der Produktionswege verbunden sein müssen, so
sei darauf hingewiesen, daß Böhm gegenüber dieser irrigen Auffassung
seiner Meinung unter anderem nachstehendes bemerkt: *)?)
„Meine These besagt ferner durchaus nicht, daß eine Steigerung der Er-
gjebigkeit nur durch Verlängerung der Produktionsumwege zu erlangen, oder daß
ein technischer Fortschritt nur in Verbindung mit einer solchen Verlängerung
möglich sei. Ich habe im Gegenteil ausdrücklich hervorgehoben, daß häufig
eine glückliche Erfindung auch einen besseren und dabei kürzeren Produktions-
weg entdecken mag. Nicht das wird von meiner These in Anspruch genommen,
daß die Verlängerung der Produktionsprozesse der einzige zu größerer Ergiebig-
keit hinführende Weg ist, sondern nur, daß eine solche Verlängerung einen nor-
malerweise eine größere Ergiebigkeit sicherstellenden Weg darstellt. Es ist daher
abermals eine Mißdeutung meiner These gewesen, wenn man mir die Existenz
einzelner oder auch vieler Fälle, in welchen ein größeres Produkt auf kürzeren
Wegen zu erlangen ist, als vermeintlichen Gegenbeweis gegen meine Behauptung
vorhielt.‘‘
Der Wortlaut der in Rede stehenden Ausführungen Diehls läßt aber
auch die Deutung zu, daß er gar nicht Böhm die irrige Ansicht zumuten
wollte, daß eine Steigerung der Ergiebigkeit nur durch eine Verlängerung
der Produktionsperiode erzielt werden könne. Möglicherweise wollte
Diehl nur zum Ausdruck bringen, daß die verlängernden Erfindungen
nicht häufiger oder doch nicht um vieles häufiger vorkommen als die
verkürzenden.
Der Widerlegung dieser Einwendung hat Böhm in seinem Werke
20 Seiten gewidmet, den gesamten Exkurs II, auf den hier ausdrücklich
verwiesen sei. Es dürfte aber die Wiedergabe des folgenden ausreichen:
1) Exkurse, S. 5.
2) Der kleine Druck im Texte soll in diesem Unterabschnitte keineswegs eine
geringere Wichtigkeit der betreffenden Textstelle andeuten; er soll vielmehr die
Wiedergabe des Gedankenganges Böhms hervorheben.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 921
„Ich brauche nur zu fragen,“ führt Böhm in einer Polemik mit Lexis aus, ')
„sind unsere wirtschaftlichen Versorgungsmethoden des 20. Jahrhunderts einem
von ‚der Hand in den Mund leben‘ ähnlicher oder unähnlicher als die Versorgungs-
methoden der heutigen Australneger oder der Germanen der Taciteischen oder
auch der Karolinger-Zeit? Ist es nicht auf den ersten Blick klar, daß die primi-
tiven Produktionsmethoden der kapitallosen und kapitalarmen, Zeiten ihre kärg-
lichen Ergebnisse, im großen Durchschnitt wenigstens, doch recht unvermittelt
von der Hand in den Mund geliefert haben müssen? Und deuten die Unsummen
von ‚vorgetaner Arbeit‘, die in den mächtigen Kapitalsanlagen der reichen und
technisch vorgeschrittenen Nationen verkörpert und die größtenteils nicht bloß
für Monate oder Jahre, sondern oft für Jahrzehnte und bisweilen für Jahrhunderte
‚vorgetan‘ sind, nicht untrüglich auf etwas längere Wege, die heute von der
arbeitenden Hand in den genießenden Mund führen? Ist es darum nicht auch
ohne genaue prinzipielle Durchdenkung der Sachlage, schon durch den Eindruck
des Augenscheins klar, daß die schon anfangs so knappen Zeitintervalle der
primitiven Produktion sich unmöglich durch ein paar tausend Jahre in immer
‚zunehmendem‘ Maße noch weiter verkürzt haben können?
Die auffallende Unwahrscheinlichkeit dieses Ergebnisses würde wohl Lexis
selbst nicht entgangen sein, wenn er sich den Sachverhalt, in dem dasselbe sich
ausprägen müßte, mit ausdrücklicher Klarheit vor Augen gestellt hätte. Einzelne
Züge seines Raissonnement lassen jedoch unschwer erkennen, daß er im ganzen
Verlauf desselben unter dem Einfluß gewisser unklarer, verschwommener Vor-
stellungen gestanden ist, die ihn teils zu Verwechslungen verführten, teils unter-
laufene Widersprüche nicht erkennen leBen.
Vor allem hat sich Lexis schon den Sachverhalt, in dem das Haupttliema
ler Diskussion, die Verkürzung der Produktionsperiode sich ausprägt, von Haus
aus nichtso klar vorgestellt, als daß ersich vor dem Vermischen dieser Verkürzung mit
der Verkürzung anderer in der Produktionsentwicklung eine Rolle spielender
Zeitgrößen hätte völlig schützen können. Er rechnet zum Beispiel seiner Auf-
fassung ohneweiters den ,Zeitgewinn‘ zugute, der ‚im Laufe unseres Jahrhunderts
in allen Abschnitten der Produktion und Handelsbewegung durch die neuen
Hilfsmittel des Verkehres erzielt worden ist.‘ Sicherlich ist dieser ‚Zeitgewinn‘
in einem gewissen Sinne ebenso fraglos als bedeutend; in dem Sinn nämlich,
daß man mit unseren modernen Verkehrsmitteln ungleich rascher transportiert
als ohne sie, also mit der Eisenbahn rascher transportiert als etwa per Achse.
Aber wenn es sich um die durchschnittliche Wartezeit handelt, die bei den dem
Gütertransport gewidmeten Tätigkeiten aufläuft, darf man doch auch die Gegen-
rechnung der außerordentlich langen Wartezeiten nicht vergessen, welche die
Vorstadien des Eisenbahntransportes, der Eisenbahnbau, die Anfertigung der
Lokomotiven und Waegons, einschließlich ihrer eigenen Vorbedingungen, der
Maschinenfabriken und ihrer Einrichtung, dann die Gewinnung der Heizkohle usw.
hervorrufen. Aus dem Schnellerfahren mit der fertigen Eisenbahn unvermittelt
auf eine Verkürzung der gesamten hier in Frage kommenden ‚Produktions-
1) Exkurse, S. 59 ff.
522 Franz X. Weiß.
periode‘ schließen, heißt daher denselben Fehler begehen, als wenn man aus
dem rascheren Nähen mit der Nähmaschine auf eine Verkürzung statt auf
eine Verlängerung des Umweges beim Kleidermachen folgern würde; es heißt,
wogegen ich oben im Texte ausdrücklich gewarnt habe, die Dauer des Schluß-
stückes eines Prozesses mit der Dauer des gesamten Prozesses selbst verwechseln. ')
Nicht minder läßt Lexis in seinem Raisonnement die grundverschiedenen
Begriffe der ‚Wartezeit‘ und der ‚Arbeitszeit‘ ineinander fließen. Um zum Bei-
spiel darzutun, daB die Fortschritte in der Maschinentechnik von keiner Ver-
längerung der Produktionsperiode begleitet zu sein brauchen, gibt er ‚zu be-
denken, daß die Herstellung einer wirksameren Maschine nicht mehr Zeit zu
kosten braucht als die einer weniger vollkommenen‘ — wobei, um zum Argument
zu passen, von ihm offenbar Wartezeit gemeint gewesen sein muß. Er belegt
und paraphrasiert aber diesen Ausspruch sofort mit den unmittelbar folgenden
Worten: ‚Der Erfindungsgeist hat eine neue, zweckmäßigere Form entdeckt.
die Gestaltung des Stoffes nach derselben braucht aber nicht mehr Arbeit zu
fordern, als früher für das weniger ergiebige Produktionsmittel aufzuwenden war‘
— womit der Gedanke sichtlich in das Geleise der Arbeitszeit gesprungen ist.“
Wenn also einerseits festgestellt wurde, daß die Zahl der verlängernden
Erfindungen gegenüber den verkürzenden weitaus überwiegt, so sei doch
anderseits gleich hier darauf hingewiesen, daß die Bedeutung unserer
These für die Zinstheorie durchaus nicht von diesem Häufigkeitsverhält-
nisse abhängt. „Für diese These kommt,‘ sagt Böhm,?) „nichts auf den
Nachweis eines bestimmten Häufigkeitsverhältnisses zwischen ‚ver-
längernden‘ und ‚verkürzenden‘ Erfindungen an. Es genügt mir, fest-
zustellen, was ja der Augenschein lehrt und meines Wissens auch noch
von niemanden bisher in Zweifel gezogen worden ist, daß es überhaupt
eine große Zahl von Erfindungen gab und gibt, deren Ausnützung mit
einer Verlängerung der vordem üblichen Produktionsprozesse verbunden ist.“
3. Im Zusammenhange mit der eben besprochenen Einwendung
steht der dritte Einwurf Diehls. Er sagt:°) „Böhm hat mit Rücksicht
auf die vielen Einwände, die seine These gefunden hatte, jetzt eine be-
sonders vorsichtige Formulierung gewählt, jedenfalls vorsichtiger als sie
t) Die folgenden Sätze sind für uns deshalb von Bedeutung, weil Diehl in der
_ oben wiedergegebenen Stelle von „Abkürzung der Produktionszeit‘‘ spricht, während
es richtig „Wartezeit“ heißen müßte. (Vgl. oben Anmerkung 2 auf S. 519.) Es ist kein
Anlaß dazu vorhanden, Diehl die Verwechslung zuzumuten, vor der Böhm in den
folgenden Ausführungen warnte. Doch besteht die Gefahr, daß vielleicht ein minder
unterrichteter Leser den von Diehl gebrauchten Ausdruck mißverstehen könnte.
2) Exkurse, S. 9.
3) N. 585 ff.
Produktionsumwege und Kapitalzins. N23
an manchen Stellen der früheren Auflage seines Werkes zu finden war.
In dieser Fassung soll sie von der größten Bedeutung für die theoretische
Nationalökonomie sein (Exkurse: S. 3): ‚Die von mir aufgestellte These
lautet, daß eine klug gewählte Einschlagung oder Verlängerung zeit-
raubender Produktionsumwege in aller Regel zu einem technischen Mehr-
ergebnis, das ist also zur Erlangung von mehr oder besseren Produkten
mit dem gleichen Aufwand von Produktivkräften führt.‘ Ich glaube,
daß auch in dieser vorsichtigen Formulierung die These diese Bedeutung
in keiner Weise beanspruchen kann. Vor allem wird durch die Verklau-
sullerung die grundlegende Bedeutung dieses Gesetzes für die Lehre vom
Kapital selbst bedeutend eingeschränkt .... Indem Böhm sagt, „in
aller Regel‘ und in seinen Exkursen jetzt immer vom neuen betont, daß
es sich um kein strenges, ausnahmsloses Gesetz handelt (S. 36), sondern
nur um eine sehr ausgebreitete Regel, nimmt er diesem Satz selbst die
strenge Gültigkeit, die er ihm an anderen Stellen wieder beilegt.‘
Demgegenüber muß zunächst darauf hingewiesen werden, daß es
nicht den Tatsachen entspricht, wenn behauptet wird, daß Böhm in der
früheren Fassung seines Werkes oder an manchen Stellen der in Rede
stehenden III. Auflage der These von der Mehrergiebigkeit der Produk-
tionsumwege, ein weiteres Geltungsgebiet habe vindizieren wollen, und
daB es erst einer „besonders vorsichtigen Formulierung‘, einer „Ver-
klausulierung‘‘ bedurft hätte, um die Geltung des Gesetzes einzu-
schränken.
Bohm selbst sagt: ') „Ich habe nur ganz wenige Worte in der Richtung
einer noch sorefältigeren oder vorsichtigeren Formulierung‘ geändert;
in der Sache selbst hat keine Änderung stattgefunden.“ Daß diese Änderung
der Formulierung nur in dem Sinne erfolgte, daß Böhm Mißverständnisse,
und zwar durch ihn nicht verschuldete Mißverständnisse, vernieiden
wollte, ergibt sich schon aus der eben angeführten Stelle selbst oder noch
klarer, wenn man drei Seiten weiterblättert. Dort heißt es: :)
„In der ersten Auflage meines Werkes habe ich für die ausdrückliche Ab-
wehr dieser MiBdeutung vielleicht weniger getan, als rätlich gewesen wäre. Ich
habe nämlich zwar nicht verfehlt, die Einschränkung meiner These auf ‚klug
gewählte‘ Umwege und ihre Geltung ‚im großen und ganzen‘ bei einigen Gelegen-
heiten ausdrücklich hervorzuheben, habe aber die Einschränkung doch nicht
—.
1) Exkurse, S. 1.
2) Exkurse, S. 4.
D24 Franz X. Weib.
bei allen Gelegenheiten und insbesondere nicht bei kurz zusammenfassenden
Erwähnungen oder Formulierungen meiner These (wie zum Beispiel 1. Auflage,
S. 97, 274) immer wieder ausdrücklich wiederholt, und so konnte ein minder
sorgfältiger Leser, der sich eben nur den Wortlaut einer einzelnen Stelle, aber
nicht den ganzen Kontext vor Augen hielt, immerhin in jene mißverständliche
Deutung verfallen. Freilich hieß mir das eine so offenbar verfehlte, ja fast un-
sinnige Meinung zumuten, daß schon das Übermaß der vermeintlichen Ver-
fehlung hätte aufmerksam machen und zu einer sorgfältigeren Nachprüfung
veranlassen können. Daß jene mißverständliche Deutung aber auch nach meinen
ganz ausdrücklichen Darlegungen in den Abhandlungen über ‚Einige strittige
Fragen der Kapitalstheorie‘ noch auftreten oder fortdauern konnte, ist wirk ich
schwer zu verstehen, und zeigt nur, einen wie geringen Wert manche Kritiker
auf eine korrekte Wiedergabe der von ihnen bekämpften Meinungen legen, während
es doch klar ist, daß für eine wissenschaftlich fruchtbare Auseinandersetzung
der Meinungen die erste Grundbedingung ihre korrekte Wiedergabe ist, und
daß andernfalls die Kritik nur zu leicht zu einem nutzlosen Gezänke herab-
sinken kann.“
Diehl meint nun weiters, daß Böhm dureh die — vermeintliche — Ein“
schränkung des Geltungsgebietes der These von der Mehrergiebigkeit
auch ihre Fähigkeit zur Erklärung der Zinserscheinung beschränkt habe.
und sagt im Anschluß an seine zuletzt zitierten Ausführungen: ')
„Vor allem wird dureh die Verklausulierung die grundlegende Bedeutung
dieses Gesetzes für die Lehre vom Kapital selbst bedeutend eingeschränkt;
wenn in der These von klug gewählter Einschlagung gesprochen wird,
wird darauf verwiesen, daß es auf eine kluge Wahl ankomme; richtiger
würde man also sagen, daß diese These von Bedeutung für die Lehre vom
Unternehmergewinn sein kann, nicht aber für die vom Kapital und Zins.
Fs liest sich wie eine Selbstkritik, wenn Böhm sagt: (Exkurse: S. 11),
‚Die Erzielung größerer Produktionsergebnisse durch Verkürzung der
Produktionsmethoden ist, wie man es jetzt so gerne zu nennen pflegt,
eine ‚dynamische‘, keine ‚statische‘ Erscheinung in der Volkswirtschaft.
Und die aus ihnen fließenden Mehrerträgnisse haben, wie ich nebenher
und vorgreifend bemerken möchte, viel mehr Bezug zu persönlichen Unter-
nehmer- und Konjunkturgewinnen, als zu der normalen Rate des eigent-
lichen Kapitalzinses.‘ “
Es ist, wie zunächst bemerkt sei, nicht recht verständlich, daß es sich
vermeintlich „wie eine Selbstkritik Böhms liest“, wenn dieser sagt, daß die
aus einer Abkürzung der Produktionsmethode sich ergebenden Mehrerträg-
1) S. 585 ff.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 925
nisse viel mehr Bezug zu den Unternehmer- und Konjunkturgewinnen
als zum Kapitalzins haben. Ist auch damit nur im entferntesten zugegeben,
daß auch die aus der Verlängerung der Produktionsmethoden sich er-
gebenden Gewinne diesen Charakter haben? Im unmittelbaren Anschluß
an die von Diehl zitierte Stelle fährt Böhm fort: „ganz anders die mit
einer Verlängerung der bisher üblichen Produktionsmethode verbundenen
vorteilhaften Erfindungen ....“ und kaum 20 Seiten später heißt es: *)
„Das Offenstehen der Gelegenheiten zu vorteilhaften Produktionsver-
längerunsen und die Bedrohung mit Minderergebnissen im Falle der Verkürzung
der Produktionsperiode sind Tatsachen statischer Natur. Sie gehören auch
dem Beharrungszustande der Volkswirtschaften an. Nicht ihre Fortdauer setzt
dynamische Anderungen des nunmehr bestehenden Zustandes voraus, sondern
umgekehrt, ihr Verschwinden würde solche Änderungen voraussetzen .....
Und während ich früher einmal Gelegenheit hatte, zu sagen, daß die mit den
‚dynamischen‘ abkürzenden Erfindungen zusammenhängenden Gewinne und
Mehrerträgnisse mehr mit den persönlichen Unternehmer- und Konjunktur-
gewinnen als mit dem e:gentlichen Kapitalzinse zu tun haben, habe ich jetzt
gegenüberstellend hervorzuheben, daß die mit unserem statischen Phänomene
zusammenhängenden Gewinne und Einbußen die engste Fühlung mit der normalen
Rate des eigentlichen Kapitalzinses halten, der ebenfalls ein statisches Phä-
nomen in unserer Volkswirtschaft ist. Doch dies alles wird in anderen Teilen
dieses Werkes noch deutlicher gezeigt.“
Von einer Selbstkritik Böhms kann daher keine Rede sein. Eher
könnte von einer Selbstkritik Diehls gesprochen werden, wenn dieser
wenige Seiten später (S. 588) sagt, ihm scheine das ganze Zinsproblem
schon aus dem „dritten Grunde“, das heißt aus der Mehrergiebigkeit
der Produktionsumwege zu erklären zu sein.
Wir müssen nunmehr zu der Frage Stellung nehmen, ob tatsächlich,
wie Diehls dritte Einwendung behauptet, infolge des Umstandes, daß
nur die klug gewählten Produktionsumwege eine größere Ergiebigkeit
aufweisen, die Böhmsche These nicht für die Lehre vom Kapital und Zins
von Bedeutung sein kann, sondern nur für die Lehre vom Unternehmer-
gewinn. |
Volle Einmütigkeit wird wohl darüber herrschen, daß nicht jede
„kluge Wahl‘ als Unternehmertätigkeit zu klassifizieren ist. „Klugheit“
ist eben ein relativer Begriff; das normale rationale Handeln macht den
Unternehmer noch nicht aus. Wenn jemand von mehreren ihm bekannten
—
1) Exkurse, S. 30, S. 32 f.
N20 Franz X. Weib.
Wegen den kürzesten oder von mehreren Mädchen das hübscheste oder
von mehreren Gütern das wertvollste wählt, so bedeutet dies alles wuhl
noch keinen solchen Grad von Klugheit, daß man sie jener gleichstellen
könnte, die den Unternehmer ausmacht. Es macht übrigens fast den
Eindruck, als glaube Diehl, daß nach Ansicht Böhms die „kluge Wahl“
der Produktionsmethode durch den Unternehmer darin bestünde, daß
dieser die Methode erst ersinnen müßte, während es sich doch tatsächlich
nur um die Ausnutzung schon längst bekannter Produktionsmethoden
handelt, die nur wegen des relativen „Kapitalmangels“, der in der Höhe
des Zinsfußes zum sinnfälligen Ausdruck kommt, bisher nicht ausgeübt
wurden. Ä i
„Man kann sich in der Tat,“ sagt Böhm, ') „von der Massenhaftigkeit
der in einem gegebenen Zeitpunkte bekannten und nur aus Mangel an ‚Kapital‘
unausgeführten vorteilhaften Produktionsverlängerungen kaum eine zu weit-
gehende Vorstellung machen. Man muß nur beim Versuche eines Überblickes
nicht bloß an die in die Augen fallenden eigentlichen ‚Erfindungen‘ denken,
die ihre volle Ausnützung noch nicht gefunden haben — obwohl auch diese
allein schon eine gewaltige und namentlich durch den Umfang ihrer Ansprüche
an Kapitalinvestitionen ins Gewicht fallende Masse darstellt: man denke etwa
an den kolossalen Investitionsbedarf, den nur ein halbes Dutzend Erfindungs-
gedanken der letzten hundert oder hundertfünfzig Jahre, wie die Erfindung der
Dampfmaschinen, der Eisenbahnen, des Telegraphen, einschließlich der unter-
seeischen Kabel, des Telephons, der elektrischen Kraftübertragung und der-
gleichen hervorgerufen haben und immerfort hervorrufen. Aber neben den zahl-
losen frischen Erfindungen, die einen vergrößerten Vorschuß an vorgetaner
Arbeit erfordern, gibt es noch zalıllose längst vulgarisierte, längst gar nicht
mehr als ‚Erfindungen‘ geachtete Produktionsvorteile, die ebenfalls ihr mögliches
Anwendungsgebiet noch bei weitem nicht erschöpft haben.‘
Es wird sich als notwendig erweisen, die Rolle, welche die „kluge
Wahl‘ bei der Regel von der Mehrergiebigkeit nach der Ansicht Bölms
spielt, genauer ins Auge zu fassen. Dies tut Böhm in seinem Exkurse IV *)
auf mehr als 20 Seiten. Leider ignoriert Diehl auch die in diesem Exkurse
vorgebrachten Argumente bis auf einen Vergleich, den Böhm zwischen
dem Gesetze vom abnehmenden Bodenertrag und seiner These von der
Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege zur besseren Veranschaulichung
dieser These zieht. Gegen diesen Vergleich polemisiert Diehl, aber in
ke'neswegs glücklicher Weise. Durch Prüfung der Einwände Diehls läbt
!) Exkurse, S. 15.
-) Exkurse, 5. 103 ff.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 927
sich die Rolle der klugen ‚„Wahl‘‘ besonders klar verdeutlichen. ‚Vor
allem,“ sagt Diehl t) „ist es ein Widerspruch, daß er (Böhm) selbst darauf
hinweist, daß diese Regel keineswegs allgemein gültig sei, und sie doch
auf eine Stufe mit dem Gesetze des abnehmeaden Bodenertrages stellt.
Er behauptet: ‚Wenn meine These von der Mehrergicbigkeit der kapitali-
stischen Produktionsumwege überhaupt richtig ist, so verkündet sie eine
Tatsache von fundamentaler Wichtigkeit für unsere Wissenschaft, eine
Tatsache, die für die Gestaltung und Erklärung der volkswirtschaftlichen
Erscheinungen vielleicht von ähnlicher Bedeutung ist wie das berühmte
Gesetz des abnehmenden Bodenertrages‘ (S. 1). Und daß es sich hiebei
nicht um einen gelegentlichen Hinweis auf eine Parallele handelt, geht
daraus hervor, daß er später den ausführlichen Nachweis zu führen sucht,
daß in der Tat seine These denselben Anspruch auf Richtigkeit habe wie
das genannte Bodengesetz: ‚Speziell das Gesetz vom abnehmenden Boden-
ertrag ist ein so genaues und daher ein so belehrendes Gegenstück zu meiner
Regel von der Mehrergiebigkeit der langen Produktionswege, daß ich auf
die Gefahr der Langeweile hin ihr analoges Gefüge noch ausdrücklich vor
Augen führen will.‘ Dieser Versuch ist meines Erachtens durchaus miß-
lungen, und ich meine, daß selbst die Anhänger der Böhmschen Zinstheorie
Bedenken haben müßten, ihm hierin zu folgen. Esmuß zu methodischer
Unklarheit *) führen, wenn man die These Bohms in ihrer Bedeutung
und Tragweite?) irgendwie mit dem genannten Gesetz auf eine Stufe
stellen wollte.‘
Ich fürchte, daß bei diesem Meinungsstreite der Vorwurf der metho-
dischen Unklarheit auf Diehl zurückfallen wird.
Vor allem deswegen, weil er die beiden zitierten, von Böhm bei ver-
schiedenen Gelegenheiten gemachten Äußerungen fälschlich miteinander
in Zusammenhang bringt. Das einemal sagt Böhm, daß die Regel von
der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege an Bedeutung mit dem
Gesetze vom abnehmenden Bodenertrag vergleichbar ist. An der anderen
Stelle, die mit jener ersten nicht das geringste zu tun hat, setzt Böhm,
um die Art der Wahl, die bei der Frage der Mehrergiebickeit in Betracht
kommt, besser zu veranschaulichen, diese Wahl in Vergleich mit anderen
Arten von Wahlen, die auf ganz anderen Gebieten stattfinden; so mit
der Wahl zwischen verschiedenen Eisenbahnverbindungen, mit der Wahl
1) S. 586.
2) Von mir gesperrt.
928 Franz X. Weib.
der besten Verwendung für verfügbare Güter usw. Schließlich zieht Böhm
zum Vergleiche auch jene Wahl heran, die bei dem Mechanismus des
Gesetzes vom abnehmenden Ertrag eine Rolle spielt. Die „Bedeutung und
Tragweite‘‘ des Gesetzes vom abnehmenden Ertrag kommt hier bei diesem
zweiten Vergleiche also gar nicht!in Frage. Wir müssen uns versagen,
alle die genannten belehrenden Beispiele, die Böhm gibt, hier anzu-
führen. Sie werfen ein helles Licht auf die Bedeutung, die dem in
Rede stehenden Momente der klugen Wahl in seinem System zufällt.
Es sei auf die lichtvollen Ausführungen Böhms nochmals ausdrücklich
hingewiesen; wir müssen uns mit der Wiedergabe des letztgenannten
besonderg belehrenden Vergleiches begnügen, des Vergleiches mit der
Wahl, der sich bei der Durchsetzung des Bodengesetzes geltend macht
und an den die Diehlsche Polemik anknüpft. Der wesentliche Inhalt
dieser Ausführungen Böhms ist etwa folgender:
Wenn Böhm sagt, daß längere Produktionsumwege in aller Regel die Pro-
duktion ergiebiger gestalten, so meint er einerseits, wie wir sahen, selbstver-
ständlich nicht, daß jede Verlängerung des Produktionsweges eine größere
Ergiebigkeit zur Folge haben müsse; ') er schränkt die Geltung seiner These
vielmehr auf ,,klug gewählte“ Produktionsumwege ein. Andrerseits ist diese
Einschränkung aber keineswegs etwa derart zu verstehen, daß es nur auf die
Klugheit der Wahl ankomme und nicht auf die Länge des Produktionsumweges,
daß also etwa bei kluger Wahl ebenso leicht auf einem kürzeren Wege größere
Ergiebigkeit erzielt werden könne.
Der Sachverhalt ist vielmehr nach Böhm folgender: Zur Herstellung jedes
Gutes gibt es eine ganze Reihe von Produktionsmethoden gleicher Dauer; also
mehrere einjährige, mehrere zweijährige usw. Produktionsmethoden. Von allen
einjährigen Methoden wird eine die objektiv ergiebigste sein. Wir nehmen bei-
spielsweise an, es sei eine Methode, die gestatte, mit 100 Arbeitstagen 300 Pro-
dukteinheiten herzustellen. Wird man sich aus bestimmten Gründen (Höhe des
Zinsfußes) veranlaßt sehen, gerade eine einjährige Produktionsmethode zu be-
nutzen, so wird man sicher diese beste der einjährigen Methoden wählen. Ebenso
wird man natürlich, wenn man genötigt ist, eine zweijährige Methode zu er-
greifen, die ergiebigste der zweijährigen Methoden wählen; mit dieser könne man.
wie wir annehmen wollen, 320 Produkteinheiten herstellen. Auf gleiche Weise
wird es aber, wie schon bemerkt, unter allen drei-, vier- und fünfjährigen
Methoden immer eine beste geben. Die These von der Mehrergiebigkeit besagt
nun, daß in der Regel die beste einjährige nicht so ergiebig ist, wie die beste
zweijährige; diese wieder nicht so ergiebig, wie die beste dreijährige usw. Wenn
1) Siehe oben S. 523 £.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 529
aber auf diese Weise unter allen gleich langen Methoden immer die jeweils beste
ausgesucht wird, so bezeichnet dies Böhm als eine ‚Vorwahl‘, denn es wird zu-
nächst nur bestimmt, welche Produktionsmethoden überhaupt von vornherein
nur in Betracht zu ziehen sind. Ob die beste einjährige, die beste zweijährige,
die beste dreijährige usw. in Betracht kommt, dies zu entscheiden ist erst Sache
einer zweiten Wahl, der Hauptwahl.
Nun zu dem bereits vielgenannten Vergleich mit dem Gesetze vom ab-
nehmenden Bodenertrag. ‚Dieses Gesetz,“ sagt Bohm,!) „geht bekanntlich
dahin, daß durch einen gesteigerten Aufwand von Kapital und Arbeit auf einem
gegebenen Grundstück zwar der vom Grundstück zu erlangende Ertrag regel-
mäßig überhaupt gesteigert werden kann, daß aber — abgesehen von der Da-
zwischenkunft neuer agrikulturtechnischer Erfindungen und Entdeckungen — die
Steigerung des Ertrages in einem schwächeren Verhältnis stattfindet, als die
Steigerung des Aufwandes‘‘, so daß also, wenn 10 Arbeiter 1000 Zentner Weizen
erzeugen, durch 20 Arbeiter zwar mehr, aber nicht das Doppelte, also etwa
1800 Zentner, durch 30 Arbeiter wiederum nur eine abermals schwächere
Steigerung, zum Beispiel 2500 Zentner, erzielt werden kann.
Der Tatbestand der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege kam, wie
nochmals gesagt sei, dadurch zustande, daß unter allen einjährigen Methoden
die beste gewählt wurde, gleichermaßen unter allen zweijährigen, unter allen
dreijährigen usw. Unter allen diesen besten Produktionsmethoden ist die längere
in der Regel die ergiebigere. Genau so wird unter allen möglichen Methoden,
mit 10 Arbeitern ein Grundstück zu bearbeiten, die ergiebigste Methode aus-
gesucht, gleichermaßen die beste unter allen Methoden mit 20, die beste unter
allen Methoden mit 30 Arbeitern usw. Die minder guten kommen bei ratio-
nellem Vorgehen überhaupt nicht in Betracht. Nur wird die beste Methode
mit 10 Arbeitern stets an Ergiebigkeit — allerdings nicht um das Doppelte —
übertroffen werden von der besten Methode mit 20 Arbeitern und ebenso diese
— allerdings wiederum nicht um ein volles Drittel — überholt werden von der
besten Methode mit 30 Arbeitern. Es kann also durch Verwendung von mehr
Arbeitern auf dem Grundstücke mehr, wenn auch nicht in demselben Verhält-
nisse mehr erzeugt werden.
„Dieses ,Kann‘, sagt Böhm, 2) „gilt genau in demselben eigenartig nuan-
cierten Sinn, in welchem nach meiner Regel durch eine Verlängerung des Pro-
duktionsumweges regelmäßig ein größeres Erträgnis erlangt werden ‚kann‘. In
beiden Fällen bedeutet das ‚kann‘ einerseits mehr, als eine bloße Zufallsmöglich-
keit, deren Zutreffen oder Ausbleiben nicht sicherer wäre, als der Ausschlag
fallender Würfel: es bedeutet eine gesicherte Möglichkeit, auf deren Zutreffen
bei rationeller Handlungsweise man rechnen kenn. Ebenso weit wie von einer
bloßen Zufallsmöglichkeit ist aber dieses ‚gesicherte Kann‘ nach der anderen
Seite von einem ‚Muß‘ entfernt; denn es kann durch eine irrationelle oder minder-
rationelle Handlungsweise jederzeit verscherzt werden. Somit beruht in beiden
1) Exkurse, S. 120 f.
2) Exkurse, S. 121 f.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 36
530 | Franz X. Weiß.
Fällen diese eigenartige Regel auf dem Einspielen einer rationellen Wahl in eine
schon regelmäßig gestufte Serie objektiver Wahlmöglichkeiten. 1) Das Gesetz
des abnehmenden Bodenertrages könnte gewiß nicht zur Erscheinung kommen,
wenn die Leute ihre Produktionsmethoden nur nach blindem Ungefähr ergreifen,
oder absichtlich schlechtere, als die jeweils beste, ihrem Kennen und Können
zugängliche Methoden wählen würden: jenes Gesetz kann die Mitwirkung einer
rationellen Wahl nicht entraten. Aber ebensowenig würde die Wahl für sich
allein genügen können, um jene eigenartige Regelmäßigkeit zustande zu bringen.
Die Wahl kann die jeweils beste Methode auslesen, die nach dem erreichten
Stande produktiven Könnens mit einer bestimmten Kombination von Produktiv-
kräften eingeschlagen werden kann, aber sie kann nicht die Ergiebigkeitsziffer
dieser Methode bestimmen; sie kann die ‚Gipfel‘ herausgreifen, aber sie kann
den Gipfeln nicht ihre Höhe geben. Diese haben sie vor der Wahl und unab-
hängig von der Wahl. Und wenn die bei dem heutigen Stande des Wissens offen-
stehende beste Methode, 10, 20, 30, 40, 50 Arbeiter auf einem gegebenen Grund-
stück zu beschäftigen, zu der Ziffernreihe von 1000, 1800, 2500, 3100, 3600 Zentner
Getreide führt, so hat diese regelmäßige Schichtung objektive, natürliche, pro-
duktionstechnische Gründe, welche für die Erklärung der Regelmäßigkeit
aufgerufen werden müssen, und welche die Agrikulturchemie bekanntlich
in der Tat aufruft.‘
Böhm führt die Analogie noch weiter aus, was wiederum hier nur an-
gedeutet sei. Wir haben erwähnt, daß er die Wahl, welche die beste unter allen
einjährigen, die beste unter allen zweijährigen, die beste unter allen dreijährigen
Produktionsmethoden aussucht, als vorbereitende Vorwahl bezeichnet; ganz
entsprechend jener Wahl, die bei der Bearbeitung eines Grundstückes die jeweils
beste unter allen 10 Arbeiter-Methoden, unter allen 20 Arbeiter-Methoden usw.
ausliest.
Auf diese Wahl folgt in beiden Fällen eine Hauptwahl. Es fragt sich nämlich,
ob ich der besten einjährigen oder der besten zweijährigen oder der besten drei-
jährigen Methode den Vorzug geben soll; mit anderen Worten, ob ich einen
mehr oder minder langen Produktionsumweg einschlagen, ob ich mehr oder
weniger Arbeiter durch Maschinen ersetzen soll. Die Beantwortung dieser Frage
hängt, wie wir wissen, von der Größe des vorhandenen ,, Kapitalvorrates‘‘, von
der Höhe des Zinsfußes ab.
Ebenso müssen wir bei der Bebauung eines Grundstückes uns darüber klar
werden, ob wir dieses mehr oder weniger intensiv bearbeiten sollen, ob wir die
beste 10 Arbeiter-Methode oder die beste 20 Arbeiter-Methode usw. anwenden
sollen. Auch hier läßt sich anders als bei der Vorwahl, keine allgemein gültige,
Antwort geben. Bekanntlich hat keine Intensitätsstufe einen absoluten Vorzug
vor der anderen; es kommt auf eine Reihe von Umständen, insbesondere auf
den Preisstand der Produkte an.
1) Vgl. die Anmerkung unten auf S. 536.
Produktionsumwege und Kapitalzins. Vəl
„Von diesen beiden ,Wahlen‘,“ sagt Böhm weiters, !) „spielt nun bei der
Ableitung und Erläuterung meiner Regel von der größeren Ergiebigkeit der
längeren Produktionsumwege nur die erste, die ‚Vorwahl‘ eine Rolle, und zwar
genau dieselbe Rolle, die sie auch bei der Erklärung des Gesetzes des abnehmenden
Bodenertrages spielt. Die zweite, die ,Hauptwahl, spielt innerhalb meiner ge-
samten Zinstheorie ebenfalls eine Rolle, aber nicht für die Ableitung meiner
produktionstechnischen Prämisse von der größeren technischen Ergiebigkeit
längerer Produktionsumwege, sondern erst bei der Ableitung weiterer Schlüsse
aus dieser Prämisse.‘
Im einzelnen erhebt Diehl gegen den Vergleich mit dem Gesetze
vom abnehmenden Bodenertrag folgende Einwendungen:
„Beim Gesetze vom abnehmenden Bodenertrag,‘‘ meint er,®) „handelt
es sich um ein ausnahmslos geltendes Naturgesetz, dem jeder landwirt-
schaftliche Produzent, mag er klug oder dumm sein, sich fügen muß. Von
einem bestimmten Zeitpunkt ab weist ihn dieses Gesetz auf eine natürliche
Schranke hin, die der Verwendung seiner Arbeit und seines Kapitals auf
einem begrenzten Bodenstück gezogen sind, einfach deshalb, weil zum
Pflanzenwachstum gewisse Stoffe und Kräfte notwendig sind, die nur
in beschränktem Maße vorhanden sind. Was besagt demgegeniiber die
Böhmische Regel? Daß ein Kapitalist, wenn er kluge Umwege mit Hilfe
von Produktionsmitteln einschlägt, unter Umständen durch diesen längeren
Weg, das heißt einen Weg von längerer Zeitdauer, mehr Produkte erhält
als ohne diesen Umweg. Aber in keiner Weise ist dies doch allgemein-
gültig. Es gibt klug gewählte Produktionswege, die schneller und kürzer
zum Ziele führen als der direkte, das heißt der kapitallose Wee. — Das
Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag bedeutet für den Landwirt den
Zwang, halt zu machen, wenn das Optimum erreicht ist. Die Böhmsch
Regel gibt gar keinen Zwang für den Kapitalisten, sondern läßt ihm die
Wahl offen zwischen verschiedenen Wegen, die zum Ziele führen können. —
Während das Charakteristische des Bodengesetzes ist, daß dem Landwirt
überhaupt keine Wahl gelassen ist, sondern er einfach vor eine nackte
Naturtatsache gestellt wird, gibt die Böhmsche Regel nur einen Fall unter
vielen möglichen der Ausnutzung von Produktionsmitteln an, und es
ist Sache der klugen Wahl des Unternehmers, den richtigen Weg heraus-
zufinden. Man darf nicht ein Gesetz der Produktionstechnik auf eine
Stufe stellen mit einer Regel, die den Hinweis auf verschiedene Möglich-
1) Exkurse, S. 125.
2) S. 587 f.
532 Franz X. Weiß.
keiten gibt. Wenn Böhm erklärt, daß der Landwirt je nach dem Preisstand
der Produkte ebenfalls die Wahl habe, diese oder jene Ausdehnung der
Produkte vorzunehmen, so bedeutet dies, daß auf Grund des Bodengesetzes,
welches ein bestimmtes Maximum von Rohertrag ermöglicht, seine privat-
wirtschaftlichen Betrachtungen über den Reinertrag einsetzen müssen.
Umgekehrt die Böhmsche Regel: sie enthält in sich selbst schon die Wahl-
möglichkeit, zwischen verschiedenen Wegen, die eingeschlagen werden
können, auszuwählen; deren Zweckmäßigkeit zu ermessen, fällt der Klughe:t
des Unternehmers zu.“
In diesen Ausführungen wird auf drei angebliche, wesentliche Unter-
schiede zwischen den beiden Gesetzen hingewiesen.
a) Das Bodengesetz sei im Gegensatz zur These von der Mehrergiebig-
keit „ein Naturgesetz‘‘, es „weist auf eine natürliche Tatsache hin“. Nun
könnten wohl beide Gesetze sowohl hinsichtlich ihrer ‚Bedeutung und
Tragweite‘ wie in bezug auf die Rolle, welche bei beiden die „kluge Wahl
spielt, ganz gut in eine Linie gestellt werden, wenn auch das eine ein Natur-
gesetz wäre, das andere aber nicht. Der von Dichl hervorgehobene Unter-
schied wäre also, selbst wenn er bestünde, nicht wesentlich. Wenn im
folgenden der Nachweis versucht wird, daß dieser Unterschied gar nicht
besteht, so geschieht dies hauptsächlich deswegen, um den Mechanismus
der These der Mehrergiebigkeit nochmals zu demonstrieren. Es muß
nun festrestellt werden, daß das Gesetz, das in der politischen Okonomée
gemeinivlich als Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag bezeichnet wird,
ebensowenig oder, wenn man will, ebensosehr ein Naturgesetz ist, wie das
Gesetz von der Mehrergiebigkeit, das nach Böhm für die längeren Pro-
duktionswege gilt. Allerdings, jener ‘Satz, der besagt, daß von einer
gewissen Grenze ab die Vermehrung des Pflanzenstoffes hinter einer Ve:-
mehrung der physischen Existenzbedingungen der Pflanzen zurückbleibt,
ist unbestrittenermaßen ein Naturgesetz.
Dieser Tatbestand ist sicherlich von großer Bedeutung für die Er-
klärung des abneninenden Bodenertrages, bildet aber nach der herkömm-
lichen Terminologie nicht den Inhalt des Bodengesetzes. Dieses ght
vielmehr meist nicht von den physischen Produktionsbedingungen, sondern
von den wirtschaftlichen Produktionsaufwendungen aus, die als Kapital-
und Arbeitsmengen oder als in Geld gemessene Wertquanten aufgefaßt
Produktionsumwege und Kapitalzins. D33
werden.t) Jedenfalls — und dies ist das Entscheidende — spricht Böhm
selbst in der oben auf S. 529 angeführten Stelle ausdrücklich von einem
„gesteigerten Aufwand an Kapital und Arbeit“. Übrigens definiert auch
Diehl, der für diese Frage vermöge seines bekannten Ricardokommentars
als berufene Autorität angeführt werden kann, das Bodengesetz in diesem
Werke als „das Gesetz, daß es bei jedem Boden eine Grenze gibt, wo jede
weitere Arbeit und jede weitere Kapitalverwendung den Ertrag nicht in
demselben Maße wie früher zu steigern vermag, sondern die Vermehrung
des Rohertrages nur mit erhöhtem Kapital- und Arbeitsaufwande mög-
lich ist.“ 2)
Sobald man aber, wie dies Böhm und auch Diehl tun, unter den
Aufwendungen nicht die natürlichen Existenzbedingungen der Pflanzen
(Bodennährstoffe, Licht, Feuchtigkeit usw.) versteht, sondern „Arbeits-
und Kapitalsverwendungen", so ist schon implicite rationelles Verhalten
des Produzenten, die Vornahme einer „klugen Wahl‘ vorausgesetzt;
es wird vorausgesetzt, wie Böhm in der oben angeführten Stelle sagt,
daß nicht etwa „die Leute ihre Produktionsniethoden nur nach blindem
Ungefähr ergreifen, oder absichtlich schlechtere, als die jeweils beste,
ihrem Kennen und Können zugängliche Methoden wählen würden: jenes
Gesetz kann die Mitwirkung einer rationellen Wahl nicht entraten.“
Es ist wohl nicht notwendig, nochmals den Gedankengang Eöhms
vorzutragen, der den Nachweis führt, daß auch die These von der Mehr-
ergiebigkeit sich einerseits auf Tatsachen der Preduktionstechnik stützt,
die ihrerseits auf Naturtatsachen zurückgehen (,,Einfangen von Natur-
kräften‘‘) und daß es anderseits Sache der klugen Wahl ist, die ihr durch
diese Tatsachen der Produktionstechnik und des Naturgeschchens dar-
gebotenen Vorteile auszunutzen.
b) Diehl hat übrigens, wenn er das Bodengesetz im Gegensatze zu
der These von der Mehrergiebigkeit als Naturgesetz gekennzeichnet hat,
vielleicht gar nicht damit zum Ausdruck bringen wollen, daß es ausschließ-
lich auf Naturtatsachen gegründet ist, unbeeinflußt von menschlicher
Einwirkung. Nennt er es doch an anderer Stelle ein ,,Gesetz der Produktions-
1) Vgl. hierüber meinen Artikel ,,Abnehmender Ertrag‘ im Handwörterbuch
der Staatswissenschaften, 4. Aufl.
2) Diehl, „Sozialwissenschaftliche Erläuterungen zu David Ricardos Grund-
gesetzen der Volkswirtschaft und Besteuerung‘, I. Teil, 2. Aufl., Leipzig 1905, S. 217.
Allerdings nennt Diehl auch an dieser Stelle das Bodengesetz ein unbestreit ares
Naturgesetz!
O34 Franz X. Weib.
technik“. Möglicherweise wollte er damit nur hervorheben, daß es aus-
nahmslos gelte, zum Unterschied von der These der Mehrergiebigkeit,
die nur „in der Regel“ Geltung habe. Sollte dies Diehls Ansicht sein, so
müßte vor allem dem gegenüber eingewendet werden, daß auch dieser
Unterschied kein wesentlicher ist. Auch wenn das eine Gesetz seine Aus-
sage ausnahmslos, das andere nur für die Regel der Fälle ausspräche,
könnten doch beide als gleichartig angesehen werden, und zwar sowohl
hinsichtlich ihrer Bedeutung 1) wie auch hinsichtlich des Momentes der
klugen Wahl.
Wenn trotzdem der Nachweis geführt werden soll, daß auch dieser
Unterschied nicht bestehe — Böhm hat diesen Punkt, da er den Vergleich
nicht soweit ausdehnte, nicht berührt — so geschieht dies deshalb, weil
sich gerade hier Gelegenheit ergibt, die These von der Mehrergiebigkeit
und insbesondere die Rolle der „klugen Wahl“ abermals in volles Licht
zu setzen. |
Auch das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag gilt — wenn nicht
darunter jenes oben erwähnte Naturgesetz gemeint ist — wenigstens in
gewissem Sinne, nicht ausnahmslos. Die Grenze, von der ab einer steigenden
Aufwendung nicht mehr in demselben Verhältnisse steigende Erträge
entsprechen, ist ja bekanntlich veränderlich. Es sind nicht einmal Ver-
besserungen der landwirtschaftlichen Produktionstechnik erforderlich;
auch Änderungen im Preise der Produktionsfaktoren können das Gesetz,
wie ja allgemein bekannt, ,,suspendieren‘‘. Aber diese Suspension wird
nur vorübergehend sein. Denn solange das Gesetz in Wirksamkeit ist,
stehen in der Erwägung des Produzenten der Vorteil, den die Ausdehnung
der Produktion bringt, und der Nachteil, der in der Steigerung der Kosten
besteht, einander gegenüber. Es muß genau erwogen werden, ob der Preis der
Bodenprodukte hoch genug ist, um die Erhöhung der Kosten, die infolge der
Geltung des Gesetzes vom abnehmenden Bodenertrag sich einstellt, zu
lohnen. Ist das Gesetz aber einmal suspendiert, ist es vielleicht gar mög-
lich, den Ertrag in stärkerem Ausmaße zu steigern als die Kosten, so
liegt die Sache anders. Nun winkt doppelter Vorteil: Vermehrung des
Ertrages und Herabminderung der Kosten. Wenn sich für die Produkte
geniigender Absatz zum alten Preise findet, so wird die Produktion solange
ausgedehnt werden, bis der Ertrag wieder ein abnehmender wird, bis
das Gesetz wiederum zu wirken beginnt.
t) Vgl. oben S. 523.
Produktionsumwege und Kapitalzins. Nd)
Eine ganz ähnliche Erscheinung können wir wieder bei der Aus-
nutzung der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege beobachten. Der
Produzent muß auch hier in seiner Erwägung gegenüberstellen: den Vorteil,
den die Erweiterung der Produktion mit sich bringt, die größere Ergiebig-
keit, einerseits und den Nachteil der längeren Dauer der Produktion ander-
seits. Es muß erwogen werden, ob der Zinsfuß niedrig genug ist, um eine
Verlängerung der Produktionsumwege — etwa Ersetzung von Arbeitern
durch Maschinen — zu lohnen. Ist aber die Möglichkeit der Ausnutzung
einer „verkürzenden‘ Erfindung geboten, ist es möglich, eine größere
Ergiebigkeit bei kürzerer Produktionsperiode zu erlangen, so wird all-
gemein von der abkürzenden Erfindung Gebrauch gemacht werden; denn
auch hier winkt jetzt ein doppelter Vorteil: ein Zuwachs an Produkten,
der zudem früher erlangbar ist.
Die verkürzenden Erfindungen werden allgemein ohne Beschränkung
eingeführt werden. Dann beginnt aber sofort von neuem die Regel der
Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege zu wirken: eine Erhöhung der
Ergiebigkeit ist wiederum nur mit gleichzeitiger Verlängerung des Pro-
duktionsumweges möglich. Ebenso wie das Gesetz vom abnehmenden
Bodenertrag immer nur vorübergehend suspendiert werden kann, ist die
Suspension ausgenutzt, so kann eine Vermehrung des Rohertrages wiederum
nur mit gleichzeitiger Kostensteigerung erzielt werden.
c) Mehrere Stellen der oben angeführten Einwendungen Diehls
scheinen auf einen weiteren vermeintlichen Unterschied zwischen beiden
Gesetzen hinzuweisen: das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag bedeute
„für den Landwirt den Zwang halt zu machen", während die Böhmsche
Regel „den Hinweis auf verschiedene Möglichkeiten gibt.“ „Wenn Böhm
erklärt‘‘, fährt Diehl in seinen von uns bereits zitierten Ausführungen
fort, „daß der Landwirt je nach dem Preisstand der Produkte ebenfalls
die Wahl habe, diese oder jene Ausdehnung der Produkte vorzunehmen,
so bedeutet dies, daß auf Grund des Bodengesetzes, welches ein bestimmtes
Maximum von Rohertrag') ermöglicht, seine privatwirtschaftlichen
Betrachtungen über den Reinertrag einsetzen müssen.‘ 2)
—
1) Offenbar meint Diehl „ein Maximum von Rohertrag für iede gegebene Menge
von Arbeit und Kapital‘, denn nur dies würde auch im Sinne seiner von uns wieder-
gegebenen Fassung des Bodengesetzes liegen. |
2) S. 588.
© t
Go
Os
“Franz X. Weib.
Aus dem von uns durchgeführten Vergleiche der beiden Gesetze
geht wohl zur Genüge hervor, daß von der These der Mehrergiebigkeit
mutatis mutandis dasselbe gesagt werden kann, was Diehl vom Gesetze
des abnehmenden Bodenertrages behauptet, nämlich, daß „auf Grund“
der These der Mehrergiebigkeit, „welche ein bestimmtes Maximum von
Rohertrag (nämlich für jede gegebene Länge der Produktionsperiode)
ermöglicht, seine (nämlich des Produzenten) privatwirtschaftliche
Betrachtungen über den Reinertrag einsetzen müssen.‘
Diese These beinhaltet ebensosehr oder ebensowenig einen Zwang
wie das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag. Der Zwang, den dieses
übt, ist doch nicht rein physischer Art; dies schon deswegen nicht, weil
doch die Produktion nicht nur bis zur Grenze ausgedehnt wird, an der
die physische Abnahme beginnt, sondern viel weiter, je nach ‘den Preis-
verhältnissen von Produkt und Produktionsfaktoren. Der Zwang ist
ökonomischer Art.
Was die Betonung der freien Wahl betrifft, so macht auch dieser
Teil der Ausführungen Diehls fast den Eindruck, als ob er der Ansicht
wäre, daß der Produzent erst die Produktionsumwege aufzufinden hätte,
während es sich doch in Wahrheit, wie bereits betont wurde, im Sinne
Böhms meist um schon längst bekannte Produktionsumwege handelt, die
nur im Verhältnis zu der relativen Kapitalsknappheit und dem zu hohen
Zinsfuß zu lang waren, als daß sie sich hätten als rentabel erweisen
können. Gerade so wie es stets möglich ist, den Boden intensiver zu
bebauen, als dies tatsächlich geschieht; doch sind die Preise der Boden-
produkte verhältnismäßig zu niedrig, als daß sich dies rentieren könnte.
Es ist bedauerlich, daß Diehl dem gesamten von Böhm der Frage der
„klugen Wahl gewidmeten Exkurs IV so geringe Aufmerksamkeit schenkte.
Es erweckt den Anschein, als hätte er von diesem ganzen Exkurse nur
die von ihm zitierte Stelle beachtet, die zudem .bezeichnenderweise gerade
an dem entscheidenden Punkte abbricht.')
Jedenfalls aber ergibt sich schon, wie wir glauben, gerade aus dem
Vergleiche der beiden Gesetze, daß keine Rede davon sein kann, daß
der durch die Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege hervorgerufene
Überschuß, wie Diehl meint, auf Grund seiner Kritik als Unternehmer-
gewinn zu bezeichnen wäre. Doch wird diese Frage noch erörtert werden.
1) Zitiert Diehl doch auch die oben wiedergegebenen Ausführungen Böhms nur
bis zu unserer Anmerkung auf S. 530.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 537
Abgesehen von seiner gegen die Richtigkeit der Lehre von der Mehr-
ergiebigkeit vorgebrachten Bedenken, bezweifelt Diehl, ob in der Tatsache
der Mehrergiebigkeit, deren Richtigkeit er hier offenbar voraussetzt,
mit Recht eine Ursache der Höherwertigkeit der Gegenwartsgüter erblickt
werden könne. |
Dafür, daB sich aus der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege
tatsächlich die Wertüberlegenheit gegenwärtiger Güter gegenüber den
künftigen ergebe, ist es eine notwendige Voraussetzung, daß man in einem
längeren Produktionswege nicht nur mehr Güter erzeuge als in einem
kürzeren, sondern daß diesem Mehr an Gütern auch ein Mehr an Wert
entspricht. Böhm nimmt sich die Mühe, dies besonders zu zeigen.
„Zwar weiß ich ganz gut,“ führt er aus, 1) „daß die größere Menge von
Gütern nicht immer auch den größeren Wert haben muß: ein Metzen Getreide
in einem Hungerjahr kann mehr wert sein als zwei Metzen Getreide nach einer
reichen Ernte und ein Silbergulden vor der Entdeckung Amerikas war mehr
wert als fünf Silbergulden im 19. Jahrhundert. Wohl aber hat für eine und die-
selbe Person in einem und demselben Zeitpunkt die größere Menge auch immer
den größeren Wert: mag der absolute Wert eines Metzens oder eines Guldens
wie immer stehen, soviel ist jedenfalls gewiß, daß für mich zwei Gulden oder
zwei Metzen, die ich heute habe, mehr wert sind als ein Gulden oder ein Metzen,
den ich heute habe. Und geradeso steht die Sache bei unserer Vergleichung des
Wertes einer gegenwärtigen und einer zukünftigen Produktivmittelmenge. Mag
sein, daß die 470 Produkteinheiten, die man aus einem 1910er Arbeitsmonat
für das Jahr 1916 fertigstellen könnte, weniger wert sind als die 350 Einheiten,
die man daraus für das Jahr 1913 gewinnen kann, und daß die letzteren trotz
ihrer geringen Zahl das wertvollste Produkt sind, das man aus einem 1910er
Arbeitsmonat überhaupt herstellen kann: aber jedenfalls sind dann die 400 Ein-
heiten, die man mit einem Arbeitsmonat aus dem Jahre 1909 für das Jahr 1913
gewinnen kann, noch wertvoller, und der Vorzug der älteren (gegenwärtigen)
Produktionmittelmenge bleibt daher — hier und jederzeit, wie immer man
auch das Beispiel variieren mag — gewahrt.‘
Diehl bemerkt hiezu: *)
„Dies ist richtig, jedoch nur unter einer Voraussetzung, die hier Böhm
stillschweigend macht, die aber gerade für unsere Frage von ausschlag-
gebender Bedeutung ist; gewiß, 400 Produkteinheiten, die man aus einem
1909er Arbeitsmonat für 1913 herstellt, sind mehr wert als 350 Produkt-
einheiten, die man aus einem 1910er Arbeitsmonat für 1913 herstellt,
jedoch nur unter der Voraussetzung, daß diese Produkte überhaupt Wert
1) „Positive Theorie’, S. 458 f.
2) S. 591.
538 Franz X. Weiß.
erlangen; dann ist auch ein Mehrwert vorhanden. Wenn aber die mit
Hilfe des 1909er Arbeitsmonats hergestellten Produkte keine Käufer
finden, wenn sie einen Nichtwert darstellen, kann man da auch noch
behaupten, daß sie mehr wert seien als die mit dem 1910er Arbeitsmarkt
hergestellten 350 Produkteinheiten? Möglicherweise ') erlangen letztere
ebenfalls keinen Wert, dann sind die 400 Produkteinheiten aus dem 1909er
Monat ebenso wertlos wie die 350 aus dem 1909er?) Monat. Kurz, ein
Mehr an Produkten ist gewiß vorhanden, aber ob dies auch zu einem Mehr
an Wert führt, ist Sache des Verwertungsprozesses, ist Sache des spekula-
tiven Kapitalisten, dessen Unternehmen mit einem Gewinn, aber auch
mit Verlust abschließen kann. Die Wertproduktivität muß bei der Frage
des Unternehmergewinnes berücksichtig werden, nicht aber bei dem Zins-
problem.“
„Wenn Böhm meint, ‚sicher ist, daß zwei Metzen Getreide und zwei
Gulden, die ich heute habe, mehr wert sind als eine Metze Getreide und
ein Gulden, die ich heute habe,‘ so hat er die Beispiele sehr geschickt ge-
wahlt; Geld und Getreide sind allgemein beliebte Giiter, die unter allen
Umständen Abnehmer, wenn auch vielleicht zu sehr billigen Preisen finden;
jedoch wenn es sich um Produkte handelt, die wegen Uberfiillung des
Marktes liegen bleiben, oder um solche, deren Qualität das Publikum
nicht befriedigt, dann ist offenbar ein Mehr an Produkten aufzuweisen,
aber nicht ein Mehr an Wert.“®)
Diese Kritik kann unter verschiedenen Gesichtspunkten aufgefaßt
werden. Vielleicht soll sie bloß eine Wiederholung des bereits früher vor-
getragenen Gedankens sein, daß die Mehrergiebigkeit der Produktions-
umwege wohl die Quelle des Unternehmergewinnes, nicht aber des Kapital-
zinses sein könne. Gegen diesen Einwand wäre noch folgendes zu sagen:
1) Von mir gesperrt. — Diehl scheint sich irgend einen anderen Tatbestand
als den von Böhm angenommenen und von Diehl selbst oben im Texte wiedergegebenen
vorzusteilen. Es ist wenigstens nicht recht verständlich, wieso er zu der Meinung
gelangt, daß — wenn 350 Stück einer bestimmten Güterart im Jahre 1913 wertlos
sind — möglicherweise 400 Stück derselben Güterart im gleichen Zeitpunkt ebenfalls
keinen Wert haben. Dies ist doch nicht bloß möglich, sondern vielmehr so sicher
wie nur irgend etwas!
2) Richtig: „1910er“.
3) Ein ähnlicher Einwand bei Hainisch, a. a. O. S. 233 f. — Vgl. überdies
unten S. 559 ff, insbesondere Anmerkung auf S. 560 ff.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 539
Wenn ein Unternehmer infolge der Vergrößerung des Kapitalvorrates
der Volkswirtschaft, der in einer Erniedrigung des Zinsfußes zum Ausdruck
kommt, längere Produktionsumwege im Sinne Böhms einschlägt, zum
Beispiel Arbeiter durch eineMaschine ersetzt, so kann er,wenn er mit dieser
Anpassung seines Betriebes seinem Konkurrenten zuvorkommt, außer dem
Zins des investierten Kapitals allerdings noch einen wirklichen ,,Unter-
nehmergewinn‘“‘, einen Konjunkturgewinn erzielen. Ähnlich wie der Land- |
wirt, der bei stärkerer Nachfrage nach Getreide, die in dessen Preis-
steigerung zum Ausdruck kommt, zu einer intensiveren Bebauung seines
Grundstückes übergeht, außer der Grundrente noch einen Unternehmer-
gewinn erlangen kann, wenn er in der Intensivierung des Betriebes seinen
Konkurrenten zuvorkommt, die also noch nicht mit der Vermehrung des
Angebotes bereit stehen.
Aber dieser Unternehmergewinn wird in beiden Fällen — vollkommen
wirtschaftliches Verhalten und Gleichbleiben aller übrigen Umstände
vorausgesetzt — nicht auf die Dauer bestehen bleiben können. Er wird
vielmehr in beiden Fällen verschwinden, wenn sich die anderen Betriebe
gleichfalls den geänderten Verhältnissen angepaßt haben, was im ersten
Falle durch Einschlagung eines längeren Produktionsweges, im zweiten
Falle durch intensivere Bodenbebauung erfolgen wird; es wird sodann
im ersten Falle nur der Kapitalzins, im zweiten Falle nur die Grundrente
bleiben. |
Es fällt selbstverständlich niemandem ein, zu bestreiten, daß aus
verschiedenen Gründen (besondere Fähigkeit des Unternehmers, glück-
liche Konjunktur usw.) ein echter „Unternehmergewinn‘ erzielt werden
kann. Allein, wenn die von Böhm als Ursachen des Zinses angeführten
Tatsachen der Wirklichkeit entsprechen — und an dieser Stelle hat Diehl
kein Argument dagegen vorgebracht —, so muß sich aus diesen Ursachen
der Zins ergeben, und zwar ganz unabhängig vom Unternehmergewinn:
also, wenn dieser vorhanden ist, neben ihm; wenn dieser nicht vorhanden
ist — im gedachten ,,Gleichgewichtszustande‘‘ —, ohne ihn.
Es ist allerdings sicherlich möglich, daß sich die Produktion eines
Gutes aus irgendeinem Grunde, zum Beispiel infolge eines zu großen
Angebotes, als nicht rentabel erweist, derart, daß nicht nur kein die normale
Verzinsung des investierten Kapitals übersteigender Unternehmergewinn,
sondern nicht einmal diese normale Verzinsung hereingebracht werden
kann. Gilt aber deswegen die These von der Mehrergiebigkeit der Pro-
940 Franz X. Weiß.
duktionsumwege nicht? Bringt etwa deswegen nicht ein längerer Pro-
duktionsweg — mag die Produktion auch zufällig unrentabel sein — eine
erößere Menge Güter hervor als ein kürzerer? Und wird diese größere
Gütermenge nicht — unter sonst gleichen Umständen — einen größeren
‘Wert darstellen als eine kleinere Menge derselben Güter zu derselben Zeit
an demselben Orte? |
Falls dies noch nötig sein sollte, wird die Frage wiederum durch einen
Vergleich am besten geklärt werden:
Wenn — was wohl außer Zweifel steht — ein Grundstück von größerer
Fruchtbarkeit höher im Preise steht als ein minder fruchtbares derselben
Kulturgattung, so liegt die Ursache wohl unbestrittenermaßen darin,
daß das bessere Grundstück mit denselben Kosten mehr Bodenfrüchte
trägt als das schlechtere, und daß jenes größere Quantum unter sonst
eleichen Umständen einen höheren Wert darstellt als dieses geringere.
Wenn nun die Produktion auf beiden Grundstücken zum Beispiel infolge
eines Überangebotes der betreffenden Bodenfrucht sich als unrentabel
erweist — wird hiedurch die größere Ergiebigkeit des besseren Grund-
stückes im mindesten tangiert? Wird ferner trotz mangelnder Rentabilität
nicht gleichwohl die größere Produktenmenge des fruchtbareren Grund-
stückes einen größeren Wert repräsentieren als die kleinere des minder
fruchtbaren ? |
Wie wir sahen, hat Diehl in seinen Ausführungen noch darauf hin-
gewiesen, daß die Produktion eines Gutes sowohl mittels der längeren
als mittels der kürzeren Produktionsmethode auch vollkommen wertlose
Produkte ergeben könne, derart, daß die Produkte „einen Nichtwert
darstellen‘; dann sei, sagt er, „offenbar ein Mehr an Produkten aufzuweisen,
aber nicht ein Mehr an Wert.“
Für den Fall, daß diese Bemerkung nicht etwa nur gleichsam als
Illustration des eben besprochenen und zurückgewiesenen Einwandes —
daß die Mehrergiebigkeit der Preduktionsumwege wohl den Unternehmer-
gewinn, nicht aber den Kapitalzins hervorrufen könne —, sondern wirklich
als vollwichtige, selbständige Einwendung gemeint sein sollte, sei darauf
erwidert, daß die von Diehl vorgenommene Feststellung zwar zweifellos
richtig ist, daß sie aber, wie von vornherein gesagt sei, unseres Erachtens
ebenso zweifellos mit keiner von Böhm aufgestellten Behauptung im Wider-
spruch steht. Gegen die Lehre, daß auf einem längeren Produktionswege Pro-
dukte von größerer Menge und daher von größerem Werte erzeugt werden
Produktionsumwege und Kapitalzins. 541
können, durch den Hinweis darauf zu argumentieren, daß die Produktion
unter Umständen auch völlig wertlose Produkte ergeben könne, erinnert
ein wenig an den Versuch, den Satz von der Allgegenwart Gottes durch
den Hinweis darauf widerlegen zu wollen, daß Gott unmöglich in dem
Hause eines Mannes gegenwärtig sein könne, der — kein Haus habe.
Die Feststellung, daß den Gütern ihr Wert nicht durch die Produktion
verliehen wird, wird sicherlich bei keinem Vertreter der subjektiven Wert-
lehre, also wahrlich auch nicht bei Böhm Widerspruch begegnen. Des
weiteren spricht es kaum gegen eine Zinstheorie, wenn dort, wo unbe-
strittenerweise kein Zins sich einstellt, auch jene Erscheinung nicht ein-
getreten ist, die nach dieser Theorie die Ursache des Zinses ist.
Schließlich kann man Böhm nicht einmal, was übrigens ohne Bedeutung
wäre, eine Ungenauigkeit in der Formulierung zum Vorwurfe machen,
wenn er sagt, daß längere Produktionsumwege in aller Regel mehr Produkte
und daher einen größeren Wertertrag ergeben. Soll es wirklich nicht
gestattet sein, zu sagen, daB mehr Produkte einen größeren Wert haben
als weniger Produkte derselben Art, zu derselben Zeit und an demselben
Orte, weil diese Produkte unter Umständen auch völlig wertlos sein können ?1)
Wird man nicht ohneweiters sagen dürfen, daß ein fruchtbares Grund-
stück einen größeren Wertertrag gibt als ein minder fruchtbares ? Auch
diese Aussage trifft für den Fall nicht zu, daß die auf beiden Grundstücken
erzeugten Produkte wertlos sind.
All dies sei, wie bemerkt, für den Fall gesagt, daB Diehl in der Tat
meinte, mit seinem in Rede stehenden Hinweise ein Argument gegen die
„Wertproduktivität‘‘ der Produktionsumwege zu erbringen.
Böhm führt bei der Erbringung seines ausführlichen, mit einer Reihe
tabellarischer Beispiele belegten Nachweises der „Wertproduktivität‘derPro-
duktionsumwege auch die beiden anderen Umstände an, die nach seiner Lehre
einen Mehrwert der gegenwärtigen gegenüber den künftigen Gütern zu be-
gründen geeignet sind.?) Dies aber nur, um die Darstellung „nicht geradezu
absurd zu gestalten.“ Würde nämlich von jenen beiden Umständen —
der Verschiedenheit der Versorgung in Gegenwart und Zukunft und der
1) Aus besonderer Vorsicht will ich noch beifügen, daß es mir gut bekannt ist,
daß eine größere Gütermenge bei freier Konkurrenz unter Umständen einen geringeren
Tauschwert darstellen kann, als eine kleinere.
2) Vgl. „Positive Theorie’, S 456 ff., insbesondere S. 466 f. Vgl. auch oben
S. 501 ff.
542 Franz X. Weiß.
Unterschätzung künftiger Bedürfnisse — abstrahiert werden, ‚so erhielte,‘‘
wie Böhm sagt, „die Situation das Gepräge der äußersten Unwahrschein-
lichkeit, ja sogar des inneren Widerspruchs. Wäre nämlich der Wert
der Produkteinheit in allen, auch den entlegensten Zeiträumen der gleiche,
so würde natürlich das zahlreichste Produkt zugleich das wertvollste.
Da aber das zahlreichste Produkt durch die langwierigsten, viele Jahrzehnte
umfassenden Produktionsumwege zu erlangen ist, so würde unter dieser
Voraussetzung für alle gegenwärtigen Produktivmittel der ökonomische
Schwerpunkt in äußerst entlegene künftige Zeiträume fallen — was der
Lebenserfahrung ganz zuwider ist."
Demgegenüber sagt nun Diehl: ‘)
„Böhm hat in seiner Rechnung nur geändert, daß er jetzt die beiden
für den Wert mitbestimmenden Elemente mitberücksichtigt, und hat
gezeigt, daB auch unter Berücksichtigung dieser Faktoren die größte
Produktenmenge aus dem 1909er Arbeitsmonat hervorgeht; daß diese
größte Produktsumme aber auch mit einem Plus an Wert verbunden
sein muß, hat Böhm nicht gezeigt; wenn diese Produkte keinen Käufer
finden, wo bleibt da der Mehrwert“ ?
Dem wäre nichts hinzuzufügen als die Bemerkung, daß Böhm mit
der Berücksichtigung der genannten Faktoren, wie sich aus den zitierten
Ausführungen ergibt, gar nicht den Nachweis der Wertproduktivität
der Produktionsumwege führen, sondern nur seine Darstellung lebens-
wahrer gestalten wollte.
Wenn Diehl schließlich sagt, es sei zu beachten, daß alle von Böhm
in seinen, die Ergiebigkeit der verschiedenen Produktionsperioden dar-
stellenden Tabellen?) enthaltenen Ziffern „lediglich fiktive Größen sind,
daß alles auf Annahme, beziehungsweise Schätzungen, beruht, so
ist Diehl damit vollkommen im Rechte. Es ist aber vielleicht nicht über-
flüssig, anzuführen, daß Böhm selbst wiederholt betont, die Ziffern scien
von ihm willkürlich gewählt. Der Zweck dieser Tabellen besteht doch
darin, die Darstellung des Textes durch anschauliche Beispiele lebendiger
und verständlicher zu gestalten.
Die genaue Prüfung der von Diehl an dem Gesetz von der Mehr-
ergiebigkeit geübten Kritik ergiebt demnach, daß kein einziger der zahl-
1) S. 593.
2) Einige dieser Tabellen sind unten auf S. 555 und S. 560 ff wiedergegeben.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 543
reichen, von ihm erhobenen Einwände geeignet ist, die Geltung oder die
Bedeutung des Gesetzes zu erschüttern.
3. Die Einwendungen Emil Saxens.
Im Jahre 1916 veröffentlichte E. Sax ein umfassendes Werk über
den Kapitalzins:), das auf 249 engbedruckten Seiten hauptsächlich eine
Polemik gegen die Zinstheorie Böhm-Bawerks enthält. Das umfangreiche
Buch, das Ergebnis der Arbeit von mehr als fünfundzwanzig Jahren, ist
in der Literatur bisher sehr wenig beachtet worden. Die Ursache dieser auf-
fallenden Erscheinung ist in der Kompliziertheit der Gedankengänge und
der Darstellung zu suchen. Wenn auch eine eingehende Auseinandersetzung
mit den Untersuchungen Saxens eine, zwar nicht dankbare, so doch dankens-
werte Aufgabe wäre, müssen wir uns doch eine umfassende Würdigung der
scharfsinnigen Arbeit versagen; vor allem, weil dies den Rahmen dieser
Abhandlung überschreiten würde, dann aber auch, weil eine Antikritik,
da sie sich mit allen von Sax aufgeworfenen, zum Teil recht unwesentlichen
Zweifelsfragen zu beschäftigen hätte, mit Rücksicht auf den für eine Kritik
ungewöhnlich großen Umfang der Darstellung Saxens ungemein ausführ-
lich sein müßte.:) Hier haben wir uns ausschließlich mit seiner Stellung zur
Lehre von der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege zu befassen.
Doch ist es notwendig, vorher ein Mißverständnis klarzustellen, dem
Sax bei Auslegung der Grundlagen der Böhnischen Zinstheorie verfallen
ist, da dieses Mißverständnis nicht ohne Wirkung auf die Stellung Saxens
zum Mehrergiebigkeitsgesetz geblieben ist.
Die Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege bildet, wie im II. Ab-
schnitte dargelegt wurde, im System Böhm-Bawerk cine von den drei Ursachen
für den Wertvorsprung gegenwärtiger Güter vor künftigen Gütern gleicher
Art und Zahl. Wie sich aus dem Sinne der Argumentation Böhms von
1) Emil Sax, Der Kapitalzins. Kritische Studien. Berlift 1916.
2) Vgl. die eingehende Würdigung des Saxschen Buches bei Hainisch, Eugen
von Böhm-Bawerk und Emil Sax über den Kapitalzins; Zeitschrift f. Volksw., Sozialpol.
u. Verw. 26. Bd., Seite 265ff. Auf diese Abhandlung, die den Einwendungen Saxens
vollinhaltlich zustimmt und sich insbesondere durch die klare Wiedergabe seines schwer
verständlichen Gedankenganges auszeichnet, kann mit Rücksicht auf die gerade in
den Grundfragen der Theorie der unseren diametral entgegengesetzte Auffassung
hier nicht näher eingegangen werden. Auf einzelne, unmittelbar unseren Gegenstand
betreffende Bemerkungen wird im Laufe unserer Darstellung Bezug genommen.
544 Franz X. Weib.
selbst versteht, ist hiebei an den gegenwärtigen Wert der Gegenwartsgüter
und an den gegenwärtigen Wert der Zukunftsgüter zu denken. Sax
wendet sich wiederholt (zum Beispiel S. 29) dagegen, daß Böhm diesen
Gegenwartswert der Zukunftsgüter auf dem Umwege über ihren Zukunfts-
wert erkläre. Demgegenüber ist vor allem festzustellen, daß nach Böhm
nicht die künftige Schätzung künftiger Güter sondern die gegenwärtige
Vorstellung der künftigen Schätzung für den Gegenwartswert dieser
Güter maßgebend ist.t) Sax stellt das Verhalten der Menschen gegenüber
künftigen Bedürfnissen in der Weise dar, „daß sich mit dem Wissen des
Eintretens des künftigen Bedarfsfalles die Erinnerung an die im früheren
Falle bis zur Befriedigung gehabte Unlust verbindet. Die Erinnerung ist
also die Vorstellung vergangener Unlust, beziehungsweise der Unlust,
welche wir wieder zu gewärtigen hätten, wenn wir ihrem Ein-
treten nicht durch Vorsorge für den künftigen Bedarf vor-
beugen.“ (S. 6).?) Im weiteren Verlaufe der Darstellung heißt es, „daß
eben diese Erinnerung“ — aus der von uns unterstrichenen Stelle geht
hervor, daß es richtiger hieße: „eben diese Vorstellung“ — ‚schon
gegenwärtig ein subjektives Bedürfnis auslöse: ‚eine in Begehr
nach Befriedigung auslaufende Sceelenstimmung‘, nur eben gerichtet auf
die Zukunft. Ein solches Begehren sei schwächer als ein gleiches subjektives
Bedürfnis der Gegenwart...“.
Auch Sax muß also die Bedeutung der gegenwärtigen Vorstellung
künftiger Bedürfnisse zugeben*), nimmt aber im Gegensatze zu Böhm an,
daß unser. gegenwiirtiges, auf die Zukunft gerichtetes wirtschaftliches
Handeln nicht durch diese Vorstellung, sondern durch ein gegenwärtiges
Gefühl motiviert sei. Der Einwand Böhms, es lasse sich kein gegen-
wärtiges Gefühl von solchem Intensitätsgrade entdecken, daß daraus die
1) Ebensowenig wie aus einer zukünftigen Kanone heute ein Schuß abgegeben
werden kann, kann eine in der Zukunft erfolgende Wertschätzung an sich auf das
wirtschaftliche Verhalten von irgend jemand heute eine Wirkung ausüben.
2) Im Original nicht gesperrt gedruckt.
3) Allerdings behauptet er — ohne weitere Begründung — an anderer Stelle
(S. 9): „Daß solches Handeln, wie wir es im Alltagsleben beobachten, einen plan-
mäßigen Bedacht auf den künftigen Bedarf zeigt, natürlich ohne Vorstellung des
künftigen Bedürfnisleides, das ja infolge der Vorsorge nicht eintritt (!), bedarf wohj
keiner Ausführung mehr.“ — Dieser Ausführung hätte es wohl bedurft, da doch Sax
selbst in der im Text angeführten Stelle zugibt, daß uns erst die Vorstellung künftiger
Bedürfnisse zur Vorsorge für die Zukunit bestimmt.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 094°)
Wertschätzung der ın der Zukunft zu verwendenden Güter abgeleitet
werden kénnte,1) wird von Sax mit vollständigem Stillschweigen über-
gangen. Wo Sax die Übereinstimmung seiner Konstruktion mit der Wirk-
lichkeit dartun will, spricht er überhaupt nicht. von einem durch künftige
Bedürfnisse ausgelösten gegenwärtigen Gefühl, sondern von dem „Be-
streben, die Wiederkehr der Unlust der Niehtbefriedieung zu vermeiden‘
und fragt, ob denn dieser „Wunsch etwas anderes als ‚eine in Begehren
nach Befriedigung auslaufende Seelenstimmung,“ sei (S. 8). Daß ein
künftiges Bedürfnis, beziehungsweise dessen Vorstellung, in der Gegenwart
eine derartige Willensregung hervorruft, hat Böhm nicht nur niemals in
Abrede gestellt, sondern sogar nachdrücklich hervorgehoben.
Gegen die Auffassung Böhms von unserem Verhalten gegenüber
künftigen Bedürfnissen wendet Sax zunächst ein: Wenn bei gegenwärtigen
Bedürfnissen, die infolge ihrer Nichtbefriedigung bestehende Unlust -- zunı
Beispiel das Hungergefühl —, bei kiinftigen Bedürfnissen aber die Vor-
stellung der künftig zu erwartenden Untust das Motiv für unser Handeln
abgebe, so erscheine „jedenfalls eine zwiespältige Erklärung für einen doch
sicher wesensgleichen Vorgang gegeben“ (S. 7). — Ganz ,,wesensgleich*
scheint es doch wohl nicht zu sein, ob ich bei der Schätzung eines Laibes
Brot gegenwärtig Hunger fühle oder ob ich mir nur bewußt bin, daß ich
ohne den Genuß dieses Laibes Brot morgen Hunger fühlen werde.
Daraus, daß Böhm darauf hinweist, daß die urteilsmäßigen
Schätzungen der Intensität der künftigen Unlustgefühle „ohne Zweifel
von der wirklichen Intensität, mit welcher jene Gefühle in der Zukunft
eintreten, in der Mehrzahl der Fälle differieren‘“, glaubt Sax folgern zu
können, „daß in einem solehen Falle das künftige Wirksamwerden eines
Bedürfnisgefühles... ausgesagt ist.“ (S. 7). Sonderbarerweise ist einem so
aufmerksamen Kritiker wie Sax hiebei entrangen, daß nach Böhms
Ansicht die Bedürfnisfälle nur dann in der Zukunft eintreten, „wenn wir“
— es sei hier eine Redewendung Saxens gebraucht — „ihrem Eintreten
nicht durch Vorsorge für den künftigen Bedarf vorbeugen“.
Ein weiteres Eingehen auf die von Sax aufgeworfene Streitfrage ist
für unsere Zwecke nicht erforderlich. Die Kontroverse lehrt, daB Bohm
im Recht ist, wenn er für die Frage der Motivation durch zukünftige
Bedürfnisse ein Eingehen auf psychologische Details für entbehrlich ansieht.
1) Vgl. Exkurse, 8. 320.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band 37
546 Franz X. Weiß.
Er sagt:1) „Alle Gedankengänge, die ich zur Erklärung des Mehrwerts
gegenwärtiger Güter und weiterhin zur Erklärung der Erscheinung des
Kapitalzinses vorzubringen habe, sind ausreichend fest gestützt, wenn ich
sie nur in die genugsam feststehende Tatsache als Tatsache einankern
kann, daß die Wertgebung und Motivationskraft künftiger Gefühle durch
die Meinung vermittelt wird, die wir uns von der voraussichtlichen
Intensität dieser künftigen Gefühle bilden. Wie die intimeren psychischen
Details dieser Vermittlung beschaffen sind, ändert nichts mehr an dem
(rang der Erklärungen, die an die Tatsache jener Vermittlung anknüpfen.“
Auch Sax macht sich, wie wir sahen, diese von ihm selbst bekämpfte
Anschauung zu eigen, indem er zugibt, daß künftige Bedürfnisse nur durch
Vermittlung der Vorstellung der bei ihrer Niehtbefriedigung in Aussicht
stehenden Unlust motivierend wirken.
Wir hätten die an diesen Partien der Böhmschen Lehren geübte
Kritik Saxens keiner weiteren Betrachtung unterzogen, wenn dieser nicht
ohne ersichtlichen Grund plötzlich von der Behauptung, Böhm erkläre
den gegenwärtigen Wert der Zukunftsgüter in unrichtiger Weise?) aus
ihrem künftigen Wert, zu der Behauptung überspränge, Böhm vergleiche
den Gegenwartswert gegenwartiger Güter überhaupt nicht mit dem gegen-
wärtigen, sondern mit dem zukünftigen Werte der Zukunftseüter, obwohl
Sax diese beiden Schätzungsmäglichkeiten genau auseinanderhält (So S.a2.
53, 59). Da für diese Behauptung gar nichts, gegen sie alles spricht, wird
hierauf und alle hieraus von Sax gezogenen Schlüsse hier im allgemeinen
nicht näher eingegangen. |
Wie gegen die m?isten Behauptungen und Beweisgriinde Böhıns hat
Sax auch gegen die These von der Mehrergiebigkeit eine Fülle von Ein-
wendungen bereit.3) Zunächst behauptet er, „die Theorie der Produktions-
umwege‘“ -— oder vielmehr: die Erklärung des Zinses auf Grund dieser
Theorie — sei auf „die kapitalistische Produktion der Privatwirtschaft ...
zugeschnitten,“ da „um zum Zinse zu gelangen, privatwirtschaftliche
Elem2nte in die Gedankenentwicklung eingeführt (werden), nämlich das
1) Exkurse, S. 325.
2) Sax meint, seinerseits durch die Analogie der,, Wertperspektive einen Beitrag
zur Erklärung des Phänomens der Minderschätzung der Zukunftsgüter geleistet zu
haben (S. 42 ff.), während er in Wahrheit nur eine bildliche Darstellung der hiebei
in Betracht kommenden psychischen Vorgänge geliefert hat.
3) Vgl. insbesondere §§ 14 bis 16 und 51 bis 66.
Produktionsumwege und Kapitalzins. H47
Gewinnstreben und die Konkurrenz von Unternehmern...“ (S. 152). Sax
übersicht, daß es sich hiebei nur um Exeniplifikationen der These von der
Mehrergiehigkeit handelt, die begreiflicherweise an Erscheinungen der
heutigen Wirtschaft vorgenommen werden. Es genügt ein Hinweis auf
die Darstellung des Prinzips der Produktionsumwege, wie sie oben im I. unc
im II. Abschnitt versucht wurde, um darzutun, daB die Entwicklung des
Gesetzes der Mehrergiebigkeit in all seinen Konsequenzen unabhängig von
irgendeiner Organisationsform der Wirtschaft erfolgt ist. Eben diese Dar-
stellung läßt auch erkennen, daß Sax im Unrecht ist, wenn er behauptet,
daß die längere Produktionsperiode. die den Zins enthalten soll, diesen
schon voraussetzte, so daß ein Erklärungszirkel vorliege (S. 175 ff.). Aus
den nicht sehr klaren Argumenten, die Sax für diese Behauptung an der
angeführten Stelle vorbringt, scheint hervorzugehen, daß er in den Echler
jener verfallen ist, die in jedem Hinweis auf den Zins im Verlaufe der Zins-
Erklärung einen circulus vitiosus erblicken.
Im Anfange seiner Kritik des Satzes von der Mehrergiebigkeit hebt
Sax hervor (S. 153), daß Böhm die Anfechtungen, welche dieses Gesetz
erfahren hat, „auf das einläßlichste zu widerlegen bemüht war“; auf der-
selben Seite aber unterliegt er einer Verwechslung, ganz ähnlich jener, die
Böhm bereits aufdeckte, als er Lexis „auf das einläßlichste zu widerlegen
bemüht war“.t) Sax weist ganz richtig darauf hin, daß im Sinne der These
von der Mehrergiebiekeit „mit gleich viel Arbeit mehr Produkt oder das
gleiche Produkt mit weniger Arbeit’ erlangt werden kann (S. 154). Er
meint jedoch weiters, „weniger Arbeit‘ bedeute eo ipso „weniger Zeit‘:
„Es ist also,“ sagt er, „von Anfang an festzuhalten, daß die Verlängerung
der Produktionsperiode mit dem Erfolg einer vermehrten Produktmenge
die Verkürzung der durchschnittlichen ‚Produktionszeit‘ für das einzelne
in dieser Menge enthaltene Stück bedeutet...”
Sax versteht hier unter „Produktionszeit‘‘ bald die zu der Herstellung
eines Gutes notwendige Produktionsperiode, bald die zu dessen Herstellung
notwendige Arbeitsmenge. Gegenüber dieser Verwechslung ist festzustellen,
daß allerdings der ureigenste Sinn der These der Mehrergiebigkeit besagt,
daß durch die Verlängerung der Produktionsperiode eines Gutes ermöglicht
wird, das gleiche Güterquantum mit geringeren Aufwendungen, also, wenn
von Bodenleistungen abgesehen wird, mit einem geringeren Arbeitequantum
1) Exkurse, S.61; ausführlicher: Böhm-Bawerk, Einige strittige Fragen der
„. Kapitalstheorie, Wien 1900; S. 17ff., vgl. auch oben S. 613 ff. und 9. 621 £.
248 Franz X. Weih. ;
\
zu erzeugen. Daher muB auch auf das einzelne Stück ein geringeres Arbeits-
quantum entfallen. Dagegen hat es nicht den geringsten Sinn, zu unter-
suchen, ob bei Verlängerung der Produktionsperiode auch auf die Produkt-
einheit eine längere Produktionsperiode entfalle. Denn dies hängt, wie
leicht ersichtlich, nicht nur von der Ergiebigkeit der Produktion, sondern
auch von der absoluten Größe der erzeugten Produktmenge ab. Wenn
in der (beliebig ergiebigen) zweijährigen Produktionsperiode nieht mindestens
doppelt. so viel erzeugt wird wie in der einjährigen Periode, so ist die auf
eine Produkteinheit entfallende Produktionszeit dort größer als hier. t)2)
Diese irrige Konstruktion ist darauf zurückzuführen, daß Sax die von
Böhm gegebene Erklärung der Erscheinung von der Mehrergiebigkeit
völlig mißversteht. Kr behauptet, in der Darstellung Böhms werde „alles
Kapital in die Arbeit, welche die Güter von ihrem allerersten Ursprunge
an gekostet haben, aufgelöst und dadurch das sekundäre Moment der
Zeit in den Vordergrund gerückt“ (S. 52). „Die Arbeit wird in den Guts-
begriff einbezogen, die Abschnitte der Produktionsperiode sind Arbeits-
einheiten“ (N. In Wahrheit hebt Bohm jedoch wiederholt hervor, daß
die Güter nicht aus Arbeit allein, sondern aus Arbeit und Bodennutzungen
bestehen.) Jlieran wird nichts dadurch geändert, daß Böhm in den
Zahlenbeispielen, die er zur Erläuterung seiner These vorführt, der Ein-
fachheit und leichteren ziffernmiBieen Vergleichbarkeit halber nur von
verschiedenen Arbeitsmengen*) spricht, welche die Erzeugung der Güter
mittels der verschiedenen Produktionsmethoden kostet. Unrichtig ist daher,
daB die Produktionsperiode als der Zeitraum anzusehen wäre, „welcher
von der ersten ursprünglichen Arbeit bis zur Herstellung des Schlub-
produktes verfließt‘‘ (S. 53). Böhm bezeichnet vielmehr als Produktions-
periode ausdrücklich den Zeitraum, „der durchschnittlich zwischen denı
Aufwand der sukzessive In ein Werk verwendeten originéren Produktiv-
1) Dieselbe Verwechslung von Arbeitszeit und Produktionsperiode auch S. 15Sf.:
„In unserem Geiste setzt sich also der Gedanke fest, die Umwegproduktion besteht
in dem addierten Arbeitsaufwand, die Produktionsperiode mithin in der addierten
“cit der vorbereitenden und der vollendenden Arbeit“. Ebenso S. 162 Anm.
2) Der Gedankengang Saxens zeigt auffallende Ähnlichkeit mit der von uns
bekämpften Argumentation O. Conrads (vgl. oben S. 515).
*) Zum Beispiel Pos. Theorie, S. 146 ff.
4) Vgl. beispielsweise a. a. O., S.157: „Kostet zum Beispiel die Herstellung eiues
Genußgutes insgesamt 100 Arbeitstage — von den kooperierenden Bodenleistungen
will ich der Einfachheit halber absehen...“, Ebenso a. a. O., S. 159.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 240)
krafte, Arbeit und Bodennutzungen, und der Fertigstellung der schließ-
lichen Genußgüter vergeht.) Es ist auch unrichtig, daß die These der
Mehrergichigkeit von’Böhm nur für die Arbeit nachgewiesen und dann
„generalisierend als für alle Produktivmittel geltend hingestellt worden
sei (S. 55, ähnlich S. 66f.). Die von Böhm angeführten Beweisgründe sind
vielmehr dazu angetan, die Geltung der These für beide Arten orieinärer
Produktivkräfte, für Arbeit und Boden in gleicher Weise zu erhärten.e!
Mit großer Schärfe wendet sich Sax dagegen, daß durch die Ver-
längerune der Produktiensweee nicht nur mehr Produkt, sondern auch
besseres Produkt mit derselben Produktivmittelmenge erzeugt werden
könne (S. 150 f.). Er stellt den Sachverhalt so dar, als hätte Böhm den
Satz von der Mehreigiebiekeit zunächst nur hinsichtlich der Erzeugung
von mehr Produkt aufgestellt und die Gültiekeit der These erst nach-
träglich auf die Erzeugung von besserem Produkt ausgedehnt. „Die Aus-
dehnung des Konklusums von der Quantität auf die Qualität erscheint
im vorhinein als eine unzulässige Verallgemeinerung‘ (S. 52). Tatsächlich
aber hat Böhm von allem Anfang an behauptet und zu erklären gesucht,
daß man auf klug gewählten Produktionsumwegen mehr oder bessere
Güter erzeugen könne.
Ebenso unberechtigt ist Saxens Behauptung, dab die Subsumtion
jener Fälle unter das Gesetz der Mehrergiebiekeit, in denen der längere
Produktionsweg der einzige ist, um zum Ziele zu selangen®) „einem
Sophisten im herkömmlichen Sinne des Namens alle Ehre machen würde“.
(S. 155) Ähnlich äußert er sich an anderer Stelle: ..Bei allen Gütern,
welche ohne die beziigliche Technik überhaupt nicht oder nicht in gleicher
Qualität hergestellt werden können wie durch jene, entfällt überhaupt der
Gesichtspunkt, denn da das Produkt nicht in Vergleich kommt, so kann
selbstverständlich auch das Zeitmement nicht in Vergleich kommen“.
(S. 52) Es ist keineswegs richtig, daß Böhm hier „eine Umdeutung der
erößeren Menge in ein Wertplus bei Nicht-Mengengütern“ (S. AT) vor-
nimmt. Die Tatsache. daß gewisse Güter nur auf indirektem Were erzeugt
we e a —
1) A. a. 0O., S. 157, ebenso S. 159.
2) Vgl.oben.S.495f. — Daß die Lösung des uns hier beschäftigenden Problems von
der terminologischen Frage, ob die Arbeit in den Gutsbegriff einzubeziehen sei, unab-
hängig ist, erscheint mir im Gegensatz zu Sax (S.53ff., Anm.) zu selbstverständlich,
als daß hierauf auch nur mit einem Wort zurückzukommen wäre.
3) Vgl. oben. S. 496.
90 Frunz X. Weiß.
werden können, ist sicherlieh eine technische Tatsache, welche die
Höherwertigkeit der Gegenwartsgüter in genau demselben Maße und auf
ebendieselbe Art herbeizuführen geeignet ist, wie es durch die Mehr-
ergiebigkeit im engeren Sinne geschieht.
Nach Sax aber reiht sich hieran „sofort ein zweiter Einwand“. Er
hebt hervor, daß „die Lehre, die Einschaltung von technischen Zwischen-
sliedern in den Produktionsprozeß, ergebe notwendigerweise eine Ver-
längerung der Produktionsdauer, eine falsche Generalisierung darstellt‘
(S. 157), daß „das sekundäre Moment der Zeit ... nicht das ausschlag-
gebende ist ..., da das Einschieben technischer Zwischenglieder die Pro-
Auktion noch nicht zu verlängern braucht“. (S. 52) Es ist fast überflüssig,
darauf zu verweisen, dab Böhm auch diesen, bereits früher von anderer
Seite erhobenen, mißverständlichen Einwand ‚auf das einläblichste zu
widerlegen bemüht war“. „Meine These,“ betont Böhmt), „besagt durch-
aus nicht, daß eine Steigerung der Ergiebigkeit nur durch eine Ver-
längerung der Produktionsumwege zu erlangen, oder daß ein solcher Fort-
schritt nur in Verbindung mit einer solchen Verlängerung zu erlangen sei.
Ich habe im Gegenteil ausdrücklich hervorgehoben, daß häufig eine glück-
liche Erfindung auch einen besseren und dabei kürzeren Produktions-
umwee entdecken mag“. Böhm hat ferner ausgeführt, daß zwar die meisten
teehnischen Fortschritte mit einer Verlängerung des Produktionsprozesses
verbunden sind, daß aber für die These der Mehrergiebiekeit die An-
erkennung der Tatsache veniige, „daß es überhaupt eine große Anzahl von
Krfindungen gibt, deren Ausnutzung mit einer Verlängerung der vordem
üblichen Produktionsprozesse verbunden ist**.?)
Daß Sax die „Verlängerung der Produktionsperiode“ und die „Umwer-
produktion“ „im Lichte dieser Erkenntnis“ nicht als gleichbedeutend
ansehen will (S. 157). bedeutet selbstverständlich nichts anderes als den
sachlieh bedeutuneslosen Vorschlag einer abweichenden Terminologie.
Aus dem Umstande, daß die Länge der Produktionsperiode sich einem
eenauen, ziffernmäßigen Kalkül entzieht. folgert Sax die Unmöglichkeit
1) Exkurse, S. D.
2) Exkurse, S.7, 57 ff. und 9. Vgl. auch oben, S. 659 fi. -- Unberechtigt ist
daher auch der Einwand Oppenheimers (Wert und Kapitalprofit, Leipzig 1916,
S. 103): „lin Umweg ist durchaus nicht immer ein Zeitverlust. Das anzunehmen
ist das nowtov Yess: der Agiotheorie.“
Produktionsumwege und Kapitalzins. 551
der Böhmschen Behauptung, dab die produzierenden Wirtschaftssubjekte
ein gröberes Resultat pro Arbeitseinheit durch Verlängerung der Pro-
duktionsperiode herbeizuführen streben (S. 158). Nicht einmal unbewuBt
werde durch Einschaltung technischer Zwischenglieder die Produktions-
dauer verlängert, weil, „wie wir ja eben sahen, auch das Gegenteil der
Fall sein kann“. — Der tatsächliche Hergang im Sinne der Theorie Böhms
ist einfach der folgende: Jeder Produzent strebt, die Produktion möglichst
ergiebig zu gestalten. LABt sich die Ergiebigkeit unter gleichzeitiger Ver-
kürzung der Produktionsperiode vergrößern, so wird dies sofort — nach
Überwindung gewisser Reibungswiderstände -- geschehen. „Eine Volks-
wirtschaft häuft abkürzende vorteilhafte Erfindungen niemals auf Lager
‚an. Ob wenige oder viele, sie stapeln sich nicht auf. Ihrem Auftauchen
folgt ihre Ausnutzung jedesmal auf dem Fuße nach, und zwar ihre völlige
Ausnutzung bis zur Neige... Denn. wenn schon vordem eine Produktion
faktisch Im Gange war, welche einen noch längeren Umweg darstellte, so
müssen in der betreffenden Wirtschaft auch die Subsistenzvorräte ...
umso mehr für den durch die neue Erfindung erforderten kürzeren Pro-
duktionsumweg vorhanden sein.) Anders, wenn die Ergiebigkeit nur
unter gleichzeitiger Verlängerung der bisherigen Produktionswege gesteigert
werden kann. Hiezu ist notwendig, daß der Subsistenzvorrat der Volks-
wirtschaft sich vergrößere; es ist notwendig, daß für die Zeit der Ver-
länserune des bisher eingeschlagenen Produktionsweges Subsistenzvorräte
in irgendeiner Form zu Verfügung stehen.?) Ob der Subsistenzfonds der
Volkswirtschaft groß genug ist, um die Verlängerung des bisher in Übung
sestandenen Produktionsweges zu gestatten, kommt Im jeweilisen Stande
des Zinsfußes zum Ausdruck. Es ist also nicht richtig, daß, wie Sax glaubt,
Wendungen, in welchen geradezu von einem beabsichtigten Produzieren
in einer längeren Periode im Hinblicke auf eine bisher übliche, kürzere,
das ist von einem Vergleiche gesprochen wird ... wörtlich genommen
Unmöglichkeiten“ seien,?) „da man die Länge der Produktionsperiode
nicht kennt“ (S. 158). Als ein in dieselbe Richtung gehender Einwand
ist anscheinend auch folgende Bemerkung Saxens aufzufassen: „So
ungenan die solcherart gewinnbare Vorstellung einer durchschnittlichen
1) Exkurse. S. 11, 10.
2) Vgl. Exkurse, S. 12.
3) Es sei denn, daß „wörtlich genommen’ das Gegenteil von „dem Sinne nach“
bedeuten sollte.
($ e a - .
FyiyO Franz X. Weiß.
Produktionsperiode ist, eines geht aus ihr doch zweifellos hervor: Diese
Produktionsperiode kann im voraus nicht berechnet werden“, (S. 162) Der
Unternehmer braucht doch die Länge der gesellschaftlichen oder der
individuellen, eigenen Produktionsperiode keineswegs zu kennen! Im
Sinne der Lehre von der Mehrergiebigkeit wird er vielmehr stets durch
Verwendung entsprechender Mengen von „Kapital“ in der Produktion die
längste (und daher ergiebigste), durch den geltenden Zinsfuß (das heißt
durch den zu Gebote stehenden Subsistenzvorrat) noch gestattete Pro-
duktionsperiode einschlagen. t)
Sax weist auch darauf hin, daß in der arbeitsteilig gerliederten gesell-
schaftlichen Produktion der einzelne Unternehmer den ganzen Produktions-
prozeß nicht von Anfang an leitet, sondern nur ein Bruchstück, und die
hiebei benötieten Produktionsmittel anderen Unternehmern abkauft. Zu
diesem, von Böhm überaus anschaulich geschilderten Tatbestand, meint
Sax (S. 167): „Das Gütermaß, welches die Unternehmer bei der Produktion
verbrauchen, bedeutet somit die Länge ihrer Produktionsperiode und damit
ist ja auch das zeitliche Zusammenfallen des Produktionsergebnisses mit
dem Verbrauche gegeben. So verstanden wird der Inhalt der Theorie
allerdings sehr einleuchtend... Von der Menge der jeweils vorhandenen
Kapitalien hängt die Menge der Kapitalien ab, die zur Produktion auf-
gewendet werden können. Hat es, um diese überraschende Entdeckung zu
machen, erst der abstrakten Theorie bedurft ?“ — Hier leet eine derart
1) Gegen die übrigen Bemerkungen Saxens in diesem Zusammenhange hier
nur kurz folgendes: Dadurch, daß der Unternehmer die Länge der Produktions-
periode dem ZinsfuB anpaßt, berücksichtigt er die Größe des vorhandenen Sub-
sistenzfonds. Mit Unrecht findet Sax hier einen „Selbstwiderspruch“ (S. 167).
Infolge der Wertüberlegenheit der gegenwärtigen Güter sind diese im Tauschver-
kehre gegen Zukunftsgiiter nur mit einem Agio, dem Zinse, erlangbar. Dab
eine große Nachfrage der Unternehmer (in Vertretung der unmittelbar und mittel-
bar von ihnen beschäftigten Arbeiter) nach Gegenwartszütern bei den Kapitalisten
stattfindet und von diesen großenteils befriedigt wird, ist sicherlich unbestritten.
Auch Sax gibt selbstverständich zu, daß es Kapitalisten gibt, die keine Unter-
nehmer sind (S.190, Anm.). Daß die Unternehmer auch selbst Kapital besitzen
ist ebenso belanglos, wie die Frage, in welchem Ausmaß jene Umsätze zwischen
(iegenwarts- und Zukunftsgütern stattfinden, was von Sax verkannt wird (§ 71).
Wesentlich ist nur, daß der Zins mit Rücksicht auf die Tatsache der Mehrergiebig-
keit als Element in der Kalkulation der Unternehmer erscheint. Auch die übrigen
Einwände der §§ 71 ff. treffen nach dem Gesagten nicht das Wesen der Sache. — Vel.
hiezu auch Exkurse, S. 82 ff.
RS Ei
Produktionsumwege und Kapitalzins. ded
charakteristische Verwechslung von bloßer Beschreibung wirtschaftlicher
Tatsachen mit ihrer ursächlicher Erklärung vor, daß jede weitere Be-
merkung überflüssig ist.
In diesem Zusammenhang zeigt Sax eine Inkunsequenz in der
Terminologie Böhms auf, indem er mit wohlbeeiiindeten, hier nicht näher
auseinanderzusetzenden Argumenten darauf verweist, daß die auf den
Durehschnitt gebrachte absolute Produktionsperiodet) nicht der gleich-
mäßig ausgefüllten, von Böhm als „durchschnittliche‘ bezeichneten Pro-
duktionsperiode, sondern der durchschnittlichen „Wartezeit‘‘ Böhms
an die Seite zu stellen wäre. (S. 160.) Diese Verbesserung der Terminologie
bedeutet keineswegs einen Einwand gegen die „Positive Theorie‘), ins-
besondere nicht gegen die Lehre von der Mehrergiebigkeit. Dasselbe gilt
von den Bemerkungen Saxens über das Verhältnis von Produktions-
periode und Subsistenzfonds. (S. 161ff.) Auch uns scheint dieser Teil der
Darstellung Böhms einer Korrektur bedürftige, die aber durch die Dar-
legungen Saxens keineswegs herbeigeführt ist. Ebenso unterlassen wir es, auf
eine Reihe nebensächlicher unbegründeter Einwendungen einzugehen,
die Sax hier wie auch anderwärts in seine Ausführungen einstreute, da
sonst der Umfang der Darstellung unverhältnismäßig anschwellen und
ihr Zusammenhang darunter allzusehr leiden miiBte.*)
x
t) Vgl. oben, S. 497.
7) Vgl. Pos. Theorie S.160 Anm. Hier erklärt Böhm gegenüber dem Vorschlag
Wicksells, den Ausdruck „Produktionsperiode“ überhaupt fallen zu lassen und
lediglich mit der „durchschnittlichen Wartezeit“ zu operieren, der Sache kein „über-
großes Gewicht beizulegen, da ja wegen der auch von Wicksell hervorgehobenen
‚engen Beziehung beider Begriffe‘ sie sich unschwer substituieren lassen‘.
3) Hier sei nur folgende Polemik herausgegriffen (S. 162 Anm.): „Wenn ein
dauerbares Gut durch Nutzungen eines dauerbaren Vorproduktes zustande koınmt
wie geschieht die Verteilung von diesem auf jenes und anf das dauerbare Schlub-
produkt? Der Gedanke kann hier der Verwicklung gar nicht mehr folgen. Böhm sucht
dem hieraus fließenden Einwande gegen die Lehre durch den Hinweis darauf zu
begegnen, daß, sobald man nur einigermaßen in die Vergangenheit eines Gutes zurück-
geht, alsdann derart kleine Arbeitspartikel als in ihm enthalten resultieren, daB man
sie im Kalkül vernachlässigen könne, wonach man immer nur zu einer kurzen Pro-
duktionsperiode gelange. Das ist eine unhaltbare Ausflucht. ..“* Demgegenüber genügt
die Feststellung, daß Böhm sehr ausführlich gegenüber einem ähnlichen Einwand
dargetan hat (Exkurse, S. 99 f.), daß es für seine Theorie „ganz gleichgültig‘ ist, „ob
die entfernten Beiträge eine vernachlässigenswerte oder eine nicht zu vernachlässigende
Größe sind“. Auf diese Ausführungen Böhms kommt Sax mit keinem Worte zurück.
aD4 l Franz X. Weib.
Völlig mißlungen ist der Versuch Saxens, die Unanwendbarkeit des
Begriffes der Mehrergiebigkeit auf die Vegetationsperiode der Forst- und
Landwirtschaft nachzuweisen. (S. 170 ff., ähnlich S. 80) In ausfüt:rlicher
Weise werden die physikalisch-technischen Unterschiede zwischen Ur-
produktion und Stoftverarbeitung dargelegt.') Nach dieser physiokratisch
anmutenden Argumentation muß Sax als das ,,einzige) gemeinsame
Merkmal, mit Rücksicht auf welches die Zusammenfassung in einen Begriff
erfolgte, die Notwendigkeit des Abwartens des produktiven Erfolges“
anerkennen. (S. 175) Als ob irgend etwas anderes wesentlich wäre! Nur
nebenbei sei bemerkt, daßselbst, wenn die gesamte Urproduktion von dein
Walten des Mehrergiebirkeitszesetzes ausgeschlossen wäre -- gegen seine
Geltung bei Anwendung von Produktivkapital (zum Beispiel Maschinen,
Lagerhäusern) in der Landwirtschaft richtet sich die Saxsche Argumentation
überhaupt nicht! --,dies der Bedeutung des Gesetzes keinen Eintrag tate.
da zu seiner Anwendbarkeit für die Erklärung des Kapitalzinses seine
universelle Geltung nicht erforderlich tst.*)
Sax will aber auch untersuchen, was durch die Lehre von der Mehr-
eretebirkeit „ihr Zutreffen angenommen, für das Wertverhältnis
seyenwärtiger gegen künftige Güter zu beweisen wäre“. (S. 52f.) Zu
diesem Zwecke unterzieht er die von Böhm zur Veranschaulichung seiner
These vorgeführten Zahlenbeispiele einer eingehenden Erörterung.
„Denken wir uns zum Beispiel,“ sagt Böhm an der von Sax zitierten
Stelle®), „wir verfügen im Jahre 1909 über eine bestimmte Quantität von Pro-
duktivmitteln, zum Beispiel über 30 Arbeitstage oder einen Arbeitsınonat, so
werden wir im Sinne des obigen Satzes (von der Mehrergiebigkeit) etwa annehmen
können, daß, in unergiebiester Augenblieksproduktion verwendet, jener Arbeits-
monat nur 100 Produkteinheiten hervorbringt, in einjähriger Produktion dagegen
200 Einheiten, aber natürlich erst für das Jahr 1910; in zweijihriger Produktion
280 Einheiten — für das Jahr 1911 — und so fort in ansteigender Progression
vielleicht 350 Einheiten für das Jahr 1912, 400 Einheiten für das Jahr 1913,
440 für das Jahr 1914, 470 für das Jahr 1915, endlich 500 Einheiten für das
Jahr 1916.
1) Hainisch bemerkt zustimmend (a. a. O. 8.321), „daB Qualitäts- und Wert-
zunahmen, die durch reines Zuwarten erzielt werden, mit der Umwegproduktion nicht
zusammengeworfen werden dürfen.“
*) Vgl. oben S. 522.
*) Pos. Theorie, S. 454 ff.
Produktionsumwege und Kapitalzins. DDD
Vergleichen wir damit, was wir aus der gleichen Produktivmittelmenge,
einem Arbeitsmonat, unter der Bedingung für uns erlangen können, daß dieselbe
uns erst ein Jahr später zur Verfügung kommt. Ein Arbeitsmonat im Jahre 1910
verfügbar, ergibt offenbar für das Wirtschaftsjahr 1909 gar nichts; für das
Jahr 1910 kann man daraus nur unter Anwendung der unergiebigsten Augenblicks-
produktion Früchte ziehen, diesich, wie oben, auf 100 Einheiten belaufen werden.
Für das Jahr 1911 ist die Anwendung einer einjährigen Produktionsmethode mit
dem Ertrage von 200 Einheiten, für das Jahr 1912 eine zweijährige Produktions-
methode mit dem Ertrage von 280 Einheiten usf. möglich. Ganz analog kann
man mit einem Arbeitsmonat. der erst zwei Jahre später, im Jahre 1911 ver-
fügbar wird, für die Befriedigung der Bedürfnisse der Wirtschaftsjahre 1909 und
1910 gar nichts, für das Jahr 1911 in unergiebiger Augenblicksproduktion nur
100 Einheiten, für das Jahr 1912 nur 200, für das Jahr 1913 280 Einheiten usf.
erlangen. Stellen wir den Produktionserfolg, der sich aus der gieichen Menge
gegenwärtiger, nächstjähriger und noch weiter entlegener künftiger Produktiv-
mittel für unsere Bediirfnisbefriedigung ziehen läßt. in eine Tabelle zusammen,
so ergibt dieselbe folgendes Bild:
Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre
. 1916 a | 470
i
ergibt für die Wirt- 1909 | 1910 | 1911 | me
ME M M ataie OO
1909 100 | = = | =
1910 20 | 400 i | as
1911 980 20000; 100 =
1912 300 280) | 200 | 100
1918 wo | 3w j 20 m
1914 440 | 400 | 350 | 280
1915 470 | 440 | 400 BDO
| | 440 400
| |
Sax meint (N. 56), jede kürzere Produktionsperiode zeige in diesem
Beispiele nicht deswegen eine abnehmende Produktmenge, weil sie
spätere (künftige) Arbeit darstelle. sondern eben, weil sie die kürzere sel.
Nur dem flüchtigen Augenblicke erscheine durch die gewählte Darstellung
die Ursache des Resultates von der Zeitdauer auf die Zeitfolge verschoben.
— Wir meinen, es müsse nicht dem flüchtigen, sondern dem richtigen
Blicke klar sein, daß, wenn für irgend einen bestimmten Zeitpunkt eine
Produktenmenge bereitgestellt werden soll, die kürzere Produktionsperiode,
eben weil sie die kürzere ist, auch die spätere Arbeit darstellt. In Fort-
DDG Franz X. Weih.
setzung seiner Kritik des wiedergegebenen Zahlenbeispieles weist Sax
darauf hin, daß mit dem Jahre 1916 wieder eine neue Produktionsperiode
beginne, in der sich bei sonst gleichen Umständen alles wiederholen werde.
„Der Arbeitsmonat des Jahres 1916 wird wieder in Augenblicksproduktion
100, in dreijähriger Produktionsperiode 350, in sieben jähriger 500 Produkt-
einheiten liefern; er wird mithin dem gegenwärtigen Arbeitsmonate des
Jahres 1909 gleichwertig sein, und ebenso der Arbeitsmonat des Jahres
1917 dem des Jahres 1910 usw. desgleichen in jeder folgenden Produktions-
periode. Da haben wir gegenwärtige Arbeit, die künftiger im Werte gleich-
steht." Gegenüber diesen Bemerkungen Saxens ist vor allem festzustellen,
daß Böhm in einer Anmerkung zu der oben angeführten, auch von Sax
wörtlich wiedergegebenen Stelle hervorhebt,') daß er sich deswegen mit
der Darstellung einer nur siebenjährigen Periode begnügt, damit die llu-
stration nicht überflüssig im Umfange anschwelle, ohne andere Tendenzen
und Ergebnisse zum Vorschein bringen zu können. Wesentlich sei, daß sich
alle unsere praktischen Dispositionen über Produktivmittel nicht über jenen
Zeitraum hinaus erstrecken, für den die Regel der Mchrergiebigkeit gilt.
„Man wird“, betont Böhm an anderer Stelle,?) „nirgends und niemals
heobachten können, daß wir in einem bewußten wirtschaftlichen Kalkül
einem jenseits dieser Zone gelegenen Bedürfnisse zu Liebe eine Investition
machen.“ Ohne sich mit diesen Ausführungen Böhms irgendwie aus-
einanderzusetzen, scheint Sax einfach anzunehmen, daß das ökonomische
Kalkül sich über die Zone der Mchrergiebigkeit hinaus erstieckt, als welche
zur Vereinfachung der Darstellung der Zeitraum von sieben Jahren, wie
Sax selbst richtig bemerkt, „als das ökonomisch gestattete Maximum“
angenommen ist.
„Die behauptete Ungleichheit des Wertes“ (gegenwärtiger und künf-
tiger Arbeit), fährt Sax fort, „gilt nur für die Zeit je einer maximalen
Produktionsperiode und das ist auch die Meinung Böhms, wenngleich er
sie nicht in dieser Weise ausspricht. Es reicht dies aber schon hin, die
vage Allgemeinheit des Satzes vom Mehrwerte gegenwärtiger Arbeit als
eine falsche Aussage zu kennzeichnen.‘ Diese Stelle gehört zu denjenigen,
aus denen hervorzugehen scheint, daß Sax allen Ernstes meint, es handle
sich um den Vergleich des gegenwärtigen Wertes gegenwärtiger (1909er}
Arbeit und des künftigen Wertes künftiger (1916er) Arbeit, während
1) Pos. Theorie, S. 455. Anm.
2) Exkurse, S. 352.
Produktionsumwege und Kapitalzins. DDI
¢ sh kein Wort darüber zu verlieren ist, daß Böhm den gegenwärtigen
Wert der Gegenwartsgiiter mit dem in der Gegenwart geschätzten Werte
der Zukunftsgüter in Vergleich setzt.)
„Im richtigen Sinne der Darstellung,’ meint Sax weiters (S. 57),
„zeigt die Arbeit je eines späteren Jahres im Vergleiche mit der Arbeit
früherer Jahre, beziehungsweise der gegenwärtigen Arbeit nur dann ein
geringeres Ergebnis, wenn eine neue Produktionsperiode mit ihr
beginnt. Ist sie jedoch in einer von früher datierenden Produktions-
periode eingeschlossen, «dann weist sie das nämliche Produkt auf, wie
die Arbeit eben dieser Periode vom Anfang an.“ Hiemit ist gemeint, daß,
sobald man sich einmal für eine bestimmte Produktionsperiode entschieden
hat, jeder Arbeitsmonat innerhalb dieser Periode den gleichen Produkt-
anteil liefere. Wenn es also in der obigen Tabelle heißt, daß in der Pro-
duktionsperiode 1909 bis 1914 ein Arbeitsinonat aus dem Jahre 1914
440 Produkteinheiten liefere, so set dies ungenau; es Iiefere vielmehr jeder
Monat innerhalb dieser Periode 440 Einheiten. Daher habe die spätere und
die frühere Arbeit den gleichen Wert. — Diesen Einwendungen ist sicherlich
zuzugeben, daß unter Voraussetzung einer gegebenen Produktions-
methode der unvorhergesehene Ausfall eines späteren Arbeitsmonates im
Zeitpunkte, da er zur Anwendung gelangen soll, möglicherweise den
gleichen, ja vielleicht sorar einen größeren Produktausfall hervorzurufen
vermag als der Entgang des früheren Arbeitsmonates. Ks hängt dies von
der technischen Störung ab, die der Wegfall des betreffenden Arbeits-
quantums mit sich bringt. Es ist ferner zuzugeben, daß, wenn aus irgend-
einem besonderen Grunde die Arbeit Im späteren Zeitpunkte in verhältnis-
mäßig geringeren Mengen zur Verfiigune stehen sollte als früher, dieser Tat-
bestand geeignet ist, den Wert der künftigen Arbeit zu erhöhen.) All
dies aber enthält keinen Einwand dagegen. daß die Mehrergiebigkeit
der Produktionsumwere unter sonst gleichen Umständen den gegen-
wärtigen Gütern einen Wertvorzug verleiht. Es ist hiebei wieder daran
zu erinnern, daß die Produktionsperiode nach Böhm nicht „an der
absoluten Dauer des Produktionsumweges zwischen dem ersten und letzten
aufgewendeten Arbeitsatom™ zu bemessen Ist, sondern „an der dureh-
schnittlichen Weedauet der zwischen dem sukzessiven Aufwand an
1) Vgl. oben S. 546.
2) Vel. Pos. Theorie, S. 444.
58 Franz X. Weib.
Arbeit und Bodenkräften und der Erlangung des Genußnutzens liegt." :)
Eine Verlängerung der Produktionsperiode kann demnach ohne Ver-
längerung deı absoluten Dauer des Produktionsweges auch dadurch herbei-
seführt werden, daß zu Beginn oder in den ersten Zeitabschnitten des
Produktionsprozesses durchschnittlich verhältnismäßig größere Mengen an
Arbeit und Bodenkräften verwendet werden als in den späteren Zeit-
abschnitten. Eine solche Verlängerung des Produktionsprozesses wird in
der Regel die Anwendung anderer Produktionsverfahren voraussetzen, die
im gegebenen Zeitpunkte zwar bereits bekannt sind,?) jedoch derzeit als
unökonomisch nicht in Verwendung stehen. Wenn aber die Tatsache der
Mehrergiebigkeit der — durchschnittlich — längeren Produktionswege
zugegeben wird, so ist damit auch zugegeben, daß von der Verfügung über
segenwärtige Arbeitsmengen (und Bodenkräfte) ein größeres Produkt-
quantum abhängt als von künftigen Mengen.
Es ist daher nicht richtig, daß, wie Sax an der angeführten Stelle’)
meint, der früheren und der späteren Arbeit innerhalb eines und desselben
Produktionsprozesses der gleiche Anteil am Gesamtprodukte zuzurechnen
sei. Allerdings spricht sich auch Böhm, wie Sax nicht verfehlt hervor-
zuheben, in diesem Zusammenhange in demselben Sinne aus*). In Wahr-
heit wäre der früheren Arbeit auf Grund der Mehrergiebigkeit ein
größerer Produktanteil zuzurechnen‘). Eine allfällige Verlängerung der
durchschnittlichen Produktionsperiode wird ökonomischer Weise in jenem
Ausmaße erfolgen, das durch den Wertunterschied von Gegenwarts- und
Zukunftsgiitern (den Zinsfuß) geboten ist. Dieser Unterschied in der
Ergiebigkeit früherer und späterer Arbeit kommt im Lohne zum Aus-
druck; allerdings nicht in der verschiedenen Höhe der ausgezahlten
Lohnsumme, sondern in der Verschiedenheit des Zeitpunktes der Lohn-
1) A. a. O., S. 158 f.
2) Dieses Moment ist wichtig; denn es ergibt sich hieraus, daß das Offenstehen
der Gelegenheiten zu technisch vorteilhaften Verlängerungen des Produktionsprozesses
eine Tatsache statischer Natur ist. (Vgl. oben S. 525.)
3) Vgl. oben S. 557.
. 4) Pos. Theorie, S. 455, Anmerkung 1.
‘) So auch Böhm im Exkurs VI. Die Einwendungen Saxens hiegegen
(a. a. O. $ 74) sind, wie sich aus der Darstellung des Textes ergibt, nicht be-
gründet.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 559
zahlung. Die früher geleistete, ergiebigere Arbeit wird dadurch höher
entlohnt, daß sie ihren Lohn früher erhält, das heißt längere Zeit vor
Fertigstellung des Produktes als die spätere Arbeit; und zwar genau um
so viel früher, als dem Unterschiede in der Ergiebigkeit entspricht.
Wenn Sax aber meint, es finde „der vorausgesetzte Wertungs-
vorgang mangels eines Grundes für einen solchen überhaupt nicht statt“
(S. 59), da doch, wenn einmal die längere Produktionsperivde eingeschlagen
sei, es in den folgenden Jahren keinen Arbeitsmonat geben könne, der für
eine kürzere Periode verfügbar sei, so übersieht er vor allem, daß es sich
um die Wertung handelt, die von der Bestimmung der Länge der Pro-
duktionsperiode erfolgt.
„Um es an Deutlichkeit in der Entwicklung dieses Satzes ... (von
der Mehrergiebigkeit) ... an nichts fehlen zu lassen“, dehnt Böhm die
oben wiedergegebene tabellarische Vergleichung der technischen Er-
giebigkeit verschiedener Jahrgänge von Produktionsmitteln auf ihren
Grenznutzen und Wert aus.t) Der Wert der Produktivmittel hängt, wie
bekannt, vom Werte ihrer Produkte ab. Je nachdem nun ein Arbeitsmonat
in ein-, zwei-, drei- oder zehnjähiiger Produktion investiert wird, wird er
sehr verschiedene Produktmengen liefern. Das Höchstwertige dieser Pro-
dukte wird für den Wert des Produktivmittels maßgebend sein. Dieses
höchstwertige Produkt wird aber keineswegs dasjenige.sein, das die gıößte
Stückzahl enthält: sonst. wäre ja das erst nach einem unmäßig langen
Produktionsprozesse erlangbare Produkt dasjenige, das für den Wert des
Produktivmittels maßgebend ist. Es kommt vielmehr nach Böhm bei
Bestimmung des Wertes der Produkte und daher der Produktivmittel auch
auf die „ersten beiden Gründe‘e) der Minderwertigkeit der Zukunftsgüter
an: auf die Verschiedenheit der Versorgung in Gegenwart und Zukunft?)
und auf die systematische Unterschätzung der künftigen Güter. Der mab-
sebende größte Wert wird also jenem Produkte zukommen, daß unter
Berücksichtigung der „ersten beiden Gründe“ die größte Wertziffer ergibt.
1) Pos. Theorie. S. 459. — Vgl. auch oben S. 559.
2} Siehe oben, S. 502 f.
3) Sax meint (S. 59 Anm.): „Die ‚sich zunehmend verbessernden Versorgungs-
verhältnisse‘ dürfen nur auf die Ergebnisse der in Frage stehenden Produktion bezogen
werden." Er glaubt also, daß infolge der Mehrergiebigkeit des längeren Produktions-
weges in der Zukunft ein größerer Vorrat an den betreffenden Produkten vorhanden
sein wird. Böhm spricht aber, was Sax vollständig zu überschen scheint, von den
560 Franz X. Weiß.
Böhm stellt nun Tabellen zusammen, in der er diese beiden Gründe
mit berücksichtigt:')
„Ein im Jahre 1909 verfügbarer Arbeitsmonat ergibt
7E Perspektiv. reau- a : i
Wahrer zierter Grenz- | Werlsumme des}
Wirtschaftsperiods rodukl: Ur bznuizen | nutzen der \ oe .
c der Einhel”) Einheit) Produktes‘) |
1909 | F F 500
1910 c 5 760
1911 oo $ S40)
1912 : 2E 2 70
1913 2 S00
1914 Ä 2 s! 792
1915 f 6 105
1916 DO 7 500
ee ES . —
:
„im Ganzen sich zunehmend verbessernden Versorgungsverhältnissen eines Indi-
viduums‘“ (Pos. Theorie. S. 462). Er nimmt einfach, wie übrigens auch aus dem Zu-
sammenhange klar hervorgeht, im Sinne des ersten Grundes an, daß ein Individuum
in der Zukunft voraussichtlich im allgemeinen besser mit Gütern versorgt sein wird.
als es in der Gegenwart der Fall ist. Diese bessere Güterversorgung in der Zukunft
hat demnach mit der Mehrergiebigkeit der längeren Produktionswege des in Frage
stehenden Gutes nichts zu tun. Eine Reihe von Einwendungen Saxens (S. 63
Anm., S. 64, 65), sind durch dieses MißBverständnis verursacht und bedürfen daher
keiner we‘teren Erwähnung.
1) Pos. Theorie, S. 463 ff.
2) Mit Rücksicht auf die voraussichtliche bessere Versorgung in der Zukunft
(„erster Grund" Böhms).
3) Wegen der systematischen Unterschätzung der Zukunftsgüter („zweiter
Grund“ Böhms).
4) Nach Sax (S. 66), käme Böhm dadurch, daß er den Wert der Produktmenge
dureh Multiplikation der Anzahl der Produkteinheiten mit dem Grenznutzen der
Einheit berechnet, zu einem unrichtigen Ergebnisse. Denn, wenn die Gütermenge als
Vorrat, als einheitliches Ganzes gewertet würde, so müsse die größere Gütermenge
stets auch als größere Wertsumme erscheinen. Demgegenüber genügt es, auf die
gehäufte Anzahl von Gründen zu verweisen, aus denen Böhm mit Recht zwecks
Vereinfachung der Darstellung davon absehen zu können glaubt, daß der Wert de:
Vorrates größer ist als die Stückzahl, multipliziert mit dem Werte der Giitereinheit.
(Pos. Theorie, S. 461, Anm.) Vor allem ist unrichtig, daß der Wert größerer Vorräte
stets größer sein müsse als der Wert des geringeren Vorrates, zunächst deswegen.
weil es sich, wie gerade aus diesen Ausführungen Böhms hervorgeht, in beiden Fällen
nur um Teilquantitäten je eines Gesamtvorrates handelt, nämlich jeweils um das
ER
. . . = A
Produktionsumwege und Kapitalzins. ool
Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre 1910 ergibt
Reduzierter
(renznutzen
Wahrer
ırenznutzen
Für die
Wirtschaflsperiode Werlsumme
Einheiten (
1909
1910
1911
1912
1913
1914
1915
1916
S80)
600
616
100
720
660
170
Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre 1911 ergibt
| For die | Wahrer Reduzierter er |
| Wirtschaftsperiode Kinbeilen | Grenznutzen Grenznutzen Werlsumme |
ee SS
| 1909 = | 5 | ; z
1910 — | e A 3-8 Ta
1911 100 | 3-8 | 3 | 300
1912 200 | 25 2-2 440
1913 280 23 | 2 | 560
1914 350 | 2-1 1-8 630
1915 100 | 2 | 1:5 600 |
1916 140 | 15 ] | 140 |
Produkt einer Produktivmitteleinheit, die als beliebig klein gedacht werden kann,
also statt als ein Arbeitsmonat auch als ein Arbeitstag. Es ist nun leicht möglich, daß
eine größere (Juantität aus einem sehr großen Vorrat geringeren Wert hat als eine
kleine Quantität aus einem geringeren Vorrat. Übrigens wäre auch, wenn es sich in
beiden Fällen um die gegenwärtige Schätzung der gesamten, in jedem der beiden Zeit-
punkte verfügbaren Produktmenge handelt, möglich, daß der größere Vorrat geringer
gewertet würde als der kleinere: Unter der Voraussetzung nämlich, daß der Wert-
abschlag, den das auf dem längeren Produktionswege erzielbare Produkt infolge der
geringerer Wertschätzung künftiger Güter erfährt, so bedeutend ist, daß dieses
gesamte Produkt trotz seiner größeren Menge geringer gewertet wird, als das geringere
Produktquantum, das auf dem kürzeren Produktionswege, also in einem früheren
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 35
ALS ` z: we
9062 Franz X. Weiß.
Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre 1912 ergibt
Für die RL Wahret Reduzierter i
Kınherileı ‘ ` Werlsumm:
i
Wirtschaftsperiod un 1 Grenznulzen Grenznulzen
1909 | 5 | 5 | =
1910 — | | 3-8 =
1911 | 33 3 | ne
1912 100 2-5 | 9-2
1913 200 | 2-2 > 400
| 1914 280 | 9] 1-8 504
191» 350 | 2 | 1-5 Koz
1916 100 LD | ] 00)
Ziehen wir aus diesen Zusammenstellungen das Ergebnis. Für den im Jahre
1909 verfügbaren Arbeitsmonat ist der für seine eigene Bewertung maßgebende
höchste .erreichbare Produktwert 840, für einen erst im Jahre 1910 verfügbaren
Arbeitsmonat reicht der höchste erzielbare Produktwert nur mehr auf 720, für
einen Arbeitsmonat des Jahres 1911 nur mehr auf 630, für einen Monat des
Jahres 1912 nur mehr auf 525. Es ist also in der Tat der gegenwärtige Arbeits-
monat allen künftigen nicht bloß an technischer Produktivität, sondern auch an
(renznutzen und Wert überlegen.‘
Wenn Sax gegenüber diesen Ausführungen Böhm-Bawerks die
Ansicht äußert, sie höben ,,den früheren Beweisgang, insofern er Wertver-
schiedenheiten nachweisen sollte, auf‘ (S. 62), so ist zu entgegnen, daß
Böhm doch nur eine Vervollstandigung seiner Darstellung vornimmt,
indem er die „ersten beiden Gründe“, von denen er zunächst abgesehen
hatte, als wirkend einführt. Sax weist ferner, in der Meinung, einen Ein-
Zeitpunkte, erzielt werden kann. — Hainisch meint sogar (a. a. O., S. 324 f.), Böhm
hätte, um den Nachweis zu erbringen, daß längere Produktionswege nicht nur mehr
Produkte, sondern auch mehr Wert ergeben, dartun müssen, daß die Produktmenge
bei Verlängerung des Erzeugungsprozesses in stärkerem Maße zunehme, als der Wert
der Produkteinheit infolge wachsender Entfernung von der Gegenwart abnimmt.
Nun sagt Ilainisch selbst, daß „schon die Tatsache, daß dauernd mit Maschinen pro-
duziert wird, als Beweis für die Wertproduktivität der Maschinenverwendung gelten“
kann. Eben diese Erfahrungstatsache setzt Böhm voraus: Würde die Minderschätzung
künftiger (Güter so stark sein, daß sie das Mehr an Produkten, das der Verlängerung
des Produktionsprozesses zu verdanken ist, aufwöge, so würde überhaupt kein Pro-
duktionsumweg eingeschlagen, sondern nur unergiebige Augenblicksproduktion
betrieben werden.
P’roduktionsumwege und Kapitalzins. 365
wand vorzubringen, darauf hin, daß (gemäß der ersten der oben wieder-
gegebenen Tabellen) der 1900er Arhbeitsmonat in zweijähriger Produktions-
periode verwendet wird, die im Jahre 1911 endet, weil eben diese Pro-
duktionsperiode das Wertmaximum ergibt, während ein 1910er Arbeits-
monat (nach der zweiten Tabelle) aus demselben Grunde in vierjähriger
Produktion für das Jahr 1914 verwendet wird: der 1911er Arbeitsmonat
(nach der dritten Tabelle) in dreijährieer Periode ebenfalls für das Jahr
1914, der 1912er Monat schließlich in dreijähriger Produktionsperiode für
das Jahr 1915. „Es wird jetzt,“ sagt Sax (S. 63), „der Vergleich nicht
mehr aufein bestimmtes Jahr bezogen, sondern auf das Wertmaximum.
Nach dem Sinne des Gedankens, welcher den Ansatz des Beweises bildet,
handelt es sich aber doch nur um einen Vergleich früherer mit späterer
Arbeit innerhalb des Zeitranmes, der sich für die Gegenwart als die wirt-
schaftlich vorteilhafteste und daher jeweils tatsächlich eingeschlagene Pro-
duktionsperiode erweist, wie das im früheren bezüglich der Produktmeneen
vehalten wurde.“ Auch hier vermag Sax der Böhnischen Argumentation
nicht zu folgen. Es ist selbstverständlich, dab jene Produktion eingeschlagen
wird, deren kiinftiges Ergebnis im Zeitpunkte des Beginnes der Pro-
duktion den größten Wert hat. Wenn nun je nach der Länge der gewählten
Periode sowohl die Menge als der Wert der Produkteinheiten sich ändert,
so ist klar, daß die Länge der gewählten Periode nicht von vornherein
feststehen kann; es wird vielmehr unter Berücksichtigung beider Umstände,
der Produktgröße und des Produktwertes, jene Produktionsperiode gewählt.
werden, die hinsichtlich des Wertes des gesamten Produktes den größten
Erfolg verspricht. | `
Dagegen, daß die Mehrergiebiekeit der Produktionsunwege auch
segenwärtisen Genußgütern den Wertvorzug vor künftigen verleihen
soll,!) erhebt Sax eine Reihe von Einwendungen; er meint, die gegen-
wärtigen Genußgüter seien deshalb wertvoller als die künftigen, weil
infolge der Mehrergiebigkeit in der Zukunft eine größere GenuBmittelmenve
zur Verfügung stehen werde, „denn nicht in dem Kausalzusammenhanve
zwischen Subsistenzmittel und Produkt, sondern in der Verschiedenheit
der Versorgungsverhältnisse liegt der Grund der verschiedenen Bewertung”.
(S. 69). Hiebet verkennt Sax, daß der Wertvorzug der Gegenwartsgüter
aus dem Titel besserer Versorgung der Zukunft einerseits und aus der
Mehrergicbigkcit der Produktionsumwege andererseitsnur alternativ wirken
~ 1) Siehe oben, S. 503.
364 Franz X. Weiß.
können, da sie einnander ausschließen. t) Denn wenn gegenwärtige
Güter wegen besserer Versorgung der Zukunft höher geschätzt werden
als künftige, so werden sie dem Genußdienst der Gegenwart gewidmet
und können nicht zur Produktion für die Zukunft verwendet werden.
Insoferne die Mehrergiebirkeit infolge der durch sie bewirkten besseren
Versorgung der Zukunft den Wert künftiger Güter herabdrückt,
verringert sie den Werterfolg der Produktion, so daB der Wertvorzug
eegenwärtiger Güter aus dem Titel der Mehrergiebigkeit dadurch eine
Abschwächung erfährt! Schließlich meint Sax gar, die künftigen
(rebrauchserüter müßten, soweit sie als Subsistenzfonds für weitere
Produktion in Betracht kommen, eigentlich mehr wert sein als gegen-
wärtige Güter, da die in der gesteigerten Ergiebigkeit der Umwegpro-
duktion gewonnenen größeren Produktmengen offenbar einen größeren
Subsistenzfonds darstellen und daher das Finschlagen einer längeren und
daher ergiebigeren Produktionsperiode als der früheren gestatten. (S. 70).
Mier übersicht er, daß Böhm doch stets von Schätzungen gleicher Güter-
quantitäten spricht. DaB die größere Produktenmenge der Zukunft auch
in der gegenwärtigen Schätzung höher bewertet werden kann (nicht
muß!) als eine geringere Gütermenge der Gegenwart, dies zu bestreiten
hatte Böhm nicht den geringsten Anlaß.
Die Kritik Saxens an der Theorie der Produktionsumwege gehört
weder dem Inhalte noch der Anordnung der Darstellung nach zu den
bestgelungenen Partien des interessanten Buches, dessen Schwächen gerade
in jenen Ausführungen, mit denen wir uns zu beschäftigen hatten, besonders
hervortreten: Es ist begreiflich, daß die kritische Auseinandersetzung mit
einer Polemik, die Einwand an Einwand oft ohne inneren Zusammenhang
und ohne Hinblick auf den eigenen Standpunkt aneinanderreiht, hohe
Anforderuneen an die Aufmerksamkeit und die Geduld des Lesers stellen
muß.
*
Wenn wir die Anfechtungen, welche gegen die Theorie der Mehr-
ergiebigkeit erhoben wurden, seitdem sie in ihrer letzten Fassung aus-
gesprochen und gegen alle bis dahin erhobenen Einwände verteidigt worden
ist, nach eingehender Prüfung als nicht stichhaltig erkennen mußten, so
solldamit nicht gesagt sein, daß die These von der Mehrergiebigkeit in der
1) Vgl. Pos. Theorie. S. 476ff.
Produktionsumwege und Kapitalzins. 565
von Böhm-Bawerk vorgetragenen Formulierung unanfechtbar sei. Es sollte
bloß eine — wenn der Ausdruck gestattet. Ist — „immanente Antikritik“
geübt werden. Die Zusammenhänge, um die es sich hier handelt, sind
überaus verwickelt und bedürfen einer gar achtsamen Untersuchung:
Mancher Einwand, der gegen die uns beschäftigende These vorgebracht
wurde, scheint dem Kern der Sache nahezukommen, und ist dennoch
verfehlt, weil er vielleicht einem richtiren Gefühl, sicherlich aber einem
unrichtigen Gedanken entsprungen ist. Vor allem aber scheint uns die
Bedeutung des Problems eine auf alle Einzelheiten eingehende Unter-
suchung zu erfordern. Wir glaubten, es einem vorsichtigen Richter der
ersten Instanz gleichtun zu sollen, der sich nicht auf jene Beweisaufnahmen
beschränkt, die nach seiner Rechtsauffassung für die Schöpfung des Urteils
notwendiy sind, sondern auch andere Tatumstände erhebt, die nur für
den Fall in Betracht kommen, daß die höhere Instanz anderer Rechts-
anschauune sein sollte. Ebenso hielten wir in Anbetracht der Bedeutung
des Gegenstandes die eingehende Würdigung aller gegen die These vor-
gebrachten Einwendungen für notwendig.
IV. Kritik des Gesetzes von der Mehrergiebigkeit.
Wenn wir das Gesetz von der Mehrergiebigkeit in seinem Wortlaute,
wie es am Beginne des 1. Abschnittes wiedergegeben ist, !) ins Auge fassen
und an den Tatsachen zu verifizieren suchen, so ergibt sich bei genauer
Prüfung, daß das Gesetz in dieser Form eine Unmöglichkeit behauptet.
Klug gewählte Produktionsumwege sollen hienach „zu einem technischen
Mehrergebnis, das ist zur Erlangung von mehr oder besseren Produkten
mit dem gleichen Aufwand an originären Produktivkräften
führen“. Dies hätte zur Voraussetzung, daß zur Erzeugung irgendeines
bestimmten Gutes auf verschieden langen Produktionswegen originäre Pro-
duktivkräfte (das sind Arbeitsleistungen und Bodennutzungen)*) gleicher
Art verwendet werden. Denn sonst könnten die Mengen der auf den ver-
schiedenen Produktionswegen aufgewendeten Produktivkräfte nicht mit-
einander in Vergleich gesetzt werden. Diese Annahme steht aber mit der
Wirklichkeit in Widerspruch. Abgesehen von verschwindenden Ausnahmen?)
— oe —
1) Siehe oben, S. 494.
:) Vgl. Pos. Theorie, S. 148, 159.
>) Vgl. Anm. auf S. 567.
m sèg’ + > .
OOO Franz X. Weiß.
ist es niemals möglich, eine Gütergattung auf verschieden langen Pro-
duktionswegen mit Produktivgütern gleicher Art herzustellen. Wodurch
sollten sich denn andernfalls diese verschieden langen Produktionsmethoden
sachlich voneinander unterscheiden ? — Eben dieser Einwand, der gegen den
Inhalt der These von der Mehrergiebirkeit zu erheben ist. eilt auch gegen-
über ihrer von Böhm vorgetragenen ursächlichen Erklärung. Wenn er
meint, dab jeder Umweg die Einschaltung einer wirksamen Zwischen-
ursache, die Anwerbung einer Hilfskraft, daß jede Verlängerung des Um-
weges eine Vermehrung der Hilfskräfte bedeute, t) so ist demgegenüber
wiederum darauf hinzuweisen, daß bei Anwerbung dieser Hilfskräfte
Arbeits- und Bodenleistungen anderer Art zur Verwendung gelangen als
auf dem kürzeren Produktionswege. Es ist daher durch die Argumentation
böhns keineswegs erklärt oder auch nur plausibel gemacht. daß durch
Verlängerung des Produktionsweges mit dem gleichen Aufwand originärer
Prodiuktivkräfte ein technischer Mehrerfole erzielt werden könnte.
Bohm sucht die Sehwicrigkeit, die in der Unvergleichbarkeit der in
verschiedenen Produktionsmethoden aufgewendeten Hilfskräfte leet,
dadurch zu umgehen, dab er diese in Arbeitstagen ausdrückt. Von den
mitwirkenden Bodenleistungen sieht er bei Vorführung seiner Beispiele ab.?ı
Gegen diesen Versuch, die orizinären Produktivkräfte in „Arbeits-
tagen” zu messen, gelten jene Argumente, die der Marxschen Arbeits-
werttheorte entgegengehalten werden. Nach dieser Theorie wird bekanntlich
der Wert der Waren durch die zu ihrer Herstellung notwendige Aıbeitszeit
bestimmt, da allen Waren als einzig Gemeinsames nur die Eigenschaft von
Arbettsprodukten zukomme, Hiegegen wendet gerade Böhm unter anderem
folgendes ein:?} 1. In den Waren ist nicht nur Arbeit, sondern auch wert-
volle Naturkraft enthalten, die gleichfalls auf die Höhe des Wertes be-
stinmnenden Einfluß hat. 2. In den verschiedenen Waren ist Arbeit von
verschiedener Qualifikation enthalten; das Produkt hochqualifizierter
Arbeit hat offenbar viel höheren Wert als das Erzeugnis der gleichen Menge
1) Siehe oben, S. 496.
© Böhm hebt dies öfters ausdrücklich hervor. so an der bereits oben, S. 345. Anm.
anzreführteen Stelle? „Kostet zum Beispiel die Herstellung eines Genußgzutes insgesamt
190 Arbeitstage — von den kooperierenden Bodennutzungen will ich der Einfachheit
halber abschen — ...“ Ähnlieh: Exkurse, S. 48 Anm. und an anderen Stellen.
“) Vel. Böhm-Bawerk, Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, HI. Aufl..
S. 520 ff., 550 ff.
° ” . e I | ited
Produktionsumweze und Kapitalzins. DGI
gemeiner Arbeit. — Marx, der diese Ausnahme des Arbeitswertgesetzes nicht
übersehen hat, sucht einen Ausweg dadurch zu finden, daß er ein kleineres
Quantum komplizierter Arbeit einem größeren Quantum einfacher Arbeit
leichsetzt. Dies bedeutet aber nicht die Rettung, sondern das Aufyeben
der Arbeitswerttheorie, da hieduwch zugestanden wird, daß der Wert des
Produktes sich nicht nach der Menge, sondern nach dem Werte der zu
seiner Herstellung notwendigen Arbeit richte. Wenn Böhm nun die
„orieinären Produktivkräfte“, die von ihm selbst als Arbeitsleistungen und
Bodennutzungen definiert werden, in Arbeitstagen mißt, so muß er die
Einwände. die er im ersten Bande seines Werkes in so elänzender Weise
gegen die Arbeitswerttheorie vorgebracht hat, gegen die von ihm im zweiten
Band vorgetrarene Formulierung und Exemplifikation seiner These von
der Mehrergiebigkeit gelten lassen. Dadurch, daß er ausdrücklich erklärt,
von den Bodennutzungen der Einfachheit halber abzusehen, wird der
Irrtum nicht beseitigt.
Fassen wir irgendeines der von Böhm zur Beglaubigung der Mehr-
ersebirkeit vorgefiihrten Beispiele ins Auge, zum Beispiel die verschiedenen
Arten der Steineewinnung (Bearbeitung des Felsens mit Meißel und Hammer
im Gegensatze zur Steingewinnung durch Sprengen). Lassen sich die in
Hammer und Meißel verkörperten "Bodenleistungen (das Erz, die zur
Schmelzung des Erzes notwendigen Brennstoffe usw.) und andrerseits die
in den Sprenestoffen enthaltenen Bodenleistungen auf ein gemeinsames
Maß bringen, so daß mit Recht behauptet werden könnte, der längere
Produktionswee gebe „mit dem gleichen Aufwand originärer Produktiv-
kriifte’ mehr Produkt? — Auch wenn wir die Herstellung irgendeines
anderen Gutes auf verschieden langen Produktionswegen betrachten, zeigt
sich stets, daß die Produktionsmethoden sich nicht nur durch thre ver-
schiedene Länge, sondern auch durch die Verschiedenheit der aufgewendeten
Arbeits- und Bodenleistungen voneinander unterscheiden, ') so daß die in
jeder der beiden Methoden aufrewendeten Produktivkräfte nicht mit-
ı) Vereinzelte Ausnahmen werden durch jene Produktionsmethoden gebildet, bei
denen es sich um die Förderung oder das Gewährenlassen organischer Prozesse
handelt, so die von Böhm als Beispiel herangezogene Forstwirtschaft, die Vieh-
zucht, das Liegenlassen von Wein. Hier bedarf es zur Fortführung der längeren
Produktionswege, die eine Vermehrung oder Verbesserung eines Produktes mit sich
bringt, nicht Arbeits- oder Bodenleistungen von anderer als der auf dem kürzeren
Produktionswege verwendeten Art.
568 Franz X. Weiß.
einander in Vergleich gesetzt werden können. Man denke etwa an den
Transport zu Wasser, durchgeführt mit hölzernen Ruderbooten und mit
einem modernen Ozeandampfer, oder an die Herstellung von Garn mit
dem Spinnrocken im Bauernhause und in einer mechanischen Spinnerei.
Es ist schlechterdings unmöglich zu behaupten, daß die Einheit der im
Ozeandampfer, beziehungsweise in der Spinnfabrik verkörperten Boden-
nutzungen mehr Produkte bringt als die Einheit der Bodennutzungen, die
im Holzkahn, beziehungsweise im Spinnrocken enthalten sind. Denn auch
hier fehlt es an einem gemeinsamen Maße. Das Problem erinnert in seiner
Unlösbarkeit an den bekannten Kinderscherz: „Was ist mehr: 3 Äpfel oder
© Pflaumen?“ |
Aber selbst wenn es gestattet wäre, von den Bodennutzungen der
Einfachheit halber abzusehen, so ist es noch immer nicht zulässig, die
orieinären Produktivkräfte in Arbeitstagen zu messen. Ebenso wie die
Arbeitswerttheorie mit ihrer Behauptung von der Aquivalenz gleicher
Arbeitsquanten nicht Ernst machen kann, sondern zugeben muß, daß eine
Ware, in der zum Beispiel zehn Stunden hochqualifizierter Arbeit enthalten
sind, mehr wert ist als das Produkt von zehn Stunden gemeiner Arbeit, so
ist es auch hier: Die Behauptung, daß der Arbeitstag im längeren Pro-
duktionsprozesse ergiebiger sei als im kürzeren, würde zur Voraussetzung
haben, daß innerhalb eines Produktionsprozesses jedem Arbeitstag der ver-
schiedensten Arbeitsarten das gleiche Produktquantun zu verdanken ist,
denn sonst könnte nieht schlechthin die Wertüberlegenheit gegenwiirtiger
Arbeit gegenüber künftiger gefolgert werden. In den Beispiele des Ozean-
dampfers würde also ein Arbeitstag des Ingenieurs, nach dessen Plänen das
Schiff erbaut ist, ebensoviel zu den Transportleistungen des Dampfers bei-
tragen wie ein Arbeitstag des Schiffsjungen, des Kapitäns oder des Berg-
mannes, der die Kohle fördert, mit der die Schiffskessel geheizt werden.
Ferner wird durch jene Behauptung zugleich ausgesprochen, daß jeder
Arbeitstag im längeren Produktionsprozesse ergiebiger sel als jeder Arbeits-
tag im kürzeren Prozesse ohne Rücksicht auf die Qualifikation der Arbeit!
Der Versuch Böhms, die orieinären Produktivkräfte in Arbeitstagen
zu messen, ist demnach nicht gelungen. Es ist auch nicht möglich, ein
anderes technisches Maß für die Arbeitsleistungen und Bodennutzungen
verschiedener Art zu finden. Der Satz, daß mit dem gleichen Aufwand
von Produktivkräften auf längerem Produktionswege ein Mehrerfolg
erzielt werden kann, ist aber augenscheinlich im eigentlichen Wortsinne
Produktionsumwege und Kapitalzins. 969
nichtssagend, solange die Produktivkräfte nicht mit Hilfe eines MaBes
miteinander verglichen werden können. Als ein solches Maß hommt einzig
und allein der Wert in Betracht. Es kann in der Tat kein Zweifel darüber
bestehen, daß die Erscheinungen, die Bohm als Ausdruck emer größeren
technischen Ergiebigkeit längerer Produktionswege ansah, nichts anderes
als eine größere Wertergiebigkeit!) bedeuten.
Wenn Transporte mit dem Dampfer statt mit dem Kahn ins Werk
gesetzt werden, wenn Garn in der mechanischen Spinnerei statt in Heim-
arbeit mit Handbetrieb erzeugt wird, wenn Steine aus dem Felsen gesprengt,
statt mit der Hand losgebrochen werden, — in allen diesen Fällen ergibt
der gleiche Wertaufwand auf dem längeren Produktionswege einen größeren
Erfolg. Andernfalls wäre dieser längere Produktionsweg nicht eingeschlagen
worden.
Wenn die Höherwertigkeit der gegenwärtigen Güter anerkannt wird.?)
zeigt auch schon der grundsätzlich durchaus mögliche Tatbestand, daß die
Erzeugung einer Güterart auf zwei verschieden Jangen Produktionswegen als
gleich vorteilhaft nebeneinander vorgenommen wird, daß auf dem längeren
Produktionswege mit dem gleichen Wertaufwand ein größerer technischer Erfolg
erzielt wird. Dies ergibt sich aus folgender Erwägung: De: Wert des Produktions-
aufwandes wird durch den Produktwert bestimmt. Der Wert jener beiden
Produktmengen (zum Beispiel Garn), deren Herstellung auf dem längeren
Produktionswege (in der mechanischen Spinnerei) und auf dem kürzeren Wege
(mit der Handspindel) gleichzeitig in Angriff genommen wird, muß daher in
der Schätzung zu Beginn der Produktion gleich sein. Der künftige Wert des
Produktes der längerdauernden Methode erfährt jedoch in der Schätzung zu
Beginn der Produktion einen größeren Abschlag als der Wert des Erzeugnisses
des kürzeren Produktionsweres. Wenn nun beiden Produktmengen in diesem
Zeitpunkte der gleiche Wert beigemessen wird, so muß jenem Produkte, bei
welchem der größere Wertabzue erfolgt, nach Beendigung des Produktions-
prozesses ein größerer Wert zukommen; dies kann aber, unter sonst gleichen
Umständen, nur in der größeren Menge — oder in der besseren Qualität — des
Produktes der langwierigeren Methode seine Ursache haben.
Es ist ferner leicht einzusehen, daß eine weitere Verlängerung des
Produktionsweges über das jeweils erreichte Ausmaß hinaus eine weitere,
und zwar schwächere Steigerung der Ergiebirkeit mit sich bringst. Denn
1) Das die Größe des Wertes hier wie überallauch auf technischen Tatsachen
beruht, ist selbstverständlich und gehört auf ein anderes Blatt.
*) Es kann hier nur die Wirkung der „ersten zwei Ursachen“ (vgl. oben
N. 502 ff.) in Betracht kommen; von der dritten Ursache, der Mchrergiebigkeit,
die hier in Untersuchung gezogen wird, muß abgesehen werden.
10 Franz X. Weiß.
die Erfahrung zeigt, daß eine Verringerung des Wertabschlages künftiger
Güter — die in einer Senkung des Zinsfubes zum Ausdruck konimt!) —
das Einschlagen längerer Produktionswege ermoglicht.2) Die Ursache
hievon kann nur darin gelegen sein, dab die durch die zusätzliche Verlänge-
rung des Produktionsprozesses hervorgerufene Steigerung der Ergiebigkeit
zwar nicht groß genug ist, um die früher bestandene Wertdifferenz zwischen
Gegenwarts- urd Zukunftsgütern aufzuwiegen, wohl aber dazu ausreicht,
um den nuumehrigen geringeren Wertunterschied zu kompensieren.
Ebenso zeigt sich eine größere \Wertergiebigkeit des längeren Produk-
tionsweges, wenn man, statt wie in den vorangehenden Beispielen von
einer Produktart, zum Beispiel Garn, auszugehen, die auf verschieden
langen Produktionswegen aus verschiedenartigen Produktivmitteln her-
gestellt wird, eine Art origmärer Produktivgüter, zum Beispiel Eisenerz,
zum Ausgangspunkte nähme, das in den verschieden langen Produktions-
methoden zur Herstellung verschiedenartiger Produkte verwendet werden
kann;?) etwa auf kürzerem Produktion»wege zur Anfertigung von Nägeln,
auf längerem Were zur Erzeugung von irgendwelchen komplizierten
Apparaten.) Hier sind die Produktionsaufwendungen als technische
Quantitäten, die Produkte aber nur als Wertgrößen vergleichbar. Daraus,
daß das Eisenerz der Erzeugung von Apparaten gewidmet wird, obgleich
es in kurzen Produktionswegen verwendet werden könnte, ergibt sich,
daß auf dem längeren Produktionsweg ein größerer Werterfole erzielt
werden kann.
1) Uber die Erklärung des Zinses soll hiemit nichts gesagt sein.
>) Vel. Exkurse N. 44; ferner oben N. 535.
>) Während Böhm in seinen Beispielen im allgemeinen, wie wir wiederholt fest-
stellten, nicht dem Umstande gerecht wird. daß bei Produktionsmethoden verschiedener
Länge fast niemals gleiche Produkte aus gleichen Produktivgütern hergestellt werden
können. berücksichtigt er dies dort, wo es sich nicht um die Schwierigkeit der Messung
der orieinären Produktivkrifte handelt. Vgl. Pos. Theorie, S. 505 ff.. insbesondere
S. 219. Hier nimmt Böhm in Übereinstimmung mit den Tatsachen an, daß aus einem
Produktivgute in fünfjähriger Produktionsperiode das Produkt x, in zehnjähriger
Periode das andersartige Produkt y hergestellt werden könne.
4) An der Erzeugung von Nägeln und Apparaten wirken auBer dem Eisenerz
eine Reihe anderer Produktivgüter mit. Es handelt sich daher, genau genommen,
nicht um den gesamten Wert der aus der gleichen Menge Eisenerz erzeugten Produkte.
sondern nur um jene Quote ihres Wertes, die dem Eisenerz nach den bekannten
Kegeln der „Zureehnung‘“ zu verdanken ist.
S
Produktionsumwege und Kapitalzins. 1
Analog dem früheren Beispiele wird unter Voraussetzung der Hoherwertig-
keit gegenwärtiger Güter auch schon durch die gleichzeitige Verwendung der-
selben Produktivgüterart in verschieden langen Produktionsprozessen die größere
Werterziebiekeit der linger dauernden Methode erwiesen. Ebenso zeigt auch
hier die erfahrungsgemäß mit einer Erniedrigung des Zinsfußes erfolgende Aus-
dehnung der Produktionswege über ihr bisheriges Ausmaß hinaus. daß die Mehr-
erciebigkeit der länger dauernden Erzeugungsmethoden, und zwar in Immer
schwacherem Ausmaß, auch jenseits der jeweils erreichten \usdehnungsgrenze
fortbesteht.
Dieselpen Einwände, die gegenüber dem Mehrergiebigkeitsgesetze
erhoben werden mußten, treffen auch die Lehre von der „Parallelerscheinung“.
Diese besteht, wie wir saben,') nach Böhm darin, daß bei Herstellung
dauerbarer GenuBeiiter die Dauerhaftiekeit und daher die Menge ihrer
Nutzleistungen oft in stärkerem Verhöltnis gesteigert werden kann als
der Erzeusungsaufwand. So werde zum Beispiel vielleicht ein Hemd aus
Linnen einem Hemde aus Baumwolle in höherem Mab an Dauerhaftirkeit
überlegen sein, als der Differenz der Herstellungskosten entsprechen würde,
ganz abgesehen von jenem Unterschied in den Produktionskosten, der
durch Unterschiede in der Güte der Nutzleistungen hervorgerufen wird.
Böhm bezeichnet auch die „Parällelerscheinung” als eine „technische
Irfahrungstatsache.?) Dies hätte zur Voraussetzung, daß sich die
Herstellung von dauerhafteren GenuBsiitertypen (zum Beispiel von
steinernen Brücken) durch vermehrte Aufwendung jener Arten von Arbeits-
und Bodenleistunzen bewerkstelligen ließe, die der ITerstellung von minder
dauerbaren Typen gleicher Gattung (zum Beispiel von Lolzbriicken)
dienen. Daß dies nicht der Fall ist, daß hiezu vielmehr stets Arbeits- und
Bodenleistungen anderer Art erforderlich sind, geht aus den angeführten
Beispielen zur Genüge hervor. Übrigens wird von Böhm ausdrücklich
ausgesprochen, daß für den verschiedenen Grad der Dauerbarkeit auch
„die Variterung der Materialien, die man zur Herstellung benutzt?)
maßgebend ist.
Die Produktionsaufwendungen, die zur Herstellung von gleichartigen
(renuBeiitern verschiedener Dauerbarkeit dienen, können daher nicht
durch irgendein technisches Maß, sondern wiederum nur durch ihren
Wert verglichen werden. Böhm spricht aber niemals von dem Werte der
I) Siehe oben, N. 498 Í.
-) Pos. Theorie, X. 162.
512 Franz X. Weiß.
zur Herstellung der dauerbaren Güter notwendigen Produktivmittel,
sondern von dem „Erzeugungsaufwande“, den „Kosten, der „Einheit
der aufgewendeten Produktivkräfte‘‘, und dergleichen mehr und hat dabei
offenbar wieder die „Einheit des Arbeitsaufwandes”') im Auge. Sowohl
in den Zahlenbeispielen,?2) an denen er das Wesen der Parallelerscheinung
zeigt (Errichtung mehrerer Gebäude von verschiedener Dauerbarkeit),
wie insbesondere dort, wo er die entscheidenden Folgerungen für die Er-
klärung des Zinses zieht, nimmt er dementsprechend — so wie bei der
Exemplifikation der Mehrergiebigkeit — als einziges Kostenelement die
Arbeit an. Die „Stützen naturwissenschaftlicher oder technologischer
Art“, mit denen Böhm den technischen Charakter der ,,Parallelerseheinung*
dartun will,3) erweisen sich bei näherer Betrachtung als durchaus nicht
zuverlässige. Denn die von ihm angeführten technischen Tatsachen
— massivere Konstruktion, Verstärkung des „schwächsten Punktes —
treffen, wie er selbst zueibt, nur „für manche Gruppen von Fällen“, vor
allem aber für kein einziges der von ihm selbst vorgeführten Beispiele zu.
Es ist klar, daß die Vorteile, die mit der Erzeugung dauerhafterer
(renußgütertypen verbunden sind, nicht der Ausdruck einer größeren
technischen Ergiebigkeit, sondern einer höheren Wertproduktivität
sind. Daraus, daß länger dauernde Giitertvpen irgendeiner Art: erzeugt
werden, obwohl die Herstellung dieser Güterart auch in minder dauer-
hafter Ausführung technisch möglich wäre, geht hervor, daß die Erzeugung
der dauerhafteren Typen ökonomisch vorteilhafter ist, indem hier mit
dem gleichen Wertaufwand mehr Nutzleistungen gewonnen werden.
Dasselbe ergibt sich, bei Anerkennung des Wertvorzuges gegenwärtiger
Güter wiederum schon daraus, daß die beiden Gütertypen nebeneinander
erzeugt werden. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Der Wert eines Gute:
ist offenbar dem Werte der Summe seiner Nutzleistungen gleich.+) Bei den lange
dauernden Gütern dehnt sich nun, wie Bohm an anderer Stelle so trefflich zeigt,>)
„die Abgabe von Nutzleistungen über lange Zeiträume in der Art aus,
daß die späteren Nutzleistungsraten überhaupt nicht oder wenigstens bei ord-
nungsmäßigem, wirtschaftlichem Gebrauche nicht vor Ablauf einer längeren
Zeit empfangen werden können. In Folge davon verfällt der Wert der entlegeneren
Nutzleistungsraten demselben Schicksale wie der Wert künftiger Güter. Eine
1) A. a. O. S. 162, 165, 473.
*) A. 2.0.8. 163 f., 473 f.; vgl. oben, S. 499, 504.
3) Vel. oben, S. 500.
4) Vel. Pos. Theorie, S. 553.
a) Vel. a. a O., S. 554 f.
e = . [2 je -7
Produktionsumwege und Kapitalzins. 13
Nutzleistung, die technisch genau so beschaffen ist wie die heurige Nutzleistung.
aber erst in einem Jahre gewonnen werden kann, ist um etwas weniger, eine
gleiche Nutzleistung, die erst in zwei Jahren fallig ist, abermals um etwas weniger
wert als die heurige, und so vermindert sich der Wert der entlegenen Nutzleistungs-
raten in dem Maße, als der Zeitpunkt ihrer Fälligkeit hinausgerückt ist. Ist die
heurige Nutzleistung zum Beispiel 100 fl. wert, so ist — unter der Annahme einer
Differenz von 5", pro anno — die nächstjährige zweite Nutzleistung in der
heutigen Schätzung nur 95 fl. 23 kr., die drittjährige nur 90 fl. 70 kr., die viert-
jährige 86 fl. 38 kr., die fiinft-. sechst-, siebentjahrige usw. absteigend nur 82°27,
78°35, 74°62 gegenwärtige Gulden wert. Und der Wert des ausdauernden Sach-
gutes selbst ergibt sich nicht mehr aus der Multiplikation des Wertes der laufenden
Nutzleistung mit der Zahl der Nutzleistungen, sondern stellt sich dar als eine
Summe aus einer Reihe abnehmender Glieder. Ein Gut. zum Beispiel eine
Maschine, deren heurige Jahresleistung 100 fl. wert ist, und die imstande ist,
Leistungen von gleicher Güte noch durch weitere fünf Jahre abzugeben, ist
durchaus nicht 6 x 100 = 600, sondern 100 + 95°25 + 90°70 + 86°38 + 82°27
—+ 78°35 = 532 fl. 93 kr. wert.“
Ein Gut von dreijähriger Dauer mit drei Jahresnutzleistungen zu je 100 fl.
wird demnach nicht etwa einem Werte von 3 x 100 = 300 fl., aber auch nicht
etwa der Hälfte des Wertes des sechsjährigen Gutes gleichkommen, sondern
dem Werte von 100 + 95°23 + 90°70 = 28593 fl. Der Wert des Gutes von
sechsjähriger Dauer wird also weniger als das Doppelte des dreijährigen Gutes
betragen. Wenn trotzdem beide (Gütertypen, der sechsjährige und der drei-
Jährige, nebeneinander hergestellt werden. so erhellt daraus, daß bei Erzeugung
des länger dauernden Gutes mit dem gleichen Wertaufwand ein so großes Mehr-
ergebnis an Nutzleistungen gewonnen werden kann, daß hiedurch der sich (durch
die Minderschätzung der späteren Nutzleistungen) ergebende Wertabzug kompen-
siert wird.
Was schließlich das von Böhm als Beweis für die „Parallelerscheinung”
angeführte Scherzwort anlangt: „Ich bin nicht reich genug, um billige
Sachen kaufen zu können“ t), so bezeugt dieser Satz nur, daß für die zeitlich
entfernteren Nutzleistungen der dauerhaften Güter nur ein geringerer
Wertaufwand in der Produktion geleistet, und daher auch nur ein geringerer
Preis gezahlt zu werden braucht, als für zeitlich näher liegende Nutz-
leistungen. Die dauerhafteren Güter gehören eben hinsichtlich der später
zur Abgabe gelangenden Nutzleistungen der entfernteren Zukunft an.
Hier trifft wortwörtlich das zu, was Böhm in so treffender Weise an anderer
Stelle?) über den Preis der Produktionsmittel gesagt hat: „Der Einkauf
ist nicht so billig, als er scheint ... Daß man... hier die größere Zahl
1) Siehe oben S. 500.
2) Pos. Theorie, S. 504.
Dit Franz X. Weiß.
minderwertiger Zukunftsgüter schon durch die kleinere Zahl wertvollerer
(fegenwartsgüter erkauft, heißt ebensowenig ‚billig‘ einkaufen, als es
‚billig‘ ist, wenn man 100 Stück des 50-Gulden-FuBes schen für 60 Stück
des 45-Gulden-Fußes erwirbt.“
In ganz ähnlicher Weise wie früher bei der Erscheinung der Mehr-
ergiebigkeit!} wird hier durch die Erfahrungstatsache, dab eine Senkung
des Zinsfußes die Erzeugung ven Gütern längerer Dauerbarkeit zur Folge
hat, erwiesen, daß sich auch bei der Herstellung von Gütern, welche die
jeweils tatsächlich erzeusten an Dauerbarkeit übertreffen, mit dem gleichen
Wertaufwand mehr Nutzleistungen hervorgebracht werden können,
wobei dieses Mehr an Nutzleistungen beständig mit zunehmender Dauer
der hergestellten Güter abrimmt. Denn dieses Mehr an Nutzleistungen war
nicht groB genag, um bei dem höheren Zinsfuß für den von den
späteren Nutzleistungen erfolgenden Wertabzug zu entschädigen, reicht
aber aus, um den bei Senkung des Zinses sich ergebenden geringeren Wert-
abschlag aufzuwiesen.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Bei kritischer Betrachtung
der Darstellung Böhms ergibt sich, daß es ihm nicht gelungen ist, in
seinen Thesen von der Mehrereiebigkeit der Produktionsumwege und ihrer
Parallelerscheinung technische Tatsachen aufzuzeigen, in denen eine Ur-
sache für die Wertüberlegenheit gegenwärtiger Güter erblickt werden
könnte. Der Versuch, diese Erscheinungen als technische Tatsachen auf-
zuzeigen, mußte mißlingen, da ihm die mit der Wirklichkeit nicht über-
einstimmende Voraussetzung zugrunde liegt, daß anf den verschieden
langen Produktionswegen, die zur Erzeugung einer bestimmten Produktart
eingeschlagen werden können, und in den verschiedenen Produktions-
methoden, die zur Herstellung gleichartiger Güter verschiedener Pauer-
barkeit anwendbar sind, Produktivgüter gleicher Gattung verwendet
werden.
Unsere gegen das Böhmische Gesetz von der Mehrergiebigkeit erhobenen
Einwände erscheinen vielleicht am besten im richtigen Licht, wenn noch-
mals das Gesetz vom abnehmenden Bodenertiag zum Vergleich herangezogen
wird.?) Dieses Gesetz wird noch immer ziemlich allgemein als ein physi-
kalisch-technisches Gesetz angesehen: Die zunehmenden Aufwendungen,
t) Vel. oben, S. 569, 571.
2) Vgl. oben, S. 532.
r
io
Cr
Produktionsumwege und Kapitalzins.
die auf einer gegebenen Bodenfläche von einer gewissen Grenze an nur
sinkende Erträge geben, werden meist als technische Quantitäten auf-
ecfaßt. In Wahrheit setzt aber das Gesetz selbst dort, wo diese Auf-
wendungen in Produktivgütern einer und derselben Art, zum Beispiel in
Arbeitsmengen bestehen, oft schon die Wertbildung voraus, nämlich dann,
weno die nacheinander investierten Arbeitsauantitäten in technisch ver-
schiedener Weise verwendet werden.!) Noch viel deutlicher tritt der öko-
nomische Charakter des Ertragsgesetzes in jenen, weit hiiufigeren Fällen -
hervor, in denen die vorteilhafteste Intensivierung der Produktion durch
Heranziehung von Produktivzütern anderer als der bisher verwendeten
Art besteht. Hier müssen die verschiedenen Aufwendungen, wenn sie
miteinander verglichen werden sollen, als Wertgrüßen aufrefaßt werden,
da ihr Wert die einzige Vergleichsgrundlage bildet. Ähnlich steht es
mit dem Gesetze von der Mehrerriebirkeit und ihrer Parallel-
erscheinung.?) Zur Verlängerung der Produktionsperiode einer Güter-
art und zur Herstellung dauerbarerer Typen von Genußeütern bedarf es
fast ausnahmslos Produktivgüter anderer Art als jener, die in der kürzeren
roduktionsperiode, beziehungsweise bei Herstellung des minder dauer-
haften Gütertypus verwendet wurden. Es echt daher nicht an, von dem
eleichen Aufwand oririnärer Produktivkrifte’ auf kürzeren und
aes
1) Vgl. meinen Artikel ,,Abnehmender Ertrag‘ im Hdw. d. Stw., 4. Aufl.,
1. Bd., S. 13: „Es werde beispielsweise die erste Teilmenge der zur Verfügung stehenden
Arbeitsleistungen zum Pflügen verwendet, die zweite jedoch zum Düngen, da sie hier
einen höheren Ertragszuwachs ergibt. Auch in diesem Falle sind dem äußeren Anscheine
nach Produktivgüter einer und derselben Art vorhanden. Da es sich aber um Arbeits-
leistungen von verschiedener physischer Wirksamkeit handelt, ist es richtiger, sie als
zwei verschiedene Güter anzusehen, die einander substituiert werden Können und denen
daher gleicher Wert zukommt.“ —.
=) Das Gesetz der Mehrergiebigkeit kann, abgesehen von der äußeren Ähnlichkeit
mit dem Gesetz vom abnehmenden Ertrage, als ein besonderer Fall dieses Gesetzes
dargestellt werden. (Vgl. hiezu Taussig, Capital, Interest and Diminishing Returns
Quarterly Journal of Economics, Vol. XXII, 1908; S. 333 ff.) Es ist hiebei davon
auszugehen, daß Böhm großes Gewicht darauf legt, daß die mit der fortschreitenden
Verlängerung der Produktionsperiode verbundenen Mehrergebnisse von sukzessive
abnehmender Größe sind, was in diesem, sowie bereits im ersten Abschnitte (S. 495)
hervorgehoben wurde und auch durch die abnehmende Skala der Mehrerträrnisse
in den auf S. 555 und 560 f. wiedergegebenen Tabellen veranschaulicht wird. Als
der steigende Aufwand, dem ein sinkender Mehrertrag entspricht, sind die Opfer an
Zeit anzusehen, die zur Durchführung der längwierigeren Produktionsmethode not-
wendig sind. Ähnliches gilt sinngemäß von der Parallelerscheinung.
~
~|
Cr
Franz X. Weib.
längeren Produktionswegen, beziehungsweise bei Erzeugung von Genub-
viitern größerer oder geringerer Dauerbarkeit zu sprechen; es sei denn, dab
unter dem „gleichen Aufwand originärer Produktivkräfte‘‘ Aufwendungen
gleichen Wertes verstanden würden. Welche Tatsachen der größeren
Wertproduktivität längerer Produktionswege (und der Verwendung
dauerhafterer Genußgüter) zugrunde liegen, wie diese Tatsachen zu
erklären sind, und in welcher Beziehung sie zum Kapitalzins stehen:
all dies soll noch im folgenden kurz erörtert werden.
Es ist eine merkwürdige Erscheinung, die allerdines in der Geschichte
der Wissenschaften nicht vereinzelt isti) daß Böhm-Bawerk von dem
Wege zu dem mit genialer Konzeption und unübertrefflichem Forscherfleiß
angestrebten Ziel, der Aufhellung des Zinsproblems, gerade deshalb ah-
gewichen ist, weil er ein Erklärungsprinzip, das er selbst in unübertrefflicher
Weise vertreten und zur Geltung gebracht hat, außer acht ließ. Böhm.
der in so hervorragender Weise zu dem Ausbau und der Verbreitung der
Lehre vom subjektiven Wert beigetragen hat, hat hier eine Erscheinung,
die unzweifelhaft der Welt des Wertes angehört, als eine technische Er-
scheinung zu erklären gesucht. Er, zu dessen großen Verdiensten es zählt.
durch seine Kritik der Produktivitätstheorie darauf hingewiesen zu haben,
wie oft die technische Produktivität des Kapitals irrttunlich für seine
Wertproduktivität gehalten wurde, ist in seiner eigenen Zinstheorie in
die entgegengesetzte Verwechslung verfallen, indem er die Wertproduk-
tivität des Kapitals als technische Produktivität ansah. Beinahe noch
merkwürdirer als dieser Irrtum Böhms ist es allerdings, daß keiner seiner
zahlreichen Kritiker, die dem fertigen Gebäude der „Positiven Theorie“
init prüfendem Blicke gegenüberstanden und von denen mancher sichtlich
bestrebt war, nach Art eines advocatus diaboli gegen jeden Gedanken
dieser Theorie jeden möglichen Einwand zu erheben, dieses Irrtums
vewahr wurde.
1)So hat Want, dessen Kritik der herkömmlichen Metaphysik geradezu in der
Feststellung gipfelt, daB die Kategorien nur auf die Erfahrung bezogen werden dürfen.
trotzdem in seiner Transzendentalphilosophie von der Kategorie der Kausalitat Ge-
brauch gemacht. Denn das Verhältnis des ‚Ding an sich“ zur Erscheinung setzt die An-
wendung dieser Kategorie voraus. — Ein anderes Beispiel ist in der Geldtheorie
C. Mengers zu erblicken. Dieser Forscher hat es unterlassen, zur Erklärung des Geld-
wertes das von ihm selbst ersonnene Prinzip des Nutzwertes heranzuziehen. (Vel.
hiezu meine Abhandlung: Die moderne Tendenz in der Lehre vom Geldwert, Zeit-
schrift f£. Volksw., Sozialpolitik und Verwaltung, 19. Bd., 1910, S. 502 ff).
1
Produktionsumwege und Kapitalzins. DI
V. Die Leistungsgliederung und das Wesen der
Produktionsumwege. — Endergebnisse.
Die Lehre von der größeren Ergiebigkeit zeitraubender Produktions-
prozesse gehört zwar nicht zu den populären Erkenntnissen unserer Wissen-
schaft, ist jedoch immerhin des öfteren ausgesprochen worden. Böhnı-
Bawerk verweist wiederholt darauf, daß bereits Rodbertus und
G. Menger die Bedeutung des Einschlagens von Produktionsumwegen
in der Heranziehung von entfernteren Ursachen des Produktions-
erfolges erkannt haben. Menger insbesondere habe ‚namentlich durch die
Aufstellung der ‚Güterordnungen‘ und der Gesetze, die die Güter ver-
schiedener Ordnungen untereinander verbinden, einerseits einen glänzenden
Beweis seiner klaren Einsicht in die verwickelten Erscheinungen des Pro-
duktionswesens geliefert, anderseits der späteren Forschung ein unge-
mein wertvolles Werkzeug an die Hand gegeben‘“.') Vor allem kommen
jene Ausführungen Mengers in Betracht, die „über die Ursachen der
fortschreitenden Wohlfahrt der Menschen‘ handeln.?) Die Darstellung
Mengers erscheint uns vor allem deshalb besonders wertvoll, weil er
jene Vorgänge die von Böhm später in ihrem Wesen als das Einschlagen
von Produktionswegen erfaßt und geschildert wurden, zur Arbeits-
teilung in Beziehung bringt; allerdings ohne den sich daraus ergeben-
den Folgerungen bis ans Ende nachzugehen. Da seine Erörterungen, die
an die bekannten Bemerkungen von Adam Smith über die Bedeutung
der Arbeitsteilung für den wirtschaftlichen Fortschritt anknüpfen, wie
alles, was uns Menger zu sagen hat, von uniibertroffener Tiefe und
Knappheit sind, seien sie im Wortlaute wiedergegeben:
„Adam Smith hat solcherart die fortschreitende Arbeitsteilung zum Angel-
punkte des wirtschaftlichen Fortschrittes der Menschen gemacht, und zwar im
Einklange mit der überwiegenden Bedeutung, welche er dem Arbeitselemente
in der menschlichen Wirtschaft einräumt. Ich glaube indes, das der ausgezeichnete
Forscher, von dem hier die Rede ist, in seinem Kapitel über die Arbeitsteilung
nur eine einzelne Ursache des fortschreitenden Wohlstandes der Menschen ans
Licht gezogen hat, andere nicht minder wirksame jedoch seiner Beobachtung
entgangen sind.
Man denke sich die, der Hauptsache nach okkupatorische, Arbeit eines
australischen Volksstammes noch so zweckmäßig unter die einzelnen Mitglieder
desselben verteilt, eine Anzahl davon als Jäger, andere als Fischer, noch andere
1) Pos. Theorie, S. 143 Anm.; Exkurse, S. 37 f. Vgl. auch oben, S. 496.
2) Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Wien 1871, S. 26 ff.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 39
578 Franz X. Weiß.
ausschließlich mit der Okkupation wild wachsender Pflanzenkost, die Weiber
zum Teile ausschließlich mit der Zubereitung von Speisen, zum anderen Teile
mit der Anfertigung von Kleidungsstücken beschäftigt, ja man führe die Arbeits-
teilung bei diesem Volke in Gedanken noch weiter, so zwar, daß jede Verrichtung
besonderer Art auch durch besondere Funktionäre ausgeführt würde und frage
sich nun, ob eine, wenn auch noch so weit getriebene Teilung der Arbeit jene
vermehrende Wirkung auf die den Mitgliedern des Volkes verfügbaren Genuß-
mittel haben würde, welche Adam Smith als eine Folge der fortschreitenden
Arbeitsteilung bezeichnet. Offenbar wird jenes Volk und so jedes andere, auf
dem obigen Wege die bisherige Arbeitswirkung mit geringerer Anstrengung und
mit der bisherigen Anstrengung eine größere Arbeitswirkung erzielen, also seine
Lave, so weit dies auf den Wege einer zweckmäßigeren und wuksameren Ver-
richtung der okkupatorischen Arbeiten überhaupt möglich ist, verbessern; diese
Verbesserung wird indes doch gar sehr verschieden sein von jener, welche wir bei
wirtschaftlich fortschreitenden Völkern tatsächlich beobachten können. Greift
dagegen ein Volk, anstatt sich lediglich auf die okkupatorische Tätigkeit, das ist
auf das Aufsammeln der vorhandenen Güter niederer Ordnung (in den rohesten
Zuständen der Menschen zumeist Güter erster und etwa zweiter Ordnung), zu
beschränken, zu den Gütern dritter, vierter und höherer Ordnung und schreitet
dasselbe in der Heranziehung von Gütern zur Befriedigung seiner Bedürfnisse
zu, inımer höheren Ordnungen fort, so werden wir, zumal bei zweckmäßiger
Teilung der Arbeit, allerdings jenen Fortschritt in seinem Wohlstande wahrnehmen
können, welchen Adam Smith ausschließlich dem letzteren Umstande zuzu-
schreiben geneigt war.
Wir werden den Jäger, der das Wild mit einer Keule verfolgt, zur Jagd mit
Bogen und Netz, zur Viehzucht, in weiterer Folge zu immer intensiveren Formen
dieser letzteren, wir werden die von wild wachsender Pflanzenkost lebenden
Menschen zu immer intensiveren Formen des Ackerbaues übergehen, Gewerbe
entstehen, sich durch Werkzeug und Maschine vervollkommnen und in engstem
Ausammenhange damit den Wohlstand dieses Volkes sich mehren sehen.
Je weiter die Menschen in dieser Richtung fortschreiten, um so vielfältiger
werden die Güterarten, um so vielfältiger infolge dessen die Verrichtungen, um
so notwendiger und ökonomischer auch die fortschreitende Teilung der Arbeit.
Is ist indes klar, dab die wachsende Vermehrung der den Menschen verfügbaren
Genußmittel nicht die ausschließliche Wirkung dieses letzteren Umstandes ist,
ja daB derselbe nicht einmal als die wichtigste Ursache des ökonomischen Fort-
schrittes der Menschen bezeichnet werden kann, sondern richtig nur als ein Faktor
jener großen Einwirkungen aufgefaßt werden darf, welche das Menschengeschlecht
aus der Roheit und dem Elende zur Kultur und zum Wohlstande führen.
War es auch ein überaus glücklicher Gedanke Mengers, das Heran-
zichen von Gütern höherer“ oder ‚entfernterer‘‘ Ordnung (also das
sinschlagen von Produktionsumwegen)“ der Arbeitsteilung im herkömm-
lichen Sinne gegenüberzustellen, so war es andrerseits nicht richtig, den
Produktionsumwege und Kapitalzins. 919
Gegensatz dieser beiden Erscheinungen hervorzuheben, ohne auf die sie
verknüpfenden Beziehungen hinzuweisen, die Adam Smith nicht ver-
kannt hat. |
Karl Bücher, der in seiner bekannten Abhandlung über das Wesen
und die Wirkungen der Arbeitsteilung!) gleichfalls an das erste Kapitel-
des ., Wealth of nations“ anknüpft, leitet aus den von Smith dort gegebenen -
Beispielen drei Arten der Arbeitsteilung ab: 1. Die Arbeitszerlegung,
die Zerlegung eines sich innerhalb eines Betriebes abspielenden Arbeits-
prozesses in verschiedene Verrichtungen; abgeleitet aus dem allbekannten
Beispiele der Stecknadelerzeugung. 2. Die Produktionsteilung, die
Teilung eines Produktionsprozesses in verschiedene Abschnitte, deren
jeder in einem gesonderten Betriebe vollendet wird (Smithens Beispiel
von der Tucherzeugung durch Schafzüchter, Spinner, Weber, Färber).
3. Die Berufsspaltung oder Spezialisation, die Teilung eines Berufes
in mehrere, nunmehr selbständige Berufe. Smith stellt dem Schmied, der
jede Art Eisenarbeit macht, den Nagelschmicd gegenüber, der sich aus-
schließlich mit der Nägelerzeugung befaßt. — Bücher ist im Irrtum, wenn |
er meint, daß Smith die 4. Art der Arbeitsteilung, die Berufs-
bildung nicht erkannt habe. Seine Beispiele erstrecken sich vielmehr auch
auf diesen Typus, wobei er, ganz wie Bücher”), auch Fälle der Berufsbildung
anführt, die zugleich Beispiele der Produktionsteilung sind.*) Treffend
kennzeichnet Bücher die diesen verschiedenen Arten der Aıbeitsteilung
gemeinsamen Merkmale, indem er darauf hinweist, daß bei all diesen Arten -
„eine wirtschaftliche Leistung von einer Person, der sie bis dahin oblag,
auf mehrere Personen übertragen wird, dergestalt, daß jede der letzteren
fürderhin nur einen differenten Teil der seitherigen Gesamtheit verrichtet.‘“®)
Als letzten Typus der Arbeitsteilung nennt Bücher 5. die Arbeits-.
verschiebung, die ‚bei der Erfindung neuer Maschinen und sonstiger
1) Die Entstehung der Volkswirtschaft. 7. Aufl., Tübingen 1910, VIII. Die
Arbeitsteilung, S. 291 ff.
2) A. a. O. S. 301.
3) Man vergleiche jene Worte des 1. Kapitels, in denen auf die der Arbeitsteilung
in der Landwirtschaft gesetzten Schranken hingewiesen wird: „It is impossible to
separate so entirely the business of the grazier from that of the cornfarmer, as the
trade of the carpenter from that of the smith. The spinner is almost. always a distinct
person from the weaver, but the ploughman, the harrower, the sower of the seed,
and the reaper of the corn are often the same.“ |
+ A. a. 0. S. 300.
580 Franz X. Weiß.
stehender Hilfsmittel der Arbeit‘) hervortritt: ‚Wenn in einem Pro-
duktionsprozeß eine neu erfundene Maschine eingeführt wird, so tritt eine
Veränderung der seitherigen Arbeitsorganisation ein. In der Regel über-
nimmt der Mechanismus nur einzelne Bewegungen, die bis dahin durch
Menschenhand ausgeführt wurden, und in dem Betriebe, welcher die neue
Maschine einstellt, mag sich zunächst nichts weiter ändern, .als daß der
Arbeiter, welcher vorher jene Muskelbewegungen ausführte, zur Bedienung
der Maschine verwendet wird, die andere Muskelbewegungen von ihm
forderte. So arbeitet zum Beispiel nach Einführung der Nähmaschine
der Arbeiter in der Schneiderwerkstätte mit Hand und Fuß, während er
vorher bloß mit der Hand tätig war und mit dieser auch in anderer Weise.
Aber um einen Rock zu produzieren, sind auch schon vorher weit mehr
Personen tätig gewesen als der Schneider ..... Alle diese Produzenten
bleiben auch nach Einführung der Nähmaschine in Tätigkeit. Dazu kommt
aber noch ein neuer: der Maschinenfabrikant, oder, da die Maschine auf
dem Wege der Arbeitszerlegung hergestellt wird, gleich eine ganze Anzahl...
Es ist, wenn wir den ganzen Produktionsprozeß ins Auge fassen, ein Teil
der Gesamtarbeit aus einem späteren in ein früheres Stadium zurück-
geschoben, die Schneiderarbeit ist teilweise aus der Schneiderwerkstätte
in die Maschinenfabrik verlegt worden“. Bücher will den Ausdruck ,, Arbeits-
verschiebung‘‘ in örtlichem und zeitlichem Sinne verstanden wissen.
Das Moment der örtlichen Verschiebung ist jedoch dieser Art der Arbeits-
teilung nicht eigentümlich; da es mit Ausnahme der Arbeitszerlegung auch
für die anderen Typen charakteristisch ist. Wesentlich ist einzig und allein
die zeitliche Verschiebung, die „Ersetzung unmittelbarer, durch vor-
getane Arbeit, Zurückschiebung eines Teiles der Arbeit, welche seither
auf die Herstellung des Gebrauchsguts verwendet wurde, auf die Erzeugung
des Produktionsmittels‘“.
Bücher ist abermals im Irrtum wenn er, ebenso wie Menger?), meint,
daß Smithen auch die Arbeitsverschiebung unbekannt war?), die, wie wir
1) A. a. 0O. S. 302 ff. Es sei bemerkt, daß die neu verwendeten Maschinen in
Wahrheit keineswegs auf neuen Erfindungen beruhen müssen. Vgl. oben, S. 526.
2) Vgl. Anm. 1 auf S. 582.
3) Smith führt zunächst die Anwendung von Maschinen als eines der Mittel an,
durch welche die Arbeitsteilung die Produktivität der Arbeit zu steigern vermag. Die
Erfindung der Maschinen ist hinwiederum der Arbeitsteilung zu danken, und zwar
in doppeltem Sinne; einerseits weil häufig Arbeiter, in einem geteilten Zweige der
Produktionsumwege und Kapitalzins. DRI
nunmehr unschwer erkennen, in nichts anderem besteht, als in dem Ein-
schlagen von Produktionsumwegen, in der Verwendung von Gütern
entfernterer Ordnungen. ')
Wenn auch im allgemeinen die Vorzüge einer eingebürgerten Termino-
logie nicht unterschätzt werden dürfen, ziehen wir hier aus sogleich erkenn- —
baren Gründen vor, den Ausdruck „Arbeitsteilung‘‘ durch den treffenden,
von Wieser vorgeschlagenen?) Ausdruck Arbeitsgliederung zu er-
setzen, der die Organisation der gesamten Arbeit, die gegenseitige Be-
dingtheit und Entsprechung der verschiedenen Arbeitsarten, die auch
nach eingetretener Gliederung nicht aufhören, ein Ganzes zu bilden, deut-
lich hervorhebt. Der Begriff der Arbeitsgliederung ist dem Wort-
sinne nach weiter als der Begriff der Arbeitsteilung, da jener nicht nur die
Fälle umfaßt, in denen eine Teilung ehemals ungeteilter Arbeit erfolgt,
sondern auch alle jene Fälle verschiedenartiger, zu einem gemeinsamen
Ziele zusamınenwirkender Arbeit, die vorden niemals „ungeteilt‘‘ verrichtet
Arbeit beschäftigt, bequemere Herstellungsmethoden ersannen; andrerseits, da viele
Erfindungen von Maschinenbauern und auch von Philosophen und Denkern (philo-
sophers and men of speculation) gemacht wurden; Beschäftigungen, die im Fortschritt
der Gesellschaft zu besonderen Berufen geworden sind. Insbesondere aber faßt Sınith
die Maschinenanwendung selbst, die „Arbeitsverschiebung‘, als Art der Arbeitsteilung
auf, indem er darauf hinweist, welch mannigfaltige Arbeit nötig ist, um das Werkzeug
des geringsten Arbeiters herzustellen: „To say nothing of such complicated machines
as the ship of the sailor, the mill of the fuller, or even the loom of the weaver, let
us consider only what a variety of labour is requisite to form that very simple machine,
the shears with which the shepherd clips the wool. The miner, the builder of the furnace
for smelting the ore, the feller of the timber, the burner of the charcoal to be made
use in the smelting-house, the brickmaker, the bricklayer, the workman who attend
the furnace, the millwright, the forger, the smith must all of them join their different
arts to produce them.“
1) Es bedarf kaum der Hervorhebung, daß auch die „Parallelerscheinung‘ der
Mehrergiebigkeit unter den Begriff der Leistungsverschiebung fällt. Denn auch der
Übergang zur Erzeugung dauerbarerer Genußgütertypen bedeutet eine zeitliche
Zurückschiebung von Arbeit: Wenn z. B. in der Gegenwart, an Stelle von Häusern
dreißigjähriger Dauer Häuser von sechzigjähriger Dauer errichtet werden, so wird
die Arbeit, die nach dreißig Jahren (zur Errichtung eines neuen Hauscs) zu leisten
wäre, durch gegenwärtige Arbeit ersetzt.
2) Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, im Grundriß der Sozialékonomik,
J. Abt., Tübingen 1914, S. 344,
982 Franz X. Weiß.
wurde.') :). Die Arbeitsverschiebung unterscheidet sich nun von den
übrigen Arten der Arbeitsgliederung nicht nur dadurch, daß sie mit einer
Verlängerung der Produktionsperiode verbunden ist, sondern auch dadurch,
daß jeweils auch bestimmten sachlichen Produktivgütern — letzten
Endes also auch bestimmten Bodennutzungen — Leistungen im Pro-
duktionsprozeß zugewiesen werden, die (soferne auch Arbeitsteilung
in dem eben gekennzeichneten engeren Wortsinne vorliegt) chedem von der
menschlichen Arbeit oder von Bodennutzunger anderer Art verrichtet
wurden. „Die Arbeitsteilung unter den Menschen findet ihr Gegenstück
in der Gebrauchsteilung unter den Arbeitsinstrumenten.‘s)
Die Arbeitsleistungen der Menschen und die Nutzleistungen der Sach-
giiter, die ihrerseits wiederum dem Zusammenwirken von Arbeits- und Boden-
leistungen zuzurechnen sind, lassen sich zu dem Begriffe der Nutzleistung
oder der Leistung zusammenfassen*); wir können demnach von einer
Leistungsgliederungsprechen. DieerstgenanntenvierArtenderLeistungs-
gliederung sind ausschließlich Gliederung von Arbeitsleistungen. Auf
sie trifft die oben wiedergegebene Begriffsbestimmung Büchers zur Gänze zu,
da in all diesen Fällen tatsächlich ‚eine wirtschaftliche Leistung von einer
Person, der sie bis dahin oblag, auf mehrere Personen übertragen wird“.
Der letzterwahnte Typus, die Arbeitsverschiebung, die auf der Gliederung
von Arbeits- und Bodenleistungen beruht, wäre sinngemäß Leistungs-
verschiebung zu nennen. Hier erweist sich die Büchersche Definition
als zu eng; die Lristungsverschiebung, sowie die Leistungsgliederung
als der weitere Begriff, sind dadurch gekennzeichnet, daß eine wirtschaft-
liche Leistung von einer Person oder einem sachlichen Produktiv-
mittel auf mehrere Personen oder sachliche Produktivmittel
übertragen wird.) Da die Leistungsverschiebung stets mit einer Änderung
t) Insoferne Menger die Heranziehung von Gütern entfernterer Ordnung
zum Zwecke der Erzeugung von bisher nicht hergestellten Genußgüterarten im Auge
hat, ist er daher im Rechte, wenn er diese Art von „Arbeitsgliederung‘ der Arbeits-
teilung im genauen Sinne des Wortes gegenüberstellt.
2) Bücher verwendet den Ausdruck „Arbeitsgliederung‘ in einer noch weiteren
Bedeutung. (A. a. O. S. 327.)
3) Bücher, a. a. O. S. 312.
4) Vgl. Pos. Theorie, S. 552. — Ebenso Spann, Fundament der Volkswirt-
schaftslehre, Jena 1921, 2. Aufl., S. 75 ff.
5) Der größ:ren Anschaulichkeit wegen sprechen wir hier nur von solchen Fällen
von Leistungsgliederung, die aus einem Zustand ungegliederter Leistungen hervor-
Produktionsumwege und Kapitalzins. N83
des Erzeugungsverfahrens verbunden ist, bedeutet sie nicht nur die Ver-
wendung von Boden- sondern auch von Arbeitsleistungen anderer Art.
Dafür, daß irgend eine technisch mögliche Gliederung der Leistungen
ökonomisch geboten sei, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein.
Vor allem muß dieLeistungsgliederung eine Herabsetzung der Produktions-
kosten mit sich bringen. Wenn auch das Wesen und das Maß der Kosten-
ersparung stets in einer Ersparung von Werterößen besteht, so kann
dennoch bei der Arbeitsglicderung im engeren Sinne die Kosten-
minderung in einfacher Weise dadurch zum Ausdruck gebracht werden,
daß das gleiche Produkt nunmehr mit einer germerren Arbeitsmenge
hervoryebracht wird. Die Kosten sind hier, ohne dab sie ausdrücklich
auf Wertgrößen zurückgeführt werden müssen, miteinander vergleichbar,
da es sich um Arbeit wesensgleicher Art handelt. Denn es obliegt kier jedi m
einzelnen der verschiedenen Agbeiter ein Teil des Gesamtarheitsprezesser,
der früher von einem einzigen Arbeiter verrichtet wurde.)
Die zweite Voraussetzung ergibt sich aus folgender Erwägung:
Mit fortschreitender Gliederung der Leistungen wächst der Minimalumfang
der Produktion. Die gänzlich ungegliederte Produktion kann mit einem
einzigen Arbeiter ins Werk gesetzt werden; die gerineste Gliederung setzt
die Einstellung eines zweiten Arbeiters voraus. Die Produktmenge wird
sich daher in diesem Falle, da die Produktivität der Arbeit gestiegen ist,
um mehr als das doppelte vermehren, so daß das einzelne Produktexemplar
unter sonst gleichen Umständen im Werte sinken wird. Sofern die Arbeits-
gliederung tatsächlich mit einer Erweiterung des Umfanges der Produktion
verbunden ist,*) wird sie nur dann ökonomisch gestattet sein, wenn die
Wertminderung des Produktes geringer ist als die Kostenersparnis. Meist
gegangen sind. Für den Begriff der Leistungsgliederung ist dies. wie bereits hervor-
gehoben wurde, nicht wesentlich. Oft ist der Produktionsumweg „der einzige Weg
zum Ziel“. (Vgl. S. 581 und auch oben, S. 496.)
1) Bei genauer Betrachtung ergibt sich übrigens, daB auch in den Fallen der
eigentlichen Arbeitsgliederung der quantitative Vergleich der Arbeitskosten nicht
immer durchführbar ist. Denn die Arbeitsgliederung bringt eincıseits die besondere
Qualifikation einzelner Arbeiter zur Geltung, während sie andererseits infolge der
leichteren Ausführbarkeit mancher Teilark citen die Heranzichung minder qualifizierter
und schwächerer Arbeitskräfte ermöglicht. Wenn diese Umstände vorliegen. ist die
_ durch die Arbeitsgliederung erzielte Kostensparung nur durch Vergleich des Wertes
der aufgewendeten Arbeitskosten feststellbar.
2) Die Ausdehnung der Produktion muß nicht erfolgen, da die Erzeugung schon
früher in größerem Umfange betrieben worden sein kann, (Vgl. oben, S. 509 f.)
nR Franz X. Weib.
wird dies in der Weise zum Ausdruck gebracht, daß eine bestimmte Größe
des Marktes als Erfordernis der Arbeitsteilung genannt wird. Unter
dicsen Voraussetzungen wird jede technisch mögliche Arbeitsgliederung
verwirklicht werden, da den hieraus entspringenden ökonomischen Vor-
teilen keinerlei Nachteil gegenübersteht. Im stationären Zustand, in dem
über die gesamte vorhandene Arbeitsmenge derart in der zweckmäßigsten
Weise verfügt wird, wird wiederum Wertgleichheit zwischen dem Produkte
und den verminderten Produktionskosten herbeigeführt sein. Auch wenn
der Wert des Produktes und der Wert des Produktionsaufwandes wieder
einander angeglichen sind, ist der technische Vorteil der Arbeitsgliederung,
der seit Adanı Smith unzählige Male erörtert und erklärt worden ist,
nach wie vor deutlich daran erkennbar, daß das gleiche Produktquantum
nunmehr mit einer geringeren Arbeitsmenge hergestellt wird als früher.
Anders ist es mit der Leistungsverschiebung, die, wie bereits
hervorgehoben wurde, in dem Einschlagen längerer Produktionswege und
in der Herstellung dauerbarerer Genußgüter besteht. Für die Leistungs-
verschiebung ist vor allem wesentlich, daß der Zeitraum, der zwischen
dem Einsatz der Produktivkräfte und der Erreichung des GenuBzieles
verstreicht, eine Vergrößerung erfährt. Diese Vergrößerung erfolgt einer-
seits deswegen, weil der eigentliche ProduktionsprozeB — Herstellung
der Zwischenprodukte und der dauerhaften Genußgüter — Zeit erfordert,
insbesondere aber weil langdauernde (Produktiv- und Genuß-) Güter
zu: Anwendung gelangen, die ihre Produkte und Nutzleistungen während
langer Zeitperioden abgeben.) Die infolge der Leistungsverschiebung
ersparten Kosten können nicht in Arbeitsmengen ausgedrückt werden,
denn die Änderung des Erzeugungsverfahrens, in der die Leistungsver-
schiebung besteht, erfordert die Anwendung von Arbeits- und Boden-
leistungen anderer Art.) Die Kostenminderung bedeutet demnach hier
nichts anderes, als daß die gleiche Produktmenge mit einem geringeren
Wertaufwand erzeugt werden kann, d. h. daß die neu herangezogenen
Arbeits- und Bodenleistungen in ihrer früheren Verwendung nur Güter
geringeren Wertes zu erzeugen vermochten. Daß mit einem gegebenen Vorrat
N Das Gesagte gilt gleichermaßen von den Produktionsumwegen wie von der
Herstellung dauerhafterer Genußgüter. Da sich die sinngemäße Anwendung auf die
„„Parallelerscheinung‘“ stets ohne weiteres ergibt, darf von der jedesmaligen aus-
drücklichen Exemplifikation wohl abgesehen werden. — Vgl. auch oben S. 501,
Anm. 1 und 2.
2) Vel. oben N, 565 f. und S. 582,
Produktionsumwege und Kapitalzins. 85
von Produktivmitteln der größte Nutzerfolg dadurch erzielt wird, daß diese
Produktivkräfte groBenteils auf sehr entfernte GenuBziele gerichtet werden,
ist keine vorwiegend technische Tatsache:), da sie außer von dem Stande
der Produktionstechnik auch von den Werten der in den verschieden langen
Produktionsperioden erlangbaren Güter abhängt. Wenn es daher auch nicht
möglich ist, ein technisches Gesetz der Mehrergiebigkeit aufzustellen
und zu begründen, so sind die Ursachen der Vorteile der Leistungsver-
schiebung doch leicht verständlich. Zunächst ist auf die von Böhm in
Anknüpfung an Menger gegebene, glänzende Schilderung des Produktions-
prozesses hinzuweisen. Die Einschaltung von Zwischenprodukten, die
Heranziehung von Gütern entfernterer Ordnung, die ein stetes, stufenweises
Fortschreiten von der bloßen Einsammlung der von der Natur freiwillig
dargebotenen Genußgüter zu immer vollkommenerer Beherrschung der
Natur bedeutet, ist unstreitig wenigstens in den meisten Fällen mit einem
größeren Zeitaufwand verbunden. Für die Größe dieses Zeitaufwandes ist
nicht so sehr die Dauer jener eigentlichen technischen Teil-Produktions-
prozesse, in denen die Produktionsmittel und die Genußgüter hergestellt
werden, als vielmehr die Lange der Nutzdauer derProduktionsmittel und
Genußgüter von Bedeutung. Es ist zwar nicht deduktiv erweisbar, aber
im Hinblick auf die Erfahrung überaus einleuchtend, daß die Menge des
mit den vorhandenen Produktivelementen erzielbaren Nutzens dadurch auf
das Höchste gesteigert wird, daß diese Produktivkräfte zur Erzeugung lang-
dauernder Produktionsmittel:) und Genußgüter herangezogen werden, wie
es durch die moderne Produktionstechnik in weitem Maße ermöglicht und
geboten wird. Die Vorteile des Gebrauches langdauernder Güter liegen dort
besonders klar zutage, wo es sich um Produkte handelt, die auf kürzerem
Wege nicht erzeugt werden können, oder um Produktionsmittel, die in
kürzeren Perioden technisch nicht verwendbar sind. Aber auch in jenen
weit häufigeren und wichtigeren Fällen, in denen die Produkte auch mit
kürzer dauernden Methoden herstellbar sind und die Produktivmittel auch
auf kürzeren Produktionswegen verwendet werden können — also in den
Fällen der eigentlichen Leistungsverschiebung —, sind weitausholende Pro-
N ) Vel. « oben S. 667 f.
2) Zu den dauerbaren Produktivgütern sind hier auch die Verbesserungs-
anlagen an Grund und Boden und insbesondere die Verkehrsmittel und Verkehrs-
anlagen (Eisenbahnen, Straßen, Schiffahrtskanäle) zu rechnen. — Über die wachsende
Bedeutung der ,, Werkgiiter‘ bei fortschreitender Wirtschaft ee Wieser, Theorie
der ges. Wirtsch., S. 178,
DRO Franz X. Weiß.
duktionsmethoden sehr häufig vorteilhaft’): Die Produktivkrafte erlangen,
anstatt in der Gegenwart oder in naher Zukunft einen Nutzen geringer
Dauer zu stiften, in Gestalt von Dauergütern die Fähigkeit, hauptsächlich
durch Befriedigung von Bedürfnissen anderer Art, größere Nutzmengen
abzugeben. Da die dauerbaren Güter dem Bedürfnisstande langwährender
Zeiten dienen, kommt jedem einzelnen ihrer Produkte (und jeder einzelnen
Nutzleistung), trotz deren großer Gesamtmenge, zur Zeit ihrer Genußreife
verhältnismäßig hoher Wert zu. Doch sind der Ausdehnung der Leistungs-
verschiebung schon aus technischen Ursachen gewisse, allerdings sehr weite
Grenzen gezogen. Es wird stets Bedürfnisse geben, für die in „Augenblicks-
produktion“ oder doch auf kurzen Produktionswegen vorgesorgt ‚werden
muß; und auch der Gebrauch langdauernder Produktiv- und Genußgüter
bedarf stets der Unterstützung durch laufende Arbeit und durch minder
ausholende Produktion.
Wenn, was allerdings hinsichtlich der Existenzbedürfnisse physisch
unmöglich, und auch bezüglich der anderen Bedürfnisse kaum vorstellbar
ist, dem Zeitpunkte desEintrittes der Bedürfnisbefriedigung keine Bedeutung
zugemessen würde, so würden diein verschiedenen Zeiten zur Verfügung ge-
“ langenden Güter als einheitlicher Vorrat gewertet. Da es in diesem Falle
gleichgültig wäre, in welchem Zeitpunkt das Produkt erlangt wird, so würde
jene Produktionsperiode gewählt werden, die ohne Rücksicht auf ihre Dauer
den größten Erfolg verheißt. Jedes Produktivgut würde in solchem
Mengenverhältnis in kürzeren und in längeren Produktionsprozessen
zur Erzeugung verschiedenartiger Produkte investiert werden, daß die
verschiedenen einzelnen Produkte, die aus der gleichen Menge des
Produktivgutes entstanden sind, sowohl einander als auch jener Menge des
Produktionsmittels im Werte gleich sind. Eine Wertdifferenz zwischen
Produkt und Produktionsmittel würde nach ‚Vornahme einer als rationell
erkannten Leistungsverschiebung ebensowenig bestehen bleiben können,
wie etwa nach Durchführung einer zweckmäßigen Arbeitsgliederung.
In Wahrheit aber macht sich hier die Minderschätzung künftiger
Bedürfnisse und Güter geltend, von deren Wirkung bisher abge-
schen wurde. Längere Produktionsperioden werden, da ihr Produkt erst
später erlangt wird, nur dann eingeschlagen werden, wenn der durch die Ver-
1) Über die generelle Natur vieler Dauertypen von Produktivgütern, die in
den : verschiedensten Produktionszweigen Anwendung finden können, s. Exkurse,
S 14 f. und oben S. 526. |
Produktionsumwege und Kapitalzins. DRT
längerung der Periode entstehende Mehrnutzen größer ist als der wegen
der späteren Erlangbarkeit des Produktes in der Gegenwartswertung
erfulgende Schätzungsabschlag; kürzere Perioden, welche gegenüber
der derzeit eingeschlagenen größere oder auch nur gleiche Ergiebigkt it
aufweisen, werden dagegen stets gewählt werden. Daher ist es im Zustande
wirtschaftlichen Gleichgewichts niemals möglich, im Rahmen der bce-
kannten Erzeugungsmethoden durch Verkürzung der tatsächlich ein-
geschlagenen Produktionsperioden größeren Nutzerfolg zu erzielen; wohl
aber wird es stets längere Produktionsperioden geben‘), welche manche
der derzeit angewendeten zwar an Ergiebigkeit übertreffen, deren Mehr-
ergiebigkeit aber nicht groß genug ist, um den wegen der längeren Dauer
der Produktion erfolgenden Wertabschlag auszugleichen.
Ebenso wie die Minderschätzung künftiger Güter nur das Einschlagen
solcher Produktionsumwege gestattet, deren Produkte einen dem Grade
der Minderschätzung entsprechend größeren Nutzen gewährleisten, ver-
hindert sie andrerseits, daß dieser Nutzen auf den Grenznutzen jener
Güter hinuntersinke, die aus der gleichen Produktionsmittelmenge in
kürzeren Produktionsperioden erzeugt werden: Die verschiedenen Pro-
duktivelemente werden nicht in jenem Maße zur Erzeugung der zeitlich
entlegeneren Produkte herangezogen, das dem künftigen Werte dieser
Produkte entsprechen würde, sondern nur in dem Maße, das der perspek-
tivisch verkleinerte Gegenwartswert dieser Zukunftsgüter erfordert. Die
Gegenwart wird mit jedem Wirtschaftsmittel verhältnismäßig stärker dotiert
als die nähere Zukunft, und diese wieder stärker als die entfernteren Zeit-
perioden. Auf diese Weise wird eine relative Seltenheit der künftigen
Produkte und Nutzleistungen gewahrt, so daß diesen zur Zeit ihrer Fertig-
stellung ein höherer Wert zukommt, als den Produktivmitteln, denen sie
entstammen.?) l | |
1) Es sei auch hier daran erinnert, daß im Sinne Böhms für die Länge der
Produktionsperiode nicht allein die absolute Größe des Zeitraumes vom Beginn der
Produktion bis zur Fertigstellung des Genußgutes, sondern auch das Verhältnis
maßgebend ist, in dem innerhalb dieses Zeitraumes die Produktivelemente ver-
schiedenen Datums miteinander kombiniert werden. (Ygl. oben, S. 497, 513 f.)
Verlängerung der Produktionsperiode durch Verschiebung dieses Verhältnisses be-
deutet aber nicht anderes als stärkere Verwendung von Dauergütern.
2) Eine Leistungsverschiebung wird daher noch nicht deshalb vorgenommen
werden, weil der Wert des Produktes zur Zeit seiner Entstehung den Herstellungs-
kosten entspricht, es muB vielmehr schon der (geringere) Wert, der dem (iute zu
Beginn der Produktion beigelegt wird, diese als vorteilhaft erscheinen lassen.
588 Franz X. Weiß.
Dieses Prinzip kann nicht restlos verwirklicht werden. Auch abgesehen
von der Wirkung des Zeitverlaufes auf die Produktion ist es eine allgemeine
Erscheinung, daß die verschiedenartigen Produkte, die aus derselben Menge
eines Produktivgutes hergestellt werden, verschieden hohen Grenznutzen erlangen,
und zwar wegen ihrer mangelnden Teilbarkeit, so daß dieses Produktivgut nicht
in all seinen Verwendungen den gleichen Grenznutzen stiftet. Insoferne die
Produktivkräfte im Wege der Herstellung von Dauergütern dem Zukunftsdienste
gewidmet werden, tritt aus einem anderen Grunde eine ähnliche Erscheinung ein.
Die Aufteilung der einem dauerhaften Produktiv- (oder Genuß-) Gute ent-
stammenden Produkte (oder Nutzleistungen) auf,die verschiedenen Wirtschafts-
perioden innerhalb der Dauer dieses Gutes ist durch verhältnismäßig enge Grenzen
bestimmt, so daß Änderungen dieser Aufteilung nur in beschränktem Maße
möglich sind. Kommen doch sogar Nutzleistungen dauerhafter Güter weit ent-
fernten Zeiträumen zugute, für welche vorzusorgen bei Herstellung des Guter
gar nicht beabsichtigt war!!) Wenn daher auch die Produktivkräfte der
Gegenwart nicht in allen Zeitperioden den gleichen Nutzen nach gegen-
wärtiger Schätzung bewirken können, so werden sie doch jedenfalls derart
über alle Zeiträume verteilt werden, daß sie im ganzen den größtmöglichen
Nutzen stiften. í
Das Streben, den Werterfolg der Produktion durch Verlängerung des
zwischen dem Einsatz der Produktivkräfte und der Erreichung des Genuß-
zieles liegenden Zeitraumes zu vergrößern, bewirkt eine Erhöhung des
Wertvorzuges der Gegenwartsgüter, da die Güter durch die Produktion
der Gegenwart zugunsten der Zukunft entzogen werden. Wenn also
zwischen Gegenwarts- und Zukunftsgütern nicht schon aus anderen Gründen
ein Wertunterschied bestünde, so würde er durch die Mehrergicbigkeit
der Leistungsverschiebung allein hervorgerufen werden; allerdings nicht
unmittelbar, sondern stets nur durch die Zwischenursache der knappen
Versorgung der Gegenwart.?) Würde der Zeitpunkt, in welchem das Produkt
1) Vgl. Exkurse, S. 362 f. Anm.
2) Hier sei darauf hingewiesen, daß Böhm gegenüber Bortkiewicz und I. Fisher
nicht im Recht ist, wenn er an der Meinung festhält, daß die (von ihm postulierte
technische) Mehrergiebigkeit unmittelbar, ohne Mitwirkung ‚der beiden anderen
Gründe“ die Höherwertigkeit der Giegenwartsgüter bewirken könne. Die Einwendung,
daß mit einem künftigen Arbeitsmonat ebenso lange Produktionswege eingeschlagen
werden können wie mit einem gegenwärtigen, wobei aber das Produkt später zur Ent-
stehung gelange und nur deshalb minderwertig sei, sucht Böhm dadurch zu ent-
kräften, daß er Fälle konstruiert, in denen aus bestimmten Gründen der Produktions-
prozeB in einem bestimmten Zeitpunkte beendet sein muß. — Dann ist aber eben
aus diesen bestimmten Gründen das Produkt in diesem Zeitpunkt wertvoller als in
irgend einem späteren! Wenn Böhm des weiteren darauf Gewicht legt, daß nur infolge
Produktionsumwege und Kapitalzins. 589
die GenuBreife erlangt, als gleichgültig angesehen, wo würde dies eine über-
mäßige Ausdehnung der Produktionsperioden zur Folge haben. ,, Wird aber‘
— sagt Böhm-Bawerk‘), in dessen Erklärungsgeleise wir nunmehr wieder
einlenken — „jene übermäßige Ausdehnung allseitig in Szene gesetzt,
so geht der Subsistenzstock der Gesellschaft früher zu Ende als
die Genußfrüchte der allzu weitläufig angelegten Produktion ausreifen,
es entsteht eine Versorgungslücke, Mangel und Not, und erst durch
die sich einstellenden Notpreise werden die falsch disponierten Pro-
duktivkräfte zur notdürftigen Versorgung des Augenblickes wieder
zurückgerufen, was nicht ohne schwere Störungen, Kosten und Verluste
erfolgen kann.“ Je größer der Subsistenzvorrat, auf desto entferntere Ziele
kann die Produktion gerichtet werden. Für diese Abhängigkeit der Länge
der Produktionsperiode von der Größe des Güterfonds gibt es heute leider
mehr als genug Beispiele. Zahlreiche Produktionspläne, die vor dem Kriege
knapp vor der Verwirklichung zu stehen schienen, sind heute infolge der
seither erfolgten Kapitalzerstörung und -verzehrung in weite Ferne
gerückt. In jenen Volkswirtschaften, deren Güterstock am ärgsten mit-
genommen worden ist, kommt die eingetretene Verkürzung der Produktions-
periode besonders deutlich zum Ausdruck. Während in Wien vor Beginn
des Weltkrieges der Bau einer Untergrundbahn ernsthaft in Erwägung
gezogen wurde, wird jetzt mit Mühe das Kapital aufgebracht, um das
Pflaster der Straßen instand zu halten.
Indessen bestehen über die tatsächlichen Vorgänge, die den Zins
begründen, weit weniger Meinungsverschiedenheiten als über ihre Aus-
legung.*) Es liegt gewiß nicht im Plane dieser Darstellung, die an dem
der Knappheit des Subsistenzvorrates die Produktionsperioden nicht über die Zone
der Mehrergiebigkeit hinaus ausgedehnt werden, so liegt hier nichts anderes vor als
die Tatsache, daß wegen knapper Versorgung der Gegenwart gegenwärtige Güter
höher im Werte stehen als künftige. Übrigens ist, wie Böhm selbst hervorhebt, die
Frage, ob der „dritte Grund“ unmittelbar oder nur mit Hilfe der beiden anderen
(iründe zu wirken vermag, sekundärer Natur. (Vgl. hiezu Exkurs XII.)
1) Pos. Theorie, S. 643 f.
2) Es sei darauf verwiesen, daB beispielsweise die Erwiderung Cassels auf die
gegen seine Zinstheorie von Böhm erhobenen Einwände in nichts anderem als in der
Berufung auf tatsächliche Vorgänge besteht, die von Böhm niemals bestritten worden
sind. (Vgl. Pos. Theorie, Exkurs XIII. und Cassel, Theoret. Sozialökonomie, S. 163
Anm.) So glänzend diese Tatsachen von Cassel geschildert sind, ebenso unzulänglich
ist unseres Erachtens seine Zinstheorie.
590 Franz X. Weiß.
Grundgedanken der Agiotheorie festhält, diese auch nur gegen die in der
letzten Zeit erhobenen Einwendungen zu verteidigen, oder gar die Grund-
fragen der Zinserklärung aufzurollen; in zweifacher Hinsicht sei jedoch
hier wenigstens andeutungsweise gegenüber der neueren Zinsliteratur eine
Klarstellung versucht, da es sich um Fragen handelt, die mit dem Ein-
schlagen längerer Produktionswege im Zusammenhange stehen.
Der eine Punkt betrifft den Zins als dynamische Erscheinung. Es
ist allerdings fast überflüssig, ausdrücklich auszusprechen, daß die Agio-
theorie zwar den Zins als notwendige Erscheinung der stationären Wirt-
schaft ansicht, aber darum nicht etwa notwendigerweise leugnet, daß der
(Darlehens)zins auch aus Tatsachen derDynamik entstehen kann und ent-
stehen wird: Wenn Unternehmer mit geliehenem Gelde einen Konjunktur-
gewinn zu erzielen vermögen, so werden sie geneigt sein, für eine gegen-
wärtige Geldsumme eine größere Summe in der Zukunft zu bewilligen. ')
Die andere Frage bezieht sich auf das Verhältnis von Agiotheorie und
Ausbeutungstheorie. Schon F. W. Taussig hat in seiner obgenannten
Abhandlung?) den Grundgedanken der Zinstheorie Böhms in der Weise
wiedergegeben, daß sie den Kapitalzins zwei Ursachen zuschreibe: der
Zeitdauer des Produktionsprozesses und der ungleichen Besitzverteilung.
Hiebei ist offenbar der Gedanke zu ergänzen, daß, wenn keine Ungleich-
heit des Besitzes bestünde, keine Subsistenzvorschüsse an die Arbeiter
notwendig wären. Hainisch bezeichnet die Agiotheorie Böhms, wenigstens
soweit sie den Zins aus den ersten beiden Ursachen zu erklären sucht,
geradezu als eine Variante der Ausbeutungstheorie.:) Ebenso nennt
Budge*) ‚die Lehre Böhm-Bawerks lediglich eine neue Variante der
Ausbeutungstheorie‘, denn sie laufe ‚auf nichts anderes hinaus, als daß
die glücklichen Anbieter von Gegenwartsgütern auf Grund der Beschränkt-
heit ihres Angebots in der Lage sind, über die Produktionskosten hinaus
t) Ein Gleichnis bietet das Verhältnis von Zins und Geldentwertung. Keine
Zinstheorie behauptet, daß der Zins auf Änderungen des Geldwertes zurückzuführen
sei. Es wird aber nicht in Abrede gestellt werden können, daß ein Zustand fort-
schreitender Geldentwertung an s.ch den Wertvorzug gegenwärtiger vor künftigen
Geldsummen, das heißt die Entstehung des Geldzinses zur Folge haben muß.
2) Capital, Interest and Diminishing Returns. S. 336.
3) a, a. 0. S. 292, 332. — Ähnlich auch schon Dietzel in den Göttinger Ge-
lehrten Anzeigen 1891, Nr. 23, S. 935.
4) Der Kapitalprofit, Jena 1921, S. 16.
Produktionsumwege und Kapitalzins. ` 591
einen Zuschlag auf den Preis, mithin einen Monopolgewinn zu erheben, den
die Anbieter von Zukunftsgütern zu tragen gezwungen sind.‘‘ In Wahrheit
würde bei gleicher Besitzverteilung zwar das den einzelnen zufließende
Zinseinkommen, wie sich von selbst versteht, eine Verringerung erfahren,
die Gesamtmasse des Zinses würde jedoch, wenn die Kapitalansammlung
die gleiche bleibt, nicht verringert werden. Nach wie vor würde der Mehr-
wert, der durch Verlängerung der Produktionswege erzielt werden kann,
dem „Kapital‘‘ zugerechnet. Der Anlaß zur Vornahme dieser Zurechnung
würde allerdings großenteils entfallen, jedoch nicht zur Gänze; vor allem
deshalb nicht, weil nach wie vor gegenwärtige gegen künftige Güter aus-
getauscht würden. Ganz abgesehen davon, daB es stets Arbeitsunfähige
und schon aus diesem Grunde auch Nichtarbeitende geben wird, die
groBenteils ihr Kapital in Konsumtiv- oder Produktivkredit verleihen
werden, werden notwendigerweise eine Anzahl von Personen ihre Arbeits-
kraft in kapitalloser oder doch in einer kapitalschwächeren Produktion
verwerten, als dem gesellschaftlichen Durchschnitt entspricht. Diese
` Personen werden ihren Kapitalbesitz anderen Produzenten zur Verfügung
stellen, so daß sich auch hier der Zins in irgend einer Form wieder einstellen
müßte. Aus ähnlichen Gründen wird der Zins auch in der verkehrslosen
Wirtschaft bestehen bleiben, wie von Böhm in überzeugender, nur miB-
verständlich angefochtener Darstellung nachgewiesen worden ist.')
Wenn es auch Böhm-Bawerk nicht gelingen konnte, die größere
technische Produktivität der längeren Produktionsperioden zu erweisen,
so kann doch der heuristische Wert seiner Untersuchungen über die Mehr-
ergiebigkeit kaum genug hoch eingeschätzt werden. Für die richtige Er-
kenntnis der Mehrergiebigkeit als Wertphänomen war der Umweg über
ihre Deutung als technische Tatsache fast die notwendige psychologische
Voraussetzung. Viel wichtiger war es vorerst, die Bedeutung der Leistungs-
verschiebung in der Hauptsache richtig zu erfassen, als ihr Wesen richtig
zu deuten. \Wenn die notwendige Korrektur einmal vorgenommen ist,
1) Vgl. die Ausführungen über den ‚Zins im Sozialistenstaat‘‘, Pos. Theorie,
S. 579 ff. Böhm weist hier mit Recht darauf hin, daß die Einwendungen gegen diese
Ausführungen auf die mangelnde Unterscheidung zwischen dem ,,wesentlichen, gleich-
bleibenden Kern des Kapitalzinses und seiner vielgestaltigen äußeren Erscheinungs-
form’: zurückgehen. Vgl. auch meine oben angeführte Abhandlung über „Professor
Diehls Kritik der Kapitalzinstheorie von Böhm-Bawerk“ S. 559 ff.
592 Franz X. Weiß. Produktionsumwege und Kapitalzins.
ergeben sich die daraus folgenden Änderungen am Gebäude der Zinstheorie
von selbst; es gilt nur, einige Bausteine des Systems in anderer Ordnung
zusammenzufügen. Böhms Darstellung des Produktionsprozesses und seine
Lehre von der Bedeutung der Größe des Subsistenzfonds für die Länge
der Produktionsperiode, aufgebaut auf der Theorie der Produktions-
umwege, geben der Agiotheorie erst die feste Grundlage und werden wohl
stets zu den größten und schönsten Leistungen der theoretischen Ökonomie
gezählt werden.') Seine Auffassung des Problems ist ein klassisches Beispiel
dafür, daß ein genialer Forscher auch in seinen Irrtümern genial ist.
1) Vgl. hiezu die Abhandlung Schumpeters: Das wissenschaftliche Lebens-
werk Eugen von Böhm-Bawerks (Zeitschr. f. Volksw. usw. 23. Bd.. S. 464 ff.).
eae ee
Aus der Österreichischen Stautsdruckerei. 12427 22.
Prolegomena zu einer Theorie der
ökonomischen Daten. ')
Von Richard Strigl.
I. Der Popularbegriff der Wirtschaft und die Begriffsbildung der ökonomischen
Theorie. — II. Der Geltungsbereich der ökonomischen Theorie. — III. Die ökonomischen
Kategorien. — IV. Der Tatbestand der Wirtschaft. — V. Die Organisation der Wirt-
schaft. — VI. Datenänderungen. — VII. Reine und spezielle Theorie. Die Organisation
der Wirtschaft als Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte. — VIII. Das Soziale in der
Wirtschaft. — IX. Rückblick.
Wenn wir wissen wollen, was wir mit dem Ausdrucke „Wirtschaft
bezeichnen sollen, so können wir auf zwei verschiedenen Wegen zu diesem
Ziele gelangen. Wir können zunächst versuchen, in einer Definition alles
das zu umfassen, was der gemeine Sprachgebrauch Wirtschaft nennt.
Da werden sichder praktischen Durchführung nicht unbedenkliche Schwierig-
keiten entgegenstellen. Der Sprachgebrauch ist schwankend und neben
einen Kern von Erscheinungen, welche mit einiger Bestimmtheit als
Wirtschaft zu bezeichnen sind, gibt es Erscheinungen, bei denen dies
strittig sein wird. Soll nun die Begriffsbestimmung der Wirtschaft dazu
dienen, den Bereich einer Gesetzeswissenschaft abzugrenzen, so wird diese
Art der Abgrenzung nicht die genügende Sicherheit bieten können, muß es
doch hier immer zum guten Teil der Willkür überlassen bleiben, diese oder
jene Bedeutung des Wortes Wirtschaft als sprachüblich zu bezeichnen
oder nicht.
Ein zweiter Weg der Begriffsbestimmung geht von dem Bestande
einer theoretischen Wissenschaft aus. Indem diese es sich zur Aufgabe
macht, durch ihre Gesetze einen Zusammenhang in Erscheinungen der
Erfahrungswelt festzustellen, erscheint der in diesen Gesetzen zu fassende
1. Dieser Aufsatz ist das erste Kapitel einer demnächst erscheinenden größeren
Arbeit.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folre, 1. Band 40
94 Richard Strigl.
Bereich der Erfahrung abgegrenzt. So kann aus dem System der theore-
tischen Nationalökonomie heraus das Gebiet der Wirtschaft erfaßt werden,
und wenn die theoretische Ökonomie in voller Exaktheit aufgearbeitet ist,
so muß sich auf diesem Wege eine eindeutige und sichere Begriffsbestim-
mung ergeben. Der so gewonnene Begriff wird sich nun mit dem Popular-
begriff der Wirtschaft wenigstens ungefähr decken. Freilich ist der Sprach-
gebrauch nicht mit der Absicht gebildet worden, das Objekt einer theore-
tischen Wissenschaft zu definieren, aber indem er an verschiedenen Er-
scheinungen ein Gemeinsames festhält, indem er im Gewirre von Mannig-
faltigkeiten Ordnung zu schaffen bestrebt ist, trägt seine Prägung unbewußt
die Tendenz in sich, einen Begriff zu bilden, der taugliches Objekt allge-
meiner Aussagen ist. Wenn das, was uns der Gebrauch der Sprache als
mehr oder weniger scharf umgrenzte Tatsache ‚Wirtschaft‘ hinstellt.
für die Forschung ein rohes Material darbietet, so kann erst die theoretische
Untersuchung einen klaren Begriff herausarbeiten. „Es gibt kein empirisches
Gesetz, das nicht auf die Verknüpfung der gegebenen, wie auf die Er-
schließung nicht gegebener Gruppen von Tatsachen ginge; wie auf der
anderen Seite jede „Tatsache“ bereits im Hinblick auf ein hypothetisches
Gesetz festgestellt ist und durch diese Rücksicht erst ihre Bestimmtheit
erhält. Die empirischen Naturwissenschaften selbst haben daher, seit sie
zuerst in den „stetigen Gang einer Wissenschaft‘ eingelenkt sind, an dem
Streit, den die philosophischen Parteien um die Rechte der „Induktion“
und „Deduktion‘“ führten, keinen erheblichen Anteil mehr genommen.
Sie mußten, sowie sie ihr eigenes Verfahren überprüften, begreifen, daß
es sich hier um eine falsche und künstliche Trennung von Erkenntnis-
weisen und Erkenntniswegen handelt, die ihr beide unentbehrlich sind.‘ ')
Die theoretische Nationalökonomie steht hier prinzipiell nicht anders da
als alle anderen empirischen Gesetzeswissenschaften, in einer, Richtung
hat sie jedoch mit einer ganz besonderen Schwierigkeit zu kämpfen.
Sowie die Wissenschaft zuerst mit Bewußtsein daran geht, da:
empirische Material der Wirtschaft theoretisch zu bearbeiten, sowie sich die
„eingeborenen Fachausdrücke‘‘ (Gottl) aufdrängen, welche Erscheinungen
bezeichnen, die sich förmlich von selbst um den rohen Tatbestand der Wirt-
schaft gruppieren, findet die nationalökonomische Forschung ihr Material
in einem eigenartig verdorbenen Zustande vor. Wohl sind die Tatsachen
der Wirtschaft im Hinblick auf mögliche Gesetze von der vorwissenschafft-
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. dO
lichen Geistesarbeit geprägt, und in allem, das da mit dem Sprachbeeriff
der Wirtschaft zusammenhängt, zeigen sich leicht Zusammenhänge und
Regelmäßigkeiten, die Forschung hat bald Problemstellungen und Problem-
lösungen vor sich. Aber es will nicht gelingen, alle diese verschiedenen
Probleme um ein zentrales zu gruppieren, aus den Gesetzen der Wirt-
schaft ein System zu machen; es finden sich immer wieder nebeneinander
wesensfremde Elemente, welche bald zu Voraussetzungen der Wirtschaft
werden, bald wieder ihre eigenen Gesetze in der Wirtschaft irgendwie sich
auswirken lassen. Und das ist das Erstaunliche an dem Bild der Wirtschaft,
wie wir es aus dem Sprachgebrauche gewinnen: es besteht aus einer über-
sroßen Zahl von Bestandteilen, von denen jeder für sich Gegenstand einer
eigenen Wissenschaft ist, die aber im Bereiche der Wirtschaft neuerlich
erscheinen und uns die Aufgabe stellen, sie irgendwie in den Rahmen
wirtschaftlicher Erkenntnis einzupassen. Da erscheinen Menschen mit
bestimmten Fähigkeiten und Bedürfnissen, mit geistigen und körperlichen
Higenschaften, da erscheinen Sachgüter, welche den Naturgesetzen unter-
liegen, da erscheinen rechtliche und gesellschaftliche Erscheinungen,
Klima und Bodenbeschaffenheit, technische Errungenschaften, religiöse
und nationale Ideale — das und noch vieles andere ist irgendwie Bestandteil
der Wirtschaft oder wirkt in ıhr, und mitten unter alledem muß der Kern
des Wirtschaftlichen gesucht werden. Da ist es nun kein Wunder, wenn es
Schwieriekeiten bereitet, die Tatsachen der Wirtschaft so zu formulieren,
daß sie für eine theoretische Wissenschaft brauchbar werden, und sie so
rein herauszuschälen, daß alles weefallt, das nicht zum Wirtschaftlichen
«ehört. So erklärt es sich, daß der Umfang der Nationalökonomie niemals
klar abgegrenzt war, daß in ihr Lehrsystem immer technische, psycho-
logische, soziologische Sätze sich eindrängten, ohne daß dies anders gerecht-
fertigt wäre als durch einen äußerlichen Bezug auf die wirtschaftliche
Erfahrung. Wenn wir die unzerfällten Erscheinungen des gesellschaftlichen
Lebens in ihrer Lebendigkeit uns vorhalten, so erscheinen sie allerdings
als ein Resultat des Ineinandergreifens von Kräften und Elementen der
verschiedensten Art; wollte man alles, das da irgendwie dem kausalen
Regreß als Ursache sich darbietet, aufzählen, man könnte alles vorbringen,
das menschlicher Geist je betrachtet hat: technische Wissenschaften,
Psychologie, Rechtslehre, Völkerkunde, Geographie würden nur Teile des _
Materials behandeln. Aber jede dieser Wissenschaften, die das Erfahrungs-
material betrachten, welches den Inhalt des Popularbegriffes der Wiıt-
UG Richard Strigl.
schaft bildet, hat ihre Gesetze und Regelmäßigkeiten, und wenn das vor-
wissenschaftliche Denken Formeln zur Erfassung der komplexen Er-
scheinungen, welche Wirtschaft enthalten, zu prägen versucht, da fühlt
es. sich dadurch, daß es andere als rein ökonomische Gesetze ahnt oder
schon kennt, bei der Bildung der Sprachbegriffe immer wieder von der
Richtung zur spezifisch ökonomischen Betrachtung abgedrängt und von
metaökonomischen Unterscheidungen und Reihenbildungen beeinflußt.
Das haben wir gemeint, wenn wir sagten, daß die theoretische National-
ökonomie ihr Material in einem verdorbenen Zustande vorfindet, viel
schlechter vorbereitet als irgendeine andere Wissenschaft. Wir können
kaum eines der Worte, welche die einfachsten Begriffe der Wirtschafts-
lehre bezeichnen sollen, aussprechen, ohne an technische, psychologische.
rechtliche, ethische oder „soziale“ Zusammenhänge zu denken. Diese:
Verhältnis mag kein Hindernis sein für die Entwicklung der Faustregeln
des Alltags, man kann auch über Popularbegriffe, denen eine sichere
Bestimmung fehlt, etwas denken und aussagen. Sollen aber die Gesetze
der Wirtschaft in einem wissenschaftlichen System erfaßt werden, so ist
es erste Voraussetzung des Erfolges, daß die Probleme als rein ökonomische
gefaßt werden, daß alles Metaökonomische aus ihnen ausscheidet. Die
Erfahrung als Gegenstand der theoretischen Nationalökonomie betrachten,
heißt das rein Ökonomische in ihr sehen — und wenn anders die theoretische
Nationalökonomie eine Gesetzeswissenschaft ist, also bestimmte Relationen
ökonomischer Begriffe feststellt, so heißt das weiter: die Erfahrung in
spezifisch ökonomische Begriffe und deren Relationen fassen.
Bevor wir diesen Gedankengang weiter verfolgen, wollen wir noch
von einer anderen Seite her ein grundlegendes Postulat für unsere weiteren
Untersuchungen formulieren.
H.
Eine Wissenschaft, welche es sich zur Aufgabe macht, Vorgänge der
Erfahrungswelt in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erfassen, muß notwendig
bestrebt sein, ihren Geltungsbereich so weit als möglich auszudehnen:
wenn sie zunächst nur vereinzelte Regelmäßigkeiten erkennt, muß sie
trachten, diese in einem theoretischen System zu vereinigen, wo sie „Aus-
nahmen‘ von ihren Gesetzen findet, muß sie das allgemeinere Gesetz
suchen, welches auch diese erfaßt. (Gerade in einem Gebiete, in dem ein
starker Wechsel der Bedingungen die Erscheinungen in eine überreiche
Prolegomena zu einer Theorie der Gkonomischen Daten. p9
Mannigfaltigkeit zersplittert, in dem das Auge des Betrachters zunächst
nur ein Gewirre von Widersprüchen und Regellosigkeiten sieht, in einem
solchen Gebiete ist eine Orientierung erst dann möglich, wenn eine
Wissenschaft von hoher Allgemeinheit ein festgefügtes System von
Gesetzen vermittelt, welche imstande sind, jeden Einzelfall zu erfassen.
Es bleibt daneben der Spezialarbeit überlassen, die Wirkungen dieser
(Gesetze in speziellen Fällen, unter bestimmten, näher definierten Vor-
aussetzungen zu betrachten, sodaß in die allgemeine Theorie speziellere
Theorien eingebaut erscheinen, welche jeweils nur einen Teil der Er-
scheinungen — eben jenen, bei dem die aufgenommenen Voraussetzungen
zutreffen — erklären können. Die wissenschaftliche Forschung hat sich
vielleicht niemals vor einem Erfahrungsobjekt von so reicher Mannig-
faltiekeit gesehen wie damals, als sie daranging, die Tatsachen der Wirt-
schaft in ihrer GesetzmaBigkeit zu erforschen. Auf einem Gebiete von
ungeheueren Dimensionen hat die bahnbrechende Arbeit der großen Bc-
sründer unserer Wirtschaft wertvolle Erkenntnisse zutage gefördert,
sicher ist die Eigenart des Objektes mit eine Ursache dafür, daß die thec-
retische Nationalökonomie sich seither nicht im steten Flusse fortent-
wickeln konnte. Immer lauter wies man auf die Veränderungen der Wirt-
schaft in der Geschichte hin; hätte es Aufgabe der Theorie sein müssen,
das allen Formen der Wirtschaft Gemeinsame zu suchen, sc stellte die
aufkommende historische Schule die Verschiedenheiten und Veränderungen
in den Vordergrund des Interesses. Es ist leicht zu verstehen, daß da die
Theorie verzagen konnte. Gerade der Umstand, der die Notwendigkcit
der reinen Theorie am eindringlichsten hätte zeigen sollen, wurde zu einem
Argument gegen die Theorie: will man alles das, was füglich als Wirtschaft
bezeichnet werden kann, verstehen, so muß man die Gesetze kennen,
denen jede Wirtschaft unterworfen ist: nur langer Arbeit konnten sich
solche Gesetze erschließen, und das Ziel wäre der Mühe wert gewesen.
Aber man glaubte nicht an die Möglichkeit der allgemeinen Theorie; was
sollte die Wirtschaft der Naturvölker mit der des Huchkapitalismus gc-
meinsam haben, was die Wirtschaft der von Zünften beherrschten mittel-
alterlichen Stadt mit der Planwirtschaft der kommunistischen Gesell-
schaft! Immer Neues hat der Ablauf der Jahrhunderte in der Wirtschaft
zutage gebracht, wir haben keinen Anlaß, die Verhältnisse unserer Zeit
als Abschluß einer Entwicklung anzusehen: Neues wird auch die Zukunft
bringen. Wenn schon Gleichartiges zusammengefaßt werden soll, so hieß
DIB Richard Strigl.
es, dann möge man dieses nicht in dem unendlichen Prozeß der Geschichte
suchen, sondern auf relativ eng umgrenzten Stadien der Entwicklung.
Die Erkenntnis ist wohl recht naheliegend, daß jede Wirtschaftsstufe
ihren eigenen Gesetzen unterliegt, daß es ebensoviele Systeme von ökono-
‚mischer Theorie gibt als typische Formen der Wirtschaft. Aber sowie
wir diese Theorien nebeneinander stellen, werden wir schen, daß sich unter
ihnen Gruppen von verwandten Systemen bilden, daß allgemeinere Gesetze
für verschiedene Wirtschaftsformen, von denen jede auch ihren eigenen
Gesetzen unterliegt, sich finden lassen. Und wenn alles das, was in diesen
verschiedenen Objekten als Wirtschaft bezeichnet wird, durch emen ge-
meinsamen Problemzusammenhang charakterisiert ist, wenn wir also
wirklich das Recht haben, alles das scheinbar so Verschiedene mit einem
Ausdruck als Wirtschaft zu bezeichnen, dann muß es möglich sein, über
all die einzelnen Wirtschaftstheorien eine letzte und allgemeinste theo-
retische Ökonomie zu setzen. Während das spezielle System an weitgehende
Voraussetzungen gebunden ist, von Bedingungen abhängt, welche einmal
vorliegen und ein andermal nicht, läßt der Fortschritt zur reinen Theorie
immer mehr von diesen veränderlichen Gebilden der Geschichte fallen.
Alles, was die Wirtschaft einer bestimmten Zeit — oder auch: eines br-
stimmten Volkes, eines bestimmten Klimas -- neben anderen Wirtschaften
kennzeichnet, verschwindet, und die reine Theorie kennt nur noch das,
was jeder Wirtschaft zugehört.
Wo liest nun für die ökonomische Theorie die Grenze bei diesen
Prozeß der Loslösung von dem Gewordenen und Vergänglichen ?
Diese Frage kann eine recht verschiedene praktische Bedeutung
erhalten, je nachdem, wo wir uns diese Grenze vorzustellen versuchen.
Nehmen wir an, es wäre gelungen, für die verschiedenen Stufen der abend-
ländischen Wirtschaft spezielle Wirtschaftstheorien zu finden, es wäre
weiter gelungen, für alie diese Wirtschaftsformen eine gemeinsame Theorie
aufzustellen. Nehmen wir des weiteren an, es wäre dasselbe für die
chinesische und indische Wirtschaft gelungen, so daß wir für drei Kultur-
kreise drei Wirtschaftstheorien haben, welche alle zur höchsten Allge-
meinheit aufgestiegen sind, die in ihrem Gebiete möglich und notwendig
ist. Nun verlangt unser Programm, daß wir über die drei schon recht
allgemeinen Wirtschaftstheorien eine Wirtschaftstheorie vun noch größerer
Allgemeinheit setzen. Es wäre nun denkbar, daß das schlechterdings
nicht möglich ist. Da wären wir bei einer recht nahen Schranke auf dem
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. DNY
Wege zur reinen Wirtschaftstheorie stehen geblieben — ja wir hätten
diese scheinbar nicht erreicht. Scheinbar nur! Denn wenn über die abend-
ländische, die indische und die chinesische ‚‚Wirtschaft‘‘ sich etwas Ge-
meinsames nicht aussagen läßt, dann hat der allgemeine Popularbegriff
der Wirtschaft für die theoretische Wissenschaft keinen Sinn, dann be-
deutet „Wirtschaft‘‘ bei den drei Kulturen etwas Unterschiedliches, das
für die theoretische Erkenntnis nicht zu einen ist, etwas, das man — solange
man im Rahmen gesetzeswissenschaftlicher Forschung bleibt — nicht
mit einem Worte bezeichnen sollte. Dann wäre eben für uns Europäer
die Theorie der abendländischen Wirtschaft die reinste und ,,absolute‘
Theorie der für uns aktuellen Wirtschaft, dann wäre die theoretische
Nationalökonomie nu. als Wissenschaft von stark historisch-relativem
Charakter möglich, sie würde von Voraussetzungen ausgehen, welche nur
in einem relativ engen Abschnitte des historischen Geschehens vorliegen.
Und wer unserer Wirtschaft eine Prognose für die Zukunft stellen wollte,
müßte prüfen, wie lange diese Voraussetzungen noch vorliegen werden,
sobald sie wegfallen, kann nicht mehr von ,, Wirtschaft‘‘ gesprochen werden,
wenn dieses Wort als Fachausdruck das Objekt einer Gesetzeswissenschaft
bezeichnet. Manche mögen heute geneigt sein, an der eben bezeichneten
Grenze die letzte Schranke für die ökonomische Theorie zu sehen, wenn
sie nicht gar schon früher unübersteigbare Hindernisse für diese Wissen-
schaft fürchten. Daß wir vor dieser Grenze nicht Halt machen müssen,
das wird sich später zeigen: das Forschen nach Gesetzen der Wirtschaft
führt schnell zu Sätzen von außerordentlich hoher Allgemeinheit, mit
einem erstaunlich weiten Wirkungsbereich; es wird sich zeigen, daß. so
eroß auch das Trennende in verschiedenen Wirtschaften zu sein scheint.
eine Betrachtung, welche das spezifisch Okun smische herauszuheben
versteht, deutlich die Elemente sieht, die alle Wirtschaft kenntlich machen,
und wir werden sehen, daß der übliche Gebrauch des Wortes Wirtschaft
ungefähr jenen Bereich bezeichnet, welchen die reine ökonnmische Theorie
beherrscht.
II.
Wir haben nunmehr zwei Grundsätze gefunden, welche uns bei Bc-
arbeitung des rohen empirischen Materials der Wirtschaft leiten miissen:
Wir müssen zunächst darauf hinzielen, das im Sinne einer theoretischen
Wissenschaft rein Ökonomische festzuhalten, und wir müssen des weiteren
6LO Riehard Strigl.
trachten, uns so allgemein zu fassen, daß wir wirklich alles das ergreifen,
das von dieser Fachwissenschaft in ihren denkbar weitesten Gesetzen
umspannt werden kann. Wenn wir das, was die Sprache als Wirtschaft
bezeichnet, zu dem der theoretischen Nationalökonomie zugrunde liegenden
Tatbestand der Wirtschaft sublimieren wollen, müssen wir diese Prinzipien
im Auge behalten. Der theoretisch definierte Tatbestand der Wirtschaft
hat zunächst nur für die Fachwissenschaft einen Sinn, er ist nur nach MaB-
gabe der Erfordernisse der theoretischen Nationalökonomie zu prägen --
und er ist derart zu formulieren, daß er das Gebiet der Nationalökonomie
so weit erstreckt, als es für diese Wissenschaft überhaupt möglich ist. Wenn
wir diesen Tatbestand definieren wollen, so werden wir dazu einige Begriffe
brauchen, welche von grundlegender Bedeutung sein müssen: einerseits
werden wir, wo wir in der Erfahrung Erscheinungen dahin überprüfen. ob
sie „Wirtschaft“ im Sinne der ökonomischen Theorie sind, uns immer
zunächst fragen müssen, ob wir an ihnen etwas finden, das in den bezeich-
nenden Begriffen erfaßbar ist — und anderseits wird, wie alle Wirtschaft
nur mit dem definierten Tatbestand der Wirtschaft gegeben ist und aus
diesem gleichsam herauswächst, die ganze theoretische Nationalökonomie
nur ein Abwandeln des ökonomischen Tatbestandes sein; sie wird ihre Auf-
gabe einzig darin sehen, die Relationen, welche sich zwischen den diesen
Tatbestand umgrenzenden Begriffen abwickeln können, aufzuzeigen..
Die Begriffe, welche derart den für die theoretische Nationalökonomie
relevanten Tatbestand der Wirtschaft definieren, nennen wir die ökono-
mischen Kategorien.
Unsere Aufgabe wird es sein, diese ökonomischen Kategorien zu finden,
wir wollen uns darüber klar werden, welchen Weg wir da einzuschlagen
haben.
Die Fachwissenschaft der theoretischen Nationalökonomie ist von der
Grenznutzenschule zum erstenmal in einem befriedigenden theoretischen
System ausgearbeitet worden, es ist dieser Schule gelungen, die wichtigsten
Probleme, welche hier liegen, erfolgreich zu bearbeiten, und ein gut Teil
dieser Probleme ist wohl endgültig gelöst — soweit man dies von irgend-
einer wissenschaftlichen Erkenntnis sagen kann. Wenn wir aus unseren
ökonomischen Kategorien ein System der theoretischen Nationalökonomie
abzuleiten versuchen werden, so werden wir in allen prinzipiellen Fragen
zu denselben Resultaten kommen wie die moderne Theorie, und wenn es
sich vielleicht zeigen wird, daß wir an manchen Stellen etwas zu Problem-
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. OO!
lösungen beitragen können, wenn es uns gelingt, aus der Art unserer Formu-
lierung der Grundprobleme einen Gewinn für die Behandlung von Spezial-
fragen zu erzielen, so wird dies uns nur ein erfreuliches Zeichen für die
Brauchbarkeit unserer Untersuchungen sein. Wie immer dem sein may:
wir rechnen bei unseren Untersuchungen mit dem Bestand einer Fach-
wissenschaft, und wir werden uns stets an dieser zu orientieren haben.
Es wird von Vorteil sein, wenn wir hier an dem Beispiel eines der
Theorie entnommenen Gesetzes ausführen, welchen Sinn die folgenden
Untersuchungen haben sollen. Das Grundgesetz der Wertlehre lautet nach
Böhm-Bawerk: „Die Größe des Wertes eines Gutes bemißt sich nach der
Wichtigkeit desjenigen konkreten Bedürfnisses oder Teilbedürfnisses,
welches unter den durch den verfügbaren Gesamtvorrat an Gütern dieser
Art bedeckten Bedürfnissen das mindest wichtige ist.) Hier wird gesagt,
daß der Güterwert durch bestimmte Momente definiert ist, durch die eröbere
und kleinere Wichtigkeit von Bedürfnissen und durch den verfügbaren
Gesamtvorrat an Gütern. Sind diese Daten bekannt, so ist die Größe des
Wertes eindeutig bestimmt. Es ist klar, daß jede praktische Wertschätzung
nach dieser Formel eine Wichtigkeit von Bedürfnissen und einen verfügbaren
Gütervorrat voraussetzt. So sind diese beiden Ausdrücke Bezeichnungen
für notwendige Voraussetzungen des Wertgesetzes. Nicht nur in unserer
modernen Wirtschaft verlangt jede konkrete Wertschätzung derartige
Daten, sondern in jeder denkbaren Wirtschaftsform sind diese Daten
Voraussetzung des wirtschaftlichen Wertens. Wenn nun die Wertschätzun.-
gen, von denen der oben zitierte Satz von Böhm-Bawerk spricht, etwas
sind, das in dieser Art in jeder denkbaren Wirtschaft vor sich geht, wenn
also dieser Satz in dieser Form ein Gesetz der reinen ökonomischen Theorie
ausdrückt — das mag uns einstweilen problematisch sem —, so ergibt
sich mit Notwendigkeit die absolute Geltung der Begriffe „Wichtigkeit
von Bedürfnissen‘ und „verfügbarer Gütervorrat‘ für die Wirtschaft, das
Wertgesetz drückt dann eine notwendige Folge dieser seiner Voraussetzungen
aus — und vielleicht noch anderer Voraussetzungen, welche dann in ent-
sprechender Weise zu formulieren sind; das wird sich noch zeigen. Dabei
können diese Voraussetzungen verschiedenartig ausgestaltet, konkretisiert
sein. Die allgemeinsten Begriffe derartiger Daten, die alles das enthalten,
was für die ökonomische Betrachtung wesentlich ist, und die daneben
!) Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 2. Abt., Positive Theorie des
Kapitals, 3. Aufl., 1909 und 1912, S. 246.
GO? Richard Strigl.
frei sind von allen metaökonomischen Elementen, sind dann die öko-
nomischen Kategorien in dem Sinne, in welchem wir diesen Ausdruck
sebrauchen wollen; sie sind allgemeine Formen für das, an was die Gesetze
der Wirtschaftstheorie sich förmlich anknüpfen. -
Wenn wir nun gesagt haben, daß das System der ökonomischen Ka-
tegorien sich im Wesen mit der modernen ökonomischen Theorie decken
wird, so haben wir damit auch schon gesagt, was ungefähr unsere 6ko-
nomischen Kategorien sein werden: allgemeine Formeln für die Begriffe,
von denen die theoretische Nationalökonomie etwas ausgesart hat. Wir
werden ökonomische Kategorien erhalten, welche wenigstens ungefähr
dasselbe besagen, wie zum Beispiel die Ausdrücke „Wichtigkeit von Be-
dürfnissen“ und „verfügbarer Gütervorrat“. Freilich wird es notwendig
sein, diese Begriffe als rein ökonomische zu formulieren. Bei dem Ausdrucke
Bedürfnis denken wir immer an psychische Erscheinungen (im Sinne
eines Popularbegriffes), es wird zu untersuchen sein, in welcher Form diese
zu Tatsachen der Wirtschaft werden; hei dem Ausdruck Gütervorrat
denken wir an „Gegenstände der Außenwelt‘, welche den Gesetzen der
physischen Natur unterworfen sind, — wir werden sehen, wie diese als
Elemente eines rein ökonomischen Systems erscheinen; bei dem Aus-
drucke „verfügbar“ spürt man vielleicht schon leise ein Hineinwirken
einer sozialen Kategorie in das rein Ökonomische, es wird unsere Aufgabe
sein, hier eine präzise Formulierung zu versuchen.
So weit würde das Wertgesetz von Böhm-Bawerk Begriffe anwenden,
welche wir als allgemeine Formeln für die Daten der Wirtschaft bezeichnen
können, die vielleicht noch nicht in jeder Exaktheit umschrieben sind.
welche man von der gereiften Wissenschaft verlangen muß, die aber doch
die wesentliche Arbeit auf dem Wege zur Prägung der ökonomischen Kate-
vorien voraussetzen. Hier könnte es scheinen, daß wir leicht von den Arbeiten
der modernen Theoretiker unmittelbar ausgehen und unsere Aufgabe nur
darin sehen könnten, die Begriffe, mit denen sie arbeiten, von wesens-
fremden Elementen zu reinigen: wir könnten so die allgemeinen Begriffe
bilden, über welche die Gesetze der ökonomischen Theorie etwas zu sagen
haben.
Das eigenartige Verhältnis, in dem die überkommene ökonomische
Theorie zur Wirklichkeit steht, macht aber diesen Weg ungangbar. Sehen
wir näher zu, wie der wesentliche Inhalt der theoretischen National-
ökonomie definiert wird! „Das Problem der Statik läßt sich stets in
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 603
folgendes Schema bringen: Gegeben: Eine bestimmte Bevölkerung von he-
stimmten Anlagen und Bedürfnissen in einem gegebenen geographischen
Milieu und in gegebener Weise sozial und wirtschaftlich organisiert, aus-
gestattet mit bestimmten Produktionsmethoden und Gütervorräten.
Gesucht: Die Mengen und Preise aller Güter, die unter diesen Verkält-
nissen erzeugt und ausgetauscht werden.) Mancher Theoretiker mag nun
nicht mit der Art. wie hier die Aufgabe der Ökonomie formuliert wird,
völlig einverstanden sein, soweit aber Schumpeter hier von den Gegeben-
heiten der Wirtschaft spricht, wird wohl kaum jemand einigermaßen weit-
gehende Einwendungen machen. Im Prinzip wird jeder zugeben, daß
derartige „Daten“ für jede Wirtschaft vorhanden sein müssen. Der
ökonomische Prozeß erscheint gleichsam in das Bett der Daten eingelagert,
ist mit diesen notwendig verknüpft, an sie gebunden. Es ist ja klar: diese
Daten müssen immer vorhanden sein. Wo es Wirtschaft giht, dort giht es
auch Menschen mit irgendwelchen Anlagen und Bedürfnissen, gibt es ein
geographisches Milieu und eine „soziale und wirtschaftliche Organisation‘,
und immer gibt es irgendwelche Gütervorräte und Produktionsmethoden —
wo etwas von dem fehlt, da können wir uns nicht gut ,, Wirtschaft’
vorstellen. So bilden diese Daten nicht ihrem konkreten Inhalt nach,
sondern ihrer allgemeinen Form nach notwendige Voraussetzungen der
Wirtschaft. Damit ist eines für uns gegeben: wollen wir den Tatbestand
der Wirtschaft vollständig erfassen, so müssen wir auch von diesen Daten
alles das in die Definition aufnehmen, was an ihnen für die Wirtschaft
notwendige Voraussetzung ist. Wir dürfen nicht irgendetwas als still-
schweigend gemachte selbstverständliche Voraussetzung stehen lassen,
ohne es in den Kreis unserer Untersuchungen bewußt einzubeziehen, wir
dürfen uns nicht damit begnügen, das zu analysieren, was die theoretische
Nationalökonomie ausdrücklich behandelt, wir müssen auch ihre außen-
stehenden Annahmen betrachten. Wenn aber die theoretische National-
ökonomie „Menschen mit bestimmten Anlagen und Bedürfnissen“, ein
„zeographisches Milieu“ usw. als gegeben ansieht, so baut sie ihre
Untersuchungen auf eine Grundlage von ihr wesensfremden Elementen auf.
Alle diese Worte bezeichnen entweder gänzlich unbestimmte Popular-
begriffe oder aber Begriffe, welche wissenschaftlichen Systemen angehören,
die der Nationalökonomie fremd sind — in beiden Fällen sind sie in dieser
Bildung in der theoretischen Nationalökonomie nicht zu brauchen. Wir
1) Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. 1912, S. 464.
(04 Richard Sitrigl.
wollen nicht darauf hinaus, die Bedeutung etwa des geographischen Milieus.
der „sozialen und wirtschaftlichen Organisation“ usw. für die Wirtschaft
zu leugnen Diese Worte bezeichnen etwas, das unzweifelhaft für wirtschaft-
liche Erscheinungen mitbedingend ist. Aber die Ausdrücke, welche das
hier Wirkende in dieser Art bezeichnen sollen, sind für unsere Wissenschaft
=- unbrauchbar, sie können nicht den Tatbestand der Wirtschaft definieren,
weil sie nicht im vorhinein allein mit Rücksicht auf die Gesetze der Wirt-
schaft geprägt wurden.
Eine Untersuchung über die ökonomischen Kategcrien muß jedenfalls
außer dem herkömmlichen Beeriffssvstem der Nationalökonomie auch
alles das betrachten, was unausgesprochen als Datum der Wirtschaft
unterlegt wird. So kann unser Ausgang nicht eine Betrachtung der her-
könmlichen Grundbegriffe der Wirtschaftstheorie sein, wir müssen
ehendart beginnen, wo die Wirtschaftstheorie ihren ersten Ausgangspunkt
findet.
IV.
Wirtschaft entspringt aus der „Lebensnot‘‘, die Gott] die Dominante
der Wirtschaft genannt hat.!) Aus der Tatsache, daß weniger Güter da
sind, als gebraucht werden, folgen gewisse Erscheinungen, welche einer
eigenen (resetzlichkeit unterliegen, jener Gesetzlichkeit, welche in den
Gesetzen der ökonomischen Theorie erfaßt wird. Der Tatbestand der
Lebensnot ist nun zunächst wenig präzise umschrieben. Wenn wir aus
ihm heraus den klar definierten Tatbestand der Wirtschaft gewinnen
wollen, so wird unsere Problemstellung so lauten: Welche Elemente
lassen sich aus dem — vorwissenschaftlich gefaßten — Tat-
bestand der Lebensnot gewinnen und müssen als notwendige
Voraussetzungen der Möglichkeit ökonomischer Gesetze ge-
dacht werden in der Weise, daß ohne die Setzung dieser
Elemente ein ökonomisches Gesetz nicht denkbar ist, daß
aber auch zugleich mit der Setzung aller dieser Elemente
notwendig sich der im ökonomischen Gesetz bezeichnete
Zusammenhang ergibt. Diese Elemente, die ökonomischen
Kategorien, wie wir sie genannt haben, definieren dann den
Tatbestand der Wirtschaft mit der strengen, für die Fach-
wissenschaft notwendigen Exaktheit.
1) Gottl, Wirtschaft und Technik (GrundriB der Sozialökonomik, II. Abt., 1914),
S. 208.
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 609
Hier mag es am Platze sein, eine kurze Bemerkung über die Frage
des Umfanges der Geltung der ökonomischen Theorie einzuschieben.
Der Tatbestand der Lebensnot ist in der menschlichen Geschichte immer
gegeben gewesen und er wird ohne Zweifel immer gegeben sein. Selbst
wenn es gelingt, die Versorgung aller Menschen in bezug auf die Existenz-
bedürfnisse vollkommen ausreichend zu gestalten, und wenn die hier in
Betracht kommenden Güter so reichlich vorhanden wären, daß sie über-
haupt nicht bewirtschaftet werden müßten — schon das ist Utopie —,
selbst dann würde es noch immer irgendwelche Güter geben, die knapp
sind, und seien es auch die überflüssigsten Luxusgegenstände. Der Tat-
bestand der Lebensnot wäre dann wenigstens für diese Güter gegeben,
wenn auch mit einer so sehr verschiedenen Einstellung des Einzelnen zu
diesem Tatbestande, daß man nicht gerne von ‚Not‘ sprechen wird, es
wird sich zeigen, daß die gefühlsmäßige und ethische Betonung, welche
auf dem Worte ‚Not‘ liegt, für die Wirtschaft nicht wesentlich ist.
Wenn wir nun bei unseren weiteren Deduktionen zur Gewinnune
der ökonomischen Kategorien von dem allgemeinen Tatbestande der
Lebensnot ausgehen, so sind die ökonomischen Kategorien und die aus
ihnen abgeleiteten ökonomischen Gesetze in demselben Ausmaße
„historisch-relativ‘‘ wie dieser Tatbestand der Lebensnot, oder aber: sie
sind mit diesem Tatbestande für die Geschichte der Menschheit allgemein
gültig, sie enthalten kein Element, das nur für begrenzte Teile der mensch-
lichen Geschichte als eine engere historisch-relative Determinante Geltung
hätte. Wenn wir den ökonomischen Kategorien Absolutheit oder all-
gemeine Geltung zuerkennen, so soll dies in diesem Sinne verstanden
sein; doch wir kommen auf dieses Problem noch zurück.
V.
Wenn die ökonomischen Kategorien dazu dienen sollen, eine exakte
ökonomische Theorie aufzubauen, und wenn sie aus der komplexen Er-
fahrung das rein Ökonomische hervorheben sollen, so bedeutet ihre Ge-
winnung einen Schritt auf dem Wege zur Lösung des Problems, wie sich
das rein Ökonomische zu den metaökonomischen Erscheinungen verhält.
Wir erinnern wieder an den zitierten Satz von Schumpeter, der eine
Reihe von außerökonomischen Elementen nennt, die sicher in einem nahen
Konnex mit dem ökonomischen Geschehen stehen. Es ist unzweifelhaft,
daß eine Erscheinung nur dann im Sinne eines ökonomischen Gesetzes
606 Richard Strigl.
determiniert sein kann, wenn die Daten unverändert bleiben; eine Änderung
etwa der Produktionsmethoden oder der Bedürfnisse wird auch in der
Wirtschaft zu Verschiebungen führen, die Art und Weise, wie jedes dieser
Daten ausgestaltet ist, wird von maßgebendem Einfluß auf die Wirtschaft
sein. So erscheint die Wirtschaft leicht als ein Gebiet, das nicht einer
Figengesetzlichkeit allein unterworfen ist, sondern in seiner Beeinflussung
durch fremdartige Gebilde gleichsam auf einem beweglichen Boden steht
und alle Bewegungen, die dieser macht, mitbefolgen muß. Die konsequente
Durchführung der Gedanken, welche uns bei der Aufstellung der ökono-
mischen Kategorien leiten, wird hier zu einer Klarstellung des Verhältnisses
zwischen dem rein Ökonomischen und dem Metaökonomischen führen.
Wenn wir eine gegebene Situation in den Formeln der ökonomischen
Kategorien erfassen, so finden wir die Konkretisierungen dieser reinen
Begriffe in einer historisch gegebenen Situation. Die Bestimmung eines
konkreten Objektes für unser Erkennen mag niemals in vollkommener
Weise möglich sein, wir fragen hier nur, welcher Art die Aufgabe ist, die
uns da vorliegt. Wir müssen jene Aussagen gewinnen, welche uns angeben,
wie jede einzelne ökonomische Kategerie in dem gegebenen Falle realisiert
ist. Wenn nun die ökonomischen Kategorien in ihrer allgemeinen Form
alles das zu erfassen imstande sind, was für die Wirtschaft wesentlich ist,
wenn sie den ökonomischen Tatbestand voll erfassen, dann müssen die
konkreten Ausgestaltungen der ökonomischen Kategorien alles das ent-
halten, was irgendwie Voraussetzung der Wirtschaft werden kann. In
der Beschreibung einer konkreten ökonomischen Situation darf nichts
fehlen, das den zu erwartenden ökonomischen Vorgang influenziert.')
Da diese Situation als eine ökonomische erfaßt werden soll, kann dies
nur in den Formeln der ökonomischen Kategorien geschehen: Das Meta-
ökonomische erscheint als Inhalt der ökonomischen Kategorien, die Daten
der Wirtschaft sind Konkretisierungen ökonomischer Kategorien. Die
Sätze, welche uns nun die Ausgestaltung dieser Kategorien in einer kon-
kreten Situation angeben, wollen wir die Organisation der Wirtschaft
nennen, wobei wir uns die Rechtfertigung dieser Bezeichnung, die sicher
auf den ersten Blick etwas ungewohnt erscheint, für später vorbehalten
müssen. Die Organisation erfaßt alles Historisch-Relative in der Wirt-
1) Über Datenänderungen, welche sich.während des Ablaufes eines Wirtschafts-
prozesses vollziehen können, und über die Erfaßbarkeit der Wirkungen derselben
sprechen wir später.
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 60%
schaft. Alle die metaökonomischen Elemente, welche fiir die Wirtschaft
relevant werden können, müssen Teil der Wirtschaftsorganisation werden.
Vielleicht ist es vorteilhaft, wenn wir diesen Gedanken noch in anderer
Formulierung wiederholen. Alle die Daten der Wirtschaft, die etwa die
Tatbestandsbeschreibung Schumpeters nennt (Menschen mit Bedürf-
nissen und Anlagen, soziale und wirtschaftliche Organisation, Güter-
vorräte usw.), sind als Teil der Wirtschaft in ihrer konkreten Ausgestaltung
Inhalt ökonomischer Kategorien und werden als solcher in den Sätzen
der Organisation der Wirtschaft erfaßt. Es wäre unrichtig, diese Daten
selbständig vor und außerhalb des Wirtschaftlichen stehen zu lassen;
das würde für sie eine Begriffsbildung bedeuten, die nicht nach den Er-
furdernissen der Ökonomie vollzogen ist; in der ökonomischen Betrachtung
nehmen die Daten die Form der ökonomischen Kategorien an.
Mit dieser Bestimmung des Verhältnisses des Metaökonomischen
zu den ökonomischen Kategorien haben wir unsere Stellung zu einer Frage
bereits im wesentlichen festgelegt, welche für die ökonomische Theorie stets
von großer Bedeutung gewesen ist — wenn sie auch von Fachtheoretikern
verhältnismäßig wenig ex offo bearbeitet wurde, und wenn auch die Zahl
der Untersuchungen, welche vom Standpunkte der ökonomischen Theorie
ausgehend eine prinzipielle Lösung versuchen, eine recht spärliche ist:
es ist die Frage, welche Bedeutung die soziale Kategorie in ihrem Verhält-
nisse zu dem rein Okonomischen hat.
Zunächst wollen wir hier festhalten, daB für uns die Frage nach den
sozialen Bedingungen der Wirtschaft keine selbständige Stellung hat
neben der Frage nach dem Historisch-Relativen in der Wirtschaft über-
haupt: wir haben, als wir die Daten der herkömmlichen Tatbestands-
bestimmung für einen Teil der Wirtschaftsorganisation erklärten, keine
Unterscheidung gemacht zwischen den sozialen Elementen („soziale und
wirtschaftliche Organisation“) und den „natürlichen Gegebenheiten“
(geographisches Milieu etc.). Die Elemente, welche die Organisation der
Wirtschaft konstituieren, sind wohl recht verschiedener Art, sie kommen
aus den verschiedensten Bereichen der Erfahrung her — das ist unzweifel-
haft. Was wir postulieren — und wir hoffen, daß die Durchführung
unserer Untersuchungen die Erfüllbarkeit dieses Postulates erweisen wird —
das ist eines: daß diese disparaten Elemente für die Ökonomie einheitlich
erfaßt werden. Wir dehnen nun — das sei gleichfalls hier schon festgestellt —
dieses Postulat über die herkömmlichen Daten der Wirtschaft hinaus
GOS Richard Strigl.
auch auf jene Elemente aus, welche — obwohl sie zweifellos geeignet sind,
die konkreten Erscheinungen der Wirtschaft zu beeinflussen -—- von der
Theorie mit Absicht aus dem Bereiche des rein Ökonomischen verwiesen
wurden; wir meinen jene Momente, welche als außerwirtschaftliche Motive
und Momente zusammeneefaßt werden und als solche dem wirtschaft-
lichen Motiv entgegenwirken.') Hier gehen wir von der herrschenden
Lehre weiter ab, als sonst irgendwo. Zweifellos hat die Methode der
isolierenden Betrachtung der Wirkung eines wirtschaftlichen Motivs
so viele Nachteile für das Bild der Wirtschaft, das uns die Theorie gibt.
daß man leicht annehmen kann, die Vertreter der Isoliermethode hätten
aus der Not cine Tugend gemacht, hätten von den außerwirtschaftlichen
Motiven deshalb abgesehen, weil es nicht gelungen ist, sie in den Rahmen
des theoretischen Systems einzuspannen. Dann wird es nur erfreulich
sein, wenn sich aus unserem Ausgangspunkte ergibt, daß die Einbeziehung
dieser Elemente möglich ist. ja daß sie notwendige ist. Darüber wird an
geeignetem Orte gesprochen werden, hier sei nur gezeigt, was wir auf
unserem \Were gewinnen können. Wenn Wirtschaft jeder Erfahrunes-
inhalt ist, der in den allgemeinen Begriffen der ökonomischen Kategorien
erfaßt werden kann. wenn weiters die Organisation der Wirtschaft jene
Determinanten erfaßt, welche die konkreten Ausgestaltungen der ökono-
mischen Kategorien ergeben, wenn die Wirtschaftstheorie die Gesetze
aufzeict, welche sich aus den ökonomischen Kategorien ableiten lassen,
dann ist die empirische Wirtschaft ein Dasein, das nach diesen allgemeinen
Gesetzen bestimmt ist, dann ist die Nationalökonomie als eine theoretische
Wissenschaft von empirischen Erscheinungen begründet. Nicht als eine
empirische Wissenschaft im Sinne jener, welche nur vom Sammeln der
Tatsachen ausgehen wollten, ohne eine vorhergehende theoretische Analyse
velten zu lassen — wohl aber als eine Wissenschaft von der Erfahrung in
dem Sinne, wie es irgendeine Naturwissenschaft ist, die Erscheinungen
als gesetzmaBig begreifen will.
Es ist für eine Wissenschaft des physischen Geschehens oft schwer,
alle Bedingungen, unter welchen ihre Gesetze in einem gegebenen Valle
wirken, zu erfassen. Ein oft gebrauchtes Beispiel: Wenn die Meereswogen
an eine zerklüftete Küste stoßen, so sehen wir in der Brandung ein wirres
Durcheinander, das im Einzelnen zu bestimmen unmöglich wäre — und
!) Böhm-Bawerk, Macht oder ökonomisches Gesetz? Zeitschrift für Volks-
wirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, 23. Bd., 1914, S. 217 f.
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 609
doch zweifclt niemand, daB der Weg eines jeden Wassertropfens nach
allgemeinen Gesetzen bestimmt ist. Nicht die Unvollkommenheiten der
Wissenschaft, noch weniger die Unmöglichkeit der Aufstellung allgemeiner
Gesetze oder das Ineinanderwirken verschiedenartiger, einander wider-
streitender Gesetze sind die Gründe, welche die Erfassung des Details
verwehren. Wir kennen alle Kräfte, die da wirken, aber wir kennen nicht
das Detail der Bedingungen, unter denen sie wirken, wir kennen nicht die
Daten, welche ihrer Wirkung im einzelnen zugrunde liegen. Nicht anders
ist die Sachlage auf dem Gebiete unserer Wissenschaft. Es wird sich zeigen,
daß auch im Bereiche der Wirtschaft das Irrationelle, das oft im Einzel-
falle beobachtet wird, nur in den Daten liegen kann, die nicht immer voll
zu erfassen sind, während die ökonomischen Gesetze in strengster Kon-
sequenz die Wirkungen, die sich an den gegebenen Tatbestand knüpfen,
bestimmen.
VI.
Die Gesetze der ökonomischen Theorie sagen uns, was bei gegebener
Organisation der Wirtschaft eintreten wird. Und doch ist es nicht möglich,
alles Geschehen, das sich im Bereich der Wirtschaft abspielt, mit diesen
Gesetzen zu erfassen.
Bei der vorgetragenen Auffassung des Wirtschaftlichen ergibt sich
eine Zerfällung alles dessen, was es in diesem Bereiche zu erkennen gibt,
in zwei Teile: einerseits die ökononiischen Kategorien und anderseits
die Organisation der Wirtschaft — wobei die enge Beziehung zwischen
diesen beiden Teilen bereits erwiesen ist, die Organisation der Wirtschaft
ist nur Erfüllung der ökonomischen Kategorien. Nun können zweifellos
Änderungen in den Daten der Wirtschaft eintreten. Es wird unter Um-
ständen vielleicht möglich sein, diese Änderungen aus den wirtschaftlichen
Vorgängen unmittelbar abzuleiten (so etwa eine Vermehrung des Güter-
vorrates, eine Veränderung der (rüterverteilung), darüber ist hier nichts
weiter zu sagen — es wird aber auch oft eine Datenänderung eintreten,
welche sich nicht als Wirkung eines ökonomischen Gesetzes erfassen läßt;
ein ganz prägnantes Beispiel: Vernichtung von Gütern durch elementare
Naturereignisse. Derartige Ereignisse verändern das, was wir die Organi-
sation der Wirtschaft genannt haben, und wenn die neuen Daten Grundlage
wirtschaftlichen Geschehens werden, so wird zwischen dieser neuen Wirt-
schaft und der alten, vor Eintritt der Datenänderung bestandenen, eine
Zeitschrift flir Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Nene Folge, 1. Band. 41
510 Richard Strigl.
Bruchstelle sich zeigen, die mit der ökonomischen Theorie nicht überbrückt
werden kann. Das ist eine notwendige Folge des Verhältnisses der Organi-
sation der Wirtschaft zu den ökonomischen Kategorien. Nur aus den
allgemeinen Formen der ökonomischen Kategorien lassen sich die Gesetze
der Wirtschaftstheorie ableiten, nur bei gegebener konkreter Ausgestaltung
dieser ökonomischen Kategorien durch eine bestimmte Organisation der
Wirtschaft, nur bei gegebenen Daten zeigt sich das wirtschaftliche Ge-
schehen durch die ökonomischen Gesetze bestimmt. Eine Änderung der
Daten bedeutet eine Verschiebung der Anknüpfungspunkte für die öko-
nomischen Gesetze, sie wirkt im wirtschaftlichen Geschehen wie eine
Revolution, die sich außerhalb des Rahmens des Gesetzes vollzieht. Es
ist klar, daß derartige Ereignisse sich oft im Begriffssystem einer anderen
Wissenschaft als der Ökonomie erfassen lassen, daß wir da eine andere
als die ökonomische Gesetzlichkeit feststellen können, aber für den Bereich
der Fachwissenschaft der theoretischen Ökonomie ist ein derartiges Ge-
schehen grundsätzlich irrationell. Wenn wir alles Metaökonomische aus
dem Bereiche des Wirtschaftlichen ausschließen wollten und wenn wir
alles das, was in diesem Bereiche geschieht, in einer eigenartigen Gesetz-
lichheit erfassen wollten, so könnte es jetzt scheinen, als ob das Ausge-
schlossene gleichsam durch eine Hintertüre wieder in unser System hinein-
drängte. Wenn wir jetzt auf dieses Verhältnis hingewiesen haben, so ge-
schah dies vor allem, um festzustellen, daß hier die Reinheit unseres Systems
nicht gestört wird. Es handelt sich darum, der Ökonomie ein Gebiet zu
sichern, in dem sie autonom ist, in dem sie nach ihren Erfordernissen die
Tatsachen prägt, in dem das Geschehen nach ihren Gesetzen bestimmt ist.
Nun ist empirische Wirtschaft der in den Formeln der ökonomischen
Kategorien erfaßbare Erfahrungsinhalt. In ihrer vollen Konkretisierung
bilden die erfüllten ökonomischen Kategorien die Daten des einzelnen
wirtschaftlichen Geschehens. Was sich an diese Daten anschließt, das ist
durch ökonomische Gesetze erfaßbar, solange die Daten unverändert
bleiben. Das ist das klar umschriebene und strenge bestimmte Gebiet der
Wirtschaft, das ist der Bereich, in dem die theoretische Ökonomie Herrin
ist. Was darüber hinaus geht, ist für uns irrationell, hier ist der ökono-
mischen Forschung eine Schranke gesetzt, jenseits der andere Wissenschaften
ihr Glück versuchen mögen; wir haben unsere Aufgabe erfüllt, ein be-
stimmtes Geschehen als durch ökonomische Gesetze determiniert abzu-
grenzen. Es ist nicht schwer, Beispiele dafür zu finden, daß auch für andere
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 611
Wissensgebiete das empirische Geschehen nur soweit bestimmt ist, als
irgendwelche Daten sich nicht ändern. Die Flugbahn eines geworfenen
Balles ist durch bestimmte Daten fixiert, wenn der fliegende Ball von
einem Spieler aufgefangen wird und seine Flugbahn nicht weiter verfolgen
kann, so ist eine Datenänderung eingetreten; und wenn der Spieler den Ball
nunmehr zurückschleudert, so setzt er neue Daten für eine neue Flugbahn.
Auch hier kann eine theoretische Wissenschaft nicht alle Wege des Balles
aus einer Ursprungssituation ableiten, sie kann immer nur den Weg von
einer Datensetzung zu einer neuen Datensetzung beschreiben, die Setzung
der Daten muß für diese theoretische Wissenschaft irrationell bleiben —
das kann weder der Brauchbarkeit noch der Richtigkeit ihres Systems
Abbruch tun. Für die ökonomische Theorie können wir hier sehen, wie
notwendig es ist, klar zu erfassen, was für ihr Systen ein Datum ist, wie
erundlegend die Erkenntnis der allgemeinen Formeln dieser Daten, der
ökonomischen Kategorien, ist.
VII.
Wir haben als Inhalt der reinen ökonomischen Theorie die Ableitung
der mit den ökonomischen Kategorien gegebenen Gesetzmäßigkeit erkannt.
Doch ist mit dieser reinen ökonomischen Theorie noch nicht alles das er-
schöpft, was im Gebiete des Wirtschaftlichen in seiner GesetzmaBiekcit
erfaßbar ist, es ist auch ökonomische Theorie möglich, die einen engeren
Geltungsbereich hat. |
Die Organisation der Wirtschaft bedeutet eine Determination der
ökonomischen Kategorien bis in das Detail der empirischen Manniefaltig-
keit. Es ist nun denkbar, daß diese Sätze, welche in den einzelnen prak-
tischen Fällen die konkrete Ausgestaltung der ökonomischen Kategorien
zeigen, in einer solchen Weise zusammengefaßt werden, daß die Struktur
einer Wirtschaft in ihren wesentlichen Zügen, unter Vernachlässigung von
Ausnahmen und Details sichtbar wird. Es ist weiters möglich, diese Typen
einer Wirtschaftsorganisation von der Wirklichkeit mehr oder weniger weit
entfernt zu konstruieren, so daß wir zwischen der in ihrer Mannigfaltigkeit
unübersehbaren Erfahrung einerseits und dem jede denkbare Wirtschaft
erfassenden System der reinen ökonomischen Kategorien, welches nur
durch die allgemeinsten Formen der Daten einer Wirtschaft bestimmt
ist, anderseits einen Bau von verschiedenen Wirtschaften mit einer jeweils
typischen Organisation erhalten. Und wenn diese typischen Wirtschafts-.
612 Richard Strisl.
formen in gee'gneter Weise konstruiert sind, so ist es ohne weiteres möglich.
für sie eigene theoretische Gesetze zu finden. Wie die Daten einer solchen
konstruierten Wirtschaft durch eine nähere Bestimmung der ökonomischen
Kategorien gebildet sind, so sind die gewonnenen Sätze von diesen Deter-
minanten, von der vorausgesetzten typischen Organisation der Wirtschaft
abhängig: wir erhalten in das System der reinen ökonomischen Theorie
eingebaut eine Reihe von spezielleren Theorien, von denen jede nur für eine
zeitlich und räumlich begrenzte Wirtschaft gilt, eben für jene, in welcher
diese vorausgesetzten Daten sich finden.)
Es bleibe einstweilen völlig dahingestellt, welche verhaltnismaBie
Bedeutung den einzelnen theoretischen Systemen zuzuschreiben ist, ob die
spezielleren Systeme viel mehr sagen können, als das allgemeinste. ob viel-
leicht das letztere nur ganz wenige und ganz ınhaltsleere Aussagen enthält.
welche allein die Mühe für seinen Aufbau kaum rechtfertigen. Hier handelt
es sich ja zunächst nur darum, in groben Umrissen zu zeigen, in welcher
Richtung unsere weiteren Untersuchungen sich bewegen sollen. Und wir
glauben jetzt imstande zu sein, noch eine ins Gewicht fallende Recht-
fertigung für das Suchen nach den ökonomischen Kategorien vorzubringen.
Selbst wenn das Schwergewicht der thecretischen Erkenntnis der Wirt-
schaft in den spezieileien Theorien liegen sollte, selbst wenn also nur die
Aufnahme von vielleicht in hohem Ausmaße historisch-relativen Deter-
minanten ein brauchbares Erkenntnisgebiet fiir wirtschaftstheoretische
Forschung zu konstruieren vermag, selbst dann bleibt nur durch die Er-
kenutnis der reinen ökonomischen Kategorien der Zusammenhang der
verschiedenen Wirtschaftsformen gewahrt. Die ökonomischen Kategoiien
bilden das feste Gerüste, um das sich alles in der Wirtschaft dreht, und je
mehr einer die Bedeutung der Veränderungen in der Struktur der Wirt-
schaft erkennt, desto mehr muß er bestrebt sein, das Wenige, das beharrt,
zu erfassen. Es mag einer der reinen Theorie noch so skeptisch gegenüber-
stehen, er kann den Weg, den wir gehen wollen, nicht im voraus als einen
Irrweg bezeichnen. Wir legen uns ja nicht auf die Herausarbeitung der
reinen Theorie fest, wir wollen die allgemeinen Formen jeder Wirtschafts-
1) Wieser hat in seiner Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft (Grundriß
der Sozialikonomik, 1. Abt., 1914) in dieser Weise die ökonomische Theorie ver-
schiedener Wirtschaftsformen geschrieben, indem er zunächst die Theorie der ein-
fachen Wirtschaft behandelt und dann durch Heranziehung von neuen Determinanten
der Wirklichkeit näherzukonımen strebt.
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 613
theorie kennen lernen, um erst dann zu sehen, was wir mit ihnen anfangen
können — und wenn wir sehen werden, daß auf dein Gebiete der reinen
Txeorie mit den richtig formulierten ökonomischen Kategorien sich ein
System von großem Erkenntniswert bilden läßt, s» ist das ein Resultat
unserer Untersuchungen, nicht ihr Ausgangspunkt. Wenn wir die all-
gemeinen I ormeln der Daten, die ökomischen Kategorien, suchen, so wollen
wir zunächst nur die Elemente kennen lernen, welche die Wirtschaft auf-
hauen, wir wollen das Prinzip sehen, welches das Baugesetz jeder Wirt-
schaft ist, — und wenn wir die Organisation der Wirtschaft ihrem Wesen
_ nach erfassen wollen, so wollen wir das kennen lernen, was in ewig wech-
selnder Reichhaltigkeit sich in diese toten Formeln ergießt und aus ihnen
lebendige Wirklichkeit macht. Wollen wir auf der einen Seite die Begriffe
definieren, deren starr gesetzliche Relationen die Wirtschaftstheorie
behandelt, so wollen wir auf der anderen Seite sehen, wie vor und außerhalb
der Wirtschaft stehende Elemente, die der Ablauf der Jahrhunderte in
immer neuer Gestalt hervorbringt, Teil der Wirtschaft werden. Indem wir
so das Veränderliche in strengen, unabänderlichen Formen schen, wollen
wir versuchen, die historische Betrachtung der Wirtschaft in die theoretische
einzubauen, derart, daß bei aller Verschiedenheit des Erkenntnisweges und
des Erkenntniszieles doch beide Richtungen in einer Einheit erscheinen.
Es kann wohl nicht bezweifelt werden, daß hier die ökonomische Theorie
die Führung übernehmen muß.
. Sind die Aussagen über die ökonomischen Kategorien Gegenstand der
theoretischen Nationalökonomie, so ist die Organisation der Wirtschaft
Gegenstand wirtschaftsgeschichtlicher Betrachtung. Soll Wirtschafts-
geschichte selbständig neben anderen historischen Disziplinen bestehen
können, so muß sie ein eigenes Ziel haben, und dieses ist gegeben durch den
Bezug ihres Gegenstandes, der Wirtschaftsorganisation, auf den durch die
ökonomischen Kategorien definierten Tatbestand der Wirtschaft. Zur
Organisation der Wirtschaft gehört dabei das, was die ökonomischen Katc-
gorien in einer zeitlich und örtlich umgrenzten Wirtschaft konkretisiert:
Wirtschaftsgeschichte ist Geschichte der Daten der Wirtschaft und der
Wirkungen, welche sich in ökonomischer Gesetzmäßigrkeit an diese geknüpft
haben.
Keineswegs woilen wir das Postulat der Selbständigkeit der Wirt-
schaftsgeschichte dahin aufgefaBt wissen, daß diese Disziplin nur den
Ablauf der Änderungen in der Wirtschaftsorganisation schildern soll, ohne
614 Richard Strigl.
den Zusammenhang mit dem Außerwirtschaftlichen zu suchen. Im Gegen-
teil, unsere Ausführungen werden noch zeigen, wie sehr die Wirtschafts-
organisation mit allen denkbaren metaökonomischen Frscheinungen ver-
knüpft ist und nur in Zusammenhang mit diesen verständlich wird, und
die Wirtschaftsgeschichte kann es sich nicht verbieten lassen, ihre
Forschungsergebnisse in den Zusammenhang des ganzen gesellschaftlichen
Lebens einer Zeit einzufügen, — aber in dem Sinne muß die historische
Nationalökonomie selbständig sein, daß sie sich das Ziel setzt, aus dem
Material der Geschichte eine besondere Seite hervorzuheben, und dieser
besondere ‚„Teilinhalt‘‘ der Gesellschaft (Spann) soll gegeben sein durch
den Bezug auf das Erkenntnisgebict einer Gesetzeswissenschaft von der
Wirtschaft: erst wenn eine theoretische Nationalökonomie da ist, welche
der Wirtschaftsgeschichte ihr Gebiet aberenzt, hat die historische National-
ökonomie das Recht, als selbständige historische Disziplin aufzutreten.
Der Bezug auf den Popularbegriff der Wirtschaft kann hier nur eine ganz
vorläufige Umschreibung des Gebietes bedeuten, welche an allen den
Mängeln leidet, die die Sprachbegriffe für die Wirtschaftstheorie mit sich
brachten. Wie die theoretische Ökonomie Schwierigkeiten hat, wenn sie
ihr eigenes Gebiet bestimmen will, so fehlen auch der historischen National-
ökonomie die Kennzeichen, welche ihr Gebiet von dem Gebiete der Rechts-
geschichte, der Völkerkunde und der politischen Geschichte trennen —
oder besser: nicht von den anderen Gebieten trennen, sondern in dem
einheitlichen Zusammenhang als eigenes Interessengebiet bezeichnen.
Die Formeln der ökonomischen Kategorien erst geben auch der historischen
Nationalökonomie eine fest umrissene Aufgabe. Darüber wird mehr zu
sagen sein, sobald wir uns über den Inhalt dessen, was wir die Organisation
der Wirtschaft genannt haben, vollständig klar geworden sein werden
VIII.
Nur in einer Hinsicht soll schon hier eine nähere Bestimmung der
Organisation der Wirtschaft durchgeführt werden, indem wir einiges
über das Verhältnis des ,,Sozialen‘‘ zum Wirtschaftlichen aussagen. Dabei
können wir an die Untersuchungen anknüpfen, die Amonn der Bestimmung
des Objektes der Wirtschaft gewidmet hat.‘)
Amonn will das Objekt der Nationalökonomie bestimmen „als das
Objekt, das die Eigenart jener Probleme begrifflich erfaßt ausdrückt, welche
1) Amonn, Objekt und Grundbegriffe der theoretischen Nationalökonomie, 1911
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 619
zweifellos nach dem gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft als die
spezifisch nationalökonomischen, das heißt zu dieser bestimmten, tat-
sächlich vorhandenen, als Nationalökonomie bezeichneten Wissenschaft
gehörigen, gelten“.!) Er findet als Grundprobleme der Nationalökonomie
das Lohn-, Zins-, Rentenproblem, die Probleme des Geldes, des Kredits,
der Unternehmung u. a.?). Dann fragt er: „Worin liegt nun das Wesen,
die besondere Eigenart dieser Probleme ?*’, und er findet, „daß die Eigenart
dieser Grundprobleme durch ihren sozialen Charakter konstituiert wird,
also darin liegt, daß sie sozialwissenschaftliche Probleme im methodo-
logischen Sinn sind‘“‘.?) „Es handelt sich offenbar um sozial bedingte
Tatsachen, und zwar in dem ganz einfachen und klaren Sinn, daß wir es
mit Tatsachen zu tun haben, die nur unter der Voraussetzung eines sozialen
Zusammenlebens und Zusammenwirkens der Menschen, also eines irgendwie
evarteten sozialen Verkehrs, denkbar und möglich sind, Tatsachen, die
zwar von Individuen gesetzt werden, aber nicht in isolierter Selbständigkeit,
sondern in Abhängigkeit vom Wollen und Handeln anderer Individuen.‘*)
Dann erhebt sich die Frage: „Welche Art sozialer Bedingtheit ist es tat-
sächlich, die die Grundprobleme der Nationalökonomie in ihrer spezifischen
sozialwissenschaftlichen Eigenart konstituiert ?““ Oder auch: ‚Unter welchen
Bedingungen entsteht und besteht jener eigenartige soziale Charakter,
der die Grundprobleme charakterisiert und zu einer theoretischen Einheit
zusammenschließt ?“®) Schließlich stellt Amonn „folgende positive
ırundsätze für die Nationalökonomie als gegebene theorefische Sozial-
wissenschaft auf: Das nationalökonomische Preisproblem und im Anschlusse
daran alle spezifisch nationalökonomisch-sozialwissenschaftlichen Probleme
entstehen: nur bei einem sozialen Tausch, d. h. bei einem zwischen
mehreren Personen auf Grund eines sich gegenseitig bedingenden und mit-
<inander korrespondierenden Willens sich vollziehenden Tausches, be-
ziehungsweise sozialen Verkehrs ........ und nur unter der Voraussetzung
einer eine bestimmte Form des Tausches oder sozialen Verkehrs
bedingenden, die Tauschenden in der Art ihres Tauschens in gleicher Art
bestiminenden, bestimmten äußeren, d. h. unabhängig vom Willen der
1) A. a. O., S. 12.
2) A. a. O., S. 150.
3) A. a. O., S. 151.
4) A. a O., S. 159.
5) A. a. O., S. 165.
616 Richard Strigl.
Tauschenden geltenden, sozialen Ordnung oder Organisation des
sozialen Tauschverkehrs, und diese wird charakterisiert durch die folgen-
den vier wesentlichen Momente: J. die Anerkennung einer in gewisser
Hinsicht ausschließlichen (d. h. von allen anderen zu respektierenden,
aber nicht notwendig unbeschränkten) individuellen Verfügungsmacht
über äußere, d. h. außerhalb der Person eines der Tauschenden befind-
liche Objekte (als Voraussetzung des Tausches). 2. die Anerkennung eines
freien, d. h. von dem individuellen Willen der sozialen Verkehrssubjekte
abhängigen Wechsels dieser Verfügungsmacht (als Zweck des Tausches)
zugleich mit der dauernden Bindung an die einmal getroffene Verfügune.
>. Freiheit (d. b. lediglich vom individuellen Willen der Tauschenden
abhängige Möglichkeit) der Bestimmung des quantitativen Ver-
hältnisses der auszutauschenden Verkehrsobjekte (weil darin alle
nationalökonomischen Probleme, speziell das Preisproblein, wurzeln‘.
4. die Anerkennung eines allgemeinen sozialen Wertmaßes und
Tauschmittels (als Bedingung der Vergleichungsmöglichkeit dieser sozialen
Tausch- und Verkehrsakte).‘‘) |
Wir haben Amonns Objektsbestimmung der theoretischen National-
ökonomie in ausführlicher Weise wiedergegeben, weil wir hier den Versuch
sehen, einen Gedanken festzuhalten, dessen grundlegende Bedeutung auch
wir betont haben: es soll das der Wirtschaft als Objekt ciner theoretischen
Wissenschaft Wesentliche heransgegriffen und allein zur Objektsbestimmung
verwendet werden; so ist unsere Problemstellung mit jener Amonns
recht nahe verwandt. Nichtsdestoweniger ist unsere erste Einstellung der
Nationalökonomie eine ganz andere. Schon Spann?) hat gegenüber
Amonn darauf hingewiesen, daß die Beschränkung der Wirtschaft auf
soziale Beziehungen keine Berechtigung habe. „Notwendig sind alle Ele-
mente der Verkehrsbegriffe auf robinsonadische Grundverhältnisse zw ück-
führbar, weil jede Verkehrsbeziehung nichts ist, als individual-wirtschaft-
liches Handeln ..... Es ist .... zuletzt dieselbe Art von Grundverhält-
nissen, die wir in der Individualwirtschaft und in der Verkehrswirtschaft.
dieselbe Art von Begriffen, die wir in der Erzeugungslehre und in d'r
Preislehre antreffen; beide sind nur stufenmäßig und abartend verschieden.
zeigen aber methodologisch keinen gwattungsmäßigen Unterschied.'?)
— m
1) A. a. O. S. 180 f.
:) Spann, Fundament der Volkswirtschaftslehre, 1918, S. 10 ff.
3) A. a. O. S. 12.
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 617
Dadurch, daß Amonn nur innerhalb des Bereiches sozialer Beziehungen
von Nationalökonomie sprechen will, wird deren Gebiet durch eine
historisch-relative Annahme gegenüber dem Bereiche der üblichen national-
ökonomischen Theorie eingeschränkt. An sich wäre es kein groBer Verlust,
wenn die Wirtschaft Robinsons aus der Betrachtung der National-
ökonomie ausschiede — aber es muß doch darauf hingewiesen werden, daß
die geschlossene flauswirtschaft und die Wirtschaft des kommunistischen
Staates für die Betrachtung der theoretischen Ökonomie mit der Wirt-
schaft des isolierten Menschen zusammenfällt, und es muß auch beachtet
werden, daß die Erscheinungen der + Verkehrswirtschaft durchwegs als
Komplikationen verkehrsloser Wirtschaftsakte begreifbar sind, gerade
hier hat die österreichische Schule bedeutsame Erkenntnisse zutage ge-
fördert.
Will man wirklich das Objekt der Nationalökonomie mit Bedacht
auf die bestehende Wirtschaftswissenschaft bestimmen, so ist es wohl
nötig, zumindestens den Versuch einer Bestimmung zu unternehmen,
die über die Verkehrswirtschaft hinausgreift. Und wenn schon gewisse
soziale Verkehrsheziehungen als Objekt einer (resetzeswissenschaft uin-
erenzt sind, so muß die Frage gestellt werden. ob nicht daneben eine
theoretische Behandlung der verkehrslosen Wirtschaft mörlich ist und
ob dann nicht, wenn diese beiden Theorien nebeneinander stehen. über
sie eine allgemeinere, sie beide umfassende Theorie gebaut werden kann.
In dieser Richtung hat Amonn nicht weiter geforscht, für ihn ist der
sozialwissenschaftliche Charakter der Nationalökonomie im voraus fest-
stehend.*)
Will man das Verhältnis des Gebietes’ der theoretischen National-
ökonomie, so wie es die faktische Wissenschaft begrenzt, und des Bereiches
sozialer Beziehungen in denı alten Bilde zweier Kreise sich vorstellen,
so erhält man ohne Zweifel zwei Kreise, welche sich schneiden. Wenn
von dem, was die Wirtschaftswissenschaft interessiert, fast alles und
gerade das Bedeutendste soziale Beziehungen sind, so fällt dach ein kleiner
Teil des Wirtschaftlichen aus deren Kreis heraus. Und nun halten wir
uns wieder gewissenhaft an unser Programm, für die Bestimmung des
Wirtschaftlichen nur das für die ökonomische Theorie Wesentliche heran-
1) Für Amonn ist ein Argument gegen Schumpeter, daß dessen Theorie nicht
sozial seil |
618 Richard Strigl.
zuziehen. Da stehen wir vor der unvermeidlichen Konsequenz: Das Soziale
ist nicht ein dem von der theoretischen Ökonomie Erfaßten Wesentliches, es
ist ein — vom Standpunkte der ökonomischen Theorie zufalliges — Element
weitaus der Mehrzahl der Erfahrungstatsachen, welche die Wirtschafts-
theorie behandelt, aber kein notwendiges Element des Tatbestandes der
Wirtschaft. Damit ist die Frage nach dem ‚Sozialen‘ für die ökonomischen
Kategorien erledigt, diese enthalten als reine Formen nichts Soziales.
die Wissenschaft, welche ihre Beziehungen darstellt, ist keine Sozial-
wissenschaft. Wie ist es aber mit der Organisation der Wirtschaft ? Zweifel-
los bedingen soziale Tatsachen und Beziehungen die Wirtschaft, zweifellos
gehören diese zu den metaökonomischen Komplexen, welche Voraus-
setzung der Wirtschaft werden können, wenn sie auch nicht notwendige
Voraussetzungen sind. Wenn nun die Organisation der Wirtschaft alles
das erfaßt, was —- bildlich gesprochen -- von außen kommend in die
Wirtschaft eingreift, so muß diese Organisation der Wirtschaft derart
sein, daß sie soziale Elemente erfassen kann, und daß sie diese in der Forn:
der ökonomischen Kategorien zur Wirkung in der Wirtschaft bringen
kann. Die theoretische Nationalökonomie ist keine Sozialwissenschaft.
sondern enthält Aussagen über Begriffe, welche soziale und auch nicht-
soziale Erscheinungen erfassen können. Die soziale Wirtschaft erscheint
als eine durch Annahme einer eigenartigen Organisation — einer sozialen
Organisation — näher determinierte Wirtschaft, ihre Theorie ist historisch-
relativ zu dieser Annahme. Wir haben hier einen Fall vor uns, von dem
wir schon früher gesprochen haben: in die reine ökonomische Theorie
erscheinen theoretische Systeme mit historisch-relativen Voraussetzungen
eingebaut und eines dieser Systeme mit einer Voraussetzung von relativ
sehr allgemeinem Charakter ist die Theorie der sozialen Wirtschaft. Der
Gedanke, die Nationalökonomie müsse eine Sozialwissenschaft sein. Ist
wie ein Irrlicht der Theorie auf allen ihren Wegen vorgeschwebt, manche
Verirrung und manche überflüssige Kontroverse wäre der National-
ökonomie erspart geblieben, wenn die Forschung hier auf eine reinliche
Scheidung mehr Bedacht gehabt hätte. Fast alle Wirtschaft ist gesell-
schaftliche Wirtschaft, aber es gibt auch Wirtschaft, die nicht gesellschaft-
lich ist, es läßt sich eine solche wenigstens denken. Einfacher und klar
ist wohl nichts, das auf dem Gebiete der politischen Ökonomie jemals
gesagt worden wäre. Das Wort Wirtschaft bezeichnet hier das Objekt
der faktischen ökonomischen Theorie und ist auch in Übereinstimmung
Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. 619
mit dem Sprachgebrauch angewendet, vorbehaltlich einer genauen Be-
vriffsbestimmung können wir es hier ohne Zweifel gebrauchen. Die Theorie
der Wirtschaft hat sowohl die gesellschaftliche als auch die isolierte Wirt-
schaft zu behandeln oder aber: zumindest den Versuch zu machen, ihren
Bereich so weit auszudehnen. An sich ist Wirtschaft noch nicht etwas
Soziales, sie kann aber sozial sein, theoretische Ökonomie ist keine Sozial-
wissenschaft, sie kann aber für Tatbestände gelten, welche auch sozial
sind. Das sei hier festgestellt. Wir werden noch sehr viel über das soziale
Element in der Wirtschaft zu sagen haben, und es ist eine der Haupt-
aufgaben unserer Untersuchungen, zu zeigen, wie eng alles, was die theo-
retischeÖkonomiebehandelt, fastimmer mit historisch wandelbaren sozialen
Momenten verknüpft ist — aber gerade deshalb ist es notwendie, dem
Metaökonnmischen den gebührenden Platz anzuweisen. Soviel ist fest-
gestellt: ein alles Wirtschaftliche übergreifender Oberbegriff ist das
Soziale nicht, nur im Bereich dessen, was. wir als Organisation der Wirtschaft
bezeichnen, kann es seinen Platz finden. |
IX.
Blicken wir nun zurück auf den Weg, den wir hinter uns haben; unser
Ausgang war das Postulat einer spezifisch ökonomischen Begriffsbildung
für den Bereich der theoretischen Ökonomie, die Forderung. daß die Be-
griffe, mit welchen wir arbeiten, allein im Hinblick auf ökonomische Ge-
setze geprägt werden. Diese Begriffe in der höchsten erreichbaren All-
gemeinheit, die ökonomischen Kategorien, sollen aus dem Tatbestand
der Lebensnot gewonnen werden. Indem diese Begriffe die allgemeinen
Formeln ökonomischen Denkens bilden, müssen sie geeignet sein, den
empirischen Tatbestand einer Wirtschaft voll zu erfassen. Alles Historisch-
Relative in der Wirtschaft erscheint der ökonomischen Betrachtung als
Inhalt der ökonomischen Kategorien: hierher gehört alles das. was als Datum
der Wirtschaft bezeichnet worden ist, hierher gehört alles das, was an
metaökonomischen Elementen in die Wirtschaft eingreift.
Damit ist der Weg zu jener Betrachtung der wirtschaftlichen Er-
fahrung gewiesen, welche die Erscheinungen in der Weise ordnet, dab
sie den Gesetzen einer theoretischen Wissenschaft unterworfen erscheinen.
Wir fordern eine spezifisch ökonomische Betrachtung der wirtschaft-
lichen Erscheinungen, und das heißt: eine Betrachtung in den Denk-
formen der theoretischen Ökonomie. Die ökonomischen Kategorien sind
620 Prolegomena zu einer Theorie der ökonomischen Daten. — Richard Strigl.
das Rüstzeug des ökonomischen Denkens, 'sie sind förmlich die Brillen,
durch welche wir die Wirtschaft betrachten müssen.
Damit haben wir ein Programm entwickelt: es handelt sich darum,
gewisse elementare Faktoren der Wirtschaft aufzudecken, wobei wir
a priori die Anforderungen, welche wir an die zu gewinnenden Begriffe
stellen, umschrieben haben. Wir hoffen, zeigen zu können, daß dieses
Programm auch durchgeführt werden kann. Seine Durchführung bedeutet
nicht nur die Begründung der theoretischen Ökonomie als eine theoretische
Gesetzeswissenschaft, welche auf einem eigenen Fundament steht und
nichts, das außerhalb der Wirtschaft liegt, als Voraussetzung aufnehmen
muß, sondern sie muß auch eine Antwort geben auf die Frage nach dem
ökonomischen Ort für alles das Historisch-Relative, das wir in der Wirt-
schaft sehen.
Wir haben darauf hingewiesen, daß das ökonomische Denken immer
beeinflußt war von Begriffsbildungen, welche einer dem ökonomischen
Denken fremden Art kausalwissenschaftlichen Denkens entstammen.
Von diesem Fehler wollen wir uns freihalten, und damit zugleich noch
von einem anderen Fehler, welcher ein altes Erbübel der Volkswirtschafts-
lehre war: nicht nur das Denken über das Bestehende in nichtökonomischen
Denkformen hat die Ökonomie irregeführt, auch der Drang, ein Objekt
wie die Wirtschaft, das den Menschen zugleich als ethischen Subjekten
immer Probleme stellen mußte, nach den Geboten eines Sollens zu ge-
stalten, hat die ökonomische Forschung oft auf gefährliche Abwege geführt.
Diese Gefahr können wir mit Sicherheit vermeiden, wenn wir die ökono-
mischen Kategorien als reine Denkformen der Wirtschaft ableiten und
die Wirtschaftstheorie in strenger Konsequenz mit diesen aufbauen. Wenn
die Elemente, von denen wir in der ökonomischen Theorie ausgehen,
nichts sind als die notwendigen Elemente des Tatbestandes der Wirt-
schaft, dann können wir sicher sein, daß wir den Rahmen einer Gesetzes-
wissenschaft nicht überschreiten werden.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen
Jugend.
Statistisch-soziologische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung der Ver-
hältnisse Wiens in der Nachkriegszeit.
.Von Carla Zaglits.
I. Begriffliches und Methodisches. S. 621. — II. Reglementarismus
und Abolitionismus. S. 624. — III. Die Stellung des Rechtes zur sitt-
lichen Verwahrlosung. 8.630. — IV. Die allgemeine natürliche und
soziale Zusammensetzung der (sittlichen) Verwahrlosungsmasse. S.640. --
V. Beziehungen unserer Verwahrlosungsmasse zur Kriminalität. 85.657.
— Die Jugendlichen im besonderen. S. 661. — VI. Das Elternhaus. S. 666. —
a) Unehelichkeit. S. 666. — b) Verwaisung. S. 667. — c) Erbliche Belastung. 8.669.
— d) Elternberuf. S. 671. — VII. Sonstige Lebensumstände. S. 672. — a) Er-
ziehung. 5.672. — b) Schulbildung und Beschäftigung. S. 673. — c) Die Wohnfrage.
S. 674. — VIII. Fürsorgeeinrichtungen. S. 676. — IX. Ziele der Fürsorge-
politik für die verwahrloste weibliche Jugend. $.683. — Tabellen. S. 688.
I. Begriffliches und Methodisches.
Unter sittlicher Verwahrlosung verstehen wir alle jene Gestaltungen
des Sexuallebens, welche dem Gesellschaftsaufbau zuwiderlaufen.
Obgleich die sittliche Verwahrlosung stets beide Geschlechter umfaßt
und der aus ihr entspringende Schaden letztlich beide Geschlechter trifft,
ist doch ihre primäre Erscheinung die sittliche Verwahrlosung der
Frau. Denn der Frau nimmt die sittliche Verwahrlosung die Mutter-
stellung in der Familie und damit der Familie die Grundlage, dem Staat
und der Gesellschaft den Grundbau (das Fundament). Deshalb ist in der
sittlichen Verwahrlosung diejenige des weiblichen Geschlechtes das
eigentliche Problem für Staat und Gesellschaft.
Die Haupterscheinung der sittlichen Verwahrlosung des weiblichen
G eschlechtes ist die Prostitution. Schon die Römer erfaßten ihren Be-
622 Carla Zaglits.
griff als: palam corpore quaestum facere. Besonders in der Moderne ist
dann auf das Moment der Entgeltlichkeit Gewicht gelegt worden und
als Prostituierte gemeinhin jenes Individuum angesehen worden, welches
Prostitution als Haupterwerb treibt.
Die prostitutionellen Erscheinungsformen fanden, solange sie nicht
klassenmäßig auftraten, naturgemäß keine entsprechende Beachtung. Allein
schon die Zeit vor dem Kriege, vor allem aber der so viele negative Kräfte
entfesselnde Zusammenbruch hat diese — vom individuellen Stand-
punkte betrachtet — schwächeren Verwahrlosungsformen in bedrohlichem
Maße zu Klassenerscheinungen gemacht.
Es wird daher unsere Aufgabe sein, diesen Erscheinungen unser be-
sunderes Augenmerk zuzuwenden.
Bevor wir indes auf die Untersuchung des materiellen Inhaltes unseres
Problems eingehen, ist eine kurze methodische Auseinandersetzung not-
wendig. Das von uns betrachtete Problem findet seine Behandlung von
einer Reihe von Gesichtspunkten aus: |
1. Vor allem wird die sittliche Verwahrlosung vom ethisch-religiösen
Standpunkte aus bekämpft. Es ist selbstverständlich, daß im einzelnen
Falle diese Bekämpfung der sittlichen Verwahrlosung die grundlegende
sein wird und sein muß. Denn nur vom Standpunkte der Religion und
Ethik aus kann von den Einzelnen sittliches Verhalten gefordert werden.
Indem aber die Religion rein den Menschen als solchen zu heben sucht,
das Christentum den Menschen als Ebenbild Gottes zu den Gesetzen
Gottes zu führen strebt, sieht es in der Gesellschaft eine von seinem Stand-
punkte aus rein sekundäre Erscheinung. Die religiöse Behandlung des
Problems der sittlichen Verwahrlosung wird daher zunächst nur die Ver-
wahrlosung des Einzelnen, nicht aber die Verwahrlosung als Gesell-
schaftserscheinung bekämpfen. (Andrerseits wird aber eine Bekämpfung
der Verwahrlosung als Gesellschaftserscheinung auf ethisch-religiöser
Grundlage ruhen müssen.)
2. Die Bekämpfung der sittlichen Verwahrlosung durch den liberalen
Rechtsstaat erfolgt überwiegend vom sanitären Standpunkte aus.
Gegenstand der Soz‘alhygiene sind jedoch nicht die Verwahrlesungs-
erscheinungen, sondern Krankheitserscheinungen und Ansteckungsge-
fahren, die sezale Bedeutung ‚haben. Es ist daher grundsätzlich falsch
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 623
und nutzlos, die Prostitution nur vom sanitären Standpunkte aus be-
handeln zu wollen. ')*)
3. Endlich wird von mancher Seite die Bekämpfung der Prostitution
hauptsächlich vom wirtschaftspolitischen Standpunkte aus ver-
sucht. Diese Versuche gründen sich vorwiegend auf die materialistische
Geschichtsauffassung; eine Lehre, welche die geistig sittlichen Verhältnisse
bloß als Oberbau ansieht, der seine Gestalt von den zugrundeliegenden
wirtschaftlichen Zuständen erhält. Daraus wird nun der Schluß abge-
leitet, daß mit Aufhebung der heutigen auf Ausbeutung beruhenden
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, auch die durch diese bedingte
Form des außerehelichen Geschlechtsverkehres, die Prostitution hinweg-
fallen würde. .
Hinwegfallen würde allerdings nur die ökonomische Form, die Aus-
beutung und Bezahlung der Prostituierten. Die Promiskuitét aber, die
sittliche Erscheinung des freien Geschlechtsverkehres bliebe bestehen
und würde Recht des freien Individuums.
Diese, die Grundlagen unserer Gesellschaft gefährdende Utopie kann
als wissenschaftliche Meinung überhaupt nicht angesehen werden, sie
mußte hier nur deshalb Erwähnung finden, weil bereits Erscheinungen
sich bemerkbar zu machen beginnen, die ihrem ‚‚Idealzustand‘‘ der neuen
Ethik entsprechen würden, die wir aber nur als Entartung der Ge-
sellschaft werten können.
Bezüglich des Verhältnisses von Entartung und prostitutioneller
Verwahrlosung sei hier nur kurz folgendes bemerkt.
Die prostitutionelle sittliche Verwahrlosung ist, wenn sie weite Kreise
erfaßt, wie dies heute der Fall ist, eine relative Erscheinung, die Zeiten
soz'aler Verwirrung und wirtschaftlicher Not entspringt und mit der
Besserung der allgemeinen Verhältnisse wieder eingedämmt werden kann.
1) Siehe darüber auch Finger's Stellungnahme gegenüber dem schwedischen
Gesetz. Das schwedische Gesetz, betreffend die Maßnahmen gegen die Verbreitung
der Geschlechtskrankheiten, 20. Juni 1918, S. 11, Separatabdruck aus der klinischen
Wochenschrift 1919, Nr. 5.
2) Esist Sache der Medizin, die Erfolge der sanitären Behandlung der Geschlechts-
krankheiten und der Prostitution alseinen wichtigen Übertragungsherd zu beurteilen;
wir haben hier nur festzustellen, daß auch, wenn diese Erfolge vollständige sind
die Prostitution selbst keineswegs bekämpft erscheint.
O24 Carla Zaglits.
Denn die Prostitution stellt einen odiosen Erwerb dar, von welchem
die ihm Anheimgefallenen bei Änderung der allgemeinen Lage in vielen
Fällen wieder abgebracht, beziehungsweise bedrohte Individuen abge-
halten werden können.
Wird aber die regellose Geschlechtervermischung (Promiskuität)
als freies Recht des freien Individuums im Sinne der neuen Ethik gut-
veheiBen und von diesem Rechte sogar Gebrauch gemacht, dann haben
wir eine absolute Erscheinung vor uns, eben die Entartung, die nicht
mehr durch eine Besserung der allgemeinen Verhältnisse rückgängig wird,
sondern vielmehr die Zersetzung der Gesellschaft bedeutet.
Die Bekämpfung der Prostitution vom Standpunkte der materia-
listischen Geschichtsauffassung aus kann daher die Prostitution nicht
eindimmen, sondern sie fördert neben ihr nur noch eine weit ge-
fährlichere Erscheinung, die sittliche Entartune.
In den Aufgabenkreis der Sozialpolitik auf diesem Gebiete gehört
gewiß auch der wirtschaftliche Schutz der sittlich gefährdeten und ge-
fallenen weiblichen Individuen, wo ein solcher notwendig ist; jedoch muB
sich die Sozialpolitik gerade hier besonders bewußt werden, daß ihr
Kanıpf mit der sittlichen Verwahrlosung weit mehr ist — ein Kampf um
die Familie, um das Fundament der Gesellschaft. +)
Unter diesem Gesichtspunkte ist insbesondere die große Streitfrage zu
beurteilen, die die Gesellschaft in dem Kampfe mit den sittlichen Ver-
wahrlosungserscheinungen in zwei Hauptrichtungen teilt, in den Abo-
litionismus und den Reglementarismus.
II. Reglementarismus und Abolitionismus.
Abolitionismus und Reglementarismus sind beide nicht einer Be-
vriffsanalvse der vorliegenden Erscheinungen entsprungen.
Reglementarismus ?) ist ein Begriff, dessen Inhalt insbesondere auf
strafrechtlichem Gebiete mit Unterbrechungen epochenweise durch die
1) Vgl. Spann, Die Erweiterung der Sozialpolitik durch die Berufsvormund-
schaft, Tübingen 1912, S. 50.
2) Man versteht unter Reglementierung die Einschreibung weiblicher Individuen,
die die Prostitution beruflich ausüben, in polizeiliche Kontrollisten, hauptsächlich
zum Zwecke sanitärer Überwachung. — Diese Einschreibung kann eine zwangsweise
sein, woin mehrfachen Fällen die Erwerbsprostitution der Betreffenden nachgewiesen
ist, oder eine freiwillige, wenn sie auf eigenen Antrag des Mädchens geschieht.
i)
St
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 6
ganze Gesch chte verfolgbar ist, dessen Umfang sich zirka seit dem 15. Jahr-
hundert, seit dem Bekanntwerden der Syphilis auch auf das hygienische
Gebiet erstreckte und als solcher von Napoleon I. (zum Schutze des Heeres)
in ein System gebracht wurde und allmählich allgemeine Geltung er-
langte. ')
Die Gegenbewegung des Abolitionismus ist der allgemeinen liberalen
Strömung entsprungen, welche die restlose Herstellung der persönlichen
Freiheit und die Aufhebung aller dieselbe beschränkenden Rechte und
Maßnahmen forderte und in weitem Maße durchsetzte. Der Abolitionismus
ist in gewissem Sinne eine Tochtererscheinung der amerikanischen Abo-
lition der Sklaverei. Zunächst finden wir ihn in England, dem Lande des
Individualismus. Da in diesem Lande auch die Gleichberechtigungs-
kämpfe zwischen Mann und Frau viel früher sch fanden und viel weitere
Kreise erfaßt hatten, ist es leicht verständlich, daß hier eine Bewegung
entstehen konnte, die in der Abschaffung der Reglementierung ihr Haupt-
z’el sieht.?)
Wir sehen in der abolitionistischen Bewegung deutlich zwei Richtungen,
d'e französich-englische, die ihren extrem individual'stischen Charakter
beibehalten hat, und die deutsche Ricntung, die sich doch zu mehr uni-
versalistischen Tendenzen, wie sie dem universalistiscnuen Geiste des
deutschen Volkes entsprechen, weitgehend durchgerungen hat.
Dies betont auch Pappritz in ihren Ausführungen über die abolitionistische
Bewegung in Deutschland:?) „Während die Ausländer (auf den internationalen
Kongressen und Versammlungen) hauptsächlich das rein negative Zielim Auge hatten
(Abschaffung der Reglementierung) und viele unter ihnen sich sogar ganz darauf
beschränken wollten, trat bei den Deutschen immer mehr das Bestreben in den Vorder-
grund, neben das negative ein positives Programm aufzustellen, in der Überzeugung.
—
') Auch ist zu bedenken, daß England selbst nie Kriegsschauplatz war; krasser
in Erscheinung tretende Verwahrlosungsformen. die durch diesen Umstand begünstigt
worden wären, hätten auch schärfere MaBregeln erfordert.
2) Mit der Abschaffung der Reglementierung Hand in Hand geht natürlich die
Abschaffung der Bordelle. Über diesen Punkt ist mehr als reichliche Literatur vor-
handen. — Doch ist damit entsprechend unseren Ausführungen über die sittliche
Verwahrlosung noch herzlich wenig getan, da die unkontrollierte Prostitution sich
auf ,.Salons‘', ,,Stundenhotels’ usw. konzentriert und Mädchenhandel und Kuppel-
wesen infolgedessen noch immer üppig weiterblühen würde. wenn nichts
anderes geschähe außer Abschaffung der Reglementierung und der Bordelle.
3) A. Pappritz „Die aholitionistische Föderation. V : Einführung in das Studium
der Prostitutionsfrage‘“, Barth, 1919 Leipzig. S. 226.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 49
626 Carla Zaglits.
daß die Regierung und der Reichstag nur dann in die Abschaffung der Reglemen-
tierung willigen werden, wenn an ihre Stelle andere Maßnahmen gesetzt werden, die
geeigneter sind, die Unsittlichkeit zu bekämpfen und die Volksgesundheit zu schützen.
In diesen Be:trebungen finden die deutschen Abolitionisten bei ihren ausländischen
Gesinnungsgenossen wenig Verständnis. — ‚Menschen, die eine so übertriebene
Auffassung von dem Ideal und der persönlichen Freiheit haben, daß sie sogar unser
deutsches Versicherungswesen, unser Fürsorgeerziehungsgesetz und die Arbeiterinnen-
schutzgesetze als „Eingriffe in die persönlichen Freiheits- und Selbstbestimmungs-
rechte“ ablehnen, müssen natürlich eine so weitgehende Einmischung des Staates,
wie wir sie zum Schutze der Volksgesundheit fordern, als unerträgliches Zwangs-
mittel empfinden. Die deutschen Abolitionisten haben sich durch diese Meinungs-
verschiedenheit nie irre machen lassen, sondern ihr positives Programm von Jahr
zu Jahr weiter ausgebaut und mit immer größerer Energie vertreten.“
Eine Flut von Literatur, oft recht zweifelhaften Wertes, facht indes
beständig das Kampfesfeuer zwischen den Lagern der Abolitionisten und
Reglementaristen an.
Es sei nur ein objektiv beleuchtender Satz aus einem Vortrag
Prof. Rost’s über die Bekämpfung der Prostitution 1) herausgegriffen,
der einer von den wenigen knapp, klar und sachlich gehaltenen Vorträge
auf diesem Gebiete ist. „Das abolitionistische Programm entbehrt meiner
Auffassung der Logik insoferne, als ethische und rechtliche Forderungen
nicht scharf voneinander getrennt sind, und biologische und psycho-
logische Tatsachen nicht genügend berücksichtigt sind.“ Wenn wir aber
dann sehen, daß eben derselbe Mann am Ende seiner Ausführungen zur
Anstrebungs- und Durchführungsnotwendigkeit ganz ähnlicher prak-
tischer Maßnahmen kommt, die sich die deutschen Abolitionisten zum
Ziele setzen (siehe später), so ist zu sagen, daß es wirklich an der logischen
Verwirrung der ethischen und rechtlichen Forderungen des Programms
liegt, an dem „auf die Spitze treiben‘ idealistischer Weltfremdheiten,
daß der Abolitionismus sich ‘noch nicht entsprechend seinen sonst wert-
vollen Tendenzen durchsetzen konnte. Möge es gelingen, diese Hemmungen
zu beseitigen und ihn dem allgemeinen Verstehen in praktisch veränderter
Form näher zu bringen.
Daß der Abolitionismus sich trotz der Mängel in seinem gedanklichen
Aufbau doch ziemlich weitgehend verbreitet hat, hat einerseits seinen
materiellen Grund in der jetzigen Verbreitung der Geschlechtskrankheiten,
zegen die die Reglementierung nicht mehr aufkommen kann (daher wird
t) Rost, Bekämpfung der Prostitution, Sozialhygienische Mitteilungen, 4. Jahrg.,
Juli 1920, Heft 3, S. 75.
Nie sittliche Verwahılosung der weiblichen Jugend. 627
nach neuen Formen getastet) und anderseits neuerdings in der sexuellen
Verwahrlosung, nicht aber in der Tatsache der Prostitution als solcher.
Wir wollen nun die abolitionistischen Forderungen betrachten, was
auch insoferne von Wichtigkeit ist, als sie die Sittlichkeitsgesetzgebung,
beziehungsweise Gesetzesvorschläge und die Gefährdetenfürsorge in sehr
hohem Maße beeinflußt haben. Neben der Betonung des individualistisch-
rechtlichen Standpunktes der Frau und des sanitären Momentes enthalten
die Satzungen des „Deutschen Verbandes zur Förderung der Sittlichkeit‘“ +)
e'ne Reihe beachtenswerter Punkte. So z. B. Punkt II: ‚Der deutsche
Zweig bekämpft die Prostitution an sich als ein Laster und eine soziale
Krankheit, die vor allem durch soziale und ethische Reformen überwunden
werden muß.‘ Hierin liegt die erste — sagen wir zumindest — Unnot-
wendigkeit. f
„Prostitution muß durch soziale und ethische Formen überwunden
werden.“ Dies zu sagen, heißt soviel, als sich zum Ziele setzen, die Prosti-
tution völlig zu vertilgen, beziehungsweise ste unnotwendig zu machen,
dadurch, daß das Sexualleben für alle Menschen ein vollkommmen ge-
regeltes werde. „Was nun den biologischen Irrtum hierin betrifft, so
gehen die extremen Abolitionisten von der Tatsache aus, daß es Menschen
gibt, die ihr geschlechtliches Bedürfnis ohne Schädigung der Gesundheit
unterdrücken können und nehmen an, vermittels der sittlichen Kraft
könne die übrige Jugend dasselbe durchführen: Ein derartiger Irrtum zeugt
von völliger Unkenntnis des tatsächlichen Durchschnittsmenschen.‘ +)
Man darf nicht von Einzelerscheinungen oder doch auf eine Mindestzahl
stets beschränkt bleibenden Erscheinungen ausgehen, wenn man allgemein
gültige Maßregeln durchführen will. °)
1) Pappritz a.a.0.S. 226 ff. und Katharina Scheven ,,Abolitionistische Flug-
schriften“, Heft 5: „Die positiven Aufgaben usw. der Föderation“.
2) Blaschko ‚„IIygiene der Prostitution und der venerischen Krankheiten“,
Weyls Handbuch der Hygiene, Bd. 40, S. 36. Jena 1900. Obwohl dies außerhalb
des Zusammenhanges dieser Ausführungen steht, sei auch darauf hingewiesen, daB
auch nach der Lehre der Kirche keineswegs eine Ausrottung der Sünde zu erwarten
steht (s. Ev. Matt. 24, 7 und 12).
3) Daß praktisch allen Maßnahmen, die der Verminderung der Verwahrlosungs-
masse, der Sanierung der einzelnen Verwahrlosungsgefährdeten dienen, voll und ganz
zugestimmt wird, sei nochmals nachdrücklichst betont und darauf hingewiesen, dal
nachstehende Zeilen ausschließlich den Zweck haben, theoretische Irrtümer des
Abolitionismus zu beseit'gen und soziologische Tatsachen zu betonen.
628 Carla Zaglits. :
Es sei uns hier ein kleiner Exkurs gestattet:
Dieser soeben erwähnten positivistischen Richtung, die eine völlige Ausrottung
eines vorhandenenÜbels für möglich hält, steht die fatalistische, die negativistische
Richtung (Lombroso, Ferrero, Quesnay) gegenüber, die behauptet, ein gewisses Maß
von Verbrechen und Prostitution werde immer vorhanden sein müssen:
Beide vergehen sich von verschiedenen Seiten her an ein und demselben Objekt
— beide übersehen, daß ein für allemal gegebene, wirkende Kräfte in der Welt, die
sich als einzelneinihrer Form und Größe wohl verändern können, niemals verschwinden
und ihre Resultante ewig die gleiche bleibt.
Die positivistische Richtung übersieht, daß eine einmal gegebene Kraft niemals
verschwinden, sondern höchstens sich umsetzen kann, also unausrottbar ist; die
negativistische Richtung übersieht, daB die einzelnen Kräfte sich stets ändern, also
in ihrer Formgebung und ihrer sozial wirksamen Größe nicht die gleichen bleiben.
Die positivistische Richtung ist insofern die sozial aussichtsreichere als sie, zwar
auf einem theoretischen Irrtum aufbauend, praktisch die Verbesserung augenblick-
licher Mißstände herbeiführt.
Keine Gesellschaftsordnung kann je imstande sein, alle
Menschen im Sinne dieser Gesellschaftsordnung tätig werden
zu lassen, weil es in jeder Gesellschaftsordnung unter-. beziehungs-
weise überragende Individuen gibt, woraus natürliche Konflikte zwischen
Individuen und Gesellschaft stets erstehen werden. Es ist wohl möglich.
die überwiegende Mehrheit der Menschen mit der Gesellschaftsordnung
zu versöhnen, es ist aber unmöglich, ausnahmslos alle Menschen mit
der Gesellschaft zu versöhnen. Nur das erstere kann das letzte Bestreben,
das erreichbare Ziel aller sozialen Fürsorge sein.
Punkt lII des abolitionistischen Programms sagt: ‚Der deutsche
Zweig verwirft ferner die direkte Bestrafung der Prostitution:
1. weil die Strafe immer nur die Frau trifft, die Straflosigkeit des
Mannes aber, die Herrschaft der doppelten Moral und Justiz befestigt
und hiedurch die Sittenlosigkeit fördert;
2. weil es unmöglich ist, die Grenzen der gewerbsmäßigen Prosti-
tution in allen Fällen festzustellen.‘
Wir haben schon früher betont, daß die in Ziffer 1 erwähnte Tat-
sache ein sehr richtiger, aber nur ein äußerer Grund für die Aufhebun’:
- der Bestrafung der Prostitution ist; daß ihre Aufhevung notwendig isi,
greift aber zum Teil auch darum im Volksempfinden Platz, weil, wie
Ziffer 2 andeutet, ihr Begriff sich in den sittlicher Verwahrlosung weiter
Kreise gewandelt hat und man großer Massen auf dem Strafwege nicht
Herr werden kann.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 629
Vollkommen richtig ist, daß die Behandlung der beiden Greschlechter
auf diesem Gebiete keine dermaßen verschiedene bleiben darf, wie d'es
bisher der Fall ist. Aber sie kann auch keineabsolut gleiche werden, da
dies der Sachlage widerspräche, sondern siemuß eineäquivalente werden.
Den Ansatz hiezu sehen wir in den Fürsorgemaßnahmen, die sich für den
weiblichen . Tel den übrigen öffentlichen Maßnahmen anschließen.
(Grefährdetenfürsorge, Pflegeämter neben den Razzien auf Verletzung
des öffentlichen Anstandes und auf Geschlechtskrankheiten, z. B. in
Deutschland, Dänemark.)
Die weiteren Forderungen des deutschen „Zweiges‘‘ sind, daß sich
die Tätigkeit der Staats- und Polizeigewalt bei der Bekämpfung der ge-
schlechtlichen Unsittlichkeit auf die Punkte zu beschränken haben:
1. Bestrafung der Verletzung des öffentlichen Anstandes;
2. Bestrafung der öffentlichen Aufforderung zur Ausschweifung und
der Kuppelei ete.
Diese Forderungen sind berechtigt, aber unvollständig; denn es steht
nirgends geschrieben, daß sich die staatliche Tätigkeit auf diesem Geb‘ ete
nur auf Bestrafung zu beschränken habe!
Die übrigen, hauptsächlich auf praktische Maßnahmen bezüglichen
Punkte der Satzungen sind fast durchwegs zu billigen. Sie enthalten
Vorschläge zur Strafgesetzreform, zum Beispiel die Neuschaffung e‘ner
Schutzbestimmung gegen Ausbeutung der wirtschaftlichen Abhängigkeit
des weiblichen Geschlechtes zu unsittlichen Zwecken, das heißt Aus-
nützung im Sinne des Arbeitgeber- und Vorgesetztenverhältnisses; ferner
wrd Bestrafung der Unzucht gefordert, begangen oder versucht mit
Minderjährigen und mit Personen, welche nicht im Besitze der vollen
(reistes- oder Sinneskräfte sind. Ferner wird die Heraufsetzung des Schutz-
alters auf 18 Jahre gefordert. Diese Forderung widerspricht der Erkenntnis,
daß allgemeine Strafmaßnahmen nur dann Kraft und Wirkung erlangen
können, wenn thre Operationsbasis keine allzuweite wird; die Herauf-
setzung des Schutzalters auf 16 Jahre ist unbedingt anzustreben; welchen
Aufwandes bedürfte es aber, um alle die der Bestrafung zuzuführen, die
Mädchen unter 18 Jahren verführen? Das Gesetz würde dann einfach
praktisch niemals durchgeführt werden. +)
1) Eine Reihe von bedeutenden Verbesserungen auf diesem Gebiete, welche
überwiegend auf Anträge der Nationalrätin Olga Rudel-Zeynek zurückgehen,
enthält der neue österreichische Strafgesetzentwurf. Leider kann, da dieser erst nach
630 Carla Zaglits.
Man versuchte die beiden Extremrichtungen Abolitionismus und Reglemen-
tarismus einander näher zu bringen in den Bestrebungen des Neoreglementarismus
einerseits, des Diskretionismus anderseits. — Nach dem ersteren wird die Auf-
hebung der polizeilichen Kontrolle, die Errichtung allgemeiner ärztlicher Kontrolle
zur Bekämpfung der Krankheitsgefahr propagiert, gewisse Zwangsmaßregeln, wie
Eintragung in Gesundheitslisten, eine polizeiliche Aufsicht, stehen damit im Zusammen-
hang. — ,,Damit ist freilich der Unterschied von der alten Reglementierung in Wahr-
heit nicht sehr groß; nur eine freiere und daher wirksamere sanitäre Behandlung
und eine gesetzliche undrichterliche Garantie, sowie vernünftigere Auffassung über
die Geschlechtskrankheiten, zeichnen den Neoreglementarismus aus. t)
Der Diskretionismus erstrebt die völlige Aufhebung der Reglementierung und
Sittenpolizei; statt dessen soll die „allgemeine, gleiche, diskrete Anzeige-
und Behandlungspflicht aller Geschlechtskranken an ein zum strengsten Still-
schweigen verpflichtetes Gesundheitsamt eintreten.‘ 2)
Wir werden die Tendenzen der obgenannten Richtungen bei Besprechung der
Sittlichkeitsgesetzgebung noch genauer erwägen und beurteilen können.
III. Die Stellung des Rechtes zur sittlichen
Verwahrlosung.
Die rechtliche Stellung der Prostitution ist eine ganz eigentümliche
und immer hat sich die Schärfe aller Rechtssatzungen an der unabänder-
lichen Tatsache stumpfgewetzt, daß die Prostitution einerseits ihrem
Wesen nach strafrechtlich nicht ohne weiteres verfolgbar ist, da sie nicht
unbedingt eine Schädigung anderer Individuen zur Folge haben muß.
anderseits in ihrer jederzeit möglichen Ausartung die ganze Volks-
sittlichkeit und Volkskraft gefährden kann. (Es ist im vorhergehenden
und folgenden von den Geschlechtskrankheiten und ihrem Einfluß vor-
läufig völlig abgesehen, um das eigentliche Problem unverschoben durch
die Einwirkung der Geschlechtskrankheiten zu erfassen. Diese Fiktion
Drucklegung vorliegender Arbeit herausgekommen ist, auf die Einzelheiten nicht
weiter eingegangen werden. Es sei kurz hingewiesen auf § 606a, der Mißbrauch
der Notlage und Abhängigkeit einer Frauensperson unter Strafdrohung stellt, auf
$ 510, der das Schutzalter für Mädchen auf 16 Jahre festsetzt, und seine Ergän-
zung durch § 513 f, welcher Kuppelei und Ausbeutung der Unzucht unter 18 Jahren
unter besondere Strafdrohung setzt.
1) „Über SchutzmaBregeln für die Frauenwelt in hvgienischer und sozialrecht-
licher Beziehung‘, siehe Anhang: Zur Frage der Prostitution, Peters, Wien 1918, 8. 3+.
2) Dreuw ‚Neue Gesetze zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten‘‘, Con-
cordia, Zeitschrift der Zentralstelle für Volkswohlfahrt 1920, Nr. 20 21, Berlin, S. 214.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 631
ist umso berechtigter, als es vor dem 14. und 15. Jahrhundert keine Ge-
schlechtskrankheiten im heutigen Sinne gab, beziehungsweise der Zu-
sammenhang noch nicht erkannt worden ist.)
Die Prostitution stellt wie gesagt einen Erwerb dar, in dem vom
Standpunkt des Einzelnen kein Teil der Benachteiligte sein muß. Während
zum Beispiel der Dieb eine Enteignung vornimmt, wenn er stiehlt, ohne
eine Gegenleistung zu bieten, bietet das sich prostituierende Individuum
einen von individuellen Standpunkt der Beteiligten vollgültigen Gegen-
dienst. Infolgedessen ist also die Prostituierte nicht mit dem Landstreicher
und Bettler zu vergleichen, wie dies häufig geschieht. ')
Daß Prostitution aber eine odiose Erscheinung ist, hängt damit zu-
sammen, daß ihre Gegenleistung nicht im Sinne des Gesellschafts-
aufbaues, der menschlichen Organisation, im Sinne der Familie, sondern
in einem Familie und Gesellschaft zersetzenden Sinne wirkt.
Die Prostitution kann aber als Delikt gewertet und dementsprechend
behandelt, sich in dieser rechtlichen Stellung nicht halten, im modernen
Staate, wo die Freiheit der Individuen Grundrecht ist. Sie ist nur dann,
nur soweit Delikt, wenn sie in einer Weise, die der Rechtsordnung
zuwiderläuft, schädigt.
Wohl aber ist Prostitution auch in den Fällen, wo sie nicht Delikt
ist, sozialer Schaden; als sozialer Schaden sollte sie in geregelten Zeiten
nicht der Justiz, wohl aber den Maßnahmen jener staatlichen Tätigkeit,
die auf die Staats- und Volksinteressen gerichtet sind, nämlich der (sozi-
alen) Verwaltung unterworfen sein.
Nun, nachdem die rechtlich mögliche Stellung der Prostitution klar-
gelegt ist, dürfen wir das Vorhandensein der Geschlechtskrankheiten
auf unsere Sachlage einwirken lassen. Die Gefährdung der körperlichen
Sicherheit ist nach dem eben Gesagten im Wege der Justiz zu verfolgen.
Fahrlässiges Nichtwissen, beziehungsweise Nichtbeachten sollte in diesem
Falle der bewußten Verbreitung vollkommen gleichgestellt werden. Bloße
Gefahren jedoch fallen außer den Rahmen der Justiz. (Auch die An-
steekungsgefahr als solche.) Wohl aber können auch hier Verwaltungs-
maßnahmen einsetzen (wie dies auch zum Beispiel in Schweden, Dänemark,
Italien usw. geschieht), können Anzeigepflicht, Zwangsbehandlung vor-
beugend wirken.
') Siehe Z. 21, Zeile 15.
032 Carla Zaglits.
Dadurch ist klar, daß derartige MaBnahmen als FiirsorgemaBnahmem
berechtigt und als solche ihre Verletzung strafbar sein kann, und zwar
ist dies bei ihnen mindestens genau so der Fall, wie zum Beispiel bei den
Fürsorgemaßnahnıen der Zwangsversicherung. Neben äußerer Veran-
lassung für eine Anderung in der Stellung der Rechtsordnung zur Prost'-
tution, wie zum Be'spiel das äußerst mangelhafte Funktionieren der
Reglementierung gegenüber der ungeheuren Ausbreitung der Geschlechts-
krankheiten, ist dieinnere Ursache kurz der Übergang des alten Polize:-
staates in den modernen Rechtsstaat und weiters in den Rechtsstaat mt
sozialer Fürsorge. |
Zunächst wollen wir nun den Stand der Sittlichke'tsgesetzgebun
im Ausland betrachten.
In den nordischen Staaten bestehen schon seit langem, zum Beisp el
in Schweden seit Anfang des vorigen Jahrhunderts Zwangsmaßnahmen
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Dies hängt damit zusammen,
daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem infolge der
zahlreichen Kriege die Syphilis, zunächst unter den Truppen, dann aber
durch diese in der Landbevölkerung eine rapide Ausbreitung nahnı.
(Syphilisepidemien 1762 und 1792, nach dem siebenjährigen und nach
dem finnischen Krieg.) Bei dieser großen Verbreitung war aber im Charakter
der Syphilis eine Wandlung eingetreten, die immer dann eintritt, wenn
die Syphilis in einer in unhygienischen Verhältnissen lebenden Bevölkerung
endemisch auftritt und darin besteht, daß sie ihren Charakter als Geschlechts-
krankheit abstreift und zu einer gewöhnlichen kontagiösen Krankhe t
(wie zum Beispiel die Diphtherie) wird; damit fiel aber auch die Auffassung
der Erkrankung als einer diffanıierenden und die damit zusammen-
hängenden Vorurteile.!) Einschneidende Maßregeln gegen die Geschlechts-
krankheiten konnten daher unvergleichlich leichter die Billigung der
durch die Seuche in schwerer Notlage befindlichen Bevölkerung finden.
Es hängt also der Fortschritt auf diesem Gebiete in den nordischen
Staaten nicht allein, wie gemeinhin angenommen wird, mit größerer
Enthaltsamkeit zusammen, sondern vor allem mit h’storischen Tat-
sachen. Trotz alledem geschah die Überwachung der Prostitution
bis Anfang des 20. Jahrhundert mit Hilfe der Reglementierung. Es st
!) Finger ‚Das schwedische Gesetz, betreffend die Maßnahmen gegen die
Verbreitung der Geschlechtskrankheiten“, 20. Juni 1918, S.1, Separatabdruck aus.
der Klinischen Wochenschrift 1919, Nr. 5. i
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 633
also nicht weiter verwunderlich, daß der Abolitionismus in den nor-
dischen Staaten nach seinem Aufkommen zuerst Platz gegriffen hat;
auch kann die Aufhebung der Reglementierung nur segensreich gew:rkt
haben, da an ihre Stelle die Handhabung bereits e'n Jahrhundert lang
eingelebter allgemeiner Maßregeln gegen die Geschlechtskrankheiten trat
und entsprechende Fürsorgeeinrichtungen geschaffen wurden.
Das schwedische Gesetz vom 20. Juni 1918 zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten drückt seine Stellungnahme zur Prostitution
nur insofern aus, als dadurch die Reglementierung aufgehoben wird; was
aus dem sanitären Rahmen fällt, ist der freien sozialen Fürsorge überlassen.
Ein Standpunkt, der nur in einem vom Kriege unberührten Lande mit
einer solchen Ausnahmsstellung hinsichtlich der Geschlechtskrankheiten
statthaft und vielleicht erfolgreich sein kann. Im allgemeinen ist daher
eine solche Aufhebung der Reglementierung ohne entsprechende kräftige
Ersatzmaßnahmen nicht zu empfehlen. Dem gegenüber hat das dänische
Gesetz 1) die Sittlichkeitsfrage eingehender berücksichtigt. ‚Die polize!-
liche Gestattung der Prostitution wird aufgehoben. Gegen Personen,
die ein solches Gewerbe treiben, ist die Polizei befugt, einzuschreiten,
und zwar unter den Bedingungen und in der Weise, wie dies in dem Gesetze,
betreffend Landstreicherei angegeben ist.‘‘ Doch ist vorausgehende Ver-
warnung notwendig. In diesem Landstreichergesetz (3. März 1860) ist
vorgesehen, daß die Polizetbehérde von jedem, von dem man weiß, dab
er ke'n Vermögen, keine Erwerbsquelle und ke’ne Stellung hat ..., Aus-
kunft fordern kann, wie er sich unterhält. Sie kann auf ihn einwirken,
sich einen Erwerb zu suchen oder ihm mit Hilfe der Armenverwaltung
einen solchen verschaffen. i
Auch diese Stellung zur Prostitution, wobei wir hier davon abschen
wollen, daß eine Gleichbehandlung der Prostituierten in jedem Fall nicht
richtig ist, kann sich ebenfalls nur in einem Lande halten, daß der Welt-
krieg unberührt gelassen hat ; wo man es nur mit gewissen soz'alen Menschen-
eruppen und nicht mit verwahrlosten Massen zu tun hat und wo man
auch wirklich imstande ist, solehen Individuen Arbeit zu verschaffen.
Das dänische Gesetz-bringt ferner einen sehr scharfen Paragraphen über
die Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit, ferner über die Verführung
männlicher Personen unter 18 Jahren von Seiten Prostituierter u. a. m.
1) 11. Oktober 1906, Blaschko „Hygiene der Geschlechtskrankheiten‘‘, Weyls
Handbuch VIE. Anhang und Finger a. a. O.
634 Carla Zaglits.
In Norwegen wurde die Reglementierung 1887 aufgehoben, seither konnte
gegen Prostituierte auf Grund der Verletzung des öffentlichen Anstandes
und bei Mangel an Nachweis eines ehrlichen Gewerbes vorgegangen werden. — Gegen
wissentliche Übertragung der venerischen Krankheiten ist im norwegischen Gesetz-
buch gleichfalls in scharfer Weise Vorsorge getroffen. — Die Urteile über die Be-
währung des neuen Überwachungssystems vom hygienischen Standpunkt aus, und
nur dieser ist bisher zahlenmäßig erfaßt worden, sind geradezu entgegengesetzte. —
Während zum Beispiel die norwegischen Krankenhausärzte von einem weitgehenden
Übergreifen der Geschlechtskrankheiten seit Aufhebung der Reglementierung auf
arbeitende weibliche Schichten melden t), wurde auf dem internationalen Hygiene-
kongreß in London (1913) von dänischer Seite erklärt, daß die befürchteten Folgen
für die allgemeine Gesundheit in Dänemark nicht eingetroffen seien und das neue
System sich bewähre. — (Blaschko.)
Aus so widerstreitenden Ergebnissen lassen sich, wie wir sehen, keine irgendwie
gearteten Schlüsse ziehen und schon keineswegs für unsere gänzlich anders liegenden
Verhältnisse. — In England konnte sich, wie erwähnt, die Reglementierung nur kurze
Zeit halten, und wurde durch die lebhafte Agitation derAbolitionisten um 1880 ab-
geschafft. — Ein Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten wurde während
des Krieges geschaffen. — Im Jahre 1917 wurde ein criminal law amendment act
angenommen, auf Grund deren die Verführung jugendlicher Mädchen unter 16 Jahren
auch mit deren Zustimmung als strafbar erklärt wird, eine Zwangserziehung für
jugendliche Prostituierte eingeführt wird u. dgl. m. 2) Prostitution besteht selbst-
verständlich — was kaum zu erwähnen ist — nach wie vor in gleichem Maße
weiter; die Aufgreifung der Prostituierten geschieht nicht mehr systematisch.
sondern in unregelmäßiger, der Willkür der dazu befugten Organe überlassener
Weise. Aufgegriffene, die von den Gerichten abgeurteilt sind, können, — wennsie
wollen — einer Art Gerichtshilfe, die sie befürsorgen und eventuell in Heime unter-
bringen soll, überstellt werden. — Im allgemeinen hat sich die englische Gesetzgebung
mit Sittlichkeitsmaßnahmen nicht überlastet.
Die übrigen Länder nehmen teilweise eine Mittelstellung ein, teilweise stehen
sie noch auf reglementarischem Standpunkt.
Italien reglementiert zwar nicht mehr die Prostituierten selbst, aber die Pro-
stitutionslokale. |
In Ungarn besteht neben der offiziellen Kontrolle für solche, die die Prostitution
als Hauptberuf ausüben, auch eine Bestimmung für Personen, die nicht berufsmäßig
Prostitution treiben, sondern sie nur als Nebenerwerb benützen. — Diese haben sich
bloß einer wöchentlich einmaligen Untersuchung durch einen der Polizeiärzte zu unter-
ziehen und haben mit der Polizei unmittelbar nichts zu tun. — Sie erhalten ein so-
genannntes „Gesundheitsblatt‘‘, das aber nicht an Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen,
Erzieherinnen und Dienstboten ausgestellt werden darf. — Wenn sie aber den ehr-
-_— —
') Blaschko „Hygiene der Prostitution und der venerischen Krankheiten“,
S. 69,
2) Blaschko a. a. O. S. 372 f.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 635
lichen Beruf nicht mehr regelmäßig ausüben und ganz der Prostitution verfallen.
dann werden sie wie alle übrigen Kontrollprostituierten behandelt. 1) Dadurch dürfte
wohl die geheime Prostitution (weil sie nicht strafbar ist und der ärztlichen Be-
handlung sich daher weniger verbergen wird) besser faBbar sein und ist im übrigen
dem weiblichen Individuum der Rückweg ins bürgerliche Leben leicht gemacht, das
heißt. esist aus diesem eigentlich gar nicht herausgetreten, sondern hat die Prosti-
tution hineinverp flanzt!
Wir sehen, sittliche Vorteile gehen absolut nicht immer Hand in Hand mit
erzielten sanitären Vorteilen.
In Deutschland sind es vor allem zwei Gesetzesentwiirfe jüngster
Zeit, die uns interessieren: Der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten vom 16. Februar 1918, das ziemlich auf neo-
reglementarischem Standpunkt steht und der diskretionistische Entwurf
Schirmacher vom 25. Februar 1920. Die gesetzliche Grundlage des
heutigen Systemes der Reglementierung der Prostitution in Deutschland
ist § 361, Z. 6, St. G. Bl.: „Mit Haft bestraft wird eine Weibsperson,
welche wegen gewerbsmäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unter-
stellt ist, wenn sie den in dieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit.
der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes erlassenen
polizeilichen Vorschriften zuwiderhandelt, oder welche ohne
einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein, gewerbsmäßig Unzucht
treibt.“ Es ist also die Unzucht als Erwerb betrieben an und für sich
und grundsätzlich strafbar. Die Reglementierung bildet dann nur einen
Ausnahmezustand, ein schutzbietendes Verhalten gegenüber dieser grund-
sätzlichen Strafbarkeit, das der Wirklichkeit Rechnung trägt. Das Zu-
widerhandeln gegen die von der Polizei erlassenen Vorschriften bedeutet
eben nur ein Übertreten des Reglements, dessen Bestimmungen im Einzelnen
an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten wechselnde sind,
und das Delikt ist die Gewerbsunzucht.
Halten wir nun demgegenüber d'e neue Fassung des § 361, Z. 6:
„Mit Haft wird bestraft eine weibliche Person, die gewerbsmäßig Unzucht
‚treibt, wenn sie die zur Überwachung der gewerbsmäßigen Unzucht
erlassenen Vorschriften übertritt.‘‘ Dle Vorschriften erläßt der Bundesrat;
so weit er s'e nicht erläßt ... können sie von der obersten Landesbehörde
oder der von ihr bestimmten Behörde erlassen werden. Die Änderung
besteht darin, daß an Stelle der bisherigen grundsätzlichen Strafbarkeit
1) Näheres siehe Blaschko, a. a. O. S. 371.
630 Carla Zaglits.
der gewerbsmäßigen Unzucht, ihre grundsätzliche Straflosigke:t
tritt.
Die Vorschr’ften dieser Gesetzesvorlage sollen aber keine Anwendung
finden auf M’nderjähr;ge unter 18 Jahren. Wenn solche Personen gewerbs-
mäßig Unzucht tre’'ben, oder derartigen Verdacht veranlassen. so sind
s'e der Vormundschaftsbehörde zuzuführen, die dann die erforderlichen
Erziehungs- und Besserungsmaßregeln anzuordnen hat. Dieser dienen dann
als Hauptstützen das Fürsorgeerziehungsgesetz (vom 2. Juli 1900) und
das zu seiner Durchführung errichtete Jugendger:cht. (Die Unterbringung
in F. E. wird nach untenstehenden ') Grundsätzen angeordnet.)
Von hervorragender Bedeutung in den Richtlinien für die Aus-
führungsvorschriften dieser Gesetzesvorlage sind die Bestimmungen über
die Schutzaufsicht. „\Weibl’che Personen, die Gewerbsunzucht tre:ben,
oder dess’ verdicht’gt sind, können m't ihrer Zustimmung unter Schutz-
aufsicht gestellt werden. Stellt sich eine weibliche Person, die einer polize:-
lichen Aufsicht unterworfen werden kann, unter Schutzaufsicht. so
unterbleibt d'e polizeiliche Aufsicht.‘ Und sogar wenn sie bereits unter
polizeilicher Aufsicht steht, so kann sie um ihre Entlassung bitten, wenn
s'e sich gleichzeitig unter Schutzaufsicht stellt; auch die schutzaufsicht-
übende Stelle kann dies beantragen. Die Schutzaufsicht hat den
Zweck, die gefährdeten und gefallenen weiblichen Personen fiirsorgerisch
zu beeinflussen, indem sie ihnen durch Arbeitsvermittlung und Be-
seitigung sonstiger Hindernisse, eben durch fürsorgerische Hilfe in ihrem
eigentlichen alles umschließenden Sinne ein anständiges Leben ermöglicht.
Dadurch wäre Abhilfe für alle besserungswilligen und besserungsfahigen
Individuen geschaffen. Wird die Betreffende rückfällig, dann tritt d.e polizet-
liche Aufsicht wieder ein. Der Gesetzesvorschlag steht also noch staık
unter reglementaristischem Einfluß. Er gelangte nicht zur Annahme.
1) I. Wenn die Voraussetzungen des § 1666 und des § 1838 des Bürgerlichen
Gesetzbuche; vorliegen und die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um die Verwahr-
losung der Minderjährigen zu verhüten. 1). Wenn der Minderjährige eine strafbare
Handlung begangen hat wezen derer in Anbetracht seines jugendlichen Alters straf-
rechtlich nicht verfolgbar ist, und Fürsorgeerziehung mit Rücksicht auf die Be-
schaffenheit der Handlung, der Persönlichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher
und der übrigen Verhältnisse, zur Verhütung weiterer sittlicher Verwa hrlosung des.
Minderjährigen erforderlich ist. III. Wenn die Fürsorgeerziehung außer diesen Fällen
wegen Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen Er-
zieher notwendig ist.
Die sittliche Verwalrlosung der weiblichen Jugend. 637
Inzwischen sind durch die preußische Landesversammlung eine Reihe
von Bestimmungen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten erlassen
worden. Von den späteren Gesetzesvorschlagen beschäftigt sich ins-
besondere der Gesetzentwurf von Schirmacher mit der Prostitutionsfrage.
Dreuw, dessen Schöpfung er ja eigentlich ist. sagt darüber folgendes: „Durch
das System des Diskretionismus wird auch die Prostitutionsfrage gelöst. — Die
Sittenpolizei und die Reglementierung (der berüchtigte § 361, Z.6im St. G. BL)
wird abgeschafft. — Die Kontrollmädchen werden Bürgerinnen wie alle
anderen, mit allen Rechten solcher, sie werden nicht mehr gehetzt und gejagt, sie
haben wie jeder andere geschlechtskranke Bürger, auf Kosten des Staates (!), wöchent-
lich den Nachweis (durch Einschreibebrief) der Gesundheit an das Gesundheitsamt
zı erbringen. Da sie aber, wie die Praxis ergibt, dauernd krank oder krankheits-
verdächtig und besonders gefährlich sind, müssen sie den Nachweis nicht einmal.
sondern dreimal wöchentlich, erbringen. Ein Pflegeamt, dem ein Arzt und eine sozial
ausgebildete Fürsorgerin vorsteht, kümmert sich um ihre sozialen, wirtschaftlichen
und ethisch-moralischen Verhältnisse, soweit sie dem Gesundheitsamt die Nennung
ihres Namens gestatten oder selbst dem Pflegeamt ihren Namen und ihr Gewerbe
mitteilt. 1) (?) Man erkennt also die strenge und reinliche Scheidung zwischen der
Polizei (die ganz ausgeschaltet ist, und sich wie bei jeden anderen Bürger, nur um die
Aufrechterhaltung der Ordnung, des Anstandes und der Sittlichkeit kümmert und
die Befolgung der Gesetze, selbstverständlich auch dieses neuen Gesetzes, eventuell
erzwingt) zwischen dem rein medizinisch-sanitären Gesichtspunkt und dem Pflege-
Anl ee
Es soll ferner die Selbstmeldung am statistischen Gesundheitsamt der gewerbs-
mäßigen Ge-chlechtsverkehr treibenden Peson (Lewerbsunzucht ist abzeschaft)
keine bürgerlichen Nachteile für sie nach sich ziehen. (§ 14.)
Wer über 18 Jahre ist und gegen Entgelt mit einer Mehrzahl von Personen
gewerbsmäßigen Geschlechtsverkehr ausübt, ist bei einer Strafe von mindestens
drei Monaten Gefängnis verpflichtet, dies dem statistischen Gesundheitsamt mit-
zuteilen.
„Gewerbsmäßige unter 18 Jahren werden vom Gericht der Vormundschafts-
behörde zwecks weiterer Veranlassung gemeldet.‘
Gegen vorliegenden Gesetzesvorschlag, soweit er sich mit der Prostitutions-
frage beschäftigt, haben wir folgende erhebliche Einwände: |
Das statistische Gesundheitsamt will (wie Dreuw selbst sagt) nichts weiter
als die Gesundheit der GewerbsmaBigen und dadurch die Gesundheit der Allgemein-
heit sicherstellen. — Im übrigen „aber stört es sie in ihrem, wie die Geschichte ergibt,
') Wie wenige das freiwillig tun werden, darüber wird sich niemand, der
in der Fürsorgepraxis steht,in Zweifel sein! Gerade die jungen, körperlichnoch kräftigen
Individuen, denen weder Krankheitsfolgen, noch Altersanzeichen die Unrentabilität
ihres Berufes und den Ruin ihres Lebens vor Augen führen, werden fast niemals
freiwillig sich dem Pfiegeamt unterstellen.
038 Carla Zaglits.
ununterdrückbaren Gewerbe nicht, wie bisher die Polizei mit allen möglichen
Schikanen tat“. Dies zeigt denn doch eine sehr merkwürdige Beurteilung der öffent-
lichen Sittlichkeit. Der Diskretionismus wünscht also: Abschaffung der Reglemen-
tierung und steht dem Weiterbestehen der Prostitution keineswegs im Wege! Soll
denn die Weiterentwicklung abolitionistischer Tendenzen in dieser Richtung ge-
schehen, daß — da in der Praxis die Ausrottung der Prostitution ja natürlich un-
möglich ist — man ihrer Ausbreitung nahezu freien Lauf läßt? Denn es ist klar, daß
sich dem Pflegeamt vor allem die zernichteten Existenzen, die hoffnungslosesten
Fälle zuwenden. Esist wohl keineswegs Aufgabe des Staates, einen Teil seiner Bürger,
ganz nach freiem Belieben sich austoben, sich und der Allgemeinheit schaden zu lassen,
um dann das Siechenhaus bereitzuhalten. Wenn wir also, die öffentliche, die moralische
Gleichstellung der Prostituierten mit den ehrlichen Bürgerinnen erwägen, wie sie in
obigem Gesetzentwurf vorgeschlagen ist, wenn wir ferner noch das zu erhoffende
Weiterschreiten der ärztlichen Kunst auch in bezug auf die Geschlechtskrankheiten
in Betracht ziehen, was soll dann eigentlich jedes nur halbwegs willensschwankende,
im ordentlichen Erwerb (ihrer eigenen Schätzung nach, oder auch tatsächlich) nicht
hinlänglich bezahlte Mädchen davon abhalten, Prostitution zu treiben ?
Es wird wohl niemand daran zweifeln, daß einer solchen laxen Auffassung der
Gesetzeslegung die öffentliche Moral sich nur zu rasch und gerne anpassen wird.
Obigem Gesetzentwurf liegt 'also eine Irreleitung abolitionistischer Tendenzen zu-
grunde, die bloß der einen Hälfte, dem negativen Teil ihres Programms entspricht:
Abschaffung der Reglementierung. Im übrigen zeigt die Behandlung der Sittlich-
keitsfrage extrem individualistische Formen, deren Ablehnung vom deutschen Volke
im Interesse seines Weiterbestehens zu erhoffen ist!
In Österreich fußt die Überwachung der Prostitution heute ebenfalls
noch auf den Vagabundengesetz, d. i. dem Gesetz wider Arbeitsscheue
und Landstreicher vom 10. Mai 1873.')
1) § 1 Ergänzungsbestimmungen vom 24. Mai 1885 lautet: ‚Wer geschäft:-
und arbeitslos umherzieht und nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu
seinem Unterhalt besitzt oder redlich zu erwerben sucht, ist als Landstreicher zu be-
strafen.‘‘ (Strenger Arrest von 1—3 Monten, eventuell Verschärfungen.) Auf dieten
Vagabundenparagraph stützt sich rechtlich die Aufgreifung der Prosti-
tuierten. Die Unterkontrollstellung beruht auf $ 4 des Gesetzes vom 10. Mai 1813,
nämlich: ... „Und Personen, welche als Landstreicher verurteilt worden sind,
können mit den in $ 9 dieses Gesetzes bezeichneten Wirkungen unter Polizeiaufsicht
gestellt werden‘ — die Dauer derselben wird vom Tage der Entlassung angefangen
auf drei Jahre beschränkt. — Des Weiteren normiert $ 9 die zulässigen Beschrän-
kungen der persönlichen Freiheit, welcher die der Polizeiaufsicht Unterworfenen
unterliegen, so bezüglich ihres Aufenthaltsortes, des Wohnungswechsels usw. Ferner
kann von der Sicherheitsbehörde die Verpflichtung zu persönlicher Meldung in be-
stimmten Fristen auferlegt werden. (In unserem Falle ärztliche Untersuchung.)
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 639
Nach $ 5 der Bestimmungen vom 24. Mai 1885 steht die Bestrafung
der Frauenspersonen, welche mit ihrem Körper unzüchtiges Gewerbe
treiben, der Sicherheitsbehörde zu. Wenn solche Frauenspersonen:
1. die Gewerbsunzucht ungeachtet der polizeilichen Bestrafung fortsetzen, oder
2. insoferne polizeiliche Anordnungen bestehen, hiebei denselben zuwider-
handeln, oder
3. Gewerbsunzucht betreiben, obwohl sie wissen, daß sie mit einer venerischen
Krankheit behaftet sind, oder
4. durch auffallendes Benehmen öffentliches Ärgernis veranlassen, oder
5. jugendliche Personen verführen, so sind sie mit strengem Arrest, und zwar
in den unter Ziffer 1 und 2 bezeichneten Fällen zu 8 Tagen bis zu drei Monaten, in
den unter Ziffer 3, 4 und 5 angeführten Fällen aber in der Dauer von 1 bis zu 6 Mo-
naten zu bestrafen. — Personen beiderlei Geschlechts, welche außer den Fällen des
$ 513 des St. G. Bl. vom 27. Mai 1852 aus der gewerbsmäßigen Unzucht anderer
ihren Unterhalt suchen, sind mit strengem Arrest von 8 Tagen bis zu 3 Monaten zu
bestrafen.
In den Fällen Ziffer 1 und 2 tritt die strafgerichtliche Verfolgung auf Begehren
der Sicherheitsbehörde ein. |
Die zwangsweise Stellung der Prostituierten unter Kontrolle
ist in Österreich :) durch den Polizeidirektionserla8 (vom 5. April 1911,
S. A. 55), betreff der polizeilichen Überwachung der Prostituierten auf-
gehoben worden.
Wie in Deutschland so sind auch bei uns die Mädchen unter 18 Jahren
von der Kontrolle auszuschließen ($ 3). Aber auch die Stellung Minder-
jähriger unter Kontrolle wird nach Tunlichkeit vermieden, das heißt sie
wird erst dann vollzogen, wenn die vollkonımene, jede Besserung aus-
schließende sittliche Verwahrlosung in zweifelloser Weise festgestellt
wird (§ 5).
„Behufs Ermöglichung der Rückkehr der Minderjährigen zu einem
ordentlichen Lebenswandel ist auch ausnahmslos das Einvernehmen mit
1) Betreffend die Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Geschlechts-
krankheiten besteht in Österreich eine Vollzugsanweisung vom 28. November 1918.
Diese hat, speziell was Maßnahmen zur Förderung der Sittlichkeit, zur Bekämpfung
der Verwahrlosung betrifft, so gut wie gar keine Bedeutung und ist ihre Durch-
führung parallel neben der Reglementierung gedacht. In jüngster Zeit wurde ein
Gesetzentwurf von kompetent fachlicher Seite geschaffen, nämlich von dem der
modernen Sozialpolitik starkes Interesse entgegenbringenden Leiter des polizeiliche
Sittenamtes, Regierungsrat Dr. Weinberger, der auch meinen Studien auf diesem
Gebiete volles Verständnis und wärmste Anteilnahme entgegengebracht hat.
640 Carla Zaglits.
der Pflegschaftsbehörde und, wo es tunlich ist, mit bestehenden
humanitären Vereinen zu pflegen.‘‘ ($ 5.)
Was weiters die Beanständigung und Anhaltung von Personen be-
trifft, die der Ausübung gewerbsmäßiger Unzucht bloß verdächtigt sind,
so darf diese nur dann erfolgen, wenn das Einschreiten durch zweckent-
sprechende Beobachtungen ausreichend begründet werden kann. Damit
wird bezweckt, Mißoriffe tunlichst auszuschließen.
Wenn auch die Polizeivorschriften bereits Möglichkeiten zum Ein-
greifen der sozialen Fürsorge bilden, so sind sie jedenfalls dem Inhalt
und Umfang nach dem alten Prostitutionsbegriff angepaßt und können
den Anforderungen zur Bekämpfung der sittlichen Verwahrlosung längst
nicht mehr gewachsen sein. Inwieweit wenigstens der Verwahrlosung
der Jugendlichen einigermaßen Rechnung getragen werden konnte, wird
noch später erörtert werden.
Soviel steht fest: In der Behandlung sehr vieler Einzelfälle scheitern
nicht selten die schwersten Bemühungen der Organe an der Unüberbrück-
barkeit des Mangels eines zweckentsprechenden und insbesondere die
Prostitutionsfrage berücksichtigenden Geschlechtskrankheiten, — eines
Jugendfiirsorgegesetzes und wichtiger Einzelbestimmungen.
In den Richtlinien der in dieser Untersuchung eingeschlagenen
Gefahrdetenfiirsorgepolitik könnten ste zweifelsohne geschaffen und
durchgeführt werden, wenn bloß der öffentliche Wille genug stark, ein-
heitlich und wirklich auf die sittliche Not des Volkes eingestellt ist.
IV. Die allgemeine natürliche und soziale Zusammen-
setzung der (sittlichen) Verwahrlosungsmasse.
Hier handelt es sich vor allem darum, einen Überblick über jene
Bevölkerungsschichten, Lebensverhältnisse, individuellen Umstände und
Ursachen za gewinnen, die die Fluktuation innerhalb der Prostitutions-
masse zu einer in normalen Zeiten z’emlich gleichmäßigen machen, die
an Stelle der aus diesem Gewerbe ganz oder teilweise ausscheide.:den
Individuen (deren Ausscheidung infolge Krankheit, Verbe:seruny der
Lebensverhältnisse. redlichen Erwerb, Heirat oder Übergang in die kriminelle
Verwahrlosungsmasse u. a. m. erfolgt), stets neues Menschenmaterial
von Arbeitsscheuen, Entarteten, von gescheiterten Existenz2n zaführen.
Uber die Ursachen. die zur Prostitution führen, teilen sich die Meinungen.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 641
e
Wie bei anderen Verwahrlosungserscheinungen stehen sich auch hier An-
lagetheorie und Milieutheorie gegenüber.
Erstere wird und insbesondere auf diesem Gebiete von Lombroso
und seiner Schule?) geprediet; nämlich die Lehre von der geborenen
Prostituierten, das heißt dem psychisch und physisch degeneriert auf die
Welt gekommenen, zur Prostitution prädestinierten Weibe.
Ihm schließt sich vielfach Strömberg an?); er bezeichnet als typische
Eigenschaften der Prostituierten, Arbeitsscheu, bedingt durch Willen-
schwäche, Abenteurerlust, Habsucht, Bosheit, völlige Sorglosigkeit um
die eisene Zukunft, Hang zur Kriminalität. Treten noch Schamlosiekeit
und sexuelle Anästhesie dazu, so werde das Weib zur Prostituierten.
Blaschko sagt gegen Lombroso und seine Schule:») ‚Ihre Lehre
enthalte ein Körnchen Wahrheit in uneeheuerlicher Übertreibung. In
der Tat gibt es unter den Prostituierten einen kleinen Prozentsatz von
Individuen, die ihrer ganzen abnormen physischen Anlage nach von vorne
herein bestimmt zu sein scheinen für diesen Beruf, geborene Prostituierte;
ae das g'lt aber nicht für die weitaus größere Mehrzahl der Prosti-
tuierten, die sich aus der großen Masse der Durchschnittsfrauen rekrutieren
und die nur durch irgendwelche äußere Lebensverhältnisse zur Prostitution
gedrängt werden.“
Parent-Duchatelet +) sieht die Veranlassungen in verschiedenen
Begleitumständen liegen. Unter Leichtsinn, Arbeitsscheu, Not, Eitelkeit,
Verführung und Verlassenheit führt er auch häuslichen Kummer und
üble Behandlung, unordentliche Lebensweise der Eltern und böses Beispiel,
insbesondere Unsittlichkeit, Zwist im Elternhause usw. an. Wir werden
schen, wie zeitgemäß sich Parent-Duchatelet in seiner nach allen Seiten
gemäßigten Stellungnahme erweist.
‘) Lombroso-Ferrero „Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte‘, über-
setzt von Kurella, Hamburg 1894.
:) Strömberg ‚Die Prostitution’, Stuttgart 1899, 5. 65 ff.
*) Blaschko „Hygiene der Prostitution und der venerischen Krankheiten“,
Handbuch der Hygiene. S. 41.
4) Parent-Duchatelet „Die Sittenverderbnis und Prostitution des weib-
lichen (Geschlechts unter Napoleon I.‘ 1826, übersetzt von Serner, Berlin 1913, Potthof.
S. 440 f. Sein Werk diente auch für Schnapper-Arndt zur Grundlage für sein
Kapitel über Prostitution. Es ist eine von den wenigen ausgezeichneten Arbeiten
über diesen in der Literatur sehr mißhandelten Gegenstand.
Zaitschrift für Velkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge, 1. Band. 45
642 Carla Zaglits.
Freilich sind die Statistiken, die Duchatelet bringt, nicht ganz ein-
wandfrei und ist man sich manchmal nicht klar, auf welche Massen er
bez’eht, beziehungsweise kennen wir die Struktur dieser Massen selbst
nicht.
Neben der Unehelichkeit der Prostituierten, deren Statistik aber
nicht klar genug ist, ihrem Alter bei der Inskription in die Polizeiliste !)
untersucht er auch die berufliche Tätigkeit der Prostituierten, vor
ihrer Kontrollstellung.*) Er stellt die Zahl der Prostituierten bei echnet
auf je 1000 weiblichen Individuen der einzelnen Berufskategorien auf.
Allerdings sind weder die absoluten Grundzahlen, noch sonstige Anhalts-
punkte gegeben. Aus dieser Statistik ergiebt sich, daß zum Beispiel unter
1000 Dienstmädchen 81-7, unter 1000 Tagelöhnerinnen 45-8 %, unter
1000 Rasiererinnen (entsprechend den heutigen Friseusen) 47-6 % Pro-
stituierte vorhanden sind. Die Berufe sind allerdings zeisplittert und da
nähere Angaben fehlen, nicht zusammenfaBbar. Die Beteiligung det
Dienstmädchen an der Prostitution ist jedenfalls eine sehr hohe und höher
als die der Tagelöhnerinnen.
In dieser Hinsicht bringt Blaschko °?) eine erwähnenswerte Zu-
sammenstellung. Er stellt Erhebungen über Prostituiertenberufe, die in
Berlin zu drei verschiedenen Zeitabschnitten gepflogen wurden, zusammen,
(1855, 1873, 1898) und gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß die Anteil-
nahme der in der Industrie beruflich tätig gewesenen von 70% über
64-3 % auf 63-4% gsunken und umgekehrt die Anteilnahme der Dienst-
mädchen von 7-1% über 357%, auf 51-3% gestiegen ist.
Blaschko schließt hieraus, daß die arbeitende Bevölkerung Berlins
heute einen ungleich ungünstigeren Nährboden für die Prostitution bilden
muß, als früher; dies lasse sich nicht anders erklären, als daß nicht
nur ihre Eıwerbsverhältnisse sich im Laufe dieser Epoche günstiger ge-
staltet haben, sondern auch das intellektuelle und ethische Niveau der
Berliner Arbeiterbevölkerung heute viel höher stehe als vor einem halben
1) Duchatelet, a. a. O. S. 113 ff. .... stellt fest, daß die Beteiligung der
10- bis 14 jährigen Mädchen an der Eintragung in der Liste 1%, die der 15 bis 19 jäh-
rigen 28%, die der 20- bis 24jährigen die Höchstzahl 42-7°,,, die 25- bis 29 jährigen
wieder 175°, beträgt, die stärkste Frequenz also zwischen 15 und 24 Jahren liegt.
2) Duchatelet, a.a. 0., nach Schnapper-Arndt, „Sozialtatistik“, Leipzig
1908. Tabelle 1.
3) Blaschko, a. a. O. S. 40. siehe rückwärts Tabelle 2.
Die sittliche Verwabrlosung der weiblichen Jugend. 643
Jahrhundert. Gewi8 mögen auch die Industriearbeiterinnen, besonders
die geborenen Berlinerinnen mehr unter der gelegentlichen Prostitution
figurieren, aber auch das würde nach Blaschko auf ein höheres sittliches
Niveau hindeuten.
Da nicht alle drei Statistiken auf gleicher Verteilungsbasis ruhen, läßt
sich nichts Sicheres sagen. Besonders die dritte Statistik (c) mit ihren
kleinen Zahlen läßt die letzten Kurvenpunkte nicht fest ansetzen. Es
erscheint zweifelhaft, daß die gelegentliche Prostitution ein höheres sitt-
liches Niveau bedeuten soll; unserer Ansicht nach mag sie wohl auf einen
besseren privatwirtschaftlichen Standpunkt hindeuten, für die Volks-
sittlichkeit ist sie fressendes Gift.
Im allgemeinen ist ersichtlich, und es werden uns dies auch noch
nachfolgende Statistiken belegen, daß der Dienstbotenstand eigentlich
der gefährdetste Stand ist. Von der Seite der unehelichen Geburten im
Dienstbotenstand hat Spann t) die Frage nach der Gefährdung dieses
Berufstandes im Vergleiche mit dem Aıbeiterinnenstand eingehend unter-
sucht. Die ungünstigen sittlichen Verhältnisse im Dienstbotenstande
hängen hauptsächlich damit zusammen, daß sich die Dienstmädehen
fast durchwegs aus dem ländlichen Taglöhner- und dem bäuerlichen Stand
rekrutieren, das heißt aus solchen Kreisen, in welchen der voreheliche
Geschlechtsumgang entweder direkte Sitte oder wenigstens sittlich nicht
anstößiger, allgemeiner Brauch ist; aus eben diesem Grunde führt ferner
innerhalb der ländlichen Bevölkerung der außereheliche Geschlechts-
verkehr, auch wenn er nicht mit ernstlicher Eheabsicht begonnen wurde,
viel häufiger zur Ehe als innerhalb der Stadtbevölkerung. Das junge
unerfahrene Landmädchen bringt nun alle diese Anschauungen zur Stadt
mit und muß dort naturgemäß mit ihnen scheitern. Denn die Stadt hat
nicht nur einen anderen scz‘alen, sondern auch einen anderen sittlichen
Querschnitt als das Land. So steht denn das Dienstmädchen den Ein-
flüssen ihrer Umgebung relativ wehrlos gegenüber. |
Dazu kommt die unbegrenzt lange Arbeitszeit, das Zusammendrängen
aller Lebenslust und Sehnsucht auf das Stückchen Sonntag, wo dann
umso leichtsinniger gewirtschaftet wird. Dies sind die Ursachen, die
sowohl die unehelichen Geburten im Dienstbotenstande so sehr erhöhen,
1) Spann „Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse im Dienstboten- und
Arbeiterinnenstande‘‘. Sonderabdruck aus der „Zeitschrift für Sozialwissenschaften™,
VII. Bd., V. Heft, Berlin 1904.
r
644 Carla Zaglits.
den anderen Ständen und auch dem Arbeiterinnenstande gegenüber, als
auch die weiteren Sittlichkeitsverhältnisse, das heißt das starke Zuströnen
zur Prostitution wesentlich beeinflussen.
Gegenüber der hohen, unehelichen Geburtenziffer ist die niedrige Legitimations-
ziffer der unehelichen Geburten im Dienstbotenstande auffällig !) Nach Spanns
diesbezüglichen Untersuchungen der Wiener Verhältnisse im Jahre 1895 und 189;
wurden unehelich Lebendgeborene in der Berufsklasse der industriellen Arbeiterinnen
28'4°,, de: Arbeiterinnen der Bekleidungsindustrie 13°7%5, der häuslichen Diensi-
boten nur 5-1°,,, in der Gesamtbevölkerung 21-2°%, legitimiert. Dies hängt aube:
den angeführten Gründen unserer Meinung nach praktisch auch damit zusammen
daß die Arbeiterin sehr häufig mit dem Kindesvater im Konkubinat lebt, oder der-
artige Beziehungen sich leicht und durch die Geburt des Kindes insbesondere zwischen
den Beteiligten anbahnen lassen, während das Dienstmädchen durch seinen Ber ii
gebunden ist.
Die Frage nach dem weiteren Schicksal, das die unter Kontrolle
vestandenen Prostituierten trifft, beziehungsweise die Gründe ihrer Aus-
scheidung wird von Parent-Duchatelet eingehend behandelt.:) Nach
ihm verschwindet ein sehr großer Teil der Mädchen, auch ohne von den
Listen gestrichen zu sein. Das gewöhnliche Schicksal dieser Mädceten
besteht darin, daß sie sich einem alten, verwitweten, oder unverheiratet
vebliebenen Arbeiter zugesellen, seine Arbeiten teilen, seine Lebensmittel
zubereiten und für seine rechtmäßige Gattin gelten. Sie betreiben dann
oft das Gewerbe der Lumpensammilerinnen. Viele werden Diebinnen und
gesellen sich Gaunern zu, sind geschickte Hehlerinnen; im Gefängnis
sind sie dann in großer Menge und einen großen Teil ihres Lebens zu finden.
Sehr wenige harren in ihrem Gewerbe bis zum Tode aus.
Einen wenn auch nicht befriedigenden Überblick über die Gründe des
Ausscheidens aus der Kontrolle, beziehungsweise das weitere Schicksal
der Prostituierten bringt die Berliner Statistik 3) der Jahre 1895—1914:
aus ihr ist zu ersehen, daß ungefähr der zehnte bis zwölfte Teil derer, d'e
bis Beginn des Jahres unter Kontrolle standen, in ein Arbeitsverhältnis
eintraten. Die Ziffer der Verheirateten ist minimal; dies ist auch sehr
begreiflich *), da meist eine gewisse Übergangszeit erforderlich sein dürfte.
1) Spann, a. a. 0. 5. 0.
:) Parent-Duchatelet, a. a. O. 5. 273 ff..
2) „Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin“, 33, Jahrg., S. 707. Siehe riick-
wärts Tabelle 3. |
“ 4) Siehe auch Schnapper-Arndt, a. a. O. S. 550.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 649
Bemerkenswert ist die sichtliche Abnahme der unter Kontrolle gestellten
im Laufe der Jahre, die wir auch für Wien bemerken werden. Die Wiener
Prostitutionsstatistik (siehe Z. 16, 17; 18) enthält über diese Fragen
nahezu keine Angaben.
Die Struktur der alten Prostitutionsmasse ist im Lauf der Jahrhunderte
mehr oder minder stets die gleiche geblieben und beruht die Untersuchungs-
weise auf veralteter statistischer Methode, die näheren Einblick in etwaige
Veränderungen gar nicht aufkommen läßt.
In vieler Hinsicht beachtenswert ist die Statistik der tschecho-
slowakischen Republik in dieser Hinsicht.
Vor allem interessiert uns nun die natürliche und soziale Zusammen-
setzung der Masse sittlich verwahrloster weiblicher Individuen in der
Kriegs- und Nachkriegszeit. Darüber g'bt uns das „Bulletin
statistique de la République Tschecho-Slovaque‘ und die Statistiken
des Sittenamtes der W ener Polizeidirektion und des Spitales für Geschlechts-
kranke einigermaßen Aufschluß. Wir wenden uns zunächst ersterem zu.
Dieses bringt eine Abhandlung „la prostitution et son hygiène“, ')
deren Tabellen wir nachstehenden Zeilen zugrunde legen. Wir gewinnen
Einblick in die Abstammungs-, Berufs-, Standes- und Altersverhältnisse
der Prostituierten, die am 31. Dezember 1919 in der Tschechoslowakei,
beziehungsweise in Prag allein unter Kontrolle standen; und zwar lernen
wir den Unterschied der diesbezüglichen Verhältnisse und ihrer Ein-
wirkung in Stadt und Land kennen, inden jede Tabelle nach drei
(Gesichtspunkten für „Grande-Prague“, „La République sauf Graude-
Prague“ und „Territoire entier de la République“ gesondert aufgestellt ist.
Einblick in die Struktur der geheimen Prostitution, dem enige Be-
deutung beizumessen ist, gibt die Tabelle über die als geschlechtskrank
behandelten Frauen in den Jahren 1910—1919, deren Zahlenre‘he einer-
seits nach den Berufen der Betreffenden, anderseits nach Altersklassen
aufgeteilt sind.:)
Wenden wr uns der Unehelichkeitsfrage zu. Nach Tabelle 9,
ergibt sich, daß die ehelich Geborenen aller Altersklassen mit 81°1%
die Unehelichen mit 11-9°% vertreten sind. Das wäre an sich keine so
t) „Bulletin statistique de la République Tsehecho-Slovaque’, Prag 1920,
Tab. 9—12.
+) Siehe rückwärts Tabelle 11.
646 Carla Zaclits.
abnorm hohe Unehelichkeitsziffer. Sehr interessante Gesichtspunkte
läßt jedoch die Differenzierung nach den Altersklassen bei der Legiti-
mitätsfrage zu, Tabelle 4, und zwar lauten die Prozentzahlen der ehelichen
Prostituierten für das 14., 15. bis 19. Lebensjahr:
1-4 — 58 — 13-8 — 13-0 — 16-1 — 8-6;
die entsprechenden Ziffern der Unchelichen
2-1 — 10-7 — 19-2 — 10-7 — 19-2 — 17-0
Wir sehen also klar und deutlich, welchen Einfluß die Unehelichkeit
speziell auf die Jugendlichen, auf die Entgleisung im jugendlichen Alter
nimmt. Die Unchelichkeit samt all den bedeutungsvollen Begleitumständen
und Konsequenzen, die sie nach sich zicht, wirkt hier ganz unmittelbar
auf die Verwahrlosung ein.
Wenn wir nun demgegenüber die Unehelichkeitsziffer bei den erst in
höheren Altersklassen sich der Prostitution überlassenden Individuen
betrachten, so ergibt sich für die Jahre von 20 aufwärts als
Ehelichkeitsziffern 9-8 — 6-3 — 8-4 — 2-9 — 5-5 — 3-2 — 3-8, als
Unehelichkeitsziffern 8-5 — 2-1 — 21 — 21 —21 — 42 — 0-0,
das heißt die uneheliche Abstammung spielt in den Jahren über 20 eine
viel geringere Rolle als im jugendlichen Alter und es liegt dann das Schwer-
gewicht der Entgleisung in anderen später hinzutretenden Lebensumständen.
Im Alter von 26—30 Jahren ist die Unehelichkeitsziffer gar auf 0 gesunken.
Wenn wir mit der gleichen obigen Frage an die Tabelle ,,Le reste
du territoire de la République Tschecho-Slovaque‘‘ (Tabelle 4)
herantreten, so sehen wir wohl auch hier, daß die Unehelichkeitsziffer
derer, die sich im jugendlichen Alter der Prostitution überantworten,
durchschnittlich eine höhere ist, als die der höheren Altersklassen, aber
der Unterschied ist kein so greller, die Gefährdung der Jugendlichen ist
eine viel gleichmäßigere bei Ehelichen und Unehelichen (siehe graphische
Darstellung). Die Einwirkung der ländlichen Verhältnisse zeigt sich
deutlich, in denen auch das uncheliche Kind menschliche Behandlung
und meist Erziehung im Hause der Großeltern oder bei Verwandten erhält.
wo es auch nicht geächtet ist, sondern sein Dasein als gerade nicht besonders
erwünscht, aber keineswegs als Hindernis betrachtet zu werden braucht.
Die landläufigen Moralanschauungen stehen in enger Verbindung
mit wirtschaftlichen Verhältnissen und werden durch diese oft weiter
ausgeprägt, beziehungswe’se umgeprägt. Rein vom privatwirtschaftlichen
Die sittliche Verwabrlosung der weiblichen Jugend. 647
Standpunkt aus geschen, bedeutet die Nachkommenschaft für den Land-
mann einfach Kapital, für den Städter bedeutet sie Aufwand.
Was nun der Privatwirtschaft des Landmannes Nutzen bringt, ohne
im allgemeinen anderen zu schaden, und das ist der Fall bei der unehe-
lichen Nachkommenschaft am Lande, wird auch trotz entgegenstehendem
religiösem Gebote nicht streng auf das Gebiet der Unsittlichkeit ver-
stoßen.
Was dagegen der privaten Wirtschaft des Städters wirtschaftlichen
Schaden bringt, ohne Anderen zu nützen, ja im Gegenteil auch der
Allgemeinheit besonders wirtschaftliche Belastung (Gebäranstalten, Findel-
häuser, Erziehungsanstalten usw.) bringt, nämlich die uneheliche Nach-
kommenschaft, wird klarer Weise gerne als Unsittlichkeit gebrand-
markt und bringt dadurch infolge der Verwahrlosung der betreffenden
Individuen der Gesellschaft wieder Schaden usw.; ein circulus vitiosus,
dem von beiden Seiten entgegengearbeitet werden muß und wird, von
der Seite der wirtschaftlichen Hebung und von Seite der Milderung zur
Zeit nicht angebrachter Strenge, indem das uneheliche Kind und dessen
Mutter in ihrer sozialen Bewertung ebenfalls gehoben werden müssen
was größten Teils Sache der sozialen Fürsorge und der Soz’algesetzgebun t
Und zwar soll die soziale Lage der nnehelichen Mütter und des Kindes nicht
etwa mit dem Endzweck gehoben werden, damit der Boden für das Weitergedeihen
der Unehelichkeit recht lind und wohlbereitet sei, damit diese Halbfamilien form,
sobald sie nicht mehr auf soziale Achtung stoßt, ihre kultur-, weil familienzersetzende
Wirkung in immer weiteren Kreisen geltend machen kann, sondern einzig und allein
zu dem Zweck: dadurch, daß die nächsten Generationen unchelicher Kinder
auf möglichst gesundem Erziehungsboden aufwachsen, ihre Greneigtheit zu sitten-
schwachem Lebenswandel zu vermindern und dadurch die Zahl unehelicher Geburten
in späteren Generationen zu restringieren.
Die Standesverhältnisse der Prostituierten (s. Tabelle 5
und 6) geben an und für sich keine besonderen Gesichtspunkte; immerhin
ist auch hier der Unterschied zwischen Stadt und Land zu beobachten.
Mit den Berufsverhältnissen der Prostituierten befaßt sich das
„Bulletin Statistique de la République Tschecho-Slovaque“ ziemlich ein-
gehend und bringt statistische Tabellen nach zweierlei Gesichtspunkten
geordnet. Die erste Anordnung (Tabelle 7, S. 692) bringt das Alter des
Abgleitens zur Prostitution in der Aufteilung der Altersklassen auf die
jewe'lig in Betracht gezogenen Berufsgruppen, so daß wir daraus entnehmen
können, in welcher Alterslage die Berufsgruppen mehr oder weniger schäd-
648 Carla Zaglits.
lichen Einfluß üben. Allerdings ist auch dies kein vollkommener Zusammen-
hang, da wir ja nicht wissen können, inwieweit Nichtfunktionieren der
Familie und andere Umstände mitgespielt haben und das Bild keineswegs
ereänzen können.
Die zweite Anordnung (Tabelle 8, S. ...) gibt die Aufteilung des
gesamten beobachteten Materiales auf die einzelnen Berufsgruppen sowie
die Aufteilung der einzelnen Altersklassen der Prostituierten auf jene.
- Beiden Anordnungen liegt die Einteilung der Berufsgruppen in .,personnel
auxiliaire d'hôtels, des cafés, des restaurants’, in ,,personnel auxiliaire
de menage’, „personnel auxiliaire d'industrie und „de commerce”,
schließlich in „couturières? und „sans profession’ zugrunde. Diese Ein-
teilung ist nicht gerade unvorteilhaft, da sie etwas Einblick in das
Arbeitsmilieu gewährt und die Berufe nicht zerflattern, aber sie ist auch
keineswegs ideal. Die freilaufende Berufseruppe der couturieres deutet
auf eine gewisse Hilfslosigkeit hin.
Die einzelnen Berufe und die auf sie fallenden Zahlen, detailliert zu
geben, zur Übersicht aber zu Berufsgruppen zusammenzufassen und die
entsprechenden Zahlen summiert zu geben, wäre der Ausweg, der Uher-
sicht und detaillierten Aufschluß zugleich gäbe.
Wenn wir zunächst die erste Zusammenstellung (Tabelle 7) betrachten,
so sehen wir, daß in der Berufsgruppe des häuslichen Hilfspersonales d'e
Prostitution in späteren Jahrgängen die höchste Prozentzahl aufweist, im
Vergleiche zu den übrigen Berufsgruppen, zum Beispiel dem industriellen
Hilfspersonal. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß die langsamere
sntwicklung der Beweglichkeit und des Intellektes auch eine langsamere
Angleichung an die städtischen Verhältnisse und gegebenenfalls an d'e
prostitutionellen Erfordernisse nach sich zieht. In der Tabelle ..der
Tschecho-Slowakischen Republik (Tabelle&b)* sehen wir diesen Höhepunkt
der Anteilnahme an der Prostitution den ländlichen Verhältnissen ent-
sprechend überhaupt in spätere Altersklassen verschoben. Bei den Dienst-
mädchen führt der Weg — me’stens wenigstens — über eine Verführung.
ein Verlassenwerden, ein uneheliches Kind und anderes mehr, beim incu-
striellen und Handelshilfspersonal liegt die Sache insoferne ganz anders.
als die Betreffenden oft schon von klein an Prostitution treiben oder
doch in ungesundem Milieu aufwachsen, so daß ihre moralischen Anschau-
ungen keiner Anpassungszeit mehr bedürfen, um in der Prostitution nichts
Schmähliches zu sehen. Weiters sehen wir (Tabelle 8a und b) den Dienst-
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 640
madchenstand in der Stadt, jedoch den Kellnerinnenstand in kleinstädtischen
und ländlichen Verhältnissen verhältnismäßig gefährdeter.
„Age auquel les prostituées se sont abandonnées & la prostitution’
(Tabelle 9 und 10) ist für groBstadtische und ländliche Verhältnisse, wie
oben schon angedeutet, ein verschiedenes. Die höchsten Prozentziffern
für den Zustrom zur Prostitution weisen in ,,Grande-Prague™ die Alters-
klassen 16—18 auf; auch schon 14 und 15 beteil'eten sich mit den Ziffern
1-5 und 63 %. Von 22—24 aufwärts ist ein starkes Abflauen zu bemerken;
in der Tabelle „La République sauf Grande-Prague‘ sehen wir den Höhe-
punkt im 18—20 Lebensjahr; auch beteiligten sich die Jahre 14 und 15
mit bloß 0-8 und 2-0 95; die Altersklasse 16 jedoch mit 5-1 % gegen 14-5 °,
in der obigen Tabelle. Das Abfallen in den späteren Altersklassen hat
wleichmäßigeren, schwächeren Charakter. In der Großstadt sind die
weiblichen Individuen in bedeutend früheren Alter, in den ersten Blüte-
jahren stark gefährdet. (Siehe Zeichnung S 718.)
Über die Beziehungen zwischen Alter, Beruf und Geschlechtskrank-
heiten gibt die Tabelle 11 Auskunft.
Daraus ersehen wir, daB ungefähr über 30°, der geschlechtskranken Frauen
dem Prostituiertenstande angehören, gegen 20°, dem häuslichen Dienstpersonal,
zirka 10°, dem industriellen, ebenso viele dem schankgewerblichen Dienstpersonal
angehören, 11°, und mehr berufslos, 14°, unbekannten Berufes sind. Überall ist
natürlich die Altersklasse 21 bis 25 am stärksten vertreten. Schwankungen während
der Jahre innerhalb der Berutsklassen sind nieht in erwähnenswertem Maße vor-
handen. Bloß die Teilnahme derer, deren Beruf unbekannt ist. stieg von 90°, in
den Jahren 1910 bis 1913. auf 17°6°%, und 16°8°, in den Jahren 1918 bis 1919. Daß
sich darin ein Teilchen der geheimen Prostitution verbirgt, ist evident. Doch wird
man allein auf diesem Wege, wo nur der bedeutend kleinere Teil erfaßt, da jene kranken
Individuen, die es nur halbwegs materiell imstande sind. zum Privatarzt oder zum
Pfuscher gehen, auch niemals vollen Überblick erlangen können, so lange nicht die
allgemeine zwangsweise Anzeigepilicht eingeführt ist. Dann erst werden die von den
polizeilichen und sanitären Aktionsradien geschnittenen Massen vielleicht insoweit ein
Bild geben können von der Prostitutionsmasse, wie zum Beispiel die Kriminalstatistik
von der Verbrechermasse.
Die Statistik des Wiener Sittenamtes über die kontrollierte
Prostitution ergänzt das bereits Dargelegte noch um einige Gesichts-
punkte. Bezüglich der Legitimitätsfrage ist eine Einteilung nur
zwischen Groß- und Minderjährigen getroffen. (Tabelle 12 b und e.) Die
Tatsache der Unehelichkeit allein gibt freilich wenig Einblick, denn hier
haben wir es nicht mit Jugendlichen zu tun, das heißt wir wissen nieht in
650 Carla Zaglits
wie jugendlichen Alter die Einzelnen der Prostitution verfielen und wie
wir gesehen haben, wirkt die Unehelichkeit, wenn sie nachteilig wirkt,
m frühen Altersklassen.
Einen weiteren Gefährdungsfaktor bildet die Verwaisung (Tabelle 12).
Von den unter Kontrolle gestandenen Prostituierten waren im Durch-
schnitt der Jahre 1913—1920 22-6%, väterlicherseits verwaist, 28-8 %,
mütterlicherseits verwaist, worin freilich die Unehelichen, die nur mütter-
licherseits verwa'st sein können, inbegriffen sind. Die Verwaisung mütter-
licherseits der unehelichen Prostituierten beträgt nicht weniger als 52 °,,,
berechnet von der Gesamtzahl der unehelichen Prostituierten; das heißt
von diesen sind mehr als die Hälfte — noch dazu miitterlicherseits —
verwaist ! |
WasdieBerufe der neu unter Kontrolle Gestellten betrifft (Tabelle 13).
sehen wir, daß durchschnittlich und auch in den einzelnen Jahren zumeist
der Dienstmädchenberuf den der Hilfsarbeiterinnen an Ungünstigkeit
übertrifft. Übrigens sind auch hier die Berufe typisch zerfasert. Auch
aus der Tabelle der Berufe der unter Kontrolle Stehenden ersehen wir,
daß die berufliche Struktur der kontrollierten Prostitutionsmasse eine
analoge ist, wie in früher angeführten Statistiken.
Anders steht esmit der Verwahrlosungsmasse, die weder begriff-
lich, noch nominell der kontrollierten Prostitution angehört, soweit die
wenigen Zahlen über die vom Sittenamt wegen gewerblicher Unzucht
Aufgegriffenen uns Einblick gestatten.
Eine Statistik für dieses zahlenmäßig viel größere, zum Teil wohl
erfaßbare und für die Verwahrlosungsfrage allein wichtige Kontingent
besteht leider vorläufig nicht.
Dem Berufe nach rekrutierten sich die Aufgegriffenen der Jahre 1912
bis 1914 hauptsächlich aus dem Stande der Hausgehilfinnen, aus dem Dienst-
personal des Kaffechauses und Schankgewerbes, aus Handarbeiterinnen.
Artistinnen, Tänzerinnen, Modellsteherinnen und Hilfsarbeiterinnen. Seit
dem Kriege, insbesondere aber nach demselben, sind unter den Ange-
haltenen auch Kontoristinnen, Staatsangestellte, Lehrerinnen, Verkaufe-
rinnen, hoch qualifizierte Arbeiterinnen zu finden.
So waren zum Beispiel 'im Jahre 1912 unter den Angehaltenen,
125 Hausgehilfinnen, 133 Hilfsarbeiterinnen, 224 ohne Beruf und nur ene
eeringere Zahl entstammte den Intelligenzberufen, nämlich 22 Privat-
beamtinnen. Das Ergebnis des Jahres 1913 gleicht dem obigen. Im Jahre
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 651
1920 jedoch befanden sich unter den Aufgegriffenen 377 Beamtinnen
und Kontoristinnen, 14 Zahntechnikerinnen und zahnärztliche Assisten-
tinnen, 8 Offiziersgattinnen, 571 ohne Beruf, jedoch dem Mittelstand
angehörig, 446 Hausgehilfinnen und 255 qualifizierte Schneiderinnen.
Es kommen also bei einem Vergleich der beiden Jahre 1912 und 1920
im Jahre 1912 auf 100 Hausgehilfinnen............ 8-7 Beamtinnen,
im Jahre 1920 auf 100 Hauseehilfinnen............ 84-5 Beamtinnen,
Das Eindringen der sittlichen Verwahrlosung in den Mittelstand wird
auch noch durch die Zahlen erhärtet, die uns über diesen Punkt die Heil-
anstalt Klosterneuburg bietet.)
Die erhöhte und sich stets erhöhende Anteilnahme der Jugendlichen
und Minderjährigen in der Kriegs- und Nachkriegszeit an der Prostitution
geht aus den Zahlen der Aufgreifungen durch Razzien des Sittenamtes
deutlich hervor. Da letztere erst in den letzten Jahren mit gleicher Inten-
sitat betrieben wurden, können sie mit denen früherer Jahre nicht ver-
glichen werden.
Anhaltungen wegen Gewerbsunzucht fanden für ganz Wien statt:
918: 2252 5540 ........ davon waren krank 1490
IN air: 6666 ........ davon waren krank 1725
T920 are 102 € ea davon waren krank 1843
Bei den Streifungen, die vom Sittenamt selbst unternommen worden
waren, wurden:
LUNG: esse 2374
NO QO! east 3273 aufgegriffen.
Unter diesen waren im Jahre 1919:
großjährig ...... 1197 (50-4%) .... davon krank 272 (22:7 %)
minderjährig .... 804 (33-8 %) .... davon krank 339 (42-2 %)
jugendlich....... 373 (15-79%) .... davon krank 179 (47-9%)
im Jahre 1920:
größjährig....... 1921 (587%) .... davon krank 416 (216%)
minderjährig .... 1005 (307%) .... davon krank 432 (421%)
jugendlich....... 357 (110%) .... davon krank 159 (46-0 %)
Diese Zahlen beziehen sich nur auf die vom Sittenamte selbst Auf-
gegriffenen, da die durch die Streifungen der Kommissariate Angehaltenen,
1) Siehe Tabelle 14a und b.
652 Carla Zaglite.
früher gar nicht, jetzt nur insoweit sie krank sind, dem Sittenamt über-
wiesen werden. Wenn diesbezüglich Zentralisierung einträte, so könnten
vielmehr Minderjährige und Jugendliche (vorläufig einmal der bisherigen
(refährdetenfürsorge) teılhaftig werden.
Ergänzend wirkt in dieser Hinsicht die diesbezügliche Statistik der
Heilanstalt Klosterneuburg. (Siche Tabelle 14, S. 700.)
Nach der Statistik der Klinik Finger (siche Tabelle 15) zeigt
sich hinsichtlich der Frage: Verwahrlosung und Alter, eine besonders
auffällige Zunahme der Infektion mit Gonorrhöe bei den weiblichen Jugend-
lichen, und zwar waren 1912 19%, der Patientinnen Jugendliche, 1918
waren es bereits 63 %.
Was nach dieser Statistik die persönlichen Verhältnisse der Jugend-
lchen betrifft, so sind 14° Doppelwaisen und 23% einfache Waisen
ohne Vater; ähnliches zeigt die Aufstellung für 1920. Unter den 1920
aufgenommenen Pfleglingen sind ferner bezüglich ihrer Geburt 15°,
unehelicher Abkunft, jedoch sind unter den unchelichen 662%
Jugendliche und Minderjährige. Nach der Geschwisterzahl im Eltern-
hause hatten: |
Geschwister 1, 2, 3, 456 7, 8, 9, 10, 11, darüber.
Prozente lo, 14, 20, 13, 14, 8 4, 3, 1, 2 4, A
Von Interesse ist auch die Altersklasse zur Zeit des ersten Verkehrs:’)
Jahre: 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 23, 24
Prozente: 3, 2, 12, 32, 15, 19 9, 4, 2 1 1
also 83%, (!) Unmündige und Jugendliche.*) Wir sehen, wie notwendig
die Heraufsetzung des Schutzalters auf 16 Jahre geworden ist. Auch
über die Wohn- und Haushaltsverhältnisse gibt eine Tabelle Auskunft.
Danach wohnten von 336 Mädchen
90 bei den Eltern ........ (27%!)
02 im Hotel .........-.-.
69 als Sehlafgänger ....... (allein) °
37 als Aftermieter ........
25 bei den Verwandten ... (7-0 %!)
4) Hoffmann, Ärztliche, pidagogi: che und Fürsorgemaßnahmen zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten bei gefährdeten und verwahrlosten weiblichen Jugend-
lichen. Soziale Bereitschaft, Wien, 1919.
2) Hoffmann. a. a. 0. S. 29.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. GD:
15 bei den Arbeitgebern... > ae
20 im Konkubinat .......
3 im Erziehungsinstitut ..
5 in eigener Wohnung ...
20 ohne Unterstand.......
Wir werden später sehen, daß die Prozentzahlen, die sich auf die Art
der Haushaltsfithrung bezichen, bei den kriminellen weiblichen Jugend-
lichen nahezu dieselben sind.
Wenn auch die angeführten und zahlenmäßig erhärteten Tatsachen
uns keinen vollen Eindruck zu geben vermögen, sie erhellen das Bild
soweit, daß wir foleendes schen:
Die Prostitutionsmasse, die dem alten Prostitutionsbegrilf entspricht.
ist ihrer Struktur nach dieselbe geblieben, ihrer Zahl nach stark zurück-
gegangen. An ihre Stelle, sie mehr und mehr verdrängend und an
Zahl vielfach tiberfliigelnd, tritt das Kontingent der sittlichen Verwahr-
losung, das in seiner sozialen Struktur ein artverschiedenes ist.
Der Weg zur Prostitution als Haupterwerb führt meist durch mehrere
Berufsänderungen hindurch: Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin, Hilfs-
arbeiterin, Kellnerin, Aushilfskellnerin, ist einer der betretensten Weve
auf der abwärts führenden Bahn.
Das Traurige und Schwerbedrohliche an unserer Verwahrlosungs-
masse jedoch liegt vor allem darin, daß wir es nicht mehr (wie bei der
alten Prostitutionsmasse) nur mii arbeitsscheuen, minderwertigen Indi-
viduen, sondern zum Großteil mit arbeitenden Menschen zu tun
haben. die die sittliche Verwahrlosung in die Gesellschaft hineintragen!
d) Erscheinungsformen der sittlichen Verwahrlosung.
Die mannigfaltiesten Brückenformen führen vom normalen ehelichen
Verhältnis bis zur Prostitution. Strenggenommen fließen sie ja so sehr in-
einander über, daß man von Stufen kaum mehr sprechen kann. Jedoch geben
die zu besprechenden Formen das typische, prägnante Bild für die Einzel-
ersche'nung, von dem sie wohl in Nebendingen abweicht, dem sie aber
als Ganzes ähnelt. Wir greifen jene Formen als prägnant heraus, die in der
Praxis die meisten Fälle aufzuweisen haben, die diehteste Streuung zeigen.
Mit der allgemeinen Verelendung und dem stärkerwerdenden Heraustreten
‚der Frau ins Erwerbsleben, spalten sie sich und nuandieren sich entsprechend
den Individualgruppen, in denen sie vorherrschen; zunächst wollen w'r
654 Carla Zaglits.
matrimonielle und prostitutionelle Formen scheiden; zu ersteren
«chört der voreheliche Geschlechtsverkehr und das Konkubinat.
Vorehelichen Geschlechtsverkehr gab es zu allen Zeiten und ist seine
Erscheinungsintensität weitgehend von wirtschaftlichen und gewohnheits-
sittlichen Momenten abhängig. Er ist insbesondere bei den Land-
bewohnern Sitte, was auch bei uns z. B. in Tirol und Ober-
österreich zutrifft. Über diese Fiage gibt für Deutschland eine 1894 statt-
gefundene Enquete über die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse der
Landbewohner im Deutschen Reich Auskunft. ')
Das Konkubinat ist eine bedeutend weniger harmlose Erscheinung,
da abgesehen von allem anderen die Stellung der Kinder oft eine sehr
ungünstige und unsichere ist. (Diese Frage wird von den Anwälten der
freien Ehe, den individualistischen Trägern der neuen Ethik gern über-
gangen oder mit dem dürftigen Vorschlage einer Emheitserziehungsanstalt
zu beantworten gesucht.)
Wo materielle Mittel für ein Konkubinat vorhanden sind, können
sie es auch im allgemeinen für eine Ehe sein. Zumal wäre unsere Zeit,
die viele AuBerlichkeiten wirtschaftlichen Aufwandes zu streichen genötigt
ist und mancher Ehe das wirtschaftliche Gepräge eines Konkubinates
eibt, schr dazu angetan, an diesem Überbrücktsein der Rücksichten auf
materielle Umstände festzuhalten und die Umwandlung von Konkubinaten
in Ehen zu fördern.
Ein Zwischenstadium zwischen den matrimoniellen und prostitutio-
nellen Erscheinungsformen bildet der Zufallsverkehr.?) Er kann nur
als fließende Grenze angesehen werden, da sowohl seine Entstehung, als
auch seine Konsequenzen in die erste wie in die zweite Gruppe
fallen können.
Das freie Verhältnis, in dem weder Heiratsabsichten, noch zumeist
auch Wohngemeinschaft bestehen, kann gegebenenfalls, wenn die
materielle Entschädigung in den Vordergrund tritt, unter die prosti-
tutionellen Formen gerechnet werden. Ist dies nicht der Fall, wird die
Zahlung nicht als solche aufgefaßt oder ist sie neben der Neigung ganz
1) Nach Schnapper-Arndt, a.a.O., S. 520 f; unter anderem heißt es da:
Die beiden Gemeinden aus dem Regierungsbezirk Königsberg, welche in sittlicher
Beziehung am günstigsten stehen, haben 16°, Gefallene unter den Bräuten, die
drei, welche am ungünstigsten stehen 60 und 75%.
2) Siehe darüber Näheres A. Pappritz, a. a. O., S, 22 f.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 655
nebensächlichen Charakters oder ist gar keine solche eingetreten, so haben
wir es mit einer promiskuellen Erscheinung zu tun. Zu einem solchen
Verhältnis bilden weiblicherseits Lebenslust verbunden mit Leichtsinn,
Versuch einer zeitweiligen aufwärts gerichteten Überbrückung der Klassen-
unterschiede, Eitelkeit vermischt mit Neigung usw. die Hauptgründe.
Die erste echte prostitutionelle Erscheinungsform bildet die gelegent-
licheProstitution. Vorstehendeundübernächste Gruppesindes,die neuestens
ihre Erweiterung aus,,besseren‘ Kreisen erfahren. Gründe sind: Allgemeiner
Aufwand, Putz- und Vergnügungssucht, Hand in Hand mit der raffin'erten
vroßstädtischen Vergnügungsindustrie, teilweise auch verhältnismäßig
noch immer zu geringe Entlohnung, die nach dem halben Jahrzehnt
schwerer Depression der Kriegsjahre freilich schwer ertragen wird, Mangel
an Heiratsgelegenheiten, besonders dann, wenn die Ehe als Versorgung
aufgefaßt wird.
Bei der gelegentlichen möchte ich als Unterteilung die periodische
Prostitution einschieben, die eigentlich insoferne schon zur Nebenerwerbs-
prostitution überführt, als sie zum Beispiel bei Saisonarbeiterinnen
gewissermaßen zur Ausfüllung der arbeits- und erwerbslosen Zeit und
abwechselnd mit der eigentlichen Berufstätigkeit 1) ausgeübt wird.
Ihre Ausübung ist eine für bestimmte Perioden abgezielte, be-
rechnete. Dadurch ist hier die Gefahr, in hauptgewerbliche Prostitution
überzugehen, eine womöglich noch größere als bei der nächsten Erscheinungs-
form der Prostitution als Nebenerwerb, die ein dauerndes Feststehen
im arbeitenden Berufe gestattet, in deren Ausübung das betreffende
Individuum im allgemeinen nicht seine Lebenskreise verlassen muß,
wohl individuell besser fährt, da es nicht ganz der Prostitution und ihren
vernichtenden Folgen anheim fällt, für die Gesellschaft aber, wie schon
angedeutet, einen weit gefährlicheren Faktor bildet. Ihre Verbreitungs-
möglichkeit ist eine größere, da die Möglichkeit, die Prostitution als Haupt-
beruf auszuüben, das heißt von ihr zu leben, auf eine Zahl von Indivi-
duen begrenzt ist, die von der Nachfrage bestimmt wird. Da aber
die Nebenerwerbsprostituierte von ihrem ehrlichen Einkommen lebt und
bloß Kleider und Luxusspesen aus dem Nebenerwerb deckt, braucht
sie die Prostitution viel weniger intensiv auszuüben, so daß sich natür-
lich dann Nachfrage und Angebot auf breitere Kreise von weiblichen
1) Blaschko, a. a. O. S. 42.
696 Carla Zaglits.
Individuen verschieben, während die Haupterwerbsprostitution (der
klarerweise die Trägerinnen obgenannter Konkurrenzform sehr verhaßt
sind) sich sukzessive auf ein immer kleineres Kontingent zurückziehen
wird.
Diese letzten Gruppen bilden den Übergang für die Prostitution als
Haupterwerb betrieben und „ihr unerschöpfliches Reservoire, aus welchem
ihr immer neue Kräfte zuströmen‘‘.})
Eine Sonderstellung nimmt, wie bereits (S. Z. 2, Zeile 31 und Z. 19,
Zeile 7) erwähnt, die oben als promiskuelle Erscheinungsform_ be-
zeichnete ein, die durch den Mangel des Entgeltes charakterisiert
ist. Sie kann bei eintretenden schlechten materiellen Verhältnissen des
betreffenden Individuums geradewees zur Prostitution führen. Solange
diese Erscheinungsform sich auf Einzelne‘ bezieht, haben wir es mit
individueller Entartune zu tun, ergreift es weite Kreise, mt
völkischer Entartung! Wenn nun in ihrem Berufe mangelhaft
bezahlte weibliche Kreise. und zwar weitere und andere, als bei denen es
auch bis jetzt der Fall war, sich daran gewöhnen, Nebenerwerbs- oder was
noch viel häufiger ist, Gelegenheitsprostitution betreiben und diese
Tatsache durch Gesetzeslegung und den entsprechend gewandelten mora-
lischen Ansichten nicht mehr als unanfeehtbar eilt, dann ist es blob
Sache der Zeit und der wirtschaftlichen Hebung, der besseren Bezahlune.
die Prostitution selbst (gegen Entgelt) eben für diese arbeitenden Kre se
in Promiskuität umzugestalten!
Denn wenn auch die Frauenberufe materiell besser gestellt werden.
die Fheschließunes- und Familienerhaltungsverhältnisse bessern sich
deshalb keineswegs, da das der Familie zugrunde liegende organische
Moment ganz in den Hintererund gedrängt wird und die sexuellen Be-
zichungen ihren losen, atomistischen Zusammenhang weiter ausprägen.
Doch fallen diese Fragen aus dem Rahmen unserer Arbeit.
Soviel schen wir, Hebung der wirtschaftlichen Verhältnisse bildet
nur die eine wichtige Hälfte des Aufbaues; wenn sie nicht die Hebung
der Volkssittlichkeit begleitet, ist die Arbeit umsonst getan. Denn man
glaube ja nicht, daß diese dann als selbstverständliche Konsequenz
nachfolgt!
') Pappritz. a. a. 0. N. 25.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 651
V. Beziehungen unserer Verwahrlosungsmasse zur
Kriminalität.
Die Beziehungen zwischen Kriminalität und Prostitution sind viel-
fach untersucht worden, und ihr Schwerpunkt lag in der Frage, ob das
Prostitutionskontingent als selbständiges, assoz’ales Kontingent auf-
zufassen sei oder aber sich mit dem Kontingent weiblicher Kriminalität
schneide.
Es ist Tatsache, daß dieEigentumsdelikte (abgesehen von den krimi-
nell kaum erwähnenswerten Kontrollübertretungen der Eingeschriebenen)
bei den Prostituierten am ehesten, wenn auch in verhältnismäßig geringerem
Ausmaße in Betracht kommen.) ?)
Dies ist nicht weiter verwunderlich, da sich bei diesem Gewerbe so
günstige Gelegenheit zum Diebstahl und Betrug bildet, wie niemals sonst
wieder im menschlichen Verkehre zwischen zwei einander sonst fremden
Individuen. Wir haben es hier mit Gelegenheitsdelikten zu tun. Es ist
psychologisch wohl begreiflich, daß solchen Gelegenheiten von seiten eines
an und für sich willensschwachen Individuums, das noch zudem vor An-
zeige durch die schiefe Lage des Betroffenen weitgehend geschützt ist,
schwer Widerstand geleistet wird.
Neben Diebstahl und, wie sich von selbst versteht, indirekter Prosti-
tution, das ist Kuppelei, kommen — allerdings ziemlich selten — Roheits-
exzesse, Widerstand, Beleidigung, Köiperveletzung, Totschlag vor, von
welch ersteren eben auch die wenigsten zur Kenntnis der Öffentlichkeit
gelangen. Sie erklären sich hauptsächlich daraus, daß die Prostituierten
meist dém Trunk ergeben sind. ,,Das miiBiggangerisch anwidernde
Leben derselben wäre auch ohne die Betäubungen des Alkohols nicht zu
ertragen .... Wie die Prostitution zum Alkohol führt, so führt auch
umgekehrt der Alkoholismus der Frau mit dem Verfall der Persönlich-
keit und der sittlichen Grundlagen sehr häufig zur Prostitution, zumal
die trunksüchtige Frau moralisch sehr viel schneller sinkt als der trunk-
— 0 —— -—_—
') Siehe Statistik der Frankfurter Untersuchungen, Tabelle 16, S. 700.
2) Siehe Tabelle 17, S.701, Prostituiertenkriminalität in Wien (1896, 1897,
188), Schnapper-Arndt, a. a. ©., S. 448 f. (Baumgarten, im Archiv für Kriminal-
Anthropologie, 1902.)
Zeitsehrifi für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1. Baud. 44
058 Carla Zaglits.
süchtige Mann. Alkoholismus und Prostitution sind auch manchmal die
koordinierten Bedingungen einer psychopathischen Anlage. !)
Die Lombrososche Lehre, die sich auch mit obgenannten Fragen
eingehend befaßt, ?) tendiert in erster Linie dahin: „Die Prostituierte
ist bereits als solche geboren, prädestiniert; sie trägt gewisse Degenerations-
einzelheiten an sich, wie zum Beispiel bestimmte Schädeldurchmesser,
Handlängen, Körpergewicht, Körperhöhe, Haupthaarfarbe und der-.
gleichen äußere Zeichen mehr, wobei es auf die minimalsten Maßeinheiten
ankommt.‘ „Die untersuchten Mengen und die gefundenen Differenzen
sind für derartige Schlüsse nicht entfernt zureichend, und von den mathe-
matischen Kautelen, die für anthropometrische Schlüsse notwendig sind,
hat, wie es scheint, kein Schüler dieser Richtung eine Ahnung gehabt °).
„Die geborene Prostituierte zeigt sich uns ohne Muttergefühl, ohne
Liebe zu ihren Angehörigen, skrupellos nur auf die Befriedigung ihrer
Gelüste bedacht und zugleich als Verbrecherin auf dem Gebiete der kleinen
Kriminalität. Der Mangel des Schamgefühles ist das beinahe patho-
enomische Zeichen der „Moral insanity“ des Weibes.‘‘ *)
Das Bedenkliche ist die Aufstellung eines gewissen Typus, denn es
gibt sowohl Prostituierte, die ihn nicht tragen, als auch Menschen, die
Degenerationszeichen an sich tragen, aber keineswegs minderwertigen
Charakters sind. Ferner müßten die Prostituierten sich dani aus allen
Gesellschaftsklassen gleichmäßig rekrutieren, was durchaus nicht der
Fall ist, woraus wir ersehen, daß, von Ausnahmefällen abgesehen, zu dies-
bezüglichen Veranlagungen durchschnittlich noch die auf irgend eine
Weise ungünstigen Einflüsse des Milieus treten müssen, um ein anti-
soziales Individuum zu zeugen.
Die Lombrososche Lehre mag vielleicht für das enge, damals in der
Hauptsache von ihm betrachtete Prostituiertenkontingent eine gewisse Be-
rechtigung gehabt haben, die aber durch die Verbreiterung der Prosti-
1} Hoppe, Alkohol und Kriminalität, Wiesbaden, Bergmann 1906, S. 105.
Hoppe: „Und zwar scheint bei den Spätprostituierten der Alkoholismus gewöhnlich
vorauszugehen und dieUrsacheder Prostitution zu sein, während er bei den frühen Prosti-
tuierten mehr als Folge- und Begleiterscheinung ihrer Lebensweise und als Mittel
zur Betäubung zu betrachten ist.“
:) Lombroso-Ferrero, a. a. O.
3) Schnapper-Arndt, a. a. O., S. 545.
+) Lombroso, a. a. O.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 659
tutionserscheinungen auf weitere Kreise durch die sittliche Verwahr-
losung ganz merklich in ihrer Geltung abgeschwacht ist.
Ferner behauptet Lombroso, die weibliche Prostitution ware als
Äquivalent für das männliche Verbrechertum aufzufassen. Diese Ansicht
spukte dann in den Schriften seiner Anhänger weiter.!) ?) Sie
beruht darauf, daß rein äußerlich betrachtet, auf der männ-
lichen Seite eine gewisse Menge assozialer Individuen, nämlich Verbrecher
und Landstreicher, auf der weiblichen ebenfalls eine Anzahl assozialer
Individuen, nämlich Prostituierte vorhanden sind (die weiblichen Ver-
brecher, deren Zahl Ende des vorigen Jahrhunderts und bei uns noch
eine verhältnismäßig geringe war, wurden wenig in Betracht gezogen),
und diese Mengen nun kurzerhand gleichgesetzt werden.
Wir haben oben, als wir die rechtliche Stellung der Prostitution
erörterten, nachgewiesen, daB die Prostitution zu der Gesellschaft in ganz
anderem Verhältnis als das Landstreichertum, geschweige denn das Ver-
brechertum stehe. Sie bietet entsprechende Gegenleistung, nach ihr
besteht Nachfrage, sie ist gesucht; daß sie zugleich verachtet ist, liegt
darin (siehe S. Z. 6, Zeile 1 ff.), daß sie ihre Gegenleistung in einem der
Gesellschaftsordnung entgegengesetzten Sinne leistet.
Das Verbrechertum wird von der Gesellschaft ausnahmslos gehaßt
und auf alle Weise verfolgt. Das Landstreichertum wird verfolgt und
wenn man es duldet, so geschieht dies nicht etwa, weil Nachfrage danach
besteht, sondern weil man nicht alle Menschen im Sinne der Gesellschafts-
1) So läßt sich zum Beispiel nach Dugdale, der der obigen Lombrososchen
Anschauung beigetreten ist, erweisen, daß die weiblichen Kinder verbrecherischer
Familien fast regelmäßig der Prostitution zuflieBen. Obwohl die Neigung zum Dirnen-
beruf erblich ist, unterschätzt Dugdale den Einfluß des Milieus nicht, im Gegenteil, er
stellt die Behauptung auf, daß frühzeitiger Wechsel der Umgebung und Versetzung
in erzieherisch günstige Verhältnisse die Aussichten der sexuellen Laufbahn ent-
schieden bessern können. (Mosse-Tugendreich, Krankheit und soziale Lage,
S. 464 und 468.)
2) Aschaffenburg behandelt auch die Frage, ob etwa die Prostitution einen
großen Teil der verbrecherischen Frauen in Anspruch nehme, in Anschluß an Lom-
broso. Er glaubt auch, daß wir zuweilen in der Prostitution ein Äquivalent des Ver-
brechens erblicken dürfen. Das eigentliche Gegenstück zu ihr aber findet er im Bettler -
und Landstreicher. Auch Mayrs Ansicht geht dahin, daß die Prostitution bei der
großen Mehrheit aller Fälle nichts anderes sei, als eine in sozialer Beziehung schwerere
Form des Bettels. Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre, S. 757.
660 Carla Zaglits.
ordnung tätig werden lassen kann, weil man sie nicht aus der Welt schaffen
kann und das Asylwesen noch nicht genügend ausgebaut ist.
Insofern als Landstreicher und Prostituierte keinen ehrlichen
arbeitenden Beruf haben, insofern gleichen sie einander; keineswegs läßt
sich aber das vergleichen, was sie an Lebenskraft und Risiko in diesem
ihren assozialen Erwerb einwerfen. Schließlich lassen sich Prostitution
und männliche Kriminalität nicht vergleichen, weil es eine weibliche
Kriminalität gibt, die mit dem stärkeren Heraustreten der Frau ins Er-
werbsleben wächst, das die physischen und sozialen Lebensbedingungen
der Frau gänzlich verändert. !) Ganz deutlich ist aus der Kriminal-
stat'st'k der Nachkriegszeit die Einwirkung des Krieges in dieser Hinsicht
an der Steigerung der allgemeinen weiblichen Kriminalität zu sehen ?),
wohl häufig durch den plötzlichen Umschwung der Lebensweise, durch
den Verlust des bisherigen Erhalters hervorgerufen.
Das weibliche und ganz besonders das jugendliche Individuum ist.
wenn es, and dadurch, daß es wie der Mann den umweltlichen
Reibungen ausgesetzt ist, also nicht nur prostitutionell — was in
einem gewissen Maße stets erhalten bleiben wird, da es der Frau noch
immer verhältnismäßig leichter ankommt und sich auch gern unter den
lockenden Deckmantel ihrer natürlichen Funktionen einschleicht —,sondern
es ist, wie wir noch näher sehen werden, auch kriminell in starkem
Maße gefährdet. Wenn auch seine kriminelle Gefährdung niemals ganz
die Höhe der männlichen Kriminalität erreichen dürfte, so ist es eben
doch in zwei assozialen Richtungen bedroht, die wesentlich ganz ver-
schieden sind.
Der schwereren Gefährdung der Frau wird, auch wenn die Gründe
der Allgemeinheit noch nicht genügend bewußt geworden sind, durch
allerlei sich speziell auf die Frau beziehenden Schutzmaßregeln (Schwan-
gerenfürsorge, Mutterschutz, Arbeiterinnenschutz usw.) Rechnung ge-
tragen. Die Schutzmaßregeln für die Frau sind größere und müssen auch
1) Damit hingt auch die stärkere Hingabe an den Alkoholismus zusammen.
Zum Beispiel ist die Beteiligung der Frauen in England an der Kriminaiität eine
wesentlich stärkere als anderswo, indem auf vier männliche Verbrecher eine weib-
liche Verbrecherin kommt. Diese starke Beteiligung ist teilweise erklärlich eben
wieder durch die starke Verbreitung des Alkoholismus unter den englischen Frauen.
Hoppe, a. a. O., S. 100 f.
2) Siehe rückwärts, Tabelle 18.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 661
größere sein; sobald sie sich des Schutzes der Familie begibt, muB die
Öffentlichkeit an Stelle der Familie, wenn auch keineswegs sie ersetzend,
funktionieren. })
Die Jugendlichen im besonderen.
Um die typischen Momente der Verwahrlosung der weiblichen Jugend-
lichen zu ermessen, wollen wir ihr die Verwahrlosung der männlichen
Jugendlichen, soweit es notwend'g ist, vergleichend zur Seite stellen.
Hereditäre Belastung und mangelhaftes Funktionieren des Eltern-
hauses, also die ersten für das Kind in Betracht kommenden umwelt-
lichen Bedingungen in ihren mannigfachen Variationen werden wir als
Hauptursachen der Verwahrlosung erkennen. Ungünstige häusliche Ver-
hältnisse, Mangel elterlicher Erziehung, Mangel an Aufsicht w'rken jedoch
beim Mädchen viel eingreifender als beim Knaben, da es, frühzeitig zu
häuslichen Arbeiten herangezogen, weit mehr im Hause wurzelt als der
Knabe, der aus dem Hause strebt, daher wird es auch von Uneinigkeit,
Streit und Unfrieden schwerer betroffen. Zudem ist die weibliche Natur
für derartige Schädigungen weitaus enipfänglicher. *) ?)
1) Ob die ungeheuren Aufwandskosten solcher — angenommen — zweck-
entsprechender Schutzmaßnahmen von Seiten der Allgemeinheit den diesbezüglichen
Hoffnungen für die Zukunft die Wage halten werden, läßt sich wohl vermuten, aber
nicht entscheiden.
*) Voigtländer, Die Verwahrlosung, Berlin 1918, S. 479.
3) Die Ursachen, warum normal veranlagte, entgleiste Mädchen den Bemü-
hungen anderer Personen häufig großen Widerstand entgegensetzen, liegen in schwer-
wiegenden psychischen Verletzungen. Es sind die häßlichen Kindheitserinnerungen,
die erlittenen seelischen Mißhandlungen, die das Leben als nicht lebenswert erscheinen
lassen und zu maBlosem (ienu Se drängen. ........ Der Armut als Milieukomponente
kommt eigentlich keine wesentliche Bedeutung zu; .... es finden sich also hier in
gehäuftem Maße die Zustände: vor, die man als „verstärkten Elternkonflikt‘“ be-
zeichnet. Darunter versteht man eine spezifische Gleichgewichtsstérung, die aus
den Beziehungen der Kinder zu ihren Eltern entsteht. Der Elternkonflikt, der phy-
siologisch unter normalen Umständen sich im Benehmen der Backfisch- und Flegel-
jahre verläuft, nimmt immer dann unangenehme Formen an, wenn irgend etwas an
den Eltern nicht stimmt. Nervöse, psychisch abnorme Eltern, Ehezwistigkeiten, die
_ uneheliche Geburt und die Verwaisung sind durchaus Dinge, die in diesem Sinne
wirken. Lazar, Gefallene Jugendliche, Studie nach psychiätrischer Untersuchungen
im Asylspital Wien-Meidling. Sonderabdruck a. d. 2. Jahrb. d. Deutschen Landes-
kommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Mähren S. 34f.
662 Carla Zaglits.
Die Beteiligung der beiden Geschlechter an der Kriminalität ist in
den einzelnen Altersklassen eine verschieden starke. Sie wächst mit zu-
nehmendem Alter natürlich für beide Geschlechter, jedoch beim weib-
lichen Geschlechte weniger progressiv als beim männlichen.
So ist zum Beispiel die prozentuelle Beteiligung der weiblichen krimi-
nellen Individuen unter den von den deutschen Gerichten Verurteilten !)
in der Altersklasse 12 bis 18 eine intensivere als in der zweiten Alters-
klasse 18 bis 40. Das weibliche Geschlecht ist also in früherem Alter ver-
hältnismäßig kriminell gefährdeter als in späteren Altersklassen, und ge-
fährdeter als das männliche Geschlecht in früheren Altersklassen. Das-
selbe läßt sich auch für die einzelnen Altersklassen der Jugendlichen
erweisen.
Um das Verhältnis der Kriminalität der Knaben und Mädchen ver-
gleichswe'se für die einzelnen in Frage kommenden Punkte (wie zum
Beispiel Alter, Verwaisung) festzustellen, haben wir hier und im folgenden
einen relativen Index aufgestellt, das heißt wir haben berechnet, wie-
viel kriminelle Mädchen (die zum Beispiel verwaist sind) auf 100 eben-
solche kriminelle Knaben kommen.
Hier vergleichen wir zunächst die Kriminalität in bezug auf die
einzelnen Altersklassen. Wir finden, ?2) daß die Kriminalitätsbeteiligung
der Mädchen in den Altersklassen 14 bis 16 eine relativ stärkere ist, und
daß sie bei zunehmendem Alter nicht mit derselben Intensität steigt wie
diejenige der Knaben, sondern nur mit einer bedeutend schwächeren.
Es ergibt sich, daß auf 100 kriminelle Knaben der Altersklasse zum Bei-
spiel 14 bis 15 im Jahre 1912 21-5 ebensolche Mädchen kommen, in der
Altersklasse 19 bis 20 jedoch nur 9-8, also in der höheren Altersklasse
bedeutend weniger. Aus den Zahlen für Wien geht das auch ganz be-
sonders deutlich hervor. °)
Da die Anzahl der Knaben und Mädchen in der gesamten Bevölkerung
in den einzelnen Altersklassen ungleichmäßig vertreten ist, so wäre es
notwendig, zunächst die Zahl der Kriminellen auf die Anzahl der über-
haupt in der betreffenden Altersklasse Vorhandenen rückzubeziehen.
Doch ist dies nur möglich für das Volkszählungsjahr. Für dieses geschah
t) Siehe Tabelle 19.
2) Siehe Österreichische Kriminalstatistik für die Jahre 1909 bis 1912, Tabelle 2.
») Siehe rückwärts, Tabelle 20, 2.
Die sittliche Verwahriosung der weiblichen Jugend. 665
es und ergab sich daraus, wie übrigens ohnehin allgemein festgestellt, daß
die Zahl der Knaben und Mädchen in den Altersklassen 14 und 18 ungefähr
die gleiche ist, und in den Altersklassen 18 bis 20 die der Mädchen eine
größere ist. *) |
Nachdem wir gefunden haben, daß die kriminelle Beteiligung der
Mädchen im Verhältnis zu den Knaben und zu den in der letztgenannten
Altersklasse eine geringere ist, so würde diese Feststellung durch die Rück-
beziehung keine Verschiebung erleiden, sondern im Gegenteil verschärft
werden. Die Gründe für diese Erscheinungen liegen in sozial, beziehungs-
weise geschlechtlich differenzierten Einwirkungen durch die Außenwelt. In
den höheren Altersklassen ist es eben die Prostitution, die die Beteiligung
der weiblichen Individuen an der Kriminalität zu einer schwächeren macht.
Nach der bayrischen Statistik über Kriminalität der Jugendlichen
vor Anordnung der Zwangserziehung ?) überwiegt bei den Übertretungen
prozentuell das weibliche Geschlecht. Freilich ist hier noch ein anderes
Moment zu berücksichtigen, nämlich die Auslese der Verwahrlosten von
se'ten der Fürsorge. Diese Auslese steht infolge der Neuheit der Ein-
richtungen und dem individuell weitgehend freien Verfügungsspielraum
nicht unter einer so festen GesetzmaBigkeit, wie dies bei der Kriminalität
der Fall ist.
Ein beachtenswertes Ergebnis liefert der Vergleich des Kriminalitats-
standes der weiblichen Jugendlichen in der Vor- und Nachkriegszeit (Siehe
Tabelle 22, S. 703.)
1910 1919
14—16 16-20 14-16 16-20
auf 10.000 Jugendliehe ent-
fallen wegen Verbrechens.m. 19-4 83-8 41-4 269-7
Verurteilte derselben Alters-
Klassen... 54024 hee w. 49 12-5 13-4 49-3
Indexziffer: auf 100 männ-
liche Verurteilte kommen... 23:2 14-9 32-3 16-8
Vermittels der Indexziffer ersehen wir, daß auf 100 mannliche
wegen Verbrechens verurteilte Jugendliche der Altersklasse 14 bis 16 und für
das Jahr 1910 25-2 ebensolche we'bliche, für die Altersklasse 16 bis 20
t) Siehe rückwärts, Tabelle 20, 3.
+) Siehe Tabelle 21, S. 703.
664 Carla Zaglits.
nur 14-2 weibliche Jugendliche kommen. Im Jahre 1919 ist die Beteiligung
der männlichen Jugendlichen an der Kriminalität auf 41-6 unter 10.000
männlichen Jugendlichen in der Altersklasse 14 bis 16 gestiegen, die der
weiblichen Jugendlichen auf 13-4 unter 10.000 Jugendlichen überhaupt.
Auf 100 männliche Kriminelle der Altersklasse 14 bis 16 kommen im
Jahre 1919 jedoch 32-3 ebensolche weibliche Jugendliche, in der Alters-
klasse 16 bis 20 16-8 weibliche Jugendliche. Es ist also die Kriminalität
der weiblichen Jugendlichen in der Nachkriegszeit nicht nur in demselben
Verhältnis gestiegen wie die männliche Kriminalität, sondern in inten-
siverer Weise. Das Verhältnis 25-2 :100 hat sich auf 32-3 : 100
zuungunsten der weiblichen Jugend in der Altersklasse 14 bis 16 ver-
schoben.
Einer der Hauptgriinde der erhöhten Kriminalität der Jugendlichen
liegt in ihrer starken Heranziehung zur Erwerbstätigkeit samt den sie
nötig machenden Vorbedingungen. (Kriegsverelendung, mangelhafter
Verdienst des Vaters usw.) | l
Die materielle Selbständigkeit solcher junger Geschöpfe steht in
keinem Verhältnis zu ihrer psychischen und physischen Unreife; die
Unabhängigkeit vom Elternhaus, das materielle Versagen des Eltern-
hauses nimmt der elterlichen Autorität die materielle Grundlage und
vernichtet damit unter Durchschnittsmenschen oder gar minderwertigen
Individuen die Autorität selbst.
Von den 99.349 in Wien 1920 gezählten !) Jugendlichen waren
51:4% berufstätig; von je 100 männlichen Jugendlichen waren 57-97°,,.
von 100 weiblichen 44:77% herufstitig. Es war also im Alter von
14 bis 16 Jahren nahezu die Hälfte unserer weiblichen Jugend
berufstätig, allen Anfechtungen des Lebens ausgesetzt, bevor die jungen
Geschöpfe einen nur einigermaßen ausgeprägten Willen haben; da ist
wohl nicht verwunderlich, daß wir so viele jugendliche Prostituierten und
so viele Kriminelle haben. In dem rein ländlichen, industriearmen, po-
litischen Bezirke Tamsweg wurden sogar 86:9% berufstätiger Jugend-
licher gezählt, und zwar ohne wesentlichen Unterschied zwischen den
beiden Geschlechtern. Es ist freilich sehr viel, aber wenn man die Art
der Beschäftigung in Betracht zieht, die ländliche Atmosphäre, und
hedenkt, daß diese Erwerbstätigkeit am Lande nicht so spezifisch ist und
t) Ergebnisse der a'ıßerordentlichen Volkszählung der statistischen Zentral-
Lommission vom 31. Jänner 1920.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 665
man für ihren Beginn kaum eine Grenze setzen kann, da schon das kleine
Kind, sobald es kriechen kann, ,,heuen“ hilft, hat diese Zahl keinen starken
Klang, trotz ihrer Höhe.
Um in noch frühere Altersklassen und differenzierte Verwahrlosungs-
abstufungen Einblick zu gewinnen, müssen wir uns der deutschen Für-
sorgestatistiken in ihrer Behandlung der schlechten und verbreche-
rischen Neigungen der Fürsorgezöglinge bedienen. Nach einer Tabelle !)
über die schlechten Neigungen der Fürsorgezöglinge in Preußen, gesondert
nach schulpflichtigem und nachschulpflichtigem Alter, gestaltet sich das
Verhältnis der prozentuellen Anteilnahme der weiblichen zu den männ-
lichen Fürsorgezöglingen im schulpflichtigen Alter für die Jahre 1901
bis 1907 wie 31-6 : 41-4, im nachschulpflichtigen Alter wie 73-0 : 45-9;
es ist ein Überwiegen der Knaben bezüglich der schlechten Neigungen
im vorschulpflichtigen Alter, aber ein sehr starkes Überwiegen der Mädchen
diesbezüglich im nachschulpflichtigen Alter zu ersehen. Da sich die
schlechten Neigungen der Mädchen im vorschulpflichtigen Alter auf
Herumvagabundieren und Arbeitsscheu konzentrieren und die Unzucht,
soweit sie sich erweisen läßt, 2) noch keine erhebliche Rolle spielt, beziehen
sich hingegen im nachschulpflichtigen Alter durchschnittlich 64:5% der
73% auf Unzucht allein. Die schlechten Neigungen der Knaben kon-
zentrieren sich in beiden Altersklassen ziemlich gleichmäßig auf Land-
streicherei, Arbeitsscheu, worunter auch Liigenhaftigkeit, Leichtsinn usw. in-
begriffen sind. Es liegt in der Natur der wichtigsten weiblichenV erfehlichkeit,
nämlich der sexuellen Verfehlichkeit, daß d’e Mädchen erst in der zweiten
Altersklasse ihre Verwahrlosungserscheinungen kennen lassen. Ihre Ver-
wahrlosung ist in der ersten Altersklasse, hier ‘m schulpflichtigen Alter
freilich schwerer zu erfassen als bei den Knaben, da die Symptome viel
undeutlicher sind. Es sollte demgegenüber das Recherchierungsverfahren
bei jugendlichen Mädchen intensiviert werden, was in Deutschland, wo
ein Netz von FiirsorgemaBnahmen besteht, unschwer geschehen könnte. °)
1) Statistik der Fürsorgeerziehung Minderjähriger und der Zwangserziehung
Jugendlicher in Preußen für 1907, herausgegeben 1909, S. LXXV, siehe sabelle 23,
S. 104,
2) Über die ailzugeringe Kenntnis der Öffentlichkeit von der Häufigkeit des
Inzestes und seinen schwerwiegenden Folgen für das betroffene Individuum siehe
Pappritz, a. a. O., S. 176. |
3) Siehe Näheres darüber unten S. 676 ff.
6606 Carla Zaglits.
Das Vorkommen der Trunksucht, das in manchen Fürsorgestatistiken
berücksichtigt wird, ist bei den Knaben ein geringes, bei den Mädchen
kommt es kaum in Betracht. +) Nur insofern spielt der Alkoholismus
bei den weiblichen Jugendlichen eine Rolle, als er ziemlich häufig die
Veranlassung zu ihrem sittlichen Falle wird. „Der Rausch braucht gar
nicht erheblich zu sein, um ihr Blut in Wallung zu bringen, ihre sittlichen
Bedenken und ihre Standhaftigkeit zu erschüttern. Nicht umsonst be-
dienen sich die raffinierten Verführer des Alkohols als ihres vorzüglichsten
Helfershelfers. ...... Tausende von jungen Mädchen fallen alljährlich
umnebelt von Alkohol. ...... 2)
Die Personalstatistik der Fürsorgezöglinge in Berliner Anstalten be-
stätigt obige Ergebnisse. ?) Wünschenswert, betreffs der Ubersichtlich-
keit der verschiedenen Fürsorgestatistiken, wäre es, wenn die begriffliche
Unterteilung auf bestimmte einheitliche Formen gebracht ‘würde, denn
dadurch erst kann eine eventuelle Verschiedenheit des Materials klar
werden, während die verschiedene Annahme der Rubrikentitel und die
Aufteilung der Verwahrlosungsmasse nach verschiedenen Gesichtspunkten
verwirrend wirken.
VI. Das Elternhaus.
Die Bedeutung des Elternhauses und seiner Funktionen haben wir
schon mehrfach betont und erübrigt noch, näher die elterlichen Verhält-
nisse zu betrachten, die Unehelichkeit, die Waisenschaft, mangelhaftes
Funktionieren des Elternhauses infolge persönlicher Unzulänglichkeit
oder sonstiger Umstände, ferner, soweit es möglich ist, die berufliche
Lage der Eltern ganz speziell in der Auswirkung auf unsere Verwahr-
losungsmasse zu prüfen.
a) Unehelichkeit.
Die uneheliche Geburt ist schon dadurch, daß sie das junge Geschöpf
‚nicht des Vaters teilhaftig werden läßt, ihm nur die Halbfamilie gewährt,
äußerst nachteilig. Die hinzutretenden sozialen Folgen füllen das Maß
der Schutzlosigkeit, Ausgestoßenheit und in vielen Fällen der Minder-
1) Siehe Näheres Tabelle 23, S.704 und 25, S. 705.
*) Hoppe, a. a. O., S. 99.
%) Siehe Tabelle 26.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 667
wertigkeit, so daß die Unehelichen ganz besonders das zahlreiche Kon-
tingent bilden, aus dem stets frisches Material dem Verbrechen und der
Prostitution zuströmt. !)
Zunächst wollen wir nun sehen, ob die Unehelichkeit auf beide
Geschlechter gleichmäßig einwirkt.
Aus der bayrischen Statistik (Tabelle 28) geht hervor, daß de
Anteilnahme der weiblichen Jugendlichen an der Unehelichkeit prozentuell
eine höhere ist als die der männlichen Jugendlichen. Das ist eine sehr
bemerkenswerte Erscheinung, die sich auch im statistischen Jahrbuch
der Stadt Berlin (Tabelle 29) im Verhältnis von Geschlecht und Ehelich-
keit bestätigt. Die Unehelichkeitsziffer der männlichen Fürsorgezöglinge
beträgt 16-0%, die der weiblichen 19-8%,. Ähnliches ersehen wir aus der
Schweizer Justizstatistik (Tabelle 27).
Daraus ergibt sich, daß die uneheliche Geburt auf das weibl’che
Individuum einen noch ungünstigeren Einfluß nimmt als auf das männ-
liche. Wir erwähnten bereits, daß dies bei allen Milieumängeln der Fall
ist, aus Gründen ihrer intensiveren Einwirkung auf die weibliche Psyche.
b) Verwaisung.
Ein weiteres Moment, das ähnlich wirkt, ist die Verwaisung. Wenn
es sich hier auch nicht um ein schlechtes Funktionieren des Elternhauses
handeln muß, wie dies bei der unehelichen Geburt in sittlich-sozialer
Beziehung der Fall ist, die Haltlosigkeit und Schutzlosigkeit des jugend-
lichen Individuums, der Mangel vollständiger Erziehung und in weiterer
Folge häufig eines gelernten Gewerbes macht sich auch hier vielfach nach-
teilig bemerkbar. 2
Wir werden hier ferner die oben angeführte Tatsache bestätigt finden,
indem auch die Verwaisung mit ihren Folgen für das weibliche Individuum
schwerwiegender ist als für das männliche. So sind zum Beispiel nach
der österreichischen Kriminalstatistik im Dwchschnitt der Jahre 1905
bis 1913 unter den unmündigen Kriminellen die Mädchen mit 255%,
hingegen die Knaben nur mit 19:1% an der Verwaisung beteiligt, bei
1) Die Statistik schätzt den Anteil der Unehelichen an der F ürsorgeerziehung
mit Recht auf mindestens dreimal so hoch als den der Ehelichen. Siehe darüber
Petersen ‚Die öffentliche Fürsorge für die sittlich gefährdete und gewerbstätige
Jugend‘, Leipzig, Teubner 1907, S. 60.
668 Carla Zaglits.
den jugendlichen Kriminellen sind die Mädchen mit 25-5%, die Knaben
mit 21-9% beteiligt. +)
Wenn wir nun die Verwaisung väterlicherseits und miitterlicherseits
vergleichen wollen, erscheinen unter den unmündigen Kriminellen die
männlichen mütterlicherseits mit 6-4%, die weiblichen dagegen mit 9-1%
daran beteiligt; ferner erscheinen die weiblichen Kriminellen, die ja durch
die Verwaisung überhaupt stärker belastet sind, an der Verwaisung vater-
licherseits mit 13-0%, beteiligt. l
Daraus könnte sich der Schluß ergeben, daß die Verwaisung väter-
licherseits im Hinblick auf die Verwahrlosung bedrohlicher einwirkt.
auch bein weiblichen Geschlecht, wogegen doch die Praxis in den meisten
Fällen spricht. Doch wäre ein solcher Schluß irrig, denn die stärkere
Verwaisung väterlicherseits überhaupt hängt vor allem mit dem gewöhnlich
vorhandenen Altersunterschied der Eheleute und der sich daraus er-
voebenden relativ früheren Sterblichkeit des Vaters zusammen.
Da es sich hier aber nicht um die allgemeine Betrachtung der Be-
ziehungen zwischen Verwaisung und Kriminalität, beziehungsweise Ver-
wahrlosung handelt, sondern um zahlenmäßige Vergleiche zwischen den
weiblichen und männlichen Jugendlichen bezüglich des Verhältnisses
zwischen Verwaisung und Kriminalität, beziehungsweise Verwahrlosung (in
den Fürsorgestatistiken), so können wir die Zahlen, die sich für die Ver-
waisung der kriminellen männlichen und weiblichen Jugendlichen in den
einzelnen Rubriken ergeben, zueinander in Beziehung setzen. Denn die
Verwaisungsgründe und -umstände sind für beide Geschlechter gleich-
mäßig dem Zufall unterworfen und ist also die Vergleichsbasis dieselbe.
Wenn, wir berechnen, wieviel väterlicherseits verwaiste, kriminelle
unmündige Mädchen auf eben8olche 100 Knaben kommen, erhalten wir
16-3, auf 100 mütterlicherseits verwaiste Knaben 20-0 Mädchen als Index-
ziffer.
Was die beiderseitige Verwaisung betrifft, kommen auf 100 solche
unmündige Knaben 35:7 Mädchen, auf 100 jugendliche Knaben 16-9
Mädchen. Dadurch haben wir das Fehlen überbrückt, daß das frühere
Sterben des Vaters in der Statistik nicht zum Vorschein kommt, und
gelangen zu dem Ergebnis, daß der Tod der Mutter auf die Mädchen von
schwererem JcinfluB ist, als der Tod des Vaters. Wenn wir dasselbe
') Siehe Tabelle 30.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 669
Moment in Verbindung mit dem Beginne der Verwaisung untersuchen
(Tabelle 31), ersehen wir, daß die Verwaisung vor dem fünften Lebensjahre
mütterlicherseits auf die Mädchen einen bedeutend bedrohlicheren Ein-
fluß nimmt als die Verwaisung väterlicherseits; ganz besonders stark
tritt dies bei den im unmündigen Alter kriminell gewordenen Mädchen
zutage; es kommen nämlich auf 100 väterlicherseits vor dem fünften
Lebensjahre verwaiste kriminelle Knaben 14-3 ebensolche Mädchen, auf
100 vor dem fünften Lebensjahre mütterlicherseits verwaiste kriminelle
Knaben 22-1 ebensolehe Mädchen.
Ähnliches ist bei der Verwaisung vor dem 10. Lebensjahre der Fall.
Bei den kriminellen Unmündigen, die vor dem 14., und den kriminellen
Jugendlichen, die schon vor dem 10. Lebensjahre verwaist sind, zeigt
sich eine Annäherung der Indexzahlen für väterliche Verwaisung an die-
jenigen der mütterlichen Verwaisung. Mit anderen Worten, dort, wo die
berufliche Ausbildung in Betracht kommt, wiegt die Verwaisung väter- —
licherseits schwerer als sonst, da ,,die Väter eine ziemliche Neigung zuı
Vernachlässigung der sittlichen, wenn auch nicht der beruflichen Er-
ziehungsleistung haben**.’)
Da es aber bei den Mädchen. zumal vor dem Kriege nicht so sehr
auf die berufliche, als auf die sittliche Erziehung, Heranbildung von Gemüt
und Moral ankam, hat der Tod der Mutter verhängnisvollere Wirkungen.
Dasselbe bestätigt die preußische Fürsorgestatistik. °)
c) Erbliche Belastung.
Es wäre von ganz besonderen: Interesse, Kriminalität und Trunk-
sucht, eventuell Unzucht der Eltern, die zu den wichtigsten Belastungs-
arten zählen, statistisch in ihrer Auswirkung auf die beiden Geschlechter
1) Spann, Untersuchungen über die unehe.iche Bevölkerung von Frankfurt
a. M. Problem der Fürsorge 2, Dresden 1905, S. 107.
2) Was die beiderseitige Verwaisung bei den Mädchen betrifft, so kommen auf
100 beiderseits verwaiste kriminelle Knaben vor dem 5. Lebensjahre. 69-2% eben-
solcher Mädchen, vor dem 10. Lebensjahre 41-0°%, vor dem 14. Lebensjahre 21-7%
ebensolcher Mädchen. Dies kommt daher, da das weibliche Waisenkind, wenn es
von Verwandten oder mitleidigen Seelen aufgenommen wird, häufig mehr oder
weniger als Aschenbrödel benutzt oder sonst als Ausbeutungsobjekt angesehen wird,
während den männichen Waisenkindern viel eher eine Erwerbsschulung zuteil wird.
Ferner wirkt das Vorhandensein eines Stiefvaters auf die weibliche Jugendliche
ganz besonders nachteilig ein. (Siche Tabelle 32.)
670 Carla Zaglits.
der verwahrlosten Individuen zu untersuchen. Bedauerlich ist, da8 zum
Beispiel die preußische, die bayrische und auch andere Fürsorgestatistiken
mit der Differenzierung der beiden Geschlechter just bei der Untersuchung
der familiären Verhältnisse der Fürsorgezöglinge aussetzen, die häufig bei
diesbezüglich belanglosen Tabellen durchgeführt ist. Die Wirkungen des
Alkoholismus, die eher zu ermessen sind, da sie schon mehrfach unter-
sucht wurden, sind in physischer und psychischer Hinsicht, wie bekannt,
höchst bedrohliche, wobei die physischen durch den Alkoholismus des
rzeugers ererbten Degenerationserscheinungen den fruchtbaren Boden bei
den Jugendlichen !) zur Aufnahme ungünstiger Einwirkungen des Milieus
abgeben, das sich wieder seinerseits aus Brutalität, Gewalttätigkeit des
trunkenen Vaters, Elternzwist und Elend zusammensetzt. „Ein Kind,
das von Jugend an in einer verbrecherischen Umgebung lebt, nimmt
auch an ihrem Denken teil und kommt gar nicht zu anderen Anschau-
ungen.‘ ?)
Charakteristisch für die Masse von Rekruten, die die Trinker durch
ihre abnormen Kinder dauernd dem Verbrecherheere zuführen, ist das
von Dugdale gebrachte Beispiel der Familie der Jukes. ?)
Sehr beachtenswerte Untersuchungen über die Belastungsverhält-
nisse der verwahrlosten Jugendlichen durch ihre Abstammung bringen
Gregor und Voigtländer®), 100 Knaben und 100 Mädchen des
1) Sostammten zumBeispiel von den in den Schweizer Rettungsanstalten unter-
gebrachten jugendlichen Verbrechern 45°, der Knaben und 50%, der Mädchen von
Eltern, deren eines oder beide Trinker waren. ....... Unter den 190 Prostituierten des
Breslauer Staatsgefängnisses waren bei 44-7%, durch Alkoholismus erblich belastet,
also wesentlich stärker als bei den männlichen Individuen, wobei aber wohl das Trinker-
milieu die weiblichen Individuen mehr zur Verfehlichkeit prädisponiert haben
dürfte, als die Vererbung. Siehe darüber Hoppe, a. a. O., S. 1491.
2) Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, Heidelberg 193,
S. 102.
4) Dugdale fand im Jahre 1874 in den Gefängnissen New Y orks sechs verwandte
Verbrecher und verfolgte deren Stammbaum bis zu dem im Anfang des 18. Jahr-
hunderts lebenden Stammvater, einem Jäger und Fischer, der arger Trinker gewesen
war. Im ganzen brachte er sieben Generationen und 709 Nachkommen zusammen.
Unter diesen waren 174 Prostituierte (es waren hiemit unter den Frauen 50°% Prosti-
tuierte, während sonst die Zahl der Prostituierten in diesem Stand 1:8°, beträgt),
18 Bordellbesitzer. 77 Verbrecher (darunter 12 Mörder), 64 waren in "Armenhäusern
untergebracht, 142 senst öffentlich unterstützt worden, die meisten waren Trinker.
+) Voigtländer, a. a. O. S. 486, II. Teil.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. Gol
Heilerziehungsheimes Kleinmeusdorf wurden unter anderem auf die
endogenen und exogenen Griinde ihrer Verwahrlosung untersucht.
Von den schulpflichtigen Mädchen !) sind 92%, von den schul-
pflichtigen Knaben 95-4% erblich belastet, bei den schulentlassenen
Knaben und Mädchen ist die Prozentziffer der erblichen Belastung 86°...
Die hohe geschwisterliche Belastung ist bei den schulpflichtigen Mädchen
bemerkenswert.
Was die Belastung durch den Vater, die Belastung durch beide Eltern-
teile und die mehrfache Belastung betrifft, so ist diese bei den Knaben
sehr hoch.
Durch den verbrecherischen und leichtsinnigen Lebenswandel der
Mutter sind die Mädchen stark, und zwar mit 14%, belastet.
„Da die Bestimmung der Beteiligung von Milieu und Anlage zum
Teil auf subjektiver Bewertung beruht, so dürfen abweichende Zahlen-
angaben verschiedener Autoren nicht überraschen. Da an Knaben und
Mädchen bei eben erwähnter Untersuchung gleicher Maßstab angelest
wurde, so darf das festgestellte Verhältnis, nämlich ein Überwiegen
von Bedeutung des Milieus bei der Verwahrlosung von Mädchen
als sicherer Befund hingestellt werden.‘ ?)
d) Elternberuf.
Die größten Prozente an verwahrlosten Mädchen (38%) und Knaben
(40%), und zwar ziemlich gleichmäßig liefern die Gehilfen in Industrie,
Bergbau, Hütten- und Bauwesen; ferner die Lohnarbeiter wechselnder
Art mit 24-5% für die weiblichen, mit 23-6% für die männlichen Jugend-
lichen. (Tabelle 35.) |
Die starke Verwahrlosung der Jugendlichen in diesen Klassen hängt
hauptsächlich damit zusammen, daß Mädchen und Knaben großenteils
aufsichtslos in den Straßen kollern, vor allem nicht zu regelmäßigen
Lernen auf einen Erwerb herangezogen werden, sondern gerade das an-
packen, was ihnen unterkommt, und häufig zeitlebens ungelernte Arbeiter
bleiben, die Mädchen leicht der Prostitution verfallen. Die Erwerbs-
tätigkeit der Mutter mit ihrer speziellen Einflußnahme auf die Mädchen
1) Siehe Tabelle 33 und 34.
2) S. darüber auch Gruhle: Abhandlungen aus dem Gesamtgebiete der Kriminal-
psychologie, Heft 1: Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität,
Berlin 1912, S. 263. ° | |
612 Carla Zaglits.
ist ein sicher vorhandenes, doch da die Statistik darüber schweigt, nur
durch besondere Untersuchungen nachweisbares Verwahrlosungsmoment.
Die österreichische Kriminalstatistik bringt wohl den Mutterberuf.
aber nur dann, wenn kein Vaterberuf vorhanden ist; ob es sich da um
verwitwete oder uneheliche Mütter handelt, ist nicht zu unterscheiden,
wie die Unehelichkeit überhaupt daselbst nicht aufgenommen ist.
VII. Sonstige Lebensumstände.
a) Erziehung.
In Gegensatz zu der Tatsache, daß verhältnismäßig mehr Mädchen
als Knaben ım Elternhaus aufgezogen werden, stehen die Ziffern der
Kriminal- und Fürsorgestatistik, die erweisen, daß sowohl unter den Kri-
minellen wie auch unter den Fürsorgezöglingen die bei den Eltern erzogenen
Mädchen prozentuell geringer vertreten sind als ebensolche Knaben; und
zwar ist dies im Endergebnis als auch in den einzelnen Alters-
klassen der Fall. Jene Mädchen, die eine kombinierte Erziehung, das
heißt kombiniert aus Elternhaus, Verwandten, fremden Familien, An-
stalten, erhielten, zeigen einen sehr viel größeren Anteil an Verfehlichkeit
und Verwahrlosung als ebensolche Knaben. (Siehe Tabelle 36, S. 711.)
Sie sind bei den unmündigen Kriminellen mit 18-5% gegen 11-3% eben-
solcher Knaben vertreten, bei den Jugendlichen mit 14:1% gegen 10-2°,,
ebensolcher Knaben.
Adäquates zeigt die preußische Fürsorgestatistik (Tabelle 37).
Insbesondere sehen wir, daß die Zahl der in fremden Familien
untergebrachten Mädchen (4-8%) diejenige ebensolcher Knaben
(25%) überwiegt. Noch schärfer tritt dies bei denjenigen weiblichen
Jugendlichen hervor, die sewohl bei den Eltern als auch bei fremden
Familien untergebracht waren, die sich mit 9-4% gegen 5:9% bei den
Knaben an der Verwahrlosung beteiligen, und schließlich bei jenen, deren
Pflege und Erziehung dem Wechsel unterworfen war. Bei letzteren hängt
es zum Teil mit unglücklichen Zufällen, hauptsächlich damit zusammen,
daß infolge ihrer starken Verwahrlosung keine Pflegestätte es lange mit
ihnen aushält.
Das Fehlen oder teilweise Fehlen des Elternhauses hat also infolge
des Mangels, einheitlicher Erziehung, des Einwachsens in eine Familie.
Die sittliche Verwahnusung der weiblichen Jugend. 673
des Erwachsens und Erstarkens von Gefühlen der Treue und Anhänglich-
keit einen viel schwereren Einfluß auf die weiblichen als auf die männ-
lichen Individuen. Der Knabe behält viel eher seine Eigenart bei, das
Madchen ist bedeutend beeinflußbarer durch Gut und Böse, und. wenn
es mehrfach beeinflußt wird, lernt es nur allzu leicht lügen und heucheln.
Bei der Statistik der Haushaltsführung der Verwahrlosten werden
sich uns obige Tatsachen it
b) Schulbildung und Beschäftigung,
Die Normalschulbildung ist heute ein beiden Geschlechtern. gleich-
mäßig zukommendes Gut und wenn der weibliche Teil in dieser Hinsicht
noch etwas benachteiligt ist, so ist dies äußerst minimal.
Wir wollen nun sehen, wie sich Schulbildung und Verwahrlosung
zueinander verhalten. Die preußische Fürsorgestatistik liefert diesbezüglich
ein höchst bemerkenswertes Ergebnis.!)
Unter den Fürsorgezöglingen, die „fertig lesen, schreiben und im
Zahlenkreise von 100 rechnen“ konnten, befanden sich 47-8%, männliche
und ungefähr die gleiche Zahl, 46-0%, weibliche Jugendliche. Unter denen,
die volle Volksschulbildung hatten, waren die Mädchen mit 45-8%, die
Knaben jedoch nur mit 38-7% beteiligt.
Unter jenen, die nicht fertig lesen oder schreiben oder rechnen konnten,
beteiligten sich jedoch die Mädchen nur mit 6-6%, die Knaben mit 11-0%
an der Verwahrlosung.
Diese Zahlenverhältnisse wollen uns sagen, daß prozentuell mehr
intellektuell höher stehende Mädchen als Knaben, weniger intellektuell
minderwertigere Mädchen als Knaben der Verwahrlosung anheim fallen.
Es sind also jene weiblichen Individuen, die intellektuell höher stehen
oder besser gesagt aufgeweckt, findig sind, wenn sie mit gefährdender
Anlage behaftet sind, oder aus solchem Milieu stammen, weitaus gefährdeter
als ebensolche Knaben. Damit soll nicht gesagt sein, daß etwa die zum
Beispiel psychopathisch veranlagten Individuen nicht ebenfalls sehr
gefährdet sind (sie sind infolge ihres Wankelmutes, ihrer Willenlosigkeit
leichter zu überreden und zu verführen), sondern damit soll bewiesen
“werden, daB es nicht der Intellekt als solcher ist, der weibliche Jugend-
liche vor der Verwahrlosung schützt, sondern ganz im Gegenteil, Bul die
t) Siehe Tabelle 38, S. 713. ee ee ee ee
Actsebriff für Volkswirtschaft und Foz.ulpolilik. Nene Folge, 1. Band. 4h
674 Carla Zaglits.
Menge von gesunden, sittlich-ethischen Begriffen, die sie ins Leben mit-
bekommen haben, dafür maßgebend ist.!)
Eine sich an diese Frage nicht anschließende Feststellung des
Züricher Amtsvormundes Büchi möge hier Platz finden. In der Statistik,
die er über die von ihm bevormundeten Prostituierten aufstellt, unter-
sucht er auch den Zusammenhang zwischen den Besserungsresultaten
und der Schul- und Lehrausbildung.
Er konstatiert hiebei, daß von Frauen, die es in der Schule nur bis
zur sechsten Klasse gebracht hatten, 50%, von solchen, die bis zur siebenten
und achten Klasse kamen, 38% und von solchen, die die Sekundarschule
besuchten, nur mehr 23% nicht rückfällig wurden. Ferner wurden 32%
der Frauen mit Berufsausbildung und 36% ohne solche nicht rückfällie.
' Diese Zahlen bestätiren uns das oben Gesagte, daß nämlich für die
Besserungsfähigkeit der Verwahrlosung die allgemeine Charakter-
anlage wichtiger ist als die intellektuelle Begabung.?)
Auch die Art der Beschäftigung der verwahrlosten Jugendlichen
vor ihrer Überweisung in Fürsorgeerziehung ist natürlich häufig Mit-
ursache ihres Verkommens. Nach der preußischen Fürsorgestatistik `)
wurden im schulpflichtigen Alter 33-2% der Knaben und 55-1% der. Mäd-
chen zu häuslichen Diensten verwendet, im nachschulpflichtigen Alter
37-3%, der Mädchen zu häuslichen Diensten, 37-8%, der Mädchen im Ge-
werbebetrieb. Dies sind ja auch, wie wir gesehen haben, die beiden Berufs-
klassen, die das stärkste Kontingent der Prostitution bilden. —
Auf den Zusammenhang der frühen Erwerbstätigkeit der Jugend-
lichen und der Kriminalität haben wir bereits hingewiesen.
c) Die Wohnfrage.
Die schweren Folgen des Schlafgängerlehens oder sonstiger Haus-
haltungen in fremden Umgebungen für weibliche Jugendliche sind hin-
. länglich bekannt und setzt es uns infolgedessen nicht sehr in Verwunderung,
j ') „Auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit braucht kein zu großer Nachdruck
gelegt werden, weit wichtiger ist die ethische Entwicklungsstufe, i in ihr liegt der Kern-
punkt, die Frage nach den aa der PErORlUNan sous Tübendreie ch,
‘a. a. 0., S. 462.
2) Büchi, a. a. 0., S. 8.
3) Siehe Tabelle 39, S. 713. $ o u;
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 619
zu vernehmen, daß sich die bei den Eltern lebenden weiblichen Individuen +)
nur mit 27:0%, gegenüber 45-1% ebensolcher männlicher Individuen
an der Kriminalität beteiligen. Fast ebenso verhält es sich mit jenen
weiblichen Jugendlichen, die mit einem Elternteil gemeinsam hausen.
Dagegen sind 63:5% unter den weiblichen Kriminellen solche,
die allein leben, gegenüber 41-3% ebensolcher männlicher Krimineller ;
das heißt das Alleinleben wirkt natürlicherweise auf die weiblichen Jugend-
lichen viel schwerer ein, da sie sowohl an der Verlassenheit, besonders
wenn sie in irgend eine verwickelte Situation geraten, viel schwerer tragen
als auch der sich rasch findenden Versuchung mehr oder weniger wehrlos
preisgegeben sind. Die Haushaltsführung gemeinsam mit dem Vormund
weist ungefähr dieselben Tendenzen auf, wie die mit den Eltern.
Es erübrigt noch zum Verlaufe der Fürsorgestatistiken hinzuzu-
fügen, daß — wie ohnehin ersichtlich — die Zahl der Fürsorgezöglinge
mit den fortschreitenden Berichtsjahren steigt, was sowohl auf intensivere
Auslese als auch auf die wachsende Verwahrlosung zurückzuführen ist.?)
Die Zahl der weiblichen zu derjenigen der männlichen Fürsorgezöglinge
verhält sich in allen Jahren ziemlich gleichmäßig, wie t/s zu 2/s 3).
Was die Berücksichtigung von Alter und Geschlecht bei der Über-
weisung in Fürsorgeerziehung betrifft, ergibt sich uns aus der darauf
bezüglichen Statistik,*) daB die stärkste Inanspruchnahme der Fürsorge-
erziehung seitens der verwahrlosten Jugendlichen von der Altersklasse
12 bis 14 aufwärts liegt. Jedoch ist die Verteilung der Geschlechter dabei
eine verschiedene.
Während bis zum 14. und 15. Lehensjahr die prozentuelle Inanspruch-
nahme der Fürsorgeerziehung seitens der Mädchen eine bedeutend geringere
ist als von Seiten der Knaben (nachdem sie bis zum sechsten Lebensjahr
eine höhere als die der Knaben war), so nimmt sie nach dem 15. Lebensjahr
sehr erheblich zu.
1) Nach der österreichischen Kriminalstatistik, Siehe Tabelle 40, S. 714.
Für das Volkszählungsjahr 1910 (Wien) ergibt sich als Prozentsatz von der
gesamten in Haushaltungen lebenden Bevölkerung für die männlichen Aftermieter
und Schlafgänger 6-2% und 61%, für die weiblichen Aftermieter und Schlafgänger
2-6%und 1-8%. Ähnliche Zahlen finden wir für Berlin. Siehe darüber Näheres Kaup,
Jugendlichenpflege, Handwörterbuch der sozialen Hygiene, Grotjahn u. Kaup.
2) Siehe Tabelle <1, S. 715.
3) Siehe Tabelle 42, S. 715.
4) Siehe Tabelle 43 ‘und 44, S.716 f. .
610 © Carla Zaglits.
Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die Verwahrlosungs-
erscheinungen bei den Mädchen, insoweit sie kriminelle sind, meist leichterer
Natur, insofern sie prostitutionelle sind, aus physischen Gründen nicht
früher voll zum Durchbruch gelangen. Daher sieht sich die Gesellschaft.
was die Mädchen betrifft, erst dann zu Einschreitungsmaßregeln ge-
nötigt. Ein obstinater Knabe ist zumal unter irgendwie unregelmäßigen
Familienverhältnissen viel schwerer zu erziehen als ein ebensolches
Mädchen. Ferner ist dieses im Haushalt zu verwenden; und schließlich
nimmt man die we!bliche Verwahrlosung, weil sie sich milder gibt, auf
die leichte Schulter.
VIII. Fürsorgeeinrichtungen.
Wir beabsichtigen hier nicht etwa eine Aufzählung und Beschreibung
der auf diesem Gebiete bestehenden Fürsorgeeinrichtungen zu geben,
sondern jene öffentlichen Maßnahmen zu schildern, die und inwieweit sie
auch für unseren Staat behufs Durchführung in Betracht kommen.
Dabei interessieren uns hauptsächlich, wegen der Ähnlichkeit der
kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse die deutschen Maßnahmen
auf dem Gebiete der Gefährdetenfürsorge.
Neben der gesetzlich vorgesehenen Fürsorgeerziehung bestehen im
Reiche in den meisten größeren Städten an die Sittenpolizei angegliederte
Pflegeämter.
Die beiden wichtigsten Systeme, nach denen die Gefährdetenfür-
sorge arbeitet, sind das Bielefelder und das Altonaer System.
In Altona wurde 1917 ein Polizeipflegeamt eingerichtet, dem die
Fürsorge für jene weiblichen Individuen obliegt, die von der Sittenpolizei
beanstandet oder ihr sonst zur Kenntnis gebracht werden. Die
Polizeipflege in Altona hat vorbeugenden Charakter. Sie ist für
die Einrichtung vieler ihr nachfolgender Pflegeämter vorbildlich ge-
worden. | |
In der Gefährdetenfürsorge handelt es sich zunächst darum, Gefährdete
weibliche Individuen, die durch unheilvolle Umstände, wie wir sie oben
geschildert haben, ihr inneres Wertungsmaß für Sittlichkeit und Un-
sittlichkeit verloren haben oder es zu verlieren drohen, die ferner be-
rechtigte Hoffnung auf Besserungsfähigkeit und Besserungswilligkeit
geben, zu einem gesunden arbeitenden Leben zurückzuführen.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 67
Die Schwierigkeit, diese entgleisten Individuen auf die richtige Lebens-
bahn zu lenken, ist eine außerordentlich große. Besonders schwere und
dabei zahlreiche Fälle sind, wie schon früher betont, jene, bei denen die
Grundlage zur Abirrung vom geraden Lebenswege in früher Jugend gelegt
wurde, früher noch als das Auffassungsvermögen einigermaßen gereift
war, früher als auch öffentliche Sexualpädagogik!) einsetzen kann; es
sind jene Fälle, bei denen die normale gesunde Entwicklung des Begriffes
der Sexualfunktionen vollständig im Keim erstickt wurde, durch die
E’nwirkungen der Umgebung und wo das Hinabtreiben zur Veıwahrlosung:
eigentlich nur mehr äußerlicher Veranlassungen bedarf. Auf die Folgen
der allzu großen Selbständigkeit in früher Jugend wurde bereits enge-
gangen. | :
Wir wollen nun das Pflegeamt von Altona in seinen Leitsätzen
kennen lernen. In der Geschäfteordnung zwischen Sittenpolizei und
polizeilichem Pflegeamt ke'ßt es unter anderm:?) „Das Poulize'pilegeanıt
kat sein Augenmerk auf die wegen Sittenübertretung (Gewerbsunzucht,
Übertretung der Kuntrollvorschrift) verurteilten Frauen und Mädchen
zu richten, Es hat erfordelichenfalls für Unterbringung, Beschaffung
von Arbeitsgelegenheit, Stellung unter Schutzaufsicht, Verhängung von
Arbeitszwang zu sorgen und sich auf Ersuchen der Behörden darüker zu
äußern, ob es sich empfiehlt, die Beschlußfassung üker die Festsetzung
einer Nachhaft auszusetzen. Während der Bewährungsfrist hat es die
Betreffenden im Auge zu behalten, um sie vor Rückfällen zu bewahren,
oder solche nötigenfalls behufs Festsetzung der Nachl:aft zur Kenntnis
der Behörden zu bringen. Soll eine Person freiwillig cder zwangsweise
unter sittenpolizeiliche Aufsicht gestellt werden, so ist stets zunächst
') Von Sexualpälagogik wird in unserer das sexuelle Moment auf die
Spitze treibenden Zeit, sehr viel gesprochen und geschrieben. „Das Wort Sexual-
pädagogik bringt die gefährliche Suggestion mit sich, als solle nun für das sexuelle
Gebiet eine Spezialbehandlung ausgearbeitet werden. .... Darum ist jene Sexual-
pädagogik die beste, die nur das allernotwendigste über sexuelle Dinge redet. die
dagegen alle diejenigen Gewohnheiten und Charakterkräfte zu wecken versteht,
welche den jungen Menschen von selbst in die richtige Haltung gegenüber den er-
wachenden Trieben setzen. .... Das sexuelle Verhalten eines jungen Menschen ist
ein Produkt seiner ganzen Erziehung.‘ Förster, Sexualethik und Sexualpädagogik,
S. 184. |
2) Irmgard Jäger, Frauenfürsorgetütigkeit bei der Polizei. Siehe unter
_ Pappitz a. a. O. :
618 Carla Zaglits.
dem Polizeipflegeamt Gelegenheit zu geben, mit ihr zu sprechen und sich
gutachtlich zu äußern.“ |
Ferner wird vorgesehen, daß gegen Personen unter 18 Jahren, die
grundsätzlich nicht unter Kontrolle gestellt werden, und auch gegen solche
unter 21 Jahren das Fürsorgeerziehungsverfahren veranlaßt wird. „Bei
dringender Gefahr völliger Verwahrlosung im Falle der Belassung auf
freiem Fuße wird auf Grund des § 6 des Gesetzes zum Schutze der per-
sönlichen Freiheit vom 12. Februar 1850 die polizeiliche Schutzhaft zur
eigenen Sicherheit der Minderjährigen bis zum Eingang eines vormund-
schaftsgerichtlichen Beschlusses angeordnet. Dies hat insbesondere dann
zu geschehen, wenn die Prostituierten sich obdachlos und ohne Angehörige
am Orte herumtreiben.“
„Liegen Umstände vor, welche den Verdacht geistiger Unzurechnungs-
fähigkeit oder Minderwertigkeit begründen, so hat das Polizeipflegeamt `
zu sorgen, daß der Geisteszustand festgestellt wird und nötigenfalls die
Einleitung des Entmündigungsverfahrens herbeizuführen.‘
Neue wichtige Bestimmungen bringt $ 6 der Geschäftsordnung. Wenn
eine Kontrollprostituierte die Absicht hat, zu arbeiten, kann sie unter
eine erleichterte Aufsicht gestellt werden und ist, wenn sie noch keine
Arbeit hat, an das Pflegeamt zu verweisen. Führt siesich nicht entsprechend,
so ist zunächst das Pflegeamt um Aufklärung und Abhilfe zu ersuchen.
Bei Sittlichkeitsverbrechen hat, wenn Kinder und Jugendliche unter
18 Jahren vernommen werden müssen, die eigentliche Vernehmung von
seiten des Pflegeamtes zu geschehen ($ 7).
Anzeigen (mündliche und schriftliche) über ein unsittliches Verhalten
einer Frauensperson haben nach Feststellung der Personalien und der
Tatsache, daß die Betreffende in den letzten 2 Jahren noch nicht in dem
begründeten Verdacht unsittlicher Lebensweise stand, an das Pflegeamt
abgegeben zu werden.
Liegen erschwerende Umstände, wie Diebstahl, Kuppelei usw. vor.
so unterbleibt die Abgabe an das Pflegeamt. Die betreffenden Frauen
werden unauffällig vorgeladen, und zwar so, daß sie keinesfalls in
ihrem Erwerbsleben gestört werden. Mißstände in den Lebensverhältnissen
der Frau werden tunlichst beseitigt, ihr Arbeit verschafft und dergleichen
mehr.
Dadurch wird ein zweifaches erreicht: ,,Es werden erstens unbe-
scholtene Frauen davor bewahrt, sofort der Sittenpolizei zugeführt zu
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 679
werden, was darum wichtig ist ...., weil die anonyme Anzeige bei der
Sittenpolizei im Volk ein weitverbreitetes Rachemittel ist. Die Vernehmung
durch einen männlichen Beamten, das gemeinsame Warten mit anderen
Aufgegriffenen, die gemeinsame zwangsweise Untersuchung bleibt den
Betreffenden erspart. .., die ganze Behandlung der Fälle ist eine intensivere
als es durch die Sittenpolizei sein kann ..... “ (Jäger).
„Gleichzeitig hat sich gezeigt, daß die schlechteren Elemente, die
doch auch manchmal an das Pflegeamt gewiesen werden, diese Überweisung
dorthin durchaus nicht zu schätzen wissen. Ihnen war es viel lieber, sie
kamen vor die Sittenpolizei, nahmen pro forma Arbeit an, gaben sie dann
wieder auf und führten das alte Leben wieder fort. Nachdem aber das
Pflegeamt die Arbeitskontrolle intensiver besorgte, wußten sie sich nicht
anders zu helfen, als durch Fortzug in eine andere Stadt ....,..*)
“Für dieses verhältnismäßig kleine Kontingent von Individuen, die
absolut nicht zu bessern sind, bestehen eben polizeiliche Verordnungen,
in die aber Ein- und Ausgang frei sind, beziehungsweise über das
Pflegeamt führen.’
Während sich in Altona ein vorbildliches System der vorbeugenden
Tätigkeit entwickelt hat, stützt sich das Bielefelder System mehr
auf nachgehende Fürsorge.?)
Das Bielefelder System nahm seinen Ausgang von der von Bodel-
schwingh in Bielefeld gegründeten Arbeiterkolonie für vagabundierende
Individuen. Daselbst wurde ihnen Arbeit, Unterhalt, Verköstigung ge-
boten und gleichzeitig sowohl die Zahl der Assozialen vermindert als
auch durch die geleistete Arbeit landwirtschaftlicher Nutzen erzielt. Als
drohendes Zwangsmittel, um die Insassen der Arbeiterkolonie für einen
gewissen Zeitraum in der Anstalt festzuhalten und sie der Anstalts-
erziehung zu unterwerfen, wurde die Einschließung in ein Arbeitshaus
verwertet. Mit allmählicher Einbürgerung des sogenannten „bedingten
Strafausstandes“ war den Überwiesenen Gelegenheit gegeben, die
Überführung in das Arbeitshaus durch freiwilligen Eintritt in eine
1) Jäger, Gefährdetenfürsorge und Sittlichkeitsgesetzgebung, Schriften des
Frankfurter Wohlfahrtsamtes, Heft 1, S. 9 ff.
*) Bozi, Soziale Rechtseinrichtungen in Bielefeld. Schriften der deutschen
Gesellschaft für soziales Recht, Stuttgart 1917.
En u Carta Zaglite. o>
Arbeitskolonie und durch tadelloses Verhalten cee endgültig abe
zuwenden.) Zu Ä ae
Da dieses System sich ausgezeichnet bewährt hatte, wurde es auch
zur Bekämpfung der Gewerbsunzucht (nach Einführung der Polizei-
pflege 1907) 1917 angewendet. Freilich lagen hier die Verhältnisse anders,
„als die Persönlichkeiten, die in Betracht kamen, nicht durchwegs für die:
Arbeitskolonie reif waren. Es genügte in vielen Fällen, wenn ihnen Arbeit
zugewiesen wurde und wenn sie unter Aufsicht gestellt, nötigenfalls in
einer Frauenherberge untergebracht wurden..... Es wurde daher das
sogenannte System der Schutzaufsicht übernommen.“ ') _ |
Aus dem verschiedenen Verwahrlosungsgrad der wegen Gewerbs-
unzucht beanständeten Frauen ergab sich auch eine entsprechend
verschiedene Weiterbehandlung. Und zwar handelt es sich um d'e
gewohnheitsmäßigen Prostituierten, die erstmalig wegen (tewerbs-
unzucht gerichtlich Verurteilten und die sogenannten gefährdeten
Mädchen. _
Für die große Zahl der weiblichen Individuen, die mit den Gericht
var nicht oder daserstemal in Berührung gekommen waren, schied ein solcher
Kolonieaufenthalt von vornherein aus. Für diese wurde eine Schutz-
aufsicht eingerichtet, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit nicht beenet,
zun Beispiel für Mädchen, die bei den Eltern wohnen und geregelte Be-
schäftigung haben. Davon sind endlich jene zu unterscheiden, die für eine
Zuweisung an die Kolonie noch nicht reif waren, bei denen andcrerse is
die Kontrolle eine ständige sein mußte. Für diese mußte Unterkunft
im Hause geschaffen werden, das sie en von den ‚Gang zur Arbeits-
stätte nicht verlassen durften. in
Die Scheidung dieser drei Gruppen ist natürlich keine shards und
die Grenzen der individuellen Einzelbestimmungen fließende.
Der Gang der Handhabung hat sich nun in der Praxis dergestalt
entwickelt, daß die Fürsorgerin vor jedem Termin, auf den eine von der
Sittenpolizei dem Gericht zugeführte Frau vernommen wird, deren Vor-
leben, Familienverhältnisse usw. auf Grund der Akten prüft und auf Grund
dessen den Richter beratet. — Kann nach dem Urteil der Fürsorge: in
angenomm werden, daß die Angeklagte sich hinfort unter einer geeigneten
1) Gofährletenfürsorge und Sitlichkeitsgeotzgebung, SEhzINten i Frank-
furter Wohlfahrtsamtes, I., Frankfurt a. M. 1919, S. 7 ff.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 681
Schutzaufsicht -gut führen und bessern wird, so wird gleichzeitig die
Aussetzung der Festsetzung der Nachhaft beantragt; d. h. die Angeklagte
wird zwar zu einer Überweisung an die Landespolizeibehörde verurteilt
und kann jederzeit in ein Arbeitshaus eingeliefert werden, doch tritt dies
nicht ein, solange sie sich freiwillig der über sie verhängten Schutzhaft
unterwirft und sich gut führt, So ist das drohende Arbeitshaus begreit-
licherweise ein gutes Erziehungsmittel geworden.!)
_ Wir sind uns nun im allgemeinen über die beiden wichtigsten n Systeme
klar geworden, die mit mehr oder minder großen Veränderungen, je nach
Sitte, Charakter der Ortsbewohner und der sonstigen in Betracht kommenden
Faktoren in vielen deutschen Städten Fuß gefaßt haben.
In Berlin gestalten sich die Dinge dermaßen, daß die erstmalig
„u vernehnenden in einer besonderen Abteilung von der Oberaufseherin
vernommen werden; die Beamten dieser Abteilung sind nur weibliche;
auch fungiert eine Ärztin. Zutritt haben zu dieser Abteilung der Geist-
liche, der bei der Sittenpolizei tätig ist, und der Leiter der Sittenpolizei.
Der letztere entscheidet bezüglich einer ärztlichen Untersuchung. Wenn
die Betreffende gesund befunden ist, wird sie zu einer seelsorgerischen
Unterredung mit dem Geistlichen veranlaßt, nun kann sich das Mädchen
der Schutzaufsicht des Berliner Frauenbundes unterstellen, von dem aus
zwei Schwestern bei der Sittenpolizei tätig sind, welche ihnen Arbeit,
Obdach usw. zu verschaffen trachten. Daneben sind auch freie Kräfte
tätig; denen einzelne Mädchen zur Befürsorgung zugewiesen werden. `
Solche Mädchen erhalten weiters ein Merkblatt, das Aufschluß über
Unterstützungen, Krankheitsbehandlung, Namen und Adressen hilfs-
tätiger Vereine enthält, ferner eine Warnung vor Geschlechtskrankheiten
und die polizeilichen Vorschriften für solche, die sich nicht warnen lassen.)
Auf eine recht kluge Einrichtung, auf die schon oben hingewiesen
wurde, wollen wir noch zurückkommen, nämlich auf die von Büchi in
Zürich eingeführten vormundschaftlichen Maßnahmen für Pro-
stituierte,°) die anne zur Gänze der nachgehenden Fürsorge an-
gehören. | = |
1) Siehe darüber Näheres Bozi, a. a. O. und Jäger a. a. O.
2) Blaschko, Hygiene der Geschlechtskrankheiten, Weyls Sande a
Hygiene, Bd. VIII, S. 372.
5) Bü chi, Cher den Erfolg vormundschaftlicher Maßnahmen bei Prostituierten,
Separatabdruck aus der Schweizer Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, Heft VI1T, 1920),
682 Carla Zaglits.
Diese vormundschaftlichen Maßnahmen, die sich auf Art. 374 des
Schweizer Zivilgesetzbuches stiitzen, beziehen sich, wie schon aus ihrer
Rechtsgrundlage ergibt, fast ausschlieBlich auf tief heruntergekommene
Individuen, die sich aus eigener Kraft nicht aufhelfen können.
„Als Mittel, die der Vormundschaftsbehörde zur Besserung, be-
ziehungsweise Disziplinierung der entmündigten Dirnen zur Verfügung
stehen, kommen in Betracht: Persönliche Beeinflussung durch den Vor-
mund, Arbeitsvermittlung, Milieuwechsel, Anstaltsverordnung und endlich
Heimschaffung und Ausweisung der Ortsfremden.“
Die Erfolge der vormundschaftlichen Maßnahmen, die an dem Grade
der Rückfälligkeit gemessen werden, sind nachstehende: Nicht rück-
fällig wurden 34%, teilweise rückfällig 32%, (das heißt solche weibliche
Individuen, die sich eine Zeit lang ehrlich durchgebracht haben, aber
dem alten Laster sich doch gelegentlich wieder ergaben), ganzrückfälligwurden
34% der beobachtenden Frauen. Büchifand: ,,je langer die vormundschaft-
liche Kontrolle und die mit ihr verbundene äußere Einwirkung bei Prosti-
tuierten andauert, desto größer ist der durchschnittliche Besserungs-
erfolg‘“.
Eine Untersuchung nach Alter und Korrigierbarkeit zeigt, daß die
Altersklasse 24 bis 29 am stärksten zur Rückfälligkeit geneigt erscheint,
ferner ergibt sich, daß der Erfolg der vormundschaftlichen Maßnahmen
von ihrem rechtzeitigen Einsetzen und der Intensität der äußeren Be-
einflussung durch Anstaltsversorgung und dergleichen abhängig ist.
Obige Fürsorgeeinrichtung ist noch wenig ausgebaut und weist nur
zweistellige Mündelzahlen auf, so daß nichts Abschließendes darüber ge-
sagt werden kann. Da, wie gesagt, die ganze Einrichtung durch ihre
Rechtsgrundlage dazu prädestiniert ist, ausschließlich eine Hilfe für
materiell und auch sittlich durch ihre Lebensführung gänzlich herab-
gekommene Individuen zu sein, so gilt sie de facto weniger der Prosti-
tution als solcher, als vielmehr der Gemeingefährlichkeit so tief ge-
sunkener Individuen und ihrem Zusammenhange mit der Verbrecher-
welt. |
In Österreich wurde im Jahre 1918 dem Sittenamt der Wiener
Polizeidirektion eine Jugendpflege angegliedert, die unter der Leitung
von Maria Sax mit äußerst geringen Mitteln (zwei Arbeitskräfte) wahr-
haft Tüchtiges geleistet hat.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 683
So wurde im Jahre 1920 bei 438 Jugendlichen Fürsorge angewendet,
und zwar wurden:
199 den Eltern zugeführt,
81 in Anstalten und Heime untergebracht,
23 in die Landeserziehungsanstalt Eggenburg gebracht,
14 in Dienstplätze untergebracht,
25 die Heimreise ermöglicht,
33 frei zu den Eltern entlassen, verblieben jedoch in Schutzaufsicht,
6 abgeschoben,
57 verblieben im Spital.
Bei 1005 angehaltenen Minderjährigen konnte allerdings nur in
126 Fällen Fürsorge angewendet werden.
Die Errichtung dieser Pflegestelle bedeutet den ersten Ansatz neu-
zeitlicher Gefährdetenfürsorge und die äußerst mühevolle Tätigkeit auf
diesem sozialen Neuland bereitete den Boden für weitere Ausgestaltungen.
IX. Ziele der Fürsorgepolitik für die verwahrloste,
weibliche Jugend.
Wenn wir zusammenfassen, gelangen wir zu folgenden Ergebnissen.
Wir haben den Begriff der sittlichen Verwahrlosung als eine Weiter-
ausbildung des Prostitutionsbegriffes erkannt; wir haben die wünschens-
werte Stellung des Rechtes der Prostitution dahin festgelegt, daß die
Prostitution an sich nicht strafbar ist, daß aber durch Maßregeln gegen die
Geschlechtskrankheiten, gegen die öffentliche Unsittlichkeit und durch
fürsorgerische Maßnahmen ihr Kontingent besser erfaßt werden soll als bis-
her und derart der sittlichen Verwahrlosung und ihren Begleit- und Folge-
erscheinungen bedeutend wirkungsvoller an den Leib gerückt werden kann.
Die Untersuchung über die Zusammensetzung der Masse der sittlich
Verwahrlosten ergab uns, daß wir es mit einer von der früheren zum großen
Teil verschiedenen Masse zu tun haben, nämlich mit weiteren und auch
anderen Kreisen und weit jüngeren Altersklassen, die an der sittlichen
Verwahrlosung ganz unverhältnismäßig stark beteiligt sind.
Wir haben festgestellt, daß die prostitutionellen Erscheinungen kein
Ersatz für das kriminelle Moment beim weiblichen Individuum sind, unter
anderem auch aus dem schlagenden äußeren Grunde, daß mit Zunahnie
der Erwerbstätigkeit, der Angleichung der weiblichen an die männliche
O84. «> ++ Carla Zaglits. -
Lebensweise deren Kriminalität auch steigt. (Siehe S. Z. 21, drittletzte
Textzeile,) So ist also die weibliche Jugend zweifach gefährdet: prosti-
tutionell und kriminell. |
Die Auswirkungen der Anlage und die Einflüsse der umweltlichen
Mißstände auf das jugendliche weibliche Individuum haben wir im Ein-
zelnen gewertet und insbesondere den für die weiblichen Jugendlichen
und Unmündigen so sehr bedrohlichen Umstand der Verwaisung und
Unehelichkeit hervorgehoben. |
Schließlich orientierten wir uns über die Tendenzen der Methode.
mit der die Öffentlichkeit den Kampf gegen die sittliche Verwahrlosung
aufgenommen hat und sehen, daß gerade die Verwahrlosung der we blichen
Jugendlichen, zumal in Österreich, nicht genügend in ihrer unheilvollen
Bedeutung für Volkssittlichkeit und Volksgesundheit erkannt und ver-
anschlagt wird.
Wir gelangen zu Resultat: Die heute inkata und un-
zulänglich gewordene Reglementierung muß zweckentsprechenden Maß-
nahmen den Platz räumen, beziehungsweise hat sie und ihr Kontingent
gegenüber der Masse sittlich Verwahrloster und ihrer notwendigen Be-
fürsorgung so sehr an sozialpolitischer Bedeutung verloren, daß gegebenen-
falls Neueinrichtungen der Gefährdetenfürsorge auch noch
während des Bestehens der Reglementierung Platz greifen müssen.
Wine augenblickliche Aufhebung der Reglementierung vor Einführung
entsprechender Ersatzmaßnahmen und Schaffung eines zweckmäßigen
Geschlechtskrankheitengesetzes wäre sinnlos. Doch kann, und dies ge-
schieht auch seit einiger Zeit im Prinzipe, die Neuaufnahme von Prosti-
tuierten in Kontrolle gesperrt werden und dadurch das Kontingent suk-
zessive in die Kompetenz des zu errichtenden Pflegeamtes übergeleitet
werden. Ä
Es ist Hattrlich night Sache dieser Untersuchung, ` n hygienisel: eT
Richtung Vorschläge zu bringen. Die sanitäre Frage, die mit und ohne
Reglementierung besteht, muß durch ein Geschlechtskrankheitengesetz
veregelt werden, das nicht vom Dogma der unantastbaren Freiheit des
Individuums diktiert sein darf und das sich auf beide Geschlechter in
äquivalenter Weise beziehen muß.
Zur Bekämpfung der sittlichen Verwahrlosung ist die sexuelle Hyciöre, |
wenn auch. eines der wichtigsten, so doch nur ein indirektes, ein Hilfs-
mittel, Dies sei darum betont, damit die Öffentlichkeit sich mit dem
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. D85
Ausbau der sexuellen Hygiene nicht aller anderen Aufgaben ethischer
und sozialer Natur enthoben glaubt.
Was nun die Fürsorge für die sittlich gefährdeten Mädchen und Frauen
betrifft, erscheint eine zweckmäßig auszubauende Verbindung des be-
schriebenen Altonaer und Bielefelder Systems in einem auf österreichische
Verhältnisse zugeschnittenen Pflegeamt erwünscht; die rechtliche Grund-
lage für Stellung unter Schutzaufsicht, für Überstellung in Arbeitskolo-
nien und sonstige fürsorgerischen Verfügungen wäre unter den der-
zeitigen Verhältnissen in der Aussetzung der gerichtlichen, beziehungs-
weise auch der größeren Polizeistrafe gegeben. Vorläufig würden sich
diese Bestrafungen und Strafaussetzungen an die Ubertretungen des
-Vagabundengesetzes anschließen (Bestrafung der Gewerbsunzucht), später
etwa auf das Vagabundengesetz einerseits, ein intensiver gehandhabtes
Vorgehen gegen die Übertretung der öffentlichen Sittlichkeit und das
neue Geschlechtskrankheitengesetz anderseits beziehen.
Der Unterschied gegen früher besteht dann vor allem in der ver-
schiedenen Stellungnahme des Staates. Während der Staat heute noch
sagt: Gewerbsunzucht ist strafbar, aher wenn sich die Betreffende den
polizeilichen Anordnungen fügt, so darf sie Unzucht treiben
(dies ist der wirklich nicht einwandfreie Punkt, den die Abolitionisten
mit Recht heftig bekämpfen) — soll es fernerhin heißen: Wem
eine Person wegen ihres sittlichen Verhaltens einer Strafe unterliegt, so
kann diese Strafe aufgeschoben, beziehungsweise aufgehoben
werden, wenn sie sich unter Schutzaufsicht des Pflegeamte.s
stellt und sich darin gut bewährt.
Also, dieStrafekann nuraufgehoben werden, wenn diebetreffende Person
sich zu bessern gewillt ist, nicht wie früher, wenn sie erwerbs-
mäßig Unzucht zu treiben gewillt ist. (Dies hat natürlich nichts
mit den Strafen auf Kontrollübertretungen des vorläufig noch bestehenden
Polizeireglementes zu tun. Eine durchgreifende Regelung würde
allerdings mehr erfordern als das Mittel des Strafaufschubes, dessen An-
wendung von der Einsicht der zu bestrafenden Person abhängig ist, die
doch in sehr vielen Fällen fehlen wird. Eine solche Regelung ist abor
auch nur durch besonderes Gesetz möglich. !) | gen
1) Ein. ul den Grundlagen vorliegender Arbeit ruhender (iesetzesenbwurf
dirite zur Zeit ihres Erscheinens durch Frew ee Olga. Rudbl-
Zeynek im Nationalrate eingebracht werdew. | ne
686 Carla Zaglits.
Die nächstliegende Aufgabe des Pflegeamtes wird sein, den Wirkungs-
kreisder, wieerwähnt, bestehenden Jugendpflegeabteilung auf das gesamte
erfaßbare Kontingent sittlicher Verwahrlosung auszudehnen.
Es hat Zentralisierung dahingehend einzutreten, daß die Aufge-
eriffenen aller Altersklassen und von allen Kommissariaten der Zentrale
zuzuführen sind, da sonst der größte Teil der pflegerischen Behandlung
verloren geht. (Bisher geschieht dies nur für die kranken Jugendlichen;
um das Ganze tatsächlich erfaßbareKontigent bloß der Jugendlichen allein
zu befürsorgen, wäre auch die Jugendpflegeabteilung zu wenig ausgedehnt.)
Dem Pflegeamt wird ferner die Schutzaufsicht über erstmalig Ge-
fallene, beziehungsweise blo Gefährdete über 18 Jahre zustehen.
Den erwerbsmäßigen Koytrollprostituierten (bis zur gesetzlichen Auf-
hebung des Reglementierung) wird die Möglichkeit gegeben sein, sich
unter Schutzaufsicht zu stellen, wenn sie ins bürgerliche Leben zurück-
kehren wollen und hat das Pflegeamt auf sie in diesem Sinne einzuwirken.
Inwieweit vormundschaftliche Maßnahmen für Prostituierte möglich
und zweckentsprechend sein werden, hängt ganz davon ab, wodurch die
gesetzliche Basis zu solchen Maßnahmen geboten werden wird.)
Jedenfalls muß in der Auswahl der gesetzlichen Basis das sittliche
Moment die Hauptrolle spielen, und nicht materielle Herabgekommenheit,
wie dies bei den vormundschaftlichen Maßnahmen für Prostituierte in
Zürich der Fall ist, denn daraus erwächst dann eine Beschränkung der
Erfaßungsmöglichkeit auf ein kleines Menschenkontingent.
Das Pflegeamt soll mit einem Durchgangsasyl und mit einer
Arbeitskolonie in Verbindung stehen. Die Arbeitsabteilungen der
‚Kolonien sollen einerseits organisch aus dem Fürsorgebedarfe erwachsen.
anderseits mit Rücksicht auf den allgemeinen Waren- und Arbeitsmarkt
eingerichtet werden, um die materielle Möglichkeit des Bestehens der
Arbeitskolonie auf die Dauer zu sichern. l |
= Das Pflegeamt wird tunlichst mit den auf diesem Gebiete tätigen
Vereinen und Heimen, deren es noch sehr wenig und nur im kleinen Maßstab
— wenn auch unter vorzüglicher Leitung und Organisation — gibt, wie
bisher in Fühlung stehen. Den Heimen und Anstalten mangelt es an der
1) Die Möglichkeiten, welche sich auf Grund des in der vorigen Anmerkung
erwähnten Gesetzentwurfes bieten könnten, hebe ich in einem im Jännerheft
(1922) der Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. Wien, erschienenen
Folgeartikel kurz auseinanderzusetzen versucht, À ER TE
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. | H84
staatlichen Unterstützung, sowohl in materieller als auch in ideeller
Beziehung, die übrigens in guter Zeit auch nicht in Strömen floß; be-
sonders stark macht sich der Mangel an Interesse der Öffentlichkeit geltend,
deren Unterstützung zu manchen dringenden Verbesserungen in be-
scheidenem Rahmen genügen würde.
Diese Öffentlichkeit an ihre heiligsten Pflichten zu erinnern, sie von
ihrem Vergnügungstaumel Tribut zahlen zu lassen für jene unglückseligen
Geschöpfe, die darin ihr Verderben finden und es der Gesellschaft nur
allzu gründlich vergelten, das sittliche Gewissen eines dem Ab-
srund zutreibenden Volkes aufzuerwecken, das wird die
Aufgabe der Propagandatätigkeit des Pflegeamtes sein.
Durch Vorträge, Kurse, Artikel und Flugschriften soll das Publikum
über die hohe, sozialpolitische Bedeutung der Gefährdetenfürsorge auf-
geklärt und das allgemeine Interesse gewonnen werden. Insbesondere
ist Fühlung mit den Frauenvereinen zu nehmen, denn die Frau ist stets
zuerst an der öffentlichen Sittlichkeit interessiert; mit deren Stand hängt
‘thr Wohl und Wehe aufs Allerengste zusammen.
Das Pflegeamt soll allmählig die staatliche Zentralstelle aller gesunden
Bestrebungen auf dem. Gebiete der Sittlichkeitshebung werden, da es
‚dazu infolge seines Aufgabenkreises am berufensten erscheint, so wie
zum Beispiel die Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge es
für ihre Fürsorgegebiete ist. Eine Zentralstelle soll es werden, in der
die Fäden der ganzen Sittlichkeitsarbeit zusammenlaufen und richtung-
erfahrend gestärkt werden.
Ferner muß die Statistik den veränderten Verhältnissen entsprechend
‘geführt werden, nur dann können uns ihre Ergebnisse wertvollen Auf-
schluß über die Erfolge und eventuelle Fehler des Verfahrens und die
‘Wahl neuer Arbeitsrichtungen geben. Gerade auf dem Gebiete der sozialen
‘Fürsorge, wo man es mit lebenden Material zu tun hat, das stets ver-
‚änderlich ist in einer Struktur, darf die begleitende Statistik in ihrer
‚Formgebung niemals erstarren und schablonenhaft werden. Sind aber
‚ihre Fragen zweckmäßig gestellt, so sind die Konsequenzen, die wir aus
den Antwortzahlen ziehen, desto untrüglicher, die Arbeit desto erfolgreicher.
' "Es ist hier nicht der Platz, auf Details näher einzugehen und den
Tatigkeitskreis des Pflegeamtes vollends zu erschöpfen, der sich auch
| mit dem Ausbau desselben ständig erweitern wird, und dessen künftige
}Arbeitstendenzen wir in groben Strichen. zu skizzieren unternahmen.
GER | © Carla Zaglite. -
Tabellen.
Tab. a. Berufliche Aufteilung der Prostituierten in den Frank-
furter Untersuchungen aus dem Jahre 1902.')
——— = - a e
Schon anderswo kontrollierte Dirne
Dienstmädehen... s... esns one
Kellnerin
| Wäse ete bzw.
Arbeiterin. bzw.
Monatsmädehen
a) Bei der ersten Erhebung aus dem Jahre 1855 dureh Hucppe
waren von 296 Prostituierten:
Fabriksarbeiterinnen 5
Näherinnen, Wäscherinnen, Plätterinnen...
Handarbeiterinnen
Hausarbeiterinnen .
Dienstmädchen
also in der |
Industrie
erwerbstätig
bd) Bei der zweiten Untersuchung 1873 durch Schwabe waren
von 2224 Prostituierten früher gewesen:
Ohne Angabe des ursprünglichen Gewerbes..
Hausindustrie und Ladengeschäft Industrie |. 6830,
Aufwärterinnen in Verkaufslokalen.. > 139 J erwerbstätig u
Gesinde . ) | 357%,
i Fabriksarbeiterinnen 2 l also in der
©) Im Jahre 1898 (Behrend) waren von 152 Prostituierten vorher
gewesen:
Arbeiterinnen, Sehneiderinnen,
Verkiuferinnen ;
Diensimädchen
Im Hause der Eitern ....
| Erzieherin
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 689
Tab. 3. Schicksal der Prostituierten nach dem Ausscheiden aus
|
' légitime .... f abs.
lo
illegitime . ris
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léyilime...... {
lo
| illégitime ... { abs.
|
|
i
|
der Kontrolle.!)
Unter sittens| Eintritt in Verbüßung
polizeilicher | Abgang | vin Dienst- Ver- längerer
Kontrolle n | im Laufe (Arbeits-) | heiratung | Freiheits-
zu Anfang des Jahres | verhältnis strafen
des Jahres
4847
4990
5098
410%
4544
3287
3741
3759
706
3575
3301
3611
1, Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jahrg., S. 707.
%o
“lo
légitime .... f abs.
i illegitime ... { re
Tab. 4. Origine des prostitudes.?)
L'âge auquel les prostituées se sont abandonnées a la prostitution
ans
Grande Prague
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21 43 —| —|100-0
49) 61) 113 98) 108| 106; 88 66) 37| 30 15} 893
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11| 14 6 © 16; 0 5 5 9 2| 14
76 o7j18-6j11-010-3 11.0 6-9 3:51 3-5] 6-2 1-41100-0
La République Tchéco-Slovaque entiere
15 34 97| 108| 169! 128: 142) 130| 117! 76| 66) 41] 1 20| 1240
1:3) 2:7| 7-8) 8-6/13-6)10-3!11-5'10-5 4 6:1) 4:5) 3-3| 8-8| 1-6/100°0
gl 11, 16 a6 23) 38! wi 161 171 ul 6 el 192
1-6| 5:7, 8-3] 8-3j12°0|18-2110-4, 8:3] 8-9; 5-7] 3-1 9-71 ee 1-1/100-0
2) Die Tabellen 4 bis 12 stammen aus dem „Bulletin statistique de la Republique Tscheco-
Slovaque-: „La prostitution et sou hygiene*.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folg:, 1. Band. 46
690
Carla Zaglits.
Tab. 5. Origine et état civil des prostituées. Grande Prague.')
Origine des prostituées
Etat civil des prostituées
Origine et état civil
des prostituées
abs.
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0!
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abs.
illegitime .
0!
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légitime ... 9%
illégitime .. 9%,
Total.. %
veuves .
divorcées
célibataires.
mariées. ...
yeuyes @ese¢ée.
divorcées ..
Total..
1) S. Anm., Tab. 4.
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abs.
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abs.
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|
Age des prostituees
| | | |
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ans
|
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500| 93-3! 88-9 | 89-6 | 85-1 | 86-21100-0 1100-0 | 88-1.
500} 67! ırıl 104| 149| 128) — | — | 41-9
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691
Die sittliche Verwahrlusung der weiblichen Jugend.
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Carla Zaglits.
Tab. 7. Profession des prostituées. Grande Prague. ')
L’äge auquel les prostituées se sont abandonnées & la prostitution
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La République Tchéco-Slovaque entière. |
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de ménage..:...... | o | 09) 20| 63) 75! 199! 153| 108! 122| 92| 57| £5] 25) 93) 09/1000
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1) N, Anm., Tabelle 4.
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Die sittliche Verwahriosung der weiblichen Jug. nd.
693
Tab. 8. Profession des prostituées. Grande Prague. ')
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Age des prostituées
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La République sauf Grande Prague.
personnel aux.
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de ménage
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d’industrie
...00
personne) aux.
de commerce...
couturières ......
sans profession. {
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Age des prostituées
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694 Carla Zaglits.
Tab. 9. Age, auquel les prostituées se sont abandonnées à la
prostitution. Grande-Prague. ')
Age des prostituécs
Age. auquel les prostituées
se sont abandonnees a la 20 : 21-23 26—30|31—35 | 36—40
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1) S. Anm., Tab. 4. |
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend.
695
Tab. 10. Age, auquels le prostituées se sont abandonnées a la
Age, auquel les prostituées
se sont abandonnées a la
prostitution
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1) S. Anm., Tab. 4.
16
5
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17
8
18
25
prostitution. La republique sauf Grande Prague. +)
19
54
Age des prostituées
20 11-5 8—30 31—35 3401-45 16—50 ensemble
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5 | 29 6 2 j=- I- i- 58
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9 | 43 9 1 1 ij- 83
19 81| 29| 1:0) 48] 12:5) — 73
16 | 75 | 13 9 2 |] — | 14
19:7] 14:2) 42| 9-3] 4-8) 25°0) — 12-9
21 | 80 | 22 4 2|Iı—- | -— 147
276 151] 7141| 4:1] 95 — | — 13
20 |74 | 31 8 2 | — | — | 1%
26°3] 14°0| 10:0) 83) 95) — | — 11°9
— | 8 | 36 | 13 2|Iı—- | — 131
— |154| 11-7] 134] 96) — | — 11-6
— | 67 | 32 8 2 1j- 110
— | 12-7) 10-4) 83| 9-5) 125] — 97
— | 38 | 30 8 1 a — 78
— 7:2) 97| 8:3} 48 125| — 6-9
— |20 |18 8 1j- i— 47
— 38 58] 83) 48) — | — 41
— |10 | 2% 6 2I- I — 38
_ 1:9} 65 62) 96 — | — 3:3
— 1-18 | 16 3 2 1 | 108
— | — |278| 16-5| 143 25-0; 50°0 95
— |— |— | 12 | —- | — 16 |
— |— | — | 12:3) 190) — I — 14
- |- |- | - I - 1 1 2
— |— | —- |— | — 1125) 500 02
|
76 1629 |309 | 97 | 21 8 2 |1134
2.08 100°
Carla Zaglits.
696
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698 Carla Zaglits.
Tab. 12. Standesverhältnisse. !)
1919 | 1920 |
|
Panes 1915 | 1916
1917 1918
1913 | 1914
a) Ehelicher Stand und Verhältnis, ob Eltern leben oder tot, bei |
den am 31. Dezember 1913 bis 31. Dezember 1920 unter Kontrolle |
gestellten Prostituierten. |
Ehelieh sa 1479 | 1236 | 1225 | 1100| 931 | 854/1058| — |
Unehelich .. seen 400| 360| 312| 272| 947] 216| 275| —
Eheljeh f Water lebt...... 760| 595| 497] 389| 411| 338| asıl —
Voss 719| 641| 334! 198| 189| 146] 941) —
Mutter lebt. ....| 928| 792| 544| 470| 458| 331| 5571 — |
n I lofee 951 | 804| 187| 217| 142] 153| 165| — |
Gebt... — | — | 160| 123| 110] 92| 142| —
Unehelichy 7 on... — | — | 152| 149| 137| 194] 133| — |
Beide Eltern tot........... — | — | 394] 415] 331] 370| 336] — |
Summe..| — | —{! — | — | — | — | — |. |
b) Ehelicher Stand und Verwaisungsfrage bei den in den Jahren
1913—1920 neu unter Kontrolle getretenen minderjährigen
Prostituierten. |
Ehelich .........0cee0e00: 175| 159} 98] 24| 92] 24| 114] 87
Unehelich ................ 84 50 35 10 1 7 1 20
\ Ehelich £ Vater lebt... 110! 93| 19| 15| 14| 15| 66| 38!
, tot....... 65| 66} 7| 4] 4) 4] a| 93
| f Matte lebt..... 156| 106| 16) 10| 17| 10| 67| 51
; a tot.....) 69|) 88! 10) 9| 1) 9| 23| 10
l ” debt. ...- i ee 6| — 3| — | 16| 19:
Unehelichy ? tot... —~|—] a ıl al ıl 9| 3
Beide Eltern tot .......... a r 5 4 5| | 96:
Summe..| 396: 194) 38 25 29| 25 139 378
| j
c) Ehelicher Stand und Verwaisungsfrage beidenindenJahren
1913—1920 neu unter Kontrolle getretenen großjährigen
!
Summe..| 228° 143, 40| 23) 41! 38! 399, 271]!
l |
1) S. Anm., Tab. 4.
Prostituierten. |
Ehelich 2.2.2... 2.4. 180 | 116 31 92 33 36| 323 | 207)
Unehelich ................ 48 29 9 1 8 2 76 64
: Vater lebt...... 87 61 9 8 11 11| 151| 101
enelich { a 93/ 55| 13) 3! a} 6{ s8| 30
Mutter lebt.... 116 80 8 5 10 13| 187] 116
? & tal. yar 112 63 14 6 2 4 52 35
Unehelic] 7 lebt..... = — 4 1 5 1 46 34)
Io a o tota... aN 5| — 3 1| 30| 30:
Beide Eltern tot........... — — 9 11 21 19 84 56 '
|
|
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 699
Tab. 13. Beschäftigung der neu unter Kontrolle gestellten
Prostituierten 1913—1920 (Wien). 1)
| | i
1913 | 1914 1015 | 1016 1917 1918 | 1919 | 100
Dienstmädchen ..............ee000.. 192/128] 17] 10] 16| 15/120] 74
Hilfsarbeiterinnen, Bedienerinnen,
Kohlenhandlerinnen, Lageristinnen,
Wirtschafterinnen ............... 112| 88] 21] 20) 81] 30) 116} 121 |
ohne Beruf... 5:32 er 33 | 30 7| —| 10] 11| 43| 12,
Näherinnen, Stickerinnen, Mieder- |
macherinnen, Schneiderinnen ...... 32} 20] 17 3) S| 10] 58] 49
Wäscherinnen, Putzerinnen ......... 1 5 11 —| —| — 9 6
Verkauferinnen..............-c0eee 13 8 1 5 1 3| 28) 10
Kellnerinnen, Kassierinnen, Buffet-
damen, Kaffeschänkerinnen, Animier-
madebe 4.45. 43| 35 8 2 3 4| 80] 34
Schauspielerinnen, Malerinnen,Modelle,
Koloristinnen ...............0002- 8 6 5 3 9 4| 18| 16
Friseurinnen, Masseusen. Ammen....| 3 1 11 —| —| —| 4j 6
Photographinnen. Sprachlehrerinnen,
Zahntechnikerinnen............... 17 —/| —| —| —] —| 4| 8
Modistinnen, Blumenmacherinnen, Hut-
staffiererinnen,Federnschmickerinnen
Erzieherinnen, Krankenpflegerinnen ..
Kontoristinnen, Telegraphistinnen,
Telephonistinnen „22.222 22222220.» 4j 6] — 1) —| 3] 37] 23
4531337 | 78| 48| 70| sı!536 | 378
Tab. 13a. Alter der neu unter Kontrolle gestellten Prostituierten
1915—1920 (Wien). ')
11 8| 2| 1| 1| 1] 8113
10; —| —| 1) 5| —! 18] 6
ae a a ren EEE — ooo oM men
1913 1914 1915 1916 | 1917 | 1918 | 1919 1920
Summe..| 453 | 337 | 78 | 46 | Bt | 70 | 538
1) Aus der Statistik des Amtes für sittenpolizciliche Agenden der Polizeidirektion Wien |
über die kontrollierte Prostitution.
19 Jahre 7 1 3 26 12
0, 1| 7 1 39 | 28
a io | 6] 8 49 | 49
2 o ” 51 6| 6 66 | 33
3 «7 9/ 5s] 7 72 | 43
4" ol s| 5 38 | 39
5 7 9/ ıl 8 53 | 48 |
% ¢ ill 5 35 | 96
26—31 7° 11 6 | 21 85 | 12
31—36 ° 3| 2| 9 24 | 26 |
36—41 ? al = | 3 16| 4
Mh N 1 1| — I| 5 |
46 und mehr Jahre — — — — 3
«00 Carla Zaglits.
Tab. 14. Statistik der Heilanstalt Klosternenburg. 1920.
l ; :
Beruf der Patientin: Beruf des Vaters, soweit feststellbar:
490 Hausgehilfinnen und 75 Beamte, |
Bedienerinnen, 201 Gewerbetreibende mit eigenem
| 273 hatten ein Gewerbe erlernt, Geschäft, |
78 Handelsangestellte (Kontoristinnen 1 Hotrat (Oberfinanzrat), |
usw.), 1 gewesener Hauptmann,
290 Hilfsarbeiterinnen, 1 Kapitän i
27 Tänzerinnen und Artistinnen, 1 Fabriksdirektor, |
4 gewesene Kriegskranken- 1 Lehrer,
pflegerinnen, 1 Bahnvorstand, |
1 Hausbesitzerin, 30 Wirtschaftsbesitzer,
1 absolvierte Konservatoristin, 5 Wachmänner, |
11 zugestandenermaßen geheime 187 Gehilfen, i
| Haupterwerbsprostituierte, 83 Hilfsarbeiter,
320 ohne einen bestimmten Beruf, 154 Amts- bzw. Geschäftsdiener,
7 polizeilich registrierte Prostituierte. 8 Portiers. |
5 Hausbesorger,
| 21 Kutscher. i
|
|
|
Tab. 15. Anteilnahme der Jugendlichen an den Geschlechts-
krankheiten.')
17 | 18 | Jahren |
20 | 22 = 57 = 199, |
29 34 = 76 = 20
24 27 = 64 = 21%, |
15 | 19 = 45 = 15%, |
20 30 = 63 = 21°
99 42 = 75 == 290
60 | 98 | = 189 = 68°,
1) Die Statistik der Klinik Finger wurde (bis 1918) von Hofmann in ihren „Ärztl.. pādagog. |
und Fürsorgemaßnahmen bei der gefährdeten und verwahrlosten weiblichen Jugend
| verwerlet. „Bereitschaft“ 1919. |
Tab. 16. Frankfurter Untersuchungen über Prostituierten-
kriminalität.:)
Auf die mit Gefängnis bestraften 140 Prostituierten entfallen
207 Bestrafungen, und zwar wegen:
Diebstahl 87 Körperverletzung
Kuppelei 27 Totschlag
Betrug 15 Hausfriedensbruch
Unterschlagung 18 Abtreibung
Widerstand . 13 Ae E E
Beleidigung 16
$ Nach Schnapper-Arodt, Sozialstatistik.
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 701
Tab. 17. Prostituiertenkriminalität in Wien.
Bei einer Gesamtzahl von 2400 Prostituierten wurden in Wien
nämlich bestraft!)
wegen 1896 | 1897 | 1898
öffentlicher Gewalttätigkeit ................. 1
Verleitung zum Mißbrauch der Amtsgewalt... 1
schwerer körperlicher Beschädigung......... 5
Raul handels zu ee ee 1
Wachebeleidigung ........... ce cece ee ee eee 11
boshafter Sachbeschadigung .............06. 1
Verbrechen des Diebstahls ........... RER 2
Verbrechen der Veruntreuung.............. 6
Verbrechen des Betruges ..............004. 2
Übertretung des Diebstahls................. 10
Minderer Veruntreuung und Betrügereien ....
Zusammen.. 32 | 30 | ål
1) Nach Schnapper-Arndt, a. a. O. S. 448 f., Baumgarten im Archiv für Kriminal-Anthropologie
1902.
Tab. 18. Die Zunahme der weiblichen Kriminalität.!)
Von 10.000 erwerbstätigen Frauen wurden wegen Verbrechen
verurteilt:
1910 | 1920
Wien ...0 ces 43°01 I} Steiermark ........... 591 | 88-21
Niederösterreich ...... 18°59 I| Kärnten ............. D60 | 29-51
Niederösterreich zus. .. 3333 I Tirol......2222222...1 452 | 88-81
Oberösterreich ....... 21:10
Vorarlberg ........... 679 | 15°11
Dalz DUTE seks ences seas 46°93
5:69 | =
t3) Österr. Kriminalstatistik.
Tab. 19. Die von den Deutschen Gerichten Verurteilten wegen
Verbrechen und Vergehen.!)
12—18 18—40
männlich | weiblich männlich | weiblich
1883— 1887 22.132 | 6.197 | 193.296 | 35.259
1858—1892 | 32.575 7.359 | 216.583 | 38.777
1893—1897 36.966 7.697 | 260.901 43-954
1898—1902 41.017 7.957 | 288.638 , 45.049
1903—1907 ..| 44.042 8.185 | 307.584 | 47.356
Durchschnitt 1883—1907 ..... 179.732 37.395 11,267.002 | 210.395
in Prozenten der Gesamtzahl.. 828, 17°2 Sik | 14-2
ji 1) Hdw. d. Staatswissenschaften, Bd. V1, S. 250. |
Tab. 20. Die wegen Verbrechen verurteilten Jugendlichen.')
Für das ganze Staatsgebiet:
de le
ee ie 149 era nr Altersklassen
m | ow. mlw pem m | ow. | m.% | w.% 100 m. m. w. 1m% | w. %
347 236 50 4-2 14—15
710 509 68 90 15—16
968 816 121 14.6 16-—17
1964 1067 139) 19-1 17 --18
1567 1337 151 24 18—19
1841 1620 193 29-1 19—-20
5082 | 658 | 1000| 100-0
~]
7
6697 | 1147 | 1000 1000] — | 5578. ' 722 | 1000| 1000| — |
1), Österreichische Kriminalstatistik f. d. Jahre 1909—1912.
2) Bodeutet die Anzahl krimineller weiblicher Iadividuen, welche auf 100 ebensolehe männliche entfallen.
Die in den Altersklassen überhaupt vor-
handenen weiblichen und männlichen
Für Wien: Jugendlichen nach der Volkszählung:
Index?) ( Index
anf me auf Altersklassen
Carla Zaglits.
Auf
100 Knaben
100m. m. | wm. % | we Y f LOU m. männlich | weiblich
18 6 3331 13 4 | — — 14—15 14 302.730 | 310.891
bd | 12 2137 37] lof — | — 15—16 15 295.598 | 299.833
107 21 1971 68 12 | — — 16—17 i Ahr IRA 297 =
136 | 25 islo 131 — | — 17-—13 Dy ee) ee 2
154 97 1751| 142 | — x 18—19 17 274.296 383.810 <
179 32 17-9] 217 33 | — — 19—20 18 252.152 | 277.258 1109 =
— 19 218.009 | 251.275
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104 Carla Zaglits.
Tab. 23. Schlechte Neigungen der Fürsorgezöglinge in Preußen
in den Jahren 1907—1901.')
In Prozenten innerhalb des betreffenden Alters und Geschlechtes.
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1, Stalistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger und über die Zwangserziehung |
Jugendlcher von Preußen, für das Rechnungsjahr 1907, S. LXXV.
Tab. 24. Verbrecherische Neigungen!) der nicht vorbestraften
Fürsorgezöglinge in Bayern in den Jahren 1907—1911.
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1910
1909
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1907—1911 : : i : : $ (Durchschnitt)
1) Die absoluten Zahlen sind der Zeitschrift des statistischen Bureaus von Bayern (1913). ;
S. 103. entnommen. Nur ein Teil der nicht vorbestraften Fürsorgezöglinge wurde als
mil schlechten Neigungen behaftet, detailliert, die Prozentzahlen sind von der |
Gesamtzahl der noch nicht Vorbestraften berechnet! |
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. (OD
Tab. 25. Schlechte Neigungen der Fürsorgezöglinge bei ihrer
Uberweisnng.')
(Betteln) | Trunt:- Fursurge-
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Schlechte Neigungen überhaupt 1909—1912
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t) Statistik der Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Preußen aus dem statistischen Jahrbuche |
der Stadt Berlin. S. 746; die persönlichen Verhältnisse der im Rechnungsjahr der Für-
sorgeerziehung überwiesenen Minderjährigen.
ng
Tab. 26. Schlechte Neigungen der Fürsorgezöglinge: Gründe
der Überweisung.)
Gründe der Überweisung liegen in
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den elterlichen
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Verhältnissen
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1) Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Zwangs- und Fürsorgeerziehung nach Mitteilungen
der städtischen non S. 616 f. Personalstatistik der Fürsorgezöglinge
ın Berliner Anstalten
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Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1. Band. 47
06 Carla Zaglits.
Tab. 27. Schweizer Justizstatistik!) von den 14.612 Inhaftierten
der Jahre 1892 — 1896.
Auf je 100 berechnet
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Gl und mehr Jahren.
1) Gruhle: Die Ursachen der Jugendlichenverwihrlosung und Kriminalitit, S. 263. Abhand-
lungen aus dem Gesamigebsele der Kriminalpsychologie. Heft 1, Berlin, Springer, 1912.
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| H Zusammenstellung des statistischen Buresus in Bayern 1913, S. 102. |
Tab. 29. Geschlecht und Ehelichkeit der Fursorgezéglinge.')
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1) Statislis. hes Jahrbuch der Stadt Berlin, S. 717. | i
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 107
Tab. 30. Das Moment der Verwaisung bei den in den Jahren
1905—1913 verurteilten Jugendlichen und Unmündigen.
‘Österreichische Kriminalstatistik.)
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Tab. 31. Das Moment der Verwaisung in Verbindung mit dem
Beginne derselben. -
(Österreichische Kriminalstatistik.)
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TOS Carla Zaglits.
Tab. 32. Verwaisungsverhi Itnisse der Fürsorgezöglinge.')
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wersung und ihre Bekampfüung. Berlin WN,
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. 709
Tab. 33b. Art der erblichen Belastung (Fürsorgezöglinge des
Heilerziehungsheims Kleinmeusdorf).') —
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Körperliche Krankheit ......... On ISA] — By AS
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| 1) Die Verwahrlosung, ihre klinisch-psyehologische Bewertung und ihre Bekdinpfong. th Teil.
Von Dr. Else Voigtländer, Berlin 1918, Verlag S. Karger.
Carla Zaglits.
10
Tab. 35. Beruf der Eltern der Fürsorgezöglinge.
Nach dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin, S. 746.
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5
Tab. 37. Erziehung der Kriminellen.!)
Österreichische Kriminalstatistik 1005--1913.
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64 #44 [614+ 1 |148
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172 | 10 | 29 | 209 | - 10 | 52 | 410 10 | 106 | 791 | | 30
17-1 1:0) 28| 20:7) 10 52] 407 1:0 10 78-5 3:0
|
1814 | 3 53 191 11790 2 ot 250 1535] 5 74 SHO [6933 10 178 | 991 |
22-4 0-0 0-6 24 22-1 0-0 M6 1 41.0 O- d od 6-8] 855 0-1 2-2 412-2
I) Erziehung der jugendlichen Kriminellen
c) Unmûndige und Jugendliche
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= Sonstige Erzichungsgelegenheit, K = Kombiniert.
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331
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1272
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12-2 00 0-3 1-9) 29-0 0-4 0-8 3S} 462 04 If i 87-4 0-2 2-2) 10-2
1192 | 55 229 2175 4817 15 292 f 120 hl (IRS! Ff Sol 1085
13:5) i 0-7 8201 28°: 0-1 tS a4 IRA 0+f 17 5 1-4 TES ig 14-1
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17149 $3 327 2362 26839 43 704 2771 5IDOO 9i 1150 |6377 |
28-3 0-1 10 LOL 45.2 0.1 1:2 4- BG- 7 0:2 2-4) 10-7
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. ı13
Tab. 38. Schulbildung der über 12 Jahre alten in den Jahren
1%8--1912 überwiesenen Fürsorgezöglinge.')
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; bildung schreiben, oder nur | rechneu schul- bildung
rechnen , rechuen | bildung
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1911 { weibliehl — | 16 _ 114 me oo! 4
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| Jahre 1908—1912 Ñ weiblich. pt 73} B wa i
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| 4) Absolute Zahlen der einzelnen Jahre: Fürsorgeerziehung Minderjäbriger in Preußen
žy Die Gesamtzahl für die Jahre 1908--1912 beträgt abzüglich der noch nicht f2jiuhrigen Far-
i surgezöglinge für die weiblichen 1105, für die mannlichen 1808.
Tab. 39. Beschäftigung der Fürsorgezöglinge vor ihrer Über-
o
weisung.')
| Im schulpflichligen Alter Nach der Schulentkassung
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1909 -1912 \ weiblich....... 3 31 23 17! Wal tone Patol m 3011| 371 86) Sl 823
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10094
') Firsorgeerziehung Minderjähriger in Preußen.
Carla Zaglits.
T14-
Tab. 40. Elterlicher, fremder oder eigener Haushalt der wegen Verbrechen verurteilten
Jugendlichen.')
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1909, 1910, 1912
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Verbrechen
verurteilten
Jugendlichen
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3082
100-0
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dem Vater oder
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103
1) Die absoluten Zablen der 9 Jahre und die Prozente von 1909 siehe Österreichische Kriminalstatistik,
dem Vormu.nd
oder allein
2898
133
T30
68-0
2301
$1°3
156
62
1906
387
Die sittliche Verwahrlosung der weiblichen Jugend. rer
Tab. 41. Zahl der Fürsorgezöglinge in Preußen seit Beginn der
öffentlichen Fürsorgeerziehung und Verteilung der Geschlechter.!)
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Prozente l
Jahrgang männlich weiblich zusammen RER ee eee
| männlich | weiblich |
1901 4.949 2.838 7.787 36
| 1903 4.133 2.003 6.196 33 4
| 1903 4.950 3.164 6.523 3 |
| 1004 4.303 9.155 6.458 33
| 1905 4.375 2.961 6.636 34 j
| 1906 4.591 2.332 6.923 34 f
1907 4.664 2.257 6.921 33
1908 4.944 2.419 7.363 33
1909 2.108 3.900 8.008 36
1910 5.617 3.116 8.733 36 |
1016 35.875 21.906 57.781 38 |
1917 39.809 23.274 62.133 3 !
1918 39.738 | 21.356 61.094 3o |
1) Stal’stik über die FOrsorgeerzichung Minderjihriger in Preußen. |
Tab. 42. Verteilung der Geschlechter.
| a) Verteilung der Geschlechter bei den der Zwangserziehung |
| neu unterworfenen Minderjährigen in Preußen in den Jahren
1907--1911:
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| 1911 | 1910 1909 1908 | 1907
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weiblich .... 37°2 | 37°2 | 330 | 319 31:8
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in Bayern in Zwangserziehung stehenden Minderjährigen teilen
sich nach dem Geschlecht: 4)
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| b) Die am Schlusse der Jahre 1907--1911 tatsächlich insgesamt
|
|
|
|
Zahl Prozent.
(schlecht : E ee abe Free mn, —
1911 ' 1910 | 1909 | 1008 1907 | 1911 | 1910 | 1909 | 1908 | 1907
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3190 | 2683 m 1829 1100-0 Ga a a
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5) Zeitschrift des Statistischen Bureaus von Bayern 1913.
zusammen. .1J3742 100 0
tla Zaglits.
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Tab. 43. Geschlecht und Alter b
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| 1901 1910 |
| zus. | m. | w. zus. | m.
| |
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| |
|
| | | |
0-8 | 3-6 | 6-12 | 12-13 | 13-14 | 14-15 | 15-16 | 16—17 | 17—18 | zus.
in Prozenten innerhalb des Geschlechtes
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1906 0-6 LS | 822] 120| 154 9-4 9:0 90 | 106 | 100-0
| 1905 0-4 16 | 328 | 127 | 134 | 109 79 | 8421| 11:9 | 100-0
| 190% 0-6 17 | 332 | 149 9:8 78 | 80| 115 | 125 | 10001 % männliche
| 1903 0-2 14 | 327) 121 | 143 | 105 82 87 | 11:9 I 100-0
| 1902 04 1 | 31% | 112] 1461 118 | 85 | 90| 120 |] 1000
| 1901 1-2 AQ | BTR] UA] 141! OR! BOT 6l T4 7 100-0 |
| | | |
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| 1906 1061271243 6-7 52 77 | 126 1 156 | 21:6 | 100-0 :
1905 08 | 27 | 243 6:9 78! 95} 120| 165 | 195 | 1000 |
| 1904 10 | 21 | 337 Il 97 77 | IOR} 161 | 224 | 100-0] § weibliche
| 1903 03 | 30 | 253 78} 86] 86] 104] 137 | 21-8 I 1000 Ä
1902 02 | 33 | 282 8:21 96 8:3 | 104 | 129 | 189 | 100-0
| 1901 23 | 62 | 333 81 9-1 79} 81| 100 | 150 | 100-0
H Preußische Statistik nber die Erziehung Minderjähriger usf. 1907. Übersicht 3. oT DRN g oy
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Eheliche und uneheliche Geburt der Prostituierten in Beziehung
zum Alter.
Ba a) Grande Prague.
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Zi
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l 1° b) Lo reste du territoire do la Répu-
ee blique Tchéco-Slovaque.
l egıt'me
19 5
fe B 5 6 7 RB B 2 2 22 23 oe 25 2630 über 39
.
Alter, in dem sich die Prostituierten der Prostitution überließen
für Grande Prague und La république sauf Grande Prague.
PEPESE x. Kal. RE: Nepuch tue sasl fregve
2 — IM __Grande-Prague
Is 15 sum 8 9 2 & 22 3 u 25 ER NN 35vad meha
119
Die statistischen Verhältniszahlen.
Von Wilhelm Winkler.
1. Einleitung.
Statistische Massen geben in ihrem absoluten Umfange erst einen
Teil ihrer Bedeutung kund: Das tatsächliche Gewicht, die Geltung, die
ihnen als ausgedehnter Masse zukommt. Bei der Einzelbetrachtung des
Falles wird die Kenntnis dieses Umfanges vollständig genügen. Wir
werden die Bevölkerungszahl, das Flächenausmaß der Staaten, die in
Benutzung stehende Bodenfläche, den Viehbestand, die Warenein- und
ausfuhr und andere Massen sehr gut und deutlich in absoluten Zahlen
zum Ausdrucke bringen können. Ja, es ist der Einsichtswert dieser absoluten
Zahlen größer, als manche statistische Praktiker annehmen, die alle
Größenangaben in Verhältniszahlen ausdrücken zu müssen glauben.
Wenn wir zum Beispiel die Frage beantworten wollen, ob die Zeit nach einem
Kriege einen Ersatz für den durch den Krieg hervorgerufenen Geburtenausfall zu
bringen imstande ist, so werden wir diese Untersuchung vornehmlich an der Hand der
absoluten Zahlen führen müssen, so vertraut uns der Umgang mit der Geburtenziffer
auch geworden ist.!)
In neuerer Zeit ist in der Statistik ein erfreulicher Zug der Rückkehr
zu den absoluten Zahlen und zu einer gewissen Einschränkung des über-
mäßigen Gebrauchs der Verhältniszahlen — namentlich ohne Beigabe der
absoluten Zahlen — bemerkbar.*) Trotzdem werden wir niemals von der fest-
stehenden Tatsache loskommen, daß wir gewisse Vergleiche, besonders
solche von Freignissen, die an gleichartigen aber verschieden starken
Massen eintreten, immer nur werden mit Hilfe von Verhältniszahlen durch-
1) Vgl. W. Winkler, Die Totenverluste der österreichisch-ungarischen Mo-
narchie. Wien 1919. III. Bevölkerungsverluste im Kriege und ihre Ausgleichung in
der darauf folgenden Zeit, S. 59 ff.
2) Vgl. hiezu auch Zizek, Zur Methodik der statischen Verhältniszahlen, im
Allgemeinen Statistischen Archiv, XII. Bd., 1920, S. 232 ff.
420 Wilhelm Winkler.
führen können, Zahlen, in denen die zu vergleichende Tatsache auf die
Einheit oder ein dekadisches Vielfache der Einheit (100, 1000 usw.)
einer durch die Zusainmenhänge gegebenen anderen Masse bezogen wird.
So werden die Todesfälle zweier verschieden großer Bevélkerungen durch
Beziehung auf die dein Sterben ausgesetzt gewesenen Massen, die ver-
brauchten Nahrungsmittel durch die Beziehung auf die verbrauchenden
Massen usw. in ihrer vollen Bedeutung erfaßt werden können. In diesen
Fällen sind nad bleiben Verhältniszahlen ein unentbehrliches Rüstzeur
statistischer Vergleichsforschung.
Nun ist allerdings sowohl der ihdaretische Stand unserer Kenntnis
von den Verhältni:zahlen als insbesundere ihre Handhabung in der stati-
stischen Praxis noch entfernt davon, ein einwandfreies Wirken dieser
wertvollen Mittel zu verbürgen. Die allgemein-statistische Theorie marschiert
zum Teile getrennt und ohne Kenntnis von den Errungenschaften der
mathematisch-statistischen Forschung, die zum Beispiel in der Behandlung
der Sterbeverhältnisse ein Muster analytisch - feiner Durcharbeitung
bietet. Zweck dieser Studie ist es daher. nicht nur zur Kritik der Verhältnis-
zahlen einen Baustein beizutragen und damit an der Klärung unserer Ver-
stellung von ihrer Verwendbarkeit in der. Praxis mitzuwirken, sondern
auch, in gewissem Maße zwischen allgemein-statistischer und mathematisch-
statistischer Theorie eine Brücke zu schlagen.
2. Die möglichen Beziehungsarten statistischer Massen.
Wir können die Verhältniszahlen nach zwei Hauptgesichtspunkten
einteilen:
1. Nach dem inneren, gefügemäßigen Verhältnisse, in dem die
bezogenen Massen zu einander stehen (materielle Beziehungsart), und
2. nach der äußeren (mathematisch-technischen) Beziehungsweise
der Massen (formelle Beziehungsart).
Zu 1. Das innere, gefügemäßige Verhältnis der bezogenen
Massen. Die bezogenen Massen können sich befinden im Verhältnisse
a) der Gleichartigkeit;
b) des inneren Zusammenhanges:
a) der Teilung.
aa) als Teile zum Ganzen.
BB) als Teile eines gemeinsamen Ganzen zueinander;
B) der Ursächlichkeit;
Die statistischen Verhältniszalılen. 121
c) des äußeren Zusammenhanges:
a) der Einwirkung,
B) der Dienstbarkeit,
Y) der Interessenberührung;
d) der Fremdheit.
A. Massen im Verhältnis der Gleichartigkeit. Wenn man
gleichartige Massen zueinander vergleichsweise in Beziehung bringt (zum
Beispiel die Geburten verschiedener Jahre oder verschiedener Gebiete),
so wird man, wenn die absoluten Zahlen nicht durchsichtig genug sind,
um das gegenseitige Verhältnis erkennen zu lassen, in der Weise verfahren,
daß man ein frei gewähltes Glied der Reihe oder einen Durchschnitt aus
derselben gleich der Einheit (1, 100, 1000 u. dgl.) setzt und die anderen
Zahlen in dem gleichen Verhältnis abändert wie die Ausgangszahl (Index-
ziffern). Für die statistische Praxis liegt in der freien Wahl des Aus-
gangspunktes ein gewisser Spielraum der Darstellung, ähnlich wie bei
der Wahl der Verhältnisse graphischer Darstellungen in einem recht-
winkeligen Koordinatensystem. Theoretische Regeln lassen sich hier kaum
aufstellen. Äußerste Fälle sind als Ausgangspunkt zu vermeiden, sonst
entscheidet der richtige Takt des Statistikers.
Die zeitliche Vergleichung einer aus Teilmassen gebildeten Gesamt-
masse führt zu den in der statistischen Literatur viel behandelten Gencral-
Indexziffern.')
Die häufigste Anwendung finden Indexzifiern in der Preisstatistik. Die dort
benutzten, zum Teil recht verwickelten Methoden fallen aber bereits in das Gebiet
der angewandten statistischen Methodenlehre, also außerhalb des Rahmens dieser
einem Abschnitte der reinen statistischen Methodenlehre gewidmeten Abhandlung.
B. Massen im Verhältnis der Teilung. Wenn die in Beziehung
zu setzenden Massen im Verhältnis des inneren Zusammenhanges stehen,
so kann diese auf Teilung oder auf Ursächlichkeit beruhen. Das Verhältnis
der Teilung führt wieder in dem oben erstangeführten Falle, wenn nämlich
untersucht wird, welchen Anteil jeder Teil am Ganzen hat,
zu den in der Theorie der Statistik allgemein unter dem Namen der
„Gliederungszahlen‘“‘ bekannten Verhältniszahlen (,,Morphologie der Grund-
massen“).
1) Vgl. G. v. Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre, Tubingen 1914, Bd. I,
. 161, die dort angeführten Schriften und viele andere.
Zeitschnifl for Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1 Band. 48
122 Wilhelm Winkler.
Diese Verhaltniszahlen sind in der statistischen Theorie in der Regel als der
einfache, klare und durchsichtige Gegenstand behandelt worden, der sie in Wirklich-
keit auch sind, wenn nicht Verwicklungen künstlich in sie hineingetragen werden.')
Gliederungszahlen genießen in der statistischen Praxis die weiteste
Verbreitung. Sie gehören, richtig verwandt, mit zu den nützlichsten Meß-
instrumenten des Statistikers. Über die Grenze ihrer Fähigkeiten hinaus
in Anspruch genommen, führen sie aber wie alle anderen Maßzahlen zu
Irrtümern.
Man vergleiche zum Beispiel den historischen Fehler, aus der Altersgliederung
der Toten Schlüsse auf die verschiedene Sterbehäufigkeit innerhalb zweier Massen
zu ziehen,?) ferner den Fehler, aus der Berufsgliederung der Toten auf die Sterbe-
häufigkeit der Berufe, aus der Familienstandsgliederung der Heiratenden auf die
Heiratshäufigkeit der Familienstände usw. zu schließen. Alle diese von Laien und
leider auch von Berufsstastistikern immer wieder begangenen Fehler übersehen.
daß die Häufigkeit eines Ereignisses nur durch die Beziehung auf die Stammasse,
aus der die fragliche Ereignisteilmasse als Fruchtmasse hervorgeht, gemessen
werden kann, daß dagegen die bloßen Gliederungszahlen bei Unkenntnis der Gliederung
der Stammasse über die Ereignishäufigkeit noch gar nichts aussagen.
Man kann anstatt die Teile am Ganzen, diese auch aneinander
messen, zum Beispiel statt die Knaben- und Mädchengeburten in
Prozenten aller Geburten, die einen in Prozenten der anderen ausdrücken.
Diese Zahlen sind einfache Funktionen der erstbesprochenen und lassen
sich jederzeit mühelos auf diese zurückführen.?)
1) Vgl. zum Beispiel im folgenden auf S. 740 die Seutemannsche Betrach-
- tungsweise.
2) Vgl. G. v. Mayr a.a. O., Bd. II, S. 233 ff.
8) Bezeichnen wir mit G, M, W die absoluten Zahlen der Geburten überhaupt,
der männlichen und weiblichen, mit m und w die Gliederungszahlen der männlichen
und weiblichen Geburten von den Gesamtgeburten, mit m' und w' die Prozentanteile
der mannlichen und weiblichen Geburten aneinander, soist, aufdie Einheit bezogen, offen-
M m m w
barm'= u =," fom’? ebenso w' = =. Will man m' und w' als Prozent-,
Promillzahlen usw. darstellen, so sind sie noch mit 100, 1000 usw. zu multiplizieren,
m m
also zum Beispiel 100. in: 1000 . Lom und ebenso für w’. Sind m und w nicht
(auf die Einheit bezogene) Wahrscheinlichkeiten, sondern Prozent-, Promillezahlen, so
ändert sich obiges Verhältnis, jenach der angestrebten Form von m' ,&uBerlichabinm' =
O m 100m 1000m ,__ m
= 100—m ' 100—m ’ 100—m '™ = 1000-m "8™
Die statistischen Verhältniszahlen. 123
C. Massen im Verhältnis der Ursächlichkeit. Sind die
bisher behandelten Arten von Verhältniszahlen einfach und durchsichtig,
so ist dies nicht mehr bei denjenigen der Fall, die durch Be-
_ ziehung von im Verursachungsverhältnisse stehenden Massen gebildet
werden. Wir sind auf die möglichen Arten der Verursachung an anderer
Stelle?) eingegangen und haben dort auch gezeigt, wie die Beeinflussung
nicht von seiten der Stammassen allein erfolgt, sondern wie auch die
Fruchtmassen Rückwirkungen, Rückberührungen oder Weiterwirkungen
ausüben. Hiedurch entstehen Verbindungen und Verschlingungen, die
das Gebiet verwickelt und schwierig gestalten und zu der bisher noch nicht
erbrachten systematischen Durchforschung geradezu herausfordern, die
in einer besonderen Untersuchung erfolgen soll. Es wird sich dort die
Betrachtung — unter Einbeziehung noch zugehöriger Teile aus dem
nächsten Punkte (Verhältnis des äußeren Zusammenhanges) — auf diese
Art von Verhältniszahlen als dem Mittel- und Brennpunkte des
ganzen Gebietes vereinigen, wobei ihre volle Bedeutung erst in der Durch-
dringung des ersten Gesichtspunktes (des inneren gefügemäßigen Ver-
hältnisses) mit dem zweiten (der mathematisch-technischen Beziehungs-
art) aufgehen wird. Hier seien nur einige Bemerkungen mehr äußerlicher
Art vorweggenommen.
Das ursächliche Verhältnis kann entweder schärfer erfaßt sein, — indem
man als Stammasse nur denjenigen Teil einer Gesamtmasse wählt, der wirk-
lich das Vermögen hat, für das Ereignis ursächlich zu sein: zum Beispiel die
gebärfähigen Frauen zu den Geburten — oder man begnügt sich mit einem
weniger zutreffenden ursächlichen Zusammenhang, zum Beispiel dem
der Geburten zur Gesamtbevölkerung. Ebenso kann man die Verurteilungen
ursächlich genauer auf die strafmündige Bevölkerung, weniger genau auf
die Gesamtbevölkerung, die Heiraten genauer auf die heiratsfähige Be-
völkerung, weniger genau auf die Gesamtbevölkerung beziehen usw. Dabei
sind die in letzterer Weise zustandegekommenen Ziffern durchaus nicht
von geringerem Wert als die ersteren; nur dürfen sie nicht als Gradmesser
der Häufigkeit, sondern nur in einem anderen, sofort weiter unten zu
behandelnden Sinne genommen werden, der durch den von Mayrschen
Ausdruck „Belastungsziffern‘‘ sehr schön veranschaulicht wird. Wir
1) W. Winkler, Von den statistischen Massen und ihrer Einteilung, in den Jahr-
büchern für Nationalökonomie und Statistik, III. F. Bd. 61 (Aprilheft 1921), S.310 if.
124 Wilhelm Winkler.
erhoffen eine ähnliche Ausdrucksamkeit der Bezeichnung, wenn wir die
ersteren streng ursächlich bezogenen Ziffern „Beiteiligungsziffern“
nennen.
Der Fehler liegt also nicht darin, daß man Belastungsziffern an und
für sich bildet, sondern darin, daß man sie als Beteiligungsziffern ver-
wendet. Eine solche Verwendung dürfte nur unter der Voraussetzung
stattfinden, daß in den beiden zu vergleichenden Fällen die Anteile der
eigentlichen Stammassen an den Gesamtmassen gleich sind. ?)
Es ist dann, wenn wir mit Q die allgemeine Häufigkeitsziffer (besser Belastungs-
ziffer), mit g die besondere (besser Beteiligungsziffer), mit E die beobachteten Er-
eignisfälle, mit U den verursachenden Teil der Masse und mit M die Gesamtmasse
bezeichnen:
und wenn wir für y vv das ist die Gliederungswahrscheinlichkeit der verur-
sachenden Masse an der Gesamtmasse, setzen Q = q. wv.
Aus dieser Formel ergibt sich, daB die. Belastungsziffer der Beteiligungsziffer
umso näher kommen wird, je größer der Stammassenteil innerhalb der Gesamtmasse
ist. Geht er in die Gesamtmasse über, ist also die Gesamtmasse selbst Stammasse,
dann wird wy = 1 und es fallen Belastungs- und Beteilungsziffer zusammen.
Benützen wir die Belastungsziffer zum Vergleiche zweier Ereignismassen,
so wird diejenige Masse eine höhere Häufigkeit des Ereignisses aufweisen, an
welcher der Anteil der beitragenden Stammasse größer ist. Vergleichen wir
zum Beispiel die Geburtenhäufigkeit Frankreichs und Bulgariens an der
Hand der allgemeinen Geburtenziffern, so wird wegen der verhältnismäßig
vielstärkeren Besetzung der gebärfähigen Alter in Frankreich das Verhältnis
für Frankreich günstiger oder richtiger weniger ungünstig erscheinen, als es
sich in Wirklichkeit, unter Benützung der Beziehung der Geburten auf die
Frauen im gebärfähigen Alter, darstellt. Wenn wir so die Frucht-
barkeit Frankreichs und Bulgariens für den Durchschnitt 1910/11?) nach
— nn ——
1) Vgl. hiezu auch Lexis, Zur Theorie der Massenerscheinungen in der mensch-
lichen Gesellschaft. Freiburg 1877, S. 29 ff., Bowley, Elements of Statistics, London
1901, S. 130 und Mortara ,,Nozioni Elementari intorno ad alcune categorie di rapporti
statistici‘‘ im Giornale degli Economisti, Rivista di Statistica XXI. Vol. XL. 1° Sem,
1910, S. 234.
2) Die Zahlen sind entnommen dem oder berechnet nach dem Annuaire inter-
national de Statistique, I. und II., Haag 1916 und 1917.
Die statistischen Verhältniszahlen. 425
der Belastungs- und nach der Beteiligungsziffer vergleichen, so ergibt
sich folgendes Verhältnis:
Frankreich Bulgarien
(auf Tausend der zugehörigen Massen)
Beteiligungsziffer... 78 201 = 100:258 oder annähernd 2:5
Belastungsziffer ... 19 41 =100:212 ,, mi 2:4
Es ist daraus ersichtlich, eine wie starke Verschiebung sich bei An-
wendung der Belastungsziffer als Haufigkeitsma8 zugunsten eines
Teiles (hier Frankreichs) ergeben kann, wenn größere Verschiedenheiten
im Aufbau der Grundmassen vorliegen.
D. Massen im Verhältnis des äußeren Zusammenhanges.
Neben den vorausgehenden Beziehungsverhältnissen des inneren Zu-
sammenhanges gibt es im Leben zahlreiche solche eines äußeren Zu-
sammenhanges. Hier tritt uns vor allem der Gesichtspunkt der eigen-
bürtigen Einwirkung (Begegnung) entgegen, also der Fall, daß eine
Streckenmasse von einer nicht massenbürtigen Punktmasse (das wäre Weiter-
wirkung) eine Beeinflussung erfährt (zum Beispiel Blitzschläge auf einen
Hauserbestand).') Ihrem äußeren Ansehen nach unterscheidet sich diese
Beziehung in nichts von den vorausgehend behandelten, auf Verursachung
der Stammasse beruhenden und sie wird auch in der bisherigen statistischen
Theorie in einem Atemzuge mit diesen genannt. Sie unterscheidet sich
von ihnen aber grundsätzlich durch die Einseitigkeit der Wirkung
seitens der Punktmasse und könnte in dieser Hinsicht nur etwa mit der
Beziehung unbezüglicher Fruchtmassen zur Stammasse verglichen werden,
deren Gegenstück sie ist.?)
Für die statistische Messung kommen indessen weniger die eigen-
bürtigen Ereienisse an und für sich als die Wirkungen in Betracht, die sie
1) Vgl. Winkler, Statistische Massen, S. 314 und 318. Streeken- und
Punktmassen nennen wir die Massen nach der Dauer ihres Einheiten (Bestands-
und Bewegungsmassen G. v. Mayrs). Unter massenbürtigen Gesamthciten
verstehen wir solche, die von einer andern Masse herstammen, unter eigenbürtigen
alle andern.
2) Unter „unbezüglichen Fruchtmassen“ verstehen wir solche durch Verur-
sachung aus einer Stammasse hervorgegangenen Massen, die zum Unterschiede von
den „bezüglichen‘‘ oder „Wirkungsmassen“ auf ihre Stammasse weder eine tatsäch-
liche noch eine rechtliche Wirkung ausüben. Vgl. Winkler, Statistische Massen.
S. 319.
126 Wilhelm Winkler.
an Streckenmassen ausüben, mögen diese Wirkungen aus Zugängen,
Abgängen oder Entfaltungen bestehen. In solchen Fällen werden die
Wirkungen an der Masse gemessen, als ob sie nicht von außen, sondern
aus ihr selbst heraus eingetreten wären.
Unter die Beziehungsmöglichkeiten auf-Grund des Verhältnisses der
Einwirkung fällt weiter die Messung eines Zuganges zu einer Strecken-
masse aus einer anderen (Zuwanderung). Für die rechnerische Durch-
führung stellt sich dieser Fall ganz ähnlich wie der der Messung von Ab-
gängen aus einer Streckenmasse, die wir oben unter den Gesichtspunkt
der Ursächlichkeit eingereiht haben. Wir werden auch hier im wesentlichen
entweder zu Häufigkeitsz'ffern oder zu Eintrittswahrscheinlichkeiten
gelangen. Die Umkehrung des Verhältnisses, Streckenmasse durch die
Eingänge in einer gewissen Zeit, gibt in einer stationären Bevölkerung
die mittlere Bestandsdauer einer Einheit der Streckenmasse. Bei nicht
stationären Verhältnissen ist ein derartiges Maß — das in der Geschichte
der Bevölkerungsstatistik eine große Rolle gespielt hat — für feinere
Messungen unbrauchbar.
Der Berechtigungsgrund zur Beziehung bei den folgenden beiden
Arten des äußeren Zusammenhanges (der Dienstbarkeit und der Interessen-
berührung) ist der allgemeine Gesichtspunkt des Aufeinanderangewiesen-
seins, mag er sich nun darin äußern, daß eine Masse in den Diensten
einer anderen steht (zum Beispiel Nahrungsmittel, Verkehrsmittel und
Bevölkerung, Schulhäuser, Schulklassen und schulpflichtige Kinder usw.)
oder daß die Interessen der einen durch eine andere berührt werden. Unter
letzterem Gesichtspunkte bilden wir unter anderm die oben erwähnten
Belastungsziffern. Solcher Art sind vor allem die allgemeine Geburten-
und die allgemeine Verfehlungs- (und Verfehler-)Ziffer. In neuester Zeit
hat die allgemeine Kriegsverlustziffer zeitgemäße Bedeutung erlangt.')
1) Uber die Belastungsziffern, vgl. v. Mayr, a. a. O., Bd. I, S. 159, Bd. III,
S. 677 ff.
Was die Kriegsverlustziffer insbesondere betrifft, so hat von ihr der Verfasser
in seiner Arbeit ,,Die Totenverluste der österreichisch-ungarischen Monarchie nach
Nationalitäten“ (Wien 1919, Seidel & Sohn) Gebrauch gemacht. Der Unterschied
zwischen Beteiligungsziffern geht deutlich auch aus folgender einer Polemik
des Verfassers entstammenden Stelle hervor (,,An der Wiege der tschechoslowakischen
Statistik“ im D. St. Z. Bl., Bd. XII, Heft 5.6, Sp. 83): „Gewis ist auch die Beziehungs-
weise auf die welırfähigen Männer denkbar und naheliegend; sie wird von Bedeutung
Die statistischen Verhältniszahlen. 127
E. Massen im Verhältnis der Fremdheit. Haben die bisher
untersuchten Beziehungen eine näher oder ferner liegende Berechtigung
gehabt, so fällt diese weg bei den hier nur der Vollständigkeit halber er-
wähnten, theoretisch in keiner Weise zu rechtfertigenden, in der Praxis aber
reichlich beliebten Beziehungen zwischen Massen, die zu einander gar kein
Verhältnis haben. Wir können zum Beispiel wohl die Bevölkerung eines
Gebietes zur Fläche in Beziehung setzen (Bevölkerungsdichte), wir können
ebenso die Länge der Eisenbahnstrecke auf die Fläche beziehen (Dichte
des Eisenbahnnetzes). Wir können zur Not auch noch die Zahl der Ver-
kehrsmittel oder die Zahl der verkehrenden Züge auf die Bevölkerung
beziehen. Wir werden aber den Boden des logisch haltbaren Vergleiches
verlassen, wenn wir zum Beispiel, wie dies so häufig in der statistischen
Praxis geschieht, die Länge des Eisenbahnnetzes oder die Zahl der von den
Zügen zurückgelegten Kilometer auf die Bevölkerung beziehen. Ähnlichen
für die Erkenntnis der betrachteten Masse durchaus ungeeigneten Beziehun-
gen begegnen wir auf Schritt und Tritt. Vom theoretischen Standpunkte ist
hier, soweit es sich beiderseits um Streckenmassen handelt, gar nichts
hinzuzufügen, es müßte denn sein, daß man Bemerkungen an die ganz ein-
fache Art des Berechnungsvorganges der Verwendung als Zähler oder
Nenner knüpfen wollte. Dagegen ist dieses Gebiet das Arbeitsfeld des
gesunden Menschenverstandes, der hier wird kräftig einsetzen und die
statistische Praxis von solchen Auswüchsen reinigen müssen.
2. Einteilung nach der äußeren (mathematisch-technischen) Be-
ziehungsweise der Massen (formelle Beziehungsart).
A. Einleitendes. Bei den unter 1. (inneres Verhältnis der bezogenen
Massen) behandelten Beziehungsfällen haken sich solche ergeben, die
ee .
sein, wenn zum Beispiel ein Reichswehrminister berechnen will, in welchem Maß
die Wehrbestände des Reiches geschwächt worden sind, ebenso wie derjenige, der
den Einfluß der Kriegsverluste auf das Geschlechtsverhältnis betrachten will, die
Beziehung auf die Gesamtheit der Männer im fortpflanzungsfähigen Alter und der-
jenige, der den Einfluß auf die Arbeitskraft berechnen will, die Beziehung auf die
männliche Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter herstellen wird. Will man aber
feststellen, was ein Volk, das doch auch aus Frauen, Kindern und Greisen besteht,
an Gatten, Vätern und Söhnen eingebüßt hat. welche Blutopfer es also getragen hat,
dann wird man nur die Beziehung auf die ganze Bevölkerungsmasse wählen können.
Es ist das meines Erachtens die allgemeinste, umfassendste und für die Gesamt-
würdigung der Blutopfer eines Volkes gerechteste Beziehungsweise von allen.“
128 Wilhelm Winkler.
durchaus einfach und eindeutig sind: Die Vergleichung von gleichartigen
Massen untereinander läßt ebenso wie diejenige von Teilmassen mit dem
Ganzen oder unter sich und diejenige von Massen im Verhältnisse des
äußeren Zusammenhanges und der Fremdheit keine logischen oder
rechnerischen Zweifel übrig. Der Vorgang ist zwingend festgelegt, man muß
ihm folgen, wenn man das in dieser Beziehuugsart gegebene Ziel anstrebt.
Anders ist das beiden zahlreichen Beziehungsmöglichkeiten des verbleibenden
Restes, der Beziehung der Fruchtniassen auf ihre eigentlichen und uneigent-
lichen Stammassen. Je nach der genaueren oder weniger genauen Ab-
grenzung der bezogenen Massen und je nach dem im einzelnen Falle ver-
folgten Rechnungsziel ergeben sich hier im wesentlichen die statistischen
Ereigniswahrscheinlichkeiten (Entfaltungs- und Änderungs-
wahrscheinlichkeiten, zu unterscheiden von den auf dem Teilungs-
verhältnisse beruhenden statistischen Gliederungswahrscheinlichkeiten, und
die besonderen und allgemeinen Häufigkeitsziffern (Koefli-
zienten). Dazu kommen, in der statistischen Praxis nahezu unbekannt,
in der mathematisch-statistischen Theorie aber ausgebildet, die Maßzahlen
der „Kraft“ und der „unabhängigen Wahrscheinlichkeit“. Von
diesen Maßzahlen die wichtigsten sind die Anderungswahrscheinlichkeit«n
und die Zifferrn.
B. Die statistische Änderungswahrscheinlichkeit bestimmt
Blaschke’) als einen Bruch ‚in dessen Nenner die Anzahl der Individuen
einer bestimmten Art (des Anfangszustandes), in dessen Zähler die Summe
der daraus binnen der Zeiteinheit unter dem Einflusse der zu messendei
Ursache hervorgegangenen Änderungen (des Endzustandes) sich befindet.
Oder wenn wir diese Bestimmung des mathematisch Formelhaften entkleid‘n
und aus ihr die Beziehung auf die Zeiteinheit, die nicht notwendig zum
Begriffe der statistischen Wahrscheinlichkeit gehört, und die Einengung auf
Änderungen (Wechselereignisse) entfernen, so ergibt sich die statistische
Wahrscheinlichkeit eines an einer Streckenmasse eintretenden Ereignisses
als diejenige Verhältniszahl, welche die Häufigkeit dieses Ereignisses in der
beobachteten Zeit auf die Einheit der Streekenmasse zu Beginn die: «r
Zeit darstellt. Wir erhalten dann im Zähler die beobachteten, im Nenner
die möglichen Fälle — also im Quotienten eine Wahrscheinlichkeit, bei dr
') Blaschke, Vorlesungen über mathematische Statistik, Leipzig und Berlin
1906, S. 64.
Die statistischen Verhältniszahlen. 729
allerdings die Voraussetzungen der mathematischen Wahrscheinlichkeit :
Gleichmöglichkeit und Unabhängigkeit der Fälle und Stetigkeit der
Wahrscheinlichkeit, in der Regel nicht erfüllt sein werden und die darum
zum Unterschiede davon die statistische Wahrscheinlichkeit (Lexis)
genannt wird.')
Je nach dəm als Anfangsstand gewählten Ausgangspunkt gliedern
wir die Wahrscheinlichkeiten in stetig und unstetig bezogene; diese
Unterscheidung ist u. W. bisher nicht gemacht worden, erweist sich aber für
weitere Untersuchungen als unerläßlich. Die stetig bezogenen Wahrschein-
lichkeiten legen einen unveränderlichen Stand der Masse der Berechnung
für die ganze folgende (oder vorangehende) Entwicklung zugrunde (zum
Beispiel Absterbeordnung). Sie haben erstwüchsig (primär) Summennatur
und die aus ihnen hervorgehenden zeitlichen Gliedzahlen sind zweitwüchsig
(sekundär). Beiden unstetig bezogenen Wahrscheinlichkeiten,z.B.derx,2+1,
r+2...... Jährigen, im nächsten Altersjahre zu sterben, sind die
Teilzahlen erstwüchsig, neben denen dann als Grenzfall eine Gesamt-
wahrscheinlichkeit aller in der Bevölkerungsmasse vorhandenen Lebenden,
im nächsten Altersjahre zu sterben, berechnet werden kann.
C. Die Ziffer (der Koeffizient) ist nach Blaschke das Maß der Ände-
rungen der Einheit der Beobachtungsfälle „für die ganze Zeiteinheit,
jedoch mit Berücksichtigung der in jedem Augenblick vorhandenen Anzahl
von Individuen“.*) Im Zähler finden wir danach die Zahl der Anderungs-
fälle, im Nenner die von den Masseneinheiten in der Zeiteinheit — oder
überhaupt in jeder Beobachtungsdauer — da die Zeiteinheit kein not- _
wendiges Bestimmungsstück der Ziffer ist — verlebte Zeit. Wir können
daher die Ziffer auch bestimmen als die Änderung der Beobachtungs-
masse auf eine Massenzeiteinheit,*) das ist auf eine von einer
Masseneinheit in der Masse verlebte Zeiteinheit.
Ein unentbehrliches Bestimmungsstück ist also bei der Ziffer die
von der beobachteten Masse verlebte Zeit. Deren Begriff hat zur un-
bedingten Voraussetzung, daß die ganze Betrachtung an dem Nachein-
ander eines Ereignisahlaufes im ganzen oder in beliebig herausgegriffenen
1) Vgl. hiezu auch Winkler, „Statistische Massen‘, S. 311.
2) Blaschke, a.a.()., S.65. Es heißt dort eigentlich: „der Zahl der in jedem
Augenblick vorhandenen Anzahl von Individuen‘, eine Fassung, die offenbar auf
einem Versehen beruht.
3) Vgl. Mortara, a.a. 0., 5.218.
130 Wilhelm Winkler.
Teilen erfolge; denn nur in diesem Falle sind die zur Berechnung der ver-
lebten Zeit notwendigen Grundlagen gegeben. Auch dürfen während der
Beobachtungszeit an der einmal festgehaltenen Masse keine späteren
Zuwächse oder Abgänge vorkommen, sondern es muß sich jede Stufe so
darstellen, wie sie sich unter dem Einfluß des auf sie wirkenden beobachteten
Ereignisses gestaltet. Durch Zu- oder Abwanderungen würde das Gleich-
gewicht an dem Ereignisablauf gestört werden und ein daraus gewonnenes
Maß verzerrt sein, was einen vollständigen richtigen Vergleich zwischen
Ereignismassen mit verschiedener Wanderung ausschließen würde. Wir
gelangen also zu theoretisch richtigen oder „reinen“ Ziffern, wenn wir
eine gegebene geschlossene Masse unter dauernder Beobachtung halten
und die an dieser Masse vor sich gehenden Ereigniszahlen an der infolge
der Beobachtung genau berechenbaren verlebten Zeit messen. Ein solches
Vorgehen ist etwa an den beieiner Versicherungsanstalt Versicherten
unschwer durchführbar. Bezüglich der Gesamtbevölkerung ist es
nur im Wege der in Sterbetafeln niedergelegten gedachten Geschlechts-
abläufe annähernd möglich. An der in Bewegung befindlichen Bevölkerung
begegnet es dagegen den größten Schwierigkeiten; zwar glaubte Körösi,
diese mit seiner „Methode der individuellen Beobachtung“ überwinden
zu können;!) doch ist aus naheliegenden Gründen die Anwendung dieser
Methode in größerem Ausmaße der Praxis unzugänglich.?) Man begnügt
sich daher bei solchen schwer zu verfolgenden Massen, soweit man nicht
über Sterbetafeln verfügt, mit der unter der Bezeichnung (allgemeine
und besondere) Ziffer oder Koeffizient bekannten Annäherung an die
reine Ziffer, für die wir den Ausdruck ‚rohe Ziffer‘ gebrauchen.?)
Die rohen Ziffern werden bekanntlich berechnet, indem man die nach
Alter und Beobachtungszeit begrenzte Ereigniszahl zum Bevölkerungs-
(oder Massen)stande zugehörigen Alters zu Anfang oder zur Mitte des
— nn nn
1) Vgl. J. Körösi, „Welche Unterlage hat die Statistik zu beschaffen, um
richtige Mortalitätstafeln zu gewinnen?“ Berlin 1874.
*) Zur Individualmethode vgl. auch: W.Schiff, „Die Methode der Individual-
statistik von sozialen Veränderungen auf Grund von Bestandaufnahmen“ im Allge-
meinen Statistischen Archiv, 9. Jahrg. 1915, und S. Schott, „Ein Beitrag zur Statistik
der beharrenden Fälle“, Nr. 35 der Beiträge zur Statistik der Stadt Mannheim, Mann-
heim 1918.
3) Unsere Bezeichnungen „rohe“ und ‚‚reine‘‘ Ziffer sind Anlehnungen an die
„true“ und „crude death — rate‘ der Engländer. Vgl. zum Beispiel W. Farr, Vital
Statistics, London 1885, S. 124.
Die statistischen Verhältniszahlen. 731
Beobachtungszeitraumes in Beziehung setzt, indem man also zum Beispiel
die zwischen den Zeitpunkten + und t + 1 und zwischen den Altern n und
n + 1 Gestorbenen auf die im Zeitpunkte + oder ++ 1% in der Alters-
klasse n bis n + 1 Vorhandenen bezieht. Dabei ist wohl zu beachten, daß
die im Alter zwischen n und n + 1 Jahren Stehenden zwischen den Zeit-
punkten r und t-+ 1 einer beständigen Veränderung unterworfen sind,
indem in jedem Augenblick neue Einheiten die untere und alte die obere
Altersgrenze überschreiten; welchen Stand man daher immer als Bezie-
hungsgrundlage wählen mag, den Anfangs-, Mittel- oder einen anderen
Stand, in keinem Falle werden die in der Zeit t bis t + 1 vorgekommenen
Sterbefälle zwischen n und n+ 1 Jahren gerade aus diesem Stande
hervorgegangen sein, zu ihm also im Verhältnis einer Fruchtmasse zur
Stammasse stehen, noch auch wird dieser Stand ein Bestimmungsstück
der von den verursachenden Einheiten verlebten Zeit bilden können. Es
bleibt daher zu erklären, wie man eine solche Beziehung als Ersatz für die
theoretisch angestrebte, aber nicht erlangbare Beziehung auf die unter
dem Einflusse des Ereignisses verlebte Zeit der Masseneinheiten des An-
fangsstandes verwenden könne. Die Begründung hiefür liegt in zwei
Annahmen:
1. Daß der Altersaufbau der Massen zwischen den Altern n und n + y,
multipliziert mit %, gleich sei oder nahekomme der unter dem Einflusse
des Ereignisses von den am Anfang der Betrachtung n-Jährigen im Zeit-
raume y verlebten Zeit,!) und
2., daß der Altersaufbau zwischen n und n +4 y in den betrachteten
y Jahren stetig bleibe.
Was nun die erstere Annahme betrifft, so bedeutet sie nichts anderes
als eine praktische Anwendung des von uns an anderer Stelle?) aufgestellten
Satzes von der inneren Verwandtschaft des Nebeneinander und Nach-
einander; denn sie setzt an Stelle der aus dem Ereignisablaufe, dem , Nach-
einander“, berechneten verlebten Zeit die aus dem Altersaufbau (dem
1) Dieser Annahme widerspricht es nicht, wenn der Teilfaktor scheinbar kleiner
bemessen wird als y, wenn zum Beispiel die von der Gesamtbevölkerunß (also Alter
0 bis w) in einem Jahre verlebte Zeit in obiger Weise berechnet wird; denn die Ge-
samtbevölkerung kann immer in eine Summe von Altersabschnitten im Umfange
von n bis n + 1 zerlegt werden und es müssen die von dieser verlebten Teilzeiten in
ihrer Summe die verlebte Gesamtzeit ergeben.
2) Winkler, „Statistische Massen“, S. 326 ff.
132 Wilhelm Winkler.
„Nebeneinander“) berechnete. Wenn wir zum Beispiel den Sterbevorgang an
der Gesamtbevölkerung messen, so geschieht das unter der stillschweigenden
(unrichtigen) Annahme, daß der Altersaufbau nur bestimmt sei durch die
im Beobachtungszeitpunkte herrschenden Sterbeverhältnisse. In einer
stationären Bevölkerung (d.i. einer solchen mit jährlich gleichbleibender
Geburtenzahl und -verteilung, gleichbleibender Absterbeordnung und
ohne Wanderungen) würde diese Annahme zutreffen, die rohe Sterbeziffer
sonach mit der reinen übereinstimmen. In einer sich bewegenden Be-
völkerung wird der Altersaufbau aber nicht bestimmt durch die heute
herrschende Sterblichkeit, sondern jeweils altersabschnittsweise durch
die Sterblichkeiten der vorausgehenden (bis hundert) Jahre, außerdem
dann noch durch Änderungen in der Geburtenfolge und durch Wander-
hewegungen. Es wird hier also eine größere oder geringere Abweichung
der rohen gegenüber der reinen Ziffer eintreten (worüber besonders gehandelt
werden soll).
Berührt die vorstehende erste Annahme für die Berechnung der
rohen Ziffer die tiefinnerste Natur der vorliegenden Zusammenhänge,
so ist die folgende zweite mehr äußerlich-formal: nämlich die Annahme
der Stetigkeit der Altersgliederung zwi chen n und n + y Jahren. Nach
der oben (S. 730) gegebenen Erklärung der Rohziffer ist die Beziehungs-
grundlage streng genommen als zwischen den beiden Altersgrenzen gleitend
zu denken, wobei man sich gewissermaßen das Fachwerk der Typen als
unberührt und nur die individuelle Füllung als unaufhörlich durchströmend
vorzustellen hat. In der Wirklichkeit besteht eine solche Stetigkeit nur ver-
hältnismäßig, indem Änderungen im biologischen und gesellschaftlichen
Aufbau der Massen in der Regel nur allmählich vor sich gehen. Um den
Finfluß solcher Änderungen zu beseitigen, wählt man mit Vorliebe die
mittlere oder die durchschnittliche Bevölkerung (beziehungsweise den
Massenstand) des betrachteten Zeitabschnittes als Beziehungsgrundlage.
Doch spielen solche Schwankungen des Altersaufbaues eine untergeordnete
Rolle gegenüber den unter 1. erwähnten Abweichungen des Altersaufbaues
vom Ereignisablauf und es darf besonders für die natürlichen Bevölke-
rungsvorgänge, die sich durch eine große verhältnismäßige Stetigkeit
auszeichnen, die Wirkung einer solchen Mittelwertberechnung nicht über-
schätzt werden. ?)
1) Vgl. hiezu auch Lexis, Abhandlungen, S. 80.
Die statistischen Verhältniszahlen. 133
Nach der Ursächlichkeit hin betrachtet, ist die (Änderungs-)Ziffer,
auch wenn wir von dem Wechsel der Personen absehen und uns mit
dem Gleichbleiben der Typen begnügen, eine weniger vollkommene Maß-
zahl als die Wahrscheinlichkeit. Denn wenn wir die im Alter zwischen
80 und 90 Jahren Gestorbenen an den innerhalb der gleichen Altersgrenzen
als lebend Gezählten messen, so ist es klar, daß die mehr als 80jährigen
Lebenden der zu messenden Sterblichkeit zwischen 80 und 90 Jahren
bereits während einer gewissen Zeit ausgesetzt waren, und zwar um
so länger, je höher ihr Alter an die obere Grenze von 90 Jahren
heranrückt. Die (nahezu) Neunzigjährigen aber sind dieser Sterblichkeit
bereits ein ganzes Jahrzehnt ausgesetzt gewesen. Da dieses Unter-
vefahrgestandensein sich natürlich auch in der Stärke der betreffenden
Bevölkerungsteile ausdrückt, so folgt daraus, daß diese Beziehungs-
erundlage gegenüber der bei der Wahrscheinlichkeitsberechnung ver-
wendeten der Achtzigjährigen zu klein, also die daraus berechnete Ziffer
gegenüber der aus jener berechneten Wahrscheinlichkeit zu groß ist,
und zwar in um so stärkerem Maße, je stärker der Sterbeprozeß vor
sich gegangen ist. ')
D. Die Kraft und die unabhängige Wahrscheinlichkeit.
Neben der statistischen Wahrscheinlichkeit und dem Koeffizienten kennt
die aufdem Gebiete der Sterblichkeitsmessung durchgebildete mathematisch-
statistische Theorie noch zwei Beziehungsweisen von Wirkungsmassen
auf die beeinflußte Streckenmasse: Die Kraft und dieunabhängige
Wahrscheinlichkeit.?)
Die Kraft ist „die Änderung der Einheit der Beobachtungsfälle
in jedem Augenblick der Zeiteinheit‘ (Blaschke), die unabhängige
Wahrscheinlichkeit dagegen, „die Gesamtheit der Änderungen,
welche an der Wahrscheinlichkeit während der Zeiteinheit beob-
achtet werden müßte, wenn die in den unendlich kleinen Zeitteilchen
beobachteten Änderungen jeweils auf die zu Beginn dieser Zeitteilchen
bestehende Gesamtheit bezogen würden.“ (Blaschke). Beide Maße
sind wiederholt in der Versicherungspraxis angewendet worden; für die
allgemeine Statistik werden sie kaum jemals eine größere Bedeutung
erlangen. |
s) Vgl. auch Blaschke, a. a. O., S.11 und 12.
2) Blaschke, a. a. O., S. 65 und 67.
134 Wilhelm Winkler.
E. Veranschaulichung der vorausgehenden Berechnungs-
weisen. Es mag nicht unangebracht sein, die Begriffe der statistischen
Wahrscheinlichkeit, der Ziffer, der Kraft und
der unabhängigen Wahrscheinlichkeit an einem
Beispielzu veranschaulichen. Bezeichnen wir mit M,
(vergleiche die Figur) die Zahl der Einheiten einer
Masse im Zeitpunkte ¢,, Æ, die Zahl der an dieser
E Masse zwischen der sehr kurz gedachten Zeit von
t, bis t (die wir der Einfachheit halber mit t,
bezeichnen wollen) vor sich gegangenen Ände-
rungen (in unserem Falle Abnahmen, zum Bei-
spiel durch Tod), ebenso M, die Zahl zu Beginn
des Zeitpunktes ¢,, Æ die von t, bis t, (kurz {,)
vor sich gegangenen Änderungen usw., ferner
E die Gesamtzahl der Änderungen im Zeit-
raume {(=4, ++ ...) 80 ist l
1. die dem Zeitraume entsprechende Wahr-
scheinlichkeit w = M.
a ee
Mtb tMi.. g
£
2. die Ziffer q =
3. die Kraft (wir behalten mit Absicht die ungelenke Doppelbruch-
form bei, um die definitionsmäßige Natur des Begriffes zu veranschau-
lichen):
Ey E, E;
Mo, M,, M;
Hy = 3 my wy =
to t t,
4. die unabhängige Wahrscheinlichkeit y = po + p, + pa + ++ I =
Die statistischen Verhältniszahlen. 135
Für den praktischen Bedarf wird bei 2.—4. im Falle annähernder
Stetigkeit der einwirkenden Ursache der Übergang zur Infinitesimal-
rechnung geboten sein.!)
Wenn wir t bis t,, t, bis ¢, usw. so vergrößern, daß sie der Zeiteinheit
gleichkommen (was allerdings nur bei zeitlich abgesetzter [diskreter]
Verteilung des Ereignisses zutreffen kann), dann bleibt die Koeffizienten-
natur der Bestimmung 2 unverändert. Aus der statistischen Wahrschein-
lichkeit 1 wird eine stetig bezogene ‘Änderungswahrscheinlichkeit, aus
der Kraft 3 je eine unstetig bezogene Änderungswahrscheinlichkeit. Die
Summe dieser 4 findet in der besonders zu besprechenden Teilziffernsumme
Westergaard-Vogst eine Parallele.?)
3. Schriftenüberblick.®) Nachdem wir uns nun in großen Zügen
an der Hand der beiden Einteilungsgründe von den wichtigsten Eigen-
schaften der Verhältniszahlen und ihrer Berechnungsweise ein vorläufiges
Bild gemacht haben, wollen wir nun in der statistischen Literatur etwas
Ausschau halten, inwieweit wir Übereinstimmung mit oder Abweichung
von unserer Änsicht vorfinden.
Die ältere statistische Literatur weist an dieser Stelle eine große
Lücke aus. Man erwähnt nur ganz allgemein die Prozentrechnung ohne
nähere Unterscheidung der Natur der bezogenen Massen oder der mög-
lichen mathematischen Problemstellungen. Höchstens wird ein Wort
darüber verloren, welche Größe als Zähler und welche als Nenner ge-
nommen wird und welche Bedeutung der Umkehrung dieses Verhältnisses
zukommt, eine Leere, die übrigens teilweise bis in die Werke der neuesten
Zeit hereinreicht.*)
1) Die entsprechenden Formeln siehe bei Blaschke, a. a. O., S. 64 ff.
2) H. Westergaard, Mortalität und Morbidität, Jena 1901, S. 25 und A. Vogt
Über dieBerechnung der Mortalitätszahl, in der Zeitschrift für Schweizerische Statistik,
23. Jahrg., 1887, S. 174 ff.
s) Dieser Überblick strebt durchaus keine Vollständigkeit an, sondern will
nur, soweit dies nicht im Texte geschehen ist, das Verhältnis unserer vorausgehend
dargestellten Anschauungen zu den wichtigsten bestehenden Darstellungen nachweisen.
Leider ist uns eine Reihe wichtiger ausländischer Schriften aus der Kriegs- und Nach-
kriegszeit unzugänglich geblieben.
4) Vgl. hiezu:
G. Dufau, Traité de Statistique, Paris 1840, S. 70 ff.
E. Jonak, Theorie der Statistik in Grundzügen, Wien 1856, S. 126 ff.
M. Block, Handbuch der Statistik, Leipzig 1879, S. 62 ff. -
136 Wilhelm Winkler.
Den ersten eingehenderen Behandlungsversuch haben wir bei
A. Gabaglio gefunden.!) Dieser stellt das materielle Unterscheidungs-
prinzip in den Vordergrund, indem er die Beziehungen nach dem Massen-
verhältnis der Zusammengesetztheit, Ursächlichkeit und Gleichartigkeit
(composizione, consequenza, identità) unterscheidet. Bei der Ursächlichkeit
fällt er aber aus dem materiellen Prinzip heraus und unterteilt in wenie
folgerichtiger Weise in allgemeine, besondere und gemischte Beziehungen.
je nachdem zwei allgemeine Massen, zum Beispiel Gesamtgeburten und
Gesamtbevolkerung, zwei besondere Massen, z. B. die Todesfälle eines Alters-
jahres mit der Bevölkerung dieses Altersjahres, oder eine besondere und eine
allgemeine Masse: zum Beispiel eheliche Geburten und sämtliche Ehen zu-
einander in Beziehung gesetzt werden. Diese Untergliederung Gabaglios
ist offenbar rein formal und eröffnet keinerlei irgendwie bemerkenswerte
Einblicke in die Natur der Verhältniszahlen. Dagegen beherrscht sein
materielles Einteilungsprinzip die weitere Forschung. So finden wir es,
erweitert und vertieft, bei G. v. Mayr wieder.?)
v. Mayr teilt die Verhältniszahlen ein in:
1. Gliederungszahlen und
2. Beziehungszahlen; letztere wieder
M. Haushofer, Lehr- und Handbuch der Statistik, Wien 1882, S. 83 ff.
Levasseur, La population Frangaise, Bd. I, Paris 1889, S. 7 ff.
A. Meitzen, Geschichte, Theorie und Technik der Statistik, 2. Aufl., Stuttgart
und Berlin, 1903 S. 99 ff.
Colajanni, Manuale di statistica teorica, Neapel 1910, S. 227 ff.
F. Virgilli, Statistica, 6e¢ Milano 1911, S. 118 ff.
Conrads Handbuch zum Studium der politischen Okonomie IV. Teil, Sta-
tistik I. In der vierten erweiterten Auflage dieses Werkes, bearbcitet von A. Hesse,
Jena 1918, finden wir auf S. 47 folgenden schwer verständlichen Satz über die Ge-
burtenziffer: „Da der Wert des Bruches durch jede Änderung von Zähler und Nenner
verändert wird, sind zwei Reihen von Faktoren maßgebend. nicht nur die absolute
Zahl der Geburten, sondern auch die Zahl der Bevölkerung und es muß die vergleichende
Betrachtung mithin stets auf die Entwicklung der Bestandzahlen zurückgehen, um
falsche Schlüsse aus den Verhältniszahlen zu vermeiden.“ Aus den Verhältniszahlen
allein kann man niemals auf die Grundzahlen zurückschließen, es ist daher die Warnung
überflüssig. Dagegen ist es für die Beurteilung der Entwicklung des Verbältnisses
ganz gleichgültig, ob zum Beispiel ein Wachsen der Verhältniszahl durch eine Zunahme
des Zählers oder eine Abnahme des Nenners bewirkt wurde.
1) A. Gabaglio, Storia e Teoria Generale della Statistica, Mailand 1380, S. 451 ff.
2) A. a. O. Bd. I, S. 155 u. ff. |
Die statistischen Verhältniszahlen. 157
a) in solche, bei denen verschiedenartige Gesamtheiten (Geburten und
Sterbefälle, Verbrechen und Bevölkerung, Viehzahl und Boden-
fläche) in Beziehung gesetzt werden;
b) solche, bei denen die eine sich als in oder an der anderen Massen-
tatsache eintretend darstellt: -
a) und zwar entweder isolierte Massenbeziehungen (Jahresgesamt-
heiten von Geborenen oder Gestorbenen zum Bestande der
Bevölkerung, Jahresgesamtheiten verurteilter Verbrecher zur
kriminalfähigen Bevölkerung,)
B) oder solche, bei denen die eine als Entwicklungsprodukt der
anderen erscheint (Gestorbene und Überlebende gegenüber
einer ursprünglichen Gesamtheit von Geborenen [Absterbe-
ordnung]); |
¢) solche, bei denen sich die Beziehungszahlen als Glieder einer gleich-
artigen Reihe darstellen (Vergleiche des Bevölkerungsstandes ver-
schiedener Zeiten, nach Jahresstrecken abgegrenzte Geburten,
Sterbefälle, Verbrechen, Warenumsätze, Preisfeststellungen unter-
einander). |
v. Mayr fügt dieser Einteilung die weitere hinzu, daß die Beziehung
entweder durch die Natur der Sache bestimmt oder durch eine mehr
oder minder willkürliche Entscheidung gewählt sei, wie ferner
die weitere in Beziehungen zwecks objektiven Ausdrucks für die
Häufigkeit eines bestimmten Vorganges (allgemeine Häufigkeitszahlen)
und eines subjektiven MaBes der Beteiligung oder Verantwortlich-
keit (Sterbeziffern nach Altersklassen, subjektive Kriminalität nach
Strafmiindigkeit, cheliche Fruchtbarkeit nach gebärfähigen Ehe-
frauen usw.).
Wie man sich überzeugen kann. schließt sich unsere Einteilung erster
Gattung, Art der in Beziehung gesetzten Massen, im großen und ganzen
an die v. Mayrsche an, die sie aber teilweise zu erweitern und schärfer
auszuprägen versucht.
In einem Punkte weichen wir von v. Mayr etwas stärker ab. v. Mayr
stellt die gleich zu besprechende, mehr formell-rechnungsmäßige Iin-
teilung von Lexis als neben seiner materiellen Einteilung ebenfalls möglich
hin.!) „Ich halte nach eingehender Erwägung diese auf gemeinverständ-
re
1) Mayr, a. a. O., Bd. I, S. 156.
Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Neue Folge. 1. Band. 49
138 | Wilhelm Winkler.
liche tatsächliche Verschiedenheiten gegründete — wie oben bemerkt, in
‚materieller Hinsicht durchgeführte — Unterscheidung von Gliederungs-
und Beziehungszahlen für sachgemäßer als die im übrigen sehr wohl
‚vertretbare und darum hier auch angeführte, mehr auf die formellen
Rechnungsmodalitäten oder ‚wahrscheinlichkeitstheoretischen‘ Gesichts-
punkten begründete Unterscheidung von Lexis, die neuerlich auch
Kaufmann als die zweckmäßigste bezeichnet.“ Entgegen dem v. Mayr
hier vertretenen Standpunkte sind wir der Ansicht, daß die beiden Gesichts-
punkte der Einteilung von Verhältniszahlen, der materielle und der formelle,
untrennbar zusammengehören und nur in ihrer Vereinigung und
gegenseitigen Durchdringung ein richtiges und vollständiges Bild von den
Verhältniszahlen geben. |
Zu der v. Mayrschen Einteilung in Gliederungs- und Beziehungs-
zahlen, die heute die deutsche statistische Theorie beherrscht'), ist noch
hinzuzufügen, daß diese Begriffe nach ihrem bloßen Wortsinne noch keine
unbedingte Abgrenzung geben; denn es gibt Beziehungszahlen, die man
in einem gewissen Sinne auch als Gliederungszahlen auffassen könnte:
die Beziehung von Ereigniszahlen auf eine Stammasse, die sie mit ihrem
Gegenteil (oder ihren Ergänzungsstücken) in ihrem Umfange ausschöpfen.
. So gliedert zum Beispiel die Beziehungszahl der Wahrscheinlichkeit einer
Masse n-Jähriger, im nächsten Jahre zu sterben, diese Masse in den einen
Teil mit Sterbenswahrscheinlichkeit und in den anderen mit Erlebenswahr-
scheinlichkeit — also ein Erfolg, der sich äußerlich in nichts davon unter-
‚scheidet, daß wir die gleiche Masse nach dem Berufe, nach dem Einkommen
oder anderen Merkmalen gliedern. Der Unterschied, der die v. Mayrsche
_ Einteilung trotzdem rechtfertigt, besteht darin, daß in dem einen Falle
eine Zustandsgliederung, in dem anderen eine Erwartungsgliede-
rung vorgenommen wird, ein Unterschied, den auch Lexis in seiner
Einteilung in analytische und genetische Wahrscheinlichkeiten berück-
sichtigt. Jedenfalls wird aber diese Umgrenzung der Begriffsbestimmung
der Gliederungszahlen zu beachten sein.
“ Lexis teilt, wie bereits wiederholt erwähnt, die Wahrscheinlichkeiten
‘ein in analytische und genetische; erstere sind die v. Mayrschen Gliede-
rungszahlen, letztere unsere Ereigniswahrscheinlichkeiten (während
1) Vgl. zum Beispiel Žižek, a. a. O., S. 236 ff.
”
Die statistischen Verhiiltniszablen. (39
in v. Mayrs Einteilung Punkt 2 b nur von einer bestimmten Art der Ande-
rungswahrscheinlichkeiten, den stetig bezogenen, handelt).
Alle nicht als Wahrscheinlichkeiten gekennzeichneten Verhältnis-
zahlen faßt Lexis unter dem Sammelbegriffe Koordinationsverhält-
nisse zusammen. Es ist schon aus diesem summarischen Vorgehen ersicht-
lich, daß er mit dieser Abgrenzung nichts anderes als eine rohe Begriffs-
bestimmung mathematisch-technischer Art (im Sinne unseres Einteilungs-
grundes II) geben wollte, nicht aber eine Einteilung, die mit jener nach
der Beziehungsart der beiden Massen in Wettbewerb treten wollte. Das
geht auch schon daraus hervor, daß er gelegentlich an anderer Stelle!)
eine weitere Gliederungsmöglichkeit der Koordinationsverhältnisse an-
deutet. Er bestimmt dort die (allgemeine) Sterbeziffer als den Quotienten
aus den Sterbefällen eines Jahres und dem Bevölkerungsbestande zu
Beginn dieses Jahres und fügt daran die Bemerkung: „Man kann sie“
(die Sterbeziffer) „insofern als ein genetisches Verhältnis ansehen, als die
im Zähler stehenden Sterbefälle aus allen Altersstufen der den Nenner
-bildenden, durch neue Geburten sich fortwährend ergänzenden Bevülke-
rungen hervorgehen.“ Es ergibt sich aus diesem gelegentlichen Ausflug
in das Gebiet der Koordinationsverhältnisse, daß Lexis diese mit seiner
rohen Einteilung noch weitaus nicht für erledigt betrachtet hat.
Den Lexisschen mathematisch-technischen Standpunkt hat A. Kauf-
mann in Verkennung der Lexisschen Absichten zu Unrecht mit dem
materiellen Einteilungsgrund der Massenbeziehungen vermengt, indem er
analytische und genetische Verhältnisse einerseits, Koordinats-
verhältnisse anderseits unterscheidet.?2) Die analytischen Verhält-
nisse sind gleichbedeutend mit Lexis’ analytischen Wahrscheinlichkeiten
und von Mayrs Gliederungszahlen. Die genetischen Verhältnisse umfassen
alle auf Verursachung beruhenden Maßzahlen, mögen sie Wahrschein-
lichkeiten oder Koeffizienten sein. Koordinationsverhältnisse sind Kauf-
mann solche Verhältnisse, „die unter von einander gänzlich unabhängigen
Gesamtheiten oder unter einander in keiner unmittelbaren Abhängigkeit
stehenden Elementen derselben sozialen Masse bestehen“. Man sieht
Lexis’ sehr richtige und scharf ausgeprägte mathematisch-formale Ein-
teilung ist bei Kaufmann verlorengegangen, ohne daß er dafür eine
1) Lexis, Abhandlungen, S. 80.
2) A. Kaufmann, Theorie und Methoden der Statistik, Tübingen 1913, S. 450 ff.
140 Wilhelm Winkler.
materielle Einteilung von auch nur annähernd der gleichen Ausgeprägtheit
gewonnen hätte, wie die v. Mayrsche oder ‘die unsrige ist.
Einen gleichfalls als wenig gelungen zu erachtenden Einteilunes-
versuch unternimmt Seutemann, wenn er die Verhältniszahlen in Häufig-
keitsausdrücke und Vergleichsausdrücke gliedert.!) Die ersteren
sind ihm die Beziehungen zu derjenigen Gesamtheit, „nach deren Umfang
sich die quantitative Bedeutung des Ursachenkomplexes bemißt‘. Alle
übrigen Beziehungen erzeugen nach im Vergleichsausdrücke. Abgesehen
von der sprachlich nicht einwandfreien Prägung der Bezeichnungen — denn
auch Häufigkeitsausdrücke dienen Vergleichen, sind also Vergleichsaus-
drücke, — scheint diese an die Kaufmannsche erinnernde Einteilung
weitaus nicht geeignet, die große Fülle der sich hier ergebenden Möglich-
keiten entsprechend zu charakterisieren. Dabei zieht Seutemann den
Umfang der Häufigkeitszahlen erheblich weiter als Kaufmann den der
genetischen Verhältnisse, wodurch die scharfe Abgrenzung zu den Ver-
gleichszahlen verloren geht. So ist Seutemann der Anteil der Bäcker
an der Gesamtbevölkerung Vergleichszahl, wenn er die Nahrungsmittel-
versorgung der Bevölkerung betrachten will, dagegen Häufigkeitsausdruck,
wenn e: daraus auf das Bedürfnis nach diesem Gewerbe schließt. Dieses
Beispiel zeigt mehr als jede Erklärung den schwankenden Boden der
Seutemannschen Einteilung.
Noch weniger einwandfrei erscheint es, wenn Seutemann die Gliede-
rungszahlen in das Schema der Häufigkeits- und Vergleichsausdrücke
einzwängen will. Er findet vermeintliche Unterschiede zwischen dem
Geschlechterverhältnis der Geborenen, das ihm einen Häufigkeitsausdruck
bedeutet, und der Todesursachengliederung der Sterbefälle, die ihm Ver-
gleichsausdrücke abgibt. Der Unterschied folgt ihm daraus, daß die Leibes-
frucht vor der Geschlechtsbestimmung da ist, die Sterbegesamtheit da-
gegen erst aus den nach Todesursachen geschiedenen Gestorbenengruppen
gebildet wird. Wir überlassen die naheliegende Widerlegung dieser An-
schauung dem Leser und fi tigen hier nur noch hinzu, daß für die mathema-
tisch-statistische Theorie die W ahrscheinlichkeit der Geborenen, mit
einem bestimmten Geschlechte geboren zu sein und die Wahrscheinlich-
keit der. Gestorbenen, an einer bestimmten Ursache gestorben zu sein,
ganz gleichwertig sind.
t) Seutemann, „Die Ziele der statistischen Vorgangs- und Zustandsbeobach-
tung“ in Conrads Jahrbiichern, 111. F., Bd. XXXVII, Jena 1909, S. 19.
Die statistischen Verhältniszahlen. 741
Einen bemerkenswerten Beitrag zur Lehre von den statistischen
Freigniszahlen hat R. Benini geliefert.!) Er teilt die statistischen
Beziehungen nicht wie wir nach der gefügemäßigen Beschaffenheit der
Glieder des Verhältnisses noch nach der technisch-mathematischen Pro-
blemstellung ein, sondern nach der logischen Kategorie des Quotienten
und gelangt damit zu Verhältniszahlen des Wertes, der Dauer und der
Wiederholung. Ein Beispiel für das erstere ist ihm die Geburtenziffer, für
die zweite die mittlere Bestandsdauer einer Streckenmasse, für das dritte
d'e Wiederholungsziffer eines Entfaltungsereignisses. In weiterem Aus-
bau erlangt Benini folgende Einteilung der Verhältniszahlen:
a) Beziehungen auf Grund der Zusammensetzung. als Teil des Ganzen,
b) Beziehungen auf Grund der einfachen Herkunft: allgemeine und
besondere Häufigkeitsziffern,
c) Beziehungen nach der Beschaffenheit der Beziehungsmassen:
a) Beziehungen einer Punktmasse auf eine Streckenmasse: Ge-
storbene auf die Bevölkerung, |
B) Beziehung einer Punktmasse auf eine Punktmasse: Ge-
storbene auf die Geburten,
d) Beziehungen auf Grund des Verhältnisses von Wirkung und Ur-
sache: Eheliche Geburten auf die Zahl der Ehen,
e) Beziehungen der Dauer,
f) Beziehungen der Wiederholung.
Wir finden in dieser Ausführung den oben erwähnten Einteilungs-
grund Beninis durchkreuzt von dem zweiten des gefügemäßigen Ver-
hältnisses und teilweise (in c) von der Einteilung der Massen nach ihrer
Dauer in Punkt- und Streckenmassen. Diese Durchkreuzung erscheint
als recht wenig glücklich. Auch sind die Grenzen innerhalb der gleichen
Einteilungsgründe nicht scharf genug gezogen, wie zum Beispiel d bereits
in b enthalten ist.
Nicht nach der materiellen, sondern nach der mathematisch-formalen
Seite hat G. Mortara?) die Beziehungen zwischen Frucht- und Stamm-
massen untersucht. Wenn wir mit E die Zahl der beobachteten Ereignisse,
1) R. Benini, Tecnica e logica dei Rapporti statistici, Giornale degli Econo-
misti, Vol. XXIII, November 1901.
2) A. a. O., S. 217.
142 Wilhelm Winkler.
M die zu Beginn der Beobachtungszeit unter die Ereignismöglichkeit
tretende Masse, mit b, ty ...... t,, die von der 1., 2., ...... nten Massen-
einheit unter Ereignismöglichkeit verlebte Zeit und mit 7 die Summe
der von allen Einheiten unter Ereignismöglichkeit verlebten Zeiten, also
X t; bezeichnen, so ist
THE
E
1. T die mittlere Häufigkeit des Ereignisses auf die Zeit- und Massen-
einheit, also die Häufigkeitsziffer.
E
2. T-M die mittlere Zahl von Ereignisfällen auf die Zeiteinheit.
E i ;
3. m die mittlere Zahl von Ereignisfällen auf die Masseneinheit
(statistische Wahrscheinlichkeit).
Die gleichen Beziehungszahlen, in das entgegengesetzte Verhältnis
7 lauten
T
BR die mittlere zum Eintritt des Ereignisses in der Masseneinheit
notwendige Zeit, à
T:M `. PREEN ; N
5. Tp’ die mittlere Zahl von Zeiteinheiten zwischen zwei Ereignis-
fällen überhaupt,
M
0. F ‚die mittlere Zahl von Masseneinheiten auf einen Ereignisfall.
Wir wollen diese sechs Fälle an einem vom Mortara beigebrachten
Beispiele beleuchten. Wenn die beobachtete Masse aus 2398 Grundstücken
besteht, die Beobachtungszeit 52 Jahre beträgt und die beobachteten
Ereignisse sich als 4174 Übertragungen durch Erbfolge, also als wieder-
holbare Entfaltungsereignisse, darstellen, dann ist also
M = 2398, T = n x 2398, E = 4174. Die Übertragungshäufigkeit
(Häufigkeitsziffer, 1. 7) ist 0:0335, die mittlere zum a einer
Übertragung an einem Grundstücke erforderliche Zeit (4. =) beträgt
30 Jahre. Die mittlere jährliche Zahl von Uberiragungatalen @ 7 m iP
beträgt 80:27; der reziproke Wert dazu (5. = E 2 0: 0125 Jahre, a
Die statistischen Verhältniszahlen. 143
wieviel Vielfache der Zeiteinheit (des Jahres) zwischen zwei Übertragungs-
fällen überhaupt verstreichen. Der im vorstehenden Dezimalbruch aus-
gedrückte Teil eines Jahres entspricht ungefähr 414 Tagen. Wenn wir
| E
nun schließlich die statistische Wahrscheinlichkeit (3. - m? eines Grund-
stückes, innerhalb der betrachteten Zeit von 52 Jahren übertragen zu
werden, berechnen, so ergeben sich 1-74 Übertragungsfälle, und in dem
. M
reziproken Werte davon (6.. p) 0:575 erscheint die auf einen Über-
tragungsfall entfallende Zahl von Grundstücken (also 1000 Übertragungen
auf 575 Grundstücke).
Die Fälle 1 und 3, Koeffizient und Wahrscheinlichkeit sind bereits
oben dargestellt worden. Der Fall 4, zeitlicher Abstand zwischen zwei
Ereignisfällen an einer Masseneinheit, verwandelt sich dann, wenn das
Ereignis im Ausscheiden aus der Masse besteht, in die wichtige Maßzahl der
mittleren Streckenlänge der Streckengesamtheit; wenn zum Beispiel das
Ereignis im Sterben besteht, so ist das die mittlere Lebensdauer der Ge-
borenen. Der Fall 6., die Beziehung der Stammasse auf die Ereigniseinheit,
ist eine in der älteren Statistik sehr beliebt gewesene Darstellungsart der
Häufigkeit eines Ereignisses, die in der neueren Zeit mit Recht durch die
logischere umgekehrte Beziehung (Ereignisfälle auf die Stammasse) ersetzt
worden ist. Die Fälle 2 und 4 stellen Verbindungen zwischen Zeit und
Verteilung der Gesamtmasse vor, dieim besonderen Falle von praktischem
Interesse sein können, der theoretischen Behandlung aber keine Aufgaben
stellen.
Miszelle.
————— e
Volkswirtschaft und Biologie.
Von Ernst Almquist.
Es gibt mehrere Wissenschaften, die sich mit der menschlichen Gesellschaf
beschäftigen und für diese einen erheblichen Wert besitzen: Staatslehre, National-
ökonomie, Ethik, Hygiene, Biologie und anderes. Alle sie enthalten Erfahrungen
über den Menschen, sie gehören zusammen und bilden, praktisch angewandt. ein
einheitliches Gesetzbuch, dessen Gebote die universelle Organisation der Menschen
ausmachen.
In allen Wissenschaften finden wir sowohl Erfahrungen, deren Wahrheits-
gehalt durch alle Zeiten bestätigt wurde, wie auch Theorien. Die letztgenannten
offenbaren den Gedankengang ihrer Entstehungszeit und geben Arbeitshypothesen,
die für den Fortschritt absolut nötig sind. Sie dürfen aber keinesfalls mit der
objektiven Wahrheit verwechselt werden. Das geschieht jedoch zu oft, nicht am
wenigsten in unserer Zeit, Derartige Mißgriffe sind verhängnisvoll gewesen. Sowohl
die Wissenschaft selbst wie auch die Gesellschaft leidet darunter, wie ich im
folgenden hervorheben werde.
Die festgestellten Wahrheiten nenne ich die fixen Punkte der Wissen-
schaften. Dieser Tatsachen gibt es unendlich viele; wohl sind es fast nur Einzel-
heiten, sie können jedoch von entscheidender Bedeutung sein. Sie stehen für
sich da, wie die Sterne am Himmel. Sie in ein System zusammenzufassen gelingt
wohl, aber alle Systeme sind unvollkommen, dienen eine Zeit lang, werden früher .
oder später verworfen und von einem neuen System ersetzt.
Die fixen Punkte dagegen sind Bausteine, die in jeder Organisation, in
jedem System beachtet werden müssen. Wo das nicht geschieht, fällt das System;
die fehlerhafte Organisation führt zur Katastrophe. Es gibt objektive Wahr-
heiten und objektives Recht.
Einige für die Gesellschaft wichtige Erfahrungen der Biologie sollen ım
folgenden beleuchtet werden.
Energie und Leben.
Robert Mayer hat das große Verdienst, den Zusammenhang zwischen den
verschiedenen Formen der Energie: Wärme, Elektrizität, mechanische Arbeit
usw. entdeckt zu haben. Alle Formen können ineinander übergeführt werden.
und können mit demselben Maß gemessen werden. Wir sind nunmehr imstande,
die Ursache und Wirkung zu beurteilen und öfters genau zu berechnen. Überhaupt
Volkswirtschaft und Biologie. 145
können wir sagen, daß der Mensch für seine Zwecke und Bedürfnisse die Energie
ziemlich nach Belieben ausnutzen kann, und zwar durch seine Kenntnis ihrer
Gesetze.
Alle Organismen, auch die unbedeutendsten, verstehen die Energie einiger-
maßen für sich zu verwerten. Das Leben kennzeichnet sich also ganz anders
als die Energie, die blind wirkt.
Konstanz und Vererbung.
Bei allen Organismen treffen wir eine auch für die menschliche Gesellschaft
sehr bedeutende Eigenschaft, nämlich die Konstanz der Charaktere. Die Nach-
kommenschaft besitzt keine anderen Merkmale als diejenigen. die die Eltern
hatten. Diese in der organischen Natur durchgehende Konstanz hat Linné ent-
deckt und bewiesen. Auf dieselbe gründet er seinen Artbegriff. Mendel hat
- denselben Weg weiter beschritten und die Gesetze ermittelt, wie die unver-
änderlichen Merkmale bei Ungleichheit der Eltern von den Kindern geerbt
werden. Durch die Mendelschen Gesetze erklärt es sich von selbst. weshalb
die Menschen und sogar Geschwister einander so ungleich sind. Die Ungleichheit
wird durch Neukombination der elterlichen Charaktere hervorgebracht. Charaktere
können dabei auch wegeliminiert werden.
Der Darwinismus dachte, daß alle Organismen von der Umwelt wie Wachs
umgeformt werden könnten. Obgleich diese Lehre gegen sehr umfassende Isr-
fahrungen streitet, wurde sie während eines halben Jahrhunderts fast als Dogina
verbreitet und geglaubt. In dieser Zeit wurden sowohl Linne wie Mendel mit
Mißachtung behandelt, weil sie die Konstanz der Charaktere hervorhoben. Die
jetzige Demokratie hat sich dem Darwinismus angepaßt und will die Eigen-
schaften der Menschen durch ihre Organisation bessern und heben. Das läßt
sich bezüglich der vererbten Eigenschaften nicht machen.
Kampf uns Dasein.
In der Natur ist der Kampf zwischen den Organismen hart und grausam.
Darwin tröstet uns über die Greuel damit, daß es der Stärkste, der Fahigste
ist, der siegt. Darwin sieht im Kampfe den Hebel des Vorwärtsschreitens. .\lte
oder verkommene Individuen und Rassen werden verdrängt. Die Konkurrenz-
fähigsten drängen mit Kraft vorwärts. Auf diesem Wege besorgt die Natur
die Erhaltung und Entwicklung der lebensstarken Rassen. Hiemit hat Darwin
die Biologie um eine Wahrheit von immenser Bedeutung bereichert.
Die Gesellschaft kann die Rasse heben. indem sie die kraftvollen, intelligenten
Individuen dem Zweck entsprechend stützt. So wird eine Auswahl für gute Nach-
kommenschaft in Wirksamkeit treten. Umgekehrt, wenn die Mittelmäßigkeit
bevorzugt wird, kann die Anzahl der Tüchtigeren allmählich rückgängig gemacht
werden. In der Natur geschieht ähnliches. Viele Neukombinationen sind wenig
konkurrenzfähig und gehen gleich zugrunde.
In unserer Zeit macht man sein möglichstes, um von dieser Wahrheit los-
zukommen, man möchte gern die Tüchtigsten unterdrücken. Unrichtige Angaben
(46 Ernst Almquist
über den Kampf findet man öfters. Neulich las ich in einer ausländischen sozialen
Zeitschrift, daB die Tiere wohl einander töten, nicht aber die Pflanzen. Eine
Eiche sollte Hunderte von Jahren dastehen, ohne ein Leben zu vernichten. Das
ist einfach unwahr. Die Eiche tötet oder bringt fast alle Pflanzen in weiter Um-
gebung in eine Art Hungerzustand; sie nimmt Feuchtigkeit, Nahrung und auch
das Licht für sich.
Der ungleiche Wert der Individuen.
Unsere Erfahrung lehrt, daß die Fähigkeiten der Menschen unendlich ver-
schieden sind. Derselben Familie können gleichzeitig die wertvollsten und die
unbedeutendsten Individuen entsprießen. Sie durch gleiche Erziehung, gleiche
Stellung zu nivellieren, gelingt nicht. Der eine reagiert stark und schnell auf
einen Impuls, den der andere kaum oder träge auffast. Für den Fortschritt der
Menschheit sind die Individuen nıit Intuition und hoher Konzentration erforder-
lich. In jedem Mannesalter taugen nur ganz Einzelne für diese Aufgabe. Das
Talent zu organisieren ist ebensowenig jedermanns Sache; die hiefür fähigen
dürfen nicht zurückgehalten werden. Schon Stuart Mill betont, daß die Ori-
einalitäteineseltene Gabeist, diemit Umsicht behandelt und verwertet werden muß.
Die Anschauung des veralteten Darwinismus waltet noch unter den Demo-
kraten. Sie wollen die Menschen umformen und gleich wert machen. Sie glauben
Faulheit und Leichtsinn beseitigen zu können und sogar alle Armut auszurotten.
Um alle Menschen materiell gleich zu stellen, müßte man natürlicherweise den
fleißigen Menschen, die mit allem ernsthaft, genau und praktisch umgehen,
weniger geben. Die hohe Bedeutung der Persönlichkeit darf in diesen Kreisen
‚nicht erwähnt werden. Solch ein 6konomisches System muß fallen, weil es auf
eine grundfalsche Auffassung der Menschen gebaut ist.
Der relativ freie Wille.
Der Biologe v. Uexküll hat experimentell sowohl die ‚Merkwelt‘‘ wie die
.„‚Wirkungswelt‘‘ niederer Tiere ermittelt und für jede Art ihre Grenzen fest-
zustellen gesucht. Stets manifestiert sich dabei die Zielstrebigkeit. Uexküll
glaubt sogar an Kant anknüpfen zu können.
Bei dem Menschen löst jeder Impuls aus der Umwelt eine ganze Reihe
von (iehirnarbeiten aus. Der Mensch wählt sowohl Form wie Stärke der Reaktion.
Dabei sind Urteilskraft, Erfahrung, Anschauung, sittlicher Standpunkt (Egoismus.
Altruismus) usw. ausschlaggebend. So äußert sich der freie Wille. Der Mensch
ist fähig, vernünftig, sich selbst und die Gesellschaft fördernd, zu handeln. Er
kann auch sich oder anderen Schaden bereiten. Durch seine hohe Intelligenz
hat der Mensch viel größere Freiheit als die Tiere, die durch ihren Instinkt viel
stärker gebunden sind.
Unser Wille ist natürlich nur relativ frei. Wir können die Gesetze von
Energie und Leben keinesfalls ändern, wir sind auch von Erbe, Erziehung und
Umwelt in vieler Hinsicht abhängig. Jeder Versuch, zu beweisen. daß wir keine
Freiheit besitzen sollten, gilt meiner Meinung nach nur für einen absolut freien
Volkswirtschaft und Biologie. TAT
Willen. Die Menschheit hat es immer schwer gehabt, sich ein Verständnis über
die Relativität anzueignen. Entweder verstand man alles oder nichts; entweder
taugte man zu allem oder zu nichts.
Der Mensch wählt und ist dadurch für seine Handlungen verantwortlich.
Auch die Verantwortlichkeit ist relativ. Derjenige, der mit Intelligenz und Kraft
handelt, wird etwas leisten können. Er wird auch zu einer ganz anderen
Persönlichkeit, als der Schlaffe und Unselbständige. Die Willenskraft und den
Charakter zu entwickeln, ist eine Hauptsache bei der Erziehung. Hier hat die
Gesellschaft eine ihrer wichtigsten Aufgaben.
Freilich geht die jetzige Zeitströmung in entgegengesetzter Richtung.
Das Individuum hat keine Verantwortlichkeit, seine Bemühungen sind
bedeutungslos. Der Staat übernimmt alles und ist allmächtig, allwissend und
alliebend.
Spezialisierung von Individuen und Klassen.
Früher war es hauptsächlich die Landwirtschaft, die Europas Völker
ernahrte. Vom Lande wurden die Städte sowie auch die Fabriken und der
Beamtenstand rekrutiert. Die Landbevölkerung war imstande, die Rassen zu
erhalten und war in allen Richtungen entwicklungsfähig.
Es ist sehr unsicher, ob unsere Stadtbewohner und Industriearbeiter die-
selbe Rolle übernehmen können. Es ist auch unsicher, ob ihre Kinder so viel-
seitig entwicklungsfähig sind. In den Städten werden sie für eine bestimmte
Arbeit spezialisiert; schon in der Jugend müssen sie spezielle Ausbildung anstreben.
Diese Einseitigkeit ist oftmals relativ erblich. Darwin schreibt darüber: Die
Gewohnheit wird zum Instinkt; durch Gewohnheit und Gebrauch wird eine
Fähigkeit verstärkt, durch Nichtgebrauch eingebüßt.
Diese Spezialisierung ermöglicht eine höhere Ausbildung: die einseitige
Begabung ist überhaupt für die Kultur sehr brauchbar, kann sogar unersetzlich
sein. Hochentwickelte Kulturblüten eignen sich jedoch im allgemeinen nicht
für die Fortpflanzung der Rasse. Oftmals sind sie von der Arbeit zu sehr ange-
strengt, nicht selten teilweise abnorm oder defekt.
Städte und Industrien unterhalten die Kultur, die Landbewohner bilden
die nötigen Reserven. Hierin sehe ich einen wichtigen Grund, die Landwirtschaft
zu unterstützen.
Die Arbeit für den Frieden.
Der Kampf ums Dasein, die Konkurrenz unter den Menschen hat bis jetzt
eine enorme Bedeutung gehabt. Viel Elend ist freilich daraus entstanden, aber
auch viele Vorteile für Menschheit und Kultur können wir davon herleiten.
Einige von den letztgenannten will ich kurz erwähnen.
Alle Organismen sind den Altersgesetzen unterworfen. Gute Ökonomie,
Hygiene, Sittlichkeit können wohl das Leben etwas verlängern; viel weiter
kommen wir jedoch nicht, weder was die Individuen, noch was die Völker
betrifft. Sowohl Volker wie ihre Kulturen altern. In seinem Werk ‚Untergang
T45- Ernst Almquist.
des Abendlandes‘ schildert Spengler die Entwicklung verschiedener Zivilisationen
von der Kindheit bis zum hohen Alter und meint, daß wir uns jetzt dem Unter-
sang nähern. Viel deutet darauf hin, daß unsere Kultur jetzt sehr im Sinken
begriffen sei. =
Die Altersgesetze sind unerbittlich. Die gealterten Rassen sind wenig
leistungsfähig und können nicht mehr in freier Konkurrenz mit jüngeren Kräften
wetteifern. Sie müssen deshalb resignieren und sich zurückziehen. Gealterte
und verkommene Individuen und Familien ebenso. Und wenn nicht genüger de
Resignation vorhanden ist, müssen sie verdrängt werden.
Der Kampf ums Dasein ist auch imstande, Fehltritte und Irrtümer zu
verhindern und unsere Handlungen zu Übereinstimmung mit den Gesetzen
von Leben und Energie zu zwingen. Der Zwang bringt uns zur Vernunft. Wer
sein Wohl nicht versteht, geht unter.
Können wir durch bessere Organisation der Grausamkeit des Kampfes
und der Konkurrenz entgehen? Dafür bemüht sich unsere Zeit in hohem Grade
und mit vollem Recht. Natürlich können die Zustände erträglicher werden
als jetzt. Aber sie können auch verschlimmert werden. Der Kampf kann nicht
ohne weiteres gestrichen werden. Er gehört nämlich zu den wichtigen biologischen
Gesetzen und es liegt nicht in unserer Macht, ein Gesetz außer Kraft zu setzen.
Die jetzt blühende Kultur ist durch eine privilegierte Minderzahl entwickelt
und weitergeführt worden. Es fragt sich, ob die Kultur damals ohne diese Aus-
nahmestellung zustande kommen konnte. Daß die Minderzahl die anderen
drückte und ihre Macht nicht selten miBbrauchte, ist sicher. Aber wir können
versichert sein, daB in allen Organisationen die Macht mißbraucht wird — mehr
oder weniger.
In unserer Zeit zeigen sich neue Gefahren. Die Majorität droht die Ge-
bildeten zu unterdrücken. Wenn das Großkapital sich mit den Massen vereinigt
und die neue Organisation der Völker für seine Zwecke durchführt, so wird
die Energie, das heißt das Geld, sicherlich vor Leben und Kultur bevorzust
werden, die Energie wird der Herr und das Leben Diener. Unter großkapita-
listischer Souveränität werden die Völker gedeihen, wie die Pflanzen unter einer
hohen Eiche.
Die Organisation darf die Menschen nicht nivellieren; ohne die höher be-
cabten Menschen kann die Kultur nicht aufrecht erhalten werden. „Unter-
ordnung des geistig Niederen unter das geistig Höhere — das sind die Baugesetze
des wahren Staates.“
Die biologischen Wahrheiten müssen sich geltend machen. Die fixen Punkte,
die für alle Zeiten sichergestellten Ergebnisse der Wissenschaften wirken in
unserer Zeit auf manchen wie Steine des Anstoßes. Sie müssen jedoch als Grund-
steine angeschen werden, auf denen alle menschliche Organisation ruhen muß.
In der Tat sollen die wissenschaftlichen Gesetze unsere Werkzeuge sein. die
Festigkeit und Fortschritte ermöglichen.
Berichte und Sammelbesprechungen.
Die Idee der Norm.
Von Wilhelm Andreae.
I. Kurt Hildebrandt, Norm und Entartung des Menschen. (Gir.-8°.
Dresden 1920, Sibyllenverlag. 293 S.
I. Derselbe, Norm und Verfall des Staates. Gr.-8°. Dresden 1920.
Sibvilenverlag. 245 S
„Wir verstehen unter Entartung nur die erbliche Abweichung von der Norm,
diese finden wir wohl am einzelnen, aber weil sie erblich ist, verleiht ihr die Fort-
pflanzung die Tendenz, sich in der ganzen Rasse auszubreiten“ (I, S. 20).
Diese Definition bestimmt den Aufbau des Buches: Als Vorbedingung
fordert sie eine Untersuchung iiber die Vererbungslehre, setzt als Zentrum die
Idee der Norm und gliedert den Stoff zunächst in zwei Teile: I. der Einzelne,
II. die Rasse, an welche beiden sich III. der Staat anschließt, ‚weil nur Bot Staat
die Idee der Rassenzucht verwirklichen kann“.
So ergibt sich ein systematischer Aufbau. den man von jedem wissensch: ft-
lichen Werke fordern sollte; aber, wie Hildebrandts Untersuchungen zeigen,
fehlt es heute gera | Systematik in der einschlägigen Literatur. Die Grund-
fragen werden nicht klar gestellt. zeschweige beantwortet. Es herrscht die selt-
samste Verwirrung. indem die Empiriker die theoretische Durchdringung des
Stoffes, die Logiker diesen selbst gering achten. Demgegenüber finden wir in
Hildebrandts Buch eine Vereinigung von Empirie und Logik, eine anschau-
liche Durehdenkung der Vorgänge und darüber hinaus eine plastische Darstellung.
Als ein für das ganze Buch wichtiges Ergebnis der Voruntersuchung nennen
wir den Beweis, daß erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden und daß
das Keimplasma relativ (das ist in Rücksicht auf seine Trager — das Individuum,
die Rasse) ewig und zugleich im höchsten Maße gegen Beeinflussung geschützt.
ja für sie unempfänglich ist. Damit ist dem Fortschrittsgedanken wie seinem
Korrelat dem Entartungspessimismus jede naturwissenschaftliche Unterlage
entzogen.
Die relative Ewig- und Unveränderlichkeit des Keimplasma bedingt die
Konstanz der Artnorm Mensch. Unter Norm versteht Hildebrandt nicht den
Durchschnitt, sondern den Gipfelpunkt des Menschtums. Dieser liegt ihm nicht
in einer ungewissen Zukunft, sondern ist und wird immer dann erreicht. wenn
die natürlichen menschlichen Anlagen in gleichmäßiger allseitiger Vollkommenheit
zu wirksamer Entfaltung kommen. Dieser Gipfel beherrscht das Feld der Ge-
sundheitsbreite, wer aus ihm als erblich belasteter heraustritt, ist entartet.
190 | Wilhelm Andreae.
Diese Vollkommenheit ist ein anschauliches ,,Denkbild‘, kein zufälliger
aus der Erfahrung abstrahierter Begriff, ist eine Idee im Sinne Platons, fiir die
Erfahrung zwar notwendig, aber weder bestimmend noch ausreichend ist.
In der Erfassung der Norm als Idee liegt der Schwerpunkt des Hilde-
brandtischen Werks. Die Idee birgt nämlich ein doppeltes: sie ist ein anschau-
liches Bild, aber zugleich schöpferische Kraft, also eine formende Form, als Norm
nicht nur geworden, sondern ewig neue Norm schaffend.
Vermöge dieser Doppelgestalt führt die Idee zu kreisläufiger Betrachtung,
während der ideelose Fortschritt geradläufig vorwärts strebt. In diesen Bildern
sind nicht nur zwei Arbeitsmethoden, sondern die entgegengesetzten Lebens-
weisen gefangen, denen sie entfließen. Die eine ist im Kreise gebunden, ruht
in der Schau den Mittelpunkt umwandelnd und läßt nur gelten, was in immer
neuer Folge sich nie aus der um den göttlichen Kern abgesteckten Bahn ent-
fernt. Die andere kennt keinen Pol, ohne die zum Zentrum strebende Kraft
der ruhigen Schau entbehrend, folgt sie allein dem Trägheitsgesetze und jagt
geradlinig vorwärts ins unbestimmte Nichts. Für sie wird die Norm notwendig
ein relativer Begriff, das Ergebnis einer statistischen Berechnung, der Durch-
schnitt der jeweils fortgeschrittensten Menschheit, von dem Genie und Idiot
gleich weit entfernt, beide als entartet ausgesprochen werden müssen.
Die Schau der Idee beruht auf der Einsicht in das Wesen der Norm. auf
ihrer Anschauung, ihrem Erlebnis, erweist das Gesetz der schöpferischen Kraft
an den Erscheinungen als deren Auswirkung, baut das Bild der Welt zum Kosmos
aus ihnen auf, wie ein Baumeister, der das mit dem geistigen Auge geschaute
Bauwerk aus Steinen formt, oder wie die echte Naturwissenschaft, die nicht
aus den Fällen das Gesetz konstruiert, sondern es an ihnen — gleichsam experi-
mentell — zur Darstellung bringt.
Der Einwurf, daß eine solche ihr Resultat voraussetzende und beweisende
Untersuchung, exakte Beobachtung ausschließe, Einzelergebnisse notwendig
färben oder fälschen wird, wäre aus der Geschichte der Wissenschaft leicht zu
entkräften. Denn tatsächlich ist jeder große geistige Fund auf diese Weise ge-
hoben. Aber das Wesen dieser Methode spricht am besten für sich selbst. Denn
sie allein geht den doppelten Weg des Auf- und Abstieges: vom Erlebnis der Natur
steigt sie auf zur Schau der Idee. Die Dynamis der Idee aber zwingt zur Durch-
dringung der Erscheinungen: zum Abstieg in das Reich der Erfahrung, treibt
den Beobachter in diesen Umlauf auf und ab, bis Schau und Welt sich decken.
In dieser Naturwissenschaft wirkt also, und das ist das Wesentliche, dieselbe
schöpferische Kraft, die auch die Natur aufgebaut hat. Indem nun die höchste
geistige Kraft im Menschen und das formende Prinzip der Natur als eines erkannt
werden, erweist die Methode zugleich ihren tiefsten Grund, zugleich aber erbringt
ihre Möglichkeit und Verwirklichung den Beweis für die Einheit dieser doppelten
physischen und psychischen Kraft: „Der Geist baut nicht nur in der Erkennini;,
sondern in der leibhaften Welt auf.“ (II, S. 109).
Um diese Erkenntnis zu zeitigen und damit das hellenische Bild des Kosmos
zurückzuerobern, dazu bedurfte es zunächst eines dem hellenischen Geiste ver-
Die Idee der Norm. Tol
wandten Urerlebnisses und Grundtriebes: jenes ist der Leib, die menschliche
Verwirklichung der Norm, dieser der durch George als den Gesetz schaffenden
und Staat bildenden Heros entzündete philosophische Eros.
Der erotische Trieb ist nämlich der letzte unbedingte Wert, zwecksetzend.
aber nicht mehr ausZwecken abzuleiten (wieetwa dersexuelle, der der Fortpflanzung
dient) und wird damit zum Prinzip der Norm: ,,In der Erotik, in der schöpferischen
Kraft sehen wir diesen Wert — subjektiv in jener, objektiv in dieser muB die abso-
lute Norm beruhen.‘ (I., S. 75).
Ist nun wieder einmal im beseelten Leibe die höchste mögliche Form des
Lebens erschaut, in ihm zugleich Zweck und Ziel der Welt als Einheit faßbar
geworden, so kann aus diesem Boden eine den Dualismus und Mechanismus
vernichtende Philosophie erwachsen.
Denn nunmehr steht ‚der lebendige die Vernunft in sich tragende Leib,
der Körper und Seele umfaßt“ (II., S. 100) am Anfang, Ende und in der Mitte.
„Die Vernunft ist‘‘ nunmehr ,,keine Feindin der Natur, sondern die verdichtete
Natur selbst“ (IIL, S. 108), „Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist‘
fortan ,,kein Gegensatz, denn Geist ist eine Erscheinung der Natur und die Natur
ist eine Form des Geistes‘‘. So schließt sich die nach Goethe nicht wieder über-
brückte Kluft.
In „Norm und Entartung des Menschen“ das vierte Kapitel: „Psychologie“
— und das zweite: „Philosophie“ in „Norm und Verfall des Staates‘‘ schmieden
das Handwerkzeug, liefern die Waffen. Diese beiden Kapitel sind an ihrer Stelle
nicht zufällig eingefügt, sondern notwendige Teile des Gesamtbaus: Alle Ent-
artung findet ihren Ausdruck wesentlich im Psychischen. Eine wahre Psycho-
pathologie setzt eine auf das Wesen der Norm gegründete Psychologie
voraus. Wie somit im ersten Bande die Kapitel Norm‘, „Psychologie“, „Psycho-
pathie‘‘ in notwendiger Folge stehen, so entwickelt sich im zweiten Bande aus
der Betrachtung über ‚Norm und Staat“ (Kapitel I) die „Philosophie“ (Kapitel Il)
und führt „gleichsam als Psychologie des geistigen Lebens im Staat“ zum Bilde
des „Normalen Staates‘‘ (Kapitel III), an dem schließlich — wie an der Norm
die Entartung — ,,der Verfall des Staates (Kapitel IV)“ gemessen werden kann.
Für diese Psychologie ist grundlegend die Tatsache, daB die schöpferische
Kraft im Psychischen die „Dingbilder‘‘ aufbaut. Nicht die Empfindungselemente
kommen uns als solche zum Bewußtsein, sondern ‚alles, was wir sinnliche Emp-
findung nennen, ist heftig bestrebt zu einem Dinge zusammen zu schiessen“
(I, S. 88). Es wirkt eine ,,vitaleGewalt, mit der die einfachsten Empfindungen
gleichsam Vorstellungen in sich hineinsaugen, um sich zu Dingen zu erfüllen‘
(II, S. 109). ,,Im schlichten Bewußtsein sind ‚Dinge‘ gegeben“. Der Aufbau
dieser „Dinge‘‘ oder genau gesprochen „Dingbilder‘‘ vollzieht sich also im Un-
bewußten. Damit wird das UnbewuBte „eine Form der produktiven Kraft“
(II., S. 66).
Aus diesem hier nur angedeuteten, im Buche mit methodischer Gründ-
lichkeit geführten, Beweis läßt sich das Wesen der Methode ablesen: „Aus dem
Unbewußten steigt das Urgefühl auf, in unbegreiflicher Weise auf ein bestimmtes,
15? Wilhelm Andreae.
doch noch nicht geschautes Werk hinweisend. In ihm setzen die entgegengesetzten,
aber auf einen gemeinsamen Zweck wirkenden Komponenten an. Die konzen-
trierende führt die Sinneseindrücke, Erinnerungen, ‚Assoziationen‘ hinzu,
schweißt sie zusammen und bietet sie als Materie dem Werk; die entfaltende
gliedert, formt. gestaltet die Materie zu neuen Formen. So entsteht das Werk,
verleiblicht sich die Idee.‘ (I. S. 113).
Von der Erkenntnis, daß im UnbewuBten die tiefste Kraft steckt‘, ist die
Bewertung von Instinkt und Intellekt, Ethos und Moral, Endaemonie und
Hedonismus abhängig. Als normal erscheint derjenige Mensch, dessen Instinkt
gesund ist, bei dem Instinkt- und Zweckwille harmonieren, den die Erfüllung
im Werke zum Frieden mit dem eigenen Dämon führt, entartet aber, wessen
kranker Instinkt der verbietenden Moral bedarf, wessen unbefriedigter Intellekt
nach einem der Auswirkung seines Ichs fremden Gliicke trachtet. Man könnte
diesen fortschrittlichen Menschen den ziellos-zielsüchtigen nennen.
Notwendig führt nun jede abstrakte Philosophie zum Hedonismus, Utilismus
und Moralismus, denn .‚das rationale Bewußtsein kann nie den letzten Sinn des
Lebens hergeben, der nur aus dem Instinkte quillt‘‘. (So erscheint Kant „das
Genie der Abstraktion‘, zugleich als der Instinktlose. wenn in seiner Ethik die
Pflichterfüllung ohne Liebe höher als hingebende Liebe gewertet wird.)
Hildebrandt setzt an den Anfang der Erkenntnis ..den lebendig fühlenden
Menschen“. Er geht aus von dem, was uns als Menschen einzig primär geceben
ist, vom „psychischen Geschehen“, ..vom ‚Erlebnis‘ im engsten Sinne“ (II,
S. 101). Alles andere. was darüber hinausgeht oder vielmehr darunter bleibt,
erweist er als Abstraktionen. Letzten Endes geht er zurück auf die uralte Frage
der Philosophie nach Sein und Werden und beantwortet sie neu.
Sein Beweis gründet sich zunächst auf die wesentlich neue. der Phaenomeno-
logie Husserls noch am ehesten verwandte Lehre vom Bewußtsein; indirekt
wird er geführt durch eine gründliche Kritik an den Grundlagen der Kantischen
Philosophie. die restlose Erledigung des Mechanismus, in der Lehre Machs,
„der die Welt in ein Wirbeln von Bewußtseinsmomenten‘ auflösen möchte,
des Monismus. der in Ostwalds Energetik. deren einziger Inhalt eine negative
Hypothese ist (II, S. 57), ad absurdum geführt wird. (In dieser Polemik
kommt, was nebenbei bemerkt sei, die Überlegenheit des philosophischen Geistes
über „Philosophiesurrogate‘‘, das Wesen eines unerbittlich scharfen Denkers,
dessen klare Anschauung alles durchdringt. im Gegensatz zu philosophischen
Bramarbasierern. die mit Problemen Verstecken spielen, für den Leser befreiend
und erheiternd zum «lücklichsten Ausdruck.)
Abstraktionen. soweit muß hier noch auf die Hildebrandtische Philo-
sophie eingegangen werden. sind für die Wirklichkeit nicht bindend. Hat es die
Geometrie mit zwei, die Stereometrie mit drei. die Mechanik mit vier Dimen-
sionen zu tun, indem letztere zu den drei Ausdehnungen des Körpers noch die
Zeit hinzunimmt, so ist die Wirklichkeit als auch das Bewußtsein mitumfassend.
so ist das wirkliche Leben fiinfdimensional. Können die Wissenschaften, sofern
sie sich nur mit Gegenständen der niederen Dimensionen befassen. von der
Die Idee der Norm. 193
fünften Dimension abstrahieren, so darf es die Philosophie nicht tun, weil die
Gesetze jeder niederen fiir die as Dimension unzulänglich sind.
Auf dieser Tatsache (Beweis II., S. 52 ff.) beruht der Wert des fünfdimen-
sionalen Schemas. Man mag gegen die bildhafte Ausweitung eines räumlichen
Begriffes einwenden was man wolle, daß damit ein ..geistiger Raum, in dem
Leben und Seele eine wirkliche Beziehung zur tibrigen*Welt haben“, bestimmt
ist, wird man nicht leugnen können.
Es bedurfte eines umfänglichen und sorgfältigen Unterbaues, um die an sich
so einfache ohne weiteres einleuchtende Erkenntnis, daß „das Wesen des Menschen
produktive Kraft sei: Gestalt zu werden und die Welt zu gestalten sein Sinn“
in einer gestaltlosen an abstraktes Denken gewöhnten Zeit zu begründen.
Aber mit dieser Erkenntnis schließt sich nun der Ring, indem der Heros,
die schöpferische Kraft in ihrer größten Reinheit und Dichtigkeit zum Kern
des Staates wird, „indem die Idee des Staates zur Idee des normbestimmenden
einzelnen als Träger des höchsten persönlichen Wertes wird“.
Von diesem Gipfelpunkt wendet sich die Betrachtung wieder abwärts und
normiert von der Mitte aus einen konzentrischen Aufbau des Staates als Gefüge
von Herrschaft und Dienst, und bestimmt die Grenzen von Norm und Verfall
des Staates in teils parallelen teils divergierenden Linien zu denen von Norm
und Entartung des Menschen.
Wir sind dem vorsichtigen, aber kühnen Gange Hildebrandts von Stufe
zu Stufe nachgeschritten und wollen nun auf der Höhe angelangt etwas verweilen
und Umschau halten. Denn die Wichtigkeit dieser Bücher beruht weniger auf
einzelnen Erkenntnissen, als auf einer neuen Haltung, einem neuen Wiedersehen
alter Weisheiten. einer neuen Zusammenschau dessen, was als Einzelerkenntnis
fortgespült wird wie Goldsand im Strome der hastigen Zeit.
Es ist gesagt, dab jede Staatschöpfung das Werk eines Heros ist. Den
Griechen war dieses Wissen eingeboren, die Römer vollends konnten sich keinen
Verein denken ohne einen die Vereinigung bewirkenden genius loci. Etwa die
römische Legion ist nicht die Summe der einzelnen Legionssoldaten: nicht wenn
diese alle fallen, hat jene zu bestehen aufgehört, sondern der Verlust ihrer Fahne,
das allein ist ihre wirkliche Vernichtung. Wir wählen dieses Beispiel aus den
Kriegen eines Volkes. dessen Bedeutung gewiß nicht in seinem dichterischen
Geiste liegt, um auf das eindrücklichste zu zeigen. wie wenig dieser Glaube an
den Geist mit Poesie zu tun hat. Die Religion der Alten nur als Poesie zu werten,
wie es seit den Schillerischen Gedichten (zum Beispiel „Götter Griechenlands‘)
von modernen Ästheten beliebt wird, ist eine ebenso lächerliche wie törichte
Überheblichkeit. Wirklich poetisch bleibt dennoch jede wahre Religion.
Poetisch heißt nach dem ursprünglichen Wortsinn nichts anderes als schöpferisch
(z0::iv = schaffen). Erst spät wird das Dichterische zum Gegenstand ästhetischen
Genusses entwürdigt, in Wahrheit aber ist der Dichter der schöpferische Mensch:
der Bildner und Erzieher seines Volkes. der die Einzelnen bewirkt und zugleich
über ihr Einzeltum erhebt und verbindet zur Gesamtheit des Staates. Da nit
ist nicht gesagt, daß der Staat notwendig gerade eines Dichters Werk sein müsse,
Zeitschrift für Volkswirtsebaft und Sozialpolitik. Neue Fo'ge, 1. Ban l at)
154 Wilhelm Andreae.
aber des Dichters und allgemeiner der Kunst kann kein Staat entraten. Auch
Platon hat das nicht gewollt, wie manche, die ihn nicht verstehen, annehmen.
Gesagt sei aber noch einmal, daß jeder Heros des Dichters bedarf, der ihn ver-
kündet, der seine Gestalt zur ewigen umbildet, der seinen „Leib vergottet‘“.
Heute ist diese Tatsache durch die Wirkung des Dichters Stefan George
manchen wieder fühlbar und in seinem Werke sichtbar. Sie läßt sich auch in
Worte fassen und aussprechen: der Staat ist nur möglich, wo ein göttliches
Erlebnis seine Kreise zieht, wo ein einzelner — gleichviel ob Täter oder Seher —
durch sein göttliches Erlebnis ein geistiges Reich hat, das ein politisches Reich
um sich herumlegen kann, aber nicht muß. Die Platonische Akademie zum
Beispiel ist nur in bedingtem Sinne zum Staate geworden, jedenfalls nicht mit der
Deutlichkeit wie das geistige Reich der Pythagoreer seinen staatlichen Ausdruck
fand, ja staatlich war, oder Christus durch die katholische Kirche zum Heros
des römischen Reiches wurde.
Aber alle diese Männer, mögen sie nun mehr Träger eines Geistigen oder
Staatlichen sein, unterscheidet von anderen Menschen, daß sie sich fortwenden
vom Ich und hingeben an Idee und Herrschertum. Dieser Wille ist auch in der
geistigen Bewegung unserer Tage in Werk und Haltung der Männer, die in ihr
stehen, sichtbar. Wen nach einem neuen Staate verlangt, wird solchen Willen
der in leidenschaftlicher Hingabe zum Werke drängenden Gemeinschaft nicht
entbehren können.
Die Idee des Staates kann niemals ein nur materielles Ziel sein. Wohl
aber muß ein Staat, insofern er irdisch ist, auch materielle Zwecke verfolgen,
um die Grundlage zu schaffen für die Auswirkung ideeller Ziele. Das Materielle
hat nur insoweit Wert, als es dienender Träger des geistigen zu werden bestimmt
ist: Stoff und Geist haben im normalen Staat das gleiche Verhältnis wie Leib
und Seele im normalen Menschen, das heißt sie sind eine untrennbare harmo-
nische Einheit. j
Wie nun jedes Einzelglied sich und dem Leibe am besten dient, wenn es
seine Idee, die in ihm liegende Dynamis, dem ganzen Menschen zum Heile aus-
wirkt (das ist etwa, was Platon gerecht nennt), nicht aber wenn die Hände zum
Nachteil der Füße oder diese zum Schaden jener verkümmern, so ist es auch
im idealen Staate. Es besteht gar kein Gegensatz zwischen dem Staatskörper
und seinen Gliedern in dem Sinne, daß der Einzelne zum eigenen Schaden sich
dem Ganzen aufopfern müßte. Nur wo der Staat verfällt, wird die Hingabe
des Einzelnen, etwa der Tod in der Schlacht oder der Verzicht auf Eigenart,
zum Opfer. Der objektive Wert des Einzelnen kommt in seiner Leistung zur
beglüekenden Auswirkung. Auch der Tod auf dem Schlachtfelde kann das
höchste Glück sein. So empfinden ihn alle heroischen Zeiten, go kegt es im Wesen
der Eudämonie. Aber um wieviel edler das Auge ist als die Nase eo sehr unterscheiden
sich auch die Organe des Staates untereinander. Ein Schnüffler taugt nicht
zum König und ein Seher soll nicht auf den Platz des Kärrners gestellt werden.
So will es die Platonische Gerechtigkeit: echter Sozialismus fordert nieht gleiches
Recht für alle, sondern für jeden das ihm gebührende. So viel jeder dienen kann,
Die Idee der Norm. TDD
soll er herrschen, das heißt jeder soll auf der Stufe stehen, wo er die Idee des
Staates am besten verwirklicht oder doch ihre Verwirklichung am wenigsten
hindert: Viele gehören in die Gefängnisse und Irrenhäuser, wenige auf den Thron.
Daß die Gliederung der Stände allein auf der Idee des Staates ruht, ist
nach dem Gesagten deutlich. Einem auf Genuß eingestellten Zeitalter (gleichviel
ob der Genuß grob-materieller oder feinerer ästhetischer Natur ist) scheint es
aber, soweit sich dies aus den Ansprüchen der Klassen und ihrem Kampfe ent-
nehmen läßt, als ob das Glück nur auf den höchsten Stufen zu finden wäre. Doch
die Hedonisten würden von diesem Wahne bald geheilt sein, wenn sie im Norm-
staate die Arbeit auf der obersten Stufe leisten sollten. Denn dort ist das Glück
nur noch im Werke, in der Erfüllung des Bildes, in der Verwirklichung der Idee.
Der Genuß bleibt den unteren Schichten, Behagen hat allein die dumpfe Masse:
Das niedere fristet larvenhaft sich fort
Wer adel hat, erfüllt sich nur im bild,
Ja zahlt dafür mit seinem untergang.‘
Einem Fremdling sei mit diesen Versen veranschaulicht, wie das dichterische
Wort die Gesetze des Staates aufstellt. Vielleicht ist es ihm danach faBlicher,
warum es in den Blättern für die Kunst heißt:
„Mag auch mancher mann der öffentlichkeit schon zugestehen, daß er
über die ‚zeichen der zeit‘ und ‚was in der welt wirklich vorgeht‘ sich zuweilen
besser aus gedichtbüchern unterrichtet hätte als aus zeiturgspapieren: das will
nicht viel besagen!““.
Doch er möge sich nicht schmeicheln, durch bloße Wissenschaft einen
Zugang zu dem Wesen des Dichters zu finden und zu seiner Idee vom Staate.
Die Bücher Hildebrandts aber können ihm den Weg weisen zu dem Raume,
in dem dieser Dichter steht und sichtbar wird. Es ist so wenig Zufall wie be-
wußter Wille, sondern eine glückliche Fügung, daß fast zu derselben Zeit wie
die Bücher von der Norm ein Werk Friedrich Gundolfs erschienen ist. Führt
Hildebrandt gewissermafen von der Peripherie des Kreises zum Zentrum,
jührt er bis an die Pforten, durch die wir gehen müssen, um die Gestalt des
Diehters zu schauen, so enthüllt Gur.dolf das Bild des Dichters selbst. Wunder-
bar ist dabei, daß bei beiden, von wie verschiedenen Blickpunkten aus sie auch
den Dichter betrachten, das Staatliche und Dichterische als eine unlösbare Ein-
heit, als eine lebenwirkende Form erscheint.
Aber Natur und Geist und Staat und Kunst, sie alle wollen das Alleine:
das edle Leben schön verwirklichen. Darum ringen sie mit der Mühe des Werkers
nicht um ‘Genuß, sondern um die Verwirklichung der Idee.
XAAEIIA TA KAAA
Einzelbesprechungen.
— ——
I. Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie,
theoretische Volkswirtschaftslehre.
Charles Gide und Charles Rist. Geschichte der volkswirtschaftlichen
Lehrmeinungen. Preisgekrönt von der Academie des Sciences Morales et
Politiques. 2. Aufl. nach der 3. französischen Ausgabe. Herausgegeben von
Franz Oppenheimer, deutsch von R. W. Horn. Gr.-8°. Jena 1921. Gustav
Fischer. XX und 804 S.
Es ist ein recht erfreuliches Zeichen der Zeit, daB ein so umfangreiches.
kostspicliges und rein fachgelehrtes Werk wie die „Geschichte“ von Gide und
Rist in neuer Auflage erscheint, nachdem die erste knapp vor dem Kriege heraus-
kam. Erfreulich nicht nur, weil es sich um ein allgemein geschätztes Buch handelt.
sondern recht. eigentlich deswegen, weil jene Tatsache anzeigt, daß die Rück-
kehr zum dogmengeschichtlichen Studium und Verfahren, zu jenem Ver-
fahren, das den Geisteswissenschaften am meisten angemessen ist.
Fortschritte macht. Vor 20 Jahren, da man alle alten Meister als dürre Kon-
strukteure mi3achtete und dafür d’e eigene uferlose und begrifflose Tatsachen-
anhäufung pries, wäre ein ernsthaftes Studium der Geschichte nicht im
Geiste der Zeit und ein derartiger Erfolg geschichtlicher Werke nicht möglich
gewesen. |
Diese neue Auflage ist nach der dritten französischen Ausgabe hergestellt.
Gide und Rist selbst geben über die Veränderungen, die sie vornahmen, fol-
genden Aufschluß: „Die verschiedenartigsten Theorien über die wirtschaftlichen
Ursachen des Krieges sind neu entstanden; die alten nominalistischen Vor-
stellungen über das Gildenwesen haben ihre Wiederauferstehung gefeiert: die
wirtschaftlichen Aufgaben des Staates sind dort übersteigert, hier neuer Kritik
unterzogen...... Wir haben uns darauf beschränkt, die wichtigsten jener Rück-
wirkungen in Anmerkungen zu verzeichnen und haben ..... im letzten At-
schnitt eine Studie über ..... den russischen Bolschewismus eingefügt.“ — Im
übrigen ist der Wert dieses Werkes, das alle Vorzüge und Nachteile der franzö-
sischen Wissenschaft vereinigt, rühmlich bekannt. Daß Adam Müller und die
deutschen Nutzwerttheoretiker, ebenso die österreichische Schule gar nicht oder
nur dürftig behandelt werden, ist den französischen Verfassern wohl nachzu-
sehen. Im Einzelnen sei als auf einen besonderen Vorzug noch auf das Sach-
Enzvklopiidien, Dogmengeschichte, Soziologie, theoret. Volkswirtschaftslehre- 757
verzeichnis hingewiesen, das nicht weniger als 50 Seiten stark ist und eine sehr
ins Einzelne gehende Stellenlese darstellt.
Wien. Othmar Spann.
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 4. gänzlich umgearbeitete Aufl.
Herausgegeben von L. Elster-Jena, Adolf Weber-München und Friedrich i
Wieser-Wien. Lieferung 1. Lex-8° („Abbau bis Aktiengesellschaften“). Jena.
Verlag Gustav Fischer. 96 S. Preis einer Lieferung M 15°—. (Gesamtumfang etwa
100 Lieferungen oder 8 Bände.) Lieferung 2. Lex-8°. S. 97-- 192 (,,Aktien-
gesellschaften“).
Endlich liegt das „Handwörterbuch“, nachdem es schon während des ganzen
Krieges gefehlt hatte, wieder in Neuauflage vor. Über die Bedeutung dieses
Riesenwerkes deutscher Wissenschaft für das praktische und wissenschaftliche
Leben heute noch sich zu verbreiten, hieße Eulen nach Athen tragen. In allen
Ministerien und Parlamenten, für alle Politiker, Zeitungsmänner, Fachseminarien
und Fachleute jeder Art ist das Werk im Laufe seines nunmehr dreißigjährigen
Daseins ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden.
Trotz dieser großen Rolle im öffentlichen und wissenschaftlichen Leben
hatten die früheren Auflagen neben ihren großen Vorzügen doch auch schwere
Mängel. Zwar war so ziemlich der ganze Stab deutscher Gelehrter und wissen-
schaftlich geschulter Praktiker, über den wir im deutschen Sprachgebiet ver-
fügen, herangezogen worden; aber die ganze Anlage war doch recht einseitig
auf die damals herrschende geschichtliche und wirtschaftspolitische Richtung
eingestellt. Es fehlte die theoretische Durcharbeitung des Stoffes, es fehlte die
Möglichkeit, sich über die meisten Grundbegriffe zu unterrichten. Wer über die
theoretischen Fragen der Volkswirtschaftslehre und Gesellschaftslehre und gar
über jene der Hilfswissenschaften, so besonders der Methodologie, Auskunft
wollte, fand entweder nicht einmal die nötigen Stichworte, oder er erhielt die
„Auskunft von Leuten, die ihrer selber recht bedürftig gewesen waren.
Diese Sachlage hat sich nun grundsätzlich geändert. Durch den Abgang
des ursprünglichen Hauptherausgebers Conrad ist die Leitung dey Herausgeber-
schaft an L. Elster übergegangen, der von je keinen einseitigen Standpunkt den
verschiedenen Richtungen unserer Wissenschaft gegenüber einnahm; durch den
Eintritt Wiesers, des Führers der österreichischen Schule, in die Reihe der
Herausgeber, ist ferner eine Sicherheit dafür gegeben, daß die theoretischen
und gesellschaftswissenschaftlichen Teile des Stoffes nicht nur mehr berück-
sichtigt werden a!s früher. sondern auch durch qualitativ zuverlässige Mitarbeiter
ihre Vertreter finden. Ähnliches gilt von der wirtschaftspolitischen Seite,
wo die Gefahr. sich in uferlose Tatsachen- und Gesetzeskunde zu verlieren, durch
den hervorragenden Fachmann Adolf Weber-München gebannt erscheint.
Außer dem, daß Krieg und wirtschaftliche Umwälzung große Verände-
rungen erheischten, ist es auch diese Änderung des inneren Gefüges des ,,Hand-
wörterbuches“, die reichliche Zuwüchse an neuen Artikeln, wie auch Entlastungen
158 | .. Einzelbesprechungen.
an alten bedingte. Wird der Zuwachs im Grundsätzlichen und Theoretischen
bestehen, so die Entlastung namentlich im rein wirtschaftsgeschichtlichen Stoff.
Im vorliegenden Hefte zeigen sich bereits diese Neuerungen. Während z. B. die
Artikel „Adel von Below, „Agrarkrisis“ von Conrad ausfallen und der
Artikel „Abbau“ eine lobenswerte Verkürzung erfuhr, sind als neue Aufsätze
. eingerückt, z. B. „Abfallverwertung“ von Becker, ,,Achtstundentag“ von
Stephan Bauer, „Abnehmender Ertrag“ von Fr. X. Weiß-Wien, eine Arbeit, die
in das schwierige, auch volkswirtschaftspolitisch so wichtige Problem endlich in ge-
diegener Form eirfführt und zeigt, daB das herkömmliche, meist bloß technisch
verstandene Ertragsgesetz schon das Wertgesetz und die Wirtschaft zur Vor-
aussetzurg hat; neu ist ferner der Beitrag „Abstinenztheorie“ (Fr. X. Weiß).
„Agrarische Bewegung‘ (Altrock) ,,Agrarreform in Rußland“ (Preyer).
ein Artikel, der bereits die bolschewistischen Zustände in Rußland
behandelt. Zum guten Zeichen nehmen wir es auch, daß gleich auf der ersten
Seite der vortreffliche Artikel „Abbe“ (von Pierstorf) beginnt. der von
der großartigen organisatorischen, technischen wie sozialpolitischen Leistung
deutscher Arbeit berichtet. — Die wirtschaftsgeschichtliche Entlastung hat zum
Teil zu erheblichen Verbesserungen geführt. So ist die zwar sehr wertvolle, aber
in diesem Werke doch nicht ganz am Platze gewesene, überaus umfangreiche
Abhandlung der 3. Aufl. von Max Weber (f) ,,Agrarverhaltnisse (Altertum)“
nunmehr durch cinen Artikel „Agrargeschichte“ von v. Below ersetzt worden.
dessen zusammenfassende Art dem „Handwörterbuch“ besser entspricht, als jene
große Studie Max Webers. Über folgenden Punkt des.Belowschen Beitrages sei
mir eine kurze Bemerkung gestattet. So wenig ich mich einem Meister wie ihm
gegenüber zu einer Kritik berechtigt fühle, kann ich doch nicht verstehen, warum
er der zuletzt von Dopsch so gewichtig begründeten Anfechtung der Freiheit
und Gleichheit der Germanen in der Markgenossenschaft keine Aufmerksamkeit
geschenkt hat und dieselbe nicht einmal in der Schriftenangabe erwähnt. In den
Streit der geschichtlichen: Beweisgründe kann ich mich als Nichtfachmann nicht
einmischen; als Gesellschaftswissenschaftler darf ich aber erklären. daß ein
kommunistischer Urzustand, wie ihn Below und die herrschende Lehre annimmt.
wirtschaftstechnisch unmöglich ist und kommunistische Wirtschaftsformen nur
als Grenzzustände in kleinsten Kreisen. zum Beispiel in Urchristengemeinden.
Mönchsorden u. dgl., möglich und durchführbar sind, niemals aber in großen.
lebendigen, tätigen Kreisen von Wirtschaftern.
Die zweite Lieferung ist mit dem großen Aufsatz .‚Aktiengesellschaften‘
ganz ausgefiil t. Auch hier sind wertvolle Änderungen eingetreten. Von unserin
östarr.ichischen Standpunkte aus müssen wir da allerdings bittere Klage führen.
Das österreichische Aktienrecht und die Aktienstatistik (Eisfeld) sind ganz un-
zu'änglich behandelt. „Neu-Österreich“ beginnt für Eisfeld im Jahre 1914 (^.
die Zahlen für 1918 (die letzten, die er 1921 anführt!) lassen nicht erkennen.
ob sie für die Zeit vor dem Umsturz oder darnach gelten, sind daher wertlos,
die angegebenen Schriften sind alten Kalibers. Wahrscheinlich gehört der Ver-
fasser zu jenen völkisch erzträgen Innerdeutschen, welche meinen, daß Wien
Prakt. Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsbeschreibung, Wirtschaftsgeschichte. 159
südlich von Budapest liegt. daher er denn auch den ungarischen Verhält-
nissen mehr Raum widmet a!s den deutschösterreichischen!!
Wie die Ankündigungsschrift verheißt, soll das Werk sehr rasch erscheinen,
so daß es schon 1923 abgeschlossen vorliegen wird. Eine wertvolle Neuerung ist
auch, daß der letzte Band eine ausführliche Stellenlese bringen wird, so daß die
Benützbarkeit des Werkes, namentlich für die mehr ins Einzelne gehenden Fragen
und Stoffgebiete viel größer sein wird als bisher.
Freuen wir uns dieses herrlichen Werkes, da es noch von den frischen Kräften
zeugt, die überall unser Geistesleben durchdringen.
Wien. Ä Othmar Spann.
II. Praktische Volkswirtschaftslehre, Wirtschafts-
` beschreibung, Wirtschaftsgeschichte.
Inge Debes, Socialisering i Østerrike, utarbeidet efter opdrag fra den
av Socialdepartementet nedsatte -Socialiseringskomite. 8°. Kristiania 1920.
Steenske Forlag. 170 S.
‘Osear Pedersen, Socialisering i Tyskland, utarbeidet efter opdrag fra
den av Socialdepartementet nedsatte Socialiseringskomite. 8°. Kristiania 1920. `
Steenske Forlag. 154 S.
Beide Schriften, die vom norwegischen Sozialisierungsausschu8 heraus-
gegeben worden sind, versuchen auf Grund persönlichen Aufenthaltes und aus-
gedehnten Studiums in den betreffenden Ländern einen Überblick über theoretisch
oder politisch bedeutsame Pläne, die Gesetzgebung und die praktischen Fr-
fahrungen auf dem Gebiete der Sozialisierung vom Herbst 1918 bis Sommer 1920
zu geben. Pedersen setzt sich zuerst mit den wichtigsten theoretischen Schriften
auseinander, bespricht sodann die Bestimmungen der Reichsverfassung, die Vor-
schläge der Sozialisierungskommission, die Wisselschen Pläne und ihr Schicksal
und schließlich die „Sozialisierung‘‘ des Kohlenbergbauses. Debes Buch bringt
eine Zusammenstellung der einschlägigen österreichischen Gesetze, samt einem
Auszug aus den parlanıentarischen Materialien, ferner einen Überblick über die
bestehenden gemeinwirtschaftlichen Anstalten und deren Einrichtungen und
zuletzt eine ausführliche Darstellung der verschiedenen von der Sozialisierungs-
kommission durchgeführten Untersuchungen (Enquete über den Kohlenberg-
bau usw.) und der von ihr ausgearbeiteten Gesetzentwürfe.
Wien. Walter Fröhlich.
G. R. Stirling Taylor, Der Gildenstaat. Seine Leitgedanken und Möglich-
keiten. Übersetzt von Otto Eceius, Schriften der englischen Gildenbewegung I.
J. C. B. Mohr (P. Siebeck) Tübingen 1921. XII + 1245S.
Wir stehen heute am Ende eines kapitalistischen Zeitabschnittes. Schon
vor dem Kriege waren die Alters- und Verfallserscheinungen des Kapitalismus
des 19. Jahrhunderts unverkennbar, der Krieg hat ihm noch einmal neue Lebens- `
160 Einzelbesprechungen.
kraft und -möglichkeiten. aber auch Gelegenheit zu besonderen Auswiichsen
gegeben. Seither ist es ganz klar geworden. daß dieses Wirtschaftssystem nach
großen Leistungen in einem so weitgehenden Maße, besonders in bezug auf die
Verteilung entartet ist, daß eine neue Grundlage für die Organisation der Wirt-
schaft gefunden werden muß. Der Individualismus wird vom Universalismus
abgelöst, die freie Wirtschaft durch eine genossenschaftlich gebundene ersetzt.
Wie weit die Entwicklung in dieser Hinsicht schon gediehen ist, zeigen die vielen
genossenschaftlichen Bildungen aller Art, die freilich noch nach keinem einheit-
lichen Plane aufgebaut sind. sondern stark im gegenseitigen Kampf und Wett-
bewerb stehen. Eine stark anwachsende Literatur ist schon an der Arbeit. das
System für diese im Werden begriffene Wirtschaftsordnung zu bauen, den Über-
gang zu ihm anzubahnen. Die Schriften Adam Müllers gewinnen ungeahnte
Aktualität. dav mittelalterliche Zunftwesen erscheint vielfach als die Wirtschafts-
ordnung der Zukunft.
Dieser auf eine Reform des gegenwärtigen Wirtschaftssystems abzielenden
Gedankenrichtung entspringt auch die englische Gildenbewegung. es ist ein großes
Verdienst des Übersetzers und des Verlegers, daß sie die deutsche Öffentlichkeit
in einer gediegenen Übertragung mit Tavlors Schrift bekannt machen.
In einer historischen Einleitung, die freilich weniger von Kenntnissen als
von persönlichen Empfindungen getragen ist. führt Taylor die widrigen Wirt-
schaftsverhältnisse auf das Vordringen der staatlichen Zentralgewalten zurück,
auf die Herrschaft der Bureaukratie. auf die Ausbildung großer Reiche über-
haupt. wodurch die lebenskräftigen örtlichen Bildungen unterdrückt, der Rat
und die Entscheidung der Sachverständigen ausgeschaltet, ein viel redendes.
oberflächliches Demagogentun zur politischen Herrschaft gelangt ist, die es im
Verein mit einer nicht fachmännisch ausgebildeten Kapitalistenklasse auch in
wirtschaftlichen Dingen ausübt. Demgegenüber bleibt als einzige Rettung die
Organisierung der Menschen nach Berufsarten, Selbstverwaltung der besonderen
Berufsangelegenheiten im weiteren Sinne durch die Organisation und damit Aus-
schaltung aller Einwirkung der Burcaukratie. Die Organisationen dürfen aber
nur klein (wie wohl auch die Betriebe selbst). nur örtlicher Natur sein, sie sollen
sich dann in nur freiwilliger Unterwerfung den größeren Fachorganisationen
einfügen. Weniger regieren. mehr verwalten! ist der Grundsatz, der aber nur
durchführbar ist. wenn die Verwaltung im kleinen von den bodenstandigen. mit
den örtlichen Wünschen und Bedürfnissen vertrauten Organen besorgt wird. Dem
Staate wird es fürs erste obliegen, die Gildenfreibriefe auszugeben, die hohe
Politik zu machen, vielleicht auch bei der Preisbildung regulierend einzugreifen.
So wird diese „Rückkehr zum Mittelalter‘ zu einer Gesundung für Körper und
Geist führen.
Das sind die Wege, Ziele und Erwartungen des Gildensystems, so wie sie
Tavlor nicht ganz klar, dafür von starker Hoffnungsfreude getragen darstellt.
Als Historiker kann ich mich vom Relativismus nicht ganz frei machen, nicht
jahrhundertelaneen Entwicklungsstadien das Zeugnis gehen, daß sie falsch
gerichtet und schlecht waren. nicht die Forderung aufstellen: Zurück zu früheren
Prakt. Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsbeschreibung, Wirtschaftsgeschiehte- 161
Zuständen! Wirtschaftliche (und gesellschaftliche) Organisationen können
nur wirken, wenn sie jenes Gebiet umfassen, das für sie als Wirtschaftsgebiet
(Staat) in Betracht kommt. Im Mittelalter waren das in vieler Hinsicht die ein-
zelnen Städte, heute bilden für manche Wirtschaftszweige große Reiche. ja die
ganze Welt ein Wirtschaftsgebiet. Das Gesetz vom Standort der Industrien
hat natürlich bei den modernen Verkehrseimichtungen und bei der Größe des
heutigen Marktes, wenn auch nicht überall, eine weitgehende Konzentration
der Erzeugung mit sich geführt. die zwar sozial während des Uberganges un-
günstig gewirkt hat, wirtschaftlich aber zumeist ein zweifelloser Fortschritt
war. Heute können auch Organisationen. die nur wenige Betriebe umfassen
und örtlich zusammengeschlossen sind. in Wirklichkeit den großen Markt voll-
ständig beherrschen. Sie besitzen dann ein tatsächliches Monopol, man mag
diesen Organisationen welchen Namen immer geben, die Sache bleibt bestehen.
Andere Organisationen mit zahlreichen Mitgliedern bedeuten sehr wenig. Ent-
scheidend ist nicht die Größe der Organisation, weder nach ihrer Mitgliederzahl
noch nach dem örtlichen Zusammenschluß, sondern nur die Größe des von ihr
monopolistisch beherrschten Marktes. Danach muß das Vorgehen gegen sie ein-
gerichtet werden. Da gibt es nun zwei Wege, erstens die Zertrümmerung der
konzentrierten GroBbetriebe und Verhinderung monopolbesitzender Organi-
sationen (also wirklich ..freie Wirtschaft“) oder deren strenge Überwachung.
Taylor scheint dem ersten Vorgange das Wort reden zu wollen. Dieser ist bei
vielen Erzeugnissen unmöglich, denn er würde die Fruchtbarkeit der Arbeit
so herabsetzen, daß der Lebensunterhalt der Menschen gefährdet wäre. Das ist
ja die Stärke des Kapitalismus, daß er die Fruchtbarkeit der menschlichen Arbeit
so unendlich gesteigert hat, daß heute auf dem gleichen Raume mehr Menschen
viel besser leben können als früher. Diese Errungenschaft darf keine Wirtschafts-
‘ordnung fallen lassen, welche eine bessere Zukunft heraufführen will. Das nicht
voll erkannt zu haben, ist der Hauptvorwurf, der Taylor gemacht werden muß.
Bleibt also der zweite Weg, die Überwachung der großen Organisationen. Die
kann aber nur eine obrigkeitliche Gewalt. und zwar nur eine sehr starke ausüben.
Die zahlreichen Verbote und Strafen des Mittelalters beweisen, daß der trotz
Kleinheit der Verhältnisse und des verhältnismäßig leicht zu gewinnenden Über-
blickes die Leitung der Wirtschaft im Interesse der Gesamtheit niemals ganz
gegliickt ist. Freier Wettbewerb oder behördliche Preissatzung, eine andere
Möglichkeit ist derzeit noch nicht gefunden, um auf ihr das Wirtschaftsleben
zu bauen, denn Organisierung ohne das Gegengewicht der Überwachung führt
entweder zu schrankenloser Ausbeutung der Verbraucher, man bedenke die
heutigen Zustände, oder aber zu wildem Kampfe der Organisationen untereinander,
also immer letzten Endes zum Chaos. Straffe Organisierung der Wirtschafts-
zweige hat also cine starke Staatsgewalt und uneigennützige Verwaltung als
Voraussetzung für ihren Bestand, nicht aber eine macht- und rechtlose Obrigkeit.
Das übersieht Taylor.
‘Wenn man im Leben der menschlichen Gesellschaft einfach zu den alten
Zuständen zurückkehren könnte, sobald die neuen unbehaglich werden, wäre alle
162 Einzelbesprechungen.
Politik leicht. aber es ist unmöglich; ja es ist gar nicht schade, daß es so ist, denn
die Zustände, die uns heute so schön erscheinen, daß wir sie wieder zurückrufen
möchten. wurden von den Zeitgenossen zumeist so beurteilt, wie wir unsere
heutigen betrachten. sie wollten nämlich auch schon zu dem entschwundenen
goldenen Zeitalter zurückkehren. Die modernen Verkehrsmittel in erster Linie
und die moderne Erzeugungstechnik haben die alten Wirtschaftssysteme ge-
sprengt, und weil die alte zünftische Organisation. wie jede Organisation, schwer-
fällig war und den Übergang nicht selbst durchführen konnte. ist es zum
Kapitalismus gekommen. Und weil die alten Zünfte sich nicht selbst zu Organi-
sationen für die neuen Wirtschaftsgebiete ausgestalten konnten. mußten sie
vorerst zugrunde gehen. mußten die alten örtlich bestimmten (resellschafts-
klassen verschwinden. um neuen den großen Verhältnissen angepaßten Bildungen
Platz zu machen. Ein Kind einer solchen gärenden Zeit sind die radikalen Be-
wegungen wie der Kapitalismus und der Marxismus. Dieser aber trägt deshalb,
weil die Arbeiterbewegung selbst doch auch auf eine zunftähnliche Organisation
hinzielt. den Todeskeim ebenso wie jener in sich.
Wir sehen heute schon in nebelhafter Ferne das Ziel der augenblicklichen
Entwicklung, wir können aber den Weg dorthin genau noch nicht erkennen.
Will man ihn finden, so darf man nicht die Bedingungen außer acht lassen, welche
für die moderne Wirtschaft grundlegend sind. Keine Bewegung könnte wirklich
zum guten Ende führen, wenn sie die Fruchtbarkeit der wirtschaftlichen Arbeit
verminderte. Zuerst muß erworben und ‚erzeugt werden, dann und damit
im Zusammenhang kann man an das Verteilen gehen und hier die schreienden
Ungerechtigkeiten unserer Zeit ausmerzen. Das soziale Problem ist ein Problem
der Verteilung, das nicht dureh Zurückführen der Organisation der Erzeugung
auf Zustände zu lösen ist, die eben wegen ihrer Unzulänglichkeit überholt worden
sind. Das hat Taylor zu wenig beachtet, darum wohnt zwar seinen Ideeen, be-
sonders in den negativ kritischen Teilen ein wahrer Kern inne, aber der vor-
geschlagene Weg zu den besseren Zuständen ist kaum gangbar.
Wien. Theodor Maver.
Berthold Thorseh, Sozialisierung und Gesellschaftsverfassung. 8°.
Wien 1920. Manz. 75 5.
„An die Stelle des Kampfes der einzelnen wird der Kampf treten zahlreicher
Organisationen von Einzelunternehmungen, die geleitet und beherrscht sein
werden von der Gesamtheit der in ihnen Tatigen‘. (S. 56.) Das ist des Verfassers
Idealbild künftiger Gesellschaftsverfassung. Nicht Sozialisierung und Planwirt-
schaft, sondern ..Massenkapitalismus‘‘. Verfasser wünscht nicht Sozialisierung,
sondern Wirtschaftlicherwerden der Gesellschaft. Von diesem Vorgang erwartet
er (S. 9) feinere Struktur der Gesellschaft. das heißt größere Differenzierung,
aber auch — etwas widersprechend — (S. 20) Erziehung zur Gleichheit, also
Aufhebung der Differenzierung. Wirtschaft bringt mit sich Verfeinerung der
Geistigkeit (S. 73/74): aber anderseits kann erst bei verfeinerter Geistigkeit die
neue Wirtschaftsform eingeführt werden. (S. 46.) Mit derartigen gefährlichen
Prakt. Volkswirtschaftslchre, Wirtschaftsbeschreibung, Wirtschaftageschichte. 763°
Widersprüchen bewegt sich die Schrift, deren Begriffsbestimmung äußerst mangel-
haft ist, in geistvollen Bemerkungen durch eine Fülle von Mißverständnissen
einfachster gesellschaftlicher Erscheinungen. Verfasser glaubt zum Beispiel, die
Menschen würden zufrieden sein, wenn sie das genaue Äquivalent ihrer Leistung
erhielten. (S. 42.) Als ob Befriedigung von der Bezahlung für Muskelkontraktionen
und nicht vielmehr von der Freude an der schöpferischen Tätigkeit abhinge! In
der Schrift kommt jene merkwürdige — gegenwärtig sehr häufige — Anschauung
zum Ausdruck, die ,, Wirtschaft‘ mit „Wesen der Gesellschaft‘ gleichsetzt und
für den Kosmos der gesellschaftlichen Erscheinungen blind ist.
Wien. Hans Voegelin.
Dr. Karl Schmidt, Gutsübergabe und Ausgedinge. Eine agrarpolitische
U itersuchung mit besonderer Berücksichtigung der Alpen- und Sudetenländer.
I. Bd. Wien-Leipzig 1920. Verlag Franz Deuticke M 30 — = K 45° -.
Die vorliegende Arbeit beruht auf einer vom Verfasser vorgenommenen
privaten Erhebung der Gutsübergabsverhältnisse in einer größeren Zahl von
(ierichtsbezirkssprengeln der Alpen- und Sudetenländer Altösterreichs. Die
Resultate dieser Erhebungen bilden nun die Grundlage für den Versuch, das
für die bäuerlichen Wirtschaftsverhältnisse so außerordentlich wichtige Institut
des Übergabsvertrages und des damit verbundenen Ausgedinges in seinen zivil-
rechtlichen Details sowie hinsichtlich Häufigkeit und Verbreitung solcher Ver-
träge, der Motive für ihren Abschluß, des Übergabsalters des Übergebers und der
Dauer des Ausgedinges, des tvpischen Inhaltes, der Art der Bestimmung vom
Übernahmspreis und Behandlung der Restschillinge, der eventuellen Erbabfin-
dungen von Geschwistern, überhaupt der den letzteren vorbehaltenen Rechte
und ihrer Stellung bei der Gutsübergabe, endlich des Inhaltes der Ausgedings-
rechte usf. eingehend zur Darstellung zu bringen. Den Abschluß der Monographie
bilden Vorschläge des Verfassers de lege ferenda über eine künftige legislatorische
Regelung der Gutsübergabe und des Ausgedinges auf Grund einer kritischen
Untersuchung der Vorzüge und Mängel des bisherigen Zustandes. Wenn auch
die Arbeit auf der etwas schmalen Basis einer notwendig auf das Material einzelner
länder und einzelner Sprengel in diesen beschränkten Privaterhebung beruht
(fiir die Reformfragen des Ausgedinges wurden die Ergebnisse der vom Acker-
bauministerium im Jahre 1911 veranstalteten Enquete über .‚Die gesetzliche Rege-
lung des Ausgedinges‘‘ verwertet), so bildet sie um ihrer Gründlichkeit willen
doch eine dankenswerte Bereicherung unserer Spezialliteratur auf einem Zweig-
gebiete der Agrarpolitik.
Wien. Em. H. Vogel.
Die Zusammensehlußbestrebungen der Privatbankiers seit dem Münchner
Bankierstag und ihre Erfolge. Eine Denkschrift,gewidmet dem deutschen Bankicr-
stande. 8°. Jena 1920. 31 S. Frommannsche Buchdruckerei.
Voll lebendiger Anschaulichkeit leuchtet diese Schrift in eines der inter-
‚essantesten Gebiete des Kampfes um die Wirtschaftseinheit hinein. Gleichwie in
"164 Einzelbesprechungen.
Landwirtschaft und Gewerbe kimpft auch im Bankwesen die kleine Unternehmung
gegen die große Unternehmung einen Existenzkampf, der nicht der ernstesten
Phase entbehrt. Und hier wie dort zeigt sich, daß beide Unternehmungstypen
nicht für sich isoliert im Sinne der liberalen Wirtschaftsauffassung in diesem
Kampfe bestehen können. sondern daß sie verbandlichen Zusammenschluß zur
Austragung ihres Kampfes benötigen. Und noch eines ergibt sich: daß sie über
die Gegensätze hinweg in den allgemeinen Standesfragen gemeinsam dennoch
zusammengehen müssen.
Die vorliegende Schrift gibt eine Darktällung der Zusammenschlußbestrebungen
der deutschen Privatbankers im letzten Jahrzehnt und ist bestimmt. diesen Bestre-
bungen überdie Krise hinwegzuhelfen, in welche dieselben durch das Rundschreiben
` des Vorsitzenden der Mitteldeutschen Vereinigung der Privatbankers, das sich gegen
den Zentralverband der deutschen Privatbankers und -Banken wandte, gebracht
wurde. Es ist hier nicht der Raum, die einzelnen Phasen dieser Entwicklung zu ver-
folgen. Über die Bedeutung des Provinzbankers für die Entwicklung der deutschen
Volkswirtschaft braucht kein Wort gesagt zu werden. War doch derselbe inı
Gegensatz zu den heutigen Großbanken vielfach geradezu in den Boden ver-
wachsen, an welchem er als treuer Konsulent seiner Kunden arbeitet. Ander-
seits ist die Tatsache, daß der einzelne Privatbanker den Kapitalserfordernissen
der heutigen Großunternehmungen nicht gerecht werden kann, eine fraglose.
Inwieweit wirtschaftliche Zusammenschlußbestrebungen in dem Sinne, in
dem sie die vorliegende Schrift will, dem abhelfen können, darüber läßt sich
heute noch kein Urteil gewinnen. Die französischen Versuche dieser Richtung
sind bekanntlich von keinem geringen Erfolge begleitet gewesen. Die Stärke
des Privatbankers liegt in seinen hervorgehobenen engeren Heimatbeziehungen,
und es ist daher fraglich. ob er darüber hinaus im Bankerverbande auch seinem
territorialen Tätigkeitskreis mehr oder minder weit entlegene Aktionen in sein
Tätigkeitsgebiet einzubeziehen imstande scin wird. Sollten diese Bestrebungen
aber, welchen die vorliegende Schrift von Dr. A. Koch warm und in einer vor-
züglichen Darstellung das Wort redet, doch in irgendeiner Weise Erfolg haben,
würde dieser Erfolg unzweifelhaft nicht nur ein Erfo'g der deutschen Privat-
bankers, sondern ein Erfolg der gesamten deutschen Volkswirtschaft sein.
Wien. Oskar Zaglits.
Dr. Herbert Studders, Das Taubesche System der Ziehkinderüber-
wachung in Leipzig: 8°. Stuttgart und Berlin 1919. J. G. Cotta (Beiträge zur
Theorie und Politik der Fürsorge, herausgegeben von Klumker' VIII. und 88 S.
Die vorliegende Schrift gibt eine kurze und äußerst übersichtliche Dar-
stellung der Entwicklung und der Vorteile des Taubeschen Systems der Zieh-
kindererziehung. Es würde hier zu weit führen, die Einzelheiten der wohl durch-
gearbeiteten Schrift zu besprechen. Es kann nur auf allgemeine Ergebnisse
derselben eingegangen werden. Das Schwergewicht der Taubeschen Maßnahmen
liegt in der Ausgestaltung der Berufsvormundschaft zur Generalvormundschaft
einerseits und in der Begünstigung der Familienfürsorge gegenüber der
Statistik und Bevölkerungslehre. | - 169
Anstaltsfürsorge andrerseits. Taube ist dabei aber nicht einseitig geblieben.
sondern hat die notwendige Ergänzung seiner Maßnahmen durch ein Wöchner-
innen- und Kinderheim nicht übersehen. Mit Recht hebt der Verfasser auch
die große Bedeutung der von Taube ausgestalteten persönliche Fürsorge für die
einzelnen’ Pfleglinge hervor. „Das Ziel des Taubeschen Systems ist Herabsetzung
der Sterblichkeit unehelicher Kinder a) durch Überwachung der Pflege, die ihnen
zuteil wird, b) durch Verbesserung der sozialrechtlichen Lage. vor allem durch
Verwirklichung des Unterhaltsanspruches.“ (S. 57.)
Aus den diesbezüglichen Erfolgsstatistiken seien einige Zahlen angeführt:
Die Sterblichkeit der unehelichen Kinder gerechnet auf 100 uneheliche Lebend-
geborenen sank von
In den ersten Kriegsjahren hatte sie sogar noch niedrigere Stände erreicht.
1916 zum Beispiel 16°46. „Auch die Sterblichkeit der unehelichen Kleinkinder
zeigt eine relative und absolute Abnahme.“ (S. 58.) Die Unterhaltssummen, die
für uneheliche Kinder gezahlt wurden, stiegen von 158.000 Mark im Jahre 1094
auf 505.000 Mark im Jahre 1917.
Das Buch ist 1919 erschienen und gibt daher leider noch keinen Rückblick
über die Entwicklung in der Nachkriegszeit. Gerade diese stellt ja wie auf allen
Gebieten, so auch insbesondere auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge für die
unehelichen Kinder neue Aufgaben von ungeahnter Größe. Und wenn dieses
Arbeitsgebiet in der Vorkriegszeit von der Allgemeinheit vielleicht noch nicht
hinreichend gewertet wurde, so wirkt jetzt ein Lebenswerk wie das Taubes mit
seinem verzweigten Geäder an Fürsorgemaßnahmen für die schwere Zeit des
Aufbaues umso segensreicher.
Wien. | Carla Zaglits.
III. Statistik und Bevölkerungslehre.
André Liesse,. La statistique. Ses difficultés — ses procédés — ses
résultats. Troisième édition revue. 1919,8°, Paris, Librairie Felix Alean, VIII.
192 S.
Es ist nur wenigen Statistikern gegeben, ihr abstraktes Wissenseebiet. in
einer gefälligen, leicht verständlichen Form darzustellen. Ein solcher Verfasssr
ist A.Liesse, dessen in dritter Auflage vorliegender Grundriß der statistischen
Technik und reinen Methodik einen liebenswürdigen und angenehmen L’sestoff
bildet. Der Verfasser geht, wie er an mehreren Stellen des Büchleins versichert,
nur darauf aus, den unerfahrenen Leser auf die Klippen der Statistik aufmerksanı
zu machen und seireı kritischen Sinn gegenüber den Tücken der Zahlen zu
‚wecken. Dieses: Ziel erreicht er an der Hand einer..großen Reihe praktischer
Beispiele, an denen die Schwierigkeiten der statistischen Theorie beleuchtet
werden, ohne daß sich der Leser bei der eleganten Art, mit der ihm der Verfasser
166 Einzelbesprechungen.
über die Klüfte Brücken baut, so recht der Abgründe bewußt würde, übtr cic
er binweggeführt wird. Es taucht die Frage auf, ob eine solche Führung nicht
den Leser nur darüber belehrt, wie man es nicht macht, und darüber im Un-
klaren läßt, wie man es macht. Wirglauben, daß die gegebene Anleitung bei
allen Lesern das richtige Gesamtbild von der Statistik und ihren Fahrlichkeiten,
aber nur bei einem Teile auch ein wirkliches Können in .den in der ersten Hälfte
des Buches dargestellten grundlegenden Verfahrensarten herbeiführen wird.
Dazu wäre wohl cine schärfere*Gliede rung des Ganzen und eine anspruchsvellere
Anspannung der Kräfte des Lesers im einzelnen notwendig. Allerdings müßte
dabei die Leichtigkeit der Darstellung und die cbenamürdige Eigenart des
Werkchens le‘dcn.
In seinem zweiten Tcile, der sich mit der chen Ursach nforzchung
und den wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und W‘ederholungsrege lmaBig-
k- iten befaßt, wächst de Arbeit in das eigentliche Gebiet des Verfassers, in die
Wirtschaftsstatist'k, hine'n. H’er werden wit Me’sterschaft die Messungsm: the den
der wirtschaftlichen Konjunktur, die Priit- und anderen Indizes, die Forschungen
Paretos und anderer über die E‘nkommcnsverteilung und ähnliches bı Fardelt.
Der volkswirtschaftlich e’ngestellte Leser wird aus dicscm Teile den größten
Nutzen zieben.
Anhangsweise wird die Anwendung der Statistik in einigen privaten Unter-
w hmungen behandelt: die Statistik der Banken und Kreditinstitute, die der
Eisenbalinen und die Sterbetafeln der Versicherungsgesell chaften. Wir wellen
diese Drangabe in Erinnerung der schönen vorausgegangenen Kapitel gerne
mitnehmen, obzwar die Auswahl gecade dieser Gebiete der angewandten Statistik
sich nicht aus einem Systeme, sondern offenbar nur aus der Vorliebe des Ver-
assers erklären läßt.
Wien. | Wilhelm Winkler.
Ergebnisse der außerordentlichen Volkszählung vom 31. Jänner 1920. Alter
und Familienstand, Wohnparteien (Beiträge zur Statistik der Republik
Österreich, Heft 6). Bearbeitet und herausgegeben von der Statistischen Zentral-
kommission. 8°. Wien 1921. Druck und Verlag der österreichischen Staats-
druckerei. 35* und 54 S. und eine zeichnerische Beilage.
Eines der bemerkenswertesten, aber auch traurigsten Beiträge zur Kıiegs-
statistik bietet der Altersaufbau und die Geschlechtergliederung der öster-
reichischen Bevölkerung nach dem Kriege. Die Verstümmelung, die der Volks-
körper erlitten hat, wird am augenfälligsten aus einer Zeichnung klar, die dieser
neuen Veröffentlichung der Statistischen Zentralkommission beigegebcn ist.
In der Zeichnung kommen hauptsächlich zwei Kriegswirkungen, der Männer-
ausfall im wehrfähigen Alter und der Kriegsgeburtenausfall, deutlich
zum Ausdrucke. Der Ausfall an wehrfähigen Männern erzeugt auf der Männer-
seite einen erheblichen Einschnitt, etwa vom 18. bis zum 45. Lebensjahre. Die
Wirkung dieses Ausfalles würde noch schärfer hervortreten, wenn, etwa ge-
strichelt, der jeweilige Überschuß des einen über das andere Geschlecht in die
Statistik und Beovölkerungslehre. 161
Zeichnung mit aufgenommen wäre. Der Kriegsgeburtenausfall stellt sich als
tiefe beiderseitige Einkerbung der Alterspyramide dar, die für die Kinder im
vollendeten zweiten Jahre ihre schärfste Ausprägung erfährt. Der Verfasser
schätzt nach der Gestalt der Alterspyramide den Ausfall an wehrfähigen Männern
auf 165.000, den Geburtenausfall auf mindestens 240.000.
Die erhöhte allgemeine Kriegssterblichkeit kann im Altersaufbau
nicht deutlich genug zum Vorschein kommen, da diese Art von Kriegsverlusten
alle Altersstufen, wenn auch nicht in gleichem Maße, betroffen hat. Eine weitere
bemerkenswerte Erscheinung an der Alterspyramide, die allerdings nicht aus
der Kriegszeit sondern schon aus der Vorkriegszeit stammt, ist die vom vell-
endeten 17. Lebensjahre abwärts auftretende, folgeweize geringere Besetzung
der Altersstufen (während in einer natürlich fortschreitenden Bevölkerung
die jeweils niederen Alterstufen stärker besetzt sind, daher ,.Alterspyramide‘).
Dieser Erscheinung wird der Bevölkerungspolitiker besonderen Anteil schenken.
Sie geht auf den bei uns seit Jahren wirkenden, auch schon absoluten
(reburtenrückgang zurück. (Der relative, das ist der der Geburtenziffer, reicht
bis in den Beginn der 70er Jahre). Während also der obere Teil des Alters-
aufbaues, der aus früheren Zeiten stammt, noch eine richtige Alterspyramide
ist, zeigt der untere Teil bereits eine starke Richtung nach dem französischen
Altersaufbau bin. Diese Erscheinung ist noch beach tenswerter als die viel auf-
fallenderen Kriegsfolgen. Denn während diese einer einmaligen, von außen
kommenden Einwirkung entstammen, entspringt jene dem Volkskörper davernd
innewohnenden, inneren Ursachen.
Das Geschlechterverhältnis im heiratsfähigen Alter (das heißt nach dem
Bearbeiter im Alter von über 14 Jahren) stellt sich wie 2,188.620 Männer zu
2,453.634 Frauen ; auf 1000 Männer entfallen somit 1121 Frauen. In Beschränkung
auf dieunverheirateten Personen von über 14 Jahren verschlechtert sich das
(zeschlechterverhältnis zu 1212 Frauen auf 1000 Männer im Durchschnitte
Österreichs (oder jede fünfte Frau ohne Mann), in Orten über 2000 Einwohner
im Durchschnitte gar zu 1337 Frauen (oder fast jede vierte Frau ohne Mann), in
Wien zu 1412 Frauen (oder jede dritte Frau ohne Mann). Man könnte geneigt
sein, diese Zahlen als genaue Ausdrücke der Heiratsaussichten der Mädchen
aufzufassen. In Wirklichkeit weichen sie von solchen in doppelter Beziehung
ab: sie enthalten auch die ganz hohen Alter, die für das Heiraten praktisch
kaum noch in Frage kommen und in denen das weibliche Geschlecht infolge
der geringeren Sterblichkeit der Frauen überwiegt; es kommt damit eine Ver-
schiebung des wahren Verhältnisses zuungunsten der Heiratsaussichten der
Frauen zustande. Andererseits ist es nicht richtig, eine gleiche untere Alters-
grenze für beide Geschlechter zu zieten, da das weibliche Geschlecht bekanntlich
früher zum Heirateu kommt als das männliche. In einer richtigen Alterspyramide,
das heißt bei einer Bevölkerung, die aus fortschreitend zunehmenden Geburts-
jahrgängen stammt, hätte das infolge stärkerer Besetzung der jeweils jüngeren
Jahrgänge eine Verschlechterung der Heiratsaussichten der Frauen bedeut.t.
In dem besonderen Falle der österreichischen Alterspyramide mit nach abwärt:
168 | Einzelbesprechungen.
abnekmenden Altersbesetzungen dürfte aber das Gegenteil zutreffen, woraus
man in Verbindung mit dem anderen Einwande annähernd folgern könnte,
daB es mit den Heiratsaussichten der Mädchen nicht ganz so schlimm stechen
dürfte, als es nach den obigen Zahlen aussieht. Eine richtigere Berechnung
der Heiratsaussichten ergäbe sich durch Heranziehung derjenigen Jahre, in
denen die Heiratswahrscheintichkeit nicht unter eine gewisse Grenze sinkt.
Auch für die Frage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist die ın Öster-
reich erhobene Gliederung der Geschlechter bedeutsam. Während z. B. in
den Vereinigten Staaten von Nordamerika nach dem Zensus von 1910 im Alter
von 20—60 Jahren auf 100 Männer 91 Frauen entfielen, kamen in Österreich
im gleichen Alter auf 100 Männer 109 Frauen. Die gleiche Menschenzahl ist
also schon nach der Geschlechterverteilung in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika bedeutend leistungsfähiger als in Österreich. Dabei sind vorerst
nur die eigentlichen Totenverluste, nicht die zahlreichen sonstigen Einbufen
an Arbeitsfähigkeit durch Kriegsinvalidität, Erschütterung der Gesundheit
usw. betrachtet.
Wien. Wilhelm Winkler.
Mitteilungen der American Relief Administration, Redigiert von Regierungs-
rat Friedrich Reischl. Bd. I Mitteilungen des Generalkommissariats der ameri-
kanischen Kinderhilfsaktion. Bd. II. Die amerikanische Kinderhilfsakticn in
Wien. Bd. IIL Die amerikanische Kinderhilfsaktion in den Ländern Österreichs.
Wien 1921. Im Selbstverlage der A. R. \.
Die Birger der Vereinigten Staaten von Nordamerika haben an der be-
drängten Bevölkerung Österreichs ein großartiges, warmherziges Liebeswerk
unternommen, dessen Verdienst auch dadurch nicht geschmälert wird, daß das
offizielle Amerika beim Zustandekommen des Friedensvertrages von St. Germain
beteiligt war, durch dessen unerhört harte Bedingungen Österreich erst in diese
Notlage gebracht worden ist. In den vor kurzem erschienenen „Mitteilungen
der Amercan Relief Administration“ ziehen nun die Einzelheiten dieser menschen-
freundlichen Tat an dem Loser in eindrucksvollen Bildern vorüber.
An das Liebeswerk ist der unsterbliche Name Herbert Hoovers geknüpit,
als dessen Sachwalter für Österreich Prof. Dr. Pirquet wirkt, der durch Bei-
stellung der wissenschaftlichen Grundlagen für die Unternehmung zu ihren
Gelingen wesentlich beigetragen hat.
Die Liebestätigkeit der Amerikaner ist gekennzeichnet durch die Schlag-
wort>: Kinderausspeisungen in ganz Österreich, Dollarpaketaktion und für aus-
gelesene Bevélkerungsmassen: Studentenhilfe und Professorentische. Es sind
das nur wenig Worte, aber sie haben für die Beteiligten einen einprägsamen,
unvergeBlichen Klang.
Außer dem allgemein bemerkenswerten Inhalt über das: Werden, den Gang
und den Erfolg dieser verschiedenen Unternehmungen wird der wissenschaftlich
eingestellte Laser einen besonderen Anteil an den statistischen Ergebnissen de
wiederholten Durehmessungen der österreichischen Jugend nehmen. Die Mes
Statistik und Bevölkerungslehre. 169
sungen erfoigten nach einem von Prof. Pirquet ersonnenen Verfahren, dersen
Einzelheiten hier übergangen werden mögen. Bei der zweiten Untersuchung,
November 1920 bis Jänner 1921, wurden festgestellt (Bd. III, 8. 6tf):
In Österreich = In Niederöster- :
überhaupt In Wien reich-Land In Salzburg
Grund- Grund- Grun- Grund-
zahlen v. yahlen vH zahlen vH zahlen vH:
Sehr unterernährte
Schulkinder .... 90.121 215 33.066 228 14.079 Lod TRE 29-2
Schlecht ernährte
Schulkinder .... 226.856 542 81.287 561 40.784 518 10.419 528
Gut und sehr gut er-
nährte Schulkinder 101.435 243 30.594 21:1 29.666 327 3576 180
Summe... 418.412 100-0 144.947 100-0 90.529 1000 19.783 1600
Die Durchsehnittszahlen für Österreich sind ungünstig genug; nur 14 der
Kinder ist gut ernährt, 34 sind schlecht ernährt, über '/, sogar sehr unterernährt.
Trotzdem in diesen Zahlen schon eine Besserung infolge der Kinderhilfstätiekeit
zum Vorschein tritt, geben sie noch reichlich Anlaß zu Besorenissen für die
weitere körperliche Entwicklung der österreichischen Jugend. Wien steht etwas
unter dem Roeichsdurchschnitte, Niederösterreich Land ziemlich darüber, Salz-
burg darunter. Über dem Reichsdurchschnitt stehen ferner noch Oberösterreich
und Tirol, unter ihm Steiermark, Kärnten und Vorarlberg, und zwar alle drei
noch unter Wien (wie auch die Städte Salzburg und Klagenfurt weitaus un-
günstigere Ernährungsverhältnisse der Schulkinder aufweisen als Wien).
Soviel nur als eine kleine Probe aus der großen Fülle des dargebotenen
Materials. Es mag nicht unerwähnt bleiben, daß die zahlreichen interessanten
statistischen Tabellen und Diagramme mit sauberen statistischem Geschick
durchgeführt sind und immer in einer klaren, übersichtlichen Darstellung una
in leichtfaBlicher Besprechung geboten werden. Auch ein gelegentlicher Aus-
flug in die statistische Theorie (Bd. II, S. 28) ist recht hübsch und zeugt von
sicherem statistischem Gefühl.
So bieten die drei Bände der „Mitteilungen“ einen vielfältigen und
anziehenden Lesestoff, dessen Wirkung noch durch reichen Bilderschmuck und
vornehme Ausstattung gehoben wird. Das darin enthaltene Zahlenmaterial aber
bildet nicht nur den Ausgangspunkt für die daran geknüpfte Belehrung,
es ist auch eine wertvolle Fundgrube für weitergehende sozialhyginische, anthro-
pologische und statistische Studien.
Wien. Wilhelm Winkler.
Der Kampf um den Weltmarkt. tiandelsstaiistisches Material. Heraus-
gegeben vom Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität
Kiel. Bearbeitet von Dr. Paul Hermberg, Leiter der statistischen Abteiiine
des Instituts. 8°. Jena 1920. Gustav Fischer XII und 135 S.
Die statistische Abteilung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und Sce-
verkehr bringt in der vorliegenden Schrift eine knappe und übersichtliche Zu-
Zeitschrift tar Volkswirtschaft und Sozialpolitik. Nene Folge. 1. Bend. ty]
110 Einzelbesprechungen.
sammenstellung der Außenhandelsziffern der wichtigsten Welthandelsstaaten:
Deutschland, England, Amerika und Frankreich, welchen für den Osten auch
die Ziffern für Japan beigefügt sind. Das Material konnte zufolge der Verschieden-
heiten in den Methoden der Handelsstatistiken in den einzelnen Ländern nur mit
Schwierigkeiten zusammengestellt werden; dem Leser helfen methodologische
Anmerkungen über dieselben hinweg.
Das Werk gliedert sich in zwei Teile und einen Anhang. Der erste Teil gibt
die Verteilung des Handels der erwähnten Hauptstaaten auf die wichtigsten
Länder der Erde in sechs Tabellen, der zweite Teile in fünf Tabellen für die
einzelnen Länder den Anteil jener Staaten an ihrem Außenhandel. Der Haupt-
wert dieses Werkes liegt unseres Erachtens darin, daß es im Anschlusse an frühere
Publikationen des Kieler Institutes die wirtschaftlichen Ursachen des Welt-
krieges beleuchtet. Einen Maßstab für die künftige Entwicklung können ja die
Ziffern dieser Publikation nur in geringem Umfange geben. Denn der Weltkrieg
ist nicht nur auf die politische Landkarte, sondern auch auf die Gestaltung der
Erzeugung und der Handelswege von umstürzendem Einfluß gewesen. Ja, das
Endziel der Entwicklung ist noch nicht abzusehen, so lange noch so vielen Staaten,
sei es das wirtschaftliche, sei es das politische Gleichgewicht fehlt. Das Verdienst
der vorliegenden Schrift soll indes durch diese Bemerkungen nicht verkleinert.
werden. Ihnen liegt vielmehr der Wunsch zugrunde, daß den kriegswirtschaftlichen
Untersuchungen des Kieler Institutes solche über die Entwicklung der Nach-
kriegszeit folgen mögen.
Wien. Oskar Zaglits.
IV. Geschichte, Rechtswissenschaft, Philosophie und
andere Hilfswissenschaften.
Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.
Taschenausgaben der ‚Philosophischen Bibliothek“. Heft II. Gr.-8°. Leipzig v. J.
Felix Meiner. 176 S.
W. v. Humboldt, Über die Aufgaben des Geschichtsschreibers.
Betrachtungen über die bewegenden Ursachen der Weltgeschichte. Latium und
Hellas. Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek, Heft III. Gr.-8°. Leipzig
v. J. Felix Meiner. 134 S.
Hegel, Der Staat. Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek,
Heft XII. Gr.-8°. Leipzig v. J. Felix Meiner. 279 S.
Die angeführten Bändchen sind gute und billige Auswahlen aus den zu-
gehörigen Bänden der „Philosophischen Bibliothek.“ Der Band Herder aus
„Herders Philosophie’ (herausgegeben von Horst Stephan), der Band Humboldt
aus ,,H.s ausgewählte philosophische Schriften“ (herausgegeben von J.
v. Schubert), der Band Hegel, aus Hegels Rechtsphilosophie (herausgegeben
von G. Lasson). Der Vorzug der Bandchen, die ursprünglich „Feldausgaben“
waren, liegt außer in ihrer Billigkeit und Handlichkeit auch darin, daß durch
knappe aber gute Auswahl das Wesentlichste herausgegriffen wird. Spann.
Gesebichte, Rechtswissenschaft, Philosophie und andere Hilfswissenschaften. 771
Prof. Dr. K. Dove, Allgemeine Wirtschaftsgeographie. Sammlung
(söschen, Berlin-Leipzig, 1921. Vereinigung der wissenschaftlichen Verleger Walter
de Gruyter & Co. 86S.
Der Verfasser gibt eine sehr knapp gehaltene, in drei Teile geteilte Über-
sicht über die geographischen Grundlagen des Wirtschaftslebens auf der ganzen
Erde. Der erste Teil betrifft die (sütererzeugung und behandelt die Mineralien,
Rohstoffe und Lebensmittel und die tierischen Erzeugnisse. Zuerst werden
die Mineralien und Tiergattungen nach ihrem Vorkommen, dann aber die
Wirtschaftsprovinzen in bezug auf ihre pflanzlichen Erzeugnisse behandelt. Im
zweiten Teile über die Handelsgeographie wird von den durch die geographischen
Grundlagen gegebenen Handelsverhältnissen, von den weiteren Möglichkeiten, im
dritten endlich von der Bedeutung der Naturkräfte gesprochen.
Die gut lesbare und gehaltvolle Schrift ist wohl allzu kurz geraten und
genügt kaum noch als erste Einführung. Einige Kartenskizzen hätten Ergänzungen
und Illustrationen bringen können. Der Hauptmangel ist aber das Fehlen von
Literaturangaben, die für ein weiteres Eindringen in den Stoff als Wegweiser
dienen könnten.
Wien. Theodor Mayer.
Einlauf von Büchern
und periodischen Veröffentlichungen.
A. Bücher.
I. Enzyklopädien, Dogmengeschichte, Soziologie,
theoretische Volkswirtschaftslehre.
Amonn, Alfred, Die Hauptprobleme der Sozialisierung. (Wissenschaft
und Bildung. Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens. 159.) Leipzig 1920.
Quelle & Mever. 111 8.
Böhm-Bawerk, Eugen von, Kapital und Kapitalzins. Vierte, unveränderte
Auflage. Mit einem Geleitwort von Prot. Dr. Friedrich Wieser, Wien. Jena 1921.
Gustav Fischer. Erste Abteilung. Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien.
XXVI und 546 S. M 60°—-br., M 72°— geb. Zweite Abteilung. Positive Theorie des
Kapitales. 1. Bd. (Buch I-IV) X XXIV und 485 8. M 48 — br., M 60° — geb. Zweite
Abteilung. Positive Theorie des Kapitales. 11. Bd. (Exkurse) VIII und 350 8. M 35 —
br., M 46° — geb.
Braun, Dr. Heinr., Lohnpolitik. M. Gladbach 1921. Volksvereins-V erlag 328
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Degenfeld-Sehonburg, Ferdinand Graf v., Die Motive des volkswirtschaft-
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(Paul Siebeck). AIT und 232 5. Geh. M 20 — und 100%, Zuschlag.
Engländer. Oskar, Bestimmuneseründe des Preises. Reichenberg 1921.
Gebrüder Stiepel, G. m. b. H. 300 S. K 52° —
Gide Charles und Rist Charles, Geschichte der volkswirtschaftlichen
Lehrmeinungen. 2. Aufl. nach der dritten französisehen Ausgabe, herausgegeben
von Franz Oppenheimer. Deutseh von R. W. Horn. Jena 1921. Gustav Fischer.
XX und S04 S. Geh. M 74’ —, geb. M St —
Goetschel, Edm., Gut, Geld und Kapital Ein Beitrag zur Bohm-Bawerk-
schen Theorie. Bern 1921. Paul Haupt. 156 S. M 10 —
Grundriß der Sozialökonomik. Tübingen 1121. J. C. B. Mohr. Abteilung III.
Lieferung 2. (Bogen 13—23 und Zwischentitel.) Max Weber: Wirtschaft und Gesell-
schaft. M 30 —.
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 4. Aufl. Herausgegeben von L. Elster,
Ad. Weber, Fr. Wieser. Lex. 8°. Jena. Gustav Fischer. Preis einer Lieferung M 15° —.
1. Lieferung: Abbau - Aktiengesellschaften. S. 1—96. 2. Lieferung: Aktiengesell-
schaften. X. 97 — 192. 3. Lieferung: Haftplicht — Ilandelspolitik. S. 1—96. 4. Lieferung:
Aktiengesellschaften — Anarchismus. S. 193 — 288,
Heinen, A., Sozialismus und Solidarismus. M.-Gladbach 1921. Volks-
vereins-Verlag. 68 5. M 3°—.
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Herkner, Heinrieh, Die Arbeiterfrage Eine Einführung. 7., erweiterte
und umgearbeitete Aufl. Berlin und Leipzig 1921. Vereinigung wissenschaftlicher
Verleger. Walter de Gruyter & Co. 1. Bd.: Arbeiterfrage und Sozialreform. XVI und
5848. M 45°—. IL Bde: Soziale Theorien und Parteien. NIV und 6248. M 45° -—.
- Einlauf von Büchern und perisdischen Veröffentlichungen. 113
Kupper, Arnold, Der (irenzertragsausgleich bei Robert Liefmann und
sein Zusammenhang mit der Grenznutzentheorie. Ein Versuch der Tiefer-
gründung und Zusammenfügung der in ihren Wert- und Nutzenlehren von H. H. Gossen,
W. St. Jevons, C. Menger, L. Walras und R. Liefmann gelieferten Bausteine zu einer
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Versuch einer Begründung des Identititsprinzips der Wirtschaftstheorie. Jena 1921.
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1920. Herder & Co., G. m. b. H. Berlin, Karlsruhe, Köln, München, Wien. ATV und
7378. M60°— br., M 75°— geb. und Zuschläge.
Spann, Othmar, Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre. 8. Aufl.
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Spann, Othmar, Fundament der Volkswirtschaftslehre. 2. durchgesehenc
Aufl,. vermehrt durch einen Anhang „Vom Geist der Volkswirtschaftslehre’. Gr 8°,
Jena 1921. Gustav Fischer. XXI und 372 S.
Spann, Othmar, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau
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17 Textfiguren.) Dresden und Leipzig 1921. Verlag von Theodor Steinkopf. VI und
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B. Periodische Veröffentlichungen.
Arbeitsrecht. Zeitschrift für das gesamte Dienstrecht der Arbeiter, Angestellten
und Beamten. Herausgegeben von Dr. Heinz Potthoff, München. Sonderheft für
ar eo . .. . . v = . ¥
116 Einlauf von Büchern und periodischen Vcréffentlichungen.
Rätefragen. (Betriebsräte, Arbeiterräte, Gilden, Wirtschaftsräte.) Stuttgart, Juli 1921.
Verlag von J. Hess. Jahrg. VIII. Heft 5.
Dr. Heinz Potthoff, München: Art. 165 R. V. — Drei Arten von Räten. —
Wirtschaftsräte und Arbeitsverwaltung. — Organisationspläne. — Aufgaben. — Der
ökonomische Imperativ. — Dr. Waldmann, München: Beamtenräte oder Beamten-
kammern? — Oswald Riedel, M. d. L. Berlin: Das Schicksal der Beamtenräte. —
Dr. Arthur Herzfeld Berlin: Die Kommanditgesellschaft auf Arbeit. — Dr. Karl
Renner, M. d. R. Wien: Der Gildensozialismus in England. — Dr. Albert Südekum,
Sakrow: Von Kapital- und Gewinnbeteiligung zur Produktionsleitung. — Dr. Heinz
Potthoff, München: Verlagsmäßige Heimwerker. — Hans Wagner, München: Auf
und Ausbau der siidbayrischen Betriebsräte-Organisation. — Dr. Heinz Potthoff,
München: Vom künftigen Arbeitsgesetzbuche. — Das deutsche Arbeitsgesetzbuch. —
Sprachliches. — Einheit mit Annexen. — Berufsrecht. — Dr. Schmaltz, Hamburg:
Tarifverhandlungskosten. — Vorübergehende Beschäftigung.
Bank-Archiv. Zeitschrift für Bank- und Börsenwesen. Herausgegeben von Geh.
Justizrat Prof. Dr. Riesser, Berlin. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter
de Gruyter & Co., Berlin. XX. Jahrg. Nr. 22. 15. August 1921.
Dr. Max von Schinckel: Die dem Goldwerte entsprechende Zwangshvpothek
— wirtschaftlicher Selbstmord. — Dr. Richard Kerschagl: Die Entwicklung des
Geldes als Zahlungsmittel im Staat. (Gedanken zu einer theoretischen Untersuchung
‚über die Natur der Banknote.) — Polster: Die Eintragung mehrerer Sicherungs-
hypotheken für denselben Forderungskreis.
XX. Jahrgang, Nr. 23, 1. September 1921. Oscar Wassermann: Irrwege der
Steuerpolitik. — Dr. F. Kretschmar: Bestellung von Einzelnhypotheken für Teil-
beträge einer Forderung. — Dr. Johann Matthias Bansa: Frankfurter Bankier-
gewerbe im 18. Jahrhundert. — Dr. Alfred Baum: Bargeldlose Zahlung von Beamten-
gehältern. Erfordert die Gewährung von Bezugsrechten einen (reneralversammlungs-
beschluß? (Eine kurze Entgegnung.)
XX. Jahrgang, Nr. 24, 16. September 1921. A. Moser: Der Haussetaumel an
den deutschen Börsen. — Leopold Merzbach: Zur Birsenlage. — Dr. Fritz Haub-
mann: Der „gemeine Wert“ des industriellen Anlagekapitals. -- Dr. K. Kromer:
Die Vollmacht, welche sich über den Tod des Vollmachtgebers hinaus erstreckt. —
Dr. Hans Bernicken: Die Zulässigkeit der Delegation von Generalversammlungs-
befugnissen an Vorstand und Aufsichtsrat in Kapitalerhöhungsangelegenheiten. (Zu
§ 278 H. G. B.)
XXI. Jahrgang, Nr. 1, 1. Oktober 1921. Dr. O. Schwarz: Antizipation von
Stenern. — Dr. Polster: Die Mobiliarhypothek. -- Dr. Heinrich Veit Simon: Bericht
über die Verhandlungen der 3. Abteilung des 32. Juristentages. — Dr. Rinteln: Die
Ausführungsbestimmungen zum Kapitalertragssteuergesetz. — Dr. Koeppel: Die
steuerliche Behandlung der deutschen in den auf Grund des Friedensvertrages aus
dem Deutschen Reiche ausgeschiedenen Gebieten und im Saargebiet. — Dr. Raaz
und Düring: Die Eintragung mehrerer Sicherungshvpotheken für denselben Forde-
rungskKreis.
XXI. Jahrgang, Nr 2, 15. Oktober 1921. Dr. Paul Oertmann: Wieweit besteht
eine Pilicht der Bankangestellten zur Leistung von Überstunden? — Dr. Berthold
Breslauer: Die deutschen Schutzgebietsanleihen und der Friedensvertrag. — Polster:
Die Eintragung mehrerer grundbücherlicher Sicherheiten für Ansprüche aus laufender
Rechnung. — W. Rinteln: Die Abschreibungen für Mehrkosten nach § 59 a des
Reichseinkommensteuer-Gesetzes. — Dr. Koeppel: Die steuerfreie Erneuerungs-
rücklage der Einzelpersonen, offenen Handelsgesellschaften und Kommanditgesell-
schaften.
XXI. Jahrgang, Nr. 3, 1. November 1921. Dr. Sontag: Das Genfer Diktat
über Oberschlesien. — Dr. Stubben: Die Notwendigkeit der Aufhebung des Depot-
zwanges für inländische festverzinsliche Wertpapiere. — Polster: Die Eintragung
mehrerer grundbücherlicher Sicherheiten für Ansprüche aus laufender Rechnung.
~]
-l
=]
Einlaut von Büchern und periodischen Veröffentlichungen.
(Fortsetzung) — H. Seyffert: Die Übernahme von Kapitalerhöhungskosten und
die Zahlung von Stückzinsen durch die Aktienzeichner unterliegt nicht der Abgabe
aus Tariinummer 1 A a des Reichsstempelgesetzes. (Eine neue Entscheidung des
Reichsfinanzhofes. )
XXI. Jahrgang. Nr. 4, 15. November 1921. Dr. Stübben: Ungesunde Er-
scheinungen im öffentlichen Bankwesen. — Güssefeld: Der Depotzwang und der
deutsche Grundkredit. — Dr. G. Sachau: Die Berliner Devisenabrechnungsstelle. —
Dr. Max Jacusiel: Meta-Verbindungen im Bankgewerbe. Zum Entwurf eines Kapital-
verkehrssteuergesetzes. Ausübung der Steueraufsicht in Umsatzsteuersachen.
Beiträge zur Statistik Deutschösterreiehs. Herausgegeben von der Statistischen
Zentralkommission. Wien. Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei.
1. Heft. Wien 1919. Die Wahlen für die konstituierende Nationalversammlung.
1. Vorläufige statistische Ergebnisse. 57 S. A 3 —.
2. Heft. Wien 1920. Die Wahlen für die konstituierende Nationalversammlung.
2. Statistische Ergebnisse in zergliederter Darstellung. 59 8. A ©&—.
3. Heft. Wien 1920. Statistik der Landtagswahlen im Jahre 1919. 475. K 3 —.
4. Heft. Wien 1920. Gegeniiberstellung der Wahlergebnisse für die konstituierende
Nationalversammlung und die Landtage 1919 nach Gemeinden. 1788. K 18. —.
5. Heft. Wien 1920. Vorläufige Ergebnisse der außerordentlichen Volkszählung
vom 31. Jänner 1920 nebst Gemeindeverzeichnis. 136 S. K 20.—.
6. Heft. Wien 1921. Ergebnisse der außerordentlichen Volkszählung vom
31. Jänner 1920. Alter und Familienstand. Wohnparteien. 54 S. K 150°—.
q. Heft. Wien 1921. Ergebnisse der außerordentlichen Volkszählung vom
31. Jänner 1920. Endgiiltige Ergebnisse samt Nachtragszählungen. Anhang: Berufs-
und Arbeitslosigkeit. 52 8. K 180° —.
9. Heft. Wien 1921. Beiträge zur Arbeitsstatistik. Die kollektiven Arbeitsverträge
in den Jahren 1917 und 1918. Die Arbeitseinstellungen in den Jahren 1917 und 1918,
Die Arbeitsvermittlung in den Jahren 1918 und 1919. 84 S. K 25 —.
10. Heft. Wien 1921. Statistik der Nationalratswahlen des Jahres 1920. 1. Haupt-
ergebnisse. ‘48 5.
11. Heft. Wien 1921. Statistik der Nationalratswahlen des Jahres 1920. 2. Zer-
gliederte Darstellung. 58 S.
Berichte aus den neuen Staaten. Verband österreichischer Banken und Bankiers.
Wien, L, Rockhgasse 4.
4. Jahrgang. 8. August 1921. Nr. 91 bis 03. Dr. Äkos Vajda: Die bolschewistische
Wirtschaft und deren Abwicklung in Ungarn.
4. Jahrgang. 13. August 1921. Nr. 94 bis 96. Dr. Richard Kerschagl: Das
Gesetz über die Vermögensablösung von ungarischen Staatsschuldentitres.
4. Jahrgang. 20. August 1921. Nr. 97 bis 99. Dr. Ewald Pribram: Über die
finanzielle Lage des Kohlenbergbaues in der Tschecho-Slowakei.
4. Jahrgang. 27. August 1921. Nr. 100 bis 102. Dr. Karl Wahle: Die Kon-
vertierung der Kronenwährung im italienischen Teile Dalmatiens.
4. Jahrgang. 3. September 1921. Nr. 108 bis 105. Dr. Franz Oswald: Die neuen
Bestimmungen über die Entrichtung der Steuern in der Vschecho-Slowakei.
4. Jahrgang. 10. September 1921. Nr. 106 bis 108. Messeheft.
4. Jahrgang. 19. September 1921. Nr. 109 bis 111. Dr. A. R. (Warschau): Die
pelnische Eftektenumsatzsteuer.
4. Jahrgang. 27. September 1921. Nr. 112 bis 114. Dr. Franz Oswald: Die
Dienstvertragsgebühren in der Tschecho-Slowakei.
4. Jahrgang. 3. Oktober 1921. N. 116 bis 117. Die Gesetzgebung Polens betreffend
Gebühren und verwandte (iefällszweige.
4. Jahrgang. 10. Oktober 1921. Nr. 118 bis 120. Dr. Alexander Schönberg:
Die Vollzugsanweisung zum I. Gesetz über die Vermögensablösung in Ungarn.
4. Jahrgang. 18. Oktober 1921. Nr. 121 bis 123. Dr. Alexander Schönberg: Die
Vollzugsanweisung zum I. Gesetz über die Vermögensablösung in Ungarn. (Fortsetzung. )
108 Einlauf von Büchern und periodischen Veröffentlichungen.
4. Jahrgang. 25. Oktober 1921. Nr. 124 bis 126. Dr. Karl Uhlig: Die tschecho-
slowakische Kohlenwirtschaft.
4. Jahrgang. 2. November 1921. Nr. 127 bis 129. Dr. Milan Vrbanic: Die Börsen
im Königsreiche der S. H. S.
4. Jahrgang. 9. November 1921. Nr. 130 bis 132. Dr. Milan Vrbanic: Die Börsen
im Königreiche der S. H. S. (Fortsetzung.)
4. Jahrgang. 16. November 1921. Nr. 133 bis 135. Dr. Hugo Fux: Die neue
tschecho-slowakische Bereicherungssteuer.
4. Jahrgang. 24. November 1921. Sondernummer: Tschecho-Slowakischer Staat.
Bollettino di statistiea e di legislazione comparata. 8°. Roma. Tipografia coa-
perativa socialei Anno XVIII. Fascicolo IV. 1917/18 e 1918/19.
Parte I. Statistica. L'andamento delle tasse sugli affari e i provvedimenti
tributari emanati dopo la conclusione dell‘ armistizio di Padova in data 3 novembre 1918.
Parte II. Legislazione italiana, notizie estere. Italia: Provvedimenti
tributari. Austria: Ordinamente dell‘ Amministrazione finanziaria nel Tirolo, nella
Venezia Giulia e in Dalmazia. Belgio: Tassa sugli spettacoli e divertimenti pubblici.
legge 28 febbraio 1920. Tasse sul visto dei passaporti esteri e sulla legalizzazione di
atti; R. Decreto 18 aprile 1920. Instituzione di una Società Nazionale delle abitazioni
e allogi a buon mercato; legge 11 ottobre 1919, disposizioni tributarie. Francia: Legge
di Finanza 31 luglio 1920. Imposta sugli spettacoli; decreto 5 agosto 1920. Tassa sulle
scommesse alla corse; decreto 14 agosto 1920. Tassa sul prodotto dei giuochi nei circoli
e casini; decreto 20 luglio 1920. Tasse di successione e di registro: gli atti registrato
e le denuncie presentate negli anni 1918 e 1919. L‘imposta sulla cifra d'affari: prodotti
del mese di settembre 1920. Il gettito delle imposte e entrate indirette nel mese di
novembre 1920. Il prodotto dei pubblici spettacoli di Parigi nell‘ anno 1919. Rumenia:
Il riordinamento della statistica: la tassa di statistica. Stati Uniti dell‘ America Setten-
trionale: Il Revenue Acte 1918.
Anno XIX. Fascicolo I. 1919/20 e 1920/21.
Parte I. Statistica. Luigi Bodio. Riscossioni dei due primi trimestri e del
primo semestre 1920/21. |
Parte II. Legislazione italiana, notizie estere. Italia: Riparto del-
l’Amministrazione centrale del Registro, del Bollo e delle tasse in due Direzioni Generali.
Provvedimenti tributari. Il registro del commercio: Precedenti storici e legislazione
comparata attuale. Lo sviluppo delle imposte dirette. Belgio: Tasse di successione e
di donazione-Aumento-Legge 16 agosto 1920. Entrate dell‘ esercizio 1920. Francia:
L'ordinamento della Direzione Generale del Registro del Demanio e del Bollo. Prov-
vedimenti tributari emanati in dipendenza della guerra. Spese di giustizia penale:
pagamento e ricupero. Registro, Bollo, ece.: Riscossioni dell’ esercizio 1920. Prodotti
della tassa speziale sui pagamenti e di quella sulla cifra di affari. Penalitä e sopratasse:
condono: estensione della competenza del Direttore generale e dei Direttori diparti-
mentali del Registro. Germania: Entrate degli esercizi finanziarii dal 1913 al 192).
Inghilterra: Entrate degli esercizi dal 1913/14 al 1919 /20. Il progetto di Bilancio per
l‘esercizio 1920,21. Jugoslavia: L‘imposta sulla cifra degli affari. Legge di finanza
26 ottobre 1920 e Regolamento relativo. Stati uniti d‘ Americana: Tasse di successione.
di bollo, sul lusso e varie; aliquote e prodotti dal preguerra in poi.
Economica, issued terminally by the London School of Economics and Political
Science. T. Fisher Unwin Ltd. London.
Nr. 5. October, 1921. Miss Mackenkie: Changes in the Standard of Living.
D. H. Robertson: Economic Incentive. LI. R. Jones: Commodity Maps. B. H.
Headicar: Industrial and Commercial Libraries of the Future. A. R. Burns: The
Indian Currency Report of Dec. 1919 and after. A. F. Spencer: Siberia in 1919.
Miss Miller: Cooperation in Russia. A. L. Bowley: Recent Statistical Publications.
The Economie Journal. The Quarterly Journal of the Royal Economic Society.
Edited by F. Y. Edgeworth and J. M. Keynes. 8°. London. Macmillan and Co., Limited.
New York: The Macmillan Company. ;
Einlauf von Büchern und periodischen Veröffentlichungen. 19
Nr. 122, June 1921. Vol. XXXI. H. J. Howard: The Imperial Bank of India.
Sir Henry Strakosch: The South African Reserve Bank. J. F. Dulles: The Repara-
tion Problem. Leonard Darwin: Population and Civilisation. Prof. A. L. Bowley:
An Index of the Physical Volume of Production.
Nr. 123, September 1921, Vol. XX XI. Prof. Sir William Ashley: The Place of
Rye in the History of English Food. Prof. H. Heaton: The Basic Wage Principle
in Australian Wages Regulation. M. Elsas: The International Purchasing Power of
the German Mark. Sir Josiah Stamp: The Taxable-Capacity of Ireland.
De Economist. Uitgave: De Nederlandsche Boeken Steendrukkerij v./h. H. L.
Smits, ‘s Gravenhage. 70ste Jaargang. Nr. 3. 15 Maart 1921.
Prof. S. Koenen: Economische beschouwingen betreffende het Jacht-en Wild-
schadeprobleem, mede in verband met het ontwerp-Jachtwet. J. Gerritzen: Het
Djambi-ontwerp. E. C. Van Dorp: Overzicht van buitenlandsche tijdschriften.
E. ne Van Dorp: Eeonomisch overzicht. Tj. Greidanus: De Internationale Geld-
markt. :
7Oste Jaargang, Nr. 6, 15. Juni 1921".
Anna Polak: Geen afzonderlijke vrouwenarbeidsbescherming. W. J. de Langen:
Progressieve inkomstenbelasting en wisselende inkomens. W. M. J. van Lutterveld:
Eenige gegevens betreffende‘t vlottend kapitaal. E. C. Van Dorp: Economisch
overzicht. Tj. Greidanus: De Internationale Geldmarkt.
10ste Jaargang, Nr. 7 bis 8, 1. Augustus 1921.
Dr. C. A. Verrijn Stuart: De grondslag der loonsbepaling. Taco Mulder:
Hooger handelsonderwijs. Tj. Greidanus: De Internationale Geldmarkt.
70ste Jaargang, Nr. 9, 15 September 1921.
H. J. Van Brink: Overzicht van de onlangs tot stand gekomen herziening en
uitbreiding van de belastingen in Nederlandsch-Indié L. A. Ries: Malthus. Dr. E.M.A.
Timmer: Jets over den aanvoer van Delftsch bier naar Middelburg. E. C. Van Dorp:
Economisch overzicht. Tj. Greidanus: De Internationale Geldmarkt.
10ste Jaargang, Nr. 10, 15 Oktober 1921.
Dr. H. W. C. Bordewijk: Het monopoliebegrip bij Franz Oppenheimer in
verband met zijn uitbuitingsleer. L. A. Ries: Malthus. Prof. J. G. C. Volmer: Taco
Mulder. Het administratievraagstuk (Haarlem, De erven F. Bohn, 1920). Dr. G. M.
Verrijn Stuart: Richard Kiliani, Die Großbanken-Entwicklung in Holland und die
Mittel-Europäische Wirtschaft. Amsterdam 1921. E. C. Van Dorp: Economisch
overzicht. Tj. Greidanus: De Internationale Geldmarkt.
(Oste Jaargang, Nr. 11, 15 November 1921.
H. Ch. G. J. Van der Mandere: Winstaadeelen, alsdoor de Indische Regeering
voorgenomen ten bate van de inlandsche bevolking. S. Z. Langendijk: Het Rijksin-
koopkantoor (R. J. K.). E. C. Van Dorp: Economisch overzicht. Dr. A. Sternheim:
De Internationale Geldmarkt.
Finanz-Archiv. Zeitschrift für das gesamte Finanzwesen. Herausgegeben von
Dr. Georg Schanz. Stuttgart und Berlin 1921. J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nach-
folger. 38. Jahrg. I. Bd. 439 S. M 68° —.
Dr. Gustav Wilke: Die Entwicklung der Theorie des staatlichen Steuersystems
in der deutschen Finanzwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Dr. R. Schilling: Die
Bewertung des Selbstverbrauchs vom Standpunkt der direkten Besteuerung aus.
Dr. Alfredo Hartwig: Realkreditinstitute und Sparkassen in Chile.
Der Gerichtssaal. Zeitschrift für Zivil- und Militär-Strafrecht und StrafprozeB-
recht sowie die ergänzenden Disziplinen. Herausgegeben von Prof. Dr. F. Oetker und
Prof. Dr. A. Finger. Hiemit ist vereinigt von Bd. 88 an: Österreichische Zeit-
schrift für Strafrecht. Stuttgart 1921. Ferdinand Enke. Preis pro Band von
6 Heften M 50° —.
Band LXXXVIII. Heft 1/2.
G. Kleinfeller: Die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen im Straf-
verfahren. Heinrich Dietz: Die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit. Wachenfeld:
(XO Einlaut von Büchern und periodischen Veröffentlichungen.
Mittelbare Täterschaft. Oetker: Vorbereitung und Versuch, Beihilfe und Delikts-
abwendung. Dr. Plazid Meyer v. Schauensee: Einige Bemerkungen zum gegen-
wärtigen Stand der schweizerischen Strafrechtsbestrebungen. Schoefensack: Aus
schweizerischer Gesetzgebung. Dr. Albert Hellwig: Zur Gestaltung der Kriegs-
kriminalität. Dr. Alfred Andrae: Streichung des § 420St PO. Dr. Werneburg: Der
Versicherungsbetrag.
Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Herausgegeben von Dr. Ludwig
Elster. Jena 1921. Gustav Fischer.
117. Bd. III. Folge. 62. Bd. 1. Heft. Juli 1921. Mit der Beilage: Volkswirt-
schaftliche Chronik. April 1921.
Otto Nathan: Grundsätzliches über die Zusammenhänge zwischen Volkswirt-
schaft und Steuern. Johannes Müller: Diewirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen
Reiches. (Die Zeit vom 1. Jänner bis 31. März umfassend.) Die Bevölkerung der Erde.
Jos. Ehrler: Bevölkerungsbewegung in den preußischen Großstädten im Jahre 1920.
Ph. Schwartz: Arbeitsv erhältnisse und Organisation der häuslichen Dienstboten in
Bavern. Preisausschreiben der Schweizerischen Statistischen Gesellschaft.
117. Bd. III. Folge. 62. Bd. 2. Heft. August 1921. Mit der Beilage: Volkswirt-
schaftliche Chronik. Mai 1921.
Otto Nathan: Grundsätzliches über die Zusammenhänge zwischen Volkswirt-
schaft und Steuern. (Fortsetzung.) P. Weigel: Indexziffern. Rudolf Stolzmann:
Technik und Idealismus. Ernst H. Regensburger: Frankreichs Finanzen seit 1914.
Ernst Schultze: Volkswirtschaft und Außenhandel Costa Ricas. Jos. Ehrler:
Zunahme der Ehescheidungen in den deutschen Großstädten.
117. Bd. III. Folge. 62. Bd. 3. Heft. September 1921. Mit der Beilage: Volks-
wirtschaftliche Chronik. Juni 1921.
Othmar Spann: Tausch und Preis nach individualistischer und universalistischer
Auffassung. Richard Kerschagl: Universalismus und Individualismus in der Methodik
der Geldtheorie. Versuch einer dogmengeschiehtlichen und wirtschaftstheoretischen
Kritik. Johannes Müller-Halle: Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen
Reiches. (Die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1921 umfassend.) Wagner-Roemmich:
Wesen und Gruppierung der Betriebsarten und Berufsarten. Hans Gurazde: Die
Brotpreise in Berlin nebst den Kosten des Ernährungs- und Lebensbedarfes in Berlin
während der ersten Ilälfte 1921. Wernekke: Die englischen Eisenbahnen im Jahre
1920. Charlotte Leubuscher: Die Bewegung der englischen Bergarbeiter seit Be-
endigung des Krieges. H. Fehlinger: Die Volkswirtschaft Westturkestans.
117. Bd. 111. Folge. 62. Bd. 4. Heft. Oktober 1921. Mit der Beilage: Volkswirt-
schaftliche Chronik Juli 1921.
Friedrich Lenz: Woher stammt das Wort .,Protetarier aller Länder vereinigt
Euch“. Ernst Peterffy: Die Entwicklung des amerikanischen Eisenbahnwesens in
neuester Zeit. Karl Elster: „Wertmesser" und .‚Werteinheit“. H. Rachel: Staat-
liche Elektrizitätswirtschaft. Carl von Tyszka: Die steuerliche Belastung in Deutsch-
land nach und vor dem Kriege. Wernekke: Die Teuerung bei den englischen Eisen-
bahnen. Hans Gurazde: Die, ‚Eirstlinge‘ in der Statistik; Gedanken und Anregungen.
117. Bd. HI. Folge. 62. Bd. 5. Heft. November 1921. Mit der Beilage: Volks-
wirtschaftliche Chronik August 1921.
Theodor Hohl: Beiträge zur Flößerei auf der Saale in geschichtlicher und wirt-
schaftlicher Ilinsicht. G. Buetz: Das Finanzwesen Polens. Wilhelm Winkler:
Betriebsgröße und Anbauverteilung. Eine kritisch methodologische Untersuchung zur
statistischen Teildarstellung.
John Hopkins University Studies in Historical and Political Seience. Under the
direction of the Departments of History, Political Economy and Political Science.
Gr.-8°. Baltimore. The Johns Hopkins Press.
Series XX ALX. Nr. 2. Broadus Mitchell, Ph. D., Instructor in Political Economy:
The Rise of Cotton Mills in the South. 1921. 281 8
Ne es . . X a u a
Einlaut von Büchern und periodischen Veröftentlichunzen is]
Verspätet eingetroffen:
Series XXXIV. Nr. 3. George Milton Janes. Ph. D., Instructor in Political
and Social Science in the University of Washington: The Control of Strikes in American
Trade Unions. 1916. 131 5.
Series XXXIV. Nr. 4. John L. Donaldson, Ph. D., Professor of History and
Economics in Roanoke College: State Administration in Maryland. 1916. 155 S.
. Series XXXV. Nr. 1. James Miller Leake, Ph. D., Associate in History in Bryn
Mawr College: The Virginia Committee System and the American Revolution. 1917. 1575.
Series XXXV. Nr. 2. William O. Weyforth, Ph. D., Instructor in Economics
in Western Reserve University: The Organizability of Labor. 1917. 277 S.
Series XXXV. Nr. 3. Arthur Chester Millspaugh, Ph. D., Professor of Political
Science in Whitman College: Party Organization and Machinery in Michigan since 1890.
1917. 189 8.
Series XXXVI. Nr. 1. Kokicht Morimoto, Ph. D.. Associate Professor of
Economies in Tohoku Imperial University: The Standard of Living in Japan. 1918. 1505.
Series XXXVI. Nr. 2. Kent Roberts Greenfield. Ph. D., Assistant Professor
of History in Delaware College : Sumptuary Law in Nürnberg. 1915. 139 S.
Series XXXVI. Nr. 3. Roger Howell, Ph. D., Second Lieutenant. With Infantry,
U. S. A.: The Privileges and Immunities of State Citizenship. 1918 120 S.
The Journal of Political Economy. Published by the University of Chicago. The
University of Chicago Press, Chicago, Illinois, U. S. A. The Cambridge University
Press, London. The Maruzen-Kabushiki-Kaisha, Tokyo, Usaka. Kyoto, Fukuoka,
Sendai. The Mission Book Company. Shanghai.
Number 6, June 1921. Volume XXIX. “Howard IT. Preston: The Federal Farm
Loan Case. Paul H. Douglas: The Seatte Municipal Street-Railwav Svstem. James
D. Magee: Return the Paid in Capital of the Federal Reserve Banks. Emil Frankel:
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Number 7, July 1921. Volume XXIX. F. E. Wolfe: A. Survey of Profit-Sharine
and Bonuses in Chicago Printing-Plants. Benjamin M. Squires: The National Adjust-
ment Commission. Edgar Sydenstricker and Willford J. King: The Classification
of the Population according to Income.
Number 8. October 1921. Volume XXIX. Harry Elmer Barnes: The Econo-
mics of American Penology as Illustrated by the Experience of the State of Penn-
sylvania. Harry Gunnison ‘Brown: The Shifting of Taxes on Sales of Land and C apital
Goods and on Loans. W. H. Lough: Reorganization of Instruction in Finance in
University Schools of Business. George E.Gutnam: Unit Costs as a Guiding Factor
in’ Buying Operations.
Kölner Vierteljahrshefte fiir Sozialwissenschaffen. Zeitschrift des Forschungs-
institutes für Sozialwissenschaften in Köln. Herausgegeben von den Direktoren des
Instituts Christian Eckert, Hugo Lindemann, Max Scheler, Leopold von Wiese.
München und Leipzig 1921. Duncker & Humblot.
Reihe A: Soziologische Hefte. 1. Jahre. Heft 1.
L.von Wiese: Die Aufgaben einer deutschen Zeitschrift für Soziologie. Christian
Eckert: Aufriß und Aufgaben des Forschungsinstitutes für Sozialwisse nschaften. Max
Scheler: Die positivistische Geschichtsphilosophie des Wissens und die Aufgaben
einer Sozielogie der Erkenntnis. Paul Honigsheim: Max Weber als Soziologe.
F. Tönnies: Die deutsche Gesellsehaft für Soziologie. A. Vierkandt: Programm
einer formalen Giesellschaftslehre. 95 8. M 12° —
Reihe B: Sozialpolitische Hefte. 1. Jahre. ‘Heft 2
G. F. Shove, M. A. Cambridge: Arbeitergeset zee bung in England während
des Krieges und nachher. Rowntree: Englisches “Wohltahrtsw esen. R. Reif: Vor-
sitzender des Vorstandes der Garden Cities and Town Planning Association: Wohnungs-
probleme während des Krieges und in der Zeit nach ihm in Großbritannien. A. Amonn:
Zum Begriff der Sozialisierung. E. Heimann: Über gemeinwirtsehattliche Preisbildung.
H. Lindemann: Zur Komnmnalisierung des W irtschaftsbetriebes. SSS M I a
(82 Fiulaut von Büchern und periodischen Veröffentlichungen.
Reihe 4: Soziologische Hefte. 1. Jahrg. Heft 3.
Rudolf Goldscheid: Die Stellung der Entwicklungsökonomie und Menschen-
ökonomie im System der Wissenschaften. L. Stephinger: Zur Grundlegung der Gesell-
schaftswissenschait. Wilhelm Jerusalem: Soziologie des Erkennens. M. Scheler:
Zu W. Jerusalems „Bemerkungen“. P. Mombert: Zur Frage der Klassenbildung.
W. Wygodzinski: Skizze einer allgemeinen Gruppenlehre. F. Eulenburg: Über
die Art gesellschaftlicher Beziehungen. 107 S. M 12-—.
Metron. Internationale Statistische Rundschau. Herausgeber und Eigentümer
Dott.Corrado Gini, prof. ord. die Statistica R. Universita di Padova. 1921. Industrie
Grafiche Italiane Stabilimento di Rovigo.
Vol. 1. Nr. 4. 1. September 1921. 216 S.
R. A. Fisher: On the „Probable Error“ of a Coefficient of Correlation deduceds
from a Small nampe S. D. Wicksell: An exact formula for spurious correlation.
A. Tschuprow: Über die Korrelationsfläche der arithmetischen Durchschnitte. (Ein
Grenztheorem.) E. S. Littlejohn: On an elementary method of finding the moments
of the therms of a multiple hypergeometrical series. L. March: Les modes de mesure
du mouvement général des prix. C. Gini: La guerra dal punto di vista dell‘ eugenica.
R. Livi: Sull‘ accrescimento dalla statura oltre i venti anni. A. Bertelsen: Some
Statistics on the native population of Greenland. F. Savorgnan: L'aumento delle
nascite maschili durante la guerra. L. Livi: Una inchiesta sui bilanci di famiglie
borghesi. A. Aschieri: } Luigi Bodio (1840—1920).
Mitteilungen des Verbandes österreichischer Banken und Bankiers. Mit der Beilage
„Rechtsprechung“. Verband österreichischer Ranken und Bankiers. Wien, I.. Rockh-
gasse 4. |
4. Jahr. 31. Juli 1921. Nr. 3/4.
Dr. Leo Strisower: Über die Verteilung der sichergestellten Staatsschuld
zwischen den Sukzessionsstaaten. Georg Münch: Die Berliner Großbankbilanzen
für 1920. Dr. Arthur Lenhoff: Das neue Gesetz über den Dienstvertrag der An-
gestellten. Dr. Walther Loewenfeld: Vermögensabgabe und Warenvorrite.
Dr. Michael Schlesinger: Das Gesetz über die Erhöhung der Effekten-Umsatzsteuer.
4. Jahr. 31. Oktober 1921. Nr. 5/6.
Dr. Friedrich Hertz: Ist Österreich wirtschaftlich lebensfähig? T. E. Gregory
(London): Die Zukunft des Geldwesens in England. Prof. Dr. Alfred Amonn (Prag):
Die Währungsfrage in den Nachfolgestaaten. Professor Cassels Denkschrift über die
finanziellen Weltprobleme. Dr. J. Hans (Klagenfurt): Formen der Auslandskredite.
Dr. Egon Bergel: Das Handelsagentengesetz. Dr. Franz X. Weiß: Neue Schriften
über Geldwesen.
Political Seienee Quarterly. Edited for the Academy of Political Science in the
City of New York by the Faculty of Political Science of Columbia University. 8°.
Academy of Political Science. Kent Hall, Columbia University, New York.
Number 2. June 1921. Volume XXXVI. ;
F. M. Russell: The Saar Basin Governing Commission. W. T. Morgan: The
Ministerial Revolution of 1710 in England. W. L. Miller: Government Aid in Foreign
Trade. I. J. Cox: The Mexican Problem: Self-Help or Intervention. A. Berglund:
The Ferroalloy Industries and Tariff Legislation. W. R. Smith: British Imperial
Federation. D. S. Muzzey: Mr. Wells‘s Utopian Pessimism.
Number 3. September 1921. Volume XXXVI. l
Emory R. Johnson: The Problem of Railroad Control. A. M. Sakolski:
Practical Tests of the Transportation Act. Gregory Zilboorg: A Century of Political
Experience. V. Rosewater: A Curious Chapter in Constitution Changing. C. H. N orth-
cott: Unemployment Relief in Great Britain. J. E. Norton: The Bank of England
and the Money Market. Geroid T. Robinson : The Dezentralization of Russian History.
T. R. Pawell: Major Constitutional Issues in 1920 —21. Parker Thomas Moon: More
Light on the Peace Conference.
Einlaut von Büchern und periodischen Verdffentlichungen. 185
Number 3. September 1921. Volume XXXVI.
Supplement. Harry J. Carman and Elmer D. Graper: Record of Political
Events (from July 1. 1920, to June 30: 1921).
Reichsarbeitsblatt. Amtsblatt des Reichsarbeitsministeriums und des Reichsamts
für Arbeitsvermittlung. Gr. 8°. Berlin 1921. Verlag des Reichsarbeitsblattes (Reimar
Hobbing). Jahrg. 1 (Neue Folge), Nr. 21. M 4 —.
1. Amtlicher Teil: Gesetz, betreffend Wochenhilfe und Wochenfürsorge. Vom
29. Juli 1921. Verordnung über die Beschäftigung Schwerkeschidigter in privaten
Betrieben. Vom 21. Juli 1921 etc.
2. Nichtamtlicher Teil: Die Teuerungsstatistik im Reich. (Eildienst-
meldungen für Juli und Maizahlen für das Reich.) Gerhard Erdmann: Streik und
Aussperrung im künftigen Zivilrecht. Dr. Renetta Brandt-Wyt: Wirtschaftsrech-
nungen etc.
Jahrg. 1 (Neue Folge). Nr. 22. M £—.
1. Amtlicher Teil: Belgisches Gesetz über den Achtstundentag und die
48-Stundenwoche vom 14. Juni 1921 ete.
2. Nichtamtlicher Teil: Regierungsbaumeister Bretschneider: Der Mangel
an Bauhandwerkern, seine Folgen und Wege zu seiner Bekämpfung. — Bruno Kühne:
Ausländisches Hausgehilfenrecht. Hans Krüger: Wohnungsnot und Wohnungs-
politik. Emil Helms: Die Entwicklung des Arbeitsnachweiswesens in Dänemark etc.
Jahrg. 1 (Neue Folge), Nr. 23. M 4 -—.
1. Amtlicher Teil: Entwurf eines Hausgehilfengesetzes (Regierungsentwurf)
mit Begründung. etc.
2. Nichtamtlicher Teil: Die Teuerungsstatistik im Reich (Eildienst-
meldungen für August- und Junizahlen für das Reich). Dr. Schlotter: Stellung
und Aufgabenkreis der Landesarbeitsämter im Entwurf des Arbeitsnachweisgesetzes.
Paul Meyer: Über Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Else Luders:
Die Hausfleißbestrebungen auf dem Lande. Hans Kruger: Steuererleichterungen
für den Kleinwohnungsbau. etc.
Jahrgang 1. (Neue Folge). Nr. 24. M 4.-.
1. Amtlicher Teil: Richtlinien für die Förderung von Elektrizitätsanlagen
aus Mitteln der produktiven Erwerbslosenfiirsorge etc.
2. Nichtamtlicher Teil: Dr.O. Weigert: Zu dem Referentenentwurf des
Gesetzes über eine vorläufige Arbeitslosenversichering. Müller: DieOrganisations-
klausel, Koalitionsfreiheit und Tarifvertrag ete.
Jahrg. 1 (Neue Folge), Nr. 25. M 4 —.
1. Amtlicher Teil: Bekanntmachungen über Tarifverträge ete.
2.Nichtamtlicher Teil: Die Teuerungsstatistik im Reich. (Eildienstmeldungen
In welcher rechtlichen Form ist die Beteiligung der Arbeitnehmer am Kapital und
am Gewinn des Unternehmers möglich? Rozzoli: Zur Umgestaltung des Woh-
nungsmangelsgesetzes etc.
Jahrg. 1 (Neue Folge), Nr. 26. M4-—.
1. Amtlicher Teil: Bekanntmachungen über Tarifverträge etc.
2. Nichtamtlicher Teil: Gesamtergebnisse der Reichs-Teuerungsstatistik im
August 1921 für die 601 in die Erhebung einbezogenen Gemeinden. A. Zeiler:
Eine kommende Teuerung und die Löhne. — Dr. Levin: Empiehlt es sich, die Arbeits-
gerichte und ähnliche Spruchbehörden den ordentlichen Gerichten anzugliedern? etc.
Jahrg. 1 (Neue Folge), Nr. 27. M £—.
1. Amtlicher Teil: Verordnung über Erwerhslosenfiirsorge vom 1. Nov. 1921 etc.
2.NichtamtlicherTeil: Die Teuerungsstatistik im Reich. (Eildienstmeldungen).
Dr. Paul Ehrenberg: Wie kann man dem kleinen Landwirt, insbesondere auch
dem Siedler, die Kenntnisse der landwirtschaftlichen Fortschritte vermitteln?. —
Dr. Erich Keup: Innere Kolonisation und Bevölkerungspolitik etc.
Statistische Monatschrift. Herausgegeben von der Statistischen Zentralkommission
Wien 1921. Verlag der österr. Staatsdruckerei.
(S4 Einlauf von Büchern und periodischen Veröffentlichungen.
3. Folge. III. Jahrg. Heft 1 bis 3. >
Dr. Felix Klezl: Die Preisentwicklung wichtiger Lebensmittel und Bedarfs-
artikel in Wien in der Zeit vom Juli 1914 bis Dezember 1920. Dr. Felix Klezl:
Der Generalindex für die Verteuerung der wichtigsten Lebensmittel in Wien vom Juli
1914 bis Ende Dezember 1920. Dr. Wilhelm Hecke: Die Staatsangehörigkeit der
Bevölkerung Österreichs. Verschiebung der Volkszählung. Dr. Rudolf Riemer: Die
Statistik in der neuen Verfassung ete.
3. Folge. HHI. Jahrg. Heft 4 bis 6.
Dr. Hugo F orcher: Über Neuerungen in der Massenbeobachtung der Rechts iege.
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Gertrud Hermes: Ein preußischer Beamtenhanshalt 1859—1590. Willy Berthoi«:
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Über Mathematik und Proportionswahl in ihren gegenseitigen Bez ichungen. (Mit
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Duttmann: Die Abänderungsgesetze zur Invaliden- und Angestelltenversiche-
rung und die unerledigt gebliebenen ‘Gesetzesvorlaze n. Dr. Hoftmann: Zum Gesetz-
entwurf über Änderungen der Reichsversicherungsordnung. Dr. Lininger: Die Begut-
achtung der Anträge auf Untally ersicherung vom ärztlichen Standpunkt aus. Henne:
Die Versicherung aul erstes Risiko in der Feuerversicherung. Dr. Meltzing: Zur
neuesten Entwicklung der Streikversicherung. Hagen: Der nene französische Entw urf
eines Versicherungsvertragsgesetzes. Rohde: Gewinnberechnung bei den Lebens-
versicherungsgesellschaften — Mund-Hopen: Die staatliche Seekriegsversicherung
in Skandinavien.
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